54. Jahrgang • März/April 2003 • ISSN 0032-3462

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen

388 S¸efik Alp Bahadir Ökonomische Ursachen des Terroris- mus im Nahen Osten – Das Politische Studien-Zeitgespräch Mehrheit und Meinungsführerschaft – Über die Grundlagen der Kulturpolitik der Union Martin Hübler Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts Schwerpunktthema: Notwendige Arbeitsmarktreformen noch nicht in Sicht mit Beiträgen von Fred van Haasteren, Reinhold Henseler, Peter Stein, Dirk Werner und Otto Wiesheu

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Reinhard C. Editorial: Meier-Walser Terror, Krieg und Völkerrecht ...... 5

S¸efik Alp Bahadir Ökonomische Ursachen des Terro- rismus im Nahen Osten – Das Politische Studien-Zeitgespräch .... 10

Schwerpunktthema: Notwendige Arbeitsmarktreformen noch nicht in Sicht

Peter Stein Einführung: Reformblockade trotz wachsender Massenarbeitslosig- keit und die Rolle der Gewerk- schaften ...... 19

Dirk Werner Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmens- befragung ...... 27

Reinhold Henseler/ Zeitarbeit – Das „Herzstück“ Fred van Haasteren der Hartz-Reform in der Zwick- mühle ...... 40

Otto Wiesheu Den Negativtrend auf dem Arbeits- markt brechen – Politik für mehr Beschäftigung in Deutschland ...... 53

Vera Lengsfeld Mehrheit und Meinungsführer- schaft – Über die Grundlagen der Kulturpolitik der Union ...... 62 Wolfram Wilss Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache ...... 71

Martin Hübler Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts .... 84

Susanne Luther „Neue Politik“ und alte Probleme – Herausforderungen für den neuen südkoreanischen Staatspräsidenten Roh Moo-hyun ...... 96

Juraj Alner Die slowakischen Erwartungen an die Integration: eine reiche Wertegemeinschaft...... 108

Das aktuelle Buch ...... 117

Buchbesprechungen ...... 119

Ankündigungen ...... 131

Autorenverzeichnis ...... 132 Editorial: Terror, Krieg und Völkerrecht

Die Kritiker des Militärschlages gegen den Irak sollten auch die Genese der Strategie „antizipatorischer Selbstverteidigung” kennen und die Dynamik des Völkerrechts in Rechnung stellen

Reinhard C. Meier-Walser

Die weltweiten Demonstrationen und Krieg anstelle einer friedlichen Lö- Proteste Zehntausender von Menschen sung der Irak-Krise favorisiert und gegen den Irakkrieg machen verges- wegen des Mangels einer UN-Legiti- sen, dass während der Wochen und mation das Völkerrecht gebrochen zu Monate vor Beginn der Kampfhand- haben. lungen Meinungsumfragen in den meisten Staaten des demokratischen Diese Argumentation verkennt jedoch Westens zufolge ein Krieg gegen den die Dynamik und Wandelbarkeit des irakischen Diktator Saddam Hussein Völkerrechts und übersieht die Motive unter der Voraussetzung einer Auto- der USA, die lediglich in einer Re- risierung durch die UNO mehrheitlich konstruktion der perzipierten Sicher- akzeptiert worden wäre. Anders als heitslage nach dem 11. September bei den Protesten gegen den Vietnam- verständlich werden. Krieg, als die Demonstrationen auch von Sympathie für Nordvietnam und dessen Führer Ho Chi Minh getragen Der 11. September und der An- wurden, bestreitet heute niemand, dass spruch des Rechts auf „antizipa- Saddam Hussein ein gefährlicher Des- torische Selbstverteidigung“ pot ist, der – entsprechend der 17 Irak- Resolutionen der UNO seit 1991 – ent- Was den Kritikern der Bush-Adminis- waffnet und dessen Land gehindert tration diesseits des Atlantiks nicht werden muss, Massenvernichtungswaf- immer bewusst zu sein scheint, ist die fen herzustellen.1 Tragweite und strategische Konsequenz der traumatischen Erfahrung der Ter- Die gegenwärtigen Proteste richten sich rorattacken des 11. September 2001 also weniger gegen die Problemana- gegen New York und Washington, als lyse und Ziele, sondern vor allem ge- der von nuklearer Abschreckung und gen die USA, denen vorgeworfen wird, Inselposition inmitten zweier gewal-

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 6 Reinhard C. Meier-Walser tiger Ozeane genährte Mythos der Un- war: Internationaler Terrorismus; Or- verwundbarkeit der Vereinigten Staa- ganisiertes Verbrechen; Bürgerkriege; ten von Amerika mit einem Schlag ethnische und religiöse Konflikte, zerstört wurde.2 Krisen und Kriege; Vertreibung, Flucht und Migration; Überbevölkerung und Es bedeutete einen bislang präze- soziale Spannungen; Umweltkatas- denzlosen Schock für die USA, erken- trophen etc. Entscheidend ist in diesem nen zu müssen, dass alle drei tradi- Zusammenhang, dass diesen neuen tionellen Strategien, sich gegen Be- Herausforderungen der Sicherheit nicht drohungen der eigenen Sicherheit zu wie den Bedrohungen während des schützen (Abschreckung, Prävention, Kalten Krieges mit Abschreckung be- Verteidigung), versagt hatten. Während gegnet werden konnte. Zur Vorbeu- des Kalten Krieges hatten die USA sich gung gegen eine Eskalation derartiger und ihre Verbündeten primär durch die Risiken schien lediglich das Instrument Sowjetunion und den Warschauer der (nichtmilitärischen) Prävention als Pakt bedroht gesehen. Sicherheit war Sicherheitsstrategie geeignet zu sein. demnach eindimensional militärisch definiert und der Schutz Amerikas und Die Terrorattacken des 11. September seiner Bündnispartner basierte auf haben aber dann gezeigt, dass auch einem System nuklearer Abschreckung. Prävention den Mordanschlag mit mehreren Tausend Toten nicht hatte Mit dem Ende der Ost-West-Konfron- verhindern können, dass Selbstmord- tation wandelte sich die Sicherheits- attentäter sich nicht „abschrecken“ lage auch aus US-amerikanischer Sicht. lassen und dass selbst ein funktio- Der vormals einseitig militärische, nierendes Verteidigungssystem mit „herkömmliche“ Sicherheitsbegriff, Raketenabwehr-Einrichtungen den An- wich einem „erweiterten“ Sicherheits- griff gegen das World Trade Center und begriff, der sich in zwei unterschied- das Pentagon mit zivilen Verkehrsflug- lichen Fassetten zeigte. Zum einen in zeugen nicht hätte verhindern kön- der Relativierung des militärischen nen. Stellenwertes der Sicherheit durch die Ökonomisierung der Politik, die Glo- Vor diesem Hintergrund ist die Genese balisierung der Märkte, die Interdepen- der National Security Strategy (im denz durch Information und Kommu- Internet abrufbar unter www.white nikation, sowie durch Elemente der house.gov/nsc/nss) der USA vom 20. Regionalisierung, Institutionalisierung, September 2002 zu sehen, deren welt- Multilateralisierung, Demokratisierung, politische Tragweite einschlägige Ex- Zivilisierung etc. perten mit einem berühmten Vorläufer vergleichen: der NSC-68 von 1950, mit Zum anderen zeigte sich aber auch, der das Zeitalter der Abschreckung dass dem Ende des Ost-West-Konfliktes eingeleitet wurde.3 In konsequenter keine Ära internationaler Harmonie Umsetzung der Überzeugung, dass die und Gewaltfreiheit gefolgt war, son- Attentäter des 11. September, wenn sie dern dass die vormalige Bedrohungs- im Besitz von Massenvernichtungs- perzeption anderen, zum Teil neuen waffen gewesen wären, diese gegen das Bedrohungen und Risiken gewichen amerikanische Volk auch eingesetzt Editorial: Terror, Krieg und Völkerrecht 7 hätten, steht das Problem Terrorismus wie in vielen Pressemeldungen sug- und Massenvernichtungswaffen im geriert – die Abschreckung „zu Grabe Mittelpunkt der Nationalen Sicherheits- getragen“, sondern es wird ihr ein strategie. Die größte Gefahr, so zeigt das anderer Stellenwert beigemessen bzw. Dokument an mehreren Stellen, sehen es wird eine neue Konzeption der Ab- die USA seit dem 11. September in schreckung eingeführt. Weil Terroristen einer gegen sie gerichteten Allianz von durch eine Drohung mit Vergeltung Terroristen mit Staaten, die (wie der („punishment“) analog zur Abschre- Irak) über Masservernichtungswaffen ckungsstrategie während des Kalten verfügen und die die USA und alles, Krieges nicht an der Durchführung von wofür sie stehen, hassen. Um einem Anschlägen gehindert werden können, befürchteten ersten Einsatz von ABC- rückt die Strategie der „Abschreckung Waffen gegen die USA durch derarti- durch Verwehren“ („denial“) in den ge Allianzen zuvorzukommen, bean- Vordergrund und zwar sowohl defensiv sprucht die amerikanische Adminis- durch Heimatschutz und Raketenab- tration in der National Security Strategy wehr als auch offensiv durch die Zer- das Recht präventiver Kriegführung störung von Massenvernichtungswaf- zur Abwehr von Bedrohungen durch fen-Kapazitäten mit konventionellen Terrorismus und Massenvernichtungs- und nuklearen Mitteln.7 waffen in den Händen von „rogue states“ („Schurkenstaaten“).4 Dieses Recht auf „antizipatorische Selbstver- Bricht der Irak-Krieg teidigung“5, das Präsident Bush bereits das Völkerrecht? am 1. Juli 2002 in seiner Rede in der Militärakademie West Point reklamiert Es ist hinlänglich bekannt und auch im hatte, impliziert zwar auch die Ent- UNO-Sicherheitsrat unumstritten, dass schlossenheit, im Extremfall unilate- der Irak selbst seit Jahren das Völker- ral gegen perzipierte Bedrohungen vor- recht massiv bricht und eine Gefahr für zugehen. Das NSS-Dokument unter- den Weltfrieden darstellt. Ungeachtet streicht jedoch, dass alleiniges prä- dessen haben die Militärschläge gegen ventives Handeln der USA immer auf den Irak eine völkerrechtliche Diskus- die Abwehr einer spezifischen Bedro- sion entfacht, die sich vor allem um die hung beschränkt bleibe. In der Na- Frage der Verletzung des Gewaltver- tional Security Strategy stellt sich die botes der Charta der Vereinten Na- Bush-Administration somit weder ei- tionen dreht. nen unkonditionierten Freibrief für militärische Präventivschläge aus noch In diesem Zusammenhang sollte daran verkörpern „preemption“ und „uni- erinnert werden, dass auch der Kosovo- lateral action“ neue außenpolitische Krieg der Atlantischen Allianz vom Prinzipien, sondern es handelt sich um Frühjahr 1999, an dem sich die eu- „Optionen”, die „erwogen werden, ropäischen NATO-Staaten an der Seite wenn auf andere Weise kein Erfolg zu der USA gegen Serbien beteiligten, ur- erwarten ist“6. sprünglich nicht durch die UNO legitimiert war, sondern als „Huma- Im Übrigen wurde in der neuen ame- nitäre Intervention“ des Nothilfe- rikanischen Sicherheitsstrategie nicht – Rechts geführt wurde. Damals zeigte 8 Reinhard C. Meier-Walser sich bereits, dass, so der Münchner lution 1441 sieht also nicht vor, dass Völkerrechtler Armin Steinkamm, das weitere Aktionen gegen den Irak nur Völkerrecht nicht als „starrer Kodex“8 im Falle einer neuen Resolution vor- empfunden werden dürfe, sondern sich genommen werden dürfen. Wenn dies vor dem Hintergrund der epochalen vom Sicherheitsrat beabsichtigt worden Transformation des internationalen wäre, hätte es in Absatz 12, der ein- politischen Systems nach dem Ende des zigen diesbezüglichen Textstelle der Kalten Krieges wandeln müsse. Insofern Resolution 1441, nicht heißen dürfen, muss vor dem Hintergrund der neuen der Sicherheitsrat werde über die Frage sicherheitspolitischen Herausforde- der Nichterfüllung der Forderungen rungen und Bedrohungen auch die „beraten“ („consider“), sondern es hät- Strategie „präventiver Selbstverteidi- te dort heißen müssen, er werde über gung“ unter dem Gesichtspunkt der weitere Maßnahmen „entscheiden“ Dynamik des Völkerrechts neu geprüft („decide“). „Die Wortwahl“, so Lord werden. Goldsmith, der Rechtsberater der bri- tischen Regierung, „erfolgte in voller Des weiteren sollte bei der Frage der Absicht.“9 rechtlichen Bewertung des Militär- schlages gegen den Irak der Wortlaut Es ist aber richtig, dass sich aus Reso- der UN-Resolution 1441 vom 8. No- lution 1441 allein keine Ermächtigung vember 2002 in Erinnerung gerufen zur Gewaltanwendung ergibt, sondern werden, in der alle fünf Ständigen erst unter Berücksichtigung auch der Mitglieder des Sicherheitsrates dem Irak früheren UN-Sicherheitsrats-Resolu- eine „final opportunity to comply with tionen 678 vom 29. November 1990 its disarmament obligations“ eröffnet, und 687 vom 3. April 1991: Da mit der aber gleichzeitig „serious consequen- Resolution 687 die durch die Reso- ces“ für den Fall seiner Weigerung lution 678 erteilte Autorisierung mili- angedroht hatten. tärischer Gewalt („all necessary means ... to restore international peace and Dass „ernsthafte Konsequenzen“ auch security in the area“) ausgesetzt, aber einen Waffengang gegen den iraki- nicht aufgehoben wurde, tritt nach der schen Diktator implizierten, wird eben- in Resolution 1441 festgestellten Ver- so wenig bestritten wie die Tatsache, letzung der Resolution 687 durch den dass Saddam Hussein die im November Irak und nach Nichterfüllung der 2002 angebotene letzte Chance nicht „Final-Opportunity“-Verpflichtungen genutzt hat. Hingegen argumentieren durch das irakische Regime die Er- einige Kritiker der USA, dass ein Mi- mächtigung zur Anwendung von Ge- litärschlag gegen den Irak einer wei- walt gegen den Irak gemäß Resolution teren Resolution bedurft hätte. Prüft 678 wieder in Kraft.10 man jedoch den gesamten Wortlaut der Resolution 1441, so findet sich an keiner einzigen Stelle ein Hinweis auf Fazit eine neue, einen möglichen Waffen- gang sanktionierende Resolution für Die Kritik an einem Krieg, der Zer- den Fall, dass der Irak seine „final störung bringt und Menschenleben opportunity“ nicht nütze. Die Reso- fordert, ist nur allzu verständlich, zu- Editorial: Terror, Krieg und Völkerrecht 9 mal, wenn es sich um einen Krieg Beurteilung auch in die Motivations- handelt, der nicht mit expliziter strukturen der US-Amerikaner nach Autorisierung der Vereinten Nationen dem 11. September versetzen und die geführt wird. Allerdings sollten die internationale Rechtslage vor dem Kritiker des Militärschlages gegen den Hintergrund der veränderten Sicher- Irak sich im Sinne einer abwägenden heitsbedrohungen bewerten.

Anmerkungen 1 Vgl. Why War Would Be Justified, in: The 9 „Dieser Krieg ist legal“, Lord Goldsmith, Economist, 22.2.2003, S.13. Rechtsberater der britischen Regierung, 2 Vgl. Schwarz, Klaus-Dieter: Amerikas Mis- zur Frage des UN-Mandats, in: Die Welt, sion. SWP-Aktuell 38, Oktober 2002, S.1. 20.3.2003. 3 Vgl. Schwarz, Amerikas Mission, S.1. 10 Vgl. das Gutachten von Lord Goldsmith, 4 Vgl. Schwarz, Amerikas Mission, S.2. in: Die Welt, 20.3.2003. Selbst Bernhard 5 Dazu ausführlich Rudolf, Peter: „Präven- Kempen, Direktor des Instituts für Völ- tivkrieg“ als Ausweg? Die USA und der kerrecht an der Universität Köln, der das Irak. SWP-Studie 23, Juni 2002, S.23ff. Vorgehen der USA gegen den Irak für 6 Kamp, Karl-Heinz: Die National Security völkerrechtlich nicht tragbar hält, sieht Strategy. Kurzanalyse der neuen ameri- über die Kombination der Resolutionen kanischen Sicherheitsstrategie, Arbeits- 1441, 678 und 687 eine Rechtfertigungs- papier der Konrad-Adenauer-Stiftung, möglichkeit für die USA. „In der Präambel September 2002, S.4. der Resolution 1441 gibt es sprachliche 7 Vgl. Schwarz, Amerikas Mission, S.6; Hinweise darauf, dass ein gewisser Auto- Kamp, National Security Strategy, S.3. matismus angedacht war.“ Zitiert nach: 8 Neue Zürcher Zeitung, 14. März 2003. Die Welt, 20.3.2003. Ökonomische Ursachen des Terrorismus im Nahen Osten Politische Studien-Zeitgespräch mit Prof. Dr. Dr.h.c. S¸ efik Alp Bahadir

Prof. Dr. Dr.h.c. S¸efik Alp Bahadir, geboren 1946 in der Türkei, studierte in Volkswirtschaftslehre und Politologie. Nach der Promotion (1977) und Habilitation (1982) wurde er 1984 auf die von der Stiftung Volkswagenwerk startfinanzierte Professur für Gegenwartsbezogene Orientforschung am Institut für Wirtschafts- wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg berufen. Zuvor war er Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Volks- und Weltwirtschaft der Freien Universität Berlin (1972 –1977), Lehr- beauftragter der Fernuniversität/Gesamthochschule Hagen (1978 –1981) und Dozent an der London School of Economics and Political Science (1981–1984). Professor Bahadir war der Initiator und Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Graduiertenkollegs für Gegenwartsbezogene Orient- forschung der Universitäten Bamberg und Erlangen-Nürnberg (1990 – 2000), seit 1996 Mitglied des Vorstands des Erlanger Zentralinstituts für Regionalforschung und seit 1986 Sprecher der Sektion Vorderer Orient dieses Zentralinstituts.

Politische Studien: Seit dem 11. Sep- politischen Ereignissen im Nahen Os- tember 2001 befassen sich verschiede- ten oder im Umkreis des Islam regel- ne Wissenschaftsdisziplinen engagiert mäßig überrascht wird. Das gilt für mit den Ursachen von Terrorismus. den Sturz des Schah und die Macht- Funktioniert die Ressourcenallokation ergreifung der Mullahs im Iran im so, dass tatsächlich immer erst etwas Jahre 1979 ebenso wie für den Über- schief gehen muss, bis man auf ein fall Iraks auf Kuwait im Jahre 1990 Problem aufmerksam wird? Sind et- und für die Ereignisse vom 11. Sep- waige ökonomische Ursachen des Ter- tember 2001, um nur einige markante rorismus im Nahen Osten so randstän- Beispiele zu nennen. Der Grund liegt dig oder verdeckt, dass die Fachwelt nicht darin, dass diese Ereignisse wie mit ihren nicht unbeträchtlichen Ka- Pfingstwunder plötzlich auftreten. Sie pazitäten bis zum WTC-Ereignis diese kündigen sich schon deutlich genug Dinge nicht wahrnehmen konnte? an; doch es gibt viel zu wenige Wis- senschaftler, die sich kontinuierlich, S¸efik Alp Bahadir: Leider ist es so, dass d.h. auch in scheinbar ruhigen Zeiten, die wissenschaftliche Zunft von großen mit dieser Region beschäftigen. Bis

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 Politische Studien-Zeitgespräch 11 zum 11. September 2001 gab es nur Terroristen und die sozialen Verhält- fünf Professuren für Wirtschaft, Politik nisse in den Palästinensergebieten ei- und Zeitgeschichte des Nahen Ostens nerseits und andererseits an Bin Laden, und Nordafrikas an deutschen Hoch- der aus einer sehr wohlhabenden sau- schulen. Es ist geradezu unfassbar, di-arabischen Familie stammt. Spricht dass seither zwei Professuren mit der dies nicht gegen die These von öko- Pensionierung der jeweiligen Inhaber nomischen Ursachen des Terrorismus gestrichen wurden. Ein weiterer Lehr- im Nahen Osten, denn dessen Trieb- stuhl wird in Kürze ebenfalls gestri- feder scheint wohl unabhängig von chen. Danach verbleiben nur noch eine den wirtschaftlichen Verhältnissen zu Professur für Wirtschaft und eine für sein? Politik des Vorderen Orients in Er- langen. In einigen europäischen Staa- S¸efik Alp Bahadir: Tatsächlich lebt ten und in den USA ist die Ausstattung heute fast ein Viertel der 295 Millio- der Universitäten mit Nahostexperten nen Menschen in islamischen Ländern etwas besser, aber dennoch insgesamt des Vorderen Orients mit einem Ein- völlig unzureichend. Dabei sollte man kommen unterhalb einer Armuts- bedenken, dass es sich hier um eine grenze von weniger als zwei Dollar Weltregion handelt, die sowohl hin- am Tag. Ein Viertel der männlichen sichtlich der Länderzahl als auch der und fast die Hälfte der weiblichen Gesamtbevölkerung mit der erweiter- Bevölkerung über 15 Jahren sind An- ten EU vergleichbar, allerdings von alphabeten. Demgegenüber besaßen weitaus komplexeren wirtschaftlichen, nach Schätzung des zuverlässigen sozialen und politischen Problemen World Wealth Report 2000 die reichs- geplagt ist. ten 220.000 Personen aus dieser Re- gion Auslandsvermögen in Höhe von Übrigens: Erst wenn dieses Pulverfass insgesamt 1.300 Milliarden Dollar, wieder einmal explodiert, kommt die d.h. mehr als das Bruttonational- Region in die Schlagzeilen und rückt einkommen von Italien. Dieses ex- in den Mittelpunkt des Interesses auch treme Wohlstandsgefälle bildet den einer breiteren wissenschaftlichen Öf- fruchtbaren Nährboden für den Ter- fentlichkeit. Doch das Interesse verpufft rorismus und nicht die Armut an sich. wieder, sobald die Ereignisse ihre Ak- In dieser Region, die zwei Drittel der tualität verlieren. Das ist ein zyklischer Welterdölreserven besitzt und ein Drit- Prozess, der seit der Ölkrise des Jahres tel des Welterdölangebots fördert, ha- 1974 anhält. Warnende Stimmen von ben korrupte und repressive Regime in ein paar Wissenschaftlern ändern daran den vergangenen zwei Dekaden ihre leider herzlich wenig. Länder heruntergewirtschaftet, und die jeweils herrschenden Schichten berei- Politische Studien: Im Nahen Osten cherten sich maßlos. In diesen Miss- finden wir schier unermesslichen wirtschaften ohne Hoffnung auf Bes- Reichtum und bittere Armut Seite serung sind die Mittelschichten die an Seite. Der Terrorismus hat in bei- eigentlichen Verlierer der vergangenen den sehr unterschiedlichen sozioöko- zwei Dekaden. Und es sind zumeist nomischen Milieus seine Wurzeln: Man deren akademisch ausgebildeten Kin- denke nur an die palästinensischen der, die sich gegen die korrupten Re- 12 Politische Studien-Zeitgespräch gierungen auflehnen und dabei vor zioökonomisch determinierte Entwick- terroristischen Mitteln des Widerstands lungsbedingungen des Terrorismus im nicht zurückschrecken. Das gilt nicht Nahen Osten gibt, dann muss es wohl nur für Algerien, Ägypten und Pa- auch eine Therapie geben, die an lästina, sondern auch für Saudi-Ara- wirtschaftlichen bzw. sozialen Tatbe- bien, wo die erst in den 1970er-Jahren ständen ansetzt? entstandene Mittelschicht seit einigen Jahren einen rapiden sozialen Abstieg S¸efik Alp Bahadir: Die ökonomischen erlebt. Im Falle der Palästinenser über- und politischen Ursachen des Terro- deckt die aktuelle brutale Besatzungs- rismus im Nahen Osten hängen eng politik Israels übrigens nur vorüber- zusammen. Schon seit der Gründung gehend den Widerstand der gebildeten bzw. politischen Unabhängigkeit der Jugend gegen die korrupten Politiker jungen Staaten dieser Region sind die der Autonomiebehörde. Das Millionen- dort jeweils herrschenden Eliten nicht heer von Armen in der Region, das um nur von einer Aversion gegenüber das nackte Überleben kämpft, knüpft politischen Freiheiten, sondern auch an jede Herausforderung der beste- von einem tiefen Misstrauen gegenüber henden Verhältnisse Hoffnungen, auch ökonomischen Freiheiten ihrer Bevöl- wenn es sich dabei um marginalisierte kerung beseelt. Folglich hatten und islamistische Extremisten handelt, die haben ihre wirtschaftspolitischen Kon- eine bessere Zukunft versprechen. zepte stets einen gemeinsamen Nenner: die Dominanz des Staatssektors, die Deshalb meine ich, dass die Armut der Einschränkung der wirtschaftlichen fruchtbare Nährboden, aber nicht die Betätigungsfelder der Bürger und die primäre Ursache des Terrorismus im Marginalisierung der Märkte. Der Nahen Osten ist. Die eigentlichen Ur- Staatsanteil an der Volkswirtschaft in sachen und zugleich die Zielscheiben dieser Region ist der höchste in der des Terrorismus in diesen Ländern sind Welt; und zusammen mit mangeln- vielmehr die dortigen korrupten Un- der Transparenz und demokratischer terdrückungsregime, die das enorme Kontrolle sind Korruption und Miss- Wirtschaftspotenzial dieser Region wirtschaft Tür und Tor geöffnet. Die verschwenden und für die aussichtslose Therapie muss deshalb mit einem Re- Armut und politische Unterdrückung formprogramm für mehr Demokratie von Millionen von Menschen die und Menschenrechte, für weniger Verantwortung tragen. Die Terrorakte Staat- und mehr Marktwirtschaft be- vom 11. September waren insoweit nur ginnen. Dafür bilden heute die mittel- die Spitze eines Eisbergs und richte- und osteuropäischen Staaten sehr gute ten sich gegen die deutlichsten Sym- Vorbilder und bieten zugleich wert- bole der wirtschaftlichen und militäri- volle Erfahrungen an. Doch setzen die schen Machtbasis einer amerikanischen Öleinnahmen und die Finanzhilfen Außenpolitik, in der oft die Haupt- bzw. Darlehen westlicher Geberländer stütze dieser verhassten Regime ge- die Nahostregierungen noch in die sehen wird. Lage, ihre korrupten Wirtschaftssys- teme aufrechtzuerhalten und allen- Politische Studien: Wenn es ökono- falls mit halbherzigen Reformansätzen mische Ursachen oder zumindest so- eine Wende zum Besseren vorzutäu- Politische Studien-Zeitgespräch 13 schen. Im Gegensatz zu osteuropäi- Folglich werden diese Bewegungen schen Transformationsländern fehlt durch sozialen Unfrieden gespeist. Das hier eine internationale Instanz wie die gilt ganz generell: für die Entstehung EU, die ihre Hilfe für eine bessere Zu- der Bewegung der Muslimbrüder aus kunft an strenge politische und öko- der Wirtschaftskrise in Ägypten der nomische Kriterien knüpft. Leider 1930er-Jahre ebenso wie für die Ha- betrachtet der Westen diese Region mas während der ersten Intifada heute noch primär unter geostrate- und Hizbullah im libanesischen Bür- gischen und energiepolitischen Ge- gerkrieg. Der soziale Unfrieden fördert sichtspunkten, und nicht zuletzt als die Entstehung und Stärkung islami- den weltweit größten Absatzmarkt im scher Oppositionsbewegungen und Rüstungsgeschäft. wird zum Verhängnis, wenn solche Oppositionsgruppen an die Macht Politische Studien: Die orthodox-fun- gelangen. Im Iran, in Pakistan und im damentalistische Bewegung im Islam Sudan können sich die islamischen wird also offenbar durch sozialen Un- Regime heute nur durch Unter- frieden gespeist. Muss unter diesen drückung jedweder Opposition an der Umständen ein fundamentalistisches Macht halten. islamisches Regime nicht Interesse an einem Erhalt sozialer Missstände ha- Politische Studien: Kann es also sein, ben, solange man nur das westliche dass „Wohlstand für alle“ über den Ausland für diese Missstände verant- Weg einer Sozialen Marktwirtschaft wortlich machen kann? nach westlichem Vorbild deshalb für

S¸efik Alp Bahadir: Die Bekämpfung der sozioökonomischen Verwerfungen, kulturellen Dekadenz und politischen Korruption in den eigenen Gesell- schaften ist die gemeinsame politische Programmatik aller islamischen politi- schen Bewegungen. Mit der „Reini- gung“ der islamischen Gesellschaften von den dem Westen nachgeahmten Normen und Institutionen und mit der Rückkehr zu wahren islamischen Nor- men und Verhaltensweisen sollen die Massen für die Bekämpfung der wirt- schaftlichen und sozialen Fehlentwick- lungen in den eigenen Ländern mo- bilisiert werden. Die anzustrebende islamische Wirtschafts- und Gesell- schaftsordnung ist dabei nur ein nor- matives Ideal, nämlich das ideologi- Prof. Dr. S¸efik Alp Bahadir sieht in den sche Gerüst der Kritik an den beste- korrupten Unterdrückungsregimen des Nahen henden Verhältnissen in den eigenen Ostens den Hauptgrund für Armut und Gesellschaften. Unterdrückung der ansässigen Bevölkerung. 14 Politische Studien-Zeitgespräch fundamentalistische Islamisten eine S¸efik Alp Bahadir: Beide Motivationen kulturelle Bedrohung darstellt, zumal waren in gewissem Sinne ausschlag- der orthodoxe Islamismus auf extrem gebend. Einerseits waren die Terrorakte patriarchalischen und hierarchischen gegen die deutlichsten Symbole der Strukturen aufbaut? wirtschaftlichen und militärischen Machtbasis der amerikanischen Hege- S¸efik Alp Bahadir: Man muss hier monialpolitik gerichtet, worin die deutlich unterscheiden zwischen star- Hauptstütze der verhassten Regime in ken sozialen Bindungen, die auf Stam- den eigenen Ländern gesehen wird. messtrukturen und Familienverbän- Andererseits beobachten wir seit Beginn den basieren und die politische der 1990er-Jahre ein deutliches Aus- Herrschaft in vielen Ländern prägen, einanderklaffen von zwei Richtun- und den Organisationsstrukturen von gen in den islamischen Oppositions- islamischen politischen Bewegungen. bewegungen in nahöstlichen Län- Die Letzteren sind zumeist rudimen- dern: Eine breitere gemäßigte Strömung tär und schwach. Auf Grund der wirt- ist bestrebt, sich mit Teilen der schaftlichen Misere, der gesellschaft- säkularen Schichten zusammenzu- lichen Dekadenz und der Hoffnungs- schließen und gegen die autoritären losigkeit der Massen auf eine bessere Herrschaftseliten demokratischen Wi- Zukunft reichen diese rudimentären derstand zu leisten. In einigen Län- Organisationsstrukturen jedoch zu- dern haben solche Bewegungen bzw. meist aus, um die jeweiligen Ideolo- Parteien sogar Zugang zu den Par- gien als endemische gesellschaftliche lamenten gefunden. Ein radikaler Ge- Strömungen zum Teil jahrzehntelang genpart versucht dagegen, noch mit aufrechtzuerhalten, bis sie unter güns- letzten Kräften und spektakulären tigen Umständen, d.h. wachsendem Aktionen sich Gehör und Geltung zu sozialen Unfrieden, einen starken Ein- verschaffen. Eine solche Aktion waren fluss auf eine Vielzahl von sympa- die Terrorakte vom 11. September. thisierenden politischen Institutionen Hierin sehe ich einen Verzweiflungsakt und sozialen Schichten gewinnen und aus Schwäche, der keineswegs den bisweilen den gesamten Staatsapparat Beginn eines Weltbürgerkriegs, wie von beherrschen – wie im Iran, in Sudan, manchen behauptet, sondern eher das Pakistan und Afghanistan. Ende des von Ägypten bis Algerien tobenden islamistischen Terrorismus Politische Studien: Welche Motivation der 1990er-Jahre einläutete. mag beim Anschlag auf das World- Trade-Center im Vordergrund ge- Politische Studien: Sie sind insbeson- standen haben: ein symbolischer Akt dere auch Türkeiexperte. Welches sind gegen eine Weltwirtschaft nach west- die Gründe dafür, dass die Türkei heute lichem Zuschnitt und unter westlicher im Gegensatz zu vielen anderen isla- Dominanz oder mehr eine rein tak- misch geprägten Staaten einen Weg an tische Entscheidung im Hinblick der Seite ihrer westlichen Partner geht? auf die Absicht, mit gegebenen Mit- teln größtmöglichen materiellen und S¸efik Alp Bahadir: Ich möchte hier vor psychologischen Schaden anzurich- allem zwei Gründe nennen. Erstens ten? gehört die Türkei nicht zu den nah- Politische Studien-Zeitgespräch 15

östlichen Staaten, die von den Sie- Regimen unterdrückt und an den Rand germächten des Ersten Weltkriegs am des politischen Geschehens gedrängt grünen Tisch kreiert und Lakaien- wurden, endlich eine Chance der po- Königen anvertraut wurden. In der litischen Partizipation und des Ein- Türkei hat eine westlich gebildete und flusses erhalten. Das wiederum erfor- geprägte Elite unter der Führung von dert die Unterstützung des Westens. Atatürk einen Befreiungskrieg gegen Der Westen sollte das Primat der re- die Siegermächte durchgeführt und gionalen Stabilität im Dienste der einen Staat gegründet, der von An- eigenen Energieversorgung zu niedri- beginn die westliche Zivilisation als gen Preisen unter Inkaufnahme der Richtschnur für den politischen und fehlenden Demokratie und Menschen- sozialen Fortschritt akzeptiert hat. rechte in den meisten Staaten der Zweitens wurden der Türkei stets stren- Region endlich aufgeben: Es darf nicht ge Maßstäbe angelegt, als das Land länger sein, dass die undemokratische die wirtschaftliche und politische Inte- Regierung Ägyptens zu den größten gration in die NATO, in den Europarat Empfängern der amerikanischen Aus- und in die EWG bzw. EU begehrte. landshilfe gehört und das wahha- Diese strengen Maßstäbe haben dort bitische Saudi-Arabien den größten den langfristigen Reformprozess maß- Absatzmarkt für amerikanische Rüs- geblich gefördert und nicht wenige tungsgüter bildet. Die westliche Weis- Rückschläge und Entgleisungen auf heit, wonach die Demokratie Mut er- diesem Weg abzufangen geholfen. Im fordert, sollte auch im Vorderen Orient Ergebnis ist die Türkei heute das einzi- gelten. Dafür spricht nicht nur das ge laizistische Land, das von einer Beispiel der Türkei. Ansätze zu ähn- islamisch-demokratischen Partei re- lichen Entwicklungen sind auch in giert wird, ohne dabei vom Pfad der Jordanien und Marokko zu beobach- Integration in die Europäische Union ten, seitdem die dortigen Regime die und des Anschlusses an die westliche allmähliche Öffnung zur Demokratie Wertegemeinschaft im Geringsten wagen. Diese Beispiele sollten insbe- abzuweichen. sondere die USA dazu ermutigen, sich darauf zu besinnen, dass die Demo- Politische Studien: Könnte der „tür- kratie auch im Nahen Osten die beste kische Weg“ auch für andere Länder Staatsform ist – und nicht zuletzt die des Nahen Ostens gangbar sein? beste Therapie gegen soziale und politische Verwerfungen, aus denen der S¸efik Alp Bahadir: Eindeutig ja! Dazu Terrorismus entsteht. müssen allerdings die demokratischen Kräfte und Parteien, die einst von Politische Studien: Herr Professor den Kolonialmächten und seither von Bahadir, wir danken Ihnen für das deren Lakaien bzw. eigenen autoritären Gespräch.

Die Fragen stellte Dr. Peter Stein, Referent für Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel- Stiftung, München.

Schwerpunktthema

Notwendige Arbeitsmarktreformen noch nicht in Sicht

Einführung: Reformblockade trotz wachsender Massenarbeits- losigkeit und die Rolle der Gewerkschaften

Peter Stein

Vor Jahresfrist konnte man fast den tuation braucht man also nur ei- Eindruck gewinnen, in Sachen „Ar- nen echten Organisationsexperten beitsmarkt- und Beschäftigungspoli- aus der Wirtschaft als Berater mit tik“ würden die Dinge jetzt so richtig einer Organisationsreform der Bun- in die Gänge kommen, zumindest so- desanstalt zu beauftragen, schon fern man geneigt war, den Willens- hat man alles unter Kontrolle – bekundungen der Bundesregierung zumindest auf „konzeptioneller“ Glauben zu schenken. War man schon Ebene, und zwar noch bis zur Bun- zu Jahresbeginn 2002 beim „Job-Aqtiv- destagswahl im September. Man Gesetz“ sehr kreativ – zumindest in bezeichnet eine derartige Sicht- Fragen der Rechtschreibung –, so muss- und Vorgehensweise als „Komple- te wenige Wochen später wieder ein xitätsreduktion“. Vorteil: Die Dinge neues Konzept her, um die aktive sind in bestechender Weise über- Arbeitsmarktpolitik nun auch wirklich sichtlich, lassen sich scheinbar in richtig aktiv zu machen. Wir erlebten den Griff bekommen, man beweist sodann eine Inszenierung in zwei scheinbar Handlungskompetenz Akten: und man macht relativ wenige Konfliktfelder auf. Nachteil: Es 1. Angestoßen und legitimiert von funktioniert nicht. Die Therapie bekannt gewordenen Ungenauig- hat zu wenig mit der Krankheit keiten in der Arbeitsmarktstatistik zu tun. Diese Tatsache interessiert schien es plötzlich eine ausge- aber zunächst nicht, da sie erst nach machte Sache zu sein, dass die der Wahl offenkundig in Erschei- Ineffizienz der Bundesanstalt für nung tritt. Arbeit mit ihren Arbeitsämtern dafür verantwortlich sei, dass es 2. Das ist aber kein allzu großes bislang beim Abbau der Massen- Problem, denn zum einen ist die arbeitslosigkeit nicht ganz wie ge- Wahl dann bereits gelaufen. Außer- plant gelaufen war. In dieser Si- dem hatte man durch die Berufung

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 20 Peter Stein

eines externen Beraters vorgebaut: nicht unerheblich großen Anzahl der Wenn die Erwartungen nicht erfüllt von Arbeitslosigkeit Bedrohten im werden, hat der Berater wohl Land Besserung versprochen worden, seine Arbeit nicht gut gemacht; er doch die Bilanz am Ende des Tages ist der geborene Sündenbock. Im war alles andere als erfreulich. Für diese zweiten Akt sollte also die „stell- Legislaturperiode hatte sich die neue vertretende Hinrichtung“ des Bera- alte Bundesregierung mit Versprechen ters folgen, die allerdings deshalb etwas mehr zurückgehalten, und es nicht funktioniert hat, weil Peter kommt Monat für Monat nur noch Hartz sich nicht an die Regiean- schlimmer. Wo werden wir erst sein, weisungen gehalten hat. Er zog es wenn sich die Bundesregierung ge- vor, sich rechtzeitig genug von dem zwungen sieht, Probleme einzuge- nach ihm benannten „Konzept“ zu stehen? distanzieren, zumal der Experte aus der freien Wirtschaft in seiner Ar- Der Niedergang beschleunigt weiter. beit als Regierungsberater dann Die Lernprozesse jener gewerkschaft- doch nicht die nötigen Freiheits- lichen Verbände, die der amtierenden grade hatte. Bundesregierung offenbar die Hand führen, verharren gleichzeitig in den Eine Erfolgsgarantie hätten da nur die Diskussionen der späten 70er-Jahre, Kabarettisten, ginge es nicht um ein obwohl die erforderlichen Lösungsan- Thema, das allein für derzeit 4,7 Mio. sätze bereits ebenso lange1 oder sogar statistisch ausgewiesene Arbeitslose schon aus der Zeit vor dem Zweiten und deren Familien schicksalhaft und Weltkrieg bekannt sind. Beispielsweise alles andere als amüsant ist. finden wir über die heute geführte Diskussion über die Notwendigkeit, im Der politisch Verantwortliche lenkt von Tarifrecht verstärkt die Möglichkeit seiner Verantwortung ab: Das The- einzelbetrieblicher Gestaltungsspiel- ma wird vereinfacht und auf einen räume einzurichten, bereits aus den Nebenkriegsschauplatz verschoben. Jahren 1926 bis 1932 umfangreiches Gleichzeitig wird jemand, der mit der Schrifttum.2 Die Gewerkschaftspolitik Regierung nichts zu tun hat, auf die von heute kann aber durchaus auch Bühne gezogen; die eigentliche Poli- aus ihrer eigenen Vergangenheit lernen. tik wird auf öffentliche Inszenierung So entwarf etwa Ursula Engelen-Kefer reduziert, wie wir dies auch mit in den 70er-Jahren die Perspektive einer anderen Beratergremien erleben. Es „integrierten Beschäftigungspolitik“: drängt sich die Frage auf, inwieweit der „Notwendige Voraussetzung wäre hier- politisch Verantwortliche überhaupt bei zunächst die Verpflichtung aller be- bereit und in der Lage ist, tatsächlich schäftigungswirksamen Maßnahmen Verantwortung zu übernehmen, oder auf die Vorrangigkeit des Vollbeschäf- pointiert: ob die „ruhige Hand“ nicht tigungszieles in folgender Interpreta- von Anfang an eine „gelähmte Hand“ tion: Sicherung eines Rechts auf Arbeit war. im Sinne des Einsatzes aller gesamt- und einzelwirtschaftlichen beschäfti- In der vergangenen Legislaturperiode gungspolitischen Maßnahmen zur war den Arbeitslosen und der sicherlich Gewährleistung der vollwertigen Be- Reformblockade trotz wachsender Massenarbeitslosigkeit 21 schäftigung für alle Arbeitnehmer.“3 wichtigste bundespolitische Aufgabe Ein „Recht auf Arbeit“, wie es in Art. sehen,7 während aber gerade dieser 163 der Weimarer Verfassung als Soll- Prozess durch die Gewerkschaften be- Bestimmung vorgesehen war, ist zwar und verhindert wird? Welche Legi- keine realistische Perspektive. Generell timation haben die Gewerkschaften alle Maßnahmen arbeitsmarktpoliti- überhaupt noch, wenn sie nur 29% scher Akteure daran zu messen in- der abhängig Beschäftigten repräsen- wieweit sie dem Beschäftigungsziel tieren (2001) gegenüber 40% vor zehn zuträglich sind, ist aber sicherlich eine Jahren und wenn allein im Jahr 2002 sehr gute Idee. Der Deutsche Ge- rund 200.000 Mitglieder „mit den werkschaftsbund (DGB) ist dazu ein- Füßen abgestimmt“ haben.8 Das poli- geladen, heute in diesem Sinne mit tische Gewicht einer politischen Partei gutem Beispiel voranzugehen. hängt von ihrem Wahlergebnis ab; müssen es sich nicht auch irgend- Der DGB hatte es sich in seinem wann die Gewerkschaften gefallen Grundsatzprogramm von 1963 auf die lassen, in ihrer Relevanz neu verortet Fahne geschrieben, „der Würde des zu werden? arbeitenden Menschen Achtung zu verschaffen“4. Doch was ist heute mit Hinter der Tarifautonomie und der der Würde all jener, die gerne zu den Neutralitätspflicht des Staates stehen „arbeitenden Menschen“ gehören wür- die negativen Erfahrungen mit staat- den und denen schon unzählige Male lichen Eingriffen in Schlichtungsver- gesagt wurde, dass man sie nicht fahren während der Weimarer Re- brauchen kann, weil sie zu teuer sind? publik.9 Vom Grundgedanken her soll In dem selben Grundsatzprogramm die Tarifautonomie sicherstellen, dass steht als eine weitere Zielformulierung, zwischen den Tarifparteien ein Gleich- „die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewicht der Kräfte herrscht, das durch zu ermöglichen“5. Doch wie ist es um eine Neutralitätspflicht des Staates ge- die freie Entfaltung all derjenigen genüber einseitiger politischer Ein- bestellt, die auf Grund tarif- und flussnahme abgesichert ist. Ein Kräfte- arbeitsrechtlicher Regelungen dauer- gleichgewicht der Marktparteien lässt haft bzw. endgültig vom Erwerbs- aus der Perspektive der ökonomischen prozess ausgeschlossen sind? Hat es Theorie klassischer Provenienz die etwas mit freier Entfaltung zu tun, Erreichung eines optimalen Markt- wenn Menschen – sicherlich oft mit ergebnisses erwarten und hat gleich- Interesse und Leidenschaft – Berufe zeitig als Sozialtechnologie eine sozial erlernen, die sie dann nicht ausüben befriedende Funktion. Von fachlicher können? Seite wird gegenüber der heute real praktizierten Tarifautonomie jedoch Jan Tinbergen maß den Gewerk- der Einwand erhoben, ihre Funktions- schaften einst „eine große Bedeutung fähigkeit sei dadurch gestört, dass die für eine funktionierende Demokratie“ Rechtsprechung des Bundesarbeits- zu.6 Inwieweit kann diese Aussage gerichts das Verhandlungs- und Kampf- in einer Zeit noch Bestand haben, in gleichgewicht mit der Zeit zu Gunsten der 75% der Menschen in der Be- der Gewerkschaften verschoben habe, kämpfung der Arbeitslosigkeit die und zwar:10 22 Peter Stein

● durch den Verzicht auf einen sonen (einschließlich versteckter Ar- Schlichtungsversuch vor jedem beitslosigkeit)12 als ein soziales Kon- Arbeitskampf entgegen der Recht- fliktfeld zu sehen. Die Wahrnehmung sprechung des Großen Senats beim sozialer Problemlagen seitens der Ge- Bundesarbeitsgericht; werkschaften scheint allerdings durch ● durch die fehlerhafte Proklamation eine Sichtweise verzerrt zu sein, die aus zulässiger Warnstreiks (1974); dem Goldenen Zeitalter der Vollbe- ● durch die Quotenrechtsprechung schäftigung stammt: Der klassische zur Abwehraussperrung (1980); Lohnkonflikt ist stets für ein drama- ● durch die Anerkennung der „Neuen tisches, medienwirksames und da- Beweglichkeit“ (sog. Wellenstreiks) mit für die Gewerkschaften mobili- als zusätzliches Kampfmittel der sierendes Schauspiel gut, während das Gewerkschaften (1984); eigentliche Problem der Massenar- ● und durch die endgültige Liqui- beitslosigkeit nur am Rande, im dation des „ultima ratio“-Prin- Rahmen der Selbstverwaltung der zips mit der Zulassung von Wel- Bundesanstalt für Arbeit mitverwaltet lenstreiks schon zu Beginn und wird. Gleichzeitig ist das oben be- während laufender Tarifverhand- schriebene ungleichgewichtige insti- lungen (1984). tutionelle Gefüge gegen Korrekturen insofern relativ stark immunisiert, als Demgegenüber verfüge die Arbeitge- seitens der Gewerkschaften nach wie berseite über keine wirksamen Ab- vor sehr entschlossen auf die Neu- wehrinstrumente mehr und sei da- tralitätspflicht des Staates gepocht durch erpressbar geworden. Fazit: wird, sobald Politiker es wagen, sich „Arbeitskämpfe haben völlig neue auch nur zur Tarifpolitik zu äußern – Fronten. Streiks werden nicht mehr und dann auch noch gewerkschafts- gegen die Arbeitgeber, sondern gegen kritisch. die Arbeitslosen und die Steuerzahler geführt.“11 Es ist wirklich interessant, die politi- sche Kultur des DGB in der Hand- Das grundlegende Funktionsprin- habung der Tarifautonomie etwas ge- zip der Tarifautonomie – das Gleich- nauer zu beobachten: So ist die Tarif- gewicht der Kräfte – ist somit fak- autonomie selbstverständlich eine tisch außer Kraft gesetzt. Die real willkommene Argumentationsstrategie, praktizierte Tarifautonomie hat sich wenn es darum geht, Reformen ab- von ihrer ursprünglichen Funktion als zuwehren, zu mobilisieren, eigene überlegener Konfliktlösungsmecha- Machtpositionen zu festigen und den nismus entfremdet und wird dem- selbsterwählten politischen Gegner zu gegenüber zunehmend zu einem diffamieren. Unmittelbar vor der Bun- Konflikt- und Problembeschaffungs- destagswahl, am 16. September 2002, mechanismus. Dies gilt wiederum in erscheint auf der Titelseite der Ge- ökonomischer Hinsicht ebenso wie werkschaftszeitschrift des DGB „ein- mit Blick auf soziale Konfliktpoten- blick“13 ein Artikel, der mit politischer ziale, sofern man denn bereit ist, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Ungerechtigkeit einer Unterbeschäf- der Tarifpolitik in der Tat nichts mehr tigung von insgesamt 6,8 Mio. Per- zu tun hat. Unter dem Titel „Sommer Reformblockade trotz wachsender Massenarbeitslosigkeit 23 droht mit heißem Herbst“ ist dort zu Wirklichkeit auf moralischer Ebene ihr lesen: „Schweres Geschütz fährt (...) letztes Gefecht schon längst hinter Sommer gegen die Union auf. Er wirft sich? ihr vor, die Tarifautonomie zerstören zu wollen, und warnt: ‚Wer das macht, Man erinnere sich daran, dass der kriegt Ärger – und zwar richtig Ärger'. Tarifvertrag einst als die „heute Stein des Anstoßes sind drei (…) Sätze wichtigste Form der Mitbestimmung“ im ‚Startprogramm' von CDU/CSU: gerühmt wurde – und zwar durchaus ‚Zur Erweiterung des Spielraumes für auch von Politikerpersönlichkeiten, die betriebliche Bündnisse für Arbeit wer- nicht gerade in einem direkten Zu- den wir die notwendige tarifrechtliche sammenhang mit der Gewerkschafts- Flankierung ermöglichen. Neben Lohn bewegung stehen.15 Gibt es heute und Arbeitszeit werden künftig auch überhaupt noch die Voraussetzungen die Beschäftigungsaussichten in den dafür, dass der Tarifvertrag als eine Günstigkeitsvergleich einbezogen wer- „Form der Mitbestimmung“ gelten den können. Den Tarifparteien wird kann? Zweifel sind angebracht, wenn zur Sicherung der Tarifautonomie ein man bedenkt, dass 1,3 Mio. Lang- begründetes Einspruchsrecht bleiben.'“ zeitarbeitslose inzwischen von einer aktiven Teilhabe an der Erwerbsge- Wer es wagt, Besitzstände des DGB zu sellschaft in der Regel auf Dauer hinterfragen, bekommt also „richtig ausgeschlossen sind und deshalb in Ärger“. Hiermit machte jüngst auch punkto „Arbeit“ innerhalb unserer der Christliche Gewerkschaftsbund Erwerbsgesellschaft generell nichts (CGB) Bekanntschaft, als er es doch mehr mitzubestimmen haben. Dabei tatsächlich wagte, auf sein verfassungs- ist 1,3 Mio. nur der Wert, den die rechtlich garantiertes Grundrecht der deutsche amtliche Statistik hergibt; die Koalitionsfreiheit zu pochen und durch OECD geht sogar davon aus, dass in den Abschluss eines ersten Branchen- Deutschland 51,5% aller Arbeitslosen Tarifvertrages „Zeitarbeit“ für sich als Langzeitarbeitslose gelten müssen.16 ebenfalls gewerkschaftliche Rechte in Anspruch zu nehmen. Die IG-Metall Angesichts der Entwicklung der Ar- reagierte hierauf mit der Drohung ei- beitslosenzahlen wird in der Tat von ner Blockade durch ihre Betriebsräte,14 Monat zu Monat fragwürdiger, in- die jetzt wohl auch noch politisiert und wieweit die Gewerkschaften noch ihre ins Gefecht geworfen werden sollen. Rolle als „Anwalt in Sachen Arbeit“ Eines wird deutlich erkennbar und spielen können, denn wer arbeitslos ist, muss deshalb ebenso deutlich for- der hat die Gewerkschaftspolitik ein- muliert werden: Beim Thema „Tarif- deutig gegen sich. automie“ handelt der DGB mit seinen Gliederungen ganz offensichtlich nach Dabei bräuchten die Arbeitslosen viel dem Motto der sog. Spaßgesellschaft: mehr einen „Anwalt in Sachen Arbeit“ „Jedem das seine und mir (uns) das als Erwerbstätige, da die Lebenslage der meiste!“ Hat all dies noch mit den Arbeitslosen wesentlich prekärer ist als Grundwerten der Solidarität und der die Lebenslage von Erwerbstätigen, die sozialen Gerechtigkeit zu tun, oder hat vor der nächsten Lohnrunde stehen. die politische Kultur des DGB in Welche „Minderheitsrechte“ gegenüber 24 Peter Stein dem Einfluss der von Gewerkschaften Die Politik muss in die politische Ver- dominierten Politik hat eigentlich die antwortung zurückkehren. Sie muss täglich wachsende Schar der Arbeits- die Ursachen der Massenarbeitslosig- losen? keit als solche anerkennen, um eine ursachenbezogene Therapie einleiten Dabei können wir heute nicht einmal zu können. Dies ist primär eine Frage für uns beanspruchen, von der un- der Wahrnehmung und der Kommu- rühmlichen Rolle der deutschen Ge- nikation von Realitäten. Hierzu sind werkschaften in der Politik überrascht keine weiteren Kommissionen nötig, worden zu sein, denn warnende allein der Sachverständigenrat zur Stimmen gibt es wiederum sehr lange. Begutachtung der gesamtwirtschaft- Beispielsweise warnte Walter Eucken lichen Entwicklung leistet ganze Arbeit in der ihm zu eigenen deutlichen – und zwar Jahr für Jahr. Darüber Sprache vor möglicher „Gruppen- hinaus führt kein Weg an der Er- anarchie“ und davor, dass das Par- kenntnis vorbei, dass die Bundesre- lament „(…) zu Gunsten von Mächten gierung selbst ein Teil des Verur- entthront (werde), die (…) ihre Einzel- sachungszusammenhangs der sich interessen durchzusetzen suchen“.17 immer weiter zuspitzenden Problem- In diesem Sinne schrieb auch Götz lage ist, da die Politik beharrlich an den Briefs 1952 in seinem seit fünfzig Problemen vorbeiarbeitet und dem Jahren beharrlich immer wieder zitier- Einfluss von Partikularinteressen gegen- ten Werk „Zwischen Kapitalismus über gemeinwohlorientierten Ansätzen und Syndikalismus. Die Gewerkschaf- zu viel Gewicht beimisst. ten am Scheideweg“: Die nachfolgenden Beiträge analysieren „In hoch industrialisierten Ländern die Problemlage im Beschäftigungs- entwickelt sich die Regierung immer system und im arbeitsmarktbezogenen mehr zur Verrechnungs- und Aus- Politikprozess. Hierbei ist es zunächst gleichsstelle für organisierte Gruppen- nahe liegend, auf der Unternehmens- interessen; zurzeit sieht es so aus, als ob seite eine Bedarfsanalyse durchzufüh- sie der Juniorpartner des einen oder ren, um zu untersuchen, inwieweit das anderen dieser Verbände sei. In dem Arbeitskräfteangebot überhaupt den gesamten Vorgang politisiert sich das Anforderungen der Unternehmen Sozialleben, während der Staat selber entspricht bzw. was unternommen sich sozialisiert. Das natürliche Volk, werden kann, um die Struktur des bestehend aus Personen und Perso- Arbeitskräfteangebots der Nachfrage nengemeinschaften, sinkt an die besser anzupassen. Dirk Werner prä- öffentliche und politische Peripherie, sentiert in seinem Beitrag „Arbeits- während die Interessenverbände den markt und Bildung im Spiegel einer Anspruch erheben, das Volk zu ver- Unternehmensbefragung“ die Ergeb- treten.“18 nisse einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Jahr Dem ist mit Blick auf eine Zustands- 2002 bei 633 Betrieben. Die Ver- beschreibung der Verfassung unserer fügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte gegenwärtigen Wirtschaftsordnungs- entscheidet darüber, ob der Produk- politik nichts mehr hinzuzufügen. tions- und Dienstleistungsstandort Reformblockade trotz wachsender Massenarbeitslosigkeit 25

Deutschland mit den technologischen kennbar. Die Niederlande haben uns Entwicklungen der Märkte im Aus- vorgemacht, wie der Arbeitsmarkt mit land mithalten kann, oder ob der Hilfe der Zeitarbeit an Flexibilität und Fortschritt zunehmend woanders an Beschäftigungsfähigkeit hinzuge- stattfinden wird. Das Preis-Leistungs- winnen kann. Es war daher für Peter verhältnis am Arbeitsmarkt ist für die Hartz nahe liegend, die Zeitarbeit als Unternehmen nicht nur ein wichtiger einen wichtigen Reformbaustein auf- Standortfaktor, sondern wird gerade zugreifen; die Zeitarbeit wurde sogar in diesen Tagen für immer mehr zum „Herzstück“ der Hartz-Reform er- Betriebe zu einer Überlebensfrage. klärt. Der dann einsetzende politische Leider ist aber eine Scherenentwicklung Umsetzungsprozess vermittelt uns ei- erkennbar, zwischen dem Wachstum nen guten Eindruck davon, was wir der Lohnkosten und Lohnzusatzkos- auch von zukünftigen Reformvorhaben ten einerseits und dem Angebot an der gegenwärtigen Bundesregierung Leistungsvermögen bzw. Qualifikation noch alles zu erwarten haben. In ihrem andererseits. PISA wirft seine Schatten Beitrag „Das ‚Herzstück' der Hartz- auf den Arbeitsmarkt. Hinzu kommt Reform in der Zwickmühle“ beschrei- auch im Rahmen der nachschulischen ben Reinhold Henseler und Fred van Fortbildung generell ein zu geringes Haasteren nicht nur diesen Politik- Investitionsvolumen in sog. „Human- prozess, sondern es wird auch erkenn- kapital“, weil der Sozialstaat seine bar, welche bemerkenswerten Beschäf- begrenzten Mittel zunehmend kon- tigungspotenziale freigesetzt werden sumtiv verwendet und gleichzeitig die können, wenn die Politik erst einmal Unternehmen durch die Steuer- und in der Lage ist, sachbezogen und ge- Abgabenbelastung eingeschränkt wer- meinwohlorientiert vorhandene Hand- den. lungsspielräume effektiv zu nutzen: Auch unter Berücksichtigung von Subs- Vor dem Hintergrund dieser Ergebnis- titutionseffekten (d.h. Ersatz „regu- se ist die Frage nicht unberechtigt, ob lärer“ Arbeitsplätze durch Zeitarbeit) der Arbeitsmarkt in seinem derzeitigen gehen Henseler und van Haasteren auf Zustand überhaupt noch „reif für den der Basis von Erfahrungen aus ande- Aufschwung“ wäre: Eine dann wieder ren EU-Staaten von einem Potenzial wachsende Nachfrage nach (hoch-) von über 1 Mio. effektiv zusätzlichen qualifizierten sowie gerade auch fach- Arbeitsplätzen durch umfassende Nut- lich speziell qualifizierten Arbeitskräf- zung der Zeitarbeit in Deutschland aus. ten kann nicht durch ein Heer fehl- qualifizierter Arbeitsloser gedeckt Staatsminister Otto Wiesheu äußert werden; man würde gewissermaßen angesichts der schlechten Stimmungs- mit einer mehr oder weniger gut lage und mit Blick auf die Beschäf- ausgerüsteten Polarexpedition mitten tigungspläne der Unternehmen die in der Wüste stehen. Befürchtung, dass die Zahl der Ar- beitslosen im nächsten Winter eine Strukturelle Anpassungsschwierigkei- neue Rekordhöhe von 5 Mio. erreichen ten werden aber auch bereits in einen könnte – mit allen damit verbunde- noch relativ leicht zu handhabenden, nen Konsequenzen für die Sozialkassen rein rechtlichen Zusammenhang er- und die Staatsfinanzen. Das Problem 26 Peter Stein des deutschen Beschäftigungssystems sichtigeres arbeitsrechtliches Regelwerk. ist ein zweifaches: Deutschland ist An diesen Ursachen müssen Reformen Wachstumsschlusslicht in Europa. des Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs- Gleichzeitig bedarf es in Deutschland systems ansetzen. In seinem Beitrag aber eines vergleichsweise hohen „Den Negativtrend auf dem Arbeits- Wachstums, um ein Wachstum der markt brechen – Politik für mehr Be- Gütermärkte in zusätzliche Beschäfti- schäftigung in Deutschland“ präsen- gung zu transformieren. Diese be- tiert Otto Wiesheu eine Analyse der sonders verfahrene Problemlage ist Aus- Problemsituation und leitet hieraus ein druck der ungünstigen Kostensitua- Programm zur Flexibilisierung des tion bei einer gleichzeitigen Ver- Arbeitsmarktes und ein umfassendes riegelung des Arbeitsmarktes durch Gesamtkonzept für mehr Wachstum immer komplizierteres und undurch- und Beschäftigung ab.

Anmerkungen 1 Vgl. etwa die Publikationen von Solt- durch Reformen im Arbeitsrecht, un- wedel und die dort angegebene Litera- veröffentl. Manuskript für die Exper- tur; beispielsweise: Soltwedel, Rüdiger: tentagung „Zukunft der Arbeitswelt“ der Unerwünschte Marktergebnisse durch Akademie für Politik und Zeitgeschehen sozialpolitische Eingriffe, in: Ottmar der Hanns-Seidel-Stiftung am 14.2.2003; Issing (Hrsg.), Zukunftsprobleme der Kurzfassung in der Frankfurter Allge- Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 1981, meinen Zeitung vom 25.2.2003. S.79ff. oder Soltwedel, Rüdiger: Mehr 11 Ebd. Beschäftigung Schwerbehinderter durch 12 Walwei, Ulrich: Ergebnisse der Bedarfs- mehr Zwang?, Kieler Arbeitspapiere Nr. projektion 2015, unveröffentl. Manu- 115/1981. skript für die Expertentagung „Zukunft 2 Vgl. ausführlich Englberger, Josef: Tarif- der Arbeitswelt“ der Akademie für Politik autonomie im Deutschen Reich, Berlin und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel- 1995, S.243ff. Stiftung am 14.2.2003. 3 Engelen-Kefer, Ursula: Beschäftigungs- 13 Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.): politik, 2.Aufl., Köln 1980, S.346. einblick Nr.16/02 vom 16.09.2002 4 Zitiert nach Teichmann, Ulrich: Grundriss 14 Süddeutsche Zeitung Nr.48, vom 27.2. der Konjunkturpolitik, München 1976, 2003 S.239. 15 Biedenkopf, Kurt: Grenzen der Tarifauto- 5 Ebd. nomie, Stuttgart 1964, S.6. 6 Tinbergen, Jan: Vor- und Nachteile einer 16 Vgl. Beitrag von Otto Wiesheu in diesem staatlichen Lohnpolitik, in: Hamburger Band. Jahrbuch, 6.Jg., 1961, S.71. 17 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirt- 7 Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.): Generatio- schaftspolitik, 6.Aufl., Tübingen 1990, nenstudie 2002, München 2003, S.14 . S.328. 8 Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.): 18 Briefs, Götz: Zwischen Kapitalismus und Kaum noch die Stimme der Arbeitneh- Syndikalismus. Die Gewerkschaften am mer, Informationsdienst des iwd, Nr.8, Scheideweg, Bonn 1952, zitiert nach 29.Jg., 2003, S.8. Lampert, Heinz/Bossert, Albrecht: Die 9 Vgl. ausführlich Englberger, J.: Tarifauto- Wirtschafts- und Sozialordnung der nomie, S.225ff. Bundesrepublik Deutschland, 14.Aufl., 10 Rüthers, Bernd: Mehr Beschäftigung München 2001, S.362f. Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung

Dirk Werner

1. Einführung dem Ergebnis, dass die Qualität des Standortes Deutschland nur in wenigen Die Probleme am deutschen Arbeits- Teilbereichen positiv zu bewerten ist.1 markt resultieren zu einem nicht un- Stärken gibt es noch im dualen System erheblichen Teil aus einem unzurei- der Berufsausbildung, in der Weiter- chenden qualitativen Bestand und zu bildung und im Hochschulbereich. Als niedrigen aktuellen Investitionen in Negativposten werden neben den Humankapital. Die Beschäftigungs- hohen direkten Lohnkosten und Lohn- aussichten könnten daher entschei- zusatzkosten vor allem der unzu- dend durch eine verbesserte Quali- reichend flexible Arbeitsmarkt sowie fizierung von Erwerbs- und Arbeits- das allgemein bildende Schulsystem losen sowie der nachwachsenden genannt. Die ungenügende Ausbil- Bevölkerung, aber auch der aktiv Er- dungsfähigkeit zahlreicher Schulab- werbstätigen erhöht werden. Hierbei solventen, die von den ausbildenden kommt einer effizienten Arbeits- Betrieben seit langem gesehen wird marktpolitik eine wegweisende Funk- und auch zu Vakanzen beim Ausbil- tion zu. dungsplatzangebot führt, ist jüngst durch die Befunde der PISA-Stu- Verbesserungen bei der Aus- und Wei- die bestätigt worden. An der Spitze terbildung können sich jedoch nur der von den befragten Firmen favo- dann im gewünschten Ausmaß ar- risierten Reformen stehen deshalb ne- beitsmarktrelevant niederschlagen, ben dem Abbau der Lohnzusatzkos- wenn die entsprechenden Rahmen- tenlast eine intensivere Vermittlung bedingungen gesetzt werden. Diese grundlegender Kulturtechniken durch betreffen insbesondere die gegenwär- die Schule. tig zu hohen Kosten und Inflexibi- litäten des Faktors Arbeit. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse der neuesten 2. Die Umfrage IW-Umfrage zu Ausbildung und Be- schäftigung: Die vom Institut der Seit 1997 führt das IW alljährlich deutschen Wirtschaft Köln (IW) be- deutschlandweit eine Unternehmens- fragten 633 Unternehmen kommen zu befragung zum Thema Ausbildung

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 28 Dirk Werner und Beschäftigung durch. Die darauf und sind nach ihrem erfolgreichen aufbauenden Prognosen erwiesen Abschluss zukünftig den Facharbei- sich als verlässlich und haben die tern und -angestellten zuzurechnen. Diskussion um Angebot und Nach- Von den Beschäftigten verfügen 17% frage von Ausbildungsplätzen ver- über einen Hochschulabschluss, ledig- sachlicht. Neben Fragen zu den ak- lich 15% rekrutieren sich aus an- und tuellen Beschäftigungs- und Aus- ungelernten Mitarbeitern. Diese for- bildungstrends greift die Unterneh- male Qualifikationsstruktur ähnelt sehr mensbefragung regelmäßig ein Schwer- den derzeitigen gesamtwirtschaftlichen punktthema auf. Im Jahr 2002 soll- Durchschnittswerten. ten die befragten Unternehmen die Qualität des Standortes Deutschland hinsichtlich Arbeitsmarkt, Sozialsys- 2.1 Ungünstige teme und Bildung beurteilen sowie Arbeitsmarktperspektiven daran anknüpfende einschlägige Ver- besserungsvorschläge bewerten. Anders als in früheren Jahren signa- lisiert der von den befragten Un- Die Umfrage wurde im Mai 2002 ternehmen gemeldete Personalbedarf durchgeführt. Der Fragebogen wurde für 2002 keine positiven Trends für den an 4.100 Unternehmen verschickt. deutschen Arbeitsmarkt (Tab.1): Mit Unter den Adressaten befanden sich 27,6% liegt der Anteil der Betriebe, die viele Unternehmen, die bereits in den zu einem Personalabbau gezwungen vorhergehenden Jahren befragt worden sind, über dem mit expansiven Per- waren.2 Bis Anfang Juli gingen 633 sonalplänen (20,2%). auswertbare Fragebogen ein; die Rück- laufquote liegt damit bei knapp 16%. Erst 2003 dürfte sich die noch aus- Vier Fünftel der Antworten kommen gesprochen zögerliche Konjunktur- aus den alten Bundesländern, drei erholung positiv auf die Arbeits- Viertel stammen von mittelständischen markttrends auswirken, denn bei den Unternehmen. Zwei Drittel kommen Erwartungen für 2003 liegt der Saldo aus dem Produzierenden Gewerbe, ein zwischen expansiven (20,7%) und Drittel aus dem Dienstleistungssektor; reduzierenden (18,6%) Personalplänen das Handwerk ist mit 16% vertreten. wieder leicht im positiven Bereich. Insgesamt repräsentieren die 633 Un- Allerdings gibt es hierbei noch er- ternehmen 1,1 Millionen Beschäftigte, hebliche Unsicherheiten. also 3% aller Erwerbstätigen (Stand: Ende 2001). Ein bemerkenswert hoher Anteil der befragten Unternehmen kann die Das qualifikatorische Beschäftigungs- weitere Beschäftigungsentwicklung profil der befragten Betriebe zeigt, dass noch nicht abschätzen (21,6%) oder sich ihr Unternehmenserfolg entschei- will hierzu noch keine Angaben dend auf das betriebliche Human- machen (12%). Die zwischenzeit- kapital stützt: 63% ihrer gesamten liche konjunkturelle Entwicklung Belegschaft haben eine abgeschlos- lässt eher noch zögerlicheres Ein- sene Berufsausbildung, weitere 5% stellungsverhalten im laufenden Jahr stehen in der beruflichen Ausbildung erwarten. Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung 29

Tabelle 1: Erwartete Entwicklung des Personalbestands gegenüber Ende 2001

Der Personalbestand wird ... bis Ende 2002 bis Ende 2003

zunehmen 20,2 20,7 unverändert bleiben 42,5 27,0 abnehmen 27,6 18,6

nachrichtlich: Kann ich noch nicht sagen 3,3 21,6 Keine Angabe 6,3 12,0

Antworten der befragten Betriebe in Prozent

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln

2.2 Strukturtrends bei der schen Betrieben mit zunehmen- Beschäftigung dem (31,4%) und mit abnehmen- dem Personalbedarf (20,7%) be- Neben diesen generellen quantitativen reits für das Jahr 2002 positiv. Trends lassen die Umfrageergebnisse Betriebe mit einem hohen Anteil aufschlussreiche strukturelle Faktoren an Fachkräften oder Auszubilden- erkennen, die den Arbeitsmarkt ge- den weisen zwar für 2002 eine ne- genwärtig prägen: gative Bilanz, für 2003 aber wie- der einen positiven Beschäftigungs- ● Betriebsgrößeneffekt: Die entschei- saldo auf. Dagegen sehen sich Be- denden Beschäftigungspotenziale triebe mit überdurchschnittlich ho- liegen nach wie vor im Mittelstand. hem Anteil an un- und angelern- Für das Jahr 2002 sind es ausnahms- ten Mitarbeitern gezwungen, ihren los Betriebe mit 10 bis 49 Mitar- Personalstand in beiden Jahren zu beitern, die mit einem Beschäfti- reduzieren. gungsaufbau rechneten. Für das ● Höherqualifizierungseffekt: In Zu- Jahr 2003 kommen Kleinbetriebe kunft benötigen die Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern und mehr Mitarbeiter, die den ständig mittelständische Unternehmen mit steigenden Qualifikationsanforde- 50 bis 499 Mitarbeitern hinzu. rungen gerecht werden. Dies be- Große Betriebe mit über 500 Mit- günstigt die Arbeitsplatzchancen arbeitern erwarten für beide Jahre von Fachkräften und Hochschul- einen deutlichen Personalabbau. absolventen: Für Bewerber mit ab- ● Humankapitaleffekt: Die Qualifi- geschlossener Berufsausbildung se- kation der Mitarbeiter prägt die hen 29,7% der Unternehmen einen unternehmerischen Personalpläne. steigenden und nur 12,3% einen Den mit Abstand größten Beschäf- sinkenden Bedarf. In den zwei Jah- tigungsaufbau planen Unterneh- ren wollen 27% der Unternehmen men mit einer hohen Akademi- mehr Hochschulabsolventen ein- kerquote. Hier ist der Saldo zwi- stellen, nur 7% weniger. Immer 30 Dirk Werner

weniger gefragt sind hingegen An- den gewerblich-technischen Berufen und Ungelernte. Für Mitarbeiter melden fast 81% der Betriebe solche ohne abgeschlossene Berufsaus- Bewerberdefizite. Die häufig mangelnde bildung sehen gut 28% der Betrie- Ausbildungsqualität deutscher Schul- be einen rückläufigen, nur knapp abgänger wurde jüngst durch die PISA- 3% einen steigenden Bedarf. Studie bestätigt. Ein zweiter Grund für vakante Ausbildungsstellen ist, dass Für den Ausbildungsstellenmarkt wird abgeschlossene Verträge von den Be- es für die kommenden Jahre, in denen werbern nicht angetreten werden. Jeder noch mit steigenden Schulabgänger- zweite betroffene Betrieb berichtete zahlen zu rechnen ist, auf ein aus- hiervon, bei den kaufmännischen Be- reichendes Angebot sowie einen ver- rufen erklärt dieser Faktor sogar 63% besserten Abgleich von Angebot und der Vakanzen. Drittwichtigster Grund Nachfrage ankommen. Bei der aus- für die Vakanzen sind nicht ausrei- reichenden Versorgung mit Lehrstel- chende Bewerberzahlen. Dies melden len sind unbesetzte Ausbildungsplätze ein knappes Drittel der Firmen. ein besonderes Problem. Auch im Jahr 2001 war der Lehrlingsbedarf der Be- triebe wieder größer als die Zahl der 2.3 Einschätzungen zur tatsächlich besetzten Ausbildungs- Standortqualität plätze: 1,7% aller angebotenen Aus- bildungsplätze blieben laut Umfrage- Die Defizite des Standortes Deutsch- ergebnis bis Jahresende 2001 endgültig land sind hinlänglich bekannt, ihre unbesetzt. Jeder fünfte Ausbildungs- Wirkungen auf die wirtschaftliche betrieb (19,8 %) war mit dem Problem Performance der Bundesrepublik eben- der Vakanzen konfrontiert. In den falls.3 Bei Wirtschaftswachstum und neuen Bundesländern ist diese Proble- Beschäftigungsaufbau ist Deutschland matik mit 7% weniger ausgeprägt inzwischen zum Schlusslicht Europas als im Westen (fast 23%). Auf dem geworden. Aus diesem Grund wur- Ausbildungsstellenmarkt gibt es somit den die Bewertung der Standortqualität weiterhin ein erhebliches West-Ost- und die notwendigen Reformen zum Gefälle. Dennoch hat sich die Zahl der Schwerpunktthema der IW-Umfrage im unbesetzten Stellen gegenüber 2000 Jahr 2002 gemacht. Das Gesamturteil merklich verringert. Dies ist auch auf der befragten Unternehmen zur Qua- die Erfolge regionaler Initiativen zur lität des Standortes Deutschland im Nachvermittlung offener Lehrstellen internationalen Vergleich fällt auf den zurückzuführen. ersten Blick weniger negativ aus als vor dem Hintergrund der öffentlichen Dis- Die IW-Umfrage macht deutlich, dass kussion zu erwarten war: Jeweils drei die wichtigste Ursache der Vakanzen von zehn befragten Betrieben geben zur die qualifikatorische Eignung der Be- Standortqualität ein positives, bezie- werber ist. Bei drei Vierteln der Aus- hungsweise negatives Urteil ab. Ein bildungsbetriebe, die Vakanzen mel- gutes Drittel der Urteile sind neutral. den, bleiben Lehrstellen unbesetzt, weil die Bewerber den Anforderungen des Übersetzt man die sieben möglichen Ausbildungsplatzes nicht genügen. In Bewertungen (von sehr gut über neutral Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung 31 bis sehr schlecht) in eine bipolare geergebnisse sehr unterschiedliche Percentilskala mit den Extremwerten Befunde liefern. Diese einzelnen Indi- plus 100 für „sehr gut“ und minus 100 katoren wurden zu drei Gruppen für „sehr schlecht“, ergibt sich für die zusammengefasst: zu arbeitsmarktrele- Gesamtbeurteilung ein Wert von +0,1 vanten Standortfaktoren, zu sozial- (Abb. 1). Hinter diesem neutralen Ge- politischen Einflussgrößen und zu samturteil stehen 19 einzelne Stand- Faktoren des Bildungssystems. ortindikatoren, zu denen die Umfra-

Abbildung 1:

Standortnachteil Arbeitsmarkt kosten das mit Abstand ungünstigste Standorturteil. Das Direktentgelt steht Die mit Abstand größten Defizite sehen in der Einschätzung der befragten die befragten Unternehmen bei den Unternehmen an zweiter Stelle der arbeitsmarktrelevanten Standortfak- negativen Standortfaktoren (–32,1). toren (Abb. 1). Hier stechen beson- Dieses Befragungsergebnis wird durch ders negativ die Arbeitskosten hervor: statistische Befunde bestätigt: Im Jahr 82% der Unternehmen beurteilen die 2001 lagen die Arbeitskosten des deutsche Position bei den Lohnzu- westdeutschen Verarbeitenden Gewer- satzkosten negativ, nur 3% positiv; bes mit mehr als 26 Euro je Stunde um der Rest gab keines oder ein neutrales 27% über dem Durchschnitt der 20 Urteil ab. In der bipolaren Bewer- wichtigsten Konkurrenzländer. Es be- tungsskala ergibt sich ein Minuswert legte damit in einem 17-Länder- von 61,7. Damit erhalten die Zusatz- Vergleich die ungünstigste Position.4 32 Dirk Werner

An dritter Stelle der arbeitsmarktrele- tivsten eingestuft (–19,9). Offenbar sind vanten Negativliste steht die man- die befragten Unternehmen mit dem gelnde Flexibilität des Arbeitsmarktes daraus resultierenden Anstieg der Lohn- (–29,9). Angesichts der in den letzten zusatzkosten ebenso unzufrieden wie Jahren verschärften Regulierungen – mit der geringen Effizienz von ABM unter anderem verschärfter Kündi- und ähnlichen Maßnahmen. Die Ren- gungsschutz, Beschränkung befriste- tenversicherung und das Gesundheits- ter Arbeitsverhältnisse, Rechtsanspruch system werden annähernd neutral be- auf Teilzeit, erweitertes Betriebsver- urteilt, die Arbeitslosenversicherung fassungsgesetz und Reregulierung der wird sogar leicht positiv eingestuft Lohnfortzahlung – erstaunt dieser (+10,3). Die sozialen Errungenschaften Befund nicht, zumal die OECD bereits einer vergleichsweise soliden Absiche- Ende der 90er-Jahre den deutschen rung werden hierbei offenbar stärker Arbeitsmarkt als einen der am stärksten gewichtet als die hohen Kosten und die regulierten Märkte eingestuft hat. negativen Anreize für den Arbeitsmarkt.

Hinter dem Urteil zum Zuwanderungs- recht (–23,5) stehen mit rund 11% Standortvorteil Berufsausbildung positiven und 38% negativen Bewer- tungen relativ wenige wertende Aus- Als eindeutig positiver Standortfaktor sagen, denn jeder fünfte Befragte wollte Deutschlands wird mit einem Wert von hierzu kein Urteil abgeben. Hierbei + 27,1 das duale System der Berufs- spielte vermutlich eine Rolle, dass zum ausbildung bewertet (Abb. 1). Nach wie Zeitpunkt der Umfrage unklar war, ob vor sieht die überwiegende Mehrzahl und in welcher Form das neue Zuwan- der Unternehmen in der fundierten derungsgesetz in Kraft treten würde. Fachkräfteausbildung trotz hoher durchschnittlicher Nettokosten einen Hinsichtlich des Arbeitskräfteange- entscheidenden Wettbewerbsvorteil. bots fallen die qualifikatorischen De- Besonders die Betriebsnähe der Aus- fizite und die mangelnde Passgenau- bildung mit zahlreichen Einfluss- und igkeit (–16,4) stärker ins Gewicht als Gestaltungsmöglichkeiten bei gleich- die quantitative Verfügbarkeit (–5,4). zeitig bundesweiter Anerkennung der Weitere Faktoren, die negativ auf den Abschlüsse als Qualitätsstandard mö- Standortfaktor Arbeitsmarkt einwirken, gen zu diesem Urteil geführt haben. sind das neue Mitbestimmungsrecht Diese Vermutung wird dadurch un- und der Arbeitsschutz. Die Arbeits- termauert, dass die vollzeitschulische zeitregeln haben mit –2,9 das geringste Berufsausbildung negativ beurteilt wird negative Gewicht. Hierbei ist die Tat- (–5,4). Denn hier fehlen beim Quali- sache bedeutsam, dass es inzwischen fikationserwerb die Arbeitsplatzbezo- immerhin in 29% aller deutschen Un- genheit und die Bedarfsorientierung. ternehmen Arbeitszeitkonten gibt. Aus ähnlichen Motiven dürfte die Wei- Unter den Standortfaktoren, die im terbildung vergleichsweise positiv be- Zusammenhang mit dem bestehenden wertet werden (+17,8). Dies erklärt Sozialsystem zu sehen sind, wird die auch die in den vergangenen Jahren aktive Arbeitsmarktpolitik am nega- steigenden Weiterbildungsaufwendun- Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung 33 gen der deutschen Wirtschaft.5 Das Vorschläge zur Beseitigung der mo- Hochschulsystem (+14,7) kommt trotz nierten Defizite zu bewerten. Auch anhaltender Kritik der Unternehmen hierbei wurden die sieben möglichen an der Praxisferne des Studiums und an Einstufungen (von sehr notwendig den überlangen Studienzeiten erstaun- über neutral bis nicht notwendig) in lich gut weg. eine bipolare Percentilskala mit den Extremwerten plus 100 für „sehr not- Große Schwächen werden derzeit wendig“ und minus 100 für „nicht allerdings im allgemein bildenden notwendig“ überführt. Die erste Grup- Schulwesen gesehen (–13,4). Diese pe der Vorschläge zielt auf notwendig Auswertung wird durch die Ergebnisse erachtete Reformen des Arbeitsmarktes der PISA-Studie gestützt. Dort belegen und der Sozialsysteme (Abb. 2). deutsche Schüler bei den grundlegen- den Kulturtechniken Leseverständnis und Mathematik lediglich einen Platz Notwendige im unteren Mittelfeld.6 Im Hinblick Arbeitsmarktreformen auf die steigenden Anforderungen in der Berufsausbildung auf Grund des Bei den Standortmängeln standen bei technologischen Fortschritts sowie den befragten Unternehmen die Lohn- veränderter Arbeitsorganisation ist zusatzkosten an erster Stelle. Insofern die mangelnde Ausbildungsreife von überrascht es nicht, dass Reformen auf Schulabgängern als schwerwiegendes dieser Ebene als besonders dring- Manko des allgemein bildenden Schul- lich angesehen werden: 87% der Ant- wesens zu bewerten. Auch die in den worten halten ein Senken der Lohn- vergangenen Jahren steigende Zahl von zusatzkosten für notwendig, nur 2% Schulabgängern ohne Schulabschluss sehen hier keinerlei Reformbedarf. Der stellt ein wachsendes Problem für Rest der Stichprobe ist unentschieden die Integration von Jugendlichen in oder hat keine Stellung bezogen. Auf Ausbildung und Beschäftigung dar. Vor der Percentilskala errechnet sich hieraus dem Hintergrund der demografi- ein Wert, der mit +73,5 höchste Prio- schen Entwicklung – rückläufige Zahl rität signalisiert. an Nachwuchskräften auf Grund sin- kender Schulabgängerzahlen sowie Probates Mittel hierfür ist nach mehr- Alterung der Gesellschaft und der heitlicher Auffassung der befrag- Belegschaften – besteht hier großer ten Firmen das Zurückdrängen der Ar- Korrekturbedarf. Die größten Defizite beitslosenversicherung auf ihre Kern- des Bildungssystems sehen die Unter- aufgaben (Percentilwert: +44,9) oder nehmen allerdings in seiner mangeln- das Differenzieren in Grund- und den Nähe zu den Anforderungen des Wahlleistungen bei den Krankenver- Arbeitsmarktes (–19,6). sicherungen (+28,5). Vermehrte An- reize für einen Wechsel aus den Sozial- hilfesystemen in die Beschäftigung 2.4 Notwendige Reformen können ebenfalls die Lohnzusatz- kostenlast mindern. In diesem Zu- Nach dieser Standortbewertung wurden sammenhang halten die Unternehmen die befragten Unternehmen gebeten, das stärkere Beachten des Lohnab- 34 Dirk Werner

Abbildung 2

standsgebots (+25,4) und das Schaffen trieblichen Öffnungsklauseln (+49,1), eines Niedriglohnsektors (+11,2) für ein dereguliertes Arbeitsrecht bezie- hilfreich. Die Dringlichkeit des Nied- hungsweise ein gelockerter Kündi- riglohnsektors fällt vergleichsweise gungsschutz (+42,9) und arbeitsmarkt- niedrig aus. Das mag an dem wenig gerechte Zuwanderungsregeln (+29,1). geeigneten und derzeit kaum genutzten Die zuletzt genannte Maßnahme wird Mainzer-Modell liegen. Eine Reduktion vor allem vom Dienstleistungsgewerbe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (34,5), speziell vom Gastgewerbe (53,3) wird mit +19,1 ebenfalls als vergleichs- und von den unternehmensnahen weise wenig dringlich angesehen. Das Dienstleistern (+44,4) angemahnt. ist darauf zurückzuführen, dass die Unternehmen einerseits für eine Fi- Als weitere Reformmaßnahmen mit nanzierung über das allgemeine Steuer- vergleichsweise hoher Dringlichkeit aufkommen plädieren und anderer- werden die stärkere Förderung von seits diese Maßnahmen zumindest Existenzgründungen (+45,0) sowie eine zeitweise und für Teile des Arbeits- bessere Vereinbarkeit von Familie und marktes (Ostdeutschland) als sinnvoll Beruf (+41,7) genannt. Mit dem letzten erachten. Ansatz öffnet sich ein großes Potenzial, qualifizierte Frauen für eine Berufs- Eine größere Flexibilität des Arbeits- tätigkeit zu gewinnen. Deutlich abge- marktes ist eine zweite, für die be- lehnt wird dagegen ein Anheben des fragten Unternehmen wesentliche Rentenalters (–43,6). Hier wünscht Reformebene. Instrumentelle Ansätze man sich eher flexible Lösungen indivi- sind aus ihrer Sicht Tarifverträge mit be- dueller Art.7 Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung 35

Notwendige Reformen im Einen weiteren Ansatz stellt die derzeit Bildungssystem diskutierte Schaffung von Qualifizie- rungsbausteinen in der Berufsvorbe- Den befragten Unternehmen wurden reitung dar, die benachteiligten Ju- weiterhin Vorschläge zur Reform des gendlichen den Erwerb von auf eine Bildungssystems zur Bewertung vor- spätere Lehre anrechenbaren Teilqua- gelegt, von denen hier diejenigen für lifikationen und damit den Einstieg in die Bereiche Aus- und Weiterbildung eine weiterführende Ausbildung er- vorgestellt werden. In der Berufsbildung möglichen soll. wird der Reformdruck im Vergleich zum allgemein bildenden Schul- sowie Neue Ausbildungsgänge im Dienst- dem Hochschulwesen vergleichsweise leistungsbereich sollten nach Auffas- niedrig bewertet.8 sung der Befragten im dualen System angesiedelt werden (+27,4). Die alter- native vollzeitschulische Ausbildung ● Berufsausbildung wird hingegen abgelehnt (–1,1). Mehr Gleichberechtigung zwischen beruf- Eine deutliche Mehrheit findet sich licher und allgemeiner Bildung wür- mit einem Percentilwert von +29,7 für de erreicht, wenn den Absolventen ein erhöhtes Angebot von zweijäh- einer dualen Berufsausbildung ein an- rigen, praktisch orientierten Ausbil- schließendes Hochschulstudium er- dungsberufen (Abb. 3). Dies fordern die möglicht würde. Die IW-Umfrage Unternehmen seit langem, um lern- räumt diesem Reformansatz eine schwachen Schulabgängern ohne Ab- mittlere Dringlichkeit (+10,7) ein. Diese schluss eine praxisgerechte Ausbil- Möglichkeit besteht zwar bereits, wird dungsalternative zu bieten. Diese sind aber gegenwärtig mit rund 55 Model- mit der theoretischen Komponente der len, die aktuell rund 1.800 Auszu- drei- bis dreieinhalbjährigen Ausbil- bildende zusätzlich qualifizieren, noch dungsberufe häufig überfordert. Hier- zu wenig genutzt. Häufig stehen dem zu passt, dass ein höherer Theorie- organisatorische und personelle Prob- anteil in der Berufsbildung von den leme in den Berufsschulen entgegen. Befragten strikt abgelehnt wird (–22,6). Aktuell liegt eine Vorschlagsliste des Kuratoriums der Wirtschaft für Be- ● Ausbau der Weiterbildung rufsbildung vor, die auch zahlreiche Vorschläge für theoriegeminderte neue Die Struktur des zukünftigen Perso- Ausbildungsberufe enthält.9 In der nalbedarfs ist durch einen steigenden Koalitionsvereinbarung der Bundes- Fachkräftebedarf und eine sinkende regierung findet sich im Rahmen der Nachfrage nach An- und Ungelernten Mittelstandsinitiative auch die An- geprägt. Hierbei ist allerdings zu be- kündigung, solche zweijährigen Aus- rücksichtigen, dass diese Prognosen bildungsberufe schaffen zu wollen. stets vom gegenwärtigen Status quo bei Diese Chance zur Umsetzung sollte im den Rahmenbedingungen am Arbeits- Hinblick auf erweiterte Ausbildungs- markt ausgehen. Sollte beispielsweise möglichkeiten für Schulabgänger mit eine andere Regelung für den Niedrig- Übergangsproblemen genutzt werden. lohnsektor realisiert werden, sind auch 36 Dirk Werner

Abbildung 3

für formal Geringqualifizierte zuneh- Unternehmen erkannt. Eine geeig- mende Beschäftigungspotenziale zu nete Förderung sehen sie über die von erwarten. Dennoch halten auch die be- ihnen selbst praktizierte betriebliche fragten Betriebe eine vermehrte Nach- Weiterbildung hinaus in der Errichtung qualifizierung von Erwachsenen ohne von individuellen Bildungskonten Berufsabschluss (+35,0) für eine sinn- (+30,8). volle Reform (Abb. 4). Diese werden im Gegensatz zu den Um solche Qualifizierungen praxis- meisten anderen Ländern in Deutsch- nah über einen längeren Zeitraum zu land gegenwärtig eher unter dem ermöglichen, befürworten sie ein mo- Aspekt der Arbeitszeitkonten diskutiert. dularisiertes Gesamtsystem der Aus- Bildungskonten hätten demgegenüber und Weiterbildung (+33,5). So könnten den Vorteil, dass Problemgruppen Mitarbeiter und Arbeitslose schritt- durch öffentliche Unterstützung ge- weise einen Berufsabschluss erreichen. zielter gefördert werden könnten und Die in diesem Zusammenhang zu- neben den Individuen auch die Un- nehmende Bedeutung des lebensbe- ternehmen freiwillige Zusatzleistun- gleitenden Lernens wird von den gen beisteuern können.

Abbildung 4 Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung 37

Die beiden Forderungen nach mehr dieses Berufs oder ihre eigenen In- Wettbewerb im Bildungssystem (+47,1) teressen und Fähigkeiten abzuwägen: und verstärkten öffentlichen Bildungs- 53% aller weiblichen und 36% aller investitionen (+42,1) ergänzen schließ- männlichen Ausbildungsanfänger kon- lich den bildungsrelevanten Reform- zentrieren sich auf zehn Ausbildungs- katalog. Bei den öffentlichen Bil- berufe. Andere zukunftsträchtige Lehr- dungsinvestitionen lag Deutschland in stellen bleiben unbesetzt.10 den 90er-Jahren unter dem OECD- Durchschnitt und beim internationalen Um dies zu verändern, sind Früh- Vergleich der Investitionen im Hu- erkennungssysteme erforderlich, die mankapital erreicht es nur auf Grund rechtzeitig zuverlässige Informationen privater Aufwendungen einen Platz im über die absehbaren Trends beim Mittelfeld. Qualifikationsbedarf und bei der Be- schäftigung liefern. Hierfür erscheinen aus der Sicht der Umfrage ein System ● Koordination von Bildungs- zur Früherkennung von Qualifikations- und Beschäftigungssystem anforderungen (+48,8) und fundier- te Arbeitsmarktprognosen (+40,6) hilf- Schließlich wurden die Unternehmen reich. Damit gäbe es nicht nur für die nach Reformen gefragt, mit denen das Berufswahl, sondern auch für die Bildungssystem dem Arbeitsmarkt an- Qualifikations- und Beschäftigungs- genähert werden kann (Abb. 5). Die planung der Unternehmen eine ver- intensivere Beratung von Jugendlichen lässlichere Datenbasis. Vorbilder hierfür bei der Berufswahl hat dabei im Urteil sind die USA und die Niederlande, die der unternehmerischen Praxis oberste bereits ausgefeilte Früherkennungs- Priorität. Denn immer noch streben zu systeme haben.11 Um den Rückstand viele junge Menschen einen aktuellen gegenüber anderen Ländern in diesem Trendberuf an, ohne dabei die Chancen Bereich zu reduzieren, läuft derzeit eine

Abbildung 5 38 Dirk Werner

Ausschreibung des BMBF zu einer Studenten. Auf dieser Ebene leisten die Machbarkeitsstudie zum Thema Ar- Arbeitskreise Schule-Wirtschaft seit fast beitsmarktradar. Eine intensivere Be- 50 Jahren intensive Vermittlungsarbeit. ratung der Ausbildungsanfänger würde Die Kooperation mit Hochschulen vor allem die im Jahr 2000 mit 25,1% findet besonders intensiv in dualen hohe Erstabbrecherquote reduzieren. Studiengängen an Berufsakademien, Hierbei ist allerdings zu berücksich- Verwaltungs- und Wirtschaftsaka- tigen, dass der größte Teil der Aus- demien sowie zunehmend auch an bildungsabbrecher die Lehre in einem Fachhochschulen statt, von denen anderen Betrieb oder in einem anderen inzwischen bundesweit über 430 Beruf erfolgreich beendet. Die reale angeboten werden.13 Abbrecherquote im dualen System, d.h. derjenigen, die endgültig keinen Berufsabschluss erwerben, liegt dem- 3. Fazit gegenüber lediglich bei zwischen 8 und 10%.12 Die Ergebnisse der Umfrage des IW Köln unterstreichen die seit langem Leitgedanke sämtlicher Reformen die bekannten Defizite des Produktions- Bereiche Bildung und Arbeitsmarkt und Bildungsstandorts Deutschland. betreffend sollte nach Auffassung Neben den Arbeitskosten erweist sich der befragten Unternehmen sein, dass dabei die Regulierung des Arbeits- die Ausbildung stärker als bisher die marktes als wesentliches Hindernis Anforderungen des Arbeitsmarktes einer flexiblen Unternehmenspoli- berücksichtigt (+59,5). Hierzu bedarf tik.14 Die hierfür notwendigen Refor- es ihrer Meinung nach eines stärkeren men sind im Bericht „Benchmarking Ausbaus der Kooperation Schule-Wirt- Deutschland: Arbeitsmarkt und Be- schaft (+62,5) und der Zusammenarbeit schäftigung“ dokumentiert.15 Die Re- Hochschule-Wirtschaft (+61,4). Ein formvorschläge der befragten Unter- instrumenteller Ansatz hierfür wären nehmen stimmen damit im Wesent- vermehrte Praktika von Schülern und lichen überein.

Anmerkungen 1 Werner, Dirk: Standort Deutschland – nisierungsbedarf in der betrieblichen Reformbedarf für Arbeitsmarkt und Bil- Berufsausbildung – Die IW-Frühjahrs- dungssystem, Die IW-Umfrage zu Aus- umfrage zum Ausbildungsstellenmarkt, bildung und Beschäftigung 2002, Bei- Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungs- träge zur Gesellschafts- und Bildungs- politik des Instituts der deutschen Wirt- politik, Bd.258, Köln 2002. schaft Köln, Nr.234, Köln 1999; Lenske, 2 Lenske, Werner: Fitnesskur 2000 – Die Werner/Werner, Dirk: Globalisierung und Berufsausbildung im Umbruch, Köln internationale Berufskompetenz – Die 1997; Lenske, Werner/Werner, Dirk: Die IW-Umfrage zu Ausbildung und Be- Entwicklung von Ausbildung, Beschäf- schäftigung 2000, Beiträge zur Gesell- tigung und Qualifikationsbedarf – Er- schafts- und Bildungspolitik des Instituts gebnisse einer bundesweiten Unterneh- der deutschen Wirtschaft Köln, Nr.245, mensumfrage im Frühjahr 1998, Beiträge Köln 2000; Lenske, Werner/Werner, Dirk: zur Gesellschafts- und Bildungspolitik Fachkräftebedarf, Fachkräftemangel und des Instituts der deutschen Wirtschaft Lösungsansätze – Die IW-Frühjahrs- Köln, Nr.224, Köln 1998; Lenske, Werner/ umfrage zu Ausbildung und Beschäfti- Werner, Dirk: Innovationen und Moder- gung, Beiträge zur Gesellschafts- und Arbeitsmarkt und Bildung im Spiegel einer Unternehmensbefragung 39

Bildungspolitik des Instituts der deut- bildungsberufen. Konzepte zur Umset- schen Wirtschaft Köln, Nr.252, Köln zung der Vorschläge der Hartz-Kommis- 2001. sion, Bonn 2002. 3 Eichhorst, Werner u.a.: Benchmarking 10 Bundesministerium für Bildung und Deutschland: Arbeitsmarkt und Beschäfti- Forschung (BMBF), Berufsbildungsbericht gung, Bericht der Arbeitsgruppe Bench- 2002, Bonn 2001, S.247f. marking und der Bertelsmann-Stiftung, 11 Gülke, Silke/Hilbert, Christoph/Schö- Berlin 2001. mann, Klaus: Lernen von den Nachbarn, 4 Schröder, Christoph: Industrielle Arbeits- Qualifikationsbedarf in Ländern der kosten im internationalen Vergleich, in: OECD, in: Hans-Jörg Bullinger (Hrsg.), iw-trends, 29.Jg., Nr.2, 2002, S.46–53. Qualifikationen erkennen – Berufe ge- 5 Weiß, Reinhold: Wettbewerbsfaktor Wei- stalten, Bd.3, Bielefeld 2000. terbildung: Ergebnisse der Weiterbil- 12 Troltsch, Klaus: Möglichkeiten zur Be- dungserhebung der Wirtschaft, Beiträge rechnung von Vertragslösungs- und zur Gesellschafts- und Bildungspolitik des Abbrecherquoten auf der Basis von In- Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, dividualdaten, in: Bundesinstitut für Nr.242, Köln 2000. Berufsbildung (Hrsg.), Vorzeitige Lösung 6 iwd – Informationsdienst des Instituts der von Lehrverträgen und Ausbildungsab- deutschen Wirtschaft Köln, PISA: Qualität bruch, Problemaufriss und Untersuchung tut Not, in: iwd, Nr.21, v. 23.5., Köln der methodisch-statistischen Grundlagen, 2002, S.4–5. Bonn 2003, S.69. 7 Lenske, Werner/Werner, Dirk: Fachkräfte- 13 Informationen im Internet unter: bedarf, 2001, S.42. www.ausbildung-plus.de 8 Werner, Dirk: Standort Deutschland, 14 Fels, Gerhard: Brauchen wir eine in- 2002. ternationale Ordnungspolitik?, in: Forum, 9 KWB, Kuratorium der Deutschen Wirt- Nr.6, v. 7.2.2002, Köln 2002. schaft für Berufsbildung: Mehr Zu- 15 Eichhorst, Werner u.a.: Benchmarking kunftschancen mit differenzierten Aus- Deutschland, 2001. Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle

Reinhold Henseler/Fred van Haasteren

1. Der Markt der Zeitarbeit auch die einzigen Länder, die bereits in Europa – heute schon das Beschäftigungsziel einige Daten und Fakten einer Erwerbsbeteiligung von 70% erreicht haben, das im Jahr 2002 in Im Jahr 2001 wurden in der Euro- Lissabon von den führenden Politi- päischen Union mehr als 7 Millionen kern Europas als gemeinsame Richt- Personen durch Zeitarbeitsunterneh- größe für 2010 festgelegt wurde. men beschäftigt.1 Im Durchschnitt des Jahres waren täglich ca. 2,8 Millionen In Deutschland hingegen liegt der An- Menschen als Zeitarbeitnehmer tätig. teil der Zeitarbeit an allen sozialver- Das entspricht einem Anteil von ca. sicherungspflichtig Beschäftigten bei 2,1% aller Beschäftigten in Europa. 0,9%. Das ist etwas weniger als in Von den rd. 2 Millionen neuen Ar- Spanien, wo die Zeitarbeit erst 1994 beitsplätzen, die von 1996 bis 1998 in legalisiert wurde. Sogar Italien, wo der EU entstanden sind, wurden ca. Zeitarbeit erst seit 1998 erlaubt ist, hat 250.000, d.h. mehr als 10%, von in wenigen Jahren bereits eine Markt- Zeitarbeitsunternehmen geschaffen. durchdringung von rd. 0,7% er- Die Generierung neuer Arbeitsplätze reicht. Rund 30 Jahre nach Einführung durch Zeitarbeit ist beeindruckend; es des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes bestehen aber enorme Unterschiede (AÜG) in Deutschland ist eine derart zwischen den verschiedenen EU-Mit- niedrige Marktbedeutung der Zeitarbeit gliedstaaten. In den Niederlanden, die symptomatisch für die schlechte Ver- im EU-Vergleich über den quantitativ fassung und Rückständigkeit des deut- und qualitativ am weitesten ent- schen Arbeitsmarktes insgesamt, do- wickelten Zeitarbeitsmarkt verfügen, kumentiert durch den Ausweis einer lag die Quote der Marktdurchdringung strukturell hohen Arbeitslosenquote. 2001 bei 4,5%. Großbritannien kommt Ausgehend von einem Erwerbspo- gar auf 4,7%. Bezeichnenderweise sind tenzial (Bevölkerung im Alter zwi- Großbritannien, die Niederlande und schen 15 und 65 Jahre) in Deutschland Dänemark die europäischen Länder, in Höhe von rd. 44 Millionen (2000) die in der EU über den höchsten Be- und einer Marktdurchdringung der schäftigungsgrad verfügen. Sie sind Zeitarbeit vergleichbar mit den Nie-

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle 41 derlanden, könnte die Zeitarbeits- Zeitarbeit, ob Unternehmer oder Ver- branche rd. 2 Millionen Menschen im bände, nicht gelungen, den Menschen Vergleich zu derzeit nur rd. 0,3 Mil- den Wert der Zeitarbeit zu vermitteln. lionen beschäftigen. Auch unter Be- Allerdings ist in den letzten Jahren rücksichtigung von Substitutions- sukzessive ein deutlicher Einstellungs- effekten kann von einem Potenzial wandel zu verzeichnen, nicht zuletzt von mehr als 1 Million effektiv durch die Arbeit der Hartz-Kommission, zusätzlichen Arbeitsplätzen ausgegan- die Zeitarbeit als „Herzstück“ ihrer gen werden. Reformvorschläge bezeichnet hat. Der Hauptgrund dafür, dass die Zeitarbeit in Deutschland noch relativ unter- 2. Grundprobleme der entwickelt ist, liegt allerdings woan- Zeitarbeit in Deutschland ders, nämlich in der Gesetzgebung.

Angesichts dieses Beschäftigungspo- tenzials für Zeitarbeit stellt sich 2.2 Das Arbeitnehmerüberlassungs- natürlich die Frage, was die Branche in gesetz (AÜG) – ein politisches Deutschland daran hindert, in andere Problem Dimensionen vorzustoßen. Der deutsche Gesetzgebungsansatz zur Regelung der Zeitarbeit, kodifi- 2.1 Das Image der Zeitarbeit – ziert im Arbeitnehmerüberlassungs- ein mentales Problem gesetz (AÜG) von 1972, datiert aus einer Zeit, in der die Zeitarbeit als eine Ein Grund für die noch schwache Be- Art moderner Sklavenhandel ange- deutung der Zeitarbeit in Deutschland sehen wurde. Im Laufe der Jahre ist das liegt in der Einstellung hier zu Lande Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von zu dieser Beschäftigungsform. Zeitar- 1972 in mehreren Schritten gelockert beit gilt in Deutschland überwiegend worden, sodass die Branche sukzessive noch als zweitklassige und schlecht mehr Chancen bekam, ihr Beschäf- bezahlte Tätigkeit. Empirischen Be- tigungspotenzial besser auszuschöpfen. funden zufolge wären viele Menschen Dennoch bleiben wesentliche, für lieber arbeitslos, als dass sie eine diesen Markt spezifische Probleme. Beschäftigung in der Zeitarbeit an- Bevor diese Probleme nicht gelöst sind, nehmen würden. Dass der Bundes- wird die Zeitarbeit in Deutschland minister für Wirtschaft und Arbeit in nie in der Lage sein, die Rolle am seiner Rede vom 7.12.2002 noch be- Arbeitsmarkt zu spielen, die sie in tonen muss, Zeitarbeit und Leihar- anderen Ländern innehat. Nach all- beit seien grundsätzlich zumutbar und gemeiner Einschätzung hat Deutsch- dass sich Arbeitsgerichte damit be- land als größte Nation innerhalb schäftigen müssen, mag ein weiterer der EU den am stärksten regulierten Beleg für diese Attitüde sein. Zeitarbeitsmarkt in Europa. Im inter- nationalen Vergleich ist das AÜG nicht Die Branche mag an dieser Einstellung nur das strikteste, sondern auch mit eine gewisse Mitschuld tragen. Of- Abstand komplizierteste Regelungs- fensichtlich ist es den Akteuren der werk, trotz einiger marginaler Locke- 42 Reinhold Henseler/Fred van Haasteren rungen in den vergangenen Jahren. zu untergraben. Die Entfaltung der Gemessen an der Rigidität des Ar- Zeitarbeit als effizienter Akteur des beitnehmerüberlassungsrechts zählen Arbeitsmarktes ist daher an die Vor- einem OECD-Vergleich zufolge Länder aussetzung geknüpft, dass der Gesetz- wie Schweden, Dänemark, Großbri- geber ein Gleichgewicht schafft tannien, Österreich und Niederlande zwischen der gewünschten Beschäfti- zu den Ländern mit der geringsten gungsflexibilität einerseits und dem Regulierungsdichte. Deutschland liegt angemessenen Mitarbeiterschutz an- mit einem Wert von 2,3 deutlich über dererseits; d.h. es muss eine Balance dem europäischen Durchschnitt von zwischen Flexibilität und Sicherheit 1,7. erreicht werden. In einer solchen Ba- lance hat die Zeitarbeit in Deutschland Aus der Perspektive international agie- ein enormes Potenzial zum besse- render Personaldienstleistungskonzer- ren Arbeitsmarktausgleich und zur ne wie der Randstad-Holding manifes- Schaffung von Arbeitsplätzen. In die- tiert sich das Kernproblem in Deutsch- sem Kontext sei auf die Befunde und land darin, dass mit Zeitarbeitnehmern Schlussfolgerungen einer im Jahr 2000 grundsätzlich unbefristete Arbeitsver- von Euro-CIETT vorgelegten inter- träge abzuschließen sind und dass ein nationalen Vergleichsstudie verwiesen.2 Arbeitsvertrag nicht automatisch be- Die Autoren der Studie haben er- endet werden kann, sobald der Einsatz rechnet, dass die Branche der Per- bei einem Kunden beendet ist (sog. sonaldienstleister in Europa bis zum Synchronisationsverbot). Es ist vor Jahre 2010 rund 4 Millionen effektiv allem die Kombination aus diesen bei- neue Arbeitsplätze schaffen könnte, den Verpflichtungen, die die Ent- wenn überkommene und obsolete wicklung der Zeitarbeit hier zu Lande Restriktionen für die Zeitarbeit auf- blockiert und auch in Zukunft blo- gehoben würden. Dies entspräche einer ckieren wird. Da in keinem Land, in Beschäftigung von mehr als 6 Mil- dem Zeitarbeit praktiziert wird, so lionen Menschen im Tagesdurch- verfahren werden muss, liegt die schnitt über Zeitarbeit. Bei der Schaf- Schlussfolgerung nahe, dass die ei- fung neuer Arbeitsplätze können gentliche Zeitarbeit in Deutschland potenzielle Substitutionseffekte zu (d.h. die Erlaubnis synchroner Ver- Lasten von Stammmitarbeitern nahezu träge) allgemein als illegal betrachtet ausgeschlossen werden. Den Ländern wird. mit vergleichsweise noch geringer Marktdurchdringung in der Zeitarbeit und gleichzeitig hoher Regulierungs- 3. Deregulierung und dichte, wie z.B. Deutschland, attes- Liberalisierung des AÜG tierten die Experten der Studie ein für mehr Beschäftigung besonders hohes Wachstumspoten- zial. Mehr als eine Million dieser neu- Für alle Regierungen stellt es eine gro- en Arbeitsplätze könnten daher in ße Herausforderung dar, die von Ar- Deutschland generiert werden. Vor- beitgebern und Arbeitnehmern ge- aussetzung für eine dergestalt positive forderte Flexibilität zu schaffen, ohne Entwicklung sei jedoch, dass Perso- die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer naldienstleister als Teil der Lösung für Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle 43 den Arbeitsmarkt von morgen ange- dass das Zeitarbeitsunternehmen Ar- sehen würden und nicht mehr als Prob- beitgeber seiner Leiharbeitnehmer ist, lem des Arbeitsmarktes von gestern. juristisch äußerst umstritten.4 Unab- hängig von diesen juristischen Be- denken trifft das Gleichbehand- 4. Das Job-Aqtiv-Gesetz: lungsgebot im Job-Aqtiv-Gesetz auch ein untauglicher Ansatz auf erhebliche Rechtsunsicherheiten bei der Umsetzung.5 Bei der Frage- Eine erste Deregulierung der Zeitarbeit stellung nach dem vergleichbaren sollte bereits das Ende 2001 von der Arbeitnehmer des Entleihers und nach Regierungskoalition beschlossene Job- den einzubeziehenden Arbeitsbedin- Aqtiv-Gesetz bringen. Die maximale gungen hat der Gesetzgeber der Zeit- Verleihdauer an denselben Entleih- arbeitsbranche und ihren Kunden- betrieb wurde von 12 auf 24 Monate betrieben keine Hilfestellung anbieten ausgeweitet, allerdings durch massive können. Exemplarisch wird diese Einflussnahme der Gewerkschaften an Problematik belegt bei der Bestim- die Bedingung geknüpft, dass den mung des Arbeitsentgelts, das in seiner Zeitarbeitnehmern ab dem 13. Monat Gesamtheit zu vergleichen ist. Neben die im Entleihbetrieb geltenden Ar- dem reinen Grundentgelt sind alle beitsbedingungen einschließlich des Zuschläge, Lohnfortzahlungsansprüche, Arbeitsentgeltes zu gewähren sind Sozialleistungen, Sonderzuwendungen, (§10Abs.5 AÜG). Die Kopplung der Beiträge zur Altersversorgung, Sach- Ausweitung der maximalen Verleih- leistungen etc. als sonstige Entgelt- dauer an die Arbeits- und Entgelt- bestandteile abzubilden. Ist die un- bedingungen des Entleihers bedeutet mittelbare Leistungserbringung nicht den ersten Schritt der Abkehr vom möglich, bleibt nur der bürokratische deutschen verleiherbetriebs-bezogenen Aufwand, den Geldwert solcher Ent- Konzept des AÜG und den Eintritt in geltbestandteile zu bewerten und den das entleiherbetriebsbezogene Konzept Leiharbeitnehmern auszuzahlen. der romanischen Mitgliedsstaaten Europas, indem der deutsche Gesetz- Das seit Jahresbeginn 2002 geltende geber das Gleichstellungsprinzip mit Job-Aqtiv-Gesetz hat sich in der Praxis der Fiktion des vergleichbaren Arbeit- bisher als wirkungslos erwiesen. Die nehmers aufnimmt.3 In der Be- gesamte Wirtschaft hat diese Gesetzes- gründung zu dem Job-Aqtiv-Gesetz bestimmung auf breiter Front abge- heißt es, dass „bei einer ein Jahr lehnt, weil sie zu bürokratisch, zu teuer überschreitenden Tätigkeit des Leih- und mit erheblichen Rechtsunsicher- arbeitnehmers in demselben Entleih- heiten behaftet ist. Obwohl in der betrieb die tatsächliche Verbindung gewerblichen Wirtschaft durchaus zum Entleihbetrieb so stark zunimmt, Bedarf an Überlassungen über 12 dass es nicht gerechtfertigt erscheint, Monate hinaus nachweisbar ist, behilft ihn von den Arbeitsbedingungen im man sich meist mit dem Austausch des Entleihbetrieb auszunehmen“. Mitarbeiters und nimmt lieber eine erneut notwendige Einarbeitung in Kauf Das hiermit postulierte Gleichbe- oder weicht an Stelle von Zeitarbeit auf handlungsgebot ist unter der Prämisse, andere Flexibilisierungslösungen aus.6 44 Reinhold Henseler/Fred van Haasteren

5. Das Erste Gesetz für moderne zuletzt bei den Beschlüssen zur Zeit- Dienstleistungen am Arbeits- arbeit im Job-Aqtiv-Gesetz feststellbar markt – Neues Zwangskorsett war, das die hohen Erwartungen in für die Zeitarbeit keiner Weise erfüllt hat. Statt jedoch an einer mit allen Beteiligten gemein- Nur ein Jahr nach Einführung des Job- samen Lösung im Interesse der Ar- Aqtiv-Gesetzes mit für die Zeitarbeit beitslosen zu suchen, hat die Bundes- untauglichen Bestimmungen hat der regierung sich einseitig nur mit den unlängst in teilweiser Kon- Gewerkschaften abgestimmt. Es ist kretisierung der Beschlüsse der so unverständlich, dass weder der Bundes- genannten Hartz-Kommission das verband Zeitarbeit (BZA) als Arbeit- Erste Gesetz für moderne Dienst- geberverband noch erfolgreiche Unter- leistungen am Arbeitsmarkt verab- nehmen der Branche trotz mehrfacher schiedet. Im Rahmen dieses Gesetzes Angebote zumindest an den Beratun- wurden die rechtlichen Bestimmungen gen (!) zur Erarbeitung und Umsetzung der Zeitarbeit neu geregelt. der Hartz-Vorschläge beteiligt wur- den.7 Eilig einberufene Kompromissge- spräche mit Branchenvertretern kurz 5.1 Die Vorstufe: Das Hartz-Konzept vor der entscheidenden Bundestags- sitzung, im Zuge der Sachverständigen- Mit der Arbeit der Hartz-Kommission Anhörung im zuständigen Ausschuss wurde Zeitarbeit – als Herzstück des oder im Vermittlungsausschuss ver- Reformkonzeptes bezeichnet – endlich mochten konstruktionsbedingte Män- öffentlich als eine vollwertige Be- gel des Gesetzes nicht mehr entschei- schäftigungsform anerkannt, mit der dend zu korrigieren. zusätzliche Beschäftigung generiert werden kann. Der Hartz-Bericht trifft Das ursprüngliche Hartz-Konzept ist in die Feststellung, dass eine Beseitigung ganz entscheidenden Modulen ver- überflüssiger bürokratischer Fesseln wässert und geglättet worden, sodass erforderlich ist, wenn der Integrations- ihm in der Konkretisierung ein hohes und Beschäftigungsmechanismus der Maß an Dynamik genommen wurde. Arbeitnehmerüberlassung in neue Herr Hartz bekennt: „Wenn man sich Dimensionen vorstoßen soll. Insofern jetzt aber stattdessen an die These kam es entscheidend darauf an, bei der ’Gleicher Lohn für gleiche Arbeit’ hält, konkreten Ausgestaltung des Hartz- kann die Leiharbeit in großem Umfang Konzeptes im Rahmen des Gesetz- nicht funktionieren. Dann kann die gebungsverfahrens insbesondere mit angestrebte Zahl von Arbeitsplätzen Blick auf das „Herzstück“ Zeitarbeit die nicht entstehen.“8 Nach der in den Weichen richtig zu stellen. Medien ausgetragenen Diskussion um die „eins-zu-eins“ Umsetzung und der Die Beratungen zum Gesetz „Moderne öffentlichen Distanzierung des Na- Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ mensgebers Hartz von dem Resultat der hätten eine hervorragende Möglichkeit Überarbeitung muss die Frage erlaubt dafür geboten, dass die Politik nicht sein, ob das „Hartz-Konzept“ überhaupt wieder erneut an den Erfahrungen der noch seinen Namen, geschweige denn Wirtschaft vorbei entscheidet, wie es das Etikett „größte Arbeitsmarktreform Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle 45 in der Geschichte der Bundesrepublik“ diese Regelung erst ab dem 58. beanspruchen kann. Lebensjahr. Ferner sieht das neue Gesetzesrecht einige administrative Erleichterungen vor. Diese Bestim- 5.2 Die wesentlichen Bestimmun- mungen werden erst zum 01.01. gen des neuen Gesetzes 2004 wirksam, es sei denn, ein Tarifvertrag erstreckt sich auf die Das neue Gesetzesrecht, das nach wesentlichen Arbeitsbedingungen Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt einschließlich des Arbeitsentgelts. Nr. 87 vom 30.12.2002 zum 1. Januar ● Die Arbeitsämter dürfen Verträge 2003 in Kraft getreten ist, enthält für zur Errichtung von Personal-Ser- die Zeitarbeit folgende Neuregelungen: vice-Agenturen (PSA) nur dann schließen, wenn sich die Arbeits- ● Zeitarbeitnehmer haben ab dem bedingungen einschließlich des 1.1.2004 für die Zeit der Über- Arbeitsentgeltes der in der PSA be- lassung an einen Entleiher An- schäftigten Arbeitnehmer bis zum spruch auf die im Betrieb dieses 31.12.2003 nach einem Tarifvertrag Entleihers für einen vergleichbaren für Arbeitnehmerüberlassung rich- Arbeitnehmer geltenden wesentli- ten. chen Arbeitbedingungen einschließ- lich des Arbeitsentgeltes (equal Um den Sozialpartnern Gelegenheit zur treatment). Vom Equal treatment Aufnahme von Tarifverhandlungen (Grundsatz) kann abgewichen wer- und zum Abschluss von Tarifverträgen den, wenn einem zuvor arbeits- zu geben, werden die Bestimmungen losen Zeitarbeitnehmer für die erst zum 1.1.2004 wirksam. Damit Überlassung an einen Entleiher für gilt das bestehende AÜG inklusive der die Dauer von insgesamt höchstens sonstigen Bestimmungen bis zum sechs Wochen mindestens ein 31.12.2003 weiter. Nettogehalt in Höhe des Betrages, den der Leiharbeitnehmer zuletzt als Arbeitslosengeld erhalten hat, 5.3 Der Grundsatz Equal Treatment gewährt wird oder, wenn ein Tarif- und Equal Pay vertrag abgeschlossen wird, der sich auch auf nicht tarifgebundene Der im Gesetz verankerte Grundsatz Arbeitgeber und Arbeitnehmer er- der Anwendung der wesentlichen streckt. Arbeits- und Entgeltbedingungen des ● Im Gegenzug werden das grund- jeweiligen Entleihbetriebes vom 1. Tag sätzliche Synchronisations- und an bedeutet gegenüber der geltenden Befristungsverbot aufgehoben. Die Regelung des Job-Aqtiv-Gesetzes, wo- Befristung eines Arbeitsverhältnisses nach diese Bedingungen erst ab dem bedarf keines sachlichen Grundes 13. Monat zu gewähren sind, sogar eine mehr, wenn der Arbeitnehmer bei gravierende Verschlechterung. Zudem Beginn des befristeten Arbeits- setzt sich die Regierung mit ihrer verhältnisses das 52. Lebensjahr Entscheidung in Widerspruch zu ihrer vollendet hat. Diese Vorschrift gilt eigenen Argumentation zur Begrün- bis zum 31.12.2006. Danach gilt dung des Equal Treatment ab dem 13. 46 Reinhold Henseler/Fred van Haasteren

Monat im Gesetzentwurf des Job-Aqtiv- des BAG vom 21.6.2000 wird Gesetzes. Danach sollte die Entlohnung ausdrücklich auf den Grundsatz der durch Equal Pay erst durch eine längere Vertragsfreiheit bei der Festlegung Verweildauer des Zeitarbeitnehmers im der Vergütung in Arbeitsverträgen Kundenbetrieb und durch die daraus hingewiesen. resultierende Integration in dessen ● Die Orientierung am vergleichba- Organisation gerechtfertigt sein. Wa- ren Mitarbeiter im Entleihbetrieb rum diese Begründung heute keinen kann umgekehrt zu einer nicht hin- Bestand mehr haben soll, ist in keiner nehmbaren Diskriminierung ein- Weise nachvollziehbar und in hohem zelner Zeitarbeitnehmer innerhalb Maße inkonsequent. Der gesetzlichen des Zeitarbeitunternehmens führen, Neuregelung stehen darüber hinaus die in unterschiedlichen Kunden- juristische, wirtschaftliche und prak- betrieben eine gleiche Tätigkeit ver- tische Bedenken entgegen, wie sie richten, zu unterschiedlichen Kon- bereits dem Grunde nach zum Job- ditionen beschäftigt sind und Aqtiv-Gesetz angemerkt wurden.9 somit unterschiedlich entlohnt wer- den (Grundsatz der betrieblichen ● Die Neuregelung ist mit dem deut- Gleichbehandlung). Sinkende Ver- schen Recht unvereinbar und daher gütungen bei wechselnden Ein- abzulehnen, weil sie in die unter- satzbetrieben werden sich darüber nehmerische Dispositionsfreiheit hinaus negativ auf Motivation und eingreift. Da in Deutschland der Verhalten der Arbeitnehmer aus- Grundsatz der unbefristeten Ar- wirken. beitsverträge weiter gilt, bleibt für ● Durch die Einführung von Equal den Zeitarbeitsunternehmer als Treatment und Equal Pay wird die alleinigen Arbeitgeber des Zeitar- Zeitarbeit partiell verteuert. Kun- beitnehmers mit allen Arbeitge- denunternehmen sind nur bedingt berpflichten das Arbeitgeberrisiko bereit, Zeitarbeitnehmer zu erhöh- unverändert bestehen, wobei ihm ten Verrechnungssätzen zu ent- gleichzeitig das Recht auf Lohn- leihen, wie die jüngsten Erfah- findung genommen wird. Die rungen mit dem Job-Aqtiv-Gesetz gesetzliche Vorgabe fremdbestimm- belegen. Erste Reaktionen von Kun- ter Arbeitsbedingungen stellt einen denunternehmen auf die neue Ge- eklatanten Eingriff in die unter- setzgebung bestätigen diese Be- nehmerische Entscheidungs- und fürchtung. In der Folge werden Handlungskompetenz dar. Tragende Kunden auf alternative Formen der Grundsätze der Tarifautonomie Personaleinsatzflexibilisierung aus- und die grundrechtlichem Schutz weichen wie Überstunden, gering- unterstehende negative Koalitions- fügige Beschäftigungen, Befristun- freiheit werden verletzt. Außer ver- gen etc. fassungsrechtlichen Bedenken wi- ● Die Übernahme der im Entleiher- derspricht das Prinzip des Equal Pay betrieb geltenden wesentlichen Ar- dem deutschen Arbeitsrecht, dem- beitsbedingungen einschließlich des zufolge es das Prinzip „gleicher Arbeitsentgelts in die eigenen Ver- Lohn für gleiche Arbeit“ nicht gibt. waltungsabläufe stellt die Zeitar- In der entsprechenden Begründung beitsfirmen vor gewaltige organi- Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle 47

satorische und administrative He- zum Abbau der Arbeitslosigkeit rausforderungen. Die zunehmende leisten zu können. In diesem Punkt Komplexität der erforderlichen tritt der Unterschied zwischen den Strukturen und Prozesse resultiert in von der Hartz-Kommission for- ausufernder Bürokratie und stei- mulierten Ansprüchen und der genden Kosten. Letztere führen zu Realität der gesetzlichen Umsetzung einer weiteren Verteuerung der im Bereich der Zeitarbeit am deut- Zeitarbeit. Erhebliche administra- lichsten zu Tage. Durch den Verlust tive Schwierigkeiten sind absehbar. von Aufträgen im Segment der Eine Präzisierung dessen, was der gewerblichen Helfer drohen auch Gesetzgeber unter den „wesent- Verluste in den oberen Segmenten lichen Arbeitsbedingungen ein- der höher qualifizierten Mitarbeiter schließlich des Arbeitsentgeltes“ durch eine generelle Neuorientie- subsumiert, steht übrigens noch rung der Kunden. Insgesamt verliert aus. die Zeitarbeitsbranche als profes- ● Erhebliche Auswirkungen sind in sioneller Anbieter von Flexibilitäts- der Beschäftigung von Zeitarbeit- lösungen an Attraktivität. nehmern im Niedriglohnbereich ● Umsätze und Kosten der Zeit- und im Bereich der Arbeitnehmer arbeitsfirmen werden durch die mit Vermittlungs- und Beschäfti- gesetzliche Vorgabe unter Druck gungshemmnissen zu erwarten. Ins- geraten, da die Verleiher ihre besondere im Bereich der gewerb- Dienstleistungen nur noch unter lichen Helfer – traditionell ein drastisch erschwerten Arbeitsbe- großes Beschäftigungssegment der dingungen anbieten können. Fällt Zeitarbeit – werden die Verrech- aber der bisherige Handlingsvor- nungssätze so weit ansteigen, dass teil der Verleiher als Argument die Kundenunternehmen auf den gegenüber dem Entleiher weg, dann Einsatz von Zeitarbeitnehmern spricht für den Einsatz von Zeit- verzichten und auf andere interne arbeit nur noch der bloße Flexibili- und externe Flexibilitätslösungen tätsvorteil. Ob dieser Vorteil ange- ausweichen werden. Nach Schät- sichts der schwerfälligen Prozeduren zungen des Bundesverbandes Zeit- noch hinreichend gewichtig ist, arbeit (BZA) drohen der Branche in mag bezweifelt werden, zumal der diesem Marktsegment zwangsweise Entleiher nun selbst gefordert ist, Entlassungen von bis zu 75.000 seine Arbeits- und Entgeltbedingun- Beschäftigten, darunter nicht nur gen seinen Zeitarbeitslieferanten Zeitarbeitnehmer, sondern daraus für deren Lohnfindung offen zu folgend auch Stammpersonal der legen. Es ist eine Frage der Zeit, Zeitarbeitsunternehmen.10 Als Folge wann Zeitarbeit wegen nachlas- der Verdrängung der Zeitarbeit aus sender wirtschaftlicher Attraktivität dem Niedriglohnbereich dürfte es an Bedeutung für die Wirtschaft zu einer Konzentration der Zeit- verliert. Betriebsschließungen und arbeit auf den Bereich der quali- Entlassungen dürften die unaus- fizierten Fachkräfte kommen. Dieser weichliche Folge sein. Der Ausweg Effekt nimmt der Zeitarbeit die in Werk- und Dienstverträge ist Chance, einen spürbaren Beitrag vorgezeichnet. 48 Reinhold Henseler/Fred van Haasteren

5.4 Ausnahmen vom Grundsatz Die weitere Ausnahmeregelung, zuvor Arbeitslosen für längstens 6 Wochen Der Gesetzgeber lässt vom Grundsatz einen geringeren Lohn zu zahlen, um der Gleichbehandlung von Zeitarbeit- deren Beschäftigungschance zu er- nehmern und Stammbelegschaften der höhen, ist nicht ausreichend. Eine Entleihbetriebe abweichende Verein- Ausweitung der Frist auf mindestens 12 barungen zu, wenn ein für den Ver- Monate wäre angemessen. Die Be- leiher geltender Tarifvertrag Anwen- grenzung der Ausnahmeregelung auf dung findet. Der damit faktisch ver- vormals Arbeitslose ist allerdings in bundene Zwang zum Abschluss von höchstem Maße diskriminierend für Tarifverträgen ist dem deutschen andere Arbeitssuchende, die auf die Rechtsverständnis fremd, da durch Bank der Arbeitslosen gedrückt werden dieses Junktim das im Grundgesetz – bis sie die Bedingungen der Aus- verankerte Prinzip der Tarifautono- nahmeregelung erfüllen; ein Mecha- mie und negativen Koalitionsfreiheit nismus also, der Arbeitslosigkeit schafft, ausgehebelt wird.11 Die Chancen für anstatt Arbeitslosigkeit zu verhindern. Tarifverträge, die eine marktkonforme Generell ist – wie der Gesetzgeber Abweichung von den geltenden Ar- zutreffend ausführt – der Zugang in beits- und Entgeltbestimmungen der eine unbefristete Beschäftigung wahr- Entleihbetriebe ermöglichen, um eine scheinlicher, wenn in der Einarbei- erhebliche Verteuerung und Bürokra- tungszeit niedrigere Löhne gezahlt tisierung der Zeitarbeit zu vermeiden, werden. sind eher begrenzt. Durch die Vorgabe der gesetzlichen Regelung hat der Gesetzgeber hier in unzulässiger Weise 5.5 Aufhebung von Restriktionen einen Maßstab gesetzt, der derjenigen im AÜG – eine Fiktion Tarifpartei eine bessere Ausgangsposi- tion verschafft, die weniger Interesse Durch das neue Gesetz werden daran hat, von der gesetzlichen Vor- formaliter die Beschränkungen durch gabe abzurücken. Die Zeitarbeitsunter- das Synchronisationsverbot, das Be- nehmen haben damit keine gleich- fristungsverbot, das Wiedereinstel- rangige Verhandlungsposition gegen- lungsverbot sowie die Höchstüber- über den Gewerkschaften, da die lassungsdauer aufgehoben. Anderer- Arbeitsbedingungen per Gesetz über seits bleiben Restriktionen auf dem die zwingende Geltung der Tarif- Gebiet des generellen Befristungsrechts verträge der Entleiherunternehmen bestehen. Offensichtlich hat der festgesetzt werden. Damit erhalten die Gesetzgeber das geltende Teilzeit- und Gewerkschaften vom Gesetzgeber ge- Befristungsgesetz nicht hinreichend genüber den Zeitarbeitsfirmen fak- berücksichtigt. Nachdem das AÜG als tisch den Schlüssel zum „Tarifdiktat“. Spezialgesetz keine eigene Befristungs- Eine Rechtfertigung hierfür mag al- regelung mehr enthält, kann daraus lenfalls daraus herzuleiten sein, dass allerdings nicht abgeleitet werden, dass ansonsten kein ausreichender Schutz das allgemeine Teilzeit- und Befris- für Zeitarbeitnehmer zu erreichen ist. tungsgesetz damit für den Bereich der Dafür gibt es allerdings kaum An- Zeitarbeit aufgehoben ist.12 Vielmehr haltspunkte. sind nunmehr Befristungen in der Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle 49

Zeitarbeit nur noch nach Maßgabe des stellung von Zeitarbeitnehmern in § 14 Teilzeit- und Befristungsgesetz Deutschland nicht tatsächlich syn- (TzBfG) zulässig. Die mit der Auf- chron zu den Einsätzen in den hebung des Synchronisationsverbotes Kundenbetrieben erfolgen kann. In in Aussicht gestellte Chance, befriste- Frankreich gilt hingegen ein Syn- te und auf die Dauer eines Einsat- chronisationsgebot, d.h. der Arbeits- zes beim Kunden terminierte Ver- vertrag mit dem Zeitarbeitnehmer wird träge abzuschließen, wird durch die nur für die Dauer der Überlassung zwingende Anwendung des Teilzeit- geschlossen. In den Niederlanden endet und Befristungsgesetzes zunichte ge- ein Arbeitsvertrag mit dem Zeitar- macht.13 Durch die Bestimmungen beitnehmer in den ersten 26 Wochen dieses Gesetzes läuft die Aufhebung automatisch, wenn der Einsatz beendet des Synchronisationsverbotes faktisch ist. In den ersten 26 Wochen sind in Leere. Eine konsequente Dere- damit beliebig viele befristete Einsätze gulierung der Zeitarbeit ist erst dann möglich. Ist der Zeitarbeitnehmer bei gegeben, wenn die Einstellung eines einem tarifgebundenen Zeitarbeits- Arbeitnehmers zum Zwecke der Über- unternehmen beschäftigt, gilt diese lassung an einen Kunden synchron zur Regelung weitere 26 Wochen, also Dauer des Einsatzes erfolgt und dies insgesamt 12 Monate. Während dieser einen eigenen Grund zur Befristung Periode gibt es für den Arbeitnehmer darstellt. Daher muss die Möglichkeit keine Lohnfortzahlungsgarantie in von befristeten Arbeitsverhältnissen Zeiten der Nichtbeschäftigung. Da- zwingend eröffnet werden. Die Auf- her ist es eine falsche Annahme zu hebung des Synchronisationsverbotes argumentieren, mit dem neuen Gesetz führt somit nicht zu der gewünschten würden letztlich niederländische Ver- Entlastung, weil die Wiedereinstel- hältnisse in Deutschland geschaffen. lung im Rahmen eines befristeten Die von der Regierung verkündete De- Arbeitsverhältnisses nach einem regulierung des AÜG durch Aufhe- unterbrochenem Arbeitsverhältnis bung des Synchronisationsverbotes und durch das in Rede stehende Gesetz anderer Einschränkungen entlarvt sich verhindert wird und Arbeitsverhältnisse damit lediglich als eine Schein-Reform. nur eingeschränkt befristet werden können. Danach darf ein Mitarbeiter in Deutschland nur einmal in seinem 5.6 Einrichtung von Personal- Leben bei einem Unternehmen ohne Service-Agenturen (PSA) besonderen Sachgrund befristet be- schäftigt werden. Innerhalb von zwei Die Idee der Personal-Service-Agenturen Jahren sind nur drei sachgrundlose hätte unter bestimmten Prämissen Verlängerungen eines befristeten Ar- durchaus eine Chance, Arbeitslosen beitsverhältnisses möglich. eine Brücke in die Beschäftigung zu schlagen. Unter dem Aspekt des In diesem kardinalen Punkt unter- Equal Treatment und Equal Pay sind scheidet sich die deutsche Gesetz- allerdings Zweifel angebracht. Bei den gebung grundlegend von den Rege- jetzt für die Zeitarbeit verabschiedeten lungen zur Zeitarbeit in vielen anderen gesetzlichen Regelungen erscheint europäischen Staaten, weil die Ein- die Einrichtung von Personal-Service- 50 Reinhold Henseler/Fred van Haasteren

Agenturen wenig erfolgversprechend. markt ist nach übereinstimmender Das ihr zugrundeliegende arbeits- Meinung von Experten eine der marktpolitische Ziel, Personen mit denkbar schlechtesten Gesetzesrege- Vermittlungshemmnissen durch Zeit- lungen für die Zeitarbeit entstanden. arbeit wieder in Beschäftigung zu Im Grundsatz ist eine Deregulierung bringen, wäre durch Kooperation der des AÜG zu begrüßen, weil sie Chan- Arbeitsämter mit den fast 6500 ge- cen eröffnet, mehr Arbeitssuchende werblichen Zeitarbeitsbetrieben zu er- in Beschäftigung zu bringen. Dazu reichen. Dazu hätte es weder eigen- hätte es allerdings einer konsequen- ständiger Organisationsstrukturen noch teren Reform bedurft. Mit der Neu- komplizierter Prozeduren mit Ge- fassung des AÜG wird der ursprüng- schäftsanweisung und Vergabever- liche Ansatz der Hartz-Kommission, fahren durch die Bundesanstalt be- die Zeitarbeit von längst überholten durft. Die im Bereich der PSA Restriktionen zu befreien und zur gegenüber dem Hartz-Konzept vor- Generierung zusätzlicher Arbeitsplätze genommene konzeptionelle Änderung, zu stimulieren, ins Gegenteil verkehrt. wonach das Entgelt der in den PSA Das Ziel, durch Aktivierung der Zeit- beschäftigten Arbeitslosen sich nur arbeit den Arbeitsmarkt zu flexi- noch in den ersten sechs Beschäf- bilisieren und zu dynamisieren, wird tigungswochen nach der Höhe des mit der Neuregelung verfehlt. Die zuvor bezogenen Arbeitslosengeldes Kodifizierung einer staatlich verord- richten soll und nicht mehr für einen neten Vergütungsregelung (Equal Zeitraum von höchstens sechs Mo- Treatment und Equal Pay) birgt naten, wird dazu führen, dass diesem stattdessen die Gefahr, dass massiv Modell einer staatlich moderierten Arbeitsplätze in der Zeitarbeit ver- Zeitarbeit der Erfolg versagt bleiben nichtet werden. Aus ökonomischer wird oder ihm zusätzliche Sub- Sicht ist das Gesetz kontraproduktiv. ventionen zu Lasten der Beitragszahler Aus juristischer Sicht ist es nach unserer gewährt werden müssen. Soweit den Überzeugung verfassungswidrig, weil PSA-Beschäftigten wie den sonstigen es gegen die grundgesetzlich verankerte Zeitarbeitnehmern die Arbeitsbedin- Vertragsfreiheit und Tarifautonomie gungen des Einsatzunternehmens ge- verstößt und damit den Gewerk- währt werden müssen, werden die schaften den Schlüssel zum Tarifdiktat durch die PSA geplanten Effekte auf in die Hand gibt. Darauf zu vertrauen, dem Arbeitsmarkt ausbleiben, es sei dass die Gewerkschaften vor dem denn, es kommt zu äußerst maßvol- Hintergrund der gesetzlichen Vor- len Tarifabschlüssen für die Zeitar- gabe in den begonnenen Tarifge- beitsbranche. Dafür gibt es bisher sprächen mit der Zeitarbeitsbranche zu allerdings noch keine eindeutigen tragfähigen unbürokratischen und Anzeichen. marktkonformen Sonderregelungen bereit wären, dürfte nach den bis- herigen Ankündigungen auf Gewerk- 6. Fazit schaftsseite eher unrealistisch sein. Organisationspolitische Interessen ste- Mit dem vorliegenden ersten Gesetz für hen einer erforderlichen Dynamisie- moderne Dienstleistungen am Arbeits- rung des Arbeitsmarktes entgegen. Mit Zeitarbeit – Das „Herzstück“ der Hartz-Reform in der Zwickmühle 51 dem im Gesetz verankerten Gleich- Bärendienst erwiesen. Die Hebung der behandlungsprinzip wird der Beschäf- in der Zeitarbeit liegenden Beschäf- tigungsmotor Zeitarbeit nicht beschleu- tigungsreserven wird der alleinigen nigt, sondern gedrosselt. Disposition der Gewerkschaften an- vertraut, die lange Zeit darauf aus Die Idee der PSA mag durchaus eine waren, Zeitarbeit als flexible Be- Chance haben, um Brücken von der schäftigungsform zu begrenzen. Damit Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung zu wird den Gewerkschaften mit Billigung schlagen. Unter der gesetzlichen Vor- des Gesetzgebers ein beschäftigungs- gabe Equal Treatment und Equal Pay politisches Mandat zugewiesen. Auf und der organisatorischen Vorgaben das Ergebnis der jüngst begonnenen sind allerdings Zweifel angebracht, ob Tarifverhandlungen zwischen dem eine staatlich moderierte, unter Wett- Bundesverband Zeitarbeit (BZA) und bewerbsbedingungen agierende Zeit- der DGB Tarifgemeinschaft darf man arbeit die geplanten Effekte erreichen gespannt sein. Erste Eckpunkte, auf die kann, selbst wenn es zu äußerst mo- sich die Tarifpartner am 20. Februar deraten tariflichen Regelungen für die 2003 nach drei Verhandlungsrunden gesamte Zeitarbeit käme. verständigt haben, lassen die Richtung einer Kompromisslösung erkennen. Mit der Neuregelung des Arbeitneh- Gleichwohl steckt die Zeitarbeit nun merüberlassungsgesetzes hat der Ge- unverhofft in der Zwickmühle zwi- setzgeber den Zeitarbeitsfirmen, den schen Gesetz (Grundsatz der Gleich- Entleihern, den Arbeitnehmern und behandlung) und Tarifvertrag (Aus- den Arbeitssuchenden letztlich einen nahmeregelung).

Anmerkungen 1 CIETT: Orchestrating the Evolution of geführte Umfrage bestätigte die Ver- Private Employment Agencies Towards a mutung der Wirtschaft, dass die Neu- Stronger Society, Brüssel, 2000; CIETT: regelung des Job-Aqtiv-Gesetzes nicht Annual Report of Activities 2001, Brüssel, greift. 95% der beteiligten Unternehmen 2002. und Verbände gaben an, die Neuregelung 2 CIETT (2000). sei trotz des Bedarfs der Unternehmen 3 Vgl. ausführlich Wank, Rolf: Der Richt- nicht oder nur in Einzelfällen genutzt linienvorschlag der EG-Kommission zur worden. Leiharbeit und das „Erste Gesetz für mo- 7 Dem Beispiel der Niederlande folgend, derne Dienstleistungen am Arbeits- als dort zu Lande die Sozialpartner 1996 markt“, in: NZA 1/2003, S.14–23. das Zeitarbeitskonzept „Flexakkord“ als 4 Vgl. Rieble, Volker/Klebeck, Ulf: Lohn- Vorlage für den Gesetzgeber konzipier- gleichheit für Leiharbeit, in: NZA 1/2003, ten, hätte es nahe gelegen, die Expertise S.23–29; Behrend, Britta: Arbeitnehmer- und Branchenerfahrung der Akteure aus überlassung bis zu 24 Monaten – Job- langjähriger erfolgreicher Unternehmer- AQTIV mit Hindernissen, in: NZA tätigkeit einzuholen und deren Sach- 7/2002, S.372–374; Wank, Rolf: ebd. verstand einzubringen. 5 Vgl. Hümmerich, Klaus/Holthausen, 8 Interview mit Hartz, Peter: Mein Part ist Joachim/Welslau, Dietmar: Arbeitsrecht- erfüllt, in: 48/2002, S.31–33. liches im Ersten Gesetz für moderne 9 Vgl. Stellungnahme des Bundesverban- Dienstleistungen am Arbeitmarkt, in: des Zeitarbeit (BZA) zu den geplanten Än- NZA 1/2003, S. 7–14; Rundschreiben des derungen des AÜG und des Dritten Landesarbeitsamtes NRW vom Dezember Buches Sozialgesetzbuch vom 15.11. 2001. 2002; Plenarprotokoll der 11. Sitzung des 6 Eine von der BDA Mitte 2002 durch- Deutschen Bundestages vom 15.11.2002 52 Reinhold Henseler/Fred van Haasteren

zu Tagesordnungspunkt 11, S.670–693, von rd. 17%. Gleichzeitig wanderte ein Hümmerich/Holthausen/Welslau (ebd.); beträchtlicher Teil der Beschäftigung aus Rieble/Klebeck: ebd.; Wank: ebd. dem Niedriglohnsektor der Zeitarbeit 10 Diese Einschätzung ist durchaus rea- in andere nichttarifierte und wenig ab- listisch, wie die sog. Convergenzia-Ent- gesicherte Bereiche des Arbeitsmarktes scheidung von 1999 in Spanien belegt. ab. Dort führte die gesetzliche Einführung 11 Vgl. Stellungnahme des Bundesverbandes gleicher Arbeits- und Entgeltbedingungen Zeitarbeit. wie in den Entleihbetrieben zu einem 12 Vgl. Wank, R. Volumenrückgang in der Zeitarbeit von 13 Vgl. Stellungnahme des Bundesverbandes rd. 25% und zu einem Umsatzrückgang Zeitarbeit, ebd.; vgl. Wank, R., ebd. Den Negativtrend auf dem Arbeitsmarkt brechen Politik für mehr Beschäftigung in Deutschland

Otto Wiesheu

1. Arbeitsmarkt in der Krise Zudem hat sich die rückläufige Tendenz zum Jahresende hin unerfreulich be- Die aktuelle Lage auf dem deutschen schleunigt. Zuletzt (November 2002) Arbeitsmarkt ist erschreckend. Ge- waren bereits über 370.000 bzw. 0,9% messen an ihrem eigenen Anspruch, weniger Personen in Arbeit als im Jahr die Zahl der Arbeitslosen in Deutsch- zuvor. land unter die 3,5-Millionen-Marke zu drücken, ist die rot-grüne Koalition Die Talfahrt auf dem deutschen Ar- restlos gescheitert. Der noch von der beitsmarkt hält ungebremst an. Auch Regierung Kohl/Waigel eingeleitete für das laufende Jahr rechnen die Beschäftigungsaufschwung ging auf Wirtschaftsforscher mit keiner Bes- Grund einer Kette wirtschaftspoliti- serung, sondern erwarten eine weitere scher Fehlentscheidungen bereits 2001 Zunahme auf mindestens 4,2 Millio- zu Ende. Im Jahresdurchschnitt 2002 nen Erwerbslose im Jahresdurch- nahm die Zahl der Arbeitslosen ge- schnitt 2003. Regierungsprognosen, genüber dem Vorjahr um fast 210.000 wonach sich das Wachstum im zwei- auf 4,06 Millionen zu. Die Arbeits- ten Halbjahr beschleunigen werde, losenquote bezogen auf alle Erwerbs- was die Arbeitslosenzahl Ende 2003 personen erhöhte sich auf 9,8%; unter das Niveau von Dezember 2002 in den neuen Ländern stieg sie auf sinken lasse, beruhen nicht auf ent- 18,0%. schlossenem politischen Gegensteu- ern, sondern einzig und allein auf Parallel zum Anstieg der Arbeitslosig- dem Prinzip Hoffnung. Auf Grund keit schrumpft die Erwerbstätigkeit in der miserablen Stimmung in der Deutschland seit zwei Jahren spür- Wirtschaft und mit Blick auf die bar. Nach ersten, vorläufigen Berech- Beschäftigungspläne der Unterneh- nungen gab es im Jahresdurchschnitt men ist eher zu befürchten, dass 2002 mit 38,7 Millionen rund 250.000 die Erwerbslosenzahlen im nächsten Arbeitsplätze weniger als 2001, das ent- Winter die neue Rekordhöhe von 5 spricht einem Rückgang um 0,6%. Millionen erreichen.

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 54 Otto Wiesheu

Hinter jedem Arbeitslosen steht ein reich. Dabei konzentriert sich die menschliches Schicksal. Steigende Be- Arbeitslosigkeit immer mehr auf Prob- schäftigungsverluste belasten Sozial- lemgruppen wie gering Qualifizierte, kassen und Staatsfinanzen. Über eine ältere Arbeitnehmer über 55 Jahren, Verschlechterung des Konsum- und Ausländer und Behinderte. Investitionsklimas wirken sie negativ auf Wachstum und Konjunktur zurück. In alldem manifestieren sich in wach- Es droht eine Abwärtsspirale nach sendem Maße strukturelle Probleme, unten, wenn der Arbeitsplatzabbau deren Lösung Deutschland seit langem nicht energisch gestoppt wird. Kein vor sich herschiebt. Wunder, dass die Arbeitsmarktkrise als Problem Nummer Eins auf die Agenda Selbst die demografische Entlastung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozial- des Arbeitsmarkts in den letzten Jah- politik in Deutschland zurückgekehrt ren brachte keine Trendwende. Ob- ist. wohl seit dem letzten Höhepunkt der Arbeitslosigkeit bei 4,38 Millionen Zur aktuellen Negativentwicklung im Jahr 1997 rund 950.000 ältere kommt die alarmierende langfristi- Arbeitnehmer mehr aus dem Arbeits- ge und strukturelle Entwicklung der leben ausgeschieden als junge Arbeits- Arbeitslosigkeit in Deutschland hinzu. kräfte ins Berufsleben eingestiegen Das gravierendste Problem stellt die sind, nahm die Zahl der Arbeitslosen in Persistenz, also die Verfestigung der diesem Zeitraum nur um 320.000 ab. Arbeitslosigkeit dar. Seit drei Jahr- Dieser geringe Abbau relativiert sich zehnten schraubt sich die Sockel- noch weiter, wenn man die massive arbeitslosigkeit in Deutschland unauf- Bereinigung der Arbeitslosenstatistik haltsam in die Höhe: Die Arbeits- durch die Arbeitsverwaltung in An- losenzahlen und -quoten stiegen in- wendung des Job-Aqtiv-Gesetzes der folge der Rezessionen Mitte der 70er- Bundesregierung berücksichtigt. und Anfang der 80er-Jahre und nach der Wiedervereinigung bis weit in die Bedenklich daran ist vor allem, dass 90er-Jahre hinein drastisch an und arbeitslose ältere Arbeitnehmer zu- erreichten nach diesen Schüben selbst nehmend dazu gedrängt werden, einen bei positiver Wirtschaftsentwicklung vorruhestandsähnlichen Status für nie wieder das jeweilige Ausgangs- sich in Anspruch zu nehmen, damit niveau. sie aus der Statistik fallen. Dass man sich von dieser staatlich subventio- Symptomatisch für die Verfestigung nierten „Verrentungstaktik“ der Ar- der deutschen Arbeitslosigkeit ist auch beitsverwaltung keine substanzielle der im internationalen Vergleich Verbesserung der deutschen Arbeits- auffallend hohe Anteil an Langzeit- marktsituation versprechen darf, zeigt arbeitslosen. Nach OECD-Zahlen be- der Blick auf die anderen Industrie- trugen sie 2000/2001 51,5% an allen nationen: Gerade im Vergleich zu Arbeitslosen in Deutschland gegen- Ländern mit einer deutlich niedrigeren über 6,1% in den USA, 22,2% in Arbeitslosigkeit ist die Erwerbsquote der Dänemark, 26,6% in Japan, 27,7% in 55- bis 64-Jährigen in Deutschland Großbritannien oder 37,6% in Frank- bereits jetzt klar unterdurchschnittlich. Den Negativtrend auf dem Arbeitsmarkt brechen 55

So betrug nach OECD-Zahlen für 2000 Der deutsche Arbeitsmarkt wurde in der die Erwerbsquote der 55- bis 64- Vergangenheit zunehmend verriegelt jährigen Männer 48,2% in Deutsch- statt flexibilisiert. Für die Arbeitgeber land gegenüber 78,4% in Japan, wurden durch das immer komplizier- 77,0% in der Schweiz, 67,8% in tere und undurchsichtigere arbeits- Schweden, 65,6% in den USA, 61,9% rechtliche Regelwerk im Zusammen- in Dänemark und 59,8% in Groß- spiel mit einzelfallorientierten und britannien. Ein frühzeitiges Ausschei- damit unkalkulierbaren Entscheidun- den älterer Arbeitnehmer ist – nicht gen der Arbeitsgerichte der büro- zuletzt wegen des damit verbundenen kratische Aufwand aufgebläht und Verzichts auf Erfahrungswissen – zusätzliche Einstellungsbarrieren ge- keineswegs „Erfolgsausweis“ für eine schaffen. Allein der Großkommentar gut funktionierende Beschäftigungs- zum Kündigungsschutz umfasst mitt- politik. lerweile 3200 Seiten. Die Zahl an Ge- setzen und Vorschriften, die ein Unter- nehmen heute beachten muss, hat 2. Ursachen der Krise kontinuierlich zu- statt abgenommen. Das gilt auch für die betriebliche Mit- Die Beschäftigungsprobleme beruhen bestimmung. Zudem richten sich zahl- zum einen auf der hartnäckigen Wachs- reiche, vermeintlich als Schutzgesetze tumsschwäche, unter der Deutschland konzipierte Regelungen letztlich gegen leidet. Wir sind seit Jahren Wachs- die Interessen der Begünstigten – bei- tumsschlusslicht in Europa. Es wird spielsweise der generelle Rechtsan- zu wenig investiert. In weiten Teilen spruch auf Teilzeit. Deutschlands bleibt die Innovations- dynamik hinter den Notwendigkeiten In der Tarifpolitik herrscht mittlerweile zurück. Es besteht eine Gründerlücke. ein eklatantes Kräfteungleichgewicht. Nicht nur, dass die Gewerkschaften Der Blick auf die Veränderungsraten vorrangig die Interessen der aktuell des Bruttoinlandsprodukts einerseits Beschäftigten vertreten und mit ihren und die Entwicklung der Arbeits- Forderungen die Perspektiven ihrer marktzahlen andererseits legt darüber arbeitslosen Mitglieder verschlechtern. hinaus den Schluss nahe, dass die Durch den zunehmenden Grad an Schwelle, ab der ein Zuwachs der Spezialisierung und den höheren An- gesamtwirtschaftlichen Leistung mit teil an Just-in-time-Produktion sind mehr Beschäftigung und weniger zudem die Arbeitsabläufe immer an- Arbeitslosigkeit einhergeht, in Deutsch- fälliger für punktuelle Streiks und land viel zu hoch ist. Von Experten die Unternehmen dadurch in ihrem wird diese so genannte Beschäfti- Handlungsspielraum innerhalb der gungsschwelle mit einer Wachstums- Tarifverhandlungen eingeschränkt. Au- rate von 2 bis 2,5% beziffert – in den ßerdem fehlt in der Tarifpolitik nach USA beispielsweise liegt sie mit rund wie vor die notwendige Differenzierung 0,5% deutlich darunter. Die Ursa- nach regionalen wie branchenspe- chen für diese vergleichsweise geringe zifischen Gegebenheiten. Ausreichende Beschäftigungsintensität des Wachs- Flexibilität fehlt auch für die Perso- tums in Deutschland sind vielschichtig. nalpolitik: Die Regelungen des Kündi- 56 Otto Wiesheu gungsschutzgesetzes, vorgeschriebe- wirken und Transferempfänger in einer ne Sozialauswahl und Sozialpläne Armutsfalle aus finanziellen Hilfen und verteuern die Beschäftigungsverhält- hohen „Transferentzugsraten“ bei Ar- nisse und behindern in Firmenkrisen beitsaufnahme gefangen halten. tragfähige Umstrukturierungen. Die letzte Konsequenz dieser mittler- Westdeutschland weist mit 26,16 2 weile weithin fehlentwickelten deut- (2001) im internationalen Vergleich vor schen Arbeitsmarktordnung ist, dass die Norwegen (25,33 2) und der Schweiz Unternehmen – weil sie nicht flexibel (24,96 2) die höchsten Arbeitskosten auf strukturelle Veränderungen und je Beschäftigtenstunde auf. Diesen konjunkturelle Schwankungen reagie- Kostennachteil der deutschen Wirt- ren können und ihre Wettbewerbs- schaft kann selbst die vergleichswei- fähigkeit durch die hohen Arbeitskos- se hohe Arbeitsproduktivität der Be- ten gefährdet ist – vielfach auf Ein- schäftigten nur bedingt kompensieren. stellungen verzichten. Gleichzeitig Um bei den Lohnstückkosten (Ar- flüchten Millionen Deutsche in die beitskosten je produzierter Einheit) Schwarzarbeit. Die Schattenwirtschaft nicht vollends ins Hintertreffen zu macht mittlerweile nach Schätzungen geraten, muss vor allem das unter von Experten bereits 16,5% des deut- starkem internationalen Wettbewerbs- schen Bruttoinlandsprodukts bzw. rund druck stehende Verarbeitende Gewerbe 350 Milliarden 2 aus. Im Gegensatz zur laufend rationalisieren. Das heißt, die „offiziellen“ Wirtschaft wächst dieser Produktivitätsfortschritte hier zu Lande Bereich außerordentlich dynamisch. bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus den Arbeitsmarkt belastender „Ent- lassungsproduktivität“. 3. Flexibilisierung des Arbeitsmarkts Dabei liegen vor allem die Personal- zusatzkosten deutlich über den inter- Grundvoraussetzung, um das Ruder in nationalen Vergleichswerten. Im Jahr Deutschland herumzureißen, ist die 2001 legte die westdeutsche Industrie Erkenntnis, dass die anhaltenden Ar- auf jeden Euro, den ein Arbeitnehmer beitsmarktprobleme kein unausweich- verdiente, 81 Cent für gesetzliche, ta- liches und unabänderliches Schicksal rifliche und freiwillige Aufwendungen sind. Das zeigt auch die Erfahrung in drauf. Durch die 2002 und Anfang anderen europäischen Staaten, die 2003 nochmals gestiegenen Sozial- durch verbesserte Rahmenbedingungen versicherungsbeiträge hat sich die die Arbeitslosigkeit spürbar abbauen Situation weiter zugespitzt. konnten.

Speziell für die Problemgruppe der Ein entscheidender Schritt auf dem niedrig Qualifizierten ist zugleich der Weg zu mehr Beschäftigung in Ausbau eines funktionierenden Nie- Deutschland ist die von nationalen driglohnbereichs blockiert durch das wie internationalen Experten seit Anspruchsniveau von Arbeitslosen- langem als überfällig angemahnte und Sozialhilfe, die wie ein „Min- durchgreifende Flexibilisierung des destlohn-Riegel“ für den Arbeitsmarkt Arbeitsmarkts. Die von der Bundes- Den Negativtrend auf dem Arbeitsmarkt brechen 57 regierung eingesetzte Hartz-Kommis- die faktische Aufhebung des Gesetzes sion ist in diesem Bereich viel zu kurz gegen Scheinselbstständigkeit sowie gesprungen. Ihre Vorschläge wurden verbesserte Rahmenbedingungen für zudem so halbherzig umgesetzt, dass die vertragliche Befristung von Arbeits- sogar der Namensgeber mit dem dar- verhältnissen und für Zeit-/Leiharbeit. aus resultierenden Gesetzeswerk „Für Allerdings bedeutet die auf Druck der moderne Dienstleistungen am Arbeits- Gewerkschaften neu in das Arbeitneh- markt“ nicht mehr in Verbindung ge- merüberlassungsgesetz aufgenommene bracht werden möchte. Vorschrift der gleichen Entlohnung von Stammbelegschaft und entliehe- Beim Herzstück des Hartz-Konzepts, nen Arbeitnehmern, solange Tarifver- der flächendeckenden Einrichtung träge nichts anderes regeln, eine starke von Personalserviceagenturen, die als Verschlechterung der Beschäftigungs- Verleiher von Arbeitslosen fungieren chancen von Zeitarbeitern. sollen, weichen die hoch gespannten Erwartungen schon jetzt starker Er- Nicht zuletzt wurde auf Drängen der nüchterung. Auf diesem Weg werden Union ein wichtiger Durchbruch zur sich bundesweit allenfalls 50.000 – Förderung des Niedriglohnsektors er- in Bayern 4000 bis 5000 – Arbeitslose zielt: Die Grenze für geringfügige Be- in den ersten Arbeitsmarkt reintegrieren schäftigungsverhältnisse ohne Sozial- lassen, aber nicht, wie ursprünglich versicherungsbeiträge wurde auf 400 2 angekündigt, Hunderttausende. angehoben. Minijobs können auch wieder neben einem Hauptberuf aus- Die prinzipiell angestrebte Verbesse- geübt werden. Der Arbeitgeber zahlt rung der Vermittlungstätigkeit ist zwar ähnlich wie vor der Neuregelung 1999 grundsätzlich sinnvoll, löst für sich eine unkomplizierte Pauschale von genommen jedoch nicht das Kern- 25%, die überwiegend den Sozial- problem des deutschen Arbeitsmarkts, versicherungen zugeführt wird. Für nämlich die Schaffung neuer Arbeits- Arbeitsentgelte zwischen 401 und plätze. Wenn über 4 Millionen Arbeits- 800 2 gelten ab sofort reduzierte So- losen nur rund 450.000 gemeldete of- zialversicherungsbeiträge, die von fene Stellen gegenüberstehen, können Null schrittweise auf den üblichen Bei- verstärkte Vermittlungsbemühungen tragssatz ansteigen. Gegebenenfalls lediglich als notwendige arbeitsmarkt- erhalten Arbeitskräfte Aufstockungs- politische Ergänzung verstanden wer- beträge, wenn der erzielbare Lohn den, nicht aber als großer Befreiungs- unter der bisher bezogenen sozialen schlag zur Entfesslung des deutschen Leistung liegt. Arbeitsmarkts. Dennoch: Durch diese Maßnahmen Immerhin wurden im Gesetzgebungs- werden über weite Strecken lediglich verfahren einige wichtige Forderun- bisherige reformpolitische Fehlleis- gen der Union aufgegriffen bzw. im tungen der Bundesregierung korrigiert. Vermittlungsverfahren umgesetzt: Ne- Weiter gehende Schritte müssen des- ben der Verschärfung der Zumut- halb dringend in Angriff genommen barkeitsregeln und der Umkehr der werden. So muss der generelle Rechts- Beweislast für Arbeitslose zählen dazu anspruch auf Teilzeitarbeit abge- 58 Otto Wiesheu schafft und auf Zeiten der Kinder- tragsgesetz der Spielraum für betrieb- erziehung und Pflege von Angehörigen liche Bündnisse für Arbeit erweitert beschränkt werden. Darüber hinaus gilt werden, durch die künftig neben dem es, die kostentreibenden und Entschei- Lohn und der Arbeitszeit auch die dungsprozesse verschleppenden Teile Beschäftigungssicherung in den Güns- der Reform des Betriebsverfassungs- tigkeitsvergleich einbezogen wird. gesetzes wieder rückgängig zu machen. Arbeitnehmer und Betriebe dürfen in Außerdem muss endlich die Zusam- der Wahrnehmung ihrer berechtigten menlegung von Arbeitslosen- und einzelbetrieblichen Interessen nicht Sozialhilfe angegangen werden – im durch ein mehr oder weniger ano- Sinne einer „aktivierenden Sozial- nymes Tarifkartell entmündigt werden. hilfe“ nach dem Motto „Fördern und Fordern“ verbunden mit Sanktio- Im Kündigungsrecht sollten Arbeit- nen für erwerbsfähige Empfänger von nehmer künftig die Wahlmöglichkeit Transferleistungen, wenn diese eine erhalten, beim Abschluss neuer Ar- angebotene Stelle ablehnen. Mit beitsverträge gegen eine vereinbar- Spannung darf die deutsche Öffent- te Abfindung auf eine spätere Kün- lichkeit in diesem Zusammenhang digungsschutzklage zu verzichten. dem absehbaren regierungsinternen Nachdem sich das Kündigungsschutz- Ringen um die von Bundesminister recht mehr und mehr zum Abfin- Clement geforderte Arbeitsverpflich- dungsrecht mit ungewissem Ausgang tung für junge Menschen unter 25 bei Arbeitsgerichtsverfahren entwickelt Jahren entgegensehen. hat, sind alternativ Vorschläge diskus- sionswürdig, den Umfang von Abfin- Auch die Tarifpolitik wird nicht dungen präzise gesetzlich festzulegen, umhinkommen, ihren Beitrag zu um Klarheit für die Betriebe zu schaf- leisten, um bestehende Arbeitsplätze fen. Den Millionen von Kleinunter- zu erhalten und neue Beschäftigung nehmen wäre am stärksten durch die zu ermöglichen. Grundvoraussetzung Anhebung der Schwelle von derzeit dafür sind moderate Lohnabschlüsse, fünf Mitarbeitern geholfen, ab der das die in die gesamtwirtschaftliche Land- besondere Kündigungsrecht gilt. schaft passen. So zeigen die Beispiele der USA und der Niederlande, dass ein Prozentpunkt Lohnzurückhaltung, ge- 4. Umfassendes Gesamtkonzept messen am Produktivitätsfortschritt, für mehr Wachstum und langfristig zu einem Anstieg der Be- Beschäftigung schäftigung um einen Prozentpunkt führt. Es wäre jedoch ein Irrglaube zu mei- nen, der deutsche Arbeitsmarkt käme Zudem muss das deutsche Tarifrecht allein mit arbeitsmarktpolitischen Maß- flexibler werden. Vor dem Hintergrund nahmen wieder ins Lot. Nur mit einer der höchst unterschiedlichen wirt- Doppelstrategie, die sowohl die Be- schaftlichen Situation in einzelnen schäftigungsschwelle des Wachstums Branchen und Betrieben muss durch senkt, als auch das Wachstum selbst eine Novellierung von § 77 Betriebs- wieder dauerhaft ankurbelt, werden verfassungsgesetz und § 4 Tarifver- sich die Beschäftigungsprobleme nach- Den Negativtrend auf dem Arbeitsmarkt brechen 59 haltig lösen lassen. Deshalb muss die Wesentlichkeitsgrenze für die Steuer- Flexibilisierung des Arbeitsmarkts freiheit von Beteiligungskapital von flankiert werden durch eine gezielte einem auf zehn Prozent. Wachstums- und Modernisierungs- politik, die zu einem Stimmungs- Vor dem Hintergrund der restriktiveren umschwung führt, das Vertrauen von Kreditvergabe, zu der sich viele Banken Investoren und Konsumenten in die derzeit auf Grund ihrer Ertragslage Zukunft wieder herstellt und Deutsch- gezwungen sehen, aber auch mit Blick land so vom Wachstumsschlusslicht in auf Basel II muss mehr Beteiligungs- Europa auf einen Spitzenplatz zurück- kapital für die mittelständische Wirt- bringt. schaft mobilisiert werden. Wir sollten deshalb auch die Beteiligung von Dazu ist ein umfassendes Bündel an Privaten an solchen Fonds in begrenz- Reformmaßnahmen notwendig. tem Umfang steuerlich fördern.

● Steuern senken Es geht aber auch darum, Betriebs- übernahmen, die in den nächsten Gefordert ist zunächst die Steuerpoli- Jahren zu Tausenden anstehen, erb- tik. Sie muss wieder zur Leistung mo- schaftsteuerrechtlich zu erleichtern. tivieren, die Kaufkraft der Bürger Mein Vorschlag dazu lautet: Stufen- stärken und die Investitionen in den weiser Erlass der Erbschaftsteuer in- Unternehmen fördern. Deshalb ist nerhalb von zehn Jahren, wenn der das von der Bundesregierung ge- Erbe den Betrieb fortführt. Das Ge- plante Steuervergünstigungsabbau- genteil davon sind die immer wieder gesetz, das Wirtschaft und Bürger aufflammenden Diskussionen über von 2003 bis 2006 mit über 44 höhere (betriebliche) Erbschaftsteuern. Milliarden 2 belastet, absolut falsch. Wer Beschäftigung sichern will, muss Es muss schnellstens aus dem Verkehr dies ohne Wenn und Aber ablehnen. gezogen werden. Über diese gezielten mittelstandsspe- Vor allem bei den kleinen und mit- zifischen Maßnahmen hinaus darf die telständischen Betrieben, der „Job- grundsätzliche Aufgabe nicht aus den maschine Nummer 1“ in unserem Augen verloren werden, den Spitzen- Land, muss die Fähigkeit und Be- steuersatz bei der Einkommensteuer reitschaft zu Investitionen und Neu- mittelfristig unter 40% zu senken, bei einstellungen erhöht werden. Der gleichzeitiger durchgehender Senkung Mittelstand braucht deshalb in der des Tarifverlaufs. jetzigen kritischen Situation keine weiteren Signale der Ent-, sondern Neben der längerfristigen Senkung der dringend ein Signal der Ermutigung Staatsquote, also des Anteils der durch gezielte steuerliche Erleichte- Staatsausgaben am Bruttoinlandspro- rungen. Zu denken ist in diesem Zu- dukt, unter 40% ist dies ein zentraler sammenhang etwa an die Anhebung Bestandteil der Gesamtstrategie „3 x der Wertgrenze für sofort abschrei- 40“ zur Stärkung der Marktkräfte und bungsfähige Wirtschaftsgüter von 410 damit zur Förderung von Wachstum auf 800 2 oder an die Erhöhung der und Beschäftigung. 60 Otto Wiesheu

● Lohnzusatzkosten reduzieren ● Bürokratie abbauen

Ein dritter Baustein in diesem Zu- Zur Wiederbelebung der wirtschaft- sammenhang ist die Senkung der lichen Dynamik müssen darüber ausufernden Lohnzusatzkosten. Um hinaus alle Möglichkeiten des Büro- diese beschäftigungsfeindliche Ent- kratieabbaus ausgeschöpft werden. wicklung endlich in den Griff zu Der Masterplan von Bundesminister bekommen, bedarf es durchgreifender Clement darf sich am Ende nicht wie Reformen in den Sozialen Sicherungs- bisher in wortreichen Ankündigungen systemen. Durch mehr Eigenverant- erschöpfen, sondern muss wirkliche wortung und Privatvorsorge sowie die Befreiungsschläge zu Gunsten des Konzentration der Transfers auf Hilfe Mittelstands in den Bereichen Ar- zur Selbsthilfe an Stelle „passiver Ali- beits-, Sozial-, Genehmigungs- und mentierung“ müssen auch die Lohn- Steuerrecht, Meldepflichten und Kon- zusatzkosten dauerhaft unter 40% trollen bringen, wenn er tatsächlich gedrückt werden. etwas bewirken soll. Für die in Bayern eingesetzte Henzler-Kommission gelten Das geht nicht ohne größere Wahl- die gleichen Maßstäbe. freiheit und höhere Selbstbeteiligung für die Versicherten sowie stärkeren Wettbewerb im Gesundheitswesen. ● Modernisierungsoffensive Die Pflegeversicherung muss um eine starten – „Neue Produkte, kapitalgedeckte Säule erweitert werden. neue Betriebe, neue Märkte“ In der Rentenversicherung führt kein Weg vorbei an der Wiedereinführung Zusätzlich zur Flexibilisierung des Ar- des demografischen Faktors, einer beitsmarkts, zur Senkung der Steuer- Verlängerung der effektiven Lebens- und Abgabenlast und zum Abbau arbeitszeit und einem (unbüro- überflüssiger Vorschriften und Büro- kratischen) Ausbau der privaten Alters- kratie müssen wir im Rahmen einer vorsorge. Durch Kürzungen bei der „Modernisierungsoffensive“ alles daran maximalen Bezugsdauer von Arbeits- setzen, Arbeitsplätze, die im Struktur- losengeld und Einsparungen bei Fort- wandel und internationalen Wettbe- bildungs- und Arbeitsbeschaffungs- werb wegbrechen, auf der Linie „neue maßnahmen können und müssen die Produkte und Dienstleistungen, neue Kosten der Arbeitslosenversicherung Betriebe, neue Märkte“ laufend durch um 1,5 Prozentpunkte gesenkt werden. neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu ersetzen. Die Voraussetzung dafür Die erforderlichen Reformschritte sind schafft eine konsequente Innovations- nicht zuletzt mit Blick auf die in den politik. Was durch eine konzentrierte nächsten Jahrzehnten unausweich- Anstrengung in diesem Bereich möglich lichen Umbrüche im Altersaufbau ist, haben die erfolgreichen Initiativen unserer Gesellschaft schnellstmöglich „Offensive Zukunft Bayern“ und „High- einzuleiten, um eine Explosion der tech-Offensive“ in Bayern bewiesen. Beitragssätze zu vermeiden und das System der sozialen Sicherung in Dabei geht es nicht ausschließlich und Deutschland zukunftsfähig zu erhalten. auch nicht vorrangig darum, neue Den Negativtrend auf dem Arbeitsmarkt brechen 61

Arbeitsplätze im Hochtechnologie- zu erhalten, aber auch die Neu- Bereich zu schaffen. Mindestens ebenso qualifizierung von Arbeitslosen, um entscheidend ist, dass technischer diesen den Weg zurück in den Fortschritt schnell in allen Bereichen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Zusammen der Wirtschaft Anwendung findet und mit der Sicherung bestehender und damit für wettbewerbsfähige Arbeits- der Schaffung neuer Arbeitsplätze plätze in den bestehenden Betrieben entscheidet die Beschäftigungsfähig- von Industrie, Handwerk und Dienst- keit der Arbeitnehmer über die wei- leistungsgewerbe sorgt. tere Entwicklung auf dem Arbeits- markt. Bundesweit gilt es mehr denn je, die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Zukunftstechnologien zu 5. Revitalisierung der Sozialen intensivieren, den Technologietrans- Marktwirtschaft notwendig fer in die Wirtschaft zu verbessern, die internationale Zusammenarbeit in Angesichts des Ausmaßes der Wirt- Wissenschaft und Wirtschaft zu stär- schafts- und Arbeitsmarktprobleme in ken, die wirtschaftsnahe Infrastruk- Deutschland reichen isolierte Arbeits- tur weiter auszubauen und auf den marktreformen längst nicht mehr aus. jeweils modernsten Stand zu bringen, Ein umfassender Reformansatz, der Existenzgründungen bestmöglich zu die Beschäftigungsschwelle senkt, die fördern und der mittelständischen Ertragsperspektiven der Unternehmen, Wirtschaft bei der Erschließung von speziell im Mittelstand, verbessert Auslandsmärkten zu helfen. und ausreichende innovative Dynamik entfacht, ist unabdingbar. Gefordert ist Der Wandel zur wissensbasierten In- nicht mehr und nicht weniger als eine dustrie- und Dienstleistungsgesell- Revitalisierung der Sozialen Markt- schaft schreitet unaufhaltsam voran. wirtschaft und ihre Anpassung an Nicht zuletzt müssen deshalb im die Herausforderungen des 21. Jahr- Zuge einer „Bildungsoffensive“ die hunderts. Investitionen in Aus- und Weiter- bildung verstärkt werden: Qualifi- Nur so kann die Wirtschaft auf einen zierte neue Arbeitsplätze, die im höheren Wachstumspfad zurückkeh- globalen Wettbewerb Bestand haben ren. Nur so werden sich die Beschäf- sollen, verlangen nach entsprechend tigungsperspektiven gerade auch für die qualifizierten Arbeitnehmern. Ne- Jugend nachhaltig verbessern. Voll- ben einer hochwertigen Erstausbil- beschäftigung ist auch in Zukunft kei- dung gehören dazu eine lebenslan- ne Utopie. Aber es muss sich vieles ge berufsbegleitende Fortbildung der ändern, damit aus diesem Wunsch Arbeitnehmer, um deren Humankapital wieder Realität wird. Mehrheit und Meinungsführerschaft Über die Grundlagen der Kulturpolitik der Union

Vera Lengsfeld

1. Einführung Einer demagogischen Rhetorik, die auf monopolistisch agierende Medien und Wohin treibt die Bundesrepublik? Von eine kulturpolitische Dominanz bau- einer „kulturellen Mehrheit“, die Rot- en kann, ist mit bloßen Argumenten Grün im Lande habe, spricht Joseph kaum zu begegnen. Der Streit muss Fischer. Die deutsche Linke, die es ge- angenommen werden auf dem Gebiet, schafft hat, das Wort „links“ zu ver- auf dem die Verführung beginnt. Es drängen und ihre Herrschaft unter dem geht um die Hegemonie in den so nebulösen Gerede vom „Ende der genannten Diskursen. Die Union war Ideologien“ zu festigen, ist bemüht, aus auf kulturpolitischem Gebiet zu passiv, der „kulturellen“ eine „strukturelle ihre Angst vor der veröffentlichten Mehrheit“ zu formen. Die kulturelle Meinung, vor den Kampagnen der und intellektuelle Hegemonie ist, wer Feuilletons war zu groß. will das noch bezweifeln, ein wichtiges Mittel im Kampf um die Macht in der Kunst in Deutschland ist frei, so will „Mediendemokratie“. es das Grundgesetz. Aufgabe des Staates ist es, Rahmenbedingungen Offenbar, Kanzler Schröder hat es vor- schaffen, in denen sich Kunst und gemacht, kann man Wahlen mit Wort- Kultur entfalten können. Da handelt es geklingel und falschen Versprechungen sich für Kulturpolitiker oft um trockene gewinnen. Schröder hat die deutsche Materien: um Künstlersozialversiche- Linke zu einer populistischen Kraft ge- rung, Stiftungsrecht, Urheberrecht, macht. Er weiß, was eine kollektive Föderalismus. Aber der Anspruch an Stimmung ist. Und er weiß, wie man Kulturpolitik kann nicht nur darin diese Stimmung in entscheidenden bestehen, zu kunstförderlichen Lö- Momenten erzeugt. Wir haben es mit sungen zu kommen. Kulturpolitik ist einer grundsätzlich demagogischen auch Politik – und also geht es um den Politik zu tun. Sie ist erfolgreich auch Streit im Spannungsfeld von „Freund deshalb, weil sie mit der – institutio- und Feind“. Es geht um die Kraft, nell gefestigten – Meinungsführerschaft eigene Vorstellungen umzusetzen, es einhergeht. geht in einer pluralistischen Gesell-

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 Mehrheit und Meinungsführerschaft 63 schaft um die Vorherrschaft in den durch die Straßenschlachten, bei denen Diskursen. Wer diese Hegemonie be- Polizisten ermordet wurden, durch sitzt, bestimmt nicht nur die Diskurse, Gewaltakte gegen Professoren und er entscheidet, ist er machtversessen Kommilitonen, durch die Verharm- genug, wer an den Diskursen teil- losung der kommunistischen Ver- nehmen darf. Er darf dann die eigene brechen, erst entstanden. Als wäre Strategie „Diskursethik“ nennen. Wer wüster anarchischer Protest, wären über die Diskurse wacht, hat den psychopathologische Zustände eine nötigen Raum für Demagogie. kultivierte Art der Courage und Vor- aussetzung für die 'civil society'. Da Entscheidend ist es, „schwierige“ Ver- wird unser Land mit „politisch- gangenheiten zu verdrängen oder um- korrekten“ Verdikten autoritär über- zuinterpretieren. Es waren etwa jene zogen, und wird, wer sich diesen Politiker, die heute in Nadelstreifen anmaßenden Vorgaben nicht beugt, Staat und Gesellschaft ins Chaos aus der Gemeinschaft der „Anstän- stürzen, die in den Siebzigerjahren digen“ ausgeschlossen. Wer sind diese fanatisch die subversive Gewalt vom Anständigen? linken Rand „in die Mitte der Ge- sellschaft“ getragen haben. Es war die Die Geburtsstunde der Schröder-und- Zeit der „klammheimlichen Freude“ Fischer-Republik ist eine jungaka- über die Ermordung von Buback und demische Massenpsychose namens Schleyer, der schwach kaschierten „68er-Bewegung“ gewesen. Wie nach- Parteinahme für die RAF, die Zeit des haltig wirkt die Mischung aus Gewalt Straßenterrors, der Sympathie mit der und Drogen, von Ideologie und Macht- SED-Diktatur, der Forderung nach einer gier, Vaterkomplexen und Karrierismus „Kulturrevolution“ in Deutschland. und Antiamerikanismus politisch? Diese Kulturrevolte ist in ihrer finalen Politische Wohlstandsextremisten ha- Phase – und Deutschland wird sie nicht ben die kulturellen Tendenzen der unbeschadet überleben. Die Substanz Individualisierung und Liberalisierung, des Gemeinwesens ist angegriffen: Leis- die von einer ganzen Generation ge- tungswille, Verantwortungsbewusstsein, tragen wurden und die ganze westliche National- und Bürgerstolz. Gesellschaft schnell verändert haben, genutzt – und hatten alles andere als Und die Deutschen werden die Aus- Liberalismus und Individualität im einandersetzung um die Dekadenz Sinn. Sie treiben uns heute in die vermutlich nicht entschlossen führen, Staatswirtschaft, die das Gegenteil der denn diese Debatte ist unmöglich sozialen Marktwirtschaft darstellt. geworden durch den Umstand, dass die damals Agierenden und Sym- Die 68er waren keine neuen Staats- pathisierenden die Interpretations- gründer. Im Gegenteil. Gegen ihre macht ausüben und den kultur- offenen Angriffe hat sich die deutsche politischen Ton angeben. Sie lassen Demokratie erfolgreich gewehrt – auf keinen Zweifel daran, dass sie die den doktrinären „Marsch durch die Deutungshoheit rücksichtslos für sich Institutionen“ unter dem Vorzeichen nutzen. Da wird allen Ernstes be- eines radikalen Republikanismus war hauptet, eine „Zivilgesellschaft“ wäre die übersatte deutsche Republik aller- 64 Vera Lengsfeld dings nicht vorbereitet. Deutschland pochen. Die Forderung nach „Korrekt- verprasst nun das Erbe der Aufbau- heit“ ist stets eine eminent politische generationen. Und der Verfall nennt Forderung. Folgt einerseits dem Suffix sich „Reform“ und „Modernisierung“. „Innen“ nicht das Frauenquorum? Die Linke hat die Kunst der propa- Folgt andererseits der Verdrängung von gandistischen Verdrehung immer Wörtern nicht die Verdrängung von hervorragend beherrscht. Aus radikalen Problemen: etwa dem der Ausländer- Straßenkämpfern sind Manager ihrer kriminalität? Und wenn sich Kom- Macht geworden. Der „herrschaftsfreie munisten „demokratische Sozialisten“ Diskurs“ sichert ihre Herrschaft dog- nennen – sind sie dann verfassungs- matisch. Das Land ist von einer geis- freundlich? Wenn der Begriff „rechts- tigen Verkrampfung erfasst, die Pro- radikal“ oder „rechtsextrem“ hartnäckig fessor Habermas „ethische Vergewis- auf „rechts“ verkürzt wird, und die serung“ nennt – und mit der jeder Union nun einmal politisch eher rechts „unkorrekte“ Diskurs in Nischen ge- als links steht – so ist sie also „rechts- drängt worden ist. Die „kritische Theo- extrem“? Die „politisch Korrekten“ rie“, Leitideologie der Republik, ist in wähnen sich im Besitz der alleinigen ihren staatstragenden Varianten alles Wahrheit und verweigern deshalb Mögliche, nicht jedoch kritisch. jedes Recht auf Widerspruch. Sie be- stimmen, was korrekt sei. PC dient Die „Bürgerlichen“, wenn es sie denn dem Zweck, missliebige Meinungen zu überhaupt noch gibt, müssen sich stigmatisieren. Das Fatale an PC ist, von der Passivität verabschieden. Sie dass manche Auseinandersetzungen gar müssen den Streit um die politische nicht oder nur in Form von Schau- Leitkultur annehmen. Wir benötigen prozessen stattfinden können: Erregung eine geistig-moralische Wende, wir herrscht, Entrüstung, Hysterie. PC ist brauchen Leistungswillen, Verantwor- für einen freiheitlichen Staat eine tungsbewusstsein, Bürgersinn, Unter- Bedrohung, da am Ende an dessen nehmergeist und Freiheit des Denkens Stelle der Staat der Einheitsmenschen, und Handelns. der Gesinnungsstaat tritt. Politische Korrektheit erweist sich immer wieder als Instrument zensorischer Manipu- 2. „Politisch korrekt“ lation im Prozess der politischen gegen die Freiheit Willensbildung. Pluralismus, Streit- kultur und Meinungsvielfalt sind Eine der verborgenen egalitären At- gefährdet, wo Sprache und politisches tacken auf die westlichen Freiheitswerte Handeln einer Normierung folgen ist die unerträgliche 'political correct- sollen. ness'. Die „PC“ begann an ameri- kanischen Universitäten als Kampf von Warum nennt die CDU das neue Minderheiten um Gleichberechtigung. Betriebsverfassungsgesetz, das anti- Mittlerweile ist PC zu einem politisch- demokratisch und unternehmer- moralischen Kreuzzug geraten, der feindlich ist, nicht einfach „politisch die Gesellschaft in Interessengruppen unkorrekt“? Ebenso die häufige Dis- spaltet, die nur noch auf ihre als tanzierung des Bundestagspräsiden- fundamental verstandenen Rechte ten vom Stolz auf sein Volk? Das Mehrheit und Meinungsführerschaft 65

Fundament der herrschenden PC ist Schein der Humanität, die Unfreiheit eine weltverbesserische Harmonielehre, mit dem der Emanzipation. Botho das Ergebnis ist ein ganz anderes. Der Strauß schrieb in seinem Aufsatz Versuch, als von unbestreitbaren ega- 'Anschwellender Bocksgesang': „Der litären Grundsätzen geprägt daher- Widerstand ist heute schwerer zu ha- zukommen, macht sie zu einer Bedro- ben, der Konformismus ist intelligent, hung für die pluralistische Gesellschaft. fassettenreich, heimtückischer und Sie wähnt sich legitimiert durch eine gefräßiger als vordem, das gut Ge- progressistische Geschichtsphilosophie: meinte gemeiner als der offene Blöd- Alles wird besser, weil es gleicher wird. sinn (…).“ Es ist Aufgabe einer kon- Die Utopie von totaler Emanzipation servativen Kulturkritik und Kultur- und Gleichheit verstellt den Blick auf politik, diesen Widerstand zu leisten. Realitäten, auf Unterschiede, auf Un- Sonst kippt die Republik. gleichheiten. Ideale von Menschsein und Gesellschaft werden absolut ge- setzt, verbindlich gemacht – und un- 3. Für eine lebendige erbittlich zum Maßstab erhoben. Bürgergesellschaft

Wir stehen vor der kulturpolitischen Es ist erstaunlich, welche ungeheure Auseinandersetzung mit den geisti- Ranküne tagtäglich in den Medien und gen Grundlagen einer tonangebenden in den Schulen und überhaupt im so Linken, die sich erfolgreich Mühe gibt, genannten öffentlichen Diskurs ge- als liberal und unideologisch zu gelten. gen Andersmeinende, sogar gegen den Sie ist aber das Gegenteil von liberal. Souverän, das Volk, mobilisiert wird. Ist unsere Gesellschaft blind für die Diese pseudo-libertäre Form der Un- Bedrohung? Oder ist sie schon so mündigkeit ist eine eifernde Form der sozialistisch, dass ihr der linke Rand so Manipulation, eine biedere Tabuisie- vertraut erscheint, dass ehemalige rung des Allzumenschlichen und Viel- K-Gruppen-Funktionäre höchste Staats- fältigen. Man stelle sich vor, die Fäl- ämter besetzen? Und korrespondiert die schungen in der vom ehemaligen politische Interessenlosigkeit des sich kommunistischen Studentenfunktionär in der Massengesellschaft verlierenden Hannes Heer organisierten, offiziösen Bürgertums mit der Angst und der Wehrmachtsausstellung wären von stupiden Scheinmoralität, die unser einem deutschen Doktoranden auf- Land intellektuell dominieren? In Ernst gedeckt worden; er hätte, wenn die Jüngers Aufsatz 'Waldgang' bereits geht Erkenntnisse denn überhaupt irgend- es um die Bewahrung der Freiheit des wo veröffentlicht worden wären, seine Einzelnen in Zeiten verborgener akademische Karriere an den Nagel Gewalt: der Gegner nämlich trägt nun hängen müssen. Offenbar ist der Druck selbst die Maske der Freiheit. In des Zeitgeistes auf die bürgerliche Hannah Arendts 'Vita activa' heißt es, Existenz außerordentlich, zumindest die Bedrohung der Freiheit in der was die Kraft betrifft, Beifall oder spätmodernen Gesellschaft komme Rückzug und Buße zu erzwingen. nicht mehr vom Staat, sondern von der Gesellschaft selbst. Das bedeutet: Die Entschuldigungsrituale ersetzen Politik. Inhumanität umgibt sich mit dem Taktische Emotionalität herrscht. Und 66 Vera Lengsfeld die Verängstigung hat vor der bür- derung des Staatsvolkes durch ein gerlichen Kulturpolitik nicht Halt neues Staatsbürgerschaftsrecht, das gemacht. Die Wehrmachtsausstellung traditionelle und emotionale Bin- wurde gehorsam von CDU-Politikern dungen an unser Gemeinwesen durch begrüßt und in verschiedenen Städten schein-rationale und ökonomische (mit)eröffnet. Gegen Daniels Gold- ersetzt und neue „strukturelle Mehr- hagens überzogene Thesen äußerte sich heiten“ schafft. Der Umverteilungs- erst vernehmbarer Widerspruch, als in staat, die Politik der Ermahnungen und seinem jüngsten Buch die Polemik moralischen Scheingefechte sichern jedes wissenschaftliche Maß sprengte. den politischen Einfluss der Schröders, Fischers & Co. Woher diese Anpassung? Die Kultur- politik der Union hat die geistige Frei- Bürgersinn aber kann es ohne „irra- heit als Fundament der pluralistischen tionale“, emotionale Identifikationen Demokratie zu verteidigen, sie hat die mit seiner Gemeinschaft nicht geben, entscheidenden Debatten der Nation und staatsbürgerliche Tugenden gibt es in das Parlament zu tragen. Jeder nicht ohne bürgerliches Bewusstsein. Schriftsteller, Schauspieler, Sportler Auch wenn die bürgerlichen („sekun- fühlt sich dazu berufen, die öffentlich- dären“) Tugenden nicht up to date politische Meinung quasi ex cathedra sind, auch wenn es heute eher um beeinflussen zu müssen. Dann ist es Selbstbestimmung und individuelle erst recht die Aufgabe der Politiker, das, Kreativität als um Pflicht und kollektive was man Diskurse nennt, nicht un- Verantwortung geht, ohne Verantwor- schuldig an sich vorbeiziehen zu lassen. tungsbewusstsein ist Freiheit gefährdet. Gesellschaft wie Staat werden ausge- Sicher, die CDU muss stärker zur Stim- höhlt, wenn der Bürger nur noch als me eines zeitgemäßen „Lebensgefühls“ Steuerzahler gefragt ist. Staatsbürger- werden, nicht jedoch zur Stimme des liches Bewusstsein kann nicht nur aus Gefühls derjenigen, die angetreten sind, bloßem Verfassungspatriotismus be- die Institutionen unserer Gesellschaft stehen. Der wird nicht reichen, Krisen zu zerstören. Es ist erstaunlich, wie zu überstehen. Und Krisen sind ab- rasch der Republik linke Grundmuster sehbar. Der Staat ist eine Schicksals- aufgenötigt worden sind, wie tief sich gemeinschaft. Eine gewachsene Bür- bestimmte Geschichtsdeutungen ein- gergesellschaft, eine von lebendiger geprägt haben. Wie ist zu erklären, dass Überlieferung und erlebter Solidarität das konservative Lager in den frühen gebildete Assoziation ist nicht einfach Siebzigerjahren so zügig marginalisiert durch ideologische Gebilde ersetzbar. worden ist? Spätestens der Historiker- streit Mitte der 1980er-Jahre hat ge- Die Kulturpolitik der Union muss die zeigt, dass das historische Denken bürgerlichen Institutionen stärken, politischen Tabuisierungen unterliegt. sonst gewinnt die Linke tatsächlich die Man betrachte nur die Folgen der nach „Hoheit über die Kinderbetten“. Es geht wie vor das Bildungssystem prägenden um das Besondere, Einmalige, Unver- Leistungsfeindschaft und Gleichma- wechselbare – um Kultur, also um die cherei, die gewollte Looser-Mentalität, Bindekräfte der bürgerlichen Gesell- man sehe die tief greifende Verän- schaft, die sonst in ein gleichgültiges, Mehrheit und Meinungsführerschaft 67 unpolitisches Nebeneinander zerfällt. Das Allzumenschliche, Ungleiche, Un- Und die Geschichte mit weltanschau- korrekte verschwindet keineswegs in lichen oder kulturellen Konflikten, mit der Globalität, auch innerhalb einer ihren Verteilungskämpfen kann uns offenen Weltgesellschaft wird das schneller wieder heimsuchen, als wir spezifisch politische Problem des so- ahnen. zialen Zusammenhalts weiter bestehen und möglicherweise eine beispiel- Die Kulturpolitik der Union darf die lose Schärfe annehmen. Das „ein- Deutungshegemonie über bestimmte zige“, prophezeite der Sozialphilosoph Begriffe nicht einer in der Wolle ge- Panajotis Kondylis, „wofür die Welt- färbten Linken überlassen, das Vorrecht gesellschaft an sich bürgen kann, ist auf das Humanum und die Moralität. zunächst bloß die Verwandlung aller Ein Erstarken des politischen, des bür- Kriege in Bürgerkriege“. gerlichen Lagers kann nur erfolgen, wenn der Kulturstreit angenommen Die Union muss die intellektuellen und wenn die Kampagnefähigkeit wie- Diskurse um die entscheidenden Fragen der gewonnen wird. Wer den Dis- unseres zukünftigen Lebens bestimmen kurs nicht bestimmt, wird von ihm oder wenigstens mitgestalten. Sonst bestimmt. Politik lebt aus der De- steht sie Kampagnen nicht durch. Sie finition von Interessen und ihrer muss eigene Leitbegriffe lancieren, Durchsetzung. Konsens täuscht das Debatten anstoßen und führen, Werte fröhliche Miteinander von Parteien, definieren, das politische Prinzip ver- Wirtschaftsverbänden und Gewerk- teidigen. Was soll die Scheu vor Be- schaften vor. Das Ergebnis ist ka- griffen wie Differenz, Verantwortung, tastrophal. Den Deutschen wird ein- Tradition, Leistung, Hierarchie? Es muss geredet, Politik habe nichts mit starken Schluss sein mit der Angst vor der Interessenkonflikten, auch solchen, veröffentlichten Meinung. Roland die nicht im Konsens zu lösen sind, Koch etwa hat es im Streit gegen die habe nichts mit Selbstbehauptung zu doppelte Staatsbürgerschaft vorge- tun. Wir werden entpolitisiert. Da- macht: Die CDU kann offensive Kam- hinter steckt, das haben die jüngsten pagnen siegreich durchstehen. Wir Jahre deutlich gezeigt, handfeste müssen die wahren Probleme der Machtpolitik. Nation ansprechen, frei von Angst, aus einem Rahmen zu fallen, den andere Der US-Politologe Francis Fukuyama gesetzt haben. Das betrifft auch den vertrat in seinem viel zu optimistischen Antiamerikanismus und die Zuwan- Buch 'The End of History' die These, derung. In der Anpassung des Staats- dass nach dem Ende des Ost-West- volkes an linke Wahlwünsche liegt eine Konfliktes die Demokratie zwar gesiegt große Gefahr. Jüngste Umfragen haben habe, es aber dafür Spannungen in- es belegt: Nicht einmal zehn Prozent nerhalb dieser Demokratien gebe. Ist der eingewanderten Türken wählen das verwerflich? Nur unter Spannungen die Union. Das wird sich auch nicht können sich Demokratien weiterent- ändern. Vorbereitet worden ist die wickeln. Konsens zumindest stand „strukturelle Mehrheit“ durch Kul- bisher allzu oft als Synonym für Still- turpolitik: das Schönreden der „multi- stand und Herrschaft der Funktionäre. kulturellen Gesellschaft“. 68 Vera Lengsfeld

Die Union muss kulturpolitische kritische Wille zur Macht. Die Un- Strategien gegen die demagogische übersichtlichkeit der Massendemo- Entpolitisierung entwickeln, das poli- kratie täuscht über die enorme tische Verständnis von Freiheit ver- Herrschaft neuer Systeme und ihrer teidigen. Deutschland wird sonst sozialen Anonymität hinweg. Hier aber irreparabel verändert, es wird ruiniert. ist der Platz einer neuen kritischen Ein Wiedererstarken des bürgerlichen Intellektualität und politischen Kul- Lagers kann nur erfolgen, wenn der turkritik. Oder bleibt das demokratisch- Kulturstreit offen angenommen wird. rechte Lager in der resignativen De- Die Bedingungen sind schwierig: die fensive? In der Überflussgesellschaft gesellschaftliche Dynamik wird von haben kulturelle Hegemonien viel mit Massenwirtschaft, das politische Leben dem Habituellen zu tun, mit Stärke und von der medial gefilterten Massen- Selbstsicherheit. Von der Linken ist demokratie bestimmt. Egalitäre Ten- keine größere geistige Offensive zu denzen bestimmen die Kultur, es bilden erwarten, sie wird sich, wie Botho sich neue, schnell wechselnde Eliten Strauß erkannt hat, „damit begnügen, unabhängig von sozialen Vorgaben. an der Organisation des gesell- All das hat nivellierende Auswirkungen: schaftlichen Lebens beteiligt zu sein, Die Konsumgesellschaft bedarf hedo- und schlimmstenfalls dessen Zerfall in nistischer Einstellungen, sie fördert Form der politischen Korrektheit ethische Beliebigkeit, den Wandel vorantreiben“. Ohne Meinungsführer- sozialer Verbindlichkeiten. Geistige schaft wird die Union ihre Klientel Hierarchien zählen nicht mehr viel. nicht binden und neue Wähler nicht Der Pluralismus wird zum Wert an sich anziehen. Wir müssen unsere Werte, erklärt, verschwindet aber in der Uni- Lebenseinstellungen und Gesell- formität. Die Zeit eines Freiheits- schaftsentwürfe in den Debatten verständnisses als Einsicht in die etablieren. Die von Notwendigkeit ist zu Ende. Die Ent- angestoßene Leitkultur-Debatte war faltung der instrumentellen Vernunft wichtig. Es ging um Selbstbefragung und der Siegeszug der modernen und Selbstvergewisserung unserer Produktion gingen Hand in Hand. Nation. Warum hat die Union sie nicht Reine Vernunft und „vernünftige“ durchgestanden? Der Nationalstaat Moralität sind subtile und überaus wird der entscheidende Bezugsrahmen effektive Weisen des Machterhalts. bleiben, in dem sich Identität aus- bildet. Die Debatte um die Frage, ob wir stolz darauf sein können, Deutsche 4. Der Streit um die Leitkultur zu sein, zeigt vor allem eins: das in Zeiten der Verunsicherung und des Kulturkritik muss kritisch sein, und schnellen Wandels weit verbreitete das heißt auch: Einsicht in die Grenzen Bedürfnis vieler Menschen, ihrer der Kritik. Die moderne Critica ist nationalen Identität Ausdruck zu mit Notwendigkeit in ihr Gegenteil verleihen. Schröder hat das erkannt – umgeschlagen, weil ihr der Wille und zieht die nationale Karte nach mangelte, die Unsicherheit ihres Belieben. Dass ihm geglaubt wird, ist Grundes anzunehmen. Im Dogma- das Erschreckende. Die Frage nach tismus verwirklicht sich der bloß der Leitkultur ist eine Frage von Mehrheit und Meinungsführerschaft 69 fundamentaler gesellschaftlicher Be- Argumenten begründet werden. Es gibt deutung. Tabus können wir uns nicht keinen Grund, sich in einen Erklä- mehr leisten. Wenn die Zahl der rungsnotstand setzten zu lassen. Zumal Schulklassen in unserem Land steigt, in der Begriff der multikulturellen Ge- denen Kinder mit der Muttersprache sellschaft selber voraussetzt, dass es Deutsch in der Minderheit sind, dann viele Kulturen gibt, die offensichtlich ist das ein Problem – und also sollte es „definiert“ sind. Oder sollten alle politisch diskutiert werden. Kulturen ihre Identität haben dürfen – nur die deutsche nicht? Leitkultur sagt, dass es im Zusam- menleben einen gemeinsamen Werte- Die Diskussion über die Leitkultur kanon geben muss. Der Kanon kann verriet viel über unser nationales weit sein, aber nicht beliebig. Aus- Selbstbewusstsein. Eine solche Debatte länder, die in unser Land kommen, würde in Frankreich, Italien oder haben unsere Gepflogenheiten zu England als gespensterhaft betrachtet akzeptieren. Warum muss man diese werden, so fraglos ist dort (noch) die Selbstverständlichkeit rechtfertigen? Dominanz der eigenen nationalen Integration kann es nicht auf der Basis Kultur. Kultur bedeutet nicht nur gleichmäßiger Teilung von Traditionen Sprache und politische Verfassung, aber und Kultur geben, das Thema Ein- beides sind zentrale Elemente. Und wanderung kann ohne das Thema insofern unsere politische Leitkultur Leitkultur nicht diskutiert werden. Und eine freiheitliche und rechtsstaatliche um Einwanderung geht es de facto. ist, schützt sie vor Intoleranz. Nur so Bevor Deutschland zum Einwande- vermag sie, anderen Kulturen Raum zu rungsland erklärt wird (das heißt, wenn geben. Darin liegt kein Absolutheits- man sich damit abgefunden hat), muss anspruch und keine Ausgrenzungs- den Deutschen klar gesagt werden, was absicht. Aber es darf keine Parallelge- das bedeutet. Und sie müssen gefragt sellschaften geben. Wer sich vom Be- werden, ob sie ihren politisch-plura- griff der Leitkultur verabschiedet, verab- listischen Staat als einen multikul- schiedet blind und verantwortungslos turellen Staat wollen. Das multikul- den Begriff des Gemeinwohls. Und wer turelle Modell geht von der Gleich- sich nur auf den Begriff des Verfas- berechtigung der deutschen Kultur mit sungspatriotismus zurückzieht, der hat „einwandernden“ Kulturen aus. Die Geschichte, Herkunft, Tradition und Kulturen sollen unverbunden, gleich damit die eigene Kultur aufgegeben. bedeutend nebeneinander bestehen. Da die Einwanderung nach Deutschland Der Streit über die Leitkultur vollzog zunehmen wird, geht diese Vorstellung sich auf der Grundlage von Verdäch- letztlich von der Marginalisierung der tigung, Verdrängung, Unsachlichkeit deutschen Kultur aus. Eine Gesellschaft und utopischer Versessenheit. Das Ziel aber ist gewachsen, sie hat ihre Ge- hieß Einschüchterung. Diese bewährte schichte, ihre Gewohnheiten. Man Methode bevorzugt das abstrakte Mo- muss das Deutsche nicht lieben, aber ralisieren, ihr Stil ist die Unterstellung, niemand muss hier leben. Kultur ist die Basis eine Ideologie. Schon in nicht zu definieren, sie ist offen- der Debatte um die „doppelte Staats- sichtlich. Sie muss nicht mit rationalen bürgerschaft“ ging es um die zentrale 70 Vera Lengsfeld

Frage der Neudefinition des Staats- deshalb keine Stiefkinder des Schul- volkes. Die Linke hat mit propagan- betriebs sein. Kulturelle Beliebigkeit distischer Hysterie und leerer Men- hat hier nichts zu suchen, und schenrechtsrhetorik von dieser Frage wichtigste Voraussetzung für die und ihren Konsequenzen abgelenkt. Teilhabe an Kultur und Politik ist die Beherrschung der eigenen Sprache. Es ist etwa erstaunlich, dass SPD- Unsere Sprache gilt es zu pflegen. Dass Politiker das Wort Bildung überhaupt die Union der so genannten Recht- noch in den Mund zu nehmen wagen. schreibreform, die alle Befürchtungen Was sie in Deutschland angerichtet erfüllt hat, keinen Widerstand ent- haben, ist eine Katastrophe. Und es ist gegengebracht hat, ist fatal. nicht zufällig passiert. Wenn wir heute fragen, was unsere Schulen leisten Die Trennung von politischer und müssen und was sie nicht leisten privater Sphäre ist eine Garantie der können, so ist klar: Kulturelle Bildung Freiheit. Das Individuelle schützt vor gehört zum Elementarsten, was Schule dem Verfall in das bloß Allgemeine und leisten muss. Eben deshalb müssen wir an die Ideologie. Unsere Kulturpolitik selbstbewusst sagen, was unsere Kultur benötigt das Leitbild einer realistischen ist. Es geht nicht nur um soziale Politik. Auch Hierarchien gehören Kompetenz, Kreativität und Kommu- dazu. Politik muss sich am Humanum nikationsfähigkeit, die auf dem Ar- orientieren, an der prekären Natur des beitsmarkt immer wichtiger werden Menschen. Zweifelsfrei, müssen wir uns und kulturell vermittelt und gestärkt verändern, um nicht verändert zu werden. Es geht um die Bindekräfte werden, aber die Union darf sich nicht unseres nationalen und europäischen einer veröffentlichten Meinung an- Gemeinwesens. Musik- und Kunst- passen, sondern muss bestimmen, was unterricht, Ethik und Religion dürfen der Geist der Zeit ist. Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache

Wolfram Wilss

1. Einleitung Öffentlichkeit an alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Problemen, Auf- Der Begriff Kultur ist, wenn man die gaben und Entwicklungen in Atem Tages- und Wochenpresse (die „Print- hält: Dialoge, Partnerschaften, Interes- medien“) als Maßstab nimmt, in der sensgemeinschaften, Intimität und Big letzten Dekade des 20. Jahrhunderts Brother, Wechselwirkungen, (Kultur-) ein allgegenwärtiges, vielfach verwend- Sponsoring, Theater, Film, Fernsehen, bares (multifunktionales) und somit Rezensionen, Ausstellungen, Preise, die wohlfeiles Modewort mit inzwischen Medienkonzerne, den Parteienfilz, po- deutlich erkennbaren Abnutzungs- und litische und wirtschaftliche Verän- Perversionserscheinungen geworden. derungen, das komplizierte Verhältnis Wie ein Virus hat sich „Kultur“ in (fast) zwischen Gesellschaft und Technik, die allen Fugen unserer Lebenspraxis fest- „Neue(n) Allianzen zwischen Wirt- gesetzt und überwölbt als „Integra- schaft und Kultur“ (die „Kultur AG“)2, tionstopos“ oder als „cultural turn“ der postmaterielle Wertewandel3 etc. ungebremst alle Formen menschlicher Selbst so entsetzliche Krankheiten wie Tätigkeit, von der Unternehmenskultur AIDS oder Drogensucht (demnächst über die Streitkultur, die Ausstellungs- womöglich auch BSE) werden als AIDS- kultur, die Jubiläumskultur, die TV- Kultur oder Drogenkultur unter die Kultur bis hin zur Kultur der zweit- Leute gebracht, ohne dass sich jemand besten Möglichkeit, der Kultur der besonders darüber aufregt. Schließung(en) und der Kultur der Panik. 2. Belegdokumentation Woher kommt die inflationäre Ver- wendung von „Kultur“ in der deut- Nach diesen einleitenden Bemerkun- schen Gegenwartssprache? Nach Bae- gen soll im Folgenden die hypertrophe cker ist Kultur ein höchst ambivalenter Vereinnahmung des Kulturbegriffs Fluchtpunkt der modernen Gesell- durch die deutsche Sprachpraxis an- schaft, der verschiedene Sichtweisen hand einer Dokumentation veran- auf die bestehenden Verhältnisse er- schaulicht werden, die ich in den letz- laubt.1 Zu ergänzen wäre: „Kultur“ ist ten Jahren vorwiegend aus der FAZ, der ein zweckoptimistischer Begriff, man NZZ, der SZ und der „Zeit“ unsystema- kann damit vieles bezeichnen, was die tisch zusammengetragen habe. Mit

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 72 Wolfram Wilss

„unsystematisch“ meine ich, dass ich sich schließlich im buchstäblichen die Belege, auf die bei meiner täglichen Wortsinn so massiv (massiert) zu Wort, Zeitungslektüre mein Blick fiel, ge- dass man von neuen Sprachgebrauchs- sammelt habe. Hätte ich systematisch, tendenzen sprechen kann, die in den d.h. nach den Prinzipien einer strengen verschiedenen Verwendungsbereichen corpuslinguistischen Methodik, ge- von Sprache mehr oder minder aus- sammelt, wäre das Corpus, das gegen- geprägt nachweisbar sind. wärtig einige Hundert Belege umfasst, sicher wesentlich umfangreicher, aber Formal lassen sich die Belege mit nicht wesentlich aussagekräftiger, wenn „Kultur“ in drei Klassen einteilen: es darum geht, das Lexikon einer Sprache (oder einen Teil davon) als 1. Belege mit „Kultur“ als Bestim- einen „Supermarkt“ zu beschreiben, der mungswort von Zusammensetzun- all das enthält, was eine Sprach- und gen („Kulturbetrieb“); Kulturgemeinschaft für die Deckung 2. Belege mit „Kultur“ als Grundwort ihrer wirklichen und ihrer vermeint- von Zusammensetzungen („Massen- lichen alltagssprachlichen und wis- kultur“); senschaftssprachlichen Bedürfnisse 3. Belege mit „Kultur als Basiskonsti- braucht. tuente einer Substantiv/Genitiv- Fügung („Kultur der Selbststän- Solche Erscheinungen zu erforschen, digkeit“). d.h. sie nach formalen und funk- tionalen Gesichtspunkten zu ordnen Die erste Klasse wird im Folgenden und zu erklären, ist eine lohnende vernachlässigt. Hier bieten die ein- Aufgabe einer Sprachwissenschaft, die schlägigen Lexika, vor allem der ihr Ziel nicht in abstrakter lingu- zehnbändige Duden, genügend An- istischer Theoriebildung sieht, sondern schauungsmaterial. Bezeichnender- an solche Erscheinungen soziolingu- weise fehlen Wörter wie „Kulturmana- istisch und psycholinguistisch „ange- gement“ (Leute, die Kultur vermark- reicherte“ Fragen stellen will. Sie will ten), Kulturtransfer, Kulturindustrie, auf diese Weise herausfinden, welche Kulturwissenschaft(en), Kulturtheorie, sprachlichen und außersprachlichen Kulturpessimismus, Kulturgrenze(n), Triebkräfte in einer Sprache wirksam Kulturgesellschaft“, alles Wörter, die sind und wie sich unter dem Einfluss erst in den letzten Jahren Karriere des „Zeitgeistes“ das lexikalische Aus- gemacht haben, aber inzwischen als druckspotenzial einer Sprache entfal- lexikonwürdig erachtet werden müssen. tet, strukturell gliedert und tendenziell Am wichtigsten sind vielleicht die im verändert. Derlei Entwicklungen er- Zuge der gegenwärtigen Kulturali- eignen sich, wie ich anderswo auf- sierung entstandenen Prägungen geführt habe4 nicht über Nacht. Sie „Kulturindustrie“ (von den Frankfurter manifestieren sich nicht in abrupten Soziologen Horkheimer und Adorno Zäsuren. Sie kündigen sich vielmehr 1935 geprägt, aber zunächst ohne eher beiläufig an, sind zunächst nur zeitgeschichtliche Ausstrahlungskraft) vage erkennbar, treten dann deutlicher und „Kulturmanagement“; sie sind in den Gesichtskreis des aufmerksam Abbreviaturen für die Kommerziali- gewordenen Beobachters und melden sierung und Technisierung des Kul- Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache 73 turbetriebs und lassen ahnen, wohin Protest-, Scham/Schuld/Schweige-, in kultureller Hinsicht die Reise geht Spar-, Spaß-, Stabilitäts-, Subventions-, („Holocaust-Industrie“!). Vertrauens-, Versorgungs-, Wahrheits-, Wohlstands-, Zeitschriftenkultur etc. Von den drei Klassen ist die zweite qualitativ und quantitativ die mit Im Zuge der Anglofonisierung der Abstand interessanteste. Sie verrät eine deutschen Gegenwartssprache gibt es Trivialisierung des Kulturbegriffs, die auch Hybridbildungen: Kultur als Gesamtmuster politischer, wirtschaftlicher, ökologischer, juristi- Accountability-, Event-, Over-the-coun- scher und sozialer, d.h. geschichts- ter-, Trash-, Winner-/Loser-Kultur. bildender Faktoren weithin verun- staltet. Ursprünglich bezeichnete das Sonderformen wie „Defensiv-, Glo- lateinische „cultura“ nur das, was mit bal-, Hochkultur“ sind quantitativ Landwirtschaft zu tun hatte. Das hat vernachlässigbar. „Inter-, Pluri-, Multi- sich im Laufe der Geschichte geändert. und Transkultur“ habe ich nicht ge- Heute ist Kultur ein semantisch chao- funden, wohl aber die Adjektive „in- tisches, nahezu beliebig verwendba- ter-, pluri-, multi-, transkulturell“ und res lexikalisches Versatzstück, ein Wort davon abgeleitet „Inter-, Pluri-, Multi-, mit vielen (zu vielen) „fuzzy edges“, das Transkulturalität“. zeigt, was passiert, wenn man die Leichtigkeit der Verbindung von Von meinen Belegen sind nur vier (im Bestimmungs- und Grundwort, die Duden) lexikalisiert: Esskultur, Mas- Bühler veranlasst hat, die deutsche senkultur, Wohnkultur und ironi- Wortbildung als „springlebendiges scherweise „Sprachkultur“ (ironischer- Bildungsmittel“ zu charakterisieren, weise deshalb, weil viele Belege eher missbraucht.5 unter die Rubrik „Sprachunkultur“ fallen). Möglicherweise sind es mehr; Hier nun eine Auswahl ein- oder dazu wäre ein rückläufiges deutsches mehrfach dokumentierter Belege. Das Wörterbuch zu konsultieren, aber ob Auflistungsprinzip ist mangels einer sich der Aufwand lohnt, ist fraglich. plausiblen Sachordnung alphabetisch Dagegen ist, wie angedeutet, wahr- (mit Ausnahme teilsynonymischer scheinlich, dass, je nach Verlauf der Belege): asoziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Aktien-, Akzeptanz-, Angestellten-, deutschen Gegenwartsgesellschaft, Be- Angst-, Beratungs-, Bestattungs-, Be- lege, die bisher Ad-hoc-Erscheinungen teiligungs-, Betroffenheits-, Campus-, sind, als Neologismen Eingang in das Deutungs-, Diskussions-/Gesprächs-, lexikalische Vokabular der deutschen Duz-, E-/U-, Evaluations-, Firmen-, Sprache finden. Flucht-, Hass-, Hauptstadt-, Indus- trie-, Informations-, Jugend-, Knei- Die dritte Klasse ist ein Ableger oder pen-, Kompromiss-, Konflikt-, Kon- eine Variante der zweiten Klasse. Sie sens-, Kursbuch-, Leistungs-, Macho-, macht deutlich, dass der deutsche Maus-, Medien-, Minderheiten-, Miss- Sprachbenutzer alle (morphologischen trauens-, Parlando-, Pizza-, Postdoc-, und syntagmatischen) Möglichkeiten 74 Wolfram Wilss seiner Sprache ausschöpft, um sich rungs-/Gedächtniskultur“, „Wissens- sprachlich-gesellschaftlich zu profi- /Wissenschaftskultur“ und „Organi- lieren: sationskultur“. Sie sind deshalb be- sonders interessant, weil sie auf vier Kultur der Anstrengung, der Armut, zentrale Bereiche der (deutschen) der Aufmerksamkeit, der Ausnahme, Gegenwartskultur verweisen, Selbst- des Dialogs, des Genießens, der Härte, verantwortung der Gesellschaft und des der Innovation, der Integration, der Individuums, Holocaust, das Verhält- Jugend, des Krieges, des (Mit-) Teilens, nis von Wissen und Wissenschaft und des Neuen, des öffentlichen Gesprächs, „Technokultur“. Die Auswahl ist sub- der öffentlichen Rechnungslegung, der jektiv; eine Beschränkung auf vier Be- Selbstständigkeit, der soziologischen lege war aus Platzgründen unver- Begriffsbildung (eigentlich: der Bildung meidlich. soziologischer Begriffe), der Toleranz, des Unternehmertums, der Verände- rung(en), des Vergessens, des Verzichts, 3.1 Bewusstseinskultur des Wegschauens, der Zusammenarbeit etc. Die Prägung „Bewusstseinskultur“ stammt m.W. von Thomas Metzin- Fast alle Belege der dritten Klasse las- ger, der unter den Überschriften „Wenn sen sich, wie das Nebeneinander von die Seele verloren geht“6 und „Von der „Jugendkultur“ und „Kultur der Ju- Hirnforschung zur Bewusstseinskultur“ gend“ zeigt, in Zusammensetzungen zwei für eine Tages/Wochenzeitung mit „Kultur“ als Grundwort umfor- umfangreiche Artikel veröffentlicht hat. mulieren (und umgekehrt). Das Vor- Im Ersten heißt es: handensein relativ vieler Substantiv/ Genitivattribut-Fügungen mag damit „Wir brauchen (...) eine neue Be- zusammenhängen, dass diese Formu- wusstseinskultur. Es ist nicht damit lierungsmöglichkeit einen fast unwi- getan, die ethischen Implikationen des derstehlichen „emphatischen“ Druck Aufkommens bestimmter neuer Me- ausübt, den man als öffentlichkeits- dizin- oder Bewusstseinstechniken im wirksame sprachlich-stilistische „Her- Allgemeinen zu diskutieren. Worum es vorhebungskultur“ (Prägung von W. geht, ist die Einbettung sowohl der W.) im Rahmen der gegenwärtigen technologischen als auch der theo- intensiven Kultur/Kulturalisierungs- retischen Entwicklung in eine kulturelle Diskussion bezeichnen könnte. Evolution, die mit ihnen Schritt halten kann.

3. Diskussion von Einzelbelegen Wie könnte eine rationale Bewusst- seinskultur aussehen? Sie hat nichts mit Von den vielen Belegen für Zusam- organisierter Religion oder einer be- mensetzungen mit „Kultur“ als Grund- stimmten politischen Vision zu tun. wort sollen im folgenden vier, bisher Bewusstseinskultur wird darin be- nicht erwähnte Bildungen etwas stehen, Individuen zu ermutigen, die genauer unter die Lupe genommen Verantwortung für ihr eigenes Leben werden: „Bewusstseinskultur“, „Erinne- zu übernehmen. Den gegenwärtigen Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache 75

Mangel an echter (sic) Bewusstseins- kulturellen Hegemonie der USA. Diese kultur kann man als gesellschaftlichen lässt heute in Umrissen erkennen, Ausdruck des stecken gebliebenen worauf man sich einlässt, wenn man Projekts der Aufklärung deuten (...).“ die Grenzen der medialen Verwertung der Gehirnaktivitäten immer weiter Im zweiten Artikel führt er seine hinausschiebt und eine „Bewusst- Überlegungen weiter: seinsindustrie“ aufbaut, die vermut- lich nur wenig mit der von Metzinger „Was uns fehlt, ist nicht Glauben, angestrebten, moralisch fundierten sondern Wissen; was uns fehlt, ist nicht Bewusstseinskultur (unserem „Ver- Metaphysik, sondern eine neue Va- antwortungsbewusstsein“) zu tun hat. riante praktischer Rationalität, und zwar in Bezug auf die aktive Benutzung des eigenen Gehirns zur Steuerung des 3.2 Erinnerungs-/Gedächtniskultur bewussten Erlebens. Eine echte Be- wusstseinskultur müsste auf gesell- Das Ende des letzten Jahrhunderts und schaftlicher Ebene eine vernünftige und der Beginn des neuen Jahrhunderts ist produktive Umsetzung der neuen geprägt von der Forderung nach Erkenntnisse und Handlungsmög- technologisch fundierten Erinnerungs- lichkeiten erreichen, die sich in der aktivitäten. Erinnerungsarbeit soll der Zukunft mit steigender Geschwin- modernen Gesellschaft ins Gedächtnis digkeit aus der Forschung ergeben rufen, dass wir heute über digitale werden.“ Techniken für die Bewahrung des Erinnerungswürdigen und die Nicht- Was Metzinger unter „neuen Erkennt- beachtung des Nichterinnerungswür- nissen und Handlungsmöglichkei- digen, die „Kultur des Vergessens“ ten“ versteht und welche Forschung er besitzen und der interne Gedächtnis- meint, wird nicht ausgeführt, aber speicher und die externen Gedächt- das wäre für Beiträge in der Tages-/ nisspeicher bei der Bewältigung der Wochenpresse wohl auch zu viel Alltags- und der wissenschaftlichen verlangt. Sollte er mit Forschung die Probleme komplementär zusammen- Neurowissenschaft im Visier haben, wirken. Dies ist angesichts der ge- müsste er mit einem eher skeptischen genwärtig (und in Zukunft) rasch Widerhall rechnen. Vor nicht allzu wachsenden Informationsquantitäten langer Zeit haben führende Neurowis- besonders wichtig. senschaftler den Beschluss gefasst, den Begriff Bewusstsein in den nächsten Für die Deutschen hat die Forderung zehn Jahren in ihrer Forschungsarbeit einer Erinnerungskultur wegen des nicht mehr zu benutzen, weil er kon- Genozids an den Juden eine dauerhaft zeptionell diffus sei und die vorhan- bedrückende Dimension: denen Bewusstseinsdaten nicht zu ei- nem widerspruchsfreien Gesamtmodell „In den Debatten um Holocaust- zusammengefügt werden könnten.7 Mahnmale, Gedenkstätten und Museen hat ein furchtbares Wort Karriere ge- Was bei Metzinger völlig fehlt, ist eine macht: „Erinnerungskultur“. Dieses legt Auseinandersetzung mit der medien- die Vermutung nahe, dass beschwo- 76 Wolfram Wilss rene öffentliche Brennpunkte eines um den Hals hängen werden, denn der ritualisierten Erinnerns die letzten Holocaust ist der größte Zivilisa- Fäden zu einer zivilisatorischen tionsbruch des 20. Jahrhunderts.9 Ob Anstrengung knüpfen, die preiszuge- man gut daran tut, notwendige ben anderweitig kaum auf Skrupel Erinnerung als „Erinnerungskultur“ zu trifft. Nur im Einblick auf tradi- plakatieren und nicht einfach bei tionsverwaltende Symbole und ins- (hysteriefreier) „Vergangenheitsbewäl- besondere die Beschwörung untilg- tigung“ zu bleiben, ist eine andere barer Wunden der Historie gilt Frage. Erinnerung noch als unantastbar, erscheinen Gedächtnisspeicher als nicht entbehrlich, Vergessen als 3.3 Wissens-/Wissenschaftskultur Sakrileg, Verwerfung des Gewesenen als Zeugnis von Frevel und Barbarei.“8 Allenthalben ist heute die Rede von fundamentalen Veränderungen unserer Klaus Naumann, der ehemalige Kul- Gesellschaft durch die modernen turbeauftragte und Kulturstaatssekre- Informations- und Kommunikations- tär der Bundesregierung, hat das Jahr technologien (IKT), die fast über Nacht 1995 in fast beschwörender Form ein eine ganz neue „Wissenskultur“ haben „Schwellenjahr der Erinnerungskul- entstehen lassen – mit so griffigen, z.T. tur“ genannt, weil 1995 die letzte Ge- stark metaphorischen, z.T. hoch- legenheit für Vertriebene, für Zwangs- artifiziellen Leitwörtern wie „Daten- arbeiter und für Holocaust-Opfern ist, netze, Datenautobahnen, Telearbeits- sich zu Wort zu melden und als plätze, Teleteaching, Telelernen, On- Zeitzeugen über die Ereignisse von line-Wissensrecherchen, global village, 1933 bis 1945 zu berichten und ihre electronic cottage industries, Com- Dokumentation zu ermöglichen. Spä- putervirus“ etc. testens um 2020, 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, so meint er, werden Alle diese Begriffe, die sich rasch zu ei- diese Ereignisse endgültig Geschichte nem mehr oder minder transparenten sein; d.h., sie werden dann aus dem Schlagwörterkauderwelsch gemausert „kommunikativen Gedächtnis“ in das haben (wobei noch zu prüfen sein wird, „kulturelle Gedächtnis“ übergegangen was davon nichts als heiße Luft ist), las- oder von der „Kultur des Vergessens“ sen erkennen, dass die digitale Wissens- verdrängt worden sein. Unliebsames kultur die vorläufig letzte Stufe einer einfach wegzuschieben oder einfach Entwicklung ist, die das Wissen und die wegzuhören, wenn uns die Vergan- Wissenschaft in den Dienst gesell- genheit einholt, ist nicht der richtige schaftlicher Bedürfnisse – und, nicht Weg, die Vergangenheit zu bewältigen zu vergessen, massiver kommerzieller (wenn sie überhaupt bewältigt werden Interessen – stellt und damit den kann). Deshalb ist „die Gnade der Unterschied zwischen „reinem“ und späten Geburt“ nicht hilfreich, auch „angewandtem/anwendbarem“ Wissen wenn jemand keine unmittelbare relativiert, wenn nicht ganz aufhebt. Schuld an den Ereignissen hat, die dem Gewissen des deutschen Volkes auf Dieser Prozess ist vor allem von den Generationen hinaus wie ein Mühlstein Naturwissenschaften vorangetrieben Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache 77 worden, und das nicht erst in der Thomas Bernhard. Das wäre richtig, Gegenwart. Sie haben schon immer wenn es eine dem Menschen vor- großen Wert darauf gelegt, den kon- auseilende Wissens- und Wissen- kreten Nutzeffekt von Wissen ge- schaftswelt gäbe, aber eine solche ist bührend ins rechte Licht zu rücken, auch durch ein noch so raffiniertes den der naturwissenschaftliche Er- Wissens- und Wissenschaftsmanage- kenntnis- und Wahrheitsgewinn mit ment (was immer das ist) nicht sich bringt. So sprach Bacon in einem herbeizuzaubern. ganz pragmatischen Sinn von der Macht des Wissens. Halley vergaß Zweifellos verfügen wir heute durch nicht, seine astronomischen Ent- den Computer (genauer gesagt, durch deckungen auf ihre seenavigatorische z.T. höchst komplexe und leistungs- Anwendbarkeit hin zu prüfen, und fähige Computerprogramme) über ein Hobbes definierte Erkenntnis bekannt- wirksames Mittel für ein umfang- lich als eine Möglichkeit, natürlichen reiches, wissensbasiertes Verständnis Erscheinungen nach Bedarf unter- unserer Umwelt. Drei Entwicklungen schiedliche Bedeutungen zuzuordnen. werden hier eine zentrale Rolle spie- Im Grund meint Brecht ähnliches, len: wenn er in seinem Drama „Leben des Galilei“ diesen sagen lässt, das einzig ● Die Sammlung, Verarbeitung, An- legitime Ziel der Wissenschaft sei es, wendung (Umsetzung) und der die Mühsal der menschlichen Existenz schnelle Transfer von Wissen wer- zu verringern, oder, in Arnold Gehlens den Grundfaktoren unserer be- Terminologie, den Menschen zu „ent- ruflichen (und unserer privaten) lasten“. Lebenswelt werden; ● Das Funktionieren der „Wissens- Noch ist es zu früh, auch nur ei- gesellschaft“11 wird hohe Anfor- nigermaßen genau vorauszusagen, derungen an unsere Flexibilität und wohin uns die neue Wissenskultur unsere Anpassungsfähigkeit stel- führen wird, wo ihre Möglichkeiten, len, und es wird nicht ausbleiben, wo ihre Grenzen liegen und wie ihre dass vage Begriffe wie „Kreativität“ gesellschaftlichen, politischen und und „Innovation“ eine neue tech- wirtschaftlichen Auswirkungen be- nische/technomorphe Qualität er- schaffen sein werden. Nicht auszu- halten; schließen ist, dass durch die Art, wie ● Die Möglichkeit des Zugriffs (oder heute, im Zeitalter der digitalen Zugangs/access12) auf globale Da- Sachzwänge und „Visionen“, die Wis- tennetze, wie sie exemplarisch vom senskultur, vor allem in Form des Internet repräsentiert werden, ma- „Wissenschaftsmanagements“10, nahe- chen unsere Arbeitswelt komplexer zu kritiklos propagiert und rosarote und anspruchsvoller, aber sie be- Internet-Zeiten versprochen werden deuten, richtig angewendet, auch („das Wissen der Welt für alle“) und die ein Mehr an Selbstbestimmung, die Wissenschaft dadurch ins Zwielicht in der Werteskala der Menschheit gerät. „Wir haben uns der Wissenschaft im sog. „postindustriellen Zeitalter“ als einer Finsternis ausgeliefert“, sagt (falls das nicht ein Hirngespinst ist) der Fürst im Roman „Verstörung“ von ganz oben steht. 78 Wolfram Wilss

Auch ohne die Erkenntnisse der „Wis- mensetzungen praktiziert werden, senspsychologie“ (ein Begriff, den generalisierbar sind. Sie funktionie- es m.W. seit 1984 gibt)13, wissen wir, ren, wie die Belegdokumentation zeigt, dass nicht das Sammeln, sondern das alle nach demselben Formulierungs- Ordnen von Informationen der ent- muster, in denen systemtheoretische, scheidende Faktor im Umgang mit biologische und kognitive Triebkräfte Wissen ist. Wissenskultur bedeutet, dass zusammenwirken. In ihrer Gesamtheit wir nur geordnetes Wissen (wieder-) verweisen die Belege auf eine öko- auffinden (information retrieval). nomische Verhaltensweise, die für das Damit Wissen in eine wie immer Verständnis der Wissenskultur der geartete Ordnung gebracht werden Gegenwart ein hohes Maß an Relevanz kann, müssen wir es klassifizieren besitzt. Ökonomismus geht auf Kosten (können). Indes, jeder Klassifizie- der Transparenz; die fehlende Trans- rungsversuch verlangt ein gewaltiges parenz wird durch extreme Kontext- Maß an Abstraktions- und Selek- abhängigkeit kompensiert. Kontext- tionsvermögen, das durch die Kom- abhängigkeit ist eine Sonderform von plexität der Wirklichkeit (AHMAZ- „Komplexitätsreduktion“, die vor al- Prinzip: Alles hängt mit allem zu- lem der Soziologe Niklas Luhmann sammen) oft überfordert ist, Sach- thematisiert hat. Komplexitätsreduk- verhalte und Begriffe können sich tion dieser Art führt fast zwangsläufig überschneiden, bestimmte Erschei- zum Auf- und Ausbau eines hinläng- nungen gehören oft mehreren Kate- lich differenzierten Schemavorrats, der gorien an oder können mehreren unter sprachökonomischem (dagegen Kategorien zugeordnet werden (daher nicht immer unter semantischem oder u.a. die Versuche zur Interdiszipli- sprachmoralischem Aspekt) ein opti- narisierung der Wissenschaft), oder sie males Input/Output-Verhältnis ermög- stehen in einem nichtprogrammier- licht. Schemata sind Ordnungsprin- baren Zusammenhang. zipien oder „Miniprogramme“, die intellektuell und manuell standar- Nach den Bemühungen der Mensch- disiertes Verhalten auslösen. Sie heit, physikalisch-technische Abläufe erleichtern Handlungsvorbereitung, zu begreifen, ist jetzt ein neuer Lern- Handlungsdurchführung, Handlungs- und Verstehensschub fällig, und dieser kontrolle und Handlungsevaluierung ist zentraler Bestandteil der neuen und machen das „Lob der Routine“14 Wissens/Wissenschaftskultur. Wir müs- verständlich. sen im Zeitalter extremer Quantitäten und extremer Spezialisierung ein Schemata üben in unserer Lebenspraxis Grundverständnis darüber erwerben, eine interaktionsleitende Funktion aus. wie wissensbasierte Prozesse in Gang Sie versetzen uns in die Lage, wie Varela gesetzt, durchgeführt und zielgenau zu sich ausgedrückt hat, „in eine mit einem erfolgreichen, evaluierbaren anderen geteilte Welt einzutreten“15. Abschluss gebracht werden. Wir „erzeugen“, genauer: Wir re- konstruieren die phänomenale Welt in Unter wissenskulturellem Aspekt ist unserem Bewusstsein nach Maßgabe wichtig, dass Formulierungstechniken, kontextdeterminierter Vereinheitli- wie sie bei der Bildung von Zusam- chungsprozesse. Dabei richten wir uns Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache 79 nicht nur selbst nach bestimmten dass wir ein soziales Gedächtnis be- Wahrnehmungs- und Erwartungs- sitzen, das auf kollektiven Erinne- normen (was erwartet der andere von rungen beruht. Schemata vermitteln uns?), sondern erwarten auch von ein „Wir-Gefühl“, das sich auf ge- unseren Mitmenschen, dass sie sich in sellschaftlich sanktionierte Verhaltens- einer bestimmten Situation so ver- muster stützt und den Beweis dafür halten, dass die betreffende Ver- liefert, dass Schemata eine soziale haltensnorm wenigstens formal nicht Institution sind, die der französische (entscheidend) verletzt wird. Dies gilt Soziologe Emile Durckheim als gleichermaßen für die alltagssprach- „conscience collective“ bezeichnet liche und die fachsprachliche Kom- hat.16 munikation. Es ist falsch, wenn be- hauptet wird, es gäbe so viele Realitätsbereiche (Teilwelten), wie es 3.4 Organisationskultur Operationen von einzelnen Individuen gibt, durch die sie konstituiert werden. Zu den Leitwörtern der deutschen Die Frage, wo die Grenze zwischen dem Gegenwartssprache gehört auch der „Ding an sich“ und der bewussten Begriff „Organisationskultur (Mana- Wahrnehmung empirischer Sach- gementkultur)“, der in allen wirt- verhalte verläuft, ist für die moderne, schaftsstrategischen Konzepten der metaphysikabgewandte Wissenskultur „New Economy“ eine zentrale Rolle irrelevant. Wir nehmen die Dinge so spielt. In sein Umfeld gehören Begriffe wahr, wie sie sind. Einen Beweis dafür wie „schlanke Produktion/Verwal- hat mein noch nicht zweijähriger tung, Megafusionen“ etc. Er ist so- Enkelsohn geliefert, der, zum ersten zusagen der Rahmen für riesenhafte Mal der Wuppertaler Schwebebahn Projektaktivitäten, die einzig und allein ansichtig, aufgeregt schrie: „Anders- Gewinnmaximierung zum Ziel haben. rum“, womit er meinte, dass bei einem In atemberaubender Geschwindigkeit Fahrzeug mit Rädern diese unten und hat sich der Begriff Organisationskultur nicht oben hingehören. Wären die als Schnittstelle in der Kommunika- Dinge anders als sie sind, würden wir tion zwischen Top-Management und sie anders wahrnehmen. Kein Indi- Middle-Management etabliert. Seine viduum hat ein ausschließlich oder Funktion ist es, die innerbetriebliche vorwiegend individuelles Wirklich- und die betriebsexterne Kommuni- keitsbild (heute durch die Com- kation zu steuern, Kommunikations- puterisierung weniger denn je). Wäre defizite zu beseitigen und die Vor- das so, liefe das auf eine endlose aussetzungen für die weltweite Ver- Pluralität subjektiv gleichberechtigter netzung von Kommunikation zu Welten hinaus, die jeden Zugang zur schaffen.17 objektiven Wahrheit blockiert. Na- türlich sind subjektive Unterschiede Was man unter Organisationskultur zu in der Wahrnehmung und in der verstehen hat, ist allerdings nicht so Beurteilung einer Situation immer neu, wie es der neue Terminus zunächst möglich, wie neuerdings das „neu- suggeriert. Vieles von dem, was man rolinguistische Programmieren“ zeigt, heute unter dem hochtrabenden Begriff aber gerade Schemata verdeutlichen, Organisationskultur der Öffentlichkeit 80 Wolfram Wilss schmackhaft zu machen versucht, ist Erkennens bedeuten immer auch lediglich die Technologisierung von Grenzen der Wirtschaftlichkeit. An- Ideen, die Eduard Spranger aus dererseits: kein „Weitblick“ kann kulturphilosophischer Sicht in seinem die Irrationalität der naturhaften grundlegenden Werk „Lebensformen“18 Verhältnisse ganz beseitigen; schon entwickelt hat. Dort hat er sechs deshalb nicht, weil die singulären Um- Grundformen der Persönlichkeit mit stände der Zukunft nicht voraus- einer jeweils bestimmten Sinn- und zuberechnen sind.“19 Wertrichtung unterschieden, den theoretischen, den ökonomischen, den Die Ausführungen Sprangers sind ein ästhetischen, den sozialen, den reli- Konzentrat seiner Ausführungen im giösen und den Machtmenschen. In Kapitel über den ökonomischen unserem Zusammenhang ist vor allem Menschen seines Buchs „Lebens- seine Charakterisierung des ökono- formen“. Sie sind, obwohl nunmehr mischen Menschen relevant: annähernd 100 Jahre alt, so aktuell wie eh und je (und es wäre seltsam, „Der ökonomische Mensch im all- wenn es anders wäre, denn die gemeinsten Sinne ist derjenige, der in Grundprinzipien ökonomischen Han- allen Lebensbeziehungen den Nütz- delns und Verhaltens sind schon lichkeitswert voranstellt. Alles wird für immer dieselben gewesen). Dazuge- ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, kommen sind – mit evolutionärer des naturhaften Kampfes ums Dasein Zwangsläufigkeit – neue Entwicklun- und der angenehmen Lebensgestal- gen wie Automatisierung, Virtuali- tung. Er verfährt sparsam mit dem sierung und Globalisierung, wobei Stoff, mit der Kraft, mit dem Raum, mit anzumerken ist, dass Globalisierung der Zeit, um ihnen ein Maximum auch keine Erfindung der Neuzeit ist. nützlicher Wirkungen für sich abzu- Es gab sie schon in der Antike, und gewinnen. Wir Neueren würden ihn spätestens seit den ersten Weltum- vielleicht auch als den praktischen seglungen erlebte die Welt die Menschen bezeichnen, schon weil das „Mondialisierung“, wie die romanisch- ganze Gebiet der Technik ebenfalls sprachigen Völker sie nennen (nann- unter dem Gesichtspunkt des Öko- ten). Die beiden ersten großen wirt- nomischen steht (…). schaftlichen „Globalisierer“ waren der Der ökonomische Mensch betrachtet Genueser Cristóbal Colón, uns besser seine Entwicklung als eine Folge von bekannt unter dem Namen Christoph zweckmäßigen Anpassungen, in denen Columbus, und der Portugiese Vasco da er jedes Mal der neuen Lebenslage Herr Gama, die 1492/1497 nach Übersee geworden ist. Das ganze Leben ist für aufbrachen.20 ihn überhaupt eine Art von kluger Technik (…). Neu in der Organisationskultur ist auch (…) Das ideale Ziel des ökonomischen die Bedeutung der aus der Biologie Menschen wäre ein wirtschaftlicher stammenden Systemtheorie und der Rationalismus, die Umwandlung des Systemanalyse mit ihren interakti- ganzen Lebensprozesses in eine um- ven Ordnungsstrukturen. Nun hat es fassende Rechnung, in der kein Faktor natürlich so etwas wie Systemtheorie mehr unbekannt ist. Die Grenzen des und Systemanalyse, nur unter einer Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache 81 anderen Terminologie, in den Natur- reichen mit dem Ziel optimaler Norm- wissenschaften und auch in den und Regelwirksamkeit hinaus. Deshalb Geisteswissenschaften – die Hermeneu- kann man auch nur da, wo so etwas tiker unter den letzteren werden das wie ein System waltet, Abweichungen vielleicht nicht gerne hören – schon verstehen. Abweichungen – das was immer gegeben, weil das Denken in Spranger als die Grenzen des öko- Systemkategorien einen Wesenszug nomischen „Weitblicks“ bezeichnet menschlichen Verhaltens sichtbar hat – setzen immer einen „Eukosmos“, macht. Die Systemtheorie hat zweifel- eine wohl geordnete Welt mit ihren los ihren verführerischen Reiz, weil sie ineinander greifenden Harmonien, sich bei der Lösung der verschieden- voraus. artigsten Probleme bewährt hat. Was liegt also näher, als sie auch in den Ein wichtiges Teilgebiet der Organi- Sozialwissenschaften, der Ökonomie, sationskultur ist die Personalpsycho- der Ökologie und der Zukunfts- logie, die „die Frage nach dem forschung um (möglichst) präziser Zusammenpassen und Zusammen- Resultate und genauer Erkenntnis- finden von Mensch und Arbeits- fortschritte willen zu einer Standard- organisation“21 zu beantworten ver- konzeption zu machen. Unsere Umwelt sucht. Die Essenz der Personal- ist kompliziert; alles ist mit allem psychologie hat Schuler folgender- in funktionalen Einheiten vernetzt maßen formuliert: (AHMAZ-Prinzip; siehe zuvor); wir verkraften aber nur ein begrenztes Maß „Mit Personalpsychologie wird hier an Komplexität. jenes Teilgebiet der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie des Das Forschungsinteresse der System- Personalwesens bezeichnet, das sich auf theorie richtet sich nicht auf Einzel- die Betrachtung des Individuums in phänomene (oder gar das Einzel- seinen Verhaltens,- Befindens-, Leis- phänomen an sich), sondern auf ihren tungs- und Entwicklungszusammen- Stellenwert in einem spezifischen hängen als Mitarbeiter einer Orga- Strukturzusammenhang, den sie als nisation konzentriert. Für die Perso- eine Menge von Elementen und als nalpsychologie im hier verstandenen eine Menge von Relationen zwischen Sinne wird eine ausgeprägte Affinität diesen Elementen definiert, wobei das zur Differenzialpsychologie als Grund- Ganze mehr ist als die Summe seiner lagenwissenschaft konstatiert und eine Teile. Es ist kein Zufall, dass in der naturwissenschaftliche Orientierung systemtheoretischen Argumentation als erstrebenswert angesehen. Als der Begriff der „Verfahrensstruktu- besonders fruchtbare Innovation wird rierung“ eine zentrale Rolle spielt. die metaanalytische Methode der „Verfahrensstrukturierung“ – und hier Validitätsgeneralisierung eingeschätzt, werden die Querverbindungen zwi- mittels deren methodische wie theo- schen Systemtheorie und der die neue retische Fortschritte erzielt werden Wirtschaft dominierenden Organisa- können. Weitere Neuentwicklungen tionspsychologie (siehe nachfolgend) werden benannt, die als charakte- handgreiflich – läuft auf eine ristisch für die Personalpsychologie Selbststeuerung von Lebensweltbe- gelten können.22 82 Wolfram Wilss

Hier werden Zusammenhänge sichtbar, niswert des Kalküls orientieren, das sich die auf eine Neubestimmung des zu einem Programm verdichten kann, Verhältnisses von Gesellschaft, Arbeit, welches selbsttätig (selbstläuferisch) Technik, (Natur-)Wissenschaft, Krea- funktioniert. tivität, Innovation und, nicht zuletzt, der Routine hinauslaufen und mög- licherweise eine neue Definition 4. Zusammenfassung dessen, was wir unter Kultur verstehen, zur Folge haben werden. Dabei können Natürlich ist es unrealistisch zu er- wir uns auf die bisherigen Ergebnisse warten, dass der Gebrauch eines tra- der Verhaltenswissenschaften stützen, ditionell so vagen Begriffs wie „Kul- die zwei Arten von Verhaltensweisen tur“ nicht auch befremdliche Züge unterscheiden, erstens die aus einem aufweist, denn Befremdliches ist typisch Repertoire bestehenden, program- für eine Zeit, die zwischen Heils- und mierbaren Verhaltensweisen, in denen Schreckensvisionen zerrieben wird, die die Funktion von Teilen und die Funk- keine klaren Vorstellungen mehr davon tion von Ganzheiten unverwechselbar besitzt, dass, um Hölderlin zu zitieren, aufeinander bezogen sind, und zwei- „der Güter Gefährlichstes“ die Sprache tens die im soziokulturellen, politi- ist und die deshalb auch noch kein schen und wirtschaftlichen Pluralis- klares Bild vom „neuen Menschen“ und mus unserer Alltags- und Wissen- von der neuen (Sprach-)Kultur hat. Wir schaftspraxis begründeten, nicht- täten gut daran, uns darauf zu programmierbaren, risikobehafteten besinnen, was mit einem Begriff wie Verhaltensweisen, die sich einer „Kultur“ und seinen vielen Mani- „computationistischen“ Betrachtungs- festationen gemeint ist, wo der Verweis weise weitgehend oder ganz entziehen. auf „Kultur“ sinnvoll und wo er sinnlos Hieraus resultiert ein Nebeneinander ist. Das ist keine leichte Aufgabe, weil oder auch Gegeneinander von an- „Kultur“ ein „diffuses Programm“ ist, thropomorphen und technomorphen dessen Versprachlichung zu beobachten Kulturerscheinungen, die sich dadurch eine lohnende und notwendige Aufgabe unterscheiden, dass erstere sich am einer sprachlich verantwortungsbe- Erkenntniswert des Individuellen, wussten und sprachkritisch engagierten letztere dagegen sich am Erkennt- Öffentlichkeit ist.

Anmerkungen 1 Baecker, D.: Wozu Kultur?, Berlin 2000. York 1934, S.327, 2.Aufl. 1965. 2 Grosz, A./Delhaes (Hrsg.): Die Kultur AG 6 Metzinger, Thomas: Die Zeit, 1.11.96, – Neue Allianzen zwischen Wirtschaft S.46 und NZZ, 18.3.98, S.40. und Kultur, München 1999. 7 Horgan, J: Der menschliche Geist. Mün- 3 Inglehart, R.: Kultureller Umbruch. Wert- chen 2000. wandel in der westlichen Welt, Frankfurt/ 8 Reck, Hans Ulrich: NZZ, 30./31.10.99, M./New York 1990. S.55. 4 Wilss, W.: Wortbildungstendenzen in der 9 Breitenstein, Andreas: NZZ, 14.03.01, S.33. deutschen Gegenwartssprache. Theore- 10 Götz, K. (Hrsg.): Wissensmanagement. tische Grundlagen – Beschreibung – Zwischen Wissen und Nichtwissen, Anwendung, Tübingen 1986. München/Mehring 20002. 5 Bühler, K.: Sprachtheorie. Die Darstel- 11 Drucker, P.F.: The Rise of the Knowledge lungsfunktion der Sprache. Stuttgart/New Society, in: Dialogue 2, 1994, S.13–18. Der Kulturbegriff in der deutschen Gegenwartssprache 83

12 Rifkin, J: Access. Das Verschwinden des 1992. Eigentums. Wenn alles im Leben nur 17 Wilss, W. (Hrsg.): Weltgesellschaft – Welt- bezahlte Ware wird, Frankfurt/M./New verkehrssprache – Weltkultur. Globali- York 2000. sierung versus Fragmentierung, Tübingen 13 Mandl, H./Spada, H: Wissenspsycholo- 2000. gie: Einführung, in: H. Mandl/H. Spada 18 Spranger, E.: Lebensformen. Geisteswis- (Hrsg.), Wissenspsychologie, München/ senschaftliche Psychologie und Ethik der Weinheim 1988, S.1–16. Persönlichkeit, Halle 1914. 14 Luhmann, N.: Lob der Routine, in: N. 19 Spranger, E.: SZ 30.6./1.7.62, Feuilleton. Luhmann, Politische Planung. Aufsätze 20 Wilss, W.: Translation and Interpreting in zur Soziologie von Politik und Ver- the 20th Century. Focus on German, waltung, Opladen, 1971, S.113–142. Amsterdam/Philadelphia 1999, BTL 29. 15 Varela, F.J.: Kognitionswissenschaft – 21 Schuler, H.: Lehrbuch der personalpsy- Kognitionstechnik, Frankfurt/M. 1990, chologie, Göttingen 2000, S.1. S.13. 22 Ebd., S.11; vgl. May, T.: Organisations- 16 Wilss, W.: Übersetzungsfertigkeit. An- kultur. Zur Rekonstruktion und Evalua- näherungen an einen komplexen über- tion heterogener Ansätze in der Orga- setzungspraktischen Begriff, Tübingen nisationstheorie, Opladen 1997. Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Martin Hübler

1. Einführung System der Sowjetunion. Trotz aller Erfolge bei der Annäherung an das Am Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt Niveau der bisherigen EU-Staaten sind die Europäische Union eine der dy- vor allem die wirtschaftlichen Unter- namischsten Phasen ihrer Geschichte. schiede nach wie vor enorm. Die Ereignisse scheinen sich geradezu zu überschlagen: Die Einführung des Angesichts dieser Entwicklungen stellt Euro am 1. Januar 2002, die im De- sich die Frage, nach welchem Modell zember 2002 auf dem EU-Gipfel in das Europa der 25 oder gar 30 Staaten Kopenhagen beschlossene Osterwei- künftig funktionieren soll.1 Gibt es eine terung, die Erarbeitung einer Euro- gemeinsame politische Idee, die als päischen Verfassung und der jüngste tragfähiges Fundament für die „EU der deutsch-französische „Beitrag zur in- 30“ dienen kann? Für die föderal- stitutionellen Architektur der EU“, der staatliche Struktur Deutschlands ist u.a. die Installierung eines ständigen damit untrennbar auch die Frage nach EU-Präsidenten fordert, markieren nur dem künftigen Verhältnis von deut- die wichtigsten Etappen dieses Pro- schem Föderalismus und europäischer zesses. Integration verbunden. Sie ist freilich keine neue Frage, sondern beschäftigt Man muss kein Prophet sein, um vor allem die deutschen Länder seit den voraussagen zu können, dass die aus Anfängen der EG. diesen Vorschlägen resultierende Ver- tiefung und Erweiterung enorme Der Freistaat Bayern hat sich stets zur Herausforderungen für die EU mit europäischen Integration bekannt. sich bringen wird. Durch die Ost- Dieses Bekenntnis war jedoch immer erweiterung um zehn Staaten zum mit der Conditio sine qua non der 1. Mai 2004 wird die Einwohnerzahl bayerischen Staatsraison, der Wahrung der EU um rund 75 Millionen auf der Eigenständigkeit des Freistaats, dann über 450 Millionen Menschen verknüpft. Angesichts der anstehenden steigen. Sieben dieser Staaten gehörten Vertiefung und Erweiterung der EU bis zu deren Zerfall zum politischen, stellt sich daher besonders für Bayern ökonomischen und gesellschaftlichen die Frage, in welchem Maße es als

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts 85 einzelnes deutsches Land überhaupt ohne über die Rolle eines Statisten, der noch Einfluss auf die Entwicklung der nach und nach Kontakte zu anderen EU ausüben und so den Kernbereich Statisten aufbaute, hinauszukommen. seiner Staatlichkeit bewahren kann. Als Fazit dieser „Lehrjahre“ bleibt Um sich dieser Frage näher widmen zu festzustellen, dass in dieser Phase die können, ist es unerlässlich, einen Blick „Europapolitik“ im Rahmen der Politik auf die wichtigsten Stationen der der Staatsregierung nur eine geringe bisherigen bayerischen Europapolitik Rolle spielte, die vor allem aus der zu werfen. geringen Bedeutung Europas für die bayerische Landespolitik resultierte. Hinzu kam, dass der seit 1978 am- 2. Phasen der bayerischen tierende Ministerpräsident Franz Josef Europapolitik Strauß über ein dichtes Netz außen- politischer Kontakte verfügte, das er in 2.1 Europapolitische Lehrjahre erster Linie in seiner Funktion als bundesweit einflussreicher CSU-Vor- Bis zu dem Zeitpunkt, als sich nach sitzender aufgebaut hatte. Jahren der europapolitischen Stag- nation im Jahr 1985 erstmals die reelle Chance für eine Reform der EG ab- 2.2 1986 – 92: Hohe europa- zeichnete, kann man noch nicht von politische Aktivität Bayerns einer „Europapolitik“ Bayerns im ei- gentlichen Sinne sprechen. Das Grund- Erst die Herausforderung, die eine gesetz sah ursprünglich keine inner- Vertiefung der europäischen Integration staatlichen Beteiligungsmöglichkeiten für die im Grundgesetz verankerte der Länder an europäischen Entschei- Stellung der deutschen Länder be- dungen vor und auch der EWG-Vertrag deutete, führte dazu, dass Bayern und von 1957 kannte lediglich die Ebene die anderen deutschen Länder in den der Nationalstaaten. Trotz dieser aus Jahren 1986 bis 1992 für eine in- bayerischer Sicht ungünstigen Aus- nerstaatliche Verankerung ihrer Mit- gangsposition versuchte die Staats- wirkungsmöglichkeiten kämpften. Den regierung ab dem Beginn der Siebzi- Ländern gelang es nach der Verab- gerjahre erfolgreich, über das neue schiedung der Einheitlichen Euro- Instrument der grenzüberschreitenden päischen Akte (EEA) im Jahr 1986 in Arbeitsgemeinschaften intensivere Kon- relativ kurzer Zeit, eine Reihe von takte zu benachbarten europäischen Sperren zu errichten, die verhindern Regionen aufzubauen. Die damals sollten, dass sie durch die fort- geknüpften Verbindungen erleichterten schreitende europäische Integration es Bayern dann ab dem Ende der weitreichende Kompetenzverluste er- Achtzigerjahre, für seine europa- leiden.2 Die Auseinandersetzungen um politischen Vorstellungen Verbündete die EEA waren die eigentliche „Ge- zu finden. Die Jahre bis 1985 lassen burtsstunde“ der bayerischen Europa- sich aus heutiger Perspektive als „euro- politik und führten zu einer Phase papolitische Lehrjahre“ Bayerns ein- hoher europapolitischer Aktivität, die stufen, in denen man erste Schritte auf ihren vorläufigen Abschluss in der die europäische Bühne unternahm, Verankerung zentraler bayerischer 86 Martin Hübler

Forderungen nach einer Föderalisierung Kehrtwende der bayerischen Euro- der EG im Maastrichter Vertrag fand. In papolitik ein. Mit dieser Kehrtwende diesem Zeitraum gelang es Bayern, löste er einen Konflikt mit der CDU unter den deutschen Ländern die Mei- aus, die zunächst an der Idee eines nungsführerschaft in europäischen europäischen Bundesstaats festhielt. Angelegenheiten zu gewinnen und Während Streibl mit seinem Konzept über den Bundesrat eine stärkere Be- eines „Europa der Regionen“ auf einen teiligung der Länder in sie betreffenden allmählichen Bedeutungsverlust des europäischen Angelegenheiten zu er- Nationalstaats im Rahmen der EG reichen. gezielt hatte, propagierte Stoiber im CSU-Grundsatzprogramm 1993 ein Parallel zu den innerstaatlichen Eu- „Europa der Nationen“, dessen Ziel die ropaaktivitäten leitete Ministerpräsi- europäische „Einheit in Vielfalt“ sein dent Max Streibl im Zeitraum von 1989 müsse. In einem künftigen euro- bis 1992 mit den von ihm initiierten päischen Staatenverbund sollten die Konferenzen „Europa der Regionen“ Regionen eine wichtige Rolle als „dritte eine intensive Konferenzdiplomatie mit Ebene“ spielen und so die „Bürger- anderen europäischen Regionen ein. nähe“ der EG verbessert werden. Mit Auf den Konferenzen erreichte er es, dem 3-Stufen-Modell EU – National- diese als Verbündete für die Durch- staat – Region verband die Staats- setzung der bayerischen Interessen zu regierung die Absicht, die Eigen- gewinnen und sie Schritt für Schritt staatlichkeit des Freistaats auch im von der Notwendigkeit einer eigenen zusammenwachsenden Europa zu Vertretung der dritten Ebene in der EG erhalten. Um die Dreistufigkeit des zu überzeugen. Bayern wurde so zu eigenen Ansatzes zu verdeutlichen, einem wichtigen Impulsgeber für die ergänzte Bayern kurze Zeit später den 1992 in Maastricht beschlossene Ein- Terminus zur seitdem propagierten richtung des Ausschusses der Regionen Formel eines „Europa der Nationen (AdR) und die Verankerung des Sub- und Regionen“.4 sidiaritätsprinzips im EU-Vertrag.3

2.4 Erfolgreiche Anstrengungen 2.3 Neuorientierung der bayeri- für die Stabilität des Euro schen Europapolitik 1993/94 Nach seinem Sieg bei der Landtagswahl Die Jahre 1993 und 1994 erscheinen im 1994 und der daraus resultierenden Rückblick als eine Zeit der program- Konsolidierung seiner Machtbasis in matischen Neuorientierung der baye- Bayern widmete Stoiber in den Jahren rischen Europapolitik, die vor allem 1995 bis 1998 der Europapolitik große vom neuen Ministerpräsidenten Ed- Aufmerksamkeit. Neben dem Bestre- mund Stoiber vorangetrieben wurde. ben, bei der Amsterdamer Regierungs- Im Zuge der Verhandlungen von konferenz 1997 zentrale bayerische Maastricht leitete er ab 1992 mit der Anliegen wie die Stärkung des Aus- Abwendung der CSU von der Idee der schusses der Regionen und die Kon- Schaffung eines europäischen Bundes- kretisierung des Subsidiaritätsbegriffs staats auch eine programmatische zu erreichen, fokussierte der Minister- Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts 87 präsident seine europapolitischen Ak- Regierungskonferenz 1996 in Dublin tivitäten vor allem auf das öffentlich- beschlossen wurde.5 keitswirksame Thema der Einführung einer europäischen Währung. Durch sein permanentes Pochen auf die 2.5 Seit 1998: Verschlechterung Notwendigkeit einer strikten Einhal- der Rahmenbedingungen tung der Stabilitätskriterien avancierte er innerhalb kurzer Zeit zur unum- Die Rahmenbedingungen für die baye- strittenen Leitfigur des Euro-kritischen rische Europapolitik haben sich durch Flügels sowohl in der CSU als auch in die Niederlage der Union bei der der Union insgesamt und geriet so Bundestagswahl 1998 und den damit auch in einen Konflikt mit dem Euro- verbundenen Regierungswechsel zwei- freundlichen Kurs von Bundeskanzler felsohne verschlechtert. Die gerade von und CSU-Chef Theo Stoiber beim Thema Euro erfolgreich Waigel. angewandte Strategie, die von CDU, CSU und FDP gebildete Bundesre- Stoiber fürchtete vor allem substanzielle gierung über die CSU-Schiene unter politische Vertrauensverluste bei Ge- Druck zu setzen und dadurch Ent- fahren für die Stabilität der Währung, scheidungen in seinem Sinne zu wirtschaftliche Nachteile für einen erreichen, ist durch den Regierungs- Großteil der bayerischen Bevölkerung wechsel obsolet geworden. Die in- sowie die bayerische Volkswirtschaft formellen Einflussmöglichkeiten Bay- insgesamt. Wie ernst der bayerische erns auf die Europapolitik der Ministerpräsident diese potenziellen Bundesregierung sind dadurch von Gefahren nahm, lässt sich an der einem auf den anderen Tag weg- Hartnäckigkeit ablesen, mit der er die gefallen. Während Bayern von 1983 bis Diskussion über den Euro in den Jahren 1998 bei wichtigen europapolitischen 1995 bis 1998 führte. Nicht zuletzt Entscheidungen der Bundesregierung dieser Hartnäckigkeit ist es aber zu im Bedarfsfall stets die Rolle des verdanken, dass in Deutschland eine „Züngleins an der Waage“ einnehmen kontroverse und breite Diskussion über konnte, hat es jetzt bei der inner- die Stabilität der künftigen euro- staatlichen Mitwirkung in europäischen päischen Währung geführt wurde, die Angelegenheiten vielfach nur die Mög- die Bundesregierung dazu zwang, die lichkeit, seine Interessen über die Qualität der in Maastricht vereinbar- Bundesratsschiene durchzusetzen. 6 ten Stabilitätskriterien einer erneuten strengen Prüfung zu unterziehen und das Bewusstsein ihrer europäischen 3. Die Position Bayerns Partner für den Wert einer stabilen zur EU-Osterweiterung europäischen Währung zu schärfen. Nicht zuletzt diese Diskussion ver- 3.1 Bedeutung der EU- anlasste Bundesfinanzminister Waigel Osterweiterung für Bayern dazu, mit dem Stabilitätspakt eine zusätzliche Sicherung für den Euro Auf Grund seiner geografischen Lage einzubauen, die nach kontroversen und seiner traditionell engen Wirt- Beratungen schließlich auf der EU- schaftsbeziehungen zu seinen östlichen 88 Martin Hübler

Nachbarn ist für Bayern die für 2004 EU-Kasse zu zahlen hat.“ Mit Blick auf geplante EU-Osterweiterung von be- die geplante Einführung des Euro sonderer Bedeutung. Bereits in seiner forderte er daher, die EU-Beiträge Rede während der Europadebatte des künftig am wirtschaftlichen Wohlstand Bundestags am 7. Dezember 1995 be- eines Landes auszurichten.7 kräftigte Ministerpräsident Stoiber den Willen Bayerns, „Warschau, Pressburg Um die mit der Osterweiterung ver- oder Bratislava, Prag und Budapest bundenen Fragen zu erörtern, fand am nach Europa zu holen“. Die Ost- 6. Mai 1996 in Bayreuth-Bindlach unter erweiterung sei für die EU-Mitglied- dem Motto „Gemeinsam gestalten im staaten „eine politische Aufgabe, die Grenzraum Ost-West“ eine Konferenz uns genauso gestellt ist, wie sie uns mit Teilnehmern aus 14 europäischen damals in Bezug auf Lissabon und Staaten statt, die von der EU-Kom- Madrid gestellt war.“ Gleichzeitig mission, dem AdR und der Bayerischen machte er auf die Probleme aufmerk- Staatsregierung gemeinsam veranstaltet sam, die mit ihr verbunden sein wurde. Angesichts des Problemdrucks, würden: den gerade die Grenzregionen an der Nahtstelle zwischen Ost und West „Wenn diese Länder nach Europa spürten, forderte Ministerpräsident kommen, vermehrt sich die Zahl der Stoiber von der EU eine Beschleu- Landwirte um das Doppelte. Das heißt, nigung des Beitrittsprozesses für die wir können diese Länder nur auf- mittel- und osteuropäischen Staaten: nehmen, wenn wir bereit sind, „Notwendig ist ein klares Zeitziel und bestimmte Dinge nicht mehr euro- ein fester Zeitplan“. Die Erweiterung sei päisch zu regeln, weil es sonst die eine historische Notwendigkeit und europäische Kasse zerreißt, weil die moralische Verpflichtung gegenüber europäische Kasse sie nicht aushält. Wir den Staaten, die fünf Jahrzehnte auf der müssen deutlich machen: Entweder wir Schattenseite der europäischen Ent- wollen die Erweiterung – dann müssen wicklung gelebt hätten. Die Vision wir auch die Konsequenzen ziehen –, eines vereinten Europa sei von Anfang oder wir wollen sie nicht; dann dürfen an eine gesamteuropäische gewesen. wir es aber auch nicht mehr anders sagen. Ich will die Erweiterung. Diese Die Beitrittskandidaten hätten seit der schaffen wir aber nur, wenn wir Wende 1989 bereits beachtliche Erfol- Entlastungen durchsetzen.“ ge bei der Ausrichtung ihrer inneren Struktur und ihres Rechtssystems auf Unter „Entlastungen“ verstand Stoiber die EU erzielt, konstatierte Stoiber. vor allem eine Reduzierung des deut- Demgegenüber sei die EU selbst in schen EU-Beitrags, der „viel zu hoch“ wichtigen Fragen noch weitgehend sei. Die Menschen in Deutschland unvorbereitet auf die Osterweiterung. verstünden nicht, kritisierte er, „dass Diese sei für die EU selbst eine große Deutschland, das nach seiner Wieder- Chance, da sie den Druck zu grund- vereinigung, gemessen am Pro-Kopf- legenden Reformen und einer „echten Einkommen, in das Mittelfeld der Verschlankung“, zur Konzentration der EU-Mitgliedstaaten zurückgefallen ist, Kräfte auf die wirklich europäischen zwei Drittel aller Nettobeiträge in die Aufgaben und zu einer konsequenten Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts 89

Anwendung des Subsidiaritätsprinzips den beitrittswilligen Staaten große Un- erhöhe: „Es muss sich die Erkenntnis terschiede gebe, seien vor allem flexible durchsetzen, dass die EU mit bis zu Übergangsregeln notwendig: einem Dutzend neuer Mitglieder nicht bleiben kann, wie sie heute ist. Ich „Die Teilnehmer sind sich der enor- vermisse bisher aus den europäischen men Herausforderungen bewusst, die Institutionen die dringend notwen- die Erweiterungsverhandlungen an die digen tragfähigen Konzepte für die Partner des Beitrittsprozesses stellen. Gestalt Europas ab dem Jahr 2000.“ Er Die Grenzregionen befürworten das schlug vor, noch während der Re- Prinzip der vollständigen Übernahme gierungskonferenz 1996 die Probleme, des Besitzstandes. Gleichwohl werden die die Osterweiterung mit sich bringen Übergangsregelungen erforderlich sein, werde, zu erörtern und dort die Wei- um wirtschaftliche und soziale Ver- chen für eine Neuausrichtung der werfungen sowohl in den gegen- Agrar- und Strukturpolitik und der EU- wärtigen EU-Mitgliedstaaten und ihren Finanzplanung nach 1999 zu stellen.8 Grenzregionen als auch in den Bei- trittsstaaten zu vermeiden und dadurch die öffentliche Akzeptanz zu sichern. 3.2 Der „Hofer 20-Punkte Katalog Dabei muss auf jeden Beitrittsstaat zur EU-Erweiterung“ gesondert eingegangen werden. Flexi- bilität und Rücksichtnahme auf die Ähnlich wie im Vorfeld des Maas- berechtigten Interessen des Gegenübers trichter Vertrags versuchte Bayern auch sind von zentraler Bedeutung. In den jetzt, Verbündete für seine euro- Verhandlungsprozess sind die Wünsche papolitischen Ziele in Bezug auf die EU- nach Übergangsregelungen seitens der Osterweiterung zu finden. Am 24./25. Beitrittsanwärter und seitens der Juli 1998 trafen sich die Vertreter von gegenwärtigen Mitgliedstaaten recht- 13 Regionen aus Deutschland, Öster- zeitig einzubeziehen.“ (Punkt 4) reich und Italien in Hof, um die Herausforderungen der EU-Osterwei- Deshalb könne „der Binnenmarkt zum terung für die an die Beitrittsstaaten Beitrittszeitpunkt im Interesse der angrenzenden und grenznahen EU- Beteiligten beider Seiten nicht in allen Regionen zu erörtern. Vertreter Un- Bereichen ohne jede Einschränkung garns, Polens, Sloweniens und der plötzlich eröffnet werden.“ So seien Tschechischen Republik nahmen als z.B. bei der Regelung der Freizügigkeit Gäste teil. der Arbeitnehmer, bei der Dienst- leistungsfreiheit und beim freien Sie verabschiedeten den sog. „Hofer Warenverkehr Übergangsfristen not- 20-Punkte Katalog zur EU-Erweite- wendig, die sich aus dem West-Ost- rung“, in dem sie die EU-Erweiterung Wohlstandsgefälle ergäben. Die Grenz- als „große und historische Chance“ für kontrollen für Waren sollten erst das Zusammenwachsen Europas be- aufgehoben werden, „wenn die Gel- zeichneten, die im politischen, wirt- tung und Anwendung des gemein- schaftlichen und kulturellen Interesse schaftlichen Besitzstandes auf die in der Grenzregionen liege. Da es aber den Beitrittsstaaten hergestellten Pro- zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und dukte gesichert ist. Die Erstreckung 90 Martin Hübler des Binnenmarktes auf die Beitritts- ● bei der Zusammensetzung des Euro- staaten darf keine Risiken im Bereich päischen Parlaments eine bessere des Gesundheitsschutzes und der Pro- Berücksichtigung des Gewichts der duktsicherheit für die EU-Bürger zur Mitgliedstaaten nach ihrer jewei- Folge haben.“ Die Sozial- und Um- ligen Bevölkerungszahl im Rahmen weltstandards der EU müssten auch in der jeweiligen Neufestsetzung der den Beitrittsstaaten gelten, sobald die Mandatszuteilung, Beschränkungen für die Freiheiten des ● eine Stärkung der Stellung der Re- Binnenmarktes aufgehoben würden. gionen, beispielsweise durch ein ei- Die weiteren Punkte betrafen Maß- genständiges Klagerecht des Aus- nahmen zur Koordination der Inneren schusses der Regionen zum EuGH Sicherheit und zur Förderung der oder ein Klagerecht zum EuGH für Grenzregionen durch die EU, die den Regionen mit eigenen Gesetzge- Mitgliedstaaten, Ländern und Regionen bungsbefugnissen.10 aber auch „ausreichende Freiräume zur eigenständigen Förderung der Grenz- Diese Forderungen wurden von regionen im Rahmen der EG-Beihilfen- den anderen deutschen Ländern un- kontrolle“ einräumen solle.9 terstützt. Um eine drohende Ab- lehnung des Vertrags von Nizza durch die Länder zu verhindern, schlug 4. Die EU-Regierungs- Bundeskanzler Schröder vor, die konferenz 2000 Frage der Kompetenzabgrenzung dort nicht zu behandeln, sondern ver- 4.1 Reformforderungen Bayerns bindlich auf die Regierungskon- ferenz 2004 zu verschieben. Durch Die EU-Osterweiterung sollte im Mit- dieses zweistufige Verfahren werde telpunkt der Regierungskonferenz 2000 sichergestellt, dass die Gemein- stehen, die am 14. Februar begann. schaft erweiterungsfähig werde, ohne Ebenso wie vor der Amsterdamer Re- dass die Forderungen der Länder gierungskonferenz forderte Bayern auch übergangen würden. Für diesen Weg jetzt, die EU müsse sich auf „die konnte er sowohl die Länder als wirklich europäischen Aufgaben“ kon- auch die anderen EU-Staaten gewin- zentrieren und eine strikte Kompetenz- nen.11 abgrenzung durch Neubestimmung ihrer Aufgaben in einem präzise ge- fassten, sachgebietsbezogenen Kom- 4.2 Der Vertrag von Nizza petenzkatalog vollziehen, „um die schädliche Tendenz der EU zur Allzu- Der Abschluss der Regierungskonferenz ständigkeit umzukehren“. Weitere Re- erfolgte vom 7. bis 8. Dezember 2000 formforderungen Bayerns waren: in Nizza. Dort einigten sich die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mit- ● Ein Initiativrecht für den Rat und gliedstaaten auf einen Vertrag, der die das Europäische Parlament zur Stei- EU in die Lage versetzen soll, weitere gerung der demokratischen Legi- Mitgliedstaaten aufzunehmen.12 Die timation und Handlungsfähigkeit wichtigsten Neuerungen betreffen einer erweiterten EU, folgende Bereiche: Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts 91

● Bei Abstimmungen im Rat werden zwischen den Mitgliedstaaten erfol- die Stimmen der Mitgliedstaaten gen. neu gewichtet. Der kleinste erhält künftig drei, die vier bevölkerungs- ● Die Stellung des Kommissionspräsi- reichsten Mitgliedstaaten Deutsch- denten wurde deutlich gestärkt. Er land, Großbritannien, Frankreich kann künftig den einzelnen Kom- und Italien erhalten je 29 Stimmen. missaren ihre Zuständigkeitsbe- Sie werden somit über ein stärkeres reiche zuweisen und diesbezüglich Gewicht als bisher verfügen, damit auch während der Amtsperiode auch in einer erweiterten EU eine Veränderungen vornehmen. Die angemessene Relation zwischen Kommissare führen ihre Geschäfte Stimmengewicht und Bevölkerungs- unter seiner Aufsicht. Mit Billigung größe erhalten bleibt. Zur Stärkung des Kollegiums kann er den Rück- der demokratischen Legitimation tritt einzelner Kommissare herbei- von Ratsbeschlüssen wurde zu- führen. sätzlich bestimmt, dass die Mit- gliedstaaten, die eine Entscheidung ● Eine Reihe von Entscheidungen, die im Rat annehmen, mindestens 62 bisher nur einstimmig gefasst wer- Prozent der gesamten EU-Bevöl- den konnten, können in Zukunft kerung repräsentieren müssen. Da- durch Mehrheitsentscheidung ge- mit bevölkerungsärmere Staaten troffen werden. Neben Personal- nicht ohne weiteres überstimmt entscheidungen, zu denen auch die werden können, muss eine Ent- Ernennung des Kommissionsprä- scheidung immer auch von der sidenten zählt, gehören dazu vor Mehrheit der Staaten getragen sein. allem Entscheidungen im Bereich Weitere Vorschriften betreffen die der Industriepolitik, der Erleich- gemeinsame Außen- und Sicher- terung der Freizügigkeit der Unions- heitspolitik, insbesondere im Be- bürger, in Teilen der Wirtschafts- reich der europäischen Sicherheits- und Währungspolitik. Während im und Verteidigungspolitik. Bereich Justiz/Inneres für die zivil- rechtliche Zusammenarbeit (mit ● Ab dem Jahr 2005 wird die Kom- Ausnahme des Familienrechts) be- mission nur noch aus je einem reits mit Inkrafttreten des Vertrages Kommissar pro Mitgliedstaat be- von Nizza die qualifizierte Mehrheit stehen, die großen Mitgliedstaaten gelten wird, wird dies auf deutschen müssen auf ihren zweiten Kom- Wunsch bei der Asyl- und Flücht- missar verzichten. Die Festlegung lingspolitik davon abhängig ge- einer Obergrenze scheiterte am macht, dass zuvor einstimmig ge- Widerstand der kleineren Mitglied- meinsame Grundsätze hierfür fest- staaten. Der Vertrag sieht allerdings gelegt sind. Die Visapolitik geht ab vor, dass über eine Verkleinerung 2004 in die qualifizierte Mehrheit der Kommission entschieden wer- über. den muss, sobald die Union auf 27 Mitgliedstaaten angewachsen ● Bei den Struktur- und Kohäsions- ist. Dies soll dann auf der Basis ei- fonds konnte ein Einstieg in die ner gleichberechtigten Rotation qualifizierte Mehrheit erreicht wer- 92 Martin Hübler

den. Die gemeinsame Handelspoli- wesentlich stärker widerspiegelt. tik wurde grundsätzlich auch auf Als einziger Mitgliedstaat kann den Handel mit Dienstleistungen Deutschland danach seine Zahl von und die Bereiche des geistigen Ei- 99 Sitzen behalten. gentums ausgedehnt; die Bereiche, in denen mit Mehrheit entschieden ● Der Wirtschafts- und Sozialaus- werden kann, bleiben dabei aller- schuss und der Ausschuss der dings relativ eng begrenzt. Regionen werden künftig jeweils 344 Mitglieder haben. Der AdR wird ● Keinen Übergang zu Mehrheitsent- politisch dadurch gestärkt, dass scheidungen gibt es in der Steuer- seine Mitglieder ein Mandat auf politik, weil sich einige Mitglied- regionaler oder lokaler Ebene inne- staaten kategorisch dagegen ausge- haben oder einem gewählten Gre- sprochen haben. Auch das Recht mium verantwortlich sein müs- der Mitbestimmung unterliegt wei- sen. terhin dem Einstimmigkeitserfor- dernis. 4.3 Differenziertes Urteil ● Wenn eine Gruppe von Mitglied- staaten unter Nutzung der EU- Die Ergebnisse von Nizza wurden von Institutionen ein Projekt voran- Bayern differenziert beurteilt. So sei es treiben will, bei dem nicht alle zwar gelungen, einen wichtigen Schritt Mitgliedstaaten gleich mitmachen in Richtung EU-Erweiterung und können oder wollen, hat sie nach Reform der Institutionen zu machen, Inkrafttreten der Reformen bessere beide Ziele seien aber noch längst nicht Möglichkeiten dazu. Gegen eine erreicht. Nizza habe die Grenzen der solche „verstärkte Zusammenarbeit“ Reformfähigkeit der EU aufgezeigt, da kann ein einzelner Mitgliedstaat man sich nur auf einem kleinen dann kein Veto mehr einlegen; gemeinsamen Nenner habe einigen außerdem bleibt die Mindestteil- können. Sie gäben „einen Vorge- nehmerzahl wie bisher auf 8 Mit- schmack auf die gewaltigen Vertei- gliedstaaten begrenzt. Für den lungskonflikte, die im Zusammenhang Bereich der Gemeinsamen Außen- mit der Osterweiterung noch bewältigt und Sicherheitspolitik, der bisher werden müssen“, sagte Europaminister ausgenommen war, kann in Zu- Reinhold Bocklet kurz nach dem kunft ebenfalls eine verstärkte Zu- Abschluss der Regierungskonferenz vor sammenarbeit eingeleitet werden. dem Bayerischen Landtag. Er bezeich- Dabei sind allerdings militärische nete es als „das erfreulichste Ergebnis und verteidigungspolitische Fragen der Verhandlungen“ und eine Bestä- ausgenommen. tigung der bayerischen Europapolitik, dass sich die EU-Staats- und Regie- ● Für das Europäische Parlament, das rungschefs auf den sog. „Post-Nizza- künftig 732 Abgeordnete haben Prozess“ geeinigt hätten, der die wird, wurde eine neue Sitzvertei- Abgrenzung der Aufgaben zwischen der lung festgelegt, die die Bevöl- EU und den Mitgliedstaaten so konkret kerungsgröße der Mitgliedstaaten festlegen solle, dass sie auf der Re- Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts 93 gierungskonferenz 2004 beschlossen Mitwirkungsrechte in europäischen werden könne: Angelegenheiten sowie fast alle Fort- schritte auf dem Weg zu einem „Europa „Deshalb müssen den Worten end- der Regionen“ wurden entscheidend lich Taten folgen. Unsere Aufgabe von Bayern vorbereitet bzw. mitbe- besteht darin, gemeinsam dafür zu stimmt. sorgen, dass die ausufernde Tätigkeit auf europäischer Ebene in den nächs- Der sicherlich wichtigste Erfolg der ten Jahren so eingeschränkt wird, dass bayerischen Europapolitik war die dann auch die Osterweiterung für alle Verankerung des Subsidiaritätsprinzips Beteiligten ein Erfolg werden kann.“13 im EU-Vertrag von Maastricht und seine spätere Konkretisierung im Ams- terdamer Vertrag. Das Subsidiaritäts- 5. Bilanz prinzip war das klare Signal dafür, dass die EU bereit war, eine Trendwende Betrachtet man die Europapolitik weg vom jahrzehntelangen Zentralis- Bayerns in den vergangenen zwei mus hin zum von Bayern propagierten Jahrzehnten, dann lässt sich eine „Europa der Bürger“ einzuleiten. Bayern bemerkenswerte Kontinuität bei der war außerdem ein wichtiger, wenn Verfolgung der zentralen Ziele fest- nicht der entscheidende Impulsgeber stellen. Im Mittelpunkt der bayeri- für die Schaffung des Ausschusses der schen Europapolitik stand und steht Regionen in Maastricht und die Stär- das Ziel, die Eigenständigkeit des kung seiner Rechte in Amsterdam. Die Freistaats auch im zusammenwach- bayerischen Hoffnungen, der AdR senden Europa so weit wie möglich zu könne sich zu einer „echten“ Vertre- bewahren. Um dieses Ziel zu erreichen, tung der europäischen Regionen und hat Bayern seit der Einheitlichen Euro- damit zum dritten Machtzentrum ne- päischen Akte versucht, seine zentralen ben der Kommission und dem Parla- politischen Leitbilder Föderalismus und ment entwickeln, haben sich freilich Subsidiarität in die EG bzw. EU zu bisher nicht erfüllt. Als neue Institution exportieren. Sie prägen auch heute das ist der AdR auch sieben Jahre nach Denken und Handeln der politisch seiner Gründung noch damit be- Verantwortlichen und machen Bayern schäftigt, seine Rolle im EU-Ent- zu einem berechenbaren Partner in der scheidungsgefüge zu finden. Trotz aller Europapolitik. Fortschritte, die in den vergangenen Jahren in einigen EU-Mitgliedstaaten Als Bilanz der bayerischen Europa- in Richtung einer Stärkung der Re- politik von 1985/86 bis 2002 lässt sich gionen erreicht wurden, sind die feststellen, dass Bayern sowohl unter meisten europäischen Regionen nach den deutschen Ländern als auch unter wie vor weit von einem politischen den europäischen Regionen ein Motor Status ähnlich dem der deutschen für die Durchsetzung ihrer Interessen Länder entfernt. Deshalb hat sich auch gegenüber der Bundesregierung bzw. an der von Bayern seit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft war. des AdR beklagten Heterogenität seiner Alle wesentlichen Erfolge der Länder Mitglieder bis heute nichts geändert. bei der Stärkung ihrer innerstaatlichen Die Tatsache, dass die Beitrittsstaaten 94 Martin Hübler in Mittel- und Osteuropa ebenfalls Neubestimmung der EU-Aufgaben in kaum über eine regionale Tradition einem präzise gefassten, sachgebiets- verfügen, dürfte die Heterogenität der bezogenen Kompetenzkatalog, die der AdR-Mitglieder eher noch verstärken. Tendenz der EU, ihre Kompetenzen immer weiter auszudehnen, einen Rie- Angesichts dieser unerfüllten Forde- gel vorschieben soll.14 Die Kontinuität rungen erscheint es nicht über- der bayerischen Europapolitik ist des- raschend, dass sich die zentralen Ziele halb auch für die nähere Zukunft zu Bayerns für die nächsten Etappen erwarten. des europäischen Integrationsprozesses gegenüber den vergangenen fünfzehn Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Jahren kaum verändert haben. Mit EU immer noch ein gutes Stück davon Blick auf die EU-Regierungskonferenz entfernt, das von Bayern angestrebte 2004 tritt der Freistaat für eine weitere „Europa der Nationen und Regionen“ Stärkung der Stellung der europäi- zu sein. Da der Freistaat aber an diesem schen Regionen ein, die sich durch ein Ziel unvermindert festhält, stellt sich eigenständiges Klagerecht des AdR vor aus bayerischer Sicht die Frage, ob sich dem Europäischen Gerichtshof oder auch in einer EU mit 25 oder mehr ein Klagerecht zum EuGH für Regionen Mitgliedstaaten ausreichend viele und mit eigenen Gesetzgebungsbefugnis- einflussreiche Mitstreiter für dieses sen manifestieren müsse. Getreu des Modell finden lassen werden. Vom eigenen Credo einer subsidiär ver- Gelingen dieser Bündnispolitik hängt fassten EU fordert der Freistaat eine der künftige Erfolg der bayerischen strikte Kompetenzabgrenzung durch Europapolitik entscheidend ab.

Anmerkungen 1 Zu dieser Frage siehe u.a. Cheneval, Integration Europas“. Interview mit dem Francis: Welches Vorbild für die Euro- Bayerischen Ministerpräsidenten Edmund päische Union?, in: Neue Zürcher Zei- Stoiber, in: Süddeutsche Zeitung, 8.10. tung, 9./10.11.2002. 1997. 2 Ein Überblick hierzu findet sich bei 6 Hübler, Martin: Die Europapolitik des Borchmann, Michael: Die Europäischen Freistaats Bayern. Von der Einheitlichen Gemeinschaften im Brennpunkt politi- Europäischen Akte bis zum Amsterdamer scher Aktivitäten der Bundesländer, in: Vertrag, München 2003. Die öffentliche Verwaltung, Heft 15/1988, 7 Rede des Bayerischen Ministerpräsidenten S.623–633. Edmund Stoiber während der Aussprache 3 Die wichtigsten Etappen dieses Prozesses über aktuelle Fragen der Europapolitik im werden beleuchtet von Borkenhagen, Deutschen Bundestag am 7.12.199 in: Franz H.U.: Vom kooperativen Födera- Das Parlament, Nr.52/53, 22./29.12.1995, lismus zum „Europa der Regionen“, in: S.6. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/ 8 Europa-Konferenz „Gemeinsam gestalten 1992, S.36–44. im Grenzraum Ost-West“, in: Bulletin der 4 Zur programmatischen Neuorientierung Bayerischen Staatsregierung, Nr.10/96, der bayerischen Europapolitik siehe 20.5.1996, S.7. Stoiber, Edmund: Europa bauen mit 9 Der „Hofer 20-Punkte-Katalog zur EU- Realismus und Augenmaß – Kein „Über- Erweiterung“ findet sich auf der Home- staat“, sondern ein Verbund, der die Ei- page der Bayerischen Staatskanzlei unter genstaatlichkeit und Identität der Mit- www.bayern.de/Europa/20-Punkte.html gliedstaaten und ihrer Regionen wahrt, 10 Eröffnung der Regierungskonferenz 2000 in: Neue Epoche, 4/1994, S.25–29. am kommenden Montag: Bocklet for- 5 „Die D-Mark ist keine Morgengabe für die dert Erweiterung des Auftrags der Re- Bayern in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts 95

gierungskonferenz. Pressemitteilung der Ergebnissen des Gipfels von Nizza. Bayerischen Staatskanzlei vom 10. www.bayern.de/Presse-Info/Reden/2000/ Februar 2000. 12-13.htm 11 Berlin plädiert für neue Regierungskon- 14 Zu den bayerischen Zielen für die EU- ferenz. Kompromissvorschlag im Streit Regierungskonferenz 2004 siehe: Bericht mit den Ländern – Kompetenzabgren- des Bayerischen Staatsministers für Bun- zung bis zum Jahr 2004, in: Handelsblatt, des- und Europaangelegenheiten, Rein- 23.6.2000. hold Bocklet, im Ausschuss für Bundes- 12 Irland sagt Ja, in: Die Welt, 21.10.2002. und Europaangelegenheiten des Baye- 13 Bericht des Bayerischen Staatsministers rischen Landtags am 24. April 2001 zu für Bundes- und Europaangelegenheiten „Aktuelle Fragen der Europapolitik: u.a. Reinhold Bocklet vor dem Plenum des Post-Nizza-Prozess, Osterweiterung, Er- Bayerischen Landtags am 13. Dezember gebnisse des Europäischen Rates von 2000 zu dem Dringlichkeitsantrag der Stockholm“. www.bayern.de/Presse-Info/ Abgeordneten Glück und Zeller zu den Reden/2001/04-24.htm „Neue Politik“ und alte Probleme Herausforderungen für den neuen südkoreanischen Staatspräsidenten Roh Moo-hyun

Susanne Luther

Am 25. Februar 2003 wurde Roh steht, war die südkoreanische Prä- Moo-hyun in Seoul als Staatspräsident sidentenwahl weitaus mehr als ein der Republik Korea vereidigt. Der 56- Referendum über die Fortsetzung der jährige frühere Menschenrechtsanwalt Sonnenscheinpolitik. Mit seinem Wahl- hatte sich am 19. Dezember 2002 als versprechen einer „neuen Politik“ hatte Kandidat der regierenden Millennium sich der für koreanische Verhältnisse Democratic Party (MDP) in einem junge Bewerber gegen den prominen- spannenden Kopf-an-Kopf-Rennen ten Fraktionsvorsitzenden der konser- gegen den konservativen Herausfor- vativen Grand National Party (GNP) derer Lee Hoi-chang durchgesetzt. durchgesetzt, die in der „National 48,9 Prozent der Wähler Südkoreas Assembly“, dem südkoreanischen Par- hatten sich für Roh, der als liberaler lament, die Mehrheit innehat. Der 67- Reformpolitiker gilt, ausgesprochen jährige Lee Hoi-chang, der auch in und somit trotz düsterer Drohungen seinem zweiten Anlauf im Rennen um aus Pjöngjang einer Politik der An- das Präsidentenamt scheiterte, hatte es näherung an Nordkorea im Sinne der weder vermocht, aus den Vorwürfen von Amtsvorgänger Kim Dae-jung gegen Staatspräsident Kim Dae-jung, als definierten „Sonnenscheinpolitik“ ihre dessen Ziehkind Roh galt, noch aus Zustimmung erteilt. der sich verschärfenden Krise auf der koreanischen Halbinsel Kapital zu schlagen. 1. Sehnsucht nach einer „neuen Politik“ Verglichen mit dem hohen Bekannt- heitsgrad, den der renommierte Kämp- Auch wenn das Interesse der fer für Demokratie und Menschen- Weltöffentlichkeit an Südkorea derzeit rechte, Kim Dae-jung, bereits vor seiner nahezu ausschließlich im Zeichen des Wahl zum Staatspräsidenten der Re- Konflikts der beiden antagonistischen publik Korea national wie international Systeme auf der koreanischen Halbinsel genoss, erscheint sein Nachfolger als

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 „Neue Politik“ und alte Probleme 97 unbeschriebenes Blatt. Regierungs- und sachorientiertes Auftreten in den erfahrung bringt er nur aus seiner Zeit Monaten zwischen Wahlsieg und als Minister für Maritime Angelegen- Amtsantritt dürfte zum einen von der heiten und Fischerei (August 2000 bis Intention, sich bewusst vom Vorgänger März 2001)1 mit. In seinem Heimatland zu distanzieren, motiviert gewesen ist Roh, dessen politische Karriere 1988 sein, zum anderen schlichtweg von der als Abgeordneter der Nationalversamm- Notwendigkeit, angesichts der umfas- lung begonnen hatte, nicht nur durch senden Agenda, die vor ihm liegt, so erfolgreiche Kandidaturen als Abgeord- schnell wie möglich zu einer nüch- neter (19882 und 1998) aufgefallen, ternen Arbeitsatmosphäre zu gelangen. sondern auch durch drei vergebliche Dass für Jubelfeiern und lange Amts- Versuche, den parteipolitischen Regio- einführungen keine Zeit blieb, machten nalismus zu überwinden, der Südkorea die vergleichsweise bescheidenen Fei- in die Einflusssphären von Regierungs- erlichkeiten am 25. Februar 2003 und Oppositionspartei spaltet und ei- deutlich, die im krassen Gegensatz zu nen verbissenen Kampf um Subven- der Jubelfeier vom Februar 1998 stan- tionen und Ämter antreibt. Als Bewer- den. Auch ohne das tragische U-Bahn- ber von Kim Dae-jungs Partei, deren unglück von Taegu wäre diese Amts- Machtbasis traditionell in den süd- einführung sicherlich anders verlaufen westlichen Provinzen der Republik als jene vor fünf Jahren, von der das Korea (Cholla-Do) liegt, hatte Roh bei Bild des Handschlags zwischen Kim seinen Kandidaturen als Abgeordneter Dae-jung und Michael Jackson um die für die Provinz Busan weder 1992 noch Welt ging. 1996 und 2000 eine Chance. Dass er dennoch mehrfach das Unmögliche Als entscheidend für Rohs Wahlsieg versuchte, wird von seinen Anhängern wird neben dem geschickten Taktieren als Indiz für seinen festen Willen, den mit dem erstarkenden koreanischen koreanischen Regionalismus zu durch- Selbstbewusstsein und damit einher- brechen, gewertet.3 Auch bei seiner gehenden anti-amerikanischen Ten- Kandidatur für das Bürgermeisteramt denzen, sein Wahlversprechen einer von Busan 1995 erwies sich der süd- „neuen Politik“ gewertet. Erste Kom- koreanische Regionalismus als unüber- mentare in den südkoreanischen Me- windbare Hürde. dien werteten das Wahlergebnis nicht als Plebiszit über den künftigen Kurs Innenpolitisch könnte sich der Au- der Nordkoreapolitik, als das es von ßenseiterstatus von Roh Moo-hyun ausländischen Beobachter gesehen durchaus als günstige Ausgangsposition wird, sondern in erster Linie innen- für seine fünfjährige Amtszeit erwei- politisch: als Abstimmung „für ein sen. Allzu präsent sind in Südkorea Kim Ende altmodischer Politik“ und als Dae-jungs Aufstieg und Fall vom Forderung nach „progressiven Refor- großen Reformer und Hoffnungsträger men“4. zum strahlenden Friedensnobelpreis- träger und schließlich zur skandal- Das Versprechen einer „neuen Politik“ geschüttelten tragischen Figur, sowohl ist allerdings, wie Kim Dae-jungs Bei- im politischen als auch im privaten spiel zeigt, in Südkorea mehr als über- Leben. Rohs auffallend bescheidenes strapaziert. Als mit Kim im November 98 Susanne Luther

1997 erstmals in der Geschichte der deren rechtskräftige Verurteilung zur Republik Korea ein Kandidat der Folge hatten, nahm Kims Glaubwürdig- Opposition in das höchste Staatsamt keit enormen Schaden. Während die gewählt wurde, war der damalige Name Popularität des Nobelpreisträgers im seiner Partei zugleich Programm: „Na- Ausland ungebrochen schien, sanken tional Congress for New Politics“ seine Zustimmungsraten im eigenen (NCNP). Auch wenn es ihm zweifellos Land unaufhaltsam. Um den Wahl- gelungen ist, neue Wege der Aus- erfolg seiner eigenen Partei nicht zu söhnung und Kooperation mit Nord- gefährden, trat Kim schließlich sogar korea zu beschreiten, im eigenen Land aus der MDP aus. Eine „neue Politik“ wird der Staatspräsident vor allem an zu versprechen, erscheint vor diesem seinen innenpolitischen Versprechen Erfahrungshintergrund für Roh Moo- gemessen: Mit dem Ruf eines „poli- hyun als ganz besondere Hypothek. tischen Saubermanns“, getrieben vom Kampf für Demokratie, gegen Korrup- Zahlreiche Ansätze sprechen dafür, dass tion, gegen Seilschaften zwischen diesmal ein echter Kurswechsel zu Politik und den Chaebols, den riesigen mehr Offenheit und Bürgernähe ge- südkoreanischen Industriekonglome- lingen könnte. Rohs Wahlsieg hat eine raten, und gegen den extremen Re- neue Generation ins Licht der Öf- gionalismus, hatte Kim Dae-jung im fentlichkeit gerückt: die junge, selbst- Februar 1998 sein Amt angetreten. bewusste, relativ wohlhabende, städ- Doch war vom frischen Wind des tische Bevölkerungsschicht, die den Aufbruchs, der während der ersten zwei Koreakrieg und die harte und ent- Jahre der Kim-Administration durch behrungsreiche Zeit der Not und des Südkorea und bisweilen sogar, wenn Kalten Krieges nur noch aus den auch als ungleich zarteres Lüftchen, Erzählungen der Älteren kennt und durch den sich vorsichtig öffnenden sich mit der permanenten Bedrohung Nachbarstaat im Norden wehte, gegen durch den Norden arrangiert hat. Diese Ende der Amtszeit des Nobelpreisträgers Generation, für die ein hoher Bil- nicht mehr viel zu spüren. dungsstand ebenso selbstverständlich ist wie der Umgang mit moderner Zweifellos war es der Regierung Kim Kommunikationstechnologie, ist im schneller als von aller Welt erwartet Begriff, die alten Eliten aus den gelungen, das Land mit Hilfe eines Machtzentren zu drängen. Stärker als 58-Milliarden-Dollar Hilfspakets des jede andere Generation vor ihr wird sie Internationalen Währungsfonds aus darüber wachen, dass ihre Hoffnungen der schweren Finanzkrise von 1997 auf eine „neue Politik“ erfüllt werden. zu führen. Macht und Einfluss der Chaebols sind jedoch bis heute ein Für einen echten Aufbruch und Wandel ebenso bestimmender politischer Fak- bedarf es aber weitaus mehr, als einen tor wie der nach wie vor bestehende Präsidenten, der im Wahlkampf die Regionalismus, der Südkorea in Ein- Zeichen der Zeit erkannt hat und ver- flusssphären der Regierungspartei MDP5 stärkt die Kommunikation mit den und der oppositionellen GNP spaltet. Bürgerinnen und Bürgern via Internet Unter der Verstrickung zweier seiner sucht.6 Auf dem Weg zu Generationen- Söhne in Korruptionsskandale, die wechsel und echten innenpolitischen „Neue Politik“ und alte Probleme 99

Reformen stehen hohe Hürden: Zum schien, dass ausgerechnet das histo- einen darf man nicht übersehen, dass rische Glanzlicht der innerkorea- Rohs Mehrheit im Kopf-an-Kopf- nischen Annäherung, das Gipfeltreffen Rennen gegen das „alte System“ zwischen Staatspräsident Kim Dae-jung hauchdünn war. Hinzu kommt die und seinem nordkoreanischen Gegen- zunehmende Politikverdrossenheit der spieler Kim Jong-il im Juni 2000 in Südkoreaner. Bei der Präsidentenwahl Pjöngjang, durch geheime Zahlungen erreichte die Wahlbeteiligung mit 70,2 der südkoreanischen Regierung an den Prozent, und somit elf Prozentpunkten Norden erkauft worden sei7, ging Roh weniger als 1997, einen neuen Ne- auf Distanz zu seinem Vorgänger, gativrekord. Mehr als jeder Präsident wenngleich auch nur bei der Wortwahl vor ihm wird sich Roh Moo-hyun also für seine neue Politik. an seinen Taten messen lassen müssen. Die in seiner Antrittsrede entworfene „Politik für Frieden und Prosperität auf 2. Sicherheitspolitische der koreanischen Halbinsel“ ist ein Herausforderungen der klares Bekenntnis zur Fortsetzung des neuen Administration Dialogprozesses und somit eine be- wusste Distanzierung von dem von So modern und neu der angekündigte Seouls Bündnispartner Washington politische Stil auch sein mag, die favorisierten härteren Kurs, der sicherheitspolitischen Herausforderun- Pjöngjang mit diplomatischem Druck gen, die sich der neuen Regierung in und notfalls auch mit wirtschaftli- Seoul stellen, sind die alten geblieben. cher Isolation zur Aufgabe seines Einen friedlichen Weg aus der aktuellen Atomprogramms zwingen möchte: Eskalation in den innerkoreanischen „Zum einen werde ich versuchen, auf Beziehungen zu finden, und, direkt in dem bisher Erreichten aufzubauen und Verbindung damit, die Beziehungen weitere Fortschritte zu erzielen, zum zwischen Seoul und Washington anderen werde ich mich bei den bereits wieder ins Lot zu bringen, sind die zwei eingeleiteten politischen Maßnahmen wichtigsten Punkte auf der Agenda des um Verbesserungen bemühen“, ver- neuen Präsidenten. kündete der neue Präsident und kon- kretisierte dies mit vier Prinzipien:

2.1 Fortsetzung der 1. Vorrang des Dialogs („Erstens werde „Sonnenscheinpolitik“ ich immer versuchen, alle anste- henden Probleme auf dem Weg des Auch wenn der Begriff „Sonnen- Dialogs zu lösen.“) scheinpolitik“ nicht zum politischen 2. Vertrauen und Gegenseitigkeit Vokabular des neuen Präsidenten („Zweitens werde ich mich vor al- gehört, will er in der Nordkoreapolitik lem darum bemühen, gegenseitiges den von Kim Dae-jung eingeleiteten Vertrauen aufzubauen und alle Prozess der Aussöhnung und des Schritte auf Gegenseitigkeit beruhen Dialogs fortsetzen. Nachdem sich in zu lassen.“) den Wochen unmittelbar vor dem 3. Internationale Zusammenarbeit Amtswechsel der Verdacht zu erhärten („Drittens werde ich eine inter- 100 Susanne Luther

nationale Zusammenarbeit anstre- nahezu täglich Recht zu geben. Ihren ben, allerdings auf der Grundlage, Ausgang nahm die aktuelle sicher- dass Süd- und Nordkorea die Haupt- heitspolitische Krise im Oktober ver- akteure im Rahmen der inner- gangenen Jahres, als sich herausstellte, koreanischen Beziehungen sind.“) dass Nordkorea, entgegen seinen 4. Transparenz und Unterstützung Verpflichtungen aus dem Rahmen- („Viertens werde ich mich um abkommen zwischen den Vereinigten Transparenz bemühen, die Beteili- Staaten von Amerika und der Demo- gung der Bürger an Entscheidungs- kratischen Volksrepublik Korea vom 21. prozessen ausweiten und die Un- Oktober 1994 heimlich an der An- terstützung von zweiter Seite su- reicherung von Uran gearbeitet habe. chen. Das heißt, ich werde bei der Mit diesem Vertragswerk war es der Verfolgung meiner Politik um eine Regierung Clinton 1994 gelungen, eine breite Unterstützung werben.“)8 durch nordkoreanische Kriegsdro- hungen extrem aufgeheizte Situation Auch wenn der Eindruck im Ausland auf der koreanischen Halbinsel zu ein anderer war, kein Thema hat in den entschärfen. Im Gegenzug für das vergangenen Jahren die südkoreani- Versprechen, seine grafitmoderierten sche Bevölkerung stärker entzweit als Atomreaktoren und damit in Zu- Kim Dae-jungs Sonnenscheinpolitik. sammenhang stehende Einrichtungen Kaum war der nationale wie inter- abzuschalten und mit der Interna- nationale Jubel über das Gipfeltreffen tionalen Atomenergiebehörde (IAEA) von Pjöngjang und die ersten zaghaf- bei der Überwachung dieses Prozesses ten Zusammenführungen getrennter zu kooperieren, wurden Nordkorea in Familien in Nord- und Südkorea Aussicht gestellt: ein Leichtwasser- abgeebbt, spaltete sich die süd- reaktorprojekt (LWR-Projekt) der Ka- koreanische Gesellschaft in zwei pazität von 2000-Megawatt, aus dem unversöhnliche Lager. Kims Gegner sich im Gegensatz zu den grafit- machen ihm bis heute den Vorwurf, moderierten Reaktoren kein waffen- dem Norden zu weit mit Nahrungs- fähiges Plutonium abzweigen lässt, mittelspenden und anderen Unter- finanziert und bereitgestellt durch das stützungsmaßnahmen entgegengekom- internationale Konsortium Korean men zu sein, ohne dafür Gegen- Energy Development Organization leistungen einzufordern. Dadurch habe (KEDO) unter dem Vorsitz der USA als die südkoreanische Regierung nur dazu Hauptansprechpartner Nordkoreas. beigetragen, das marode und geg- Als Ersatz für den Energieverlust, der nerische Regime im Norden zu sta- Nordkorea durch das Abschalten seiner bilisieren. alten Reaktoren bis zur Inbetriebnahme der LWR entsteht, hatten sich die Vereinigten Staaten verpflichtet, jähr- 2.2 Nordkoreas neuer Atompoker lich für die Lieferung von 500.000 Tonnen Rohöl zu sorgen.9 Leider scheinen die jüngsten Entwick- lungen auf der koreanischen Halbinsel Als Reaktion auf Pjöngjangs Verstoß all jenen, die vor der Unberechen- gegen das Rahmenabkommen stellte barkeit Nordkoreas gewarnt haben, Washington im Dezember 2002 seine „Neue Politik“ und alte Probleme 101

Öllieferungen an Nordkorea ein. Eine einen strategischen Vorteil zu sehen. weitere Eskalation war die Folge. Ende Jüngste Zwischenfälle wie der Abschuss vergangenen Jahres verwies Nordkorea einer Kurzstreckenrakete ins Japanische die Inspektoren der IAEA des Landes Meer ausgerechnet am Vortag der und gab Anfang 2003 seinen Austritt Amtseinführung Roh Moo-hyuns aus dem Atomwaffensperrvertrag be- sprechen dafür, dass Nordkorea wieder kannt. In nordkoreanischen Stellung- zu seinem alten Pokerspiel zurück- nahmen, meist über die amtliche gefunden hat. Allerdings spielt Pjöng- nordkoreanische Nachrichtenagentur jang diesmal mit deutlich höherem KCNA verbreitet,10 verfiel Pjöngjang Einsatz. wieder in sein altes Handlungsmuster, die Schuld an der Eskalation alleine den Was auf den ersten Blick wie ein Vereinigten Staaten von Amerika zu- unberechenbarer Amoklauf einer Re- zuschreiben. Diese hätten durch die gierung aussieht, die angesichts der Einstellung der Öllieferungen ihren Teil desolaten Lage im eigenen Land und der Abmachung nicht eingehalten und der internationalen Isolation mit dem somit Pjöngjang angesichts der schlech- Rücken zu Wand steht, könnte auch ten Energieversorgungslage keine an- das Ergebnis wohlkalkulierter Berech- dere Wahl gelassen als die maroden nung sein. Mit Drohungen Zuge- Atomanlagen wieder in Betrieb zu ständnisse von den Vereinigten Staaten nehmen. und auch vom südkoreanischen Nach- barn zu erpressen, ist eine Strategie, die Dass Nordkorea die südkoreanische der Regierung in Pjöngjang immer Regierung nicht als gleichwertigen wieder Vorteile brachte. Als sich Kim Verhandlungspartner anerkennt, ist Dae-jung und Kim Jong-il beim Gipfel eine weitere Konstante nordkoreani- in Pjöngjang die Hände reichten, erlag schen Regierungshandelns. Hieran hat die Weltöffentlichkeit kurzfristig der auch das jüngste Tauwetter im in- Versuchung, an einen Kurswechsel nerkoreanischen Verhältnis nichts Nordkoreas in der Haltung zu seinem geändert. Beharrlich fordert Pjöngjang Nachbarn zu glauben. Doch behielten exklusive Verhandlungen mit den die Zweifler Recht. In der Tat schien Vereinigten Staaten, an deren Ende ein Kim Jong-il erkannt zu haben, dass er Friedensvertrag, der das Waffenstill- mit einem moderaten Zugehen auf den standsabkommen von 1953, das bis verfeindeten Bruderstaat kurzfristig heute nicht abgelöst wurde, stehen soll. mehr für die Stabilisierung seines Systems tun könne als im Festhalten Hinter dem aktuellen Verhalten Nord- am alten Konfrontationskurs. Dennoch koreas steht das Motiv, von Washing- sind und bleiben die USA für Pjöngjang ton eine formelle Nichtangriffsgarantie maßgeblicher Verhandlungspartner zu erzwingen und ferner endlich, die aber auch Hauptadressat für verbales bereits 1994 in Aussicht gestellte offi- wie reales Säbelrasseln. zielle diplomatische Anerkennung durch die USA zu erwirken. Dabei Nordkoreas Intention, den südkorea- scheinen die Machthaber in Pjöngjang nischen Nachbarn zu marginalisieren, in der Präokupation der Bush-Admi- wo immer dies möglich ist, und gleich- nistration durch die Situation im Irak zeitig ein Maximum an Unterstüt- 102 Susanne Luther zungsmaßnahmen zu ergattern, wird Annäherungsbestrebungen in Kultur, auch den neuen südkoreanischen Wirtschaft, Verkehr und Sport auch Staatspräsidenten vor enorme Schwie- aktuell fort, erfahren jedoch angesichts rigkeiten stellen: Wie Kim Dae-jung will der Dominanz der Nachrichten über auch er den Dialog mit Nordkorea die ernste Sicherheitslage auf der ko- suchen, um die Gefahr einer krie- reanischen Halbinsel international gerischen Auseinandersetzung einzu- kaum Beachtung. Jüngste Vorwürfe dämmen. Dies wird auch ihm den gegen Kim Dae-jung wegen geheimer Vorwurf einbringen, zu entgegen- Geldtransfers im Vorfeld des Gipfel- kommend zu sein. Deutlicher als sein treffens von Pjöngjang drohen diesem Vorgänger betont Roh in seinen „Vier derzeit den Glanz zu rauben. Auch Prinzipien“ daher die „Gegenseitigkeit“. wenn dieses Thema in den kom- Kim hatte sich bei seiner Sonnen- menden Wochen Gegenstand der scheinpolitik mit dem Prinzip einer politischen Auseinandersetzung in „flexiblen Reziprozität“11 bewusst vom Südkorea sein dürfte, ändert dies wenig früheren Grundsatz eines strengen an der Bedeutsamkeit des ersten Hand- „quid pro quo“ in der südkoreanischen schlags von Kim Dae-jung und Kim Nordpolitik distanziert, und somit den Jong-il. Erstmals hat sich der nord- Vorwurf eines zu großen Entgegen- koreanische „Geliebte Führer“ Kim kommens entfacht. Jong-il, um dessen Persönlichkeit sich die schlimmsten Gerüchte rankten, der Mit dem Abschuss der Rakete am letz- Weltöffentlichkeit präsentiert, nicht als ten offiziellen Amtstag von Präsident kamerascheuer und debiler Despot, Kim Dae-jung ist es Nordkorea wieder sondern als überraschend normaler einmal gelungen, kurzzeitig die Auf- und freundlicher Gastgeber. merksamkeit auf sich zu ziehen, Kim Dae-jung seinen Abschied zu verderben Der Gipfel ebnete den Weg für eine und dem neuen Präsidenten sogleich ganze Reihe von Nord-Süd-Kontakten, einen Beweis seiner Gefährlichkeit zu die es zuvor auf der koreanischen Halb- liefern. Auch wenn der Raketentest insel nicht gegeben hatte. Die regel- nicht überbewertet werden sollte, die mäßigen Treffen auf Ministerebene Befürworter einer härteren Gangart dienten zwar in den vergangenen Jah- gegenüber Pjöngjang wurden durch ren der nordkoreanischen Regierung diesen Zwischenfall bestätigt. immer wieder als strategische Manöv- riermasse, dennoch kamen zahlreiche Kontakte und Initiativen zu Stande: 2.3 Kim Dae-jungs Vermächtnis z.B. die, wenn auch kontrollierten und zeitlich beschränkten Zusammenfüh- So sehr die Sonnenscheinpolitik Kim rungen getrennter Familien in Süd- Dae-jungs die südkoreanische Be- und in Nordkorea, oder der Beginn der völkerung bis heute auch spalten mag, Bauarbeiten, die die unterbrochene bei realistischer Betrachtung hat sie, Eisenbahnverbindung auf der korea- obwohl Nordkorea in keiner Weise nischen Halbinsel wieder herstellen an Gefährlichkeit eingebüßt hat, eine sollen. Unlängst wurde die erste ganze Reihe positiver Ansätze hervor- Straßenverbindung durch die entmili- gebracht. Interessanterweise bestehen tarisierte Zone am 38. Breitengrad für „Neue Politik“ und alte Probleme 103 den ebenfalls strengkontrollierten süd- Friedensnobelpreisträger nicht nur koreanischen Touristenverkehr in dadurch, dass er den Amtskollegen und das nordkoreanische Touristengebiet Verbündeten bei seinem ersten Besuch Kumgang eröffnet. Die Hyundai-Grup- in Washington wie einen Bittsteller pe plant einen Industriepark in der abkanzelte. Als weitaus schlimmer nordkoreanischen Stadt Kaesong. Zu wurde im um Diplomatie und Aus- den Asienspielen im südkoreanischen söhnung mit Nordkorea bemühten Busan entsandte der Norden im ver- Seoul die umgehend von der neuen gangenen Jahr eine eigene Sportler- amerikanischen Regierung angeordnete delegation samt Fangemeinde.12 All Überprüfung der von der Regierung dies sind Anfänge einer wenn auch von Clinton im Einklang mit Südkorea beiden Seiten extrem kontrollierten verfolgten Entspannungspolitik em- Annäherung. Mit dem echten zwi- pfunden. Die Rückkehr zum Terminus schenmenschlichen und interfami- „Schurkenstaat“ („rogue state“)13, Bushs liären Austausch, wie er etwa während öffentlich ausgesprochene Zweifel an der deutsch-deutschen Teilung möglich der Vertrauenswürdigkeit der nord- war, ist diese Annäherung nicht ver- koreanischen Führung und die Debatte gleichbar. Dennoch stellt die aktuelle über das Raketenabwehrprojekt NMD, Situation, an der auch die jüngsten das von Nordkorea und der Volks- Drohungen Pjöngjangs nichts geändert republik China gleichermaßen abge- haben, eine Verbesserung und somit lehnt wird, führten 2001 zu einer ernst einen unbestreitbar großen Verdienst zu nehmenden Abkühlung in den von Kim Dae-jung dar. amerikanisch-nordkoreanischen Be- ziehungen und zu einem Befremden im Verhältnis zwischen Seoul und 2.4 Südkoreas Rolle im Washington. Da die Euphorie der Kim- Spannungsdreieck Seoul- Administration für die Sonnenschein- Washington-Pjöngjang politik von den USA nicht geteilt wurde, blieben Ermüdungserschei- Als Schutzmacht Südkoreas, die 37.000 nungen in der innerkoreanischen Soldaten im Land stationiert hat, Annäherung nicht aus. nehmen die Vereinigten Staaten von Amerika eine machtpolitische Schlüs- Nordkoreas Reaktion war vorherseh- selstellung auf der koreanischen Halb- bar: Für die Regierung in Pjöngjang insel ein. Spannungen zwischen zwei war der Schwenk in der ameri- Akteuren im Beziehungsdreieck Süd- kanischen Koreapolitik Anlass, die korea-USA-Nordkorea haben sich stets Regierungsgespräche, die in Folge des und unmittelbar auf die Beziehungen Gipfeltreffens bereits vier Mal statt- zum dritten Akteur übertragen. Der gefunden hatten, nun, da sie nicht Ausgangspunkt der aktuellen sicher- mehr amerikanische Chefsache waren, heitspolitischen Krise, die der neuen einseitig abzubrechen, Südkorea aber- südkoreanischen Regierung den Start mals zu marginalisieren und die erschwert, liegt bereits über zwei Jahre Vertreter der Sonnenscheinpolitik na- zurück. Als George W. Bush im Januar hezu in die Rolle von Bittstellern zu 2001 sein Amt antrat, brüskierte er den drängen. Ein für März 2001 termi- südkoreanischen Staatspräsidenten und niertes Gespräch wurde von Pjöngjang 104 Susanne Luther abgesagt. In den folgenden sechs einem zutreffenden Kommentar for- Monaten des Schweigens mehrten sich muliert, an einen „Schurken im Hin- auch in Seoul die Stimmen der Kritiker terhof“: „Was ein rechter Schurke ist, der Sonnenscheinpolitik Kim Dae- der pöbelt so lange, bis der Rang- jungs. Als Bush schließlich im Januar höchste im Hinterhof nicht mehr 2002 in seiner „Rede zur Lage der wegschauen kann und zuschlagen Nation“ Nordkorea in einem Atemzug muss. Eine kleine Chance, so mag sich mit dem Irak und dem Iran als Teile das 'Schurkenregime' in Pjöngjang einer „Achse des Bösen“ bezeichnete, denken, hat man dann immer: versetzte er den amerikanisch-nord- Aufmerksamkeit von den USA möch- koreanischen Beziehungen und somit te Nordkorea endlich, Wirtschafts- auch Kims Sonnenscheinpolitik einen hilfe und eine politische Garantie weiteren Tiefschlag. aus Washington dafür, dass das letzte stalinistische Regime überleben Die Angst der nordkoreanischen darf (...) .“14 Machthaber, nach einem Militär- schlag gegen den Irak der nächste Im Beziehungsdreieck zwischen Seoul, Kandidat für einen Regimewechsel auf Peking und Washington nimmt die der Liste der Amerikaner zu sein, ist Roh-Administration keine günstige begründet. Durch die von Washington Ausgangsposition ein. Die zunehmende verkündete neue Erstschlagsdoktrin hat Unzufriedenheit der südkoreanischen diese Angst, die bisweilen paranoide Bevölkerung mit Kim Dae-jungs Züge annimmt, zusätzliche Unter- Sonnescheinpolitik hatte lange Zeit der fütterung erhalten. Wie gewohnt Prognose Vorschub geleistet, bei der reagierte die nordkoreanische Führung Präsidentschaftswahl werde sich ein genau entgegengesetzt zu dem, was der Kandidat mit einer härteren Linie in gesunde Menschenverstand vorgeben der Nordkoreapolitik durchsetzen. In würde: Statt sich wieder an seine Ver- vielen südkoreanischen wie interna- pflichtung zu halten, sein Atom- tionalen Kommentaren wurde daher waffenprogramm einzufrieren und der unterlegene Lee Hoi-chang, dessen seine Anlagen den IAEA-Kontrolleuren Partei als Kritikerin der Sonnen- zugänglich zu machen, wirft es selbst scheinpolitik aufgetreten war, als mit Beschuldigungen um sich, baut Wunschkandidat der Vereinigten eine immer größere Drohkulisse auf Staaten gehandelt. Fühlte sich bereits und pokert, in einem Verhalten, das an die Regierung Kim Dae-jung von ihrem Schizophrenie grenzt, nahezu täglich amerikanischen Bündnispartner bei höher, um ausgerechnet auf diese Weise dessen Nordkoreapolitik nicht aus- eine Sicherheitsgarantie der USA zu reichend konsultiert, so dürfte sich dies erzwingen. Dass sich Pjöngjang bedroht auch unter dem neuen Mann im süd- fühlen muss, ist nachvollziehbar. Aber koreanischen „Blue House“ fortsetzen. in seinem Unvermögen, den Grund für seine Bedrohung einzusehen, erinnert Hinzu kommt, dass den außenpolitisch es an ein Kind, das sich absichtlich unerfahrenen Roh, den außer seiner ungezogen verhält, um die Aufmerk- Verehrung für Präsident Abraham samkeit der Erwachsenen auf sich zu Lincoln, in dessen Persönlichkeit er ziehen, oder, wie es Markus Bernath in zahlreiche Parallelen zu seiner eigenen „Neue Politik“ und alte Probleme 105 zu erkennen glaubt,15 nicht viel mit gegenüber Nordkorea: „Now major U.S. den Vereinigten Staaten verbindet. media and government officials are Noch viel schwerer dürfte allerdings ein mentioning the possibility of attacking weiterer Faktor wiegen, der die Wahl North Korea. It is a life-or-death issue. des politischen Außenseiters begüns- A president is responsible for his tigte: die in den Monaten vor dem people's safety. That is why I am asking Urnengang aufwallenden anti-ameri- the United States to refrain from taking kanischen Proteste. Ein Unfall, bei dem too much risk.“16 im Juni 2002 zwei südkoreanische Mädchen von einem amerikanischen Die amerikanisch-südkoreanischen Be- Militärfahrzeug totgefahren wurden ziehungen wieder auf eine solide Basis und der darauf folgende Freispruch der zu stellen und auf der schwierigen beiden verantwortlichen in Südkorea Gratwanderung zwischen Kotau und stationierten US-Soldaten hatten zu Konflikt einen vernünftigen Pfad zu einer riesigen Protestwelle und wü- wählen, wird die erste und wichtigste tenden anti-amerikanischen Demons- Aufgabe der Roh-Administration sein. trationen in Südkorea geführt. Roh, Mit dem Interview in einem der der früher mit Forderungen nach mehr einflussreichsten amerikanischen Nach- Gleichberechtigung in der ameri- richtenmagazine hat Roh im Vorfeld kanisch-südkoreanischen Sicherheits- seiner Amtseinführung und seines partnerschaft und als Kritiker des ersten Zusammentreffens mit dem aktuellen Truppenstationierungsver- amerikanischen Außenminister Colin trags aufgefallen war, war in den Powell ein erstes Zeichen gesetzt. Ganz Monaten vor seinem Amtsantritt sehr entscheidend für die Zukunft der darum bemüht, sich von jeglichem amerikanisch-südkoreanischen Bezie- Anti-Amerikanismus in seinem Land zu hungen und somit für alle Ver- distanzieren. bindungen innerhalb des Dreiecks Seoul-Washington-Pjöngjang wird das Dennoch tritt er selbstbewusst für ein erste persönliche Zusammentreffen von ausgewogeneres amerikanisch-süd- Bush und Roh sein. koreanisches Verhältnis ein. So betonte der neue Präsident in einem Interview Nordkorea ist und bleibt ein unkal- mit der amerikanischen Zeitschrift kulierbarer Akteur im internationalen Newsweek, er habe bei seinen früheren System, auch wenn sich in seinem Forderungen nach mehr Gleichbe- Verhalten gewisse Regelmäßigkeiten rechtigung in den amerikanisch- ausmachen lassen. Die Fixierung südkoreanischen Beziehungen niemals Pjöngjangs auf Washington ist eine Anti-Amerikanismus im Sinn gehabt: jener Konstanten, die sich in den „Most Koreans like the United States kommenden Jahren nicht ändern and also like Americans. When we dürfte. Eine realistische südkoreanische think we have been unfairly treated, Nordpolitik muss diesen Faktor zur we may complain or object, but Kenntnis nehmen. Andererseits muss this is different from anti-American Seoul im höchsten Maße daran gelegen sentiment“, betonte Roh und verband sein, eine ernsthafte Störung im dies sogleich mit einer Warnung vor Verhältnis zu Washington in jedem den Gefahren einer härteren Gangart Falle zu vermeiden. Diese brächte 106 Susanne Luther

Pjöngjang, das seit jeher danach strebt, teile und hätte fatale Folgen für die einen Keil zwischen die Bündnispart- koreanische Halbinsel und die gesamte ner zu treiben, nur strategische Vor- nordasiatische Region.

Anmerkungen 1 Einen detaillierten offiziellen Lebenslauf kampflandschaft gebracht. Roh Moo-hyuns bietet die Presse- und 7 Vgl. u.a. The Korea Times, Online-Aus- Kulturabteilung der Botschaft der Repu- gabe vom 21.2.2003, „Sunshine Policy blik Korea, Berlin, unter www.koreaheute. Blessing & Curse for Kim“. Anmerkung: de Der Beobachtungszeitraum, der die 2 Ausländischen Beobachtern präsentiert Grundlage für diesen Aufsatz bildet, endet sich das südkoreanische Parteiensystem mit der Amtseinführung Roh Moo-hyuns als nahezu undurchschaubares Geflecht am 25.2.2003. von Neugründungen, Verschmelzungen 8 Roh Moo-hyun: „Ein neuer Start in ein und Umbenennungen, in dem nicht Zeitalter von Frieden und Prosperität“, Parteien und deren Programmatik, son- Ansprache von Präsident Roh Moo-hyun, dern Persönlichkeit, Machterhalt und dem 16. Präsidenten der Republik Korea, Regionalismus die bestimmenden Fak- bei seiner Amtseinführung, 25.2.2003, toren sind. Rohs Einstieg in die Politik deutsche Übersetzung des Redema- begann 1988 als Abgeordneter der nuskripts unter www.koreaheute.de oppositionellen Demokratischen Vereini- 9 Für eine ausführliche Analyse der Ent- gungspartei, die vom früheren Staats- stehung und Hintergründe des Rahmen- präsidenten Kim Young-sam, dem Amts- abkommens von 1994 siehe: Luther, Su- vorgänger Kim Dae-jungs, geführt wurde. sanne: Die Nordostasienpolitik der Ver- Ein Zusammenschluss dieser Partei mit einigten Staaten von Amerika nach dem der Regierungspartei und einer weiteren Ende des Kalten Krieges (1989–1996): Oppositionspartei, der Kim Young-sam Aufbruch in eine neue Ära?, Hamburg die Macht sicherte und den Weg zur 2000. Präsidentschaft im Jahr 1992 ebnete, 10 Zugänglich im Internet unter der offi- veranlasste Roh Moo-hyun, auf die Seite ziellen, von Japan aus betriebenen Inter- Kim Dae-jungs zu wechseln. Aus der net-Homepage www.kcna.co.jp Gyeongsang-Region stammend ging er 11 Vgl. Yang, Sung-chul: „Kim Dae-jung mit dieser Entscheidung für die von der Government's Policy toward North Korea: sogen. Cholla-Fraktion dominierte poli- Theoretical Underpinnings and Policy tische Gruppierung ein für südkorea- Directions“, Vortrag vor der Korean nische Politiker hohes Karriererisiko ein. Political Science Association Conference, 3 Vgl. Roo Moo-hyun: Mein zielstrebiger Seoul 26.–27.3.1999, Vortragsmanuskript. Weg – Erinnerungen des neu gewählten 12 Vgl. The Korea Times, Online-Ausgabe Präsidenten der Republik Korea Roh Moo- vom 23.2.2003, „President Kim Dae-jung hyun, Botschaft der Republik Korea, – Five Years of Glory and Tribulation“. Presse- und Kulturabteilung, Berlin 2002, 13 Die Clinton Regierung hatte von „states S.9f. of concern“ gesprochen. 4 Vgl. The Korea Times, Online-Ausgabe 14 Bernath, Markus: Politik der Nadelstiche, vom 20.12.2002, „People Chose Pro- in: Der Standard, Online-Ausgabe vom gressive Reform“ und Online-Ausgabe 4.3.2003. vom 23.12.2002, „Not Political Realign- 15 Vgl. Roo Moo-hyun: Mein zielstrebiger ment, But Reform“. Weg – Erinnerungen des neu gewählten 5 Der National Congress for New Politics Präsidenten der Republik Korea Roh Moo- (NCNP) wurde zum Jahrtausendwechsel hyun, Botschaft der Republik Korea, umbenannt in Millennium Democratic Presse- und Kulturabteilung, Berlin 2002, Party (MDP). S.19. 6 Als erster Kandidat mit einem Internet 16 Vgl. „A Life-or-Death Issue“, Interview Fanclub „Rohsamo“ (Koreanisch: Ich mit dem designierten Präsidenten der liebe Roh!) hatte Roh Farbe und Be- Republik Korea Roh Moo-hyun, News- wegung in die südkoreanische Wahl- week, Online-Ausgabe vom 3.3.2003. Die slowakischen Erwartungen an die Integration: eine reiche Wertegemeinschaft

Juraj Alner

1. Die Slowakei Gefühl „der Mitte“: Mitteleuropa ers- zehn Jahre danach tens als historisch-kulturelle Tatsache (Multikultur der Habsburger Monar- An Neujahr 1993 um Mitternacht chie, die noch und wieder stärker zu entstanden zwei neue Staaten: die spüren ist), zweitens als „Brücke“ Tschechische und die Slowakische zwischen Ost und West (so definieren Republik. Die meisten Europäer, dar- sich selbst viele Länder von Finnland unter auch viele Spitzenpolitiker, bis Griechenland, wobei, wie schon Jan haben nur von einem gesprochen: von Masaryk 1947 bemerkt hat, „auf der der Slowakei. Tschechien hat man Brücke kann man nicht leben, da allgemein auch weiterhin mit der alten laufen nur alle hin und her“), drittens Tschechoslowakei identifiziert und als fester Bestandteil der westlichen geglaubt, „ein Teil davon ist abge- Zivilisation. Dazu ist hinzuzufügen, brochen“, was immer schon verdächtig dass die mitteleuropäische Tradition gewesen ist. Obwohl sich sogar die identisch ist mit allem, was wir so deutsche Diplomatie viel Mühe ge- mühsam als europäische Wertege- geben hat, die slowakische Selbst- meinschaft zu definieren versuchen. ständigkeit nur wenige Stunden nach jener Mitternacht auch offiziell an- Der aktuelle Streit mit dem Europa- zuerkennen1, habe ich noch unlängst parlament ist ein Missverständnis (keine Ausnahme!) vom Bundespresse- mancher europäischer Politiker. „Man amt Post bekommen mit der Anschrift solle sich zwischen Amerika und „Bratislava, Slowenien“. Europa entscheiden“, lautete es Anfang Februar aus Strassburg, als die 10 EU- Mitglieder in spe sich zum Busch- 2. Wo liegt die Slowakei? Aufruf in Sachen Irak positiv geäußert haben. Der Vorwurf war, „die Ver- Für die Ukrainer ist die Slowakei „der handlungen mit den USA nicht zuerst Westen“ und für die Deutschen mit der EU konsultiert zu haben“, was „Osten“. Nicht nur geografisch, auch zur Folge haben kann, dass man im wirtschaftlich. Nur teilweise mit Recht. Europaparlament „nicht so eindeutig Im Lande selbst entwickelte sich das den Beitritt ratifizieren wird“. „Wir

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 108 Juraj Alner haben uns ja entschieden für das beizutreten, was nun realisierbar euroatlantische Bündnis, für die scheint. Demokratie und die gemeinsame Ver- teidigung“, so die Regierung in Bratislava, die zwischen dem Bündnis 3. Die Trennung mit der EU und den USA kein Ent- weder-Oder sehen will. Mit gutem Es gibt zweierlei Slowaken: Die einen Argument, die EU habe ja in dieser sprechen konsequent über den Zer- Frage keine einheitliche Position. fall der Tschechoslowakei, die ande- Drohungen solcher Art, wie „im April ren wieder über die Entstehung der kann das EP die Ratifizierung des selbstständigen Slowakischen Republik. Beitritts aus diesem Grunde blockieren“, Während die meisten Tschechen mei- werden eher die Ergebnisse des EU- nen, es sei kein großer Anlass, jedes Jahr Referendums in Frage stellen. Ein Teil die Trennung zu feiern (Feiertag in der der slowakischen Öffentlichkeit meinte Tschechischen Republik ist bis heute der dazu: „Wollen die sich in jede unserer 28. Oktober, an dem 1918 die Tsche- Entscheidungen einmischen, auch choslowakei entstanden ist), glauben wenn ausgerechnet diese so prowestlich immer mehr Slowaken, man solle in der ist, dass sie es mehr gar nicht sein Silvesternacht ein Gläschen Sekt nicht kann?“ Die slowakische Regierung nur für das kommende Jahr genießen, meint, man darf keine Kluft zwischen sondern noch eins dazu für die „junge Europa und Amerika entstehen lassen Republik“. Zehn Jahre danach hat man – dies kann man auch als Beitrag der übrigens mehr zusammen Bilanz ge- neuen EU Mitglieder zur Integration zogen als getrennt (…) . werten. Die meisten Kritiker meinen, es hätte Die Slowakei liegt in Mitteleuropa: (auch laut der Verfassung) zu dieser Ausdruck dessen finden wir in der Frage 1992 eine Volksabstimmung Visegrader Kooperation verankert. stattfinden sollen. Man hat allerdings Visegrad, eine kleine ungarische Stadt „nur“ im Föderalenparlament die an der slowakischen Grenze, wurde Entscheidung getroffen, nachdem die nicht nur zum Symbol, die Zusam- siegreichen Parteien (Václav Klaus' menarbeit der vier Länder ist seit 1991 Bürgerliche Demokratische Partei ODS, intensiv auf allen Ebenen: regelmäßi- in der Slowakei Vladimír Meciars ge Treffen der Staatspräsidenten, Re- Bewegung für die Demokratische gierungschefs, Ressortminister, aber Slowakei HZDS) keine gemeinsame auch von Fachgruppen. Seit 2001 Rede über die zukünftige Gestaltung verteilt der International Visegrad Fund des Staates gefunden hatten. Klaus mit Sitz in Bratislava Regierungsgelder meinte, eine Föderation brauche eine der vier Staaten an gemeinsame Pro- gut funktionierende, starke, gemein- jekte der NGO’s. Die rein pragmatische same Verwaltung, Meciar verlangte um- Bestrebung der drei neuen NATO- gekehrt weitgehende Dezentralisierung Mitglieder ist es, so schnell wie möglich mit gemeinsamer Währung, Armee, auch die Slowakei im Bündnis zu Außenpolitik und Wirtschaftsraum. Die haben. Aus praktischen Gründen wäre echten Gründe lagen selbstverständ- für alle vier optimal, gleichzeitig der EU lich viel tiefer. Die slowakischen Erwartungen an die Integration 109

Anfang 1992 waren fast 70% der nachher (heute) besser gewesen sind, Slowaken und fast 80% der Tschechen ist ein beliebtes Thema, jedoch ohne gegen die Trennung.2 Heutzutage ist eindeutige Antwort. Ernste Spannun- dieselbe Zahl der Tschechen mit dem gen gab es aber nie. Es gibt eine sinn- Zerfall einverstanden (nicht begeistert), volle Zollunion, gute Kooperation der nicht ganze 60% der Slowaken zu- Regierungen und Parlamente, enge frieden, fast 30% meinen aber noch Kontakte in der Kultur und einem Teil immer, es war nicht die beste Lösung der Bevölkerung. (so etwa 20% der Tschechen). Die Frage nach der Restaurierung des gemein- In der Slowakei betont man den Sinn samen Staates stellt aber keiner mehr. der Sache: Dieses Volk hat nie echte Die oft zitierte Parole lautet: „Wir tref- Selbstständigkeit erlebt, immer als fen uns ja wieder in der Europäischen „kleinerer Bruder“ im Schatten der Union“. Ungarn (10. Jahrhundert bis 1918) oder Tschechen seitdem bis 1993 (mit frag- Es sei zu erwähnen, dass nach den würdiger Unterbrechung 1939–1945 ersten Erfahrungen (Herbst 1993) die in einem von Hitler abhängigem Trennung positiv und negativ je 40% Slowakischen Staat) sein Dasein ge- der Tschechen wahrgenommen haben, fristet. In der Welt fast total unbekannt in der Slowakei war damals das (was man bis heute nicht völlig Verhältnis pro und contra 30 gegen zu überwinden vermochte), von den 50%.3 Nachbarn und von sich selbst un- terschätzt. Heute ist man endlich stolz, Kurz zu erwähnen ist die Tatsache, dass sichtbar genauso gut zu sein, wie die in der Tschechischen Republik für die anderen es sind. Es gibt aber auch Trennung eher Anhänger der ODS Argumente anderer Art: Machtgier und (rechts orientiert) und Menschen mit Privatisierung. Dies war aber überall ein höherer Ausbildung waren und sind unerwünschtes Nebenprodukt der und immer mehr junge Menschen, für Wende. die der gemeinsame Staat nur noch Geschichte ist. Die Gegner gruppieren sich im linken politischen Spektrum, 4. Die Parteienlandschaft bei den Menschen mit niedrigerer Ausbildung und der älteren Generation. In den letzten 13 Jahren nach dem In der Slowakei ist das Bild ähnlich, Sturz des kommunistischen Regimes über starke Gegner kann man aber sind viele relativ große Parteien ent- kaum reden. Ein Merkmal ist wichtig: standen und nachher klein geworden, Bis 1993 waren beide Sprachen in zerfallen oder sogar verschwunden beiden Republiken trotz Unterschiede oder haben sich mit anderen vereinigt. relativ gut verständlich, heute sind es Diese Tendenz sehen wir auch heute für die Jugend schon Fremdsprachen, und rechnen damit noch in den die man nicht spricht und nicht gut nächsten Jahren. Das im modernen versteht. Europa geläufige Modell Konservative – Liberale – Sozialisten (oder rechts – Ob die Beziehungen zwischen den mitte – links) bekommt erst jetzt klare Tschechen und Slowaken vor 1993 oder Konturen. Nur die Ungarnpartei mit 110 Juraj Alner

11% (diese Minderheit hat aber nur mokratische Bewegung) des Parla- 9,7% der Bevölkerung, die Wähler sind mentspräsidenten Pavol Hruˇsovsky also auch Nichtungarn) ist seit Jah- (früher Ján Carnogursky, der nun alle ren stabil. Die seit ihrer Entstehung politischen Posten abgelehnt hat 1991 ununterbrochen stärkste Par- und als Anwalt tätig ist), die SMK tei – Vladimír Meciar’s HZDS (Bewe- (Partei der ungarischen Koalition, in gung für die Demokratische Slowakei, der alle drei ursprünglichen verschmol- nun mit Ergänzung „Volkspartei“) ist zen sind) des Parlamentsvizepräsi- zum fünften Mal (und scheinbar denten und Christdemokraten Béla endgültig) nun am 7. Februar zerfallen, Bugár. Die vierte ist die nur unlängst an dem Tag, als das Parlament zum Irak entstandene ANO (liberale Allianz des abgestimmt hat. Meciar selbst ist vor neuen Bürgers) des ehemaligen Be- der Abstimmung verschwunden. Zehn sitzers der größten privaten Fernseh- seiner Abgeordneten sind aus der gesellschaft Markíza, Pavol Rusko. Fraktion (nicht aus der Partei –, obwohl sie höchstwahrscheinlich eine neue Auf den Oppositionsbänken sitzen – Demokratische Volkspartei LDS – außer den beiden HZDS-Gruppie- gründen werden) ausgetreten. Anführer rungen auch die Linken (Smer – die war der ehemalige Sozialminister und Richtung des jungen Robert Fico), die seit Monaten (nicht früher) Kritiker der aber manche Analytiker ablehnen als undemokratischen Verhältnisse in der solche zu definieren („die Richtung HZDS, Vojtech Tkác. Schon vor der wohin?“ – fragt man oft, die Antwort Parlamentswahl 2002 ist ein Teil der ist nie eindeutig). Keine von mehreren Partei, geführt vom ehemaligen Par- sozialdemokratischen Parteien hat lamentspräsident Ivan Gaˇsparoviˇc, bei der Parlamentswahl 2002 die 5% weggebrochen unter neuem Namen Hürde überwinden können, obwohl HZD (Bewegung für Demokratie). sie in mehreren früheren Wahlperioden Frühere Meciar-Treue findet man heut- in den Regierungen vertreten waren. zutage in mehreren Parteien zerstreut. Grund: deren Spaltung und keine echte Tradition der Linken im Lande. Wegen So hat die regierende SDKU mit 28 ihrer Spaltung sind auch die Natio- Abgeordneten (von 150) endlich auch nalisten vor der Tür geblieben. Über- die stärkste Fraktion: der HZDS sind raschend sitzen nun aber zum ersten von 36 nur noch 26 Abgeordnete ge- Mal nach der Wende die Kommunisten blieben und es ist nicht auszuschließen, im Hohen Haus, auch wenn nur am dass diese Zahl noch geringer sein wird. Rande. Ihre Wähler: enttäuschte ältere Smer hat 25, die Ungarn 20, ANO und Menschen, Arbeitslose und Bewohner KDH je 15 und die Kommunisten 11 von kleineren Städten, die mit Nos- Abgeordnete. talgie an die niedrigen Preise und Vollbeschäftigung denken, an geringe Die Regierung besteht aus vier Parteien, Kriminalität im Polizeistaat und keine von denen man drei als (teilweise) Notwendigkeit für ein persönliches christlich bezeichnen kann: die SDKU Engagement. (Slowakische Demokratische Christliche Union) des Regierungschefs Mikuláˇs Die Parteienlandschaft ist noch bei Dzurinda, die KDH (Christlich De- weitem nicht stabilisiert. Man kann in Die slowakischen Erwartungen an die Integration 111 den nächsten Jahren die Entstehung diskutieren. ANO hat später das Thema einer parlamentsfähigen Sozialdemo- „illegales Abhören der Telefonge- kratie erwarten, ebenso eine Vereini- spräche“ gegen die Meinung aller gung der Christdemokraten und das Koalitionspartner ins Spiel gebracht. In Zerfallen von Meciars Bewegung. prinzipiellen Sachen herrscht aber Einigkeit – so über den EU- und NATO- Die neuesten Umfragen im Februar Beitritt, über die schnelle und wirksame 2003 sind nur in Details anders als das Wirtschafts- und Sozialreform und über Wählerverhalten im September 2002: die Bereitschaft, auch in der Zukunft die stärkste Partei konnte (genauso wie Kompromisse zu schließen. 1998) nur durch eine große Koalition in die Opposition geschickt werden. Anders als die staatliche sieht die kom- Die HZDS (in den 90-er Jahren langsam munale Ebene aus. Bei den Kommunal- von 40 auf 25% gesunken) lag nach wahlen im Dezember 2002 haben wir der Spaltung im September 2002 bei – wie auch bei allen früheren – solche 20%, heute bei 17%, aber seit 1998 Bündnisse registriert, die im Parlament mit keinen Möglichkeiten für eine gar nicht denkbar sind. Vereinfacht Koalition, also auch ohne Zukunft. gesagt: „Jeder mit jedem“. Vor allem in Trotzdem war sie bis Januar 2003 den kleineren Gemeinden wählt man ununterbrochen an der ersten Stelle gemeinsam konkrete Personen, ohne aller Umfragen. Erst im Februar wurde Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit sie zum ersten Mal überholt: vom des Kandidaten und auch des Wählers. jungen Smer, der 20% erreicht hat. Wo die Parteien selbstständig kandi- Erst danach folgen die regierenden diert haben, war meistens die HZDS Parteien: SDKU 16%, SMK 11%, KDH erfolgreich: sie gewann 384 Bürger- 9%, die Kommunisten sind mit 8% meister (über 13%). Die Zweitstärksten nicht mehr Schlusslicht, diese Rolle hat waren (nicht überraschend) die Un- ANO mit 5% übernommen. garn, die 233 Bürgermeister stellen, eigentlich in allen Ortschaften, in Am Anfang schien die heutige Re- denen sie die Mehrheit der Bevöl- gierung eine ideale Wahlverwandt- kerung haben. Erst dann folgte die schaft zu sein. Bald haben aber die KDH. An vierter Stelle folgte die sozial- Beziehungen ein anderes Gesicht be- demokratische Partei der demokrati- kommen: Zwischen der KDH und der schen Linken (SDL), die es nicht ANO ist es zu Differenzen wegen des schaffen konnte, ins Parlament zu Gesetzes über die öffentliche Ver- kommen, sie hat aber nun mehr waltung und die Fragen des politischen Bürgermeister als die regierende SDKU. Einflusses auf die Wirtschaftssphäre gekommen, zwischen den engsten Verbündeten – der SDKU und SMK 5. Die Wirtschaft zum Streit über das Statusgesetz für Auslandsungarn der Regierung in Die Vorhersage, nach der Trennung Budapest. Dzurinda hat es nämlich wird die Slowakei in unlösbare überraschend abgelehnt, mit der un- Schwierigkeiten geraten, hat sich nicht garischen Regierung über einen vorher erfüllt. Obwohl die große Schwer- und schon vereinbarten Kompromiss zu Rüstungsindustrie des gemeinsamen 112 Juraj Alner

Staates („Stahl und Panzer“) in der gen höher als die realen Möglichkeiten Slowakei konzentriert war und die der Wirtschaft. Ostmärkte plötzlich ersatzlos ver- schwunden sind, obwohl viele Inves- Anfang Juli 2002 hat die Slowakische toren lange gezögert haben, obwohl Akademie der Wissenschaften die die Privatisierung bei weitem nicht von der Regierung bestellte Studie transparent gewesen ist und der „Wirtschaftliche und soziale Zusam- Klientelismus einiger Parteien eine menhänge des Beitritts in die EU große Rolle gespielt hat (und viele – Vorteile und Risiken“4 veröffentlicht. Betriebe durch berühmtes „Tunne- Man erwartet u.a., dass die Arbeits- lieren“ zu Grunde gerichtet hat), gehört losigkeit von der aktuellen Rate von die Slowakei heute zu den relativ ca. 18.5% auf 15% nicht früher als prosperierenden Ländern Mitteleu- 2008 sinken kann. Dies beeinflusst ropas. Der Wert der Slowakischen auch das im Vergleich zur EU enorm Krone bewegt sich im Vergleich zur niedrige Lohnniveau. Die Gewerk- Tschechischen Krone nach oben, bei schaften haben ihre Kraft verloren 1,3 (SK: 2 = 41,5). (oder gar nicht gewonnen), die Firmen sind mehr an eigenem Gewinn inte- Im Budget für das Jahr 2002 rechnete ressiert als an günstigerer Lohnpolitik, die Regierung mit Einnahmen von 206 damit sie in neue Technologie mehr Mrd. SK (etwa 4,7 Mrd. Euro) und investieren und so den steigenden Ausgaben von 243 Mrd. SK. Man hat Konkurrenzdruck überleben können. also ein Defizit in Höhe von 37 Mrd. Den Großteil des BIP produzieren zwei SK (0,9 Mrd. Euro) geplant. Die Steuer- Riesen: Volkswagen in Bratislava und politik ist zum Wahlthema geworden. US-Steel in der ostslowakischen Metro- Die meisten benötigten Gelder für pole Koˇsice. Im Lande sind auch Ressorts wie Gesundheit, Unterricht über 1.500 kleine und mittlere Betriebe und Kultur sind nur gering vorhanden. mit österreichischer Beteiligung tätig. Eine radikale Reform ist für die Kran- Aus der Schweiz sind Ringier und kenhäuser vorbereitet. Die Grund- und einige andere Unternehmer präsent. Mittelschulen gehören seit Juli 2002 Im Januar 2003 hat sich auch PSA nicht mehr dem Staat, sondern den Ge- Peugeot Citroen entschieden, in der meinden, die damit noch keine Er- Westslowakei eine Fabrik mit Inves- fahrung haben. Es war auch schwierig, titionen in Höhe von 700 Millionen 2 sich zu einigen, wer die alten Schul- zu bauen. Im Jahre 2006 soll sie 3.500 den bezahlen soll. Auch ein Zeichen Arbeitsplätze direkt und weitere 6.000 der sich transformierenden Gesell- indirekt schaffen. schaft. Laut der neuesten Angaben der Na- Der Nominallohn in der Wirtschaft tionalbank sind bis Ende 2001 4.687 erreichte Ende 2002 im Durchschnitt Mrd. USD Direktinvestitionen gekom- 12.900 SK (310 2) pro Monat, in den men, davon 23% aus Deutschland, Finanzinstitutionen und Versicherungs- 21% aus Holland, 17,6% aus Öster- anstalten über 580 2, aber im Schul- reich, 10,7% aus Italien, 6% von den wesen weniger als 250 2. In diesem USA, 5% von der Tschechischen Re- Bereich sind die Integrationserwartun- publik usw. Der Großteil dieser Gelder Die slowakischen Erwartungen an die Integration 113 hängt mit der Privatisierung zu- den Jahren 2007 und 2010. Die Na- sammen. Im Jahre 2002 hat man Teile tionalbank trifft schon seit mehreren der Slowakischen Gasindustrie (SPP) an Jahren Maßnahmen dafür. Die Maas- Ruhrgas und Gaz de France verkauft trichter Kriterien werden aber noch sowie drei regionale Energienetze an lange nicht erfüllt: Die Inflation hat die deutschen EON und RWE und sich 2002 um 3,5% bewegt und wird in Electricité de France. So kann man in den kommenden zwei Jahren wegen der nächsten Statistik einen wesent- der Preisliberalisierung noch steigen. lichen Anstieg der französischen Inves- Die Verschuldung im öffentlichen titionen erwarten. Sektor hat 42% des BIP erreicht (Maas- tricht: Maximum 60%). Das Defizit der Nach der Links-Rechts-Regierung öffentlichen Finanzen darf nicht höher 1998–2002 kommen nun von der sein als drei Prozent des BIP, wird aber rechts-liberalen Koalition härtere Maß- 2003 fünf Prozent erreichen. nahmen, um den Markt fast voll zu liberalisieren und das Land an die Wirtschaft der EU anzupassen. 6. Die Integration

Die Ost-West-Kluft im Lande ist trotz „Weg von der russischen Einflusszone“ allem immer noch sichtbar: Die war seit 1989 absolute Priorität für die Hauptstadt Bratislava liegt im Süd- Polen, äußerst wichtige Agenda für die westen direkt an der österreichischen Tschechen und logischer historischer (60 Kilometer von Wien), ungarischen Schritt für die Ungarn. In der breiten und tschechischen Grenze und ist Schicht der slowakischen Bevölkerung neben Prag die reichste Region Mittel- war diese Denkart anfangs nicht sehr und Osteuropas. Bratislava und Prag präsent. Schnell aber haben sich in sind die einzigen zwei Regionen in den dieser Richtung die meisten Intel- assoziierten Ländern, die den EU- lektuellen, die Studenten und die Durchschnitt BIP pro Kopf über- neuen Kleinunternehmer orientiert. schritten haben (die Slowakei als Meciar hat seine Wähler eben bei den Ganzes liegt bei 49%!). Das Dreieck anderen gefunden. Györ – Wien – Bratislava ist zu Ziel-I- Gebiet geworden. Diesen Großraum Seine Europapolitik (er ist drei Mal einschließlich Prag und Budapest Regierungschef geworden) konnte sich schätzen einige Wirtschaftsexperten so nur nach außen richten, seine als den dynamischsten in Europa. innenpolitischen und wirtschaftli- Im Osten grenzt das Land an die chen Maßnahmen haben ihn und Ukraine. Die 400 Kilometer dazwi- so auch das Land für Jahre isoliert. schen zeigen eine bunte Palette zwi- Der Druck der Bürgergesellschaft, schen Reich und Arm. Der Durch- „nicht draußen zu bleiben“, hat die schnitt des Lebensstandards ist jedoch politische Landschaft Ende der 90-er höher als zum Beispiel in Ungarn oder Jahre stark europäisiert. Die Zahl Polen. der integrationsbewussten Bürger ist rapide gestiegen und damit auch die Der Euro kommt nach den Schät- Präferenzen der europaorientierten zungen der Finanzexperten zwischen Parteien. 114 Juraj Alner

6.1 Die Slowakei und die EU ohne Moral“ hineinzufallen. Vor allem findet dieser Gedanke in der katho- Im Juni 1995 hat der Regierungschef lischen Kirche (70% der Bevölkerung) Meciar den Antrag zum Beitritt der starke Unterstützung. In dem Na- Slowakei in die EU gestellt. 1996 hat tionalkonvent (errichtet vom Außen- die Regierung die Strategie zur Über- minister Eduard Kukan 2002) dis- nahme des EU-Rechts genehmigt und kutieren Vertreter wichtiger Institu- alle dazu notwendigen Institutionen tionen und Kirchen auch die Themen aufgebaut. 1997 hat aber die Euro- „Anfang und Ende des Lebens“, „Gott päische Kommission wegen innen- in der europäischen Verfassung“ und politischer Probleme die Einladung an „Schutz der Traditionen“. die Slowakei nicht empfohlen. Erst Dezember 1999 bei dem Gipfel in Helsinki hat man festgestellt, die neue 6.2 Die Slowakei und die NATO Dzurinda-Regierung sei europareif. Vom 16.–17. Mai 2003 wird das EU- Am 21. November 2002 wurde die Referendum stattfinden und am 1. Mai Slowakei in die NATO eingeladen, 2004 hofft man, den Beitritt in die zusammen mit sechs anderen Län- Europäische Union feiern zu können. dern des ehemaligen Ostblocks. Im Unterschied zu den Visegrader Nach- Den EU-Beitritt wünschen sich 2003 barn, die schon seit 1999 Mitglieder mehr als 70% der Befragten (bei der der NATO sind, was man in Mittel- ungarischen Minderheit liegt die Un- europa als „Rückkehr vom Osten zum terstützung bei 80%!). Der Anstieg ist Westen“ interpretiert, ist nur die stabil seit 1995 (damals 52% für Slowakei in der grauen Zwischenzone Beitritt, aber 31% der Befragten „konn- stecken geblieben. Als den ersten ten es nicht beurteilen“). Was die Schritt in diese Richtung sieht man hier Bürger am meisten interessiert, sind die die Aufnahme in die OECD im Jahre Vor- und Nachteile des Beitritts. All- 2000. gemein glaubt man, diese Fragen nicht genügend beantwortet zu haben. So hat Die NATO ist auch in den öffentlichen die Regierung eine massive Aufklä- Debatten, in den Zeitungen, im rungskampagne vor dem Referendum Rundfunk und Fernsehen zur Priorität vorbereitet, an der sich Medien und Nummer eins geworden (so die Statistik NGO’s beteiligen sollen. 2002). Seit 2001 gibt es eine Tschecho- Slowakische Militäreinheit, teilweise Das Parlament hat Ende 2002 eine auch im Dienste der PfP-Aufgaben Deklaration abgestimmt, die die Sou- (Partnership for Peace) im Ausland veränität im Bereich Kultur auch nach stationiert. Im Sommer 2002 hat man dem Beitritt in die EU verlangt: In der in der Slowakei einen Übungsplatz für Slowakei spricht man auf allen Ebenen die NATO-Offiziere neu aufgebaut. In sehr viel über Europa als Werte- einem Projekt „Gemeinsamer Himmel“ gemeinschaft. Es gibt eine heftige De- wird eine gemeinsame Luftwaffe der batte der Konservativen und liberalen Tschechen und Slowaken organisiert. Intellektuellen, manche der ersten Beide Länder senden nun eine fürchten in eine „Union des Geschäfts gemeinsame chemische und biolo- Die slowakischen Erwartungen an die Integration 115 gische Schutztruppe nach Kuwait als staatlichen Hilfe leben. Die Experten Zeichen der Unterstützung amerika- reden von einer starken Identitätskrise nischer Irak-Politik. und vom Minderwertigkeitsgefühl. Weder die Assimilierung noch die Die Öffentlichkeit unterstützte den Abgrenzung waren erfolgreiche Mo- Beitritt in die NATO am stärksten 2002 delle, enorme Sozialhilfe konnte die (bis zu 60%), während der Irak-Krise mangelnde Erziehung und fatale reduziert sich die Zahl der NATO- Arbeitslosigkeit nicht ersetzen. Die neue Anhänger (Februar 2003: nur noch Sozialpolitik ist nicht an größerer 39%, 70% sind für das Beitritts- Unterstützung, sondern an der Er- referendum, das nicht geplant ist und höhung des Pflichtbewusstseins orien- ursprünglich nur von den Kom- tiert. So meint der Sozialminister: munisten und dem ehemaligen KDH- „Schluss mit der These: Je mehr Vorsitzenden Ján Carnogursky ver- Kinder desto mehr Geld“, eine andere langt worden ist). Von der Öffent- Regelung bindet das Kindergeld an lichkeit wird auch die Teilnahme an der ordentlichen Schulbesuch usw. Die Operation Irak massiv abgelehnt. sozialen Abgaben wurden mit der Arbeitspflicht verbunden. Alle diese Maßnahmen haben sehr starke 7. Die Minderheiten Unterstützung in der Bevölkerung gefunden. Die soziale Dimension der In der Slowakei sind zehn Volksgrup- Roma-Frage ist aber sicher nur ein pen registriert mit 14,2% der Be- Aspekt von mehreren, die man noch völkerung. Die problemreiche Minder- lösen muss. heitenfrage betrifft aber eigentlich nur die katastrophale soziale Lage der Die zahlreichste Minderheit ist die zahlreichen Roma-Minderheit (Volks- ungarische. Mit starker Vertretung in zählung 2001: 90.000, Schätzung: bis der Regierung, an der Spitze des zu 200.000 Menschen), verursacht vor Parlaments und in der Verwaltung, mit allem durch die ungenügende oder zahlreichen ungarischen Schulen, falsch orientierte Regierungspolitik seit Zeitungen und Zeitschriften, Sende- vielen Jahrzehnten. Die meisten Roma zeiten im Radio und Fernsehen. Die (vor allem in der Ostslowakei) sind Versuche der Meciar-Regierung, diese arbeitslos, nicht ausgebildet und nicht traditionellen Rechte zu beschränken, motiviert: Man kann so und so von der sind gescheitert.

Anmerkungen 1 Der Geschäftsführer der Botschaft der hänge des Beitritts der SR in die EU Bundesrepublik Deutschland war damals – Gewinne und Risiken. Zusammenfas- Dr. Dieter Bricke. sung), Bratislava, Slovenská akadémia 2 STEM, Focus 1992. vied, Ústav slovenskej a svetovej 3 CVVM, 27.12.2002. ekonomiky (Slowakische Akademie 4 Ekonomické a sociálne súvislosti vstupu der Wissenschaften, Institut der slowa- SR do EÚ – prínosy a riziká. Zhrnutie kischen und Weltwirtschaft), Juni 2002, (Wirtschaftliche und soziale Zusammen- S.52. 116 Juraj Alner

Literatur Global Report. Slovakia 2002, hrsg. von 2001/2002, hrsg. von Werner Weidenfeld Grigorij Meseˇznikov, Ol'ga Gyárfáˇsová und und Wolfgang Wessels, München, Institut Miroslav Kollár, Bratislava, Institut for Public für Europäische Politik, 2002. Affaires, 2003, www.ivo.sk Matzner-Holzer, Gabriele: Im Kreuz International Issues, Journal for inter- Europas: Die unbekannte Slowakei, Wien/ national relations, Bratislava, Slovak Insti- Holzhausen 2001. tute for International Studies, 2003, Schönfeld, Roland: Slowakei. Vom Mittel- www.sims.sk alter bis zur Gegenwart, München, Süd- Jahrbuch der Europäischen Integration osteuropa-Gesellschaft, 2000. Das aktuelle Buch

Woodward, Bob: Bush at War – Amerika im Carl Bernstein hatte er 1972 die Watergate- Krieg. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, Affäre aufgedeckt, was später zum Rücktritt 2003, 400 Seiten, 2 24,90. von Präsident Richard Nixon führte.

Obwohl diese Studie sich primär auf die Wie „All the President’s Men“ gehört Wood- Anfänge der US-amerikanischen Anti-Terror- wards „Bush at War“ zum Genre „Instant- Strategie nach den Anschlägen vom 11. Sep- Geschichtsschreibung“ und lebt von der Re- tember 2001 konzentriert und der Unter- konstruktion von politischen Entscheidungen suchungszeitraum im September 2002 endet bzw. des Prozesses ihrer Entstehung und (in den USA erschien die Originalausgabe im Implementierung. Besonderes Augenmerk legt Verlag Simon & Schuster im Oktober 2002), Woodward auf die wichtigsten Schlüssel- erhielt Bob Woodwards Betrach- akteure, die er in ihren institu- tung des außen- und sicherheits- tionalisierten Rollen innerhalb politischen Entscheidungs- des Entscheidungssystems un- prozesses der Bush-Adminis- tersucht, die er aber auch hin- tration durch den Beginn des sichtlich ihrer individuell-per- Irak-Krieges im März 2003 eine sönlichen (Durchsetzungsvermö- erneute und dramatische Ak- gen, Charisma, Charme, Glaub- tualität. würdigkeit, Rücksichtslosigkeit, physische und psychische Be- „Bush at War – Amerika im lastbarkeit etc.) Möglichkeiten, Krieg“ unterscheidet sich von Entscheidungsprozesse zu be- den vielen anderen, gegenwär- einflussen, beleuchtet. Insofern tig den Buchmarkt geradezu zeichnet Woodward ein ausge- überschwemmenden, auf die sprochen intimes Bild des US- USA in der Ära Bush fokussie- Präsidenten und seiner wich- renden Publikationen durch tigsten Mitarbeiter und Bera- einen geradezu einmaligen Zu- ter. Die Darstellung der Attitü- gang des Autors zu den Entscheidungszentren den und Positionen etwa von Vizepräsident in Washington. Woodward konnte die Pro- Richard Cheney, Verteidigungsminister Donald tokolle von über 50 der streng vertraulichen Rumsfeld, Außenminister Colin Powell und Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice zeigt, auswerten, in denen die wichtigsten Entschei- dass nicht immer die alte Formel „where you dungen des Anti-Terror-Krieges diskutiert und stand, depends on where you sit“ politische getroffen wurden. Außerdem führte der Autor Grundhaltungen der einzelnen Ressorts in- Interviews mit über 100 Personen, die an der nerhalb einer Administration erklären kann, Vorbereitung und Durchführung des Krie- sondern dass persönliche Faktoren wie etwa ges beteiligt waren, darunter Mitglieder des die Auseinandersetzungen zwischen „Falken“ Kriegskabinetts, Mitarbeiter des Weißen und „Tauben“ eine wichtige Rolle spielen. Hauses und Beamte aus den Ministerien für Innerhalb des Kriegskabinetts, so Woodward Äußeres und Verteidigung sowie aus dem CIA. in diesem Zusammenhang, bilden die Hard- Sogar Präsident Bush selbst konnte Bob liner Cheney und Rumsfeld „eine Art A-Mann- Woodward mehrmals interviewen, unter schaft“, während Multilateralist Powell ledig- anderem in einem zweieinhalbstündigen Ge- lich das „B-Team“ repräsentiert. Im Streit der spräch im August 2002 auf Bushs Ranch in Exponenten der beiden Lager komme es Crawford, Texas. „Der Präsident“, so notierte ständig zu einem „Kampf um das Herz und Woodward, „gab präzise, oft sehr ausführliche den Verstand des Präsidenten“, während die- Antworten über seine Reaktionen und die ser versucht, „seine unilateralistischen Nei- Überlegungen, die hinter seinen wichtigsten gungen mit einigen internationalen Realitäten Entscheidungen und Wendepunkten in die- zu versöhnen“. sem Krieg standen.“ George Bush, und das ist vor dem Hintergrund Woodward, Pulitzerpreisträger und seit vielen der durch den Irak-Krieg neu entflammten Jahren bei der „Washington Post“, ist nicht Frage nach dem Denken und Handeln der irgendwer in der US-amerikanischen Haupt- Bush-Administration im Ausnahmezustand stadt, sondern gilt als einer der führenden und von immenser Bedeutung, wird von Wood- einflussreichsten Journalisten des Landes. ward als führungsstarker und entscheidungs- Zusammen mit seinem damaligen Kollegen freudiger Präsident dargestellt, dem das

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 118 Das aktuelle Buch

Tauziehen und die Streitereien unter seinen Rumsfeld, passiv bei Powell, der nicht auf wichtigsten Beratern zuwider sind. Im Ge- einen weiteren Krieg aus war“. gensatz zu seinem Vater, der den Begriff der Vision oder dieses „Visionsdingsda“ als Wer einen Vergleich ziehen möchte zwi- wenig hilfreich verspottet hatte, sagte schen den amerikanischen Entscheidungs- George Bush im Interview mit Bob Wood- prozessen im amerikanisch-irakischen Kon- ward wörtlich: „Visionen sind eine wichtige flikt von 1990/91, der in einen begrenzten, Sache ... Ich handle nicht nach Lehrbüchern, durch die UNO autorisierten Waffengang ich handele aus dem Bauch heraus.“ Aus mündete, einerseits und der zu einem Krieg diesem Vertrauen in die eigenen Instinkte ohne UNO-Mandat eskalierten Irak-Krise erklärt sich sowohl seine Spontaneität und von 2002/2003 andererseits, dem ist ne- Entscheidungsfreudigkeit als auch sein Ver- ben der Lektüre von „Bush at War“ ein Blick trauen in die eigene Kompetenz: „Eigentlich in Bob Woodwards im Jahr 1991 vorgeleg- halte ich mich persönlich für einen recht te Studie „The Commanders“ zu empfehlen. ordentlichen Diplomaten, aber niemand teilt In gewisser Weise stellt diese Studie näm- diese Ansicht.“ lich einen Vorläufer von „Bush at War“ dar, zumal Woodward in „The Commanders“ die Interessant ist im Übrigen, dass Bush nicht Vorbereitungen der USA unter dem dama- mit denjenigen übereinstimmt, die meinen, ligen Präsidenten George H.W. Bush zur sein Vater hätte 1991 den Krieg gegen Vertreibung Iraks aus Kuwait minutiös Saddam Hussein zu früh beendet. Sei- rekonstruiert. Im Vorwort schrieb Bob nem Vater seien durch die UN-Resolutio- Woodward am 14. März 1991: „The decision nen, die lediglich die Vertreibung des Irak to go to war is one that defines a nation, aus Kuwait legitimierten, Grenzen gesetzt both to the world and, perhaps more gewesen. Aus den Protokollen des Nationalen importantly, to itself. There is no more serious Sicherheitsrates hat Woodward entnehmen business for a national government, no more können, dass, nachdem Bush nach den accurate measure of national leadership.“ Dies Terrorattacken des 11. September zunächst gilt nicht nur allgemein auch heute noch, entschieden hatte, den Irak nicht sofort zu sondern es hat sich mit dem Beginn des Anti- attackieren, die Frage im Kriegskabinett immer Terror-Krieges auf dramatische Weise ak- präsent geblieben war: „aktiv bei Cheney und tualisiert.

Reinhard C. Meier-Walser Buchbesprechungen

Trömmer, Markus: Der verhaltene Gang in Konflikte, situationsbedingte Momente), weni- die deutsche Einheit. Das Verhältnis zwi- ger die Vielfalt innerhalb der SED, der SED- schen den Oppositionsgruppen und der PDS (so hieß die Partei zwischen Mitte De- (SED-)PDS im letzten Jahr der DDR. Frank- zember 1989 und Anfang Februar 1990), furt a.M.: Peter Lang, 2002, 328 Seiten, schließlich der PDS. Seine Auffassung liegt auf 2 39,90. der Linie derer, die mehr Unterschiede (so etwa Dirk Rochtus in seiner Arbeit über das Der schillernde Begriff des „dritten Weges“ Konzept des „dritten Weges in der DDR) als macht immer wieder einmal, ob in politischer, Gemeinsamkeiten (so Rainer Land und Ralf kultureller oder wirtschaftlicher Hinsicht, die Possekel in ihrer Studie über die gegen- Runde. Offenbar ist er unverwüstlich. Viele sätzliche Deutung der DDR durch SED-Refor- glauben, es könne eine sinnvolle Synthese mer und Bürgerrechtler) zwischen den Rich- zwischen Sozialismus und Kapitalismus ge- tungen sehen. ben. Dieser Begriff spielte während der demo- kratischen Revolution 1989/90 eine besondere Beide Werke werden übrigens zu wenig Rolle. Sowohl die Repräsentanten der Bürger- herangezogen. Trömmer wäre noch mehr bewegungen als auch die Reformer der SED Originalität zuzusprechen, hätte er das Drei- bzw. dann später auch die Kräfte der PDS ecksverhältnis Opposition, SED/PDS und beriefen sich auf ihn. Gleichwohl vertraten Bevölkerung beleuchtet. Cum grano salis gilt: diese beide Richtungen einen unterschied- War die Bevölkerung vor der „Wende“ klar auf lichen dritten Weg. der Seite der oppositionellen Kräfte, so änderte sich dies in den Neunzigerjahren: Die Dieser Begriff des „dritten Weges“ spielt in der PDS verdoppelte fast ihren Stimmenanteil, Dissertation von Markus Trömmer eine Rolle. bei den Grünen ging er um die Hälfte zu- Mit dem Verhältnis der Oppositionsgruppen rück. Bürgerrechtler erfreuen sich im Osten zur SED bzw. PDS vornehmlich im letzten Jahr Deutschlands bekanntlich keiner sonderlich der DDR befasst sich seine chronologisch und positiven Rénommes. Sie rufen bei man- quellennah angelegte Arbeit; sie sucht, die chen Bürgern, die „mitgemacht“ haben, ein Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen schlechtes Gewissen hervor. beiden Kräften herauszufiltern. Vor dem No- vember 1989 standen sich SED und oppo- Ein Grundfehler unterläuft dem Autor bei der sitionelle Kräfte konträr gegenüber; danach Analyse der SED. Über die Zeit unter Egon kam es zu Annäherungen (etwa bei der Zu- Krenz heißt es: „Die Führungsrolle der SED sammenarbeit am Zentralen Runden Tisch in wurde nicht in Frage gestellt, womit der Berlin), jedoch keinesfalls zu größeren Über- Anspruch einer Reformierung des Systems einstimmungen, wenngleich die offenen Geg- bereits verwirkt war. Eine ideologische ner der SED eine (schnelle) Einheit ebenso Neupositionierung der SED fehlte; stattdessen nicht wünschten und Teile der PDS von einem erfolgte immer noch eine einseitige ideo- „dritten Weg“ sprachen wie Teile der Oppo- logische Ausrichtung auf den Marxismus- sition. Was heute weitgehend in Vergessenheit Leninismus. Krenz behauptete sogar, die SED geraten ist, bringt der Autor mit Blick auf die habe die politische Wende eingeleitet. Oppositionsströmungen auf den Punkt – ungeachtet aller Heterogenität: „Dabei stell- Die Krisenanalyse wurde auf die Honecker-Ära ten die Gruppen nicht die Existenz der DDR beschränkt; keineswegs wurden systemim- als Alternative zur Bundesrepublik in Frage, manente Fehler zugegeben. Schließlich fehlte sondern [sie] wollten die dort vorherrschen- ein tragfähiges Wirtschaftskonzept, sodass de Ausprägung des Sozialismus erneuern“ mögliche Reformansätze von vornherein zum (S.65). Scheitern verurteilt waren“ (S.86). Die Diag- nose ist richtig beschrieben, doch geht die Trömmer zeigt die Vielfalt der Oppositions- Auffassung fehl, dass eine Reform des Sys- gruppen auf (André Brie von der PDS be- tems dieses gerettet hätte. Im Gegenteil: hauptet im Interview mit dem Verfasser, er sei Dadurch wäre der Untergang beschleunigt der Autor der wichtigsten außen- und si- worden. cherheitspolitischen Papiere dieser Gruppie- rung gewesen!) und die Ursachen dafür (u.a. Trömmer hat 26 Interviews mit Bürgerrechtlern unterschiedliches Verständnis von demokra- (u.a. , , tischer Legitimität; Zielrichtung des Engage- Stephan Hilsberg, Vera Lengsfeld, Ludwig ments; personelle Konstellationen; regionale Mehlhorn, Günter Nooke, Edelbert Richter,

Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 120 Buchbesprechungen

Wolfgang Ullmann) und Personen aus der SED Opitz, Peter J.: Menschenrechte und inter- bzw. PDS gemacht (u.a. André Brie, Heinrich nationaler Menschenrechtsschutz im 20. Fink, , Rainer Land). Deren Po- Jahrhundert. Stuttgart: UTB-Verlag, 2002, sitionen fließen gut in die Argumentations- 420 Seiten, 2 26,90. muster der Studie ein. Manche offenen Fragen lassen sich so klären. Unter den Interviewten Menschenrechte und internationaler Men- befinden sich auch einstige Oppositionelle, die schenrechtsschutz im 20. Jahrhundert ist der zu PDS-Repräsentanten mutiert sind (u.a. Titel eines neu konzipierten Buches des Christina Schenk und Marion Seelig). Münchner Politikwissenschaftlers Peter J. Opitz: Die chronologische Darstellung wird von Den Annäherungen an die PDS (z.B. in der einem umfassenden Dokumententeil ergänzt. u.a. von Bürgerrechtlern wie Hans-Jürgen Fischbeck, Heiko Lietz, Edelbert Richter, Ausgehend von den ideengeschichtlichen und Friedrich Schorlemmer unterzeichneten „Er- rechtlichen Ursprüngen erörtert der Autor die furter Erklärung“ vom Januar 1997, die für eine Entwicklung und Entfaltung der Menschen- Regierungsbeteiligung der PDS im Bund rechtsidee im Völkerrecht seit der Entstehung plädierte) stehen Wandlungen in die andere des Völkerbundes. Zu den frühen Feldern, in Richtung gegenüber. Trömmer erwähnt den denen internationale Rechtsnormen zum Übertritt ehemaliger Bürgerrechtler im De- Schutz Einzelner festgelegt wurden, zählen zember 1996 zur CDU (neben Lengsfeld und neben dem Minderheitenschutz und dem Nooke u.a. und Ehrhart Neu- Mandatssystem des Bundes vor allem seine bert). Nooke und Neubert waren parteilos, Aktivitäten zum Flüchtlingsschutz sowie die Barbe gehörte der SPD, Lengsfeld den Grünen Instrumentarien der zur gleichen Zeit gegrün- an. Im Interview mit dem Autor sieht sie einen deten Internationalen Arbeitsorganisation. „Prozess der Selbstreinigung“ (S.297) bei der Erfreulich ist das Eingehen auf die oft CDU im Osten. vernachlässigten privaten und offiziellen Initiativen zur Schaffung von Menschenrechts- Um auf den Ausgangspunkt zurückzukom- instrumenten vor und während des Zweiten men: Berechtigt ist die Kritik daran, dass Weltkrieges. Betrachtet wird ebenso die weder die Oppositionsgruppen noch die PDS- Diskussion über Menschenrechte während der Repräsentanten klarlegen konnten, wie der Ausarbeitung der UN-Charta und die Aktivi- dritte Weg konkret zu gestalten sei. Die in- täten der Vereinten Nationen, zunächst im formative Arbeit hätte an Systematik durch Bereich der Kodifizierung, später durch die eine Auffächerung der verschiedenen Formen Schaffung von außervertraglichen und ver- dieses vermeintlichen Königsweges gewon- traglichen Beschwerdeverfahren und anderen nen, was freilich darauf hinausgelaufen wäre, Mechanismen. Als spezifisches Problem wird die chronologische Struktur der Studie zu das konzeptionell und politisch heftig durchzubrechen. umstrittene Selbstbestimmungsrecht der Völ- ker in seiner historischen Dimension im So fehlt es dem Vergleich zuweilen etwas an Zusammenhang mit der Entkolonialisierung Stringenz. Die zeitgeschichtliche Dimension erörtert. Daneben findet sich eine Betrachtung wird besser abgehandelt als die politikwis- des „Rechts auf Entwicklung“ und sonstiger senschaftliche. Dem Autor gelingt es, die Fak- gruppenbezogener Menschenrechte der ten sauber zu recherchieren. Umso verwun- dritten Generation. Bevor er zuletzt auf die derter ist man, mehrfach zu lesen, der PDS sei regionalen Instrumente und Institutionen des 1990 der Einzug in den Bundestag mittels der Menschenrechtsschutzes eingeht, behandelt Direktmandate gelungen (S.254; S.286). Die der Autor einzelne Entwicklungen des inter- PDS erreichte seinerzeit nur ein Direktmandat nationalen Menschenrechtsschutzes nach (durch Gregor Gysi). Sie zog aber in den dem Ende des Ost-West-Konflikts. Hier finden Bundestag ein, weil es eine gesondert gel- sich – weniger rechtliche als vielmehr politik- tende Sperrklausel für Ost und West gab. wissenschaftliche – Ausführungen zum Kon- zept der Humanitären Intervention sowie eine Insgesamt, und dieses Urteil sollen die Darstellung der 1993 eingerichteten Position verschiedenen Mäkeleien nicht verwischen, eines Hohen Kommissars für Menschenrechte handelt es sich um eine sehr gut recherchierte der UN, seines Mandats und der Entwicklung und flüssig geschriebene Studie zum Verhalten der für Menschenrechtsfragen zuständigen der Oppositionsgruppierungen und der PDS Abteilung des UN-Sekretariats. Dargestellt 1989/90. Auch der kundige Leser erfährt wird schließlich die Entwicklung der inter- Neues. nationalen Strafgerichtsbarkeit und des Völker- strafrechts von den Kriegsverbrechertribunalen Eckhard Jesse in Nürnberg und Tokio bis hin zum mittlerweile Buchbesprechungen 121 eingerichteten ständigen Internationalen texten. Mit der Dokumentation und einer Strafgerichtshof. umfänglichen Bibliografie ist es ein wichtiges Hilfsmittel für jegliche weiter gehende Be- Insgesamt vermag dieser Teil einen sehr guten schäftigung mit dem Thema. Überblick über die Entwicklung der Men- schenrechte und entsprechender Schutz- Dieter Blumenwitz mechanismen zu geben, insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen. Dabei liest sich das Buch gelegentlich wie eine Kritik an der mangelnden Effektivität der Weltorganisa- tion im Bereich des Menschenrechtsschutzes. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Nur am Rande scheint durch, dass es letztlich Zur Ideengeschichte eines Staates. Pader- die Staaten sind, die in den verschiedenen born etc.: Schöningh Verlag, 2001, 305 Seiten, Organen über Erfolg oder Misserfolg der 2 25,20. Maßnahmen entscheiden, und diese oft nicht bereit sind, ihre politischen Interessen der Das Buch stellt eine Reihe von 14 Aufsätzen Durchsetzung von Menschenrechten zu op- des Verfassers zu diesem Leitthema zu- fern. An mancher Stelle wäre eine bessere sammen, fünf Aufsätze insgesamt werden hier Darstellung der Praxis und ihrer Hintergründe zum ersten Mal abgedruckt, die anderen sind, zu wünschen gewesen, gibt es doch gerade überwiegend in den 90-er Jahren, bereits in diesem Bereich häufig Weiterentwicklungen veröffentlicht worden. Die Texte erschöpfen und Abweichungen vom geschriebenen Recht. das Thema nicht, wie der Verfasser selbst Leider findet sich, angesichts des be- ausführt, und sie haben auch in sich eine trächtlichen thematischen Umfangs des Gewichtung, die der Bedeutung der dar- Buches wohl unvermeidlich, so manche gestellten Phänomene für den Gang der Ungenauigkeit im Text. Zum Teil wurden preußischen Geschichte nicht unbedingt neuere Entwicklungen übersehen wie z.B. die entspricht: So behandeln fünf Beiträge allein lang diskutierte Reform des außervertrag- die eigenwillige Vorstellungswelt des Königs lichen Beschwerdeverfahrens der UN-Men- Friedrich Wilhelm IV., und ein Beitrag geht schenrechtskommission oder das 1998 noch einmal gesondert auf das Verhältnis verabschiedete Protokoll über einen Afri- Bismarcks zu diesem König ein. Dies hängt kanischen Menschenrechtsgerichtshof. natürlich auch damit zusammen, dass diese Thematik nach Auffassung des Autors bis jetzt Seinen besonderen Wert bezieht das Buch aus noch nicht hinreichend behandelt worden ist. dem umfangreichen Dokumententeil. Während neuere Instrumente und Stellungnahmen oft Er unternimmt dies also mit profunder Ge- im Internet für alle zugänglich und die gän- lehrsamkeit, sodass die opulenten Fußnoten gigen Konventionen in den maßgeblichen sich mitunter wie Bleigewichte an den Text Textsammlungen abgedruckt sind, ist der hängen. Die Darstellungsweise ist strikt ob- Zugriff gerade auf Dokumente aus den jektiv, der Autor versagt es sich dankens- Anfängen des internationalen Menschen- werterweise, das in Deutschland zur Emo- rechtsschutzes oft schwierig. Diese Lücke tionalisierung taugende Thema „Preußen“ in schließt das Werk, das unter anderem die 14 irgendwelche agitatorische Zusammenhänge Punkte des amerikanischen Präsidenten zu bringen. Dafür vermeidet der Stil allerdings Wilson, verschiedene offizielle und private auch jegliche Ironie, plastische Lebendigkeit Entwürfe und Deklarationen zum Menschen- oder einen gewissen essayistischen Charme, rechtsschutz aus der Zwischenkriegszeit und kommt vielmehr zwar nicht unverständlich, Vorarbeiten zur UN-Charta einschließlich der aber doch recht akademisch daher. Es ist „Erklärung der Vereinten Nationen“ vom 1. schon oft bemerkt worden und drängt sich Januar 1942 wiedergibt. Darüber hinaus sind auch hier wieder auf, dass die Geschichts- wichtige Resolutionen der UN-Generalver- vergessenheit der Deutschen wohl nicht nur sammlung, des Wirtschafts- und Sozialrates mit der traumatisierenden Erlebenswelt der und anderer Organe zu den behandelten letzten Generationen zusammenhängt, son- Themenkomplexen abgedruckt. dern auch mit der Darstellungsweise, die sich große Teile der deutschen Historikerzunft Das Buch gibt Studenten der politischen schuldig zu sein glauben. Wissenschaften und des Völkerrechts sowie jedem Interessierten eine flüssig lesbare Ein- Der Band wird eingeleitet mit dem Hinweis, führung in den Internationalen Menschen- eine wie komplizierte und gebrochene Sache rechtsschutz und ermöglicht das unmittelbare die weitgerühmte Toleranz im Staate Fried- Arbeiten mit den zumeist englischen Original- richs des Großen doch gewesen ist: Einerseits 122 Buchbesprechungen scheute der König sich nicht, die Jesuiten der Zeitgeist, sondern auch der Umstand, nach Schlesien einzuladen, obwohl ihr Orden dass der König sich andererseits in bür- gerade vom Papst aufgehoben worden war, gerlichem Habitus abbilden ließ, ganz als ein andererseits fand die Freiheit der Untertanen, Bürgerkönig nach dem Geschmack der Bie- verkürzt gesprochen, dort ihr Ende, wo die dermeierzeit (übrigens ganz wie der baye- staatlichen Interessen in der Definition des rische König Max I. Joseph auf einigen aufgeklärten Monarchen berührt wurden. Gemälden, die heute noch in der Bildungsstätte der Hanns-Seidel-Stiftung Die religiöse Toleranz war zwar auch weltan- Wildbad Kreuth hängen). schaulich gemäß der Naturrechtslehre fundiert, aber Friedrich achtete sehr darauf, dass ihre Was ist die Nutzanwendung dieses zweifels- Ausübung dem fiskalisch verstandenen Nut- ohne originellen Persönlichkeitsbildes? Die zen des Staates zugute kam. fatale Unentschiedenheit des Königs in den wichtigsten deutschlandpolitischen Fragen, Der nächste Beitrag behandelt die verfas- seine Ablehnung der Kaiserkrone, die ihm sungspolitische Entwicklung zur Zeit der Stein- durch eine Delegation der Paulskirchen- Hardenbergschen Reformen, die trotz aller versammlung angetragen wurde, weil sie von Aufbruchsstimmung zunächst nur zu den den liberalen Verfassungsfreunden kam, die Provinzial-Landständen von 1823 führten, wo- in seinen Fantasien kein Hausrecht hatten. mit König Friedrich Wilhelm III. sein Ver- Schließlich seine Unfähigkeit, Preußens fassungsversprechen vom Mai 1815 ja wohl Gleichberechtigung im Deutschen Bund gebrochen hatte. gegenüber Österreich zu betreiben, da er vom Glanz der ins Heilige Römische Reich und Die alt-absolutistisch befangene, trockene und damit in sein idealisiertes Mittelalter zurück- schwunglose Natur dieses Monarchen steht weisenden habsburgischen Kaiserkrone betört dem romantischen Schwärmertum seines war. Fazit: Friedrich Wilhelm IV. dachte im Nachfolgers, eben Friedrich Wilhelms IV. Grunde unpolitisch! (1840–61) diametral entgegen. Dieser ver- mittelt den Eindruck, nach Friedrich dem Die anschließend im Wesentlichen nach 1861 Großen der intelligenteste aller Regenten aus angesiedelten Beiträge kreisen um Bismarck, dem Hause Hohenzollern gewesen zu sein. Moltkes politisches Weltbild, die wilhelmini- Der König war musisch begabt und sehr sche Zeit, den engagierten Erlanger Preußen- interessiert, hat sogar ein (hier eigens be- Historiker Hans-Joachim Schoeps („Geistes- sprochenes) Romanfragment „Die Königin geschichte in interdisziplinärer Sicht“) und von Borneo“ hinterlassen. Aber der Autor lässt schließlich um das Preußenbild nach 1945, in keinen Zweifel daran, dass seine politischen der Bundesrepublik wie in der DDR. Das Vorstellungen gründlich anachronistisch wa- Schlagwort von den „preußischen Tugenden“ ren: Er wollte die Spitze eines „ständisch- wird aufgenommen: Die vertrügen sich offen- organischen“ Staatswesen sein, in dem, wie bar nicht mit unserer aktuellen Beliebigkeits- es schon die frühen Romantiker, z.B. Novalis, und Spaß-Demokratie. Aber es fehlt nicht der konzipiert hatten, altes Herkommen zusam- berechtigte Hinweis, dass diese Tugenden men mit wechselseitiger Liebe zwischen König nicht um ihrer selbst willen gepflegt wurden, und Untertanen patriarchalisches Glück sondern, um dem recht uneinheitlichen Staat verbürgen sollte. So war es angeblich im der Hohenzollern die innere Konsistenz einer Mittelalter gewesen – man darf hinzufügen: in disziplinierten und den Staatszwecken zu- einem maßlos idealisierten, gewissermaßen verlässig dienenden Untertanenschaft zu „nazarenischen“ Mittelalter. Hier wurde seine geben. Zu Recht ist eingewendet worden, mit literarisch-romantische Bildung dem König „preußischen Tugenden“ ließe sich auch ein zum Verhängnis. KZ betreiben.

Kein Absolutismus, aber auch kein moderner Damit wird drastisch bestätigt, dass die Liberalismus mit Parlament und Bürgerfreiheit Tugenden instrumentalen Charakter haben. war intendiert, jede Verfassung, die sich in die Aber wo sich im Staatsleben ein zu billigender Harmonie zwischen Fürsten und Untertanen Zweck zeigt, da wären sie doch wieder gut am hineindrängte, galt nur als ein „Stück Papier“. Platze, und ihre Disqualifizierung als „Sekundärtugenden“ ist in einem solchen Falle Die Majestät selbst erlebte ihr Gottesgna- sinnlos, denn wir wissen : „Wer recht zu wir- dentum in der Praxis durch mystische ken denkt, muss auf das beste Werkzeug Inspirationen, die ihr mitteilten, was im gege- achten“. benen Falle die weiseste Entscheidung war. Solchen Träumereien widersprach nicht nur Bernd Dieter Rill Buchbesprechungen 123

Rothermund, Dietmar: Krisenherd Kasch- und mehr zu einem für keine Seite ge- mir. Der Konflikt der Atommächte Indien winnbaren „low intensity war“, einen Krieg mit und Pakistan. München: Beck Verlag, 2002, niedriger Intensität, hoher Kräftebindung und 150 Seiten, 2 9,90. immens hohen menschlichen Opfern.

Im Frühjahr 2002 gewann der Konflikt um Der andere „Turning Point“ im Kaschmir- Kaschmir wieder einmal an Brisanz. Die konflikt ist der Beitritt Indiens und Pakistans beiden Atommächte Indien und Pakistan zum „Klub der Atommächte“ im Jahr 1998. Bis standen kurz vor einem Krieg. Lediglich die dato hatten Indien und Pakistan den Konflikt nachhaltige Intervention renommierter Politi- um Kaschmir als bilateralen Konflikt be- ker und besonnenes Handeln der ver- trachtet. Nun rückte der Dauerkonflikt in den antwortlichen Politiker verhinderten einen Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit, da sich nun Atomkrieg, der zweifellos nicht nur für beide nicht mehr nur zwei konventionell hoch- beteiligten Staaten, sondern für die gesamte gerüstete, sondern zwei atomar bestückte Region verheerende Folgen gehabt hätte. Staaten gegenüberstanden. Der Konflikt war nun „internationalisiert“. Wie bei der „Krieg-in- Dietmar Rothermund, ein ausgewiesener Sicht-Krise“ deutlich wurde, zeigten die USA, Südasien-Spezialist, hat die „Krieg-in-Sicht- aber auch China und Russland außer- Krise“ zum Anlass genommen, das erste ordentliches Interesse an einer Deeskalation deutschsprachige Buch zu den Hintergründen, des indisch-pakistanischen Konfliktes. Ursachen und Dynamiken des Dauerkonflikts um und in Kaschmir vorzulegen. Hierbei setzt Zum Schluss skizziert Dietmar Rothermund er nicht erst beim ersten Krieg an, den Indien die möglichen Szenarien der weiteren Kon- und Pakistan um Kaschmir im Jahre 1947 fliktentwicklung: Beibehaltung des Status quo, austrugen, sondern geht zurück in die Bri- i.e. fortgesetzter Konflikt zwischen beiden tische Kolonialzeit, in der die Grundlagen für Atommächten sowie terroristischen Vereini- den Konflikt gelegt wurden. Er nennt hier gungen, oder Durchführung einer Abstimmung zwei Gründe: Die von den Briten eingeführte über den Status Kaschmirs unter der Aufsicht Verfassung, die ethnische Differenzen eher der Vereinten Nationen. Hierbei macht er deut- verstärkte denn verminderte, sowie der im lich, dass beide Szenarien ihre Gefahren- Zuge der Entkolonialisierung ausgearbeitete potenziale beinhalten: Im ersten Falle wäre Teilungsplan, der Kaschmir zwischen Indien eine weitere Radikalisierung der Islamisten zu und Pakistan aufteilte. erwarten; im letzteren Falle wäre es fraglich, ob alle Konfliktparteien das Abstimmungs- Der Autor, ein emeritierter Historikprofessor ergebnis akzeptieren würden. Eine endgültige von der Universität Heidelberg, beschränkt Lösung für den Kaschmir-Konflikt, so macht sich jedoch nicht nur auf die offizielle Kriegs- der Autor deutlich, ist jedoch in naher Zukunft geschichte. Ausführlich stellt er die Kriege von nicht erzielbar. 1965 und 1971 dar, zwei klassische zwi- schenstaatliche Konflikte im Zeitalter des Ost- Das Buch „Krisenherd Kaschmir“ ist eine über West-Konfliktes. Der Autor beleuchtet auch weite Teile spannende und gut lesbare die innenpolitische Entwicklung des indi- Einführung, geschrieben von einem ausge- schen Kaschmirs, die wesentlich von Sheikh sprochenen Kenner der Region. Es weist Abdulla, dem „Löwen von Kaschmir“, und jedoch einige Schwächen auf. Da es in relativ seinen Nachkommen geprägt ist. Der Abdulla- kurzer Zeit verfasst ist, fehlen an einigen Dynastie gelingt es über mehrere Jahrzehnte Stellen Begriffserklärungen und Verweise auf nicht, eine nachhaltige Demokratisierung und die im Buch vorhandenen Karten. Zuweilen ein gesundes Wirtschaftswachstum in dem scheint der Autor seine Aussagen weniger auf indischen Teil der Konfliktregion zu erzielen. Fakten, denn auf Vermutungen zu stützen. Infolge dessen entstehen in den 1980er-Jah- Aussagen wie der pakistanische Präsident ren islamistische Terrorgruppierungen, die „war wohl nur zornig darüber“ (S.52), sind durch „Glaubenskrieger“ aus Afghanistan und nicht unbedingt objektiv begründet. Hier wä- Pakistan inspiriert werden. ren Quellenverweise angemessen gewesen.

Dies ist einer der beiden „Turning Points“ im Positiv hervorzuheben ist, dass Dietmar Konflikt um Kaschmir: Am Konflikt sind nun Rothermund den Konflikt in und um Kaschmir nicht mehr nur staatliche, sondern auch keineswegs auf einen „Religions“- bzw. substaatliche Akteure (Terroristen, Untergrund- „Zivilisationskrieg“ zwischen Hindus und Mus- kämpfer) beteiligt, die auch mit staatlichen lims reduziert, sondern vielmehr profunde die Akteuren, z.B. der pakistanischen Regierung, Hintergründe des Konfliktes beschreibt, die kooperieren. Der Konflikt entwickelt sich mehr vielfältigen Konfliktursachen benennt und auf 124 Buchbesprechungen die möglichen zukünftigen Konfliktdynamiken Diskurs und Klima des Nahen Ostens prä- eingeht. Das Buch ist eine unverzichtbare judiziert dies aber schon im Ansatz die Einführung für alle, die den Dauerkonflikt um Unrechtmäßigkeit der zionistischen Ansprüche das „Paradies auf Erden“, wie Dietmar Roth- auf dieses Eretz Israel. Und dass die „Nach- mund das Kaschmir-Tal nennt, besser ver- kommen Abrahams“ nicht nur die Söhne stehen wollen. „Isaaks“, sondern auch die „Söhne Ismaels“ „umfassten“, verleiht den Ansprüchen der Marie-Carin von Gumppenberg Palästinenser, die sich wie alle Araber als Nachfahren eben dieses Ismael betrachten, bezüglich des Heiligen Landes in diesem Kontext schon fast biblische Autorisation.

Herz, Dietmar/Steets, Julia: Palästina. Gaza Im Gegenzug leugnet wiederum die banale und Westbank. Geschichte, Politik, Kultur. Feststellung, dass die ersten zionistischen München4: Verlag C.H Beck, 2002, 183 Seiten, Pioniere „ein armes und spärlich bevölkertes 2 9,90. Land besiedelten“ einen aus der Geschichte Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. her ableitbaren Anspruch einer palästinen- Von der osmanischen Eroberung bis zur sischen 'Nation' auf das Territorium von Eretz Gründung des Staates Israel. München: Israel. Dass sich solche Sätze bei Amnon Verlag C.H. Beck, 2002, 439 Seiten, 2 15,40. Rubinstein finden, verwundert, denn der Autor Rubinstein, Amnon: Geschichte des selbst vertritt keine politische Extremposition. Zionismus. Von Theodor Herzl bis heute. Als Repräsentant eines liberalen Zionismus tritt München: Deutscher Taschenbuch Verlag, er in seinem Buch vehement gegen den 2001, 356 Seiten, 2 19,50. Radikalismus national-religiöser Fanatiker an, denen er die Schuld an der Ermordung Rabins Wer sich heute als Leser über die Hin- – in seinem Verständnis nicht das Verbrechen tergründe, die Entstehung, die Geschichte und eines Einzeltäters – und damit auch die am die aktuellen Probleme des Nahostkonfliktes Abbruch des in Oslo begonnenen Friedens- informieren möchte, der wird der Thematik prozesses zuweist. – sofern er danach trachtet, einen möglichst objektiven Standpunkt einzunehmen – mehr Wie der Jurist und Politiker Rubinstein auf der Zeit widmen müssen, als sie die Lektüre eines einen Seite will sich auch Gudrun Krämer, die einzigen Buches erfordert. Denn so wie eine als Professorin Islamwissenschaft an der FU Lösung des arabisch/palästinensisch-israe- Berlin lehrt, nicht von einer Nationalgeschichts- lischen Konflikts, die beiden Seiten gerecht schreibung vereinnehmen lassen. Von der werden könnte, fast unmöglich erscheint, so „Neigung von Zeitgenossen (...) entweder die ist auch das wissenschaftliche Werk, das eine, Juden oder die Araber in den Blick zu nehmen“ den jeweiligen Gegenpositionen gegenüber will sich Krämer distanzieren und die Geschich- wirklich neutrale Gesamtdarstellung anbieten te Palästinas nicht aus einem „Tunnelblick“ könnte, noch nicht geschrieben worden. Zu heraus betrachten. Doch dem Sog der Anzie- sehr scheint dieses Thema vor dem Hinter- hungskraft, mit der im Nahen Osten, wie auch grund der Geschichte und der Schicksale Dietmar Herz und Julia Steets in ihrem Buch ganzer Völker emotional besetzt, als dass sich kritisch feststellen, „historische Argumente“ selbst der Wissenschaftler hier jeglicher herangezogen werden, um den „Anspruch bei- Subjektivität entziehen könnte. Zu schnell wird der Volksgruppen auf das Land zwischen in der Literatur aber aus Subjektivität oft auch Mittelmeer und Jordan“ zu „rechtfertigen“, Subjektion, die unter dem Deckmäntelchen kann sich auch so mancher wissenschaftliche wissenschaftlicher Objektivität auf sehr subtile Betrachter letztlich nicht entziehen. Herz und Weise Bewertungen einfließen lässt. Im Falle Steets hingegen haben dies in ihrer kurzen und des Nahostkonfliktes erkennt der mit der prägnanten Einführung erfolgreich getan, in- Thematik noch nicht vertraute Leser solche dem sie sich auf die wenigen, wirklich fass- Suggestivmethoden denn auch kaum. Dies ist baren historischen Fakten beschränkt haben. z.B. der Fall, wenn wie bei Gudrun Krämer der eher 'harmlose' Hinweis darauf erfolgt, dass Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wahr- schon in biblischer Zeit das „Abraham nehmungen und der Tatsache, dass, wie verheißene Land (…) von ihm und seiner Sippe schon Hugh Trevor-Roper konzidiert hat, auch nicht einmal in Teilen besiedelt oder besetzt“ der „objektivste“ aller Wissenschaftler von worden sei und dass so im Falle „Eretz Israels“ „subjektiver Erfahrung“ „eingefangen“ bleibt, das „besiedelte (…) wiederum nur eine eröffnet so das Lesen eines einzigen Buches Teilmenge des Gelobten Landes“ gewesen sei. zum Nahostkonflikt immer wieder nur eine Im politischen und emotional aufgeheizten „Tunnelperspektive“. Eine, die unterschied- Buchbesprechungen 125 lichen Positionen miteinbeziehende 'Luftauf- Knesset-Wahlen Anfang 2003 wieder zeigte, nahme' und '-perspektive' hingegen erschließt wie sehr sich die Rechte unter Ariel Sharon auf sich dem Leser – wenn überhaupt – nur auf ihren besten Wahlkampfhelfer, den islamisti- dem Wege einer Literaturschau. Im Zuge einer schen Terror, verlassen kann. Eingrenzung der Literaturflut zum Thema Nahost bleibt die Lektüre der Bücher von Auf der anderen Seite wird bei Amnon Rubin- Dietmar Herz und Julia Steets, von Gudrun stein auf beklemmende Weise erkennbar, wie Krämer sowie von Amnon Rubinstein so vor sehr sich diese politische Orientierung in allen Dingen deswegen empfohlen, weil sich einem, dem religiösen Segment der israeli- diese nicht nur in inhaltlicher und themati- schen Gesellschaft schon vor dem 4. No- scher, sondern auch, was die „Palästina“- vember 1995 verändert hatte und hier die Studien von Krämer und Herz/Steets anbe- Voraussetzungen für die Ermordung Rabins trifft – in chronologischer Hinsicht ergänzen. geschaffen hatte. Für Rubinstein war so diese So erstreckt sich die Betrachtung von Gudrun Tat „weder ein einzelner Schuss noch ein Krämer auf den Zeitraum bis zur Staats- einzelnes unvorhersehbares Ereignis, das von gründung Israels, während Herz und Steets einem einzelnen verstörten Menschen verübt schwerpunktmäßig nach 1948 einsetzen. wurde.“ Beide Bücher wiederum kontrastieren, was die Perspektiven und die Thematik anbetrifft, mit Bei ihm beginnt die Spurensuche nach den den Darstellungen von Amnon Rubinstein. Hintergründen dieses Verbrechens im Jahre So stehen sich mit diesen Büchern die 1967, als sich im Nachhinein des Sechs- Geschichte(n) des Zionismus und „Palästinas“ tagekrieges die Siedlerbewegung des Gush gegenüber. Das Manko, dass dabei die je- Emunim zu bilden begann. An den in diesem weils andere Perspektive zu kurz kommt, Krieg von der israelischen Armee einge- kompensieren Autoren wie Herz und Steets nommenen Orten im Westjordanland und durch ihren kritischen Ansatz. So zeigen sie damit an Plätzen, „deren Name allein biblische auf der einen Seite, wie die israelische Erinnerungen hervorrief“, begann sich für ihn Besatzungspolitik auf der Westbank und im die säkulare zionistische Idee zu pervertieren. Gaza-Streifen und deren ökonomische und Mit dem „rationalen, säkularen und liberalen“ soziale Folgen für die dortige Bevölkerung zu Gedankengut eines Theodor Herzl brach die Auslösern der Intifada der Jahre 1988 folgen- Siedlerbewegung. Und so wurde aus der de wurden. Umso deutlicher aber wird bei „Heimstatt“ für die Verfolgten und Opfer des ihnen, wie die Abwendung vom Terror und Antisemitismus nun im Denken des Gush ein die Hinwendung zu Formen des zivilen Land, das durch „göttlichen Willen“ und Ungehorsams im Verlauf dieser Intifada der „gemäß der Thora“ „übereignet“ worden war. PLO den Weg nach Oslo ebneten. Deutlich Rubinstein führt eine Reihe von Dokumenten wird aber auch, wie sehr gerade der erneute an, die den Leser diesen, im Widerspruch zu Terror des Jihad oder der Hamas diese den geistigen Fundamenten des talmudi- Errungenschaften wieder bedrohen. Vor dem schen Judentums sich vollziehenden Wandel Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen, in nachvollziehen lassen und in ihrer Deutlichkeit denen häufig allein der Politik israelischer auch emotionale Verunsicherung hinterlassen. Rechtsregierungen die Schuld an den nicht Diese Deutlichkeit lässt manche der immer mehr enden wollenden Selbstmordanschlägen wieder gegen ähnliche Veröffentlichungen zugewiesen wird, ist es ein Verdienst dieser erhobenen Einwände, dass Publikationen beiden Autoren, gerade hier Ursache und dieser Art in einem nichtjüdischen Umfeld sehr Wirkung nicht miteinander vertauscht zu schnell antisemitische Vorurteile hervorrufen haben. So ist bei ihnen nachzulesen, wie zu könnten, als nicht unberechtigt erscheinen. Mitte der 90er-Jahre, nach der Ermordung Doch Rubinstein will für eine Mehrheit der Rabins und damit unter der Regierung Peres säkularen Juden und Israelis sprechen und schon islamistischer Terror einsetzte und aufzeigen, dass das Fatale an der von ihm damit „die Friedensgespräche immer wieder geschilderten Entwicklung darin besteht, dass zu unterbrechen und die Umsetzung der es einer politischen Randbewegung gelungen Abkommen zu verzögern“ begann. Auch wird ist, immer mehr Einfluss auf die Mehrheits- hier darauf verwiesen, wie sich dieser Terror politik zu erlangen. Ein ausgeprägtes und „auf die politische Orientierung der israeli- vorurteilsfreies Verständnis jüdischer Ge- schen Gesellschaft“ auswirkte und damit die schichte scheint jedoch unverzichtbare Voraussetzungen für den Wahlsieg Benjamin Voraussetzung zu sein, wenn es darum geht, Netanjahus im Mai 1996 schuf. Dieser nachzuvollziehen, wie der Gush ein Credo verhängnisvolle Kreislauf ließe sich bis in die „jüdischer Einzigartigkeit“ und das biblische gegenwärtige Tagespolitik hinein weiter Zitat „Dort, ein Volk, es wohnt für sich, es zählt verfolgen, wo sich, wie etwa bei den letzten sich nicht zu den Völkern“ zur Grundlage eines 126 Buchbesprechungen

Geschichts- und Weltbildes gemacht hat, das ihres Buches mit dem von Rubinstein in den in den Augen seiner Verfechter Auschwitz betreffenden Kapiteln besonders interessant. 'erklärt' und gleichzeitig sogar einen poli- Für Rubinstein ist der postzionistische Ansatz, tischen Mord 'legitimiert'. Der Autor will das der zwar „die Legitimität des Zionismus nicht ideologische Umfeld aufzeigen, aus dem leugnet“, der aber die „Ungerechtigkeiten heraus der Mörder Rabins handelte. Es ist ein gegen die Araber“ zum Gegenstand seiner Umfeld, in dem das Bibelzitat von der eigenen Aufarbeitung von Geschichte macht, „Absonderung“ Israels zum Fundament einer „nicht per se falsch.“ Auch er konzidiert, „dass düsteren Weltsicht wird, in der „die ganze Welt es während des Unabhängigkeitskrieges viele auf der einen Seite und Abraham auf der ungerechte Maßnahmen“ gegen die arabische anderen Seite – bis in unsere Tage“ steht, in Zivilbevölkerung gab und auch, dass es zu der der Holocaust und der Krieg „zwischen Vertreibungen kam. Er wirft den postzionis- uns und den Arabern“ in gleicher Weise als tischen Autoren aber ideologische Einseitig- Folge dieser „Absonderung“ und damit als keit und damit auch vor, abzuleugnen, dass Akte einer „göttlichen Vorsehung“ interpretiert auch „Juden Opfer von Morden und Mas- werden. Da dieser „göttliche Wille“ die sakern“ waren. Nach seiner Meinung „igno- „Isolation“ Israels im „Heiligen Land“ verlange, rieren“ die Postzionisten „alle Fakten, die die habe auch keine säkulare Regierung in palästinensische Seite in Verlegenheit bringen Jerusalem das Recht, irgendeinen Teil von oder Israels Position in seinen Anfangsjahren Eretz Israel aufzugeben. So verstoße jeder bestärken oder rechtfertigen könnten.“ Diese Mensch, der solches plane, gegen das Kritik könnte sich damit auch gegen Gudrun Gesetz, gefährde damit jüdisches Leben und Krämer richten, die Morris' Buch „The Birth of stelle „eine unmittelbare Gefahr für einen the Palestinian Refugee Problem“ in einer Einzelnen oder die Öffentlichkeit“ dar, gegen Anmerkung „ohne Einschränkung als Pionier- die jeder Akt der „Selbstverteidigung gerecht- werk bezeichnet“. Morris geht der Autorin fertigt“ sei. So argumentierte der Attentäter indes noch nicht weit genug, wenn er z.B. das Jigal Amir bei seinem Verhör, das von Rubin- Massaker von Deir Jasin, begangen im April stein dokumentiert wird. So argumentierten 1948 von Lehi- und Irgun-Kämpfern des auch nicht wenige Exponenten der religiösen späteren israelischen Ministerpräsidenten Rechten. Die Gefahr, die über die Ermordung Menachem Begin –, als einen einzelnen Akt, Rabins hinaus für die israelische Gesellschaft als eine „Gräueltat“ darstellt, die „nicht auf von dieser Ideologie ausgeht, besteht für Vorsatz“ zurückzuführen gewesen sei. Krämer Rubinstein darin, dass es den Aktivisten des indes will beweisen, dass das Vorgehen auch Gush gelungen ist, die religiösen Parteien und der regulären israelischen Truppen in Zusam- die anti-zionistische Orthodoxie mit ihrer menhang mit einer „zuvor ausgearbeiteten und „fundamentalistisch-religiösen Weltanschau- planmäßig durchgeführten Strategie“ zur ung“ zu infiltrieren. Dies gelte aber nicht nur „Massenvertreibung“ der palästinensischen für z.B. die national-religiösen Parteien, die Zivilbevölkerung stehe. In diesem Sinne ist sie früher „für Mäßigung und Zurückhaltung in der auch mit dem von Rubinstein besonders heftig Außen- und Verteidigungspolitik des Landes kritisierten Postzionisten Ilan Pappé einer eintraten“, die in den Kabinetten „gegen die Meinung, wenn es darum geht, gegen die Vergeltungs-Grenzüberfälle“ stimmten und These zu polemisieren, dass 1948 „David die noch 1967 „gegen die Einnahme von gegen Goliath“ antreten musste. Für Rubin- Ostjerusalem“ votierten. Rubinstein konstatiert stein hingegen ist es alles andere als be- das langsame Einfließen dieses Gedankenguts wiesen, dass in diesem Krieg schon „Israel (...) auch in das Lager der Likud-Blocks. den arabischen Armeen (...) militärisch über- legen gewesen“ sei. Und er verweist auch auf Wenn der Autor so auch beklagt, dass hier die unleugbare historische Tatsache, dass die „die große humanistische Tradition des Ju- arabische Seite diesen Krieg wollte und zu dentums in den Wind geschlagen wird“, so keinen Verhandlungen mit der jüdischen Seite bezieht er als ein Repräsentant eines liberalen bereit gewesen war. So bleiben Gudrun Zionismus doch auch klare Gegenpositionen Krämers Darstellungen in diesem Kapitel zu post- und antizionistischen Strömungen in ärgerlich einseitig. Ihr Rückgriff auf die Israel und in der israelischen Geschichts- und postzionistische Schule erscheint in diesem Politikwissenschaft. Gudrun Krämer wiederum Punkt auch wohl eher wie ein wissen- hat gerade die Publikationen von Vertretern schaftlicher Taschenspielertrick. Angewandt der postzionistischen Schule in der israeli- wird dieser Rückgriff auf jüdische Zionismus- schen Historiografie – wie die von Benny Kritiker auch immer dann, wenn es darum Morris – zur Grundlage ihrer eigenen Dar- geht, eine betont israelkritische Position stellung des Unabhängigkeitskrieges von 1948 gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu gemacht. Das macht eine Gegenüberstellung schützen. Vorausgesetzt, dass Kritik an der Buchbesprechungen 127 israelischen Politik immer möglich sein muss allein israelische Panzer verursacht ha- und Kritik am Zionismus nicht gleich Anti- ben. semitismus ist, stellt sich aber doch die Frage, warum es eine Autorin in Deutschland nicht Misswirtschaft, Nepotismus, rechtsstaatliche lassen kann, bei ihrer Schilderung des Defizite und Menschenrechtsverletzungen israelischen Vorgehens gegen die arabische kennzeichnen die 'Präsidentschaft' Yassir Bevölkerung von „Säuberung“ und „Liqui- Arafats von Anfang an. Wie sehr die Krisen dierung“ zu sprechen. Ein eher begrenztes dieser beiden nationalen Ideen jedoch Verständnis für die psychologischen Auswir- ineinanderwirken und sich gegenseitig auf- kungen des Holocaust auf die Akteure der schaukeln, hätte sich noch besser zeigen jüdischen Seite offenbart sich, wenn Krämer können, wenn Herz und Steets den Krisen- der zionistischen Führung vorwirft, dass diese faktor „Islamismus“ in größerem Umfang in mit ihrer Zielsetzung, „den Flüchtlingsstrom ihre Untersuchung miteinbezogen hätten. ausschließlich nach Palästina zu lenken“, das Denn, wenn Rubinstein in bedrückender Weise Leben vieler Verfolgter absichtlich „riskierte.“ aufzeigt, wie für Gush-Aktivisten Krieg zu Die Autorin befindet sich an dieser Stelle einem göttlich gewollten 'Normalzustand' allerdings in der Gesellschaft vieler, von wird, so findet sich in einem von ihm Rubinstein wiederum mit Argwohn zitierter angeführten Dokument die Formulierung von Zionismus-Kritiker aus dem Lager der anti- deren „Gegen-Jihad“ und damit der Hinweis zionistischen Ultraorthodoxie in Israel selbst darauf, dass diese Gruppen fast als ein wieder. Diese wirft Männern wie Ben Gurion Gegenstück zum Fundamentalismus auf perfide vor, „vorsätzlich Millionen von Juden muslimischer Seite zu sehen seien. Da sich in den Tod geschickt“ zu haben, weil sie ihnen auf beiden Seiten der Konfliktparteien neue andere „Fluchtwege“ als die nach Palästina Strömungen aufbauen, für die Frieden keine „versperrten.“ Mit Rubinstein bleibt an dieser Alternative darstellt, die wie die Islamisten Stelle zu fragen, wo diese anderen „Flucht- Kriege „aus religiöser Verpflichtung“ führen, wege“ denn hätten hinführen sollen bzw. wo erscheint die Aussage von Herz und Steets, Gudrun Krämer damals „alternative Auf- dass es „zu einer friedlichen Koexistenz der nahmeländer“ wähnt. Völker der Region keine Alternative“ gibt, nur mehr als frommer Wunsch. Dies umso mehr, Im Falle der „Geschichte Palästinas“ allerdings da auch ohne den Faktor des Fundamen- bleibt festzuhalten, dass die Einseitigkeit der talismus die sog. Endstatusverhandlungen an letzten Kapitel in einem deutlichen Kontrast zu jenen Punkten scheiterten, an denen es den um Objektivität bemühten Darstellungen zwischen Israelis und Palästinensern keine der Entwicklungen bis hinein in die 30er-Jah- Einigung geben scheint und die Jerusalem re steht. Der Versuch Krämers zu beweisen, und das Rückkehrrecht für palästinensische dass es eine palästinensische „Zivilgesell- Flüchtlinge betreffen. Sowohl Rubinstein wie schaft“ schon seit langem gegeben hat, steht auch Herz und Steets geben in ihren Ge- dem Unterfangen, ein weit gehend objektives schichtsbetrachtungen der Überzeugung Bild der ersten zionistischen Einwanderungs- Ausdruck, dass der Friedensprozess „irrever- wellen zu zeichnen, nicht entgegen. Dass auch sibel“ ist. Es bleibt zu fragen, was Ariel Sharon hier einzelne Aspekte noch immer unberück- und Yassir Arafat darüber denken. sichtigt bleiben, ist erklärbar. So ergänzen gerade hier Rubinsteins Ausführungen über Peter Ludwig Münch-Heubner die geistesgeschichtliche Entwicklung des Zionismus das von Gudrun Krämer angebo- tene 'äußere Grundgerüst' zu dessen Ent- stehung und Entwicklung. Da Rubinstein für diesen Zeitraum weniger Fakten und Chro- Mommsen, Wolfgang J.: War der Kaiser an nologie anbietet, sondern sich mit der allem schuld? Wilhelm II. und die preu- Geisteswelt der Zionisten und dem sozio- ßisch-deutschen Machteliten. München: kulturellen Umfeld beschäftigt, in dem die Propyläen Verlag, 2002, 296 Seiten, 2 26,00. Suche nach einer neuen jüdischen Identität stattfand, könnte sein Buch auch viel eher den Das Buch, aus der Feder eines der aus- Titel „Geistesgeschichte und Krise des gewiesenen Spezialisten für die Geschichte Zionismus“ tragen. des hohenzollernschen Kaiserreiches kreist um die Frage, inwieweit und mit welchen Die Krise des palästinensischen Natio- Konsequenzen Wilhelm II. konkret innen- nalstaatsgedankens wiederum klingt auch und außenpolitische Macht ausgeübt hat. bei Herz/Steets schon an und es wird Bezugspunkt ist dabei die Debatte in der erkennbar, dass diese Krise nicht nur Historikerzunft, die besonders durch die 128 Buchbesprechungen

Veröffentlichungen des britischen Historikers Konservativismus der Eliten sich besonders in John C.G. Röhl im vergangenen Jahrzehnt der parlamentarischen Reaktion auf des angeregt wurde. Dabei wurde der Kaiser mit Kaisers Interview mit der britischen Zeitung der entscheidenden Verantwortung für die „Daily Telegraph“ (1908) gezeigt habe: Bei Verschlechterung der außenpolitischen Situ- aller kritischen Rhetorik kam es niemandem in ation belastet, die dann zur „Ur-Katastrophe“ den Sinn, die Blamage des Kaisers zu ver- des Ersten Weltkrieges führte. Wolfgang J. fassungsrechtlichen Novellierungen aus- Mommsen relativiert hier erheblich: Zwar habe zunutzen, die solche „Ausritte“ in Zukunft sich die Nation damals im bekannt schnei- möglichst unterbinden sollten, oder gar die digen, mit zeitgemäßem Pathos geradezu Chance zu einer durchgreifenden Parlamen- bramarbasierenden Auftreten des Kaisers tarisierung des gesamten Regierungssystems wieder erkannt, ohne Rücksicht auf das po- zu ergreifen. Auch aus diesem Befund darf der litische Porzellan, das dabei häufig zer- Schluss gezogen werden, dass die Deutschen schlagen wurde, aber es könne keine Rede in Wilhelm genau den Kaiser hatten, den sie davon sein, dass Wilhelm II. auf diese wie verdienten. auch immer zu kritisierende Weise die Wei- chenstellungen befördert habe, die dann 1914 Es seien an die Persönlichkeit des Monarchen den Weg in den Abgrund eröffneten. große Erwartungen herangetragen worden, etwa von der nationalliberalen Partei die eines Denn – und das ist die zentrale These des „Nationalkaisers“ zur Sicherung der Einheit der Autors – Wilhelm sei eher von den büro- Nation in einer Phase expansiver „Weltpolitik“, kratischen und militärischen Eliten des Reiches von anderen eines „Volkskaisers“, d.h. eines vorgeschoben und instrumentalisiert worden, fürsorglichen, patriarchalischen Sozialpoliti- um der Öffentlichkeit zu suggerieren, dass kers, um die Arbeiter und die Armen vor den ihre Entscheidungen keine anderen wären als „vaterlandslosen Gesellen“ der Sozialdemo- die der Majestät selbst. Der Kaiser in seiner kratie zu retten und mit Thron und Altar zu sprunghaften und selbstverliebten Art habe versöhnen. Doch Wilhelm habe wegen seines sich gerne zu dieser Art von Vorspiegelung bei aller Intelligenz zu engen geistigen und hergegeben, weil er sie kaum durchschaut politischen Horizontes diesen Erwartungen habe. Das „persönliche Regiment“, das er nicht entsprechen können. Auch für Friedrich sofort nach seiner Thronbesteigung (1888) zu von Holstein, nach Bismarcks Abgang die errichten versuchte, habe in seiner manifesten wichtigste Figur im Auswärtigen Amt, und für Verfassungswidrigkeit und in seinem noch viel des Kaisers engen Freund, den Fürsten Philipp manifesteren Anachronismus hauptsächlich von Eulenburg, habe sich schon nach wenigen aus aufgeregter Rhetorik bestanden. Aber die Jahren erwiesen, dass das „persönliche engsten Mitarbeiter des Kaisers, besonders Regiment“ wegen der Oberflächlichkeit und Reichskanzler von Bülow, hätten die hinter der Unkalkulierbarkeit der kaiserlichen Interes- allem lautstarken Auftreten verborgene Ich- sen und Desinteressen (letztere waren erheb- Schwäche Wilhelms durch ein besonderes lich zahlreicher als erstere) keinen stabilen Maß an Schmeichelei und höfisch-intriganter Ansatzpunkt bildete, um Innen- und Außen- Manipulation ausgenützt, um in Wirklichkeit politik im größeren Stile betreiben zu können. ihre eigenen politischen Absichten durchzu- setzen. Zu punktueller Wirksamkeit kam der Kaiser aber immerhin: So ist die in den 1890-er Dabei war der Kaiser bei allen seinen Defekten Jahren anlaufende Gesetzgebung zum Ar- unersetzbar, denn die Elite des Reiches war beitsschutz letztlich das Ergebnis einer monarchisch-konservativ eingestellt, unwillig (erfolglosen) Intervention Wilhelms im großen und unfähig, das Regierungssystem mehr zu Streik der Bergarbeiter des Ruhrgebietes demokratisieren und zu parlamentarisieren, (1889). Er hatte auch das Potenzial, doch obwohl der Trend der Zeit genau das verlangt zumindest einen innenpolitischen Scherben- hätte. Deswegen stellten sich die Reichs- haufen anzurichten. Zwar wurde nichts aus all kanzler und Leiter der Außenpolitik unbedingt seinen hochkonservativen (auch einst dem vor den Kaiser, wenn er wieder einmal wegen alten Bismarck nicht fern liegenden!) Ideen, einer unbedachten Äußerung Kritik auf sich den Reichstag, der ihm mitunter zu unbot- gezogen hatte. Die Monarchie musste, unab- mäßig war, aufzulösen und dann einen hängig von der Qualität des gerade am- Staatsstreich zu unternehmen, gestützt auf tierenden Monarchen, als Bollwerk gegen das Militär und den höheren preußischen Adel, Sozialdemokratie und gesellschaftlichen denn er war viel zu fahrig, um solche Ab- Umsturz, die man wohl mehr, als es realistisch sichten planmäßig der Verwirklichung näher war, fürchtete, unbedingt erhalten bleiben. zu bringen. Instruktiv ist folgender Fall: Mommsen arbeitet heraus, dass der statische Reichskanzler Caprivi plante 1892 ein Buchbesprechungen 129

Schulgesetz, das dem Kaiser und auch gemeingut der politisch Engagierten, und anderen politischen Kräften inhaltlich verfehlt wenn im Endergebnis der so genann- vorkam. Also nutzte der Monarch einen ten „Weltpolitik“ (deren Einzelzüge hier Kronrat, um eine Modifizierung des Gesetzes nicht zu skizzieren sind) Deutschland der zu fordern. Der Reichskanzler wandte ein, Tripelallianz von England, Frankreich und dann bekäme man nicht die Stimmen des Russland gegenüberstand, dann war das Zentrums, damals der stärksten Fraktion im der Politik Bülows zuzuschreiben und Reichstag. Eine Mehrheit dort ließe sich zwar nicht irgendwelchen Insinuationen oder doch noch organisieren, aber ohne die Fauxpas des Kaisers. Bülow hatte zu lange Zustimmung des Zentrums sei das Gesetz die „Politik der freien Hand“ betrieben, die politisch völlig wertlos. Wilhelm beharrte auf die anderen Mächte irritierte, den deut- seinem Standpunkt, Caprivi musste die schen Manövrierraum zwischen London Gesetzesvorlage zurückziehen, es folgte eine und St. Petersburg überschätzt und an ko- Regierungskrise, Caprivi reichte seinen lonialer Beute enttäuschend wenig davon- Rücktritt ein (den Wilhelm jedoch nicht getragen: Kiautschou in China, einen Teil der bewilligte). Samoa-Inseln, die Marianen und die Palau- Inseln. Besonders natürlich richtet sich die Aufmerksamkeit des Lesers auf Wilhelms Die beiden Debakel der deutschen Marokko- Wirken in der Außenpolitik. Hier erfahren wir Politik (1905 und 1911) sind wieder nicht aus jedoch, dass die „Daily-Telegraph-Affäre“, das Wilhelms Wirken, sondern aus dem Umstand Ergebnis besonderer kaiserlicher Unge- zu erklären, dass das Grundkalkül des Aus- schicklichkeit, von den Engländern überhaupt wärtigen Amtes (Holstein und Kiderlen- nicht ernst genommen wurde. Das berüchtigte Wächter) nicht aufging, nämlich die englisch- „Krüger-Telegramm“, in dem der Kaiser dem französische Entente dadurch zu sprengen, Präsidenten der Burenrepublik dazu gra- dass man Frankreich bei der Durchdringung tulierte, dass er einen englischen Überfall (die Marokkos entgegentrat, in der Hoffnung, so genannte „Jameson-Raid“, Ende 1895) England würde die Interessen Frankreichs in siegreich abgewehrt habe, wurde in voller Marokko nicht für schutzwürdig ansehen, Übereinstimmung mit dem damaligen Staats- damit die Franzosen enttäuschen und der sekretär des Äußeren (=Außenminister), Entente abspenstig machen. Wilhelm gab sich Marschall von Bieberstein und mit Friedrich zum Aushängeschild dieses Versuches her von Holstein abgeschickt. Und es hatte einen (Besuch in Tanger 1905), aber die Verant- Hintergrund, der vor dem außenpolitischen wortung für das Misslingen dieser Risiko- Horizont der Zeit zu sehen ist und nicht schon Strategie fällt nicht auf ihn, ebenso nicht die deswegen, weil England und Deutschland anschließende Wut der „Alldeutschen“ und 1914 zu Kriegsgegnern wurden, jeglicher anderer hyper-nationalistischer Kreise, nichts Plausibilität entbehrt: Man hielt in Berlin einen erreicht zu haben, mit dem daraus ent- relativ harten Kurs gegenüber England in springenden, forcierten Aufrüstungsprogramm. Kolonialfragen vertretbar, weil man dessen Man warf dem Kaiser sogar vor, er habe Zusammengehen mit Frankreich und Russland erklärt, keinen Krieg mit Frankreich zu wollen, ausschließen zu können glaubte (diese An- und damit verhindert, dass das Auswär- nahme falsifizierte sich erst im Laufe der tige Amt die geeignete Drohkulisse für nächsten Jahre) und weil man auf diese Weise französisches Nachgeben aufbauen konnte. England zu Konzessionen in der kolonialen Man nannte ihn höhnisch „Wilhelm den Welt zu bestimmen hoffte. Das war nicht Furchtsamen“ – so sieht kein besinnungslos abwegig: 1898 handelte die Reichsregierung in den Krieg hineintreibender „Oberster mit England aus, die Buren nicht zu unter- Kriegsherr“ aus. Worte und Taten divergierten stützen und bekam dafür eine Aufteilung der bei ihm auf nachgerade groteske Weise. Damit portugiesischen Kolonien Angola und Mosam- schuf er, besonders im Ausland, zweifelsohne bik zugesagt. Daraus wurde dann zwar nichts, große Missverständnisse. Er schuf sie auch aber der unvermeidliche Weg in einen Krieg nach seiner Abdankung noch, denn nun mit England wurde so gewiss auch nicht konnten sich viele Beobachter darauf einigen, beschritten! dass er den Krieg gewollt habe, weil er immer so martialische Reden geführt hatte. Dieses Der Kaiser gerierte sich entschieden als ein von ihm selbst provozierte Missverständnis Befürworter von „Weltpolitik“ und „Platz an der lebt sogar heute noch fort. Sonne“, denn trunkene Perspektiven strah- lender Zukunft boten sich für die von ihm Auch in der Julikrise 1914, die direkt zum gepflegte Rhetorik thematisch ganz besonders Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte, war an. Aber dieses Denken war damals All- der Monarch ganz im Schlepptau der Risiko- 130 Buchbesprechungen

Strategie der Reichsleitung: Man wollte testen, Nach Mommsen zeigte er im Krieg nicht die ob die deutsche Unterstützung Österreichs mindeste Befähigung zum „Obersten Kriegs- gegen Serbien („Blanko-Scheck“ vom 5.7.) die herren“, der er der Verfassung nach war. Er ist Russen von einer Unterstützung Serbiens also auch für irgendwelche strategisch- abhalten würde. Dazu kam das von den taktische Fehlentscheidungen nicht haftbar zu deutschen Militärs artikulierte Bedürfnis, gegen machen. Kein Wunder, dass Hindenburg und das hoch aufgerüstete Zarenreich rechtzeitig Ludendorff ihn bald an Popularität sehr einen Präventivkrieg zu führen, und der Auto- übertrafen, Hindenburg war gewissermaßen matismus der Mobilmachungspläne, insge- schon im Krieg, nicht erst in der Weimarer samt also eine starke Militarisierung der Republik, der „Ersatzkaiser“. Wilhelm war so Außenpolitik. Dies ist zu Recht immer wieder weltfremd geworden, dass er wenige Tage vor angeprangert worden – aber der Kaiser ist dem Abschluss des Waffenstillstandes daran allenfalls indirekt mitschuldig, nämlich ernsthaft glaubte, er könne mit treuen Ein- dadurch, dass er, da er nicht anders konnte, heiten von der belgischen Front weg nach der Nation lautstark das Lebensgefühl Berlin marschieren, um dort die rote Re- vermittelte, dass der Mensch eigentlich erst volution niederzuschlagen. Als er stattdessen beim Leutnant anfängt. schleunigst ins neutrale Holland abreisen musste und dadurch seine beiden Kronen Er war der Repräsentant der Kräfte, die aus verlor, hatte den unverbesserlichen Theatra- der Borussifizierung Deutschlands eine liker und Poseur die Wirklichkeit definitiv Militarisierung gemacht hatten. Aber er war eingeholt. eben kein Kriegstreiber. Bernd Dieter Rill Ankündigungen

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Politische Studien, Heft 388, 54. Jahrgang, März/April 2003 Autorenverzeichnis

Alner, Juraj, Dr. Luther, Susanne, Dr. Generalsekretär der Paneuropa-Union Referentin für Grund- Slowakei, Bratislava satzfragen und Aus- wärtige Beziehungen, Bahadir, S¸ efik Alp, Hanns-Seidel-Stiftung Prof. Dr. Dr.h.c e.V. München Institut für Wirtschaftswissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlan- gen-Nürnberg Meier-Walser, Reinhard C., Dr. Leiter der Akademie für Politik und Haasteren van, Fred Zeitgeschehen und Chefredakteur der Executive Vice-President Politischen Studien, Hanns-Seidel- Randstad Holding N.V., Stiftung e.V. München Diemen; Chairman euro-Ciett, Brüssel Stein, Peter, Dr. Referent für Wirtschafts-, Finanz- und Henseler, Reinhold, Sozialpolitik, Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Dr. München Beauftragter Corpo- rate Affairs, Randstad Deutschland, Rösrath; Werner, Dirk Beauftragter Internatio- Institut der deutschen Wirtschaft Köln, nale Angelegenheiten des Bundesver- Hauptabteilung Bildung und Arbeits- bandes Zeitarbeit, Bonn; National Vice markt, Referat Qualifikationsforschung President euro-Ciett, Brüssel

Hübler, Martin, Dr. Wiesheu, Otto, Dr., MdL Referent für Bildung, Bayerischer Staatsminister für Wirt- Wissenschaft und Kul- schaft, Verkehr und Technologie, Mün- tur der CSU-Landes- chen leitung, München

Wilss, Wolfram, Lengsfeld, Vera, MdB Prof. em. Dr. Dr. Ordentliches Mitglied h.c. im Ausschuss Kultur Angewandte Sprachwis- und Medien des Deut- senschaft, Übersetzen schen Bundestages, Ber- und Dolmetschen, Uni- lin versität des Saarlandes, Saarbrücken