ülciic Ädicr Äiliimi WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 30/31. Januar 1988 Nr. 24 81

Reminiszenzen aus dem Solothurnischen Tage in Haken um 1910 Von Jürg Tanner

..._ :-:».-::.;^.

«s Hanse» vor ihrem Bauernhaus.

entschwebt mit all dem Gras um sich herum, mit dieser Matte, den Blumen und den Bäumen drin, dem Wald daneben und dem Haus. Und so ist es beinahe wie damals, als sie im Zug nach Ober- dorf sass, und auf dem Nebengeleise fuhr ein anderer an und ab, und sie vermeinte zu fahren, blieb jedoch zurück. Wie war sie da erstaunt. Gar ein wenig schwindlig wurde ihr davon. Zeitig kehrt man heute nach Hause zurück, Arbeit vorzube- reiten. Die Mutter begleitet Vater morgen auf die Stör. Auf der Landstrasse zwischen Bauernhaus und Stock spielen Bauernbu- ben das Stöcklispiel. Sie haben ein Rundholz aufgestellt, und Beinahe ebenerdig fliess! die Oesch. jeder hat einen Knopf daraufgelegt. Aus vorgegebenem Abstand versuchen sie nun, Steinen das Scheit zu Fall und damit die Sonntag, Sonntag Morgen, mit «... Es ist und im ist es und im Morgen weht der Der Rock der Dame reicht bis auf die staubige Landstrasse, und Knöpfe bringen. Knöpfe Wind, fliegen Sorgen Vögel auf den Boden zu Alle mit der Vorder- und im Wind alle meine wie scheue davon . . .» eng geschnitten. trägt Sonnenschirm, in der Taille ist er Sie einen seite oben gehören dem glücklichen Werfer. Kein Auto stört. dagegen fein, gar Robert Walser 1905 in seinem Aufsalz «An die Heimal» er einen Hut. Ich denke sie mir sein Stöcklein Reihum geht's weiter, bis sie beinahe gleichzeitig zur Arbeit in mit silbernem Knauf. Und wie die beiden staunen. Sie sind weit den Stall gerufen werden. weg von da, wo man flaniert, den Tagen sich ergibt auf Boule- In beginnt der Kanal, hier ganz nah, drei Häuser wei- Sonntag morgen vards oder Chausseen, und also hier im falschen Bild, wo vor ter nur, der die Turbinen in antreibt, die Strom pro- der Käserei das Milch- und Käsereigeschirr trocknet und Haus- Fernleitung Die Glocken der Kirche von Kriegstetten läuten. Der Gottes- duzieren, der 1886 erstmals über die in die Malz- türen offenstehen. geführt dienst ist zu Ende. Schön hat der Herr Pfarrer Weber heute mühle Solothurn wird. Bei Brechbühls zündet man in- Petrollampe gesprochen, und das «Agnus Dei» gar hat wunderschön geklun- Die beiden Mädchen verschwinden hinter dem letzten Bau- dessen die an. Kirchgänger gen. Jetzt treten die durchs Portal ans Licht. Sie ernhaus. Dort steht Affolters Stock, wo sie zu Hause sind. Eine Später und zu späterer Stunde sind dann schon mal Burschen blinzeln, steigen dann die wenigen Stufen hinunter, stehen zu- Holztreppe führt zur Laube, und von der Laube treten sie in die vor dem Haus erschienen, haben gesungen oder gespielt und sammen in schwarzen Grüppchen und zu Paaren auf dem klei- Küche. Einlass begehrt auf einen Kaffee, und man hat geplaudert und nen Plätzchen vor der Kirche, sich nach dem Wohlbefinden zu erkundigen und dem Gang der Dinge und so, wohl auch, sich zu wundern und zu tuscheln über die Abwesenden. Rosa sagt: «Weme nid z Chüuche war amcne Sunntig, war das nid guet achoh bi de Lüt, obwou jo die aui nid besser gsi si as die, wo nid gange si.» Jedenfalls nicht alle, fügt sie noch bei. Zu Fuss oder mit ihren Fahrrädern sind sie hierhergekom- men aus und , aus , Heinrichswil, Hersiwil, , und Haken, und während das Geläut ausklingt, zerstreuen sie sich. Die einen gehen wohl noch über den Friedhof hin zu den Gräbern der Lie- ben, ihrer andächtig zu gedenken einige Augenblicke. Andere machen ihren Kehr durch den «Sternen», durchs «Kreuz» oder die «Blume», bevor sie den Heimweg antreten. Und viele Frauen streben lang vor dem Verklingen der Glocken eilig heim Um 1907. und der Arbeit in der Küche zu. Zurückgeblieben sind die Kin- der und Jugendlichen. Sie haben jetzt Christenlehre, werden Draussen breitet Stille sich aus. Nur der Widder beim Turm Sonntag für Sonntag unterwiesen im katholischen Katechismus: klopft regelmässig, pumpt Wasser in die höher gelegenen Brun- so viele Fragen, so viele Antworten. nen. Es ist hoher Mittag. Familienweise, in Gruppen und Grüppchen, seltener allein, gehen auch die Haltner ihre Strasse lang. Aus der Ebene erheben Sonntag nachmittag sich Rain und Turm. Auf dem Mühlerain vorne steht diese Nach Mittagessen und Vaters Schläfchen zieht man zu den mächtige Linde. Fünf habe es gebraucht, ihren Stamm zu um- Grosseltern Jäggi ins Vögelishüsli beim Walde draussen. spannen. Die Rippe dahinter bis hin nach Oekingen ist mit dich- Hier kommen alle zusammen am grossen Tisch den tem Buschwerk bewachsen. Durchs flache Land vor diesen Mo- unter Bäumen. Man Tee, raucht ein Pfeifchen, diskutiert, politisiert, ränenhügeln fliesst in weiten und auch engeren Windungen und trinkt spricht von den Herren Freisinnigen den Schwarzen, beinahe ebenerdig die Oesch. Ihre Ufer sind bäum- und strauch- und von die hier im Dorf das Sagen haben. S Hanse, s Seppis, s Schoseffe gesäumt. Im klaren Wasser gibt's Forellen und Krebse. In den Sozi, kämpft Wiesen kleinere Bächlein, Kanälchen, Bewässerungsgräben. und s Thomasse. Man selbst ist steht dazu und dafür, dass sich Stampfli Zwischen dem Bachlauf und den Erhebungen und rund um den was ändert hier. Wie die Seiler und im Dorfe vorne oder einarmige Leibundgut, sich sein Turm, in gebührendem Abstand davon selbstverständlich, ste- der der Brot als Drehorgelspieler auf Jahrmärkten verdient. Vater Brechbühl hen die Häuser, liegt ihr Dorf. Halten. Meist sind es Bauernhäu- Schneider, ser, strohgedeckt noch oder mit Schindeln, nur wenige tragen ist nimmt Arbeit von allen und enthält sich einer Meinung. Die spielen Hochzeitsphoto, schon Ziegeldächer. Und die Matten reichen bis zu den Häusern, Kinder derweil ums Haus oder im nahen Rosa und Pius, 1919. Wald. neben oder hinter denen sich die Obstgärten dehnen. Davor lie- liegt wohl auch mit Blicken oder schüchternen Berührungen zu ver- gen die Gärten mit den Gemüsen und Beeren, mit den Kräutern Nur Rosa vielleicht im Gras, schaut in den Himmel und hinweg, stehen gegeben, dass man sich mag, und beim Einschlafen dann und mit all den Blumen von Frühling bis Herbst, und Brunnen sieht die Wolken ziehen über sich und aus dem Elefan- mögen auch damals die Wünsche plätschern. Vor und neben den Ställen ten dort wird allmählich ein Inder mit Turban, der sich zum und Sehnsüchte weit voraus stehen die Miststöcke. gewesen übermächtiger Gespenst wandelt, bevor sie/es als galoppierendes Pferd ent- sein. Trotz katholischer Kirche. Trotz Bei der Oeschbrücke verabschieden sich die Familien Lüthi, gerade deswegen schwindet und Rosa sich dörflicher Kontrolle. Oder eben. Wilhelms und Josephs, und Müller und wünschen einen guten vorstellt zu entfliehen mit ihr/ihm Sonntag. irgendwohin. Aber hier liegt sie, und sie schaut in den Himmel Und nach ihrer Rückkehr werden auch die jungen Männer gelebt hinein, wo ein Krokodil seinen Rachen weit und weiter öffnet, ihre Phantasien haben in ihren Nächten, und es wird Und vor Fuchs Jakob wird wohl manch einer den Hut etwas bis der untere Teil sich löst und auflöst, und der Rest wird Vogel darin Platz gewesen sein auch für Lina und Rosa. mehr gelüftet und eine Spur freundlicher gegrüsst haben. Der und anderes, und plötzlich bleiben die Wolken stehen, und sie Und bei solch nächtlichem Kaffee habe sie, Rosa, ihren Zu- Ammann ist's, zugleich Bürgerammann und Präsident mehrerer künftigen kennengelernt, 1914 schon. Von Arbon habe er einen Kommissionen und sonntags bei Prozessionen Himmelträger. Er Lastwagen in die Papierfabrik gefahren und sei geblie- hat sich vor der Mühle zu besprechen mit Affolter Viktor, dem ben und zusammen mit den anderen hier vor die Fenster gezo- Müller hier. Auch anderswo stehen sie kurz zusammen vor den gen, und 1919 hätten sie geheiratet, zwei Jahre nach Lina, und Häusern, haben sich noch dies und jenes zu sagen, sehen nach dann seien auch sie weggezogen von Halten. den Wolken, achten auf den Wind - vielleicht wird's Regen geben, ausgerechnet jetzt, wo die Frucht doch so schön steht -, Waschtag grüssen die Vorüberschreitenden, verabschieden sich dann, tre- gehen steigen ten ins Haus, weiter oder aufs Velo, um schneller Früh stehen da die Frauen auf und kommen spät ins Bett. Sie nach Hause zu kommen. bereiten die Wäsche vor, die Bottiche, Holz und Wasser. Ab fünf Schon kehren auch Lina (*1896) und Rosa (*1897), die bei- Uhr morgens schon, und wenn die Wäsche in den Kästen und den Schwestern Brechbühl, von der Christenlehre zurück. Das die Bottiche und Zuber im Schuppen versorgt sind, ist manch- Laub der Linden auf dem Rain rauscht im Wind, der sanft über mal schon zehn Uhr nachts. die Felder und Matten streicht und durch die Weiden, Eschen Im Winter wäscht niemand, und da sammelt sich dann schon Feuchtigkeit steigt und Haseln längs der Oesch. aus den Gräben etwas an bis zum ersten Waschtag im Frühjahr, dem noch zwei gurgelt hoch. Mücken tanzen darin. Der Bach murmelt, und weitere folgen. Man hilft einander, eine Waschfrau kommt, eine abzweigt. quirlt, wo der Kanal Beim Steiner scharrt ein Pferd, Verwandte auch oder eine Nachbarin. Und sie legen all die vie- und kein Bauer kommt zu dieser Stunde mit seiner Kuh vom len Kleider und Überkleider, Hemden, Hosen, Röcke, Blusen, Stier. Ein Hund bellt nicht. Wir staunen ob dem fremden Paar. * Vögelishüsli», um 1912. Schurzen, Nastücher, Tücher und Leintücher, Bettzeug, Weisses

Neue Zürcher Zeitung vom 30.01.1988 /82 ülciic 82 Samstag/Sonntag, 30./3I. Januar 1988 Nr. 24 WOCHENENDE Äitiiii.n

Krampf Tag gewesen Segen Erfindung Ein sei so ein immer . . . und ein die der Waschmaschine.

und Farbiges, Leinenes und Wollenes in den Zubern ein und geben es alsdann ins Kochwasser. Und der Photograph, der die Frauen zur Aufnahme bittet, schreibt später auf die Rückseite: «Was git s äch Neus?», als die eine auch schon fragt, ob sie wüssten, dass die Metzger Filome letzthin auf dem Feld geboren habe. Hier hält sie ein, legt ein weiteres Stück ins Kochwasser, fährt fort. Mit der Chaise hätten die beiden heimgebracht wer- den müssen, und vor Ablauf einer Woche habe sie schon wieder gearbeitet, wo doch vor neun Tagen sonst keine aufstehe und ja auch bei der Taufe die Kindsmutter nicht dabei sei, schliesst sie, staunt erneut, jetzt, da sie's erzählt, ohne einzuhalten in ihren Verrichtungen. Und eine andere berichtet von der Hebamme beim Hanse Elisi, die, gefragt nach der Temperatur des Wassers, geantwortet habe, wenn das Kind blau werde, sei es zu kalt, werde es rot, zu heiss. Elisi selbst habe es ihr erzählt. So etwas! Da könne man nur den Kopf schütteln. Ein jeder Waschgang hat seine Zeit. Nach dem Waschen folgt das Brühen, folgen weitere Berichte aus verborgenem Leben jen- seits aller ungeschriebenen und auch geschriebenen Regeln einer ländlich katholischen Bevölkerung. Wer mit wem und was und wo, und sie reformiert, katholisch er, und wie die sich angesehen haben und noch lange beieinander gestanden seien, da sei schon was, und dann diese Serviertochter, den Kopf habe sie dem Leonz verdreht, das Luder, und die und die gehe schwanger, schon im dritten Monat, sie wisse es, und schwarz vor den Augen werde es ihr zuweilen, und seltsame Gelüste überkämen sie, und die Mutter hintersinne sich schier, dem Vater gegenüber habe man es verheimlicht bisher, er wisse also noch nichts, huu, da möchte man dann doch nicht .... «und so isch vo eim Muu zum angere immer e chli meh derzuechoh und scho bau usere Die Klassen 1 bis 4 mit ihrem Lehrer und der Arbeitslehrerin. 1905. Mugge e Elefant worde, und dasch für die Betroffene mängisch scho vo Argem gsi», sagt Rosa. Doch Zeit verstreicht. Die Wäsche wässert schon im Trog. Der Streit an der Gemeindeversammlung zwischen dem Am- mann von der katholisch-konservativen Volkspartei und Jäggi Viktor, Sozi, ist in bester Erinnerung, und davon reden sie, und wie der Ammann geschrien habe und gedroht zum Schluss. «Chöit de luege, war n ech dr Bitz umegheit», habe er gebrüllt. Doch worum es geht, weiss keine mehr, nur eben, dass sie sich gestritten. Unheimlich sei er ihr zuweilen schon, der Jakob, doch treffe es schlussendlich jeden, wie man gesehen habe bei dem andern, dem Bruder. Soviel Most. Soviel Brönnts. Und Tag für Tag. Das könne nicht gut enden, und so sei es ja dann auch gekommen, das Ende, in der Dreschmaschine mit den Garben, die er einge- geben. Man denke nur. Fürchterlich. Nach dem Auswringen und dem Bläuen der Weisswäsche in der kleinen Bütte hängen die Frauen die Wäsche an die Hanfsei- le, die sie von Baum zu Baum gespannt haben, befestigen die einzelnen Stücke mit Holzklammern und stellen zwischendrin auch mal eine Bohnenstange als Stütze hin. Die Asche tragen sie in den Gemüsegarten, reinigen Wasch- zuber und Bottiche, versorgen alles bis zum nächsten Mal. Die Herrenhemden holt die Glätterin. Sie stärkt Hemdbrust, Kragen und Manschetten mit Ämmermehl und glättet sie. Ein Krampf sei so ein Tag immer gewesen und ein Segen die Erfindung der Waschmaschine. Arbeitstag

Nach der Schulzeit gehen viele Töchter in die katholischen Institute von Fribourg oder Estavayer, um Französisch zu lernen und den Haushalt, sich vorzubereiten und einzuüben also auf das Kommende. Das Leben. Einige gehen in die Kammgarn. Lina beginnt gleich anderntags in der «Steibohri» und zahlt dafür, dass sie darf, auch gleich noch fünfzig Franken Lehrgeld. Hier bohrt sie zusammen mit anderen Frauen Uhrensteine für die Uhrenfabriken in der Umgebung. An Lagersteine für Uhren stellt man folgende Anforderungen: geringste Reibung, grösste Härte und Polierfähigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Schlag und Druck; denn die Belastung pro Flächeneinheit kann in einer grösser Vater. Mutter. Lina und Rosa Brechbühl, 1907. Uhr sein als beim Eiffelturm, wie man errechnet hat. Um

Neue Zürcher Zeitung vom 30.01.1988 /83 State teilung Ader WOCHENENDE Samstag/ Sonntag, 30/31. Januar 1988 Nr. 24 83

also Abnützungen zu vermindern, zu vermeiden gar, verwendet man als Lager Edelsteine. Seit 1900 vor allem künstliche Rubine und Saphire. Ganz klein sind sie. Im Durchmesser zwei bis allerhöchstens fünf Millimeter. Und so halt denn Lina d:-ü ganzen Tag das «Brüssell» in der Hand, um die farblosen Saphire, die roten «Rübi» oder die «Grena» in die Bohrmaschine einzuspannen. (Hier im Atelier ist alles welsch. Das «Brüssell» ist die Pinzette, «Rübi» ein Rubin und «Grena» ein Granai.) Sie sitzt zu ihrer Arbeit. Auf ihrem Schoss liegt ein Stück Brot, woran sie knab- bert zwischendurch, wenn die Steine eingespannt sind und die Bohrmaschine läuft. Sehr sorgfältig geht sie mit Steinen und Bohrern um, denn jeder Stein, der zerbricht, gibt einen Abzug dann von ihrem Lohn. Und ihrer Härte wegen sind sie schwer zu bohren ausser- dem, gar nicht zu reden von der Genauigkeit, die hiebei vonnö- ten ist. Das Gebäude gehört Familie Schnyder, Maschinen und Werkzeuge den Schreiers. Die Arbeiterinnen müssen aufkom- men für die Arbeitsschürze, die verstellbare Arbeitslampe samt Petrol dazu sowie für die Kanne, worin es aufbewahrt wird. Nach der Frühmesse lässt Frau Schreier die «Brütsche» hinun- ter, damit das Wasser seinen Umweg nehme übers Wasserrad und die Arbeit beginnen kann. Wenn Lina einen Stein einspannen will, greift sie ihn mit der Pinzette, welche sie zuerst über ein grünes Wachstuch streift, damit er dann auch an ihr hafte. Ist er eingespannt, gibt sie aus einem Döschen etwas Diamantpaste dazu. Bei dicken Steinen bedient sie gleichzeitig zwei Maschinen, da es ja länger dauert, bis das Loch gebohrt ist. Sonst hätte sie nur lange warten müs- sen, sagt sie dazu. Sobald einer durchbohrt ist, spannt sie gleich den nächsten ein. Den bearbeiteten gibt sie in ein Schächtelchen, und wenn es viele sind, in ein Fläschchen mit Scheidwasser, das sie nun erhitzt, um sie zu reinigen, dann auszuspülen, bis das Wasser wieder klar ist. Hierauf trocknet sie die Steinchen ab, erliest und zählt sie, bringt sie schliesslich zur Kontrolle. An Blick in ein Uhrensteinbohratelier anderswo (in Thun). manchen Tagen bohrt sie über tausend. Und wie Lina bohren alle Frauen hier. Manche sogar jahre- als Anerkennung aufgefasst haben mögen, lang. Von Montag bis Samstag. Morgens von sieben bis zwölf reits wohlwollende das ist ja auch ganz gut Zweck dienlich, und von eins bis sieben nachmittags. Und jeder Stein geht durch und so und dem nur obschon er wollte, wie viele sie seien die Hände vieler Frauen. Hier in Halten bohren sie. Andernorts vielleicht nur eben wissen und welcher Abstand einzuhalten sei. dagegen vergrössern sie die gebohrten Löcher, drehen die Steine dreibeinigen Apparat rund, schrägen sie für die Fassung ab, drehen sie fertig danach Jetzt stellt er den auf und verändert weniges. und die Ölsenkung hinein, beizen sie ab, polieren und kontrol- anschliessend mehrmals dessen Standort um Die Mäd- geheimnisvoll lieren. chen staunen. Alles ist so neu, unbekannt und des- tun, heisst, hin, Vor dem Zweiten Weltkrieg übernehmen grosse Firmen alle halb. Und sie was er sie stellen sich rücken zusammen, als er ihnen dies einer Handbewegung unter dem diese Arbeitsgänge, und so schliessen all die kleinen Ateliers mit bedeutet, hin, proben nach und nach. schwarzen Tuch hervor blicken zu ihm ein Lächeln, rühren sich nicht, und manch eines wird wohl auch Jetzt aber sitzt Lina Tag Tag an ihrem Arbeitsplatz hinter für kaum zu atmen gewagt haben. dem mittleren Fenster im ersten Stock, wo ihr Bohrer steht. Sechsundsechzig So viele Bilder gibt's noch nicht von ihnen. Vielleicht eines Stunden in der Woche bohrt sie Steine für Schulphoto, jedoch Taschenuhren, je enthält, von der Familie oder eine mehr kaum, vom Armband- und und mehr Steine eine Photographen signiert, gerahmt aufgehängt desto wertvoller ist sie, und auf dem Zifferblatt wird die Zahl und überm Ruhbett oder aufs Büfett gestellt. erwähnt. «17 juwels», steht dann beispielsweise da, oder 12. Ihre eigene Roskopfuhr hat deren zwei. So. Sie sind bereit. Die Sache mit dem Vögelchen. Fertig. Zwischen dreissig und vierzig Franken erhält sie ausbezahlt Hinten auf der Treppe ein Knabe, der hinschaut. Mit dem, am siebten jedes Monats, wovon fünf Franken Lehrgeld abgezo- was da vor ihm abläuft, hat er nichts zu tun. Er ist nicht im Bild. gen werden zehn Monate lang. Den ganzen Lohn gibt sie zu Das höre vor ihm auf, so glaubt er wohl. angewiesen. Hause ab. Sie sind darauf Leben ist teuer in dieser In vierzehn Tagen etwa komme er dann mit den Abzügen Zeit. vorbei, hört er den Photographen sagen. Wie überrascht mag er Auch Rosa arbeitet inzwischen in einer Uhrenbude. Nichts ist gewesen sein, als er sich dann später auf dem Bilde wiedersah. also mit dem Wunsch, Lehrerin zu werden. Auch sie muss mit- Für uns hingegen gehört er dazu. Er war anwesend damals, im verdienen, und so baut sie in Recherswil Räderwerk ur>;d Hem- September 1914; seit einem Monat war Krieg, eine böse Zeit und mung zusammen bis zu ihrer Hochzeit. Für fünf Franken im kein Schleck, in diesen Jahren jung zu sein, sagt Rosa. Er, der Tag. Die gibt sie ab daheim. Man braucht's, und Mutter verwal- Bub, stand auf der untersten Stufe der Treppe zum Atelier, tet's mit Umsicht. So um die vier Fünftel wohl des Einkommens schaute hin. Und so bleibt er abgebildet, bis dass der «Gilb» ihn gibt man für die Ernährung aus. Landwirtschaftliche Produkte mitsamt den andern und dem andern Dargestellten einver- haben ihren Preis, denn noch kennt man keine billigen Importe. Lina. 1914. nimmt.

Das (unterschlächtige) Wasserrad, Durchmesser 4 Meter.

Und dann benötigen sie ja auch Kleider, Schuhe usw. und nicht zuletzt die Aussteuer. Etwas legt man auch zur Seite fürs Alter oder für kranke Tage. Es gibt noch keine AHV. Was also, wenn der liebe Mann, später, nicht mehr arbeiten kann? Doch jetzt ist's anders, und man kann, beginnt um sieben, und erst wenn abends Frau Schreier die Brütsche aufzieht und das Wasser wieder di£ £>;esch hinunterfliesst, stehen die Räder still. Doch gibt's dann eben mal diesen Tag, an dem alles ein klein wenig anders ist als sonst. Der Photograph kommt. Und so läuft das Wasser der Oesch für eine gewisse Zeit ungenutzt am Was- serrand vorüber. Räder und Bohrer verstummen. Die Mädchen mögen aufgeregt sein und Aufseherin und Be- sitzerin wohl auch. Ihr Plaudern und Lachen füllt nun das Ate- lier. Alle ziehen sich um, machen sich schön, fragen, helfen ein- ander, bestätigen, rücken hier etwas an den rechten Platz oder dort, zupfen zurecht, ordnen die Haare. Als seine Ankunft mit- geteilt wird, steigen sie kichernd hinunter. Schöngemacht und in «Fürtech mit Volang». Er mag einen kurzen Blick zu ihnen hin getan und sie freundlich gegrüsst haben, was sie wiederum be- Die Frauen aus der «Sleibohri». 1914.

Neue Zürcher Zeitung vom 30.01.1988