APuZAus Politik und Zeitgeschichte 65. Jahrgang · 40/2015 · 28. September 2015

Rechts in der Mitte?

Viola Neu · Sabine Pokorny Ist „die Mitte“ (rechts)extremistisch?

Andreas Zick · Beate Küpper Rechtspopulistische Überzeugungen der Mitte

Werner J. Patzelt Die Sorgen der Leute ernst nehmen!

Christoph Giesa Keine Nazis und trotzdem brandgefährlich

Frank Decker AfD, und die Verschiebung der parteipolitischen Mitte

Claudia Luzar Rechter Rand und Mitte – Kein einheitliches Verhältnis

Karim Fereidooni · Mona Massumi Rassismuskritik in der Lehrerausbildung

Heike Kleffner Sozialarbeit und der NSU-Komplex

Nanett Bier Journalisten und der NSU-Prozess Editorial Dass sich extremes beziehungsweise antidemokratisches Ge- dankengut nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern auch in ihrer Mitte findet, ist keine neue Erkenntnis. Bereits 1959 schrieb der Soziologe Seymour Martin Lipset über einen „Ex- tremismus der Mitte“. In jüngster Zeit mehren sich die Anlässe, um erneut darüber nachzudenken: vom Erstarken rechtspopu- listischer Parteien in vielen Ländern Europas über die Dresd- ner „Abendspaziergänge“ der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ und deren Ablegern in vielen Städten Deutschlands bis hin zu den Anschlägen sowie Protes- ten gegen Asylbewerberheime, an denen sich mitunter ganze Fa- milien offen beteiligen.

Wie weit antidemokratische Einstellungen in „die Mitte“ rei- chen und wie sehr diese Rechtsextremisten ein Umfeld bietet – etwa, indem scheinbar harmlose, aber doch herabsetzende Be- merkungen über Flüchtlinge oder andere Minderheiten geduldet und damit Tabus schleichend verschoben werden –, sind berech- tigte Fragen. Dabei ist zu beachten, dass sowohl „Mitte“ als auch „rechts“ durchaus schwierige Begriffe sind, die unterschiedlich definiert und gebraucht werden. Die politische Mitte sollte man nicht mit der sozioökonomischen verwechseln. „­Soziale Mitte heißt nicht zwingend auch demokratisch“, brachte es die Politik- wissenschaftlerin Gesine Schwan auf den Punkt. „Mitte“ könnte insofern auch aufgefasst werden als „mitten unter uns“, also zu- mindest geduldet, wenn nicht sogar akzeptiert.

Die vielen zivilgesellschaftlichen Willkommensinitiativen zei- gen indes, dass „Mitte“ und „demokratisch“ eben auch kein Ge- gensatzpaar sind und „sozial schwach“ und „extremistisch“ kei- ne Synonyme. Die Bundeskanzlerin und viele andere fanden für die Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte klare Worte. Trotz die- ser ermutigenden Zeichen bleibt es eine Daueraufgabe jedes Ein- zelnen in unserer Gesellschaft, Zivilcourage zu zeigen und Frem- denhass, Rassismus und anderen Facetten „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ entschieden entgegenzutreten – auch und gerade, wenn sie bürgerlich verbrämt daherkommen.

Johannes Piepenbrink Viola Neu · Sabine Pokorny Linksextremismus zieht, blieb Lipset jedoch schuldig. Für ihn war die Mitte eine sozial- strukturelle (Mittelschicht) und keine politi- sche. Mangels besserer Daten stützte er sich Ist „die Mitte“ auf Plausibilitätsinterpretationen von Wahl- ergebnissen der Reichstagswahlen 1928 bis 1933. Da auch andere zeitgenössische Be- (rechts)- obachter, Politiker und Wissenschaftler der 1930er Jahre die Mittelschichten mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Verbin- extremistisch? dung brachten, ❙3 galt diese These trotz gele- gentlicher Kritik auch in der Bundesrepublik lange als Konsens. egriffe wie „Rechtsextremismus“ und B„Linksextremismus“ oder „Islamismus“ Seit der akribischen Analyse der Wahlen beziehungsweise „Salafismus“ sind einer brei- der Weimarer Republik durch den Politik- ten Öffentlichkeit wissenschaftler Jürgen W. Falter haben die Viola Neu wahrscheinlich eini- historischen Mittelschichtsthesen zur Er- Dr. phil., geb. 1964; Leiterin germaßen geläufig. Die klärung des Aufstiegs des Nationalsozia- des Teams Empirische Sozial- Bedeutung der Formu- lismus eine deutliche Eingrenzung erfah- forschung der Hauptabteilung lierung „Extremismus ren. Sie sind zwar nicht gänzlich überholt, Politik und Beratung der Konrad- der Mitte“ erschließt haben aber an Erklärungskraft eingebüßt. Adenauer-Stiftung, Klingelhöfer- sich hingegen nicht un- Falter arbeitet heraus, dass kein „anderes straße 23, 10785 . mittelbar. Gleichwohl Sozialmerkmal die nationalsozialistischen [email protected] finden sich Variatio- Wahlerfolge so stark beeinflusst hat wie die nen der Formulierung Konfession“. ❙4 Praktizierende Katholiken Sabine Pokorny sowohl in den Medien seien gegenüber dem Nationalsozialismus Dr. phil., geb. 1981; Koordina- als auch regelmäßig in im Wahlverhalten weitgehend immun ge- torin des Teams Empirische den Titeln von Studien, wesen. „Von ihren Wählern her gesehen war Sozialforschung der Konrad- die sich mit der Erfor- Adenauer-Stiftung (s. o.). schung von Rechtsex- [email protected] tremismus befassen. ❙1 ❙1 Vgl. Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen Als Schöpfer dieses Begriffes gilt der US- in Deutschland 2014, Bonn 2014; Oliver Decker/Jo- amerikanische Soziologe Seymour Martin hannes Kiess/Elmar Brähler, Die stabilisierte Mit- te. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland Lipset. 1959 schrieb er in dem Buch „Po- 2014, Leipzig 2014; dies., Rechtsextremismus der 2 litical Man“ ❙ ein kurzes, aber in der deut- Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiag- schen Rezeption wirkmächtiges Kapitel, nose, Gießen 2013; dies., Die Mitte im Umbruch. das sich mit dem Aufstieg des Faschismus Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, beschäftigt und dabei auch in vergleichen- Bonn 2012; dies./Marliese Weißmann, Die Mit- der Perspektive Deutschland behandelt. te in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Bonn 2010; O. Decker/​E. Bräh- Seine Theorie fußt auf der Annahme, dass ler, Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstel- es drei Formen des Extremismus gibt, wel- lungen in Deutschland 2008, Berlin 2008; dies./ che jeweils eine enge Verzahnung mit einer Norman Geißler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsex- gesellschaftlichen Schicht aufweisen. Dem- treme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in nach habe der linke Extremismus seine Ba- Deutschland, Berlin 2006. Siehe auch den Beitrag sis in den unteren Schichten und der Ar- von Andreas Zick/Beate Küpper in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). beiterklasse, der rechte Extremismus sei in ❙2 Der Auszug aus dem Buch ist ins Deutsche über- den Oberschichten zu Hause. Der Faschis- setzt und mehrfach publiziert. Hier wird aus folgen- mus wird als die in den Mittelschichten be- der Veröffentlichung zitiert: Seymour Martin Lip- heimatete extremistische Haltung gekenn- set, Der „Faschismus“, die Linke, die Rechte und die zeichnet. Mitte, in: Ernst Nolte (Hrsg.), Theorien über den Fa- schismus, Köln 1967, S. 449–491. ❙3 Zum Beispiel Rudolf Heberle, Theodor Geiger und Eine genaue Definition, was er unter Fa- Carlo Mierendorff. schismus versteht, oder eine Erläuterung, wo ❙4 Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, er die Grenzen zum Rechtsextremismus und S. 177.

APuZ 40/2015 3 die NSDAP zwar eine evangelisch gepräg- und seiner fundamentalen Werte und Spiel­ te, ansonsten aber sozial recht heterogen zu- regeln einig wissen“, verstanden. ❙8 sammengesetzte Partei. Keine Berufsgruppe dominierte (…). Die Mittelschichtenwäh- So einfach sich die Definition liest, so am- ler stellten zwar mit rund 40 Prozent aller bitioniert ist die Umsetzung in ein sozialwis- Wähler das Gros der Parteianhänger, doch senschaftliches Projekt. Welche Dimensionen bildeten Arbeiter eine so bedeutsame Unter- und Inhalte dem jeweiligen Extremismus zu- gruppe, dass von einer reinen oder doch weit geschrieben werden, konnte noch nicht zu- überwiegenden Mittelstandsbewegung nicht friedenstellend und verbindlich erarbeitet die Rede sein kann.“ ❙5 Somit ist zwar die So- werden. Dies gilt gleichermaßen für die schon zialstruktur der Wählerschaft der ­NSDAP breiter aufgestellte Rechtsextremismusfor- weitestgehend geklärt, jedoch nicht die Ein- schung ❙9 wie für die noch größere Defizi- stellungsstrukturen der Wähler und deren te aufweisende Linksextremismusforschung Motive. Da es hierzu keine belastbaren Da- und die in den Kinderschuhen steckende re- ten gibt, wird dieser Teil der Geschichte spe- ligiöse Fundamentalismusforschung (etwa kulativ bleiben. zum Islamismus). Es gibt somit in der Ex­ tre­mis­mus­forschung bislang keine allgemein akzeptierte Skala beziehungsweise Frage- Einstellungsforschung batterie. Es gibt noch nicht einmal Einigkeit über die inhaltlichen Dimensionen, welche Die empirische Meinungsforschung stellte für die jeweilige Extremismusform konstitu- die Dichotomie von Demokratie und Dik- ierend sind. tatur schon immer in den Fokus. Nicht um- sonst gilt sie als Demokratieforschung. Sie Hinzu kommen methodische Schwierig- geht dabei mehreren Fragestellungen nach: keiten: Die Ergebnisse können je nach Aus- Welche extremistischen Einstellungen gibt wahl und Formulierung der Fragen vari- es, was sind die Ursachen für die Entste- ieren, was ebenso eine Rolle spielt wie die hung, Entwicklung und Ausprägung, und uneinheitlichen Messverfahren (etwa unter- wer sind die Träger der Einstellungen? Al- schiedliche Skalenlängen sowie Antwort- lerdings gibt es bei der Messung von extre- vorgaben mit und ohne mittlere/neutrale mistischen Einstellungen ❙6 eine Reihe von Antwortkategorie). Auch in der Auswer- Problemen. tung der Daten bestehen erhebliche Spiel- räume. In einer Studie lag das Rechtsextre- Nach der klassischen normativen (Mini- mismuspotenzial zum Beispiel entweder bei mal-)Definition wird Extremismus als Ab- 2 oder bei 13 Prozent, je nachdem, ob man lehnung von Demokratie verstanden. ❙7 Dem- die ersten zwei oder die ersten drei Skalen- nach wird er als Sammelbezeichnung für punkte auf einer von eins bis sieben reichen- „unterschiedliche politische Gesinnungen den Skala einbezog. ❙10 und Bestrebungen (…), die sich der Ableh- nung des demokratischen Verfassungsstaates ❙8 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremis- mus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1996 4, S. 45. ❙5 Ebd., S. 287 f. ❙9 Einige Kontroversen bei der Entwicklung von va- ❙6 Vgl. Viola Neu, Das Janusgesicht der PDS. Wähler liden und reliablen Messinstrumenten sind doku- und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, mentiert in: Joachim Kreis, Zur Messung von rechts- Baden-Baden 2004, S. 151–167. extremer Einstellung: Probleme und Kontroversen ❙7 Mittlerweile ist die Extremismusforschung auch zweier Studien, Arbeitsheft aus dem Otto-Stammer- von der Terminologie etabliert. Vgl. zur Kritik an der Zentrum,­ Berlin 2007. Die Einigung auf eine Rechts­ Extremismusforschung: Streitgespräch zum Thema ex­tre­mismusskala erfolgte jedoch auch hier „mit Linksextremismus zwischen Richard Stöss und Uwe Bauchschmerzen“ (Vorbemerkung, S. 5). Backes, Moderation: Hans-Gerd Jaschke, in: Ulrich ❙10 Vgl. Bundesverband deutscher Banken (Hrsg.), Dovermann (Hrsg.), Linksextremismus in der Bun- Rechtsextremismus in Deutschland. Wirtschaft und desrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 291–318; Ma- Politik in Daten und Zusammenhängen, in: INTER/ thias Brodkorb, Kritik der Kritik – Über die miss- ESSE, 8 (1998), S. 1. Für ein weiteres Beispiel für un- verstandene Extremismustheorie, 23. 7. 2010, http:// terschiedliche Potenziale je nach Grenzwert vgl. Jür- blog.zeit.de/stoerungsmelder/​2010/​07/​23/kritik-der- gen W. Falter, Wer wählt rechts? Die Wähler und An- kritik-%E2%80%93-uber-die-missverstandene-ex­ hänger rechtsextremistischer Parteien im vereinigten tre­mis­mus­theorie (18. 9. ​2015). Deutschland, München 1994.

4 APuZ 40/2015 Die Mitte-Studien Studien die zentrale These des „Extremismus der Mitte“ tatsächlich stützen. Innerhalb der Extremismusforschung ha- ben es die sogenannten Mitte-Studien ❙11 zu 2013 formulierten die Autoren der Mitte- größerer Popularität gebracht. Die meisten Studien eine These, die bereits in der ersten Studien wurden von den Psychologen Elmar Studie maßgeblich war, nämlich dass „das Brähler und Oliver Decker erstellt; die aktu- gesellschaftliche Zentrum (…) zur Bedro- elle Studie, die auch das Konzept der „Grup- hung der bestehenden Gesellschaftsordnung penbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in- werden“ könne. ❙15 Dabei kritisieren sie auch tegriert, stammt vom Sozialpsychologen die Extremismustheorie, ❙16 der sie vorwer- Andreas Zick und der Erziehungswissen- fen, sie würde die „Mitte“ idealisieren und schaftlerin Anna Klein. Als Fazit dieser Stu- nur Bedrohungen sehen, die von den „Rän- dien lässt sich grob festhalten, dass rechtsex- dern“ kämen: „Die Bedrohung der Demo- tremistische Einstellungen besonders stark kratie kommt in diesem Sinne also von den in der „Mitte der Gesellschaft“ zu verorten ‚Rändern‘ der Gesellschaft her, eben von den seien. ❙12 Aufgrund der Vielfalt der Studien ‚Extremisten‘. Die ‚Mitte-Studien‘ aber wei- soll hier nur auf eine Auswahl eingegangen sen regelmäßig darauf hin, dass dies ein Trug- werden. schluss ist: Gefahr droht aus der ‚Mitte‘ selbst, in der rechtsextreme Einstellung, autoritäre Schon auf die Mitte-Studie von 2006 „Vom Phantasien und mangelndes demokratisches Rand zur Mitte“ regte sich ausführliche Kri- Bewusstsein weit verbreitet sind.“ ❙17 tik, die zu einer Diskussion über die Wissen- schaftlichkeit der Untersuchung führte. ❙13 Dies ist eine Hypothese, die man überprüfen Seitdem sind im Zweijahresrhythmus Nach- sollte, zumal für die Grundannahme, die Ex- folgestudien erschienen, die ebenfalls viel tremismusforschung würde nur die „Ränder“ und kontrovers besprochen wurden. ❙14 Statt ins Visier nehmen, jeder Beleg fehlt. Das Ge- den fachwissenschaftlichen Diskurs um Me- genteil ist richtig: Die soziologischen Fragen thoden, einzelne Items und Interpretationen sind selbstverständlicher Bestandteil der Ex­ ausführlich wiederzugeben, soll hier ledig- tre­mis­musforschung. Nicht von ungefähr kri- lich überprüft werden, ob die Befunde der tisiert der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse an der theoretischen Konzeption der Mitte- Studien, dass ihnen „eine Fundamentalkritik ❙11 Siehe Anm. 1. Von 2006 bis 2012 gab die Fried- am Extremismuskonzept“ zugrunde liege. ❙18 rich-Ebert-Stiftung (FES) die Studien heraus. 2014 Nichtsdestotrotz wird in den Mitte-Studien erschienen zwei Studien, wobei die Studie von Zick/ ein „Extremismus der Mitte“ konstatiert und Klein ebenfalls von der FES herausgegeben wurde. ❙12 Vgl. zum Beispiel O. Decker/​J. Kiess/​E. Brähler somit nolens volens zumindest der Teil der 2012 (Anm. 1). Extremismusforschung akzeptiert, der den ❙13 Vgl. Klaus Schroeder, Expertise zu „Vom Rand Rechtsextremismus zum Gegenstand nimmt. zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland“, in: Extremismus Auf den ersten Blick widersprechen die in Deutschland – Schwerpunkte, Perspektiven, Ver- Hypothesen der Mitte-Studien den Befun- gleich, in: Politische Studien, (2007) 1, S. 83–119; Joa- chim Kreis, Einige Anmerkungen zur „Expertise von den aus der Wahlforschung. Denn Wähler Prof. Dr. Klaus Schroeder zur Studie ‚Vom Rand zur rechtsextremistischer Parteien haben eher Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Ein- die Merkmale: jung, männlich, mittleres bis flussfaktoren in Deutschland‘“, in: J. Kreis (Anm. 9), niedriges Bildungsniveau und entsprechen- S. 87–103. ❙14 Vgl. Eckhard Jesse, Mitte und Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/ders. (Hrsg.), Jahr- ❙15 O. Decker/​J. Kiess/​E. Brähler 2013 (Anm. 1), S. 16. buch Extremismus und Demokratie, Baden-Baden ❙16 Bereits in der ersten Studie von 2006 wurde diese 2013, S. 13–35; Uwe Backes, Rechtsextremismus in vermeintliche Distanz zur Extremismustheorie for- der Mitte der Gesellschaft? Paradoxie und triste Ba- muliert: „Zudem wird mit dem Begriff (gemeint ist nalität eines Gemeinplatzes alarmistischer Zeitdia- Extremismus, Anm. d. A.) vermittelt, dass eine „Mit- gnostik, in: Ministerium des Innern Brandenburg/ te“ der Gesellschaft existiert, die sich von diesen Ex- Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (Hrsg.), tremen klar abgrenzen lässt.“ O. Decker/​E. Brähler/​ Rechtsextremismus zwischen „Mitte der Gesell- N. Geißler (Anm. 1), S. 12. schaft“ und Gegenkultur, Tagungsband zur Fach- ❙17 O. Decker/​J. Kiess/​E. Brähler 2012 (Anm. 1), tagung am 28. 1. 2013 in Dresden, Dresden 2013, S. 16. S. 33–50. ❙18 E. Jesse (Anm. 14), S. 25.

APuZ 40/2015 5 de Berufe. ❙19 Allerdings teilen Wähler nicht Es lässt sich sowohl eine soziale als auch zwangsläufig das Weltbild der gewählten eine politische Mitte definieren. Die ge- Partei, sodass zwischen Einstellungen und naue Grenzziehung zwischen der Mitte und Wahlverhalten durchaus eine Lücke klaffen dem Rest ist vor allem bei der sozialen Mitte kann. schwierig. Wo beginnt zum Beispiel die sozi- ale Mitte, und wo endet sie? Ab wann gehört Problematisch ist auch der theoretische Be- jemand der Mittelschicht an und ab wann zugsrahmen, der sich zwar auch auf die „auto- der Unter- oder Oberschicht? Je nach sozial- ritäre Persönlichkeit“ nach Theodor W. Ador­ strukturellem Ansatz fallen die Definitionen no bezieht, die Legitimität des Ansatzes unterschiedlich aus. Vor dem Schicht-Ansatz jedoch von Lipset herleitet. Lipset bezieht sich wurde lange Zeit von „Klasse“ gesprochen. hingegen auf die Mittelschicht und nicht auf Inzwischen findet man neben der Einteilung ein gesellschaftliches Zentrum, wie immer in Schichten häufig eine Unterscheidung der man dieses definieren mag. Des Weiteren irri- Gesellschaft nach „sozialen Lagen“, „Mi- tiert der explizite Bezug auf Lipset, da es nach lieus“ oder „Lebensstilen“. ❙22 Wie bewertet dessen Verständnis zwar einen eigenen Extre- man Selbsteinstufungen in den „Schichtmo- mismus der Mitte, nicht aber einen Rechtsex- dellen“? In welchem Milieu verortet sich „die tremismus der Mitte geben kann. Lipset be- Mitte“? Und wenn man die Mitte definieren zieht den Begriff „Rechtsextremismus“ auf kann, wie misst man sie? den totalitären Autoritarismus der Oberklas- se, der nicht identisch ist (und auch nicht sein Beim Schicht-Ansatz wird die Einteilung kann) mit dem Extremismus der Mittelklasse, in der Regel anhand des Berufs, des Einkom- für den Lipset den Faschismus und nicht den mens und des formalen Bildungsniveaus vor- Rechtsextremismus identifiziert. Entspre- genommen. Die genaue Grenzziehung fällt chend merkt Jesse an, dass der Begriff „Ex- aber auch hier schwer. Ab welchem Einkom- tremismus der Mitte“ missverständlich sei. ❙20 men beginnt die Mittelschicht? Wie geht man mit arbeitslosen Akademikern um und wie mit gut verdienenden Arbeitern? Gene- Wo ist „die Mitte“? rell können Gruppen wie Arbeitslose, Stu- dierende, Rentner und Hausfrauen über den Aus empirischer Sicht ergeben sich jedoch Schicht-Begriff nicht eingeordnet werden, da noch größere Probleme mit dem Begriff „Mit- die Einordnung primär auf Basis des Berufs te“. Die beiden größten liegen in der Definiti- vorgenommen wird. Noch schwieriger wird on und der Operationalisierung. So kritisiert es, wenn man einem Milieu- oder Lebens- auch Jesse an der Formel, der Extremismus stil-Ansatz folgt und versucht, hier die Mit- komme aus der „Mitte der Gesellschaft“, dass te zu operationalisieren, um sie empirisch zu sie „je nach Interpretation eine Banalität oder untersuchen, zumal zum Beispiel die Sinus- eine unbewiesene Unterstellung“ sei. Selbst- Milieus generell über Schichtgrenzen hinweg verständlich gebe es Rechtsextremismus auch verlaufen und darüber hinaus fortlaufend in den mittleren sozialen Schichten der Be- verändert und an die gesellschaftlichen Ver- völkerung. Allerdings sei es „eine unbewiese- änderungen angepasst werden. Die Verwen- ne Unterstellung, wenn suggeriert wird, von dung des Mitte-Begriffes ist somit mangels den tragenden sozialen Gruppen der Gesell- Lokalisierbarkeit der sozialen Mitte häufig schaft gehe Rechtsextremismus aus“. ❙21 Doch wenig erhellend. bleibt auch bei dieser Kritik offen, wie im so- ziologischen Sinne die „tragenden Gruppen“ Eine politische Mitte zu definieren, er- definiert sein sollen. scheint aus ähnlichen Gründen problema- tisch, zumal sie sich im Rahmen des ge- ❙19 Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Elmar Brähler sellschaftlichen und politischen Wandels und Johannes Kruse 2011 in einer Studie über „Die Parteien und ihre Anhänger“, www.uni-leipzig.de/ pdf/pm2011-343_ergebnisse.pdf (18. 9. 2015). Vgl. Kai ❙22 Zudem wurde auch der Schicht-Begriff schon un- Arzheimer, Die Wahl extremistischer Parteien, in: terschiedlich verwendet. Zum Folgenden und für Jürgen W. Falter/Harald Schoen (Hrsg.), Handbuch eine ausführlichere Darstellung der Unterschiede Wahlforschung, Wiesbaden 2005, S. 389–423. zwischen Klasse, Schicht, sozialer Lage, Milieu und ❙20 Vgl. E. Jesse (Anm. 14), S. 15. Lebensstil vgl. Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit, ❙21 Ebd., S. 34. Wiesbaden 20058, S. 38–42, S. 363, S. 427–431.

6 APuZ 40/2015 inhaltlich kaum festmachen lässt. Wo befin- Unterschicht. Bei den anderen gemessenen det sich zum Beispiel die politische Mitte bei Dimensionen des Rechtsextremismus – Be- den Themen Homo-Ehe oder Atomkraft? fürwortung einer rechtsautoritären Dik- Zudem sollte man Mitte nicht mit Mehrheit tatur, Sozialdarwinismus und Verharmlo- verwechseln. Wenn extremistische Einstel- sung des Nationalsozialismus – liegen die lungen mehrheitsfähig wären, müssten sie Prozentsatzdifferenzen zwischen den sozia- weit in die Gesellschaft reichen, könnten aber len Schichten bei weniger als fünf Prozent- auch eine Mehrheit haben, ohne von der Mit- punkten und sollten daher nicht inhaltlich te getragen zu werden. Mehrheiten für oder interpretiert werden. ❙25 Auch in den frühe- gegen eine politische Frage haben somit we- ren Mitte-Studien haben die unteren Schich- nig Aussagekraft bezüglich einer politischen ten eine stärkere Zustimmungstendenz zu oder soziologischen Mitte. rechtsextremistischen Items. ❙26

Bei der Verbreitung Gruppenbezogener Befunde und Interpretationen Menschenfeindlichkeit „zeigt sich – ähnlich wie bei rechtsextremen Einstellungen – dass Dennoch gibt es empirische Ergebnisse, die Personen, die sich in der mittleren Schicht man trotz der skizzierten Schwierigkeiten verorten, am wenigsten feindselig sind“. ❙27 heranziehen kann, um rechtsextreme Einstel- Das gilt vor allem für Fremdenfeindlichkeit, lungen in der sozialen sowie der politischen Antisemitismus, Abwertung wohnungslo- Mitte – gemessen anhand der Links-Rechts- ser Menschen, Etabliertenvorrechte, Sexis- Selbsteinstufung – zu untersuchen. Dabei mus, Abwertung asylsuchender Menschen, zeigt sich, dass Rechtsextremismus eben kein Abwertung von Sinti und Roma sowie Is- besonders ausgeprägtes Phänomen der sozia- lamfeindlichkeit, die in der Unterschicht len Mitte ist. Der Politikwissenschaftler Ri- deutlich weiter verbreitet sind als in der Mit- chard Stöss misst ein rechtsextremistisches telschicht. ❙28 Einstellungspotenzial von 21 Prozent in der Unterschicht, 8 Prozent in der Mittelschicht Die empirischen Befunde können demnach und 4 Prozent in der Oberschicht. Daraus nicht nachweisen, dass Rechtsextremismus schließt er, dass „sich Rechtsextremismus ein Phänomen der sozialen Mitte ist. Das Ge- weithin (aber nicht durchgängig) als ein Un- genteil ist der Fall: Die soziale Mitte weist so- terschichtphänomen“ erweise. ❙23 wohl beim Rechtsextremismus als auch bei Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die Auch in der aktuellen Mitte-Studie von geringste Anfälligkeit auf. Zick und Klein heißt es: „Die Zustimmung zum Rechtsextremismus ist in dieser Mit- Wenn die soziale Mitte kein Hort des te am geringsten“, und gemeint ist damit die Rechtsextremismus ist, vielleicht ist es dann sozioökonomische Mitte. ❙24 Demnach fin- die politische Mitte? Doch auch hier wei- det Chauvinismus in der Mittelschicht bei sen die Ergebnisse in eine andere Richtung: 10,4 Prozent der Befragten Zustimmung, „Mit Blick auf die politische Mitte wird zu- in der Oberschicht bei 17,8 Prozent und in nächst deutlich, dass diese Mitte geringe- der Unterschicht bei 25,7 Prozent. Auslän- re Zustimmungswerte im Vergleich zu jenen derfeindlichkeit findet sich in der Mittel- Befragten aufweist, die sich ‚rechts‘ veror- schicht bei 5,7 Prozent, in der Oberschicht ten.“ Die Autoren schließen an diese Fest- bei 8,8 Prozent und in der Unterschicht bei stellung an: „Auch bei Befragten, die sich 24,7 Prozent. Antisemitismus findet sich nur in der politischen Mitte verorten, ist jedoch bei 2,8 Prozent der Mittelschicht, 2,2 Pro- ein erhebliches Ausmaß an Zustimmung zu zent der Oberschicht und 8,9 Prozent der rechtsextremen Einstellungen zu verzeich- nen.“ ❙29 In den dazu veröffentlichten Daten

❙23 Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 20103, S. 66. ❙25 Vgl. ebd. S. 42. ❙24 A. Zick/​A. Klein (Anm. 1), S. 41. In der Studie ❙26 Vgl. O. Decker/​M. Weißmann/​J. Kiess/​E. Brähler wird die „sozioökonomische Mitte“ durch Selbstein- (Anm. 1), S. 112 f. stufung auf einer zehnstufigen Skala bestimmt. Die ❙27 A. Zick/​A. Klein (Anm. 1), S. 76. Werte von vier bis sieben werden als Mitte definiert. ❙28 Vgl. ebd., S. 77. Vgl. ebd. S. 76. ❙29 Ebd. S. 42 f.

APuZ 40/2015 7 weist jedoch lediglich der Chauvinismus mit während sich Menschen mit einer Bindung 12 Prozent in der politischen Mitte eine Zu- an CDU/CSU, FDP oder Parteien der ex- stimmung im zweistelligen Bereich auf (ge- tremen Rechten weiter rechts positionie- genüber 29,5 Prozent Zustimmung der Be- ren. Allerdings gibt es seit den 1970er Jah- fragten, die sich politisch rechts verorten). ren eine starke Verschiebung innerhalb der Alle anderen Dimensionen des Rechtsextre- ideologischen Verortung. In der Wahrneh- mismus kommen in der politischen Mitte auf mung der Parteien ist eine eindeutige „Mit- Zustimmungswerte zwischen 1,3 (Verharm- te-Tendenz“ sichtbar, und auch die Befrag- losung des Nationalsozialismus) und 6,2 Pro- ten ordnen sich immer stärker in der Mitte zent (Ausländerfeindlichkeit). ❙30 ein. Die Pole wandern seit den 1970er Jah- ren in die Mitte. Ähnlich verhält es sich bei Gruppenbezo- gener Menschenfeindlichkeit, die „unter po- litisch rechts stehenden Befragten am wei- Fazit testen verbreitet“ ist. ❙31 Zum Teil stimmen Befragte, die sich politisch rechts verorten, Auch wenn nach der aktuellen Datenlage für einzelnen Dimensionen der Menschenfeind- „die Mitte“ eher Entwarnung gegeben wer- lichkeit um bis zu zwanzig Prozentpunkte den kann, heißt das nicht, dass dies ein Persil- häufiger zu, als Befragte, die sich in der poli- schein ist. Jeder kann Träger extremistischer tischen Mitte verorten. ❙32 Auch die politische Einstellungen sein, jeder kann für Extremis- Mitte ist nach diesen Daten empirisch nicht men anfällig werden. Und die Extremismus- im besonderen Maße von Rechtsextremismus forschung in ihrer Breite hat dies auch nie und Gruppenbezogener Menschenfeindlich- infrage gestellt oder Extremismus quasi auto- keit betroffen. matisch an den „Rändern“ verortet.

Die Daten der aktuellen Mitte-Studie kön- Und hier liegt die Aufgabe der Sozial- nen somit die These nicht bestätigen, dass wissenschaften: immer wieder danach zu Rechtsextremismus vor allem ein Phänomen suchen, welche Extremismen in der Ge- der gesellschaftlichen und politischen Mit- sellschaft existieren und wo sie beheimatet te sei. Personen, die sich selbst im politischen sind. Gerade das Aufkommen des Salafis- Spektrum rechts verorten, sind wesentlich mus beziehungsweise Islamismus verdeut- anfälliger für Rechtsextremismus als Perso- licht, wie wichtig auch eine präventive so- nen, die sich der politischen Mitte zugehö- zialwissenschaftliche Forschung ist, die rig fühlen. Doch wer verortet sich politisch sensibel bereits frühzeitig mit etablierten rechts? wie experimentellen Methoden extremisti- schen Einstellungen nachgeht. Wir sind dieser Frage mithilfe der Polit- barometer-Daten von 2012 nachgegangen. ❙33 Das Ergebnis ist relativ eindeutig: Im rech- ten Spektrum der Links-Rechts-Skala veror- ten sich vor allem ältere Menschen mit nied- riger Bildung, die konfessionell gebunden sind. ❙34 Zusätzlich zeigen unsere Analysen, dass die Selbsteinstufung der verschiedenen Parteianhänger auf der Links-Rechts-Ska- la dem klassischen Muster entspricht. Men- schen mit einer Parteineigung zu SPD, Grü- nen oder Linken verorten sich weiter links,

❙30 Vgl. ebd. S. 43. ❙31 Ebd., S. 76. ❙32 Vgl. ebd., S. 77. ❙33 Vgl. Matthias Jung/Yvonne Schroth/Andrea Wolf, Politbarometer 2012 (Kumulierter Datensatz inkl. Kurzbarometer), GESIS-Datenarchiv, Köln 2014. ❙34 Die detaillierten Ergebnisse der linearen Regressi- on können bei den Autorinnen angefordert werden.

8 APuZ 40/2015 Andreas Zick · Beate Küpper Gewalt beförderte. Weite Teile der rechts- extremen und rechtspopulistischen Milieus radikalisierten sich. Für das erste Halbjahr Volkes Stimme? 2015 meldete das Bundesinnenministerium auf Rückfrage im Deutschen Bundestag ei- nen Höchststand politischer Kriminalität aus Rechtspopulistische dem rechten Spektrum. Es wurden über 200 Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte regis- Überzeugungen triert, von denen die überwiegende Mehrzahl von rechtsextremen Tätern, einige aber auch von anderen begangen wurden. ❙3 Bis heute der Mitte finden beinahe täglich irgendwo in Deutsch- land Demonstrationen vor Flüchtlingsunter- künften statt, und es häufen sich Hasstaten, aut ZDF-Politbarometer schnellte das die sich gegen die Flüchtlingspolitik und vor LThema „Zuwanderung“ im Januar 2015 allem gegen geflüchtete Menschen und ihre auf Platz 1 der von den Bürgerinnen und Bür- Unterstützer richten. gern wahrgenomme- Andreas Zick nen gesellschaftlichen Auch die parteipolitische Landschaft hat Dr. rer. nat. phil. habil., geb. Herausforderungen. sich verschoben. Im Frühsommer 2015 zeig- 1962; Professor für Sozialisa- Während eine unserer te sich spätestens im Zerwürfnis der jungen tion und Konfliktforschung, Umfragen ergab, dass und bis dahin erfolgreichen Partei Alternati- Leiter des Instituts für interdis- ein Drittel der Bür- ve für Deutschland (AfD) ihr extrem rechtes ziplinäre Konflikt- und Gewalt- ger dabei eine stärkere Gesicht, ❙4 und auch aus den etablierten Par- forschung (IKG) der Universität Willkommenskultur teien waren stereotype und vorurteilsbelas- Bielefeld, 33615 Bielefeld. fordert, ❙1 äußert sich tete Meinungen über asylsuchende Menschen [email protected] die Sorge bei anderen zu vernehmen. Ohne Not war und ist von in menschenfeindli- „Flüchtlingsströmen“, „Wirtschaftsflüchtlin- Beate Küpper cher Abwertung. Die gen“ und anderen negativ konnotierten Eti- Dr. phil., geb. 1968; Profes- Situation hatte sich ketten und Klischees die Rede. Auch die EU sorin für Soziale Arbeit in seit Herbst 2014 mas- und im Besonderen „die Griechen“ wurden Gruppen- und Konfliktsituatio- siv aufgeschaukelt, vor nicht von stereotypen Bildern verschont und nen, Institut für Forschung und allem, seit wöchent- zugleich schulmeisterlich gemaßregelt. Entwicklung in der Sozialen lich mehrere Tausend Arbeit,­ Hochschule Niederrhein, Menschen als „Patri- Das alles fiel nicht vom Himmel. Publikati- Richard-Wagner-Straße 101, otische Europäer ge- onen wie zum Beispiel Thilo Sarrazins Best- 41065 Mönchengladbach. gen die Islamisierung seller „Deutschland schafft sich ab“ (2010) beate.kuepper@ des Abendlandes“ (Pe- hatten einen Stein ins Rollen gebracht, ❙5 in- hs-niederrhein.de gida) durch Dresden dem sie menschenfeindliche Vorurteile bün- „spazierten“. Auf der Straße wie im Internet äußerten sie aggres- ❙1 Vgl. Andreas Zick/Madlen Preuß, ZuGleich – Zu- sive und verallgemeinernde Stereotype über gehörigkeit und (Un)Gleichwertigkeit, Zwischen- Muslime, Roma, Asylsuchende oder allge- bericht zur Studie, 2014, www.uni-bielefeld.de/ikg/ mein „Fremde“. ❙2 Dazu mischten sich Paro- projekte/ZuGleich/ZuGleich_Zwischenbericht.pdf len gegen die Europäische Union sowie ge- (18 . 9. 2 015). 2 gen die Gleichstellung von Frauen sowie Ho- ❙ Vgl. Lars Geiges/Stine Marg/Franz Walter, Pegida. mosexuellen. Obwohl die israelische Flag- Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015. ge geschwenkt wurde, waren mancherorts ❙3 Angaben des BMI auf eine parlamentarische An- auch antisemitische Beschimpfungen zu ver- frage; Angaben der Länder mit Stichtag 6. 7. 2015. nehmen. Erkennbar war das klare Ziel, eige- ❙4 Zur Einordnung der AfD als rechtspopulistische ne Privilegien und Vormachtansprüche zu Partei vgl. Alexander Häusler, Die „Alternative für ­verteidigen. Deutschland“ – eine rechtspopulistische Partei?, Düsseldorf 2013. Siehe auch den Beitrag von Frank Decker in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Je länger es die „Spaziergänge“ gab, des- ❙5 Vgl. Werner, T. Bauer, Rechtspopulismus in Eu- to deutlicher wurde, wie menschenfeindli- ropa, Internationale Politikanalyse der Friedrich- che Hetze zunehmend die Akzeptanz von Ebert-Stiftung, Berlin 2010.

APuZ 40/2015 9 delten und sagbar machten. ❙6 Die Folgen sind ve Tatsachen und besseres Wissen, greift Ver- nun sichtbar: Der Rechtspopulismus polari- satzstücke aus Stimmungen auf, schmiedet siert die Mitte der Gesellschaft, und er bildet sie zusammen und gießt sie in eine politische einen Gegenpol zu einer Zivilgesellschaft, die Rhetorik gegen „die Anderen“ und „die da sich auf der anderen Seite zunehmend offen oben“. Der Sozialwissenschaftler Alexander für Vielfalt zeigt und in der sich viele Men- Häusler definiert Rechtspopulismus als „die schen für Flüchtlinge und gegen Menschen- volkstümlich und rebellisch-autoritäre Ver- feindlichkeit engagieren. kündung extremer rechter Theoreme auf der Basis emotionalisierter Agitation“, der sich der Der „Mitte-These“ zufolge gibt es in der „propagandistische(n) Simplifizierungen in Gesellschaft ein Reservoir an menschen- Anlehnung an ‚des Volkes Stimme‘ “ bedient. ❙9 feindlichen und rechtspopulistischen Ideo- Die Parolen der Pegida-Bewegung folgen die- logien, an die rechtspopulistische wie rechts- sem Muster. Mit „denen da oben“ sind vor al- extremistische Milieus anknüpfen können. ❙7 lem „etablierte“ Eliten, Politiker und Medi- Diese Aussage ließe sich auf Pegida übertra- en gemeint. Gegen sie werden Misstrauen und gen, woraus die Annahme folgt, dass auch die Missachtung geschürt, ❙10 wobei umstritten ist, auf den „Spaziergängen“ geäußerten Stim- inwieweit sich Rechtspopulismus lediglich ge- mungen in der Mitte der Gesellschaft ver- gen „das Establishment“ oder auch gegen das breitet sind und nun in der Protestbewegung System der parlamentarischen Demokratie als kanalisiert werden. Dieser Beitrag schließt solches wendet. ❙11 Mit „wir hier unten“ werden an diese These an, indem er empirische Evi- „das Volk“ und „der einfache Mann“ ebenso denz über die Verbreitung von rechtspopu- angesprochen wie ein bedrohtes „Wir“, das sich listischen Mentalitäten in der Bevölkerung vermeintlich gegen „die Anderen“ – also Aus- liefert. Grundlage ist eine repräsentative Be- länder, Muslime, Asylsuchende, Linke und an- völkerungsumfrage, die im Frühsommer dere mehr – verteidigen muss. Das „Wir“ wird 2014 kurz vor dem Erstarken von Pegida und dabei als eine homogene große Gruppe kon- ihren Ablegern erstellt wurde. ❙8 Zunächst struiert („das Volk“), die gegenüber „denen da wird definiert, was unter Rechtspopulismus oben“ und „den Anderen“ angeblich benach- verstanden wird und wie er in der Befragung teiligt wird. Das „Wir“ bleibt bewusst vage, um als rechtspopulistisches Einstellungsmuster möglichst heterogene Gruppen, auch extreme erfasst wurde. Um dem Wesensmerkmal der Rechte, anzusprechen und zu integrieren. Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Rechtspopulismus gerecht zu werden, be- Der Mythos der Volksgemeinschaft hat schreiben wir aktuelle Befunde zur Verbrei- hier eine wesentliche Integrations- und Auf- tung von Rechtspopulismus in der deutschen wertungsfunktion. ❙12 Mit einer proklamier- Bevölkerung unter Berücksichtigung der ten Freundlichkeit gegenüber „Ausländern“, Themen und Adressatengruppen der Abwer- tung, die aktuell in rechtspopulistischer Agi- tation hörbar sind. ❙9 Alexander Häusler, Populismus als politischer Zeitgeist, in: Antifa-Infoblatt, 59 (2003), S. 25 ff. ❙10 Vgl. Frank Decker, Die populistische Herausfor- derung. Theoretische und ländervergleichende Per- Rechtspopulistische Mentalitäten spektiven, in: ders. (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesba- Der Rechtspopulismus gebärdet sich als den 2006. „Volkes Stimme“. Er vereinfacht komple- ❙11 Vgl. Christoph Butterwegge, Definitionen, Ein- xe Sachverhalte, ist resistent gegen objekti- fallstore und Handlungsfelder des Rechtspopulis- mus, in: ders./Gudrun Hentges (Hrsg.), Rechtspo- pulismus, Arbeitswelt und Armut. Befunde aus ❙6 Vgl. Hans-Georg Betz, Radical Right-Wing Popu- Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen– lism in Western Europe, New York 1994. Farmington Hills 2008. ❙7 Vgl. Klaus Ahlheim/Bardo Heger, Vorurteile und ❙12 Zur Verbreitung des Mythos einer vermeintlich Fremdenfeindlichkeit: Handreichungen für die poli- homogenen Volksgemeinschaft in Deutschland vgl. tische Bildung, Schwalbach/Ts. 1999. Andreas Zick/Beate Küpper, Zusammenhalt durch ❙8 Vgl. Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte – Ausgrenzung? Wie die Klage über den Zerfall der Ge- Feindselige Zustände, Hrsg. Ralf Melzer, Friedrich- sellschaft und die Vorstellung von kultureller Homo- Ebert-Stiftung, Berlin 2014, www.fes-gegen-rechts- genität mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit extremismus.de/pdf_14/FragileMitte-Feindselige- zusammenhängen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Zustaende.pdf (18. 9. 2015). Deutsche Zustände, Folge 10, Frank­furt/M. 2012.

10 APuZ 40/2015 die sich gut integrieren, sowie der Abgren- mistische Wertorientierung sowie eine ag- zung von „Linken“ und „dem Mainstream“ gressive Haltung gegenüber der selbst defi- soll zudem eine positive Identität der „wah- nierten Abweichung von anderen, die sich in ren Toleranten“ gelingen. Die jeweils als „die einer an Strafen orientierten Law-and-Or- Anderen“ Deklarierten dienen als Sündenbö- der-Haltung manifestiert. In Erinnerung an cke für die so empfundene eigene Misere und die klassische Studie zum „autoritären Cha- vermeintliche Schlechterstellung. Gerade sei- rakter“ spielen auch „Kraftmeierei“, Aber- ne Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit, glaube sowie ein übertriebenes Interesse an zeitaktuell jeweils andere soziale Gruppen Sexualität eine Rolle. ❙14 ins Visier zu nehmen, mal die eine, mal die andere Karte der Abgrenzung stärker aus- Darüber hinaus werden als weitere Kom- zuspielen, zeichnet den Rechtspopulismus ponenten von Rechtspopulismus Rassismus, aus. Die Unbestimmtheit der Argumente nationaler Chauvinismus und konservative und Nicht-Kommunikation macht darüber Nostalgie sowie antidemokratische Tenden- hinaus rechtspopulistische Gruppen schwer zen vorgeschlagen. ❙15 Bedeutsam ist zudem bestimmbar, öffnet die Bewegung aber und die Akzeptanz von Aggression und Gewalt. verleiht Ideologien der Ungleichwertigkeit Sie unterscheidet nach einigen gängigen Defi- als Minimalkonsens besondere Bedeutung. nitionen den Rechtspopulismus vom Rechts- extremismus, allerdings sind die Übergän- Rechtspopulismus im Sinne eines genera- ge fließend. ❙16 Rechtsextreme Strömungen lisierten Einstellungsmusters setzt sich aus bedienen sich rechtspopulistischer Stilmit- unterschiedlichen Komponenten zusammen, tel. ❙17 Rechtspopulistische Strömungen dis- die flexibel an Situationen und Propaganda- tanzieren sich zwar appellativ von manifes- ziele angepasst werden können. Eine Kern- ter Gewalt, billigen diese aber zunehmend komponente in nahezu allen vorgeschlagenen und integrieren gewaltorientierte Rechtsex- Definitionen von Rechtspopulismus ❙13 ist die treme und verwandte Gruppierungen wie Abwertung und Ausgrenzung von Menschen etwa Hooligans. So hatten Pegida und ihre aufgrund ihrer zugewiesenen Zugehörigkeit Ableger von Beginn an eine Affinität für ge- zu einer sozialen Gruppe, die anhand eines waltaffine Propaganda und Akteure, entspre- Merkmals wie unter anderem Ethnie, Reli- chend weit waren ihre Türen für Rechtsex- gion oder kulturelle Herkunft als irgendwie tremisten geöffnet. „anders“, „fremd“ oder „unnormal“ mar- kiert wird. Sie drückt sich insbesondere in All dies spricht dafür, das ­beschriebene Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus so- Einstellungsmuster als rechtspopulistisch zu wie mittlerweile auch in der Abwertung von bezeichnen. Inwieweit rechtspopulistische Muslimen und derzeit verstärkt von asylsu- Einstellungen und Handlungen mit einer chenden Menschen aus. Darüber hinaus wird Fremd- oder Selbstkategorisierung als „rechts“ die Ungleichwertigkeit anderer gesellschaft- einhergehen, ist eine andere Frage. In den Fa- licher Gruppen propagiert. Ein deutliches schismusanalysen sprach der Soziologe Sey- Beispiel ist die Zurückweisung der Gleich- mour Martin Lipset von einem „Extremismus stellung von homosexuellen Menschen oder der sexistische Anruf gegen den „Gender- ❙14 Vgl. Theodor W. Adorno et al., The Authorita- wahn“. Menschenfeindliche Hetze gegen die- rian Personality, New York 1950; Robert Altemey- se und andere Gruppen findet sich auf Plaka- er, Enemies of Freedom: Understanding Right-Wing ten und Reden der Pegida-Demonstrationen, Authoritarianism, San Francisco 1988; Andreas auf Veranstaltungen der AfD und massiv auf Zick/. ​P. J Henry, Nach oben buckeln, nach unten tre- entsprechenden Seiten im Internet. ten. Der deutsch-deutsche Autoritarismus, in: Wil- helm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Fol- ge, 10 Frank­furt/M. 2011. Als eine weitere zentrale Komponente des ❙15 Vgl. G. Hentges et al. (Anm. 13). Rechtspopulismus gilt der Autoritarismus. ❙16 Vgl. Karin Priester, Fließende Grenzen zwischen Er ist gekennzeichnet durch den Appell an Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Eu- Unterordnung und Gehorsam, eine konfor- ropa, in: APuZ, (2010) 44, S. 33–39. ❙17 Vgl. Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster, Die extreme Rechte. Einleitende Betrach- ❙13 Vgl. Gudrun Hentges et al., The Abandoned Wor- tungen, in: dies. (Hrsg.), Strategien der extremen ker. Socio-Economic Change and the Attraction of Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Right-Wing Populism, Wien 2003. Wiesbaden 2009, S. 11–35.

APuZ 40/2015 11 der Mitte“, der sich auch empirisch nachwei- und diese Daten nach Repräsentativität ge- sen ließe. ❙18 Einige Studien deuten darauf hin, wichtet. Die Befragung folgt methodisch dem dass rechtspopulistische Einstellungen be- üblichen Vorgehen bei einem Telefonsurvey. sonders weit bei denjenigen verbreitet sind, Die Befragten wurden zu einer ganzen Reihe die sich selbst als eher oder ganz rechts ver- von Themen rund um Demokratie und Ein- orten. Sie finden sich aber auch bei Personen, stellungen zu Gruppen befragt. Dazu lasen die sich selbst in der Mitte oder gar links da- ihnen geschulte Interviewer Aussagen vor, zu von ­verorten. denen die Befragten anhand einer vierstufi- gen Antwortskala jeweils ihre Zustimmung Mehr noch, von 2002 bis 2005 nahm unse- oder Ablehnung signalisierten („Ich stimme ren Analysen zufolge bei jenen, die sich kon- überhaupt nicht, eher nicht, eher oder voll stant in der politischen Mitte verorteten, die und ganz zu“). ❙21 Jede Einstellungskompo- Menschenfeindlichkeit zu. Darüber hinaus nente wurde mit mindestens zwei Aussagen sind Personen von rechts in die Mitte gewan- erfasst, die in vorangegangenen Studien und dert, das heißt, sie verankerten sich selbst Vortests auf ihre Reliabilität und Validität ge- vormals im rechten Spektrum, später dann prüft wurden. ❙22 – unter Mitnahme ihrer feindseligen Ein- stellungen – in der Mitte. ❙19 Ähnlich verhält In der vorangegangen, verwandten Lang- es sich mit der Präferenz für Parteien. Auch zeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschen- Wählerinnen und Wähler demokratischer feindlichkeit (GMF) ❙23 wurde Rechtspopulis- Parteien können rechtspopulistische Einstel- mus über die Kernkomponenten autoritäre lungen vertreten, ❙20 so wie sich Akteure die- Law-and-Order-Haltung, Fremdenfeindlich- ser Parteien bisweilen gezielt rechtspopulis- keit und (sekundärer) Antisemitismus de- tischer Rhetorik bedienen, wie dies aktuell in finiert und erfasst. ❙24 Ab 2011 wurde ange- der Flüchtlingsdebatte zu beobachten ist. Es sichts der sichtbaren Propaganda zudem die ist eine empirische und keine definitorische Abwertung von Muslimen einbezogen, was Frage, in welchen Bevölkerungssegmenten sich auch empirisch bestätigen ließ. ❙25 An- mehr oder weniger rechtspopulistische Ein- gesichts der massiven Feindseligkeiten ge- stellungen geteilt werden. gen Roma und Asylsuchende haben wir für die Auswertungen nun zusätzlich die Ab- wertung dieser beiden Gruppen berück- Erfassung von Rechtspopulismus sichtigt. Der Antisemitismus spielt dagegen und Bestimmung der „Mitte“ aktuell bei rechtspopulistischer Hetze eher eine Nebenrolle und lässt sich in den Da- Die Studie „Fragile Mitte – Feindselige Zu- ten auch empirisch zwar als eng verwand- stände“, die hier zur Analyse der Verbrei- tes, aber doch getrenntes Konstrukt identi- tung von Rechtspopulismus herangezogen fizieren. Der theoretischen Diskussion um wird, basiert auf einer telefonischen, reprä- Rechtspopulismus folgend wird zudem De- sentativen Bevölkerungsumfrage von rund mokratiemisstrauen beziehungsweise De- 2000 Personen ab 16 Jahren. Für die folgen- den Auswertungen wurden nur Befragte mit ❙21 Die Interviews wurden als CATI-Verfahren durch deutscher Staatsangehörigkeit ausgewählt das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum Duis- burg umgesetzt. CATI steht für „Computer Assisted ❙18 Vgl. Seymour Martin Lipset, Der Faschismus – Telephone Interviewing“. die Linke, die Rechte und die Mitte, in: Kölner Zeit- ❙22 Zur Erfassung von Fremdenfeindlichkeit etwa die schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11 Aussagen „Es leben zu viele Ausländer in Deutsch- (1959) 3, S. 401–444. land“ und „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, soll- ❙19 Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper, Politische Mitte. te man die in Deutschland lebenden Ausländer wie- Normal feindselig, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), der in ihre Heimat zurück schicken“. Für die weiteren Deutsche Zustände, Folge 4, Frank­furt/M. 2006; El- Items vgl. A. Zick/​A. Klein (Anm. 8). mar Brähler/Oliver Decker/Norman Geißler, Vom ❙23 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und Folgen 1–10, /M.–Berlin 2002–2012. ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006. ❙24 Vgl. Anna Klein/Beate Küpper/Andreas Zick, ❙20 Vgl. Anna Klein/Wilhelm Heitmeyer, Demokra- Rechtspopulismus im vereinigten Deutschland als tie auf dem rechten Weg. Entwicklung rechtspopu- Ergebnis von Benachteiligungsgefühlen und Demo- listischer Orientierung und politischen Verhaltens kratiekritik, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deut- in den letzten zehn Jahren, in: Wilhelm Heitmeyer sche Zustände, Folge 7, Frank­furt/M. 2009. (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 9, Berlin 2011. ❙25 Vgl. A. Klein/​W. Heitmeyer 2011 (Anm. 20).

12 APuZ 40/2015 mokratiefeindseligkeit erhoben, in die so- Nationalstolz), der Billigung von Gewalt und wohl eine ablehnende Haltung gegenüber zum Teil auch der Bereitschaft zur Gewalt der parlamentarischen Demokratie als auch verbunden. Deutliche empirische Zusam- gegenüber Politikern im Sinne einer Anti- menhänge zeigen sich ferner mit ethnischem Esta­blishment-Einstellung ­einfließt. Rassismus, der Feindseligkeit gegen homose- xuelle Menschen und Sexismus sowie mit der Nationalismus und eine Anti-EU-Hal- generellen Zustimmung zu Vorrechten für tung spielen bei rechtspopulistischen Dis- Etablierte. kursen ebenfalls eine wichtige Rolle. ❙26 Nati- onalismus hängt nach unseren empirischen Die sogenannte Mitte der Gesellschaft lässt Analysen jedoch schwächer mit den übrigen sich politisch oder sozioökonomisch definie- Versatzstücken zusammen. Eine Anti-EU- ren und kann anhand objektivierbarer In- Haltung kann dagegen als mögliche ergänzen- dikatoren oder durch Selbstzuschreibung de Komponente identifiziert werden. Sie wur- erfasst werden. Für die folgenden Analy- de allerdings nur bei der Hälfte der Befragten sen wurde die „Mitte“, wie in den Politik- erhoben und kann daher für die Berichterstat- wissenschaften üblich, zum einen über die tung nicht in einen Gesamtindex rechtspopu- Selbstverortung der politischen Position als listischer Überzeugungen einfließen. Glei- „links“, „eher links“, „genau in der Mitte“, ches trifft auf die emotionale Komponente der „eher rechts“ oder „rechts“ und die Wahl­ „kollektiven Wut“ zu. Diese prägt unseres Er- inten­tion (Sonntagsfrage) erfasst, zum ande- achtens gerade die aktuelle rechtspopulisti- ren über Bildung und Einkommen definiert. sche Agitation, ❙27 wurde aber ebenfalls nur bei Darüber hinaus wurden die Befragten gebe- der Hälfte der Befragten erfasst. Der Gesamt- ten, sich selbst auf einer zehnstufigen Skala index, der einer Mittelwertskala aus den sechs zwischen „unten“ und „oben“ zu verorten, Komponenten Fremdenfeindlichkeit, Abwer- ohne vorzugeben, anhand welcher Kriterien tung von Muslimen, Roma und Asylsuchen- sie dies tun. Zudem wurden sie danach ge- den, Autoritarismus und Demokratiemiss- fragt, inwieweit sie sich selbst zur „Mitte der trauen entspricht, ist hoch reliabel. Das heißt: Gesellschaft“ zählen (fünfstufiges Antwort- Die genannten Komponenten gehen bei vielen format von 1 = „ich stimme überhaupt nicht Befragten Hand in Hand – entweder jemand zu“ bis 5 = „ich stimme voll und ganz zu“). stimmt in der Tendenz allen Facetten zu oder lehnt sie mehr oder weniger geschlossen ab. Rechtspopulismus inmitten Der Rechtspopulismus-Index hängt em- der Gesellschaft pirisch hoch mit der „kollektiven Wut“ zu- sammen. Er ist zudem mit einer Anti-EU- Die Befragung ergab, dass insgesamt fast Haltung, ❙28 Nationalismus (hier erfasst als 42 Prozent der befragten Deutschen mit ih- ren Einstellungen in Richtung Rechtspopu- lismus tendieren, so wie er oben beschrieben 26 ❙ Vgl. G. Hentges et. al. (Anm. 13). und erfasst wurde. Hierunter werden Befrag- ❙27 Details bei Andreas Zick/Beate Küpper, Wut, te summiert, die auf der verwendeten vier- Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Hrsg. Ralf Melzer/Dietmar Moltha- stufigen Skala Werte von über 2,5 erreichen, gen, Fiedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2015 (i. E.). Die also im Zustimmungsbereich des Index lie- „kollektive Wut“ wurde mit sieben neu entwickel- gen. Rund 20 Prozent erreichen sogar einen ten Items erfasst, die zu einer reliablen Skala zusam- Wert von mindestens 3, was für eine eindeuti- mengefasst wurden, u. a.: „Dass Bürger sich auch mit ge rechtspopulistische Orientierung spricht. Gewalt gegen Asylantenheime zur Wehr setzen, fin- In den „neuen“ Bundesländern (28 Prozent de ich verständlich“, „Die Wut der Bürger auf die Zu- wanderung ist absolut verständlich“, „In Deutschland Zustimmung) sind rechtspopulistische Ein- darf man nichts Schlechtes über Ausländer und Juden stellungen weiter verbreitet als in den „al- sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden“, ten“ (18 Prozent Zustimmung). Unter der „In Deutschland kann man nicht mehr frei seine Mei- strengeren Vorgabe der Zustimmung zu allen nung äußern, ohne Ärger zu bekommen“. sechs Komponenten sind es knapp 5 Prozent ❙28 Die Anti-EU-Haltung wurde über drei neu ent- der Befragten (im Westen knapp 4, im Osten wickelte Items erfasst: „Deutschland wäre ohne die EU besser dran“, „Deutschland muss mehr Stärke ge- 10 Prozent). Ältere Befragte ab 60 Jahren nei- genüber Brüssel zeigen“ und „Deutschland muss sich gen stärker zu rechtspopulistischen Einstel- mehr auf sich selbst besinnen als auf Europa“. lungen als Befragte bis 30 Jahren und jenen

APuZ 40/2015 13 Abbildung 1: Rechtspopulistische Einstellungen ten, bei der Anhängerschaft von CDU/CSU, nach politischer Selbstverortung SPD, FDP und der Linkspartei etwas höher (die Anzahl von Anhängern anderer Parteien 4 ist zu gering, um hier eine Aussage treffen zu können). Mit Abstand besonders verbreitet 3 ist die Neigung zum Rechtspopulismus bei potenziellen AfD-Wählern sowie ganz be- 2 sonders bei den Nichtwählern (Abbildung 2). Mit höherer Schulbildung sinkt die Nei- 1 links eher links genau in eher rechts rechts gung zum Rechtspopulismus recht deutlich, der Mitte und Befragte mit niedriger Schulbildung nei- gen eher zu rechtspopulistischen Einstellun- Index Rechtspopulismus; Mittelwerte, Skala 1–4; Studie „Fra- gen als Befragte mit mittlerer Schulbildung. gile Mitte“ 2014. Die geringste Zustimmung findet sich bei Be- fragten mit höherer Schulbildung; diese Ten- im mittleren Erwachsenenalter, die in der denz wird auch in anderen Studien mit Blick Tendenz die niedrigsten Zustimmungswer- auf Fremdenfeindlichkeit beobachtet. Hier te aufweisen. Frauen tendieren etwas stärker dürfte allerdings die Tendenz höher Gebil- zum Rechtspopulismus als Männer, wobei deter, sozial erwünscht zu antworten, eine der Unterschied absolut gesehen gering ist. Rolle spielen. Ebenso mag hier aber auch po- Die Größe des Wohnortes spielt keine Rol- litische Bildung und das Einüben einer demo- le: Rechtspopulistische Einstellungen sind in kratischen Kultur Einfluss nehmen, die mit kleinen Gemeinden nicht weiter verbreitet als höherer Schulbildung ausgeprägter ist. in größeren Städten. Ähnlich drücken sich Einkommensun- In der letzten Erhebung der GMF-Lang- terschiede aus: Ärmere Befragte neigen eher zeitstudie des Jahres 2011 waren, gemessen zum Rechtspopulismus, gefolgt von denjeni- an dem strengen Kriterium einer Zustim- gen mit mittleren Einkommen und den ver- mung zu allen Komponenten, knapp 9 Pro- gleichsweise geringsten Zustimmungswer- zent der Befragten rechtspopulistisch ein- ten bei wohlhabenden Befragten, wenngleich gestellt (verglichen mit den oben genannten auch von den Wohlhabenden immerhin je- 5 Prozent 2014). Dabei zeichnet sich eine ge- der Zehnte rechtspopulistische Einstellun- wisse Polarisierung bei einigen der einzelnen gen teilt. ❙31 Die Befunde spiegeln die Wähler- Einstellungskomponenten ab: Während im schaft rechtspopulistischer Parteien, ❙32 aber Erhebungsjahr 2011 nur 20,5 Prozent der Be- nicht Beobachtungen unter aktiven Demons- fragten eindeutig eine positive Haltung ❙29 zu tranten bei Pegida-Veranstaltungen, die so- asylsuchenden Menschen und fast 19 Prozent zioökonomisch vergleichsweise besser eta- eine eindeutig ablehnende Haltung ❙30 signali- bliert schienen. ❙33 sierten, verschob sich dies 2014 zu 34 Prozent positiver respektive fast 22 Prozent ablehnen- Dies spiegelt sich nur bedingt in der Selbst- der Haltung. einschätzung wider, zur „Mitte der Gesell- schaft“ zu gehören. Zwar sinkt mit zuneh- Mit zunehmender Selbstverortung der ei- menden rechtspopulistischen Einstellungen genen politischen Position nach rechts nimmt die Tendenz, sich selbst zur Mitte der Gesell- auch die Tendenz zum Rechtspopulismus in schaft zu zählen beziehungsweise verorten der Bevölkerung zu (Abbildung 1), mit der geringsten Verbreitung unter den sich „eher ❙31 Einkommen gemessen am bundesdeutschen Äqui­ links“ Verortenden. Unter potenziellen Wäh- valenzeinkommen: ärmer (unter 70 Prozent des Äqui­ lern von Bündnis 90/Die Grünen ist die Ten- va­lenz­einkommens), mittel (70 bis 150 Prozent), wohl- denz zum Rechtspopulismus am gerings- habend (ab 150 Prozent). ❙32 Vgl. Tim Spier, Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in West- ❙29 Zustimmungswerte von maximal 2 auf der vier- europa, Wiesbaden 2010. stufigen Skala. ❙33 Vgl. Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schäl- ❙30 Zustimmungswerte von über 3 auf der vierstufi- ler, Wer geht zu Pegida und warum? Schriften zur gen Skala. Verfassungs- und Demokratieforschung 1/2015.

14 APuZ 40/2015 Abbildung 2: Rechtspopulistische Einstellungen nach Wahlintention

4

3,5

3

2,5

2

1,5

1 CDU/CSU SPD FDP B.90/Grüne Die Linke AfD Nichtwähler

Index Rechtspopulismus; Mittelwerte, Skala 1–4; Studie „Fragile Mitte“ 2014. Bei Angaben zur AfD wurden Befragte, die bei der Sonntagsfrage angaben, die AfD zu wählen und jene, die nach eigenen Angaben schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, die AfD zu wählen, zusammengefasst, um eine ausreichend große Stichprobe zu erhalten.

sich die Befragten eher Richtung „unten“ auf knüpft und Funktionen vorurteiliger Ein- der sozialen Leiter, doch sind die Zusammen- stellungen erfüllt: ❙34 Er liefert vermeintliches hänge nicht sehr hoch. Es deutet sich zudem Wissen und Erklärungen für gesellschaftli- ein U-förmiger Trend an: Jene, die sich selbst che Zustände und die eigene Misere, gibt Bin- eher „unten“ oder „oben“ verorten, stimmen dung und Anerkennung in der Eigengruppe, stärker rechtspopulistischen Meinungen zu, dient der Selbstaufwertung in Abgrenzung während jene, die sich selbst in der besseren zu und Abwertung von anderen und trägt Mitte positionieren, vergleichsweise weniger zum Erhalt und zur Legitimierung eigener zum Rechtspopulismus tendieren. Kontrolle und Macht auf Kosten anderer bei. Er weitet sich aus und radikalisiert sich im sozialpsychologischen Prozess der Gruppen- Verschiebungen und Zerrüttungen polarisierung: Menschen in einer Gruppe, die ihre Ansichten mit anderen, die ähnliche Der Rechtspopulismus ist im politischen Meinungen haben, austauschen, bestärken Raum der Bundesrepublik ganz offenbar ver- sich gegenseitig und neigen dazu, sich auf der ankert. Dies legt die hohe Zahl von Bürge- Suche nach Bestätigung und Anerkennung rinnen und Bürgern, die rechtspopulistische noch zu übertreffen. Auf diese Weise radika- Gruppierungen wie Pegida und ihre Ableger lisieren sich auch jene, die zuvor nur relativ erreichen und mobilisieren konnte, nahe, und schwach und vage die Ansichten der anderen dies bestätigen auch die vorgestellten Befun- in der Gruppe teilten. ❙35 Rechtspopulistische de. Auch jene, die sich selbst der Mitte zu- Einstellungen aus der Mitte werden damit rechnen oder anhand objektiver Indikatoren „normal“, sagbar und ihrerseits durch Poli- dazu gerechnet werden können, sind anfällig, tik und Medien auch jenseits rechtspopulis- auch wenn rechtspopulistische Einstellungen nach wie vor unter jenen besonders verbreitet ❙34 Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Heit- sind, die sich selbst im rechten Spektrum ver- meyer, Vorurteile als Elemente Gruppenbezoge- orten, sowie unter Befragten mit weniger Bil- ner Menschenfeindlichkeit – eine Sichtung der Vor- dung und Einkommen. urteilsforschung und ein theoretischer Entwurf, in: Anton Pelinka (Hrsg.), Vorurteile: Ursprünge, For- men, Bedeutung, Berlin 2011. Der Rechtspopulismus ist nicht zuletzt ❙35 Vgl. Serge Moscovici/Marisa Zavalloni, The deshalb so erfolgreich, weil er geschickt an Group as a Polarizer of Attitudes, in: Journal of Per- Grundmotive menschlichen Handelns an- sonality and Social Psychology, (1969) 12, S. 125–135.

APuZ 40/2015 15 tischer Akteure aufgegriffen. Dies bestärkt schaft neigten nicht zu Gewalt und seien da- wiederum in Rückkopplung die Meinungen her eben keine Rechtsextremisten, lässt sich so in der Mitte. nicht halten. Unseren empirischen Analysen zufolge geht eine rechtspopulistische Einstel- Rechtspopulismus kommt bei vielen ge- lung mit kollektiver Wut und oft auch der Ak- sellschaftlichen Gruppen an, auch wenn er zeptanz von Gewalt einher. Der Rücklauf der zugleich auf Gegenbewegungen und Protest Teilnahme an den „Spaziergängen“ hat den stößt. Die Polarisierung, die der Rechtspo- Kern von Pegida und ihren Ablegern enthüllt, pulismus vorantreibt, gelingt, weil die An- der zuvor gerade in seiner Aggressivität die nahme der Ungleichwertigkeit von sozialen Anziehungskraft für Wutbürger ausmachte. Gruppen – verbunden mit der Hoffnung, sich Sie liebäugeln mit der Gewalt, die andere für absetzen zu können – in bürgerlichen Milieus sie verüben, ohne ihr dabei selbst allzu nahe verbreitet ist. Dass dabei rechtspopulistisch kommen zu wollen, um nicht das bürgerliche orientierte Akteure eine neoliberale Ideolo- Gesicht der Mitte zu verlieren. Der Rechtspo- gie von Kosten und Nutzen auf die Beurtei- pulismus in Deutschland hat einen Rechtsruck lung sozialer Minderheiten übertragen, liegt erlebt, und dieser hat sich in den vorangegan- nahe, denn das befriedigt zugleich den auto- gen Jahren bereits angedeutet. Dieser Rechts- ritären Reflex. ruck vergrößert die Risse in der Gesellschaft und fordert die demokratische Mitte der Ge- Rechtsextremismus wird üblicherweise über sellschaft, ihre politischen, staatlichen und zi- den Aspekt der Gewalt vom Rechtspopulis- vilgesellschaftlichen Vertreter auf, sich klar zu mus abgegrenzt. Auch die Pegida-Führung hat Vielfältigkeit und Gleichwertigkeit zu beken- zu Beginn ihre Distanz zur Gewalt verkün- nen und in diesem Sinne zu handeln. det. Doch die Annahme, rechtspopulistisch orientierte Mitglieder der Mitte der Gesell-

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16 APuZ 40/2015 Werner J. Patzelt Viele der üblichen Kniffe, unangenehmen Themen aus dem Weg zu gehen, versagten damals. „Jener, der da echoreich Sorgenthe- Die Sorgen der men vorbringt, hat Dreck am Stecken!“ Kön- nen aber wohl nur moralisch untadelige Leute sachlich Recht haben? „Wie stereoty- Leute ernst nehmen! pendurchsetzt, ja gemein ist doch jene Spra- che, in der da Sorgen formuliert werden!“ Essay Gibt es aber wohl ein ontologisches Form/In- halts-Gesetz dahin gehend, dass schön For- muliertes richtig, hässlich Formuliertes aber a machen sich Leute Sorgen um eine „Is- falsch ist? „Da stimmen viele ins Feld geführ- Dlamisierung des Abendlandes“. Andere te Fakten nicht!“ Folgt wohl daraus, dass je- um die Entstehung von Parallelgesellschaften mand sich im Einzelnen vertut, dass er insge- in Einwanderungslän- samt Unrecht hat? „Man sehe sich nur an, wer Werner J. Patzelt dern ohne tatsachen- alles da mitläuft und Beifall klatscht!“ Ist die Dr. phil., geb. 1953; Professor feste Integrationspoli- Welt so eingerichtet, dass nur jene das Rich- für Politische Systeme und tik. Die nächsten ma- tige erkennen werden, die man mag – und all Systemvergleich am Institut für chen sich Sorgen um jene sich täuschen, die man nicht mag? Politikwissenschaft der Tech- die Zukunft der Euro- nischen Universität Dresden, zone, weitere um den Zwar kann man es mit einem argumentum 01062 Dresden. Frieden an den Ost- ex auctoritate versuchen: „Die“ Fachleute, [email protected] grenzen der EU. Zu „die“ kompetenten Politiker, „die“ wichtigs- Beginn der 1980er Jah- ten Intellektuellen sagen nun einmal, dass … re sorgte man sich um einen Atomkrieg – und weshalb man ihnen vernünftigerweise glau- zuvor um das Waldsterben. Was davon sind ben möge! Doch was, wenn sich sowohl für echte Sorgen, die man ernst nehmen muss? das eine wie für sein Gegenteil Fachleute, Was davon eingebildete Sorgen, die man ab- kompetente Politiker, Intellektuelle als Zeu- tun sollte? Wer entscheidet über Antworten gen finden – und im Internet obendrein jede auf diese Fragen? Und aus welchen Gründen Menge an offiziellem bis obskurem Bestäti- soll man dessen Entscheidungen vertrauen – gungsmaterial? Zu nicht mehr als bloß Ret- sich also heute ob der Zukunft unserer Ein- tungshalmen werden dann technokratisches wanderungsgesellschaft nicht sorgen, wäh- Argumentieren, ideologisches Bekennertum, rend man das gestern ob eines Atomkriegs totredende Besserwisserei. sollte? Und wie soll man sich zu jenen verhal- ten, die „unbegründete Sorgen“, ja aufgrund der nahegelegten Konsequenzen womöglich Wie repräsentiert man „gefährliche Sorgen“, in die Öffentlichkeit „besorgte Bürger“? tragen? Sie auslachen? Sie ausgrenzen? Ihnen „keine Bühne bieten“? Sie von Straßen und Natürlich ist es nicht so, dass etwas schon Plätzen verscheuchen? deshalb richtig wäre, weil viele Leute es mit lauter Stimme bekunden. Und aus dem Prin- Die Debatte um Dresdens „Patriotische Eu- zip der Volkssouveränität folgt auch nicht, ropäer gegen die Islamisierung des Abendlan- mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ wäre des“ (Pegida), die während der Wintermonate ­darüber entschieden, was sinnvollerweise das Hysterische mehr als nur streifte, hat deut- zu tun sei. Immerhin hat noch kaum jemand lich gezeigt: Dies alles sind keine bloß akade- ernsthaft die major pars mit der sanior pars mischen Fragen. Sie stellen sich wirklich, und gleichgesetzt, die Mehreren also mit den Klü- die Antworten auf sie zerreißen nicht nur Kol- geren. Nur verhält es sich in Demokratien legen- und Bekanntenkreise, sondern stören eben so, dass Eliten – gleich ob in der Poli- auch Freundschafts- und Familienbeziehun- tik oder sonst wo – zwar das Volk selbstge- gen, wenn man keine rationale Weise findet, recht als jenen „großen Lümmel“ empfinden mit ihnen umzugehen. Und man tut gut da- mögen, der die eigenen Kreise stört und The- ran, das Thema vom inhaltlichen Streit um Pe- men aufbringt, mit denen man nicht befasst gida zu lösen. Am bloßen Sonderfall wurde werden möchte. Doch ignorieren lässt sich in nämlich Allgemeines sichtbar. der Demokratie selbst „lümmelhaftes Volk“

APuZ 40/2015 17 nicht – und erst recht nicht, wenn man ver- Politik entwickeln, die nicht nur gut gemeint, mutet, es könnten auch solche Leute Lebens- sondern auch gut getan ist. Indem Politiker al- erfahrung und Sachverstand haben, die es ler Ebenen auf solche Weise Bürgersorgen und nicht in die professionelle Politik, nicht in die Bürgerwünsche redlich und offen diskutieren, Feuilletons, nicht zu den Rotariern geschafft und wenn sie das alles nicht unverbindlich in haben. Nicht nur faktisch ist es in einer De- Talkshows erörtern, sondern höchst verbind- mokratie deshalb unklug, Sorgen einfach lich in ihren Parteien, in den Parlamenten und deshalb abzutun, weil sie „von den falschen natürlich auch in den Wahlkämpfen: Genau Leuten“ oder „im falschen Ton“ vorgebracht dann und dadurch leisten sie jene „Veredelung werden. Sondern auch normativ gehört sich des empirisch vorfindbaren Volkswillens“, derlei nicht, weil Demokratie selbst als auf die Ernst Fraenkel – Sozialdemokrat, Emi- Konkurrenzwahlen gegründete Elitenherr- grant während der Nazidiktatur und einer der schaft eben nicht um der Eliten, sondern um Gründungsväter bundesdeutscher Politikwis- des Volkes willen besteht. senschaft – einst den besonderen Vorteil re- präsentativer Demokratie nannte. Gewiss spricht vieles dafür, dass eine re- präsentative Demokratie unterm Strich bes- Eben durch solche Kommunikationspro- sere Entscheidungen zeitigt als eine direkte zesse werden die Teilsichten von betroffe- Demokratie. Der letzteren fehlt nämlich eine nen Bürgergruppen und Sachexperten mit wesentliche Leistung von Elitegruppen: unter der – hoffentlich – überwölbenden Gesamt- eigenem politischen Risiko die Sichtweisen sicht von Politikern in herausgehobenen und Sorgen der Bevölkerung ins Verhältnis Ämtern abgeglichen. Entlang bewährter mit dem zu setzen, was möglich oder tun- Diskursregeln geführt, können derlei Kom- lich ist – teils aufgrund der Natur der Sache, munikationsprozesse auch Eigen- und Wi- teils aufgrund der hier und jetzt nicht zu ver- derständigkeit gegen jene Hysterieneigung ändernden Rechtslage, teils aufgrund überzu- und Skandalisierungslust von – heutzutage ordnender politischer Gesichtspunkte. In ei- vor allem: „sozialen“ – Medien entwickeln, ner direkten Demokratie fehlt sozusagen die die derzeit in politischen Diskussionen eine Rolle von kundigen Schuhverkäufern. Der überaus fatale Neigung zur Anpassung an Kunde will zwar einen Schuh, der ihm gefällt, gefühlte Mehrheitsmeinungen, ja mitunter doch möglichst einen solchen, der auch hält zur öffentlichen Heuchelei an den Tag legen. und bequem zu tragen ist. Dabei kann er sich In solchen Kommunikationsprozessen kann täuschen; und den Kunden davon abhalten, außerdem jenen Teilen der Bevölkerung, die für einen zwar schön aussehenden, doch letzt- – warum auch immer – ihre Sorgen in einer lich unvorteilhaften Schuh sein Geld auszuge- groben, auf irreführende Deutungsperspek- ben: Das eben ist die wesentliche Leistung ei- tiven fixierten, mit fragwürdigen Signal- und nes guten Verkäufers. Sie ist auch die richtige Fahnenwörtern durchsetzten Sprache formu- Rolle von Abgeordneten in einer repräsentati- lieren, eine bessere Alternative zu ihren bis- ven Demokratie – selbst wenn der Kunde Kö- herigen Rede- und Denkweisen angeboten nig und der Bürger Prinzipal ist, der Verkäu- werden. Sich darum zu bemühen, wäre genau fer oder Politiker aber „nur dessen Agent“. das, was der britische Publizist Walter Bage- hot einst die „teaching function“ eines Parla- Also haben gerade „besorgte Bürger“ sehr ments nannte. wenig davon, wenn Politiker ihre Sorgen ein- fach aufgreifen, verstärken, in Aktionismus umsetzen. Doch sie haben ebenso wenig da- Was geschieht, wenn „besorgte Bürger“ von, wenn Politiker ihre Sorgen ignorieren, nicht repräsentiert werden? kleinreden, abtun. Der Mittelweg wäre einmal mehr der richtige: auf Sorgen hören, deren Ur- In einer perfekten repräsentativen Demokra- sachen thematisieren, Probleme aus den Per- tie verhielte es sich so: Es gäbe eine Reihe be- spektiven aller Betroffenen ansehen, mögli- währter, staatstragender Parteien, die zwar che von sachlich unmöglichen Lösungswegen unterschiedlichen Weltsichten und Prioritäten unterscheiden, Risiken und Nebenwirkungen folgten, doch so weit in ihren Grundwerten jeder Verfahrensweise abwägen, zielführen- und ihren Tatsachenwahrnehmungen über- de Optionen anhand offengelegter Wertmaß- einstimmten, dass kein Bürger vor einem Re- stäbe beurteilen – und auf diese Weise solche gierungswechsel wirklich Angst hätte, son-

18 APuZ 40/2015 dern ihn wie das vielleicht unangenehme, doch Tatsächlich dringen in solche Repräsen- immer wieder nötige Öffnen von Fenstern zur tationslücken immer wieder neue politische Winterzeit empfände. Diese Parteien wären so Kräfte ein – zunächst auf der Straße, dann in sensibel für jene Teile der Gesellschaft, in de- Wahlkämpfen, vielleicht in den Parlamenten, nen sie wurzeln oder ihre Unterstützer finden, am Ende womöglich in Regierungen. Und je dass sie dort aufkommende Ideen, Interessen mehr sich Bürger sorgen und bei solchen neu- und Problemempfindungen rasch bemerkten, en Gruppierungen aufgehoben sehen, auch sie aus ihrem Verursachungszusammenhang mit je mehr Empörung sie darauf reagie- heraus verstünden, das Aufkommen neuen ren, dass etablierte Parteien in einer solchen Handlungsbedarfs akzeptierten, aus dem ei- Lage erst recht Diskurs- oder Politikverwei- genen Werte- und Interessenhorizont ziel- gerung betreiben, umso heftigere politische führende Maßnahmen entwickelten, sodann Dynamik entsteht. Im schlimmsten Fall ge- bei der Bürgerschaft um politische Unterstüt- langen dann Antisystemparteien in die Par- zung einkämen und am Ende, vor oder nach lamente, erschweren Regierungsbildung und Wahlen, problemlösende Entscheidungen trä- Gesetzgebung, entsteht gar Hoffnung auf fen sowie wirkungsvoll umsetzten. Alle Teile Pro­blem­lösun­gen durch wohlmeinend-au- der Bevölkerung wären dann durch gerade ih- toritäre Herrschaft – und polarisiert sich die nen gegenüber responsive sowie politisch er- Öffentlichkeit. In den meisten europäischen probte Parteien repräsentiert; und bei Wahlen Staaten gibt es derzeit solche Protestparteien, ließe sich darüber entscheiden, welchen Kurs nicht selten mit beträchtlichen Sitzanteilen in – von mehreren angebotenen, allesamt halb- den Parlamenten, und oft aus genau den erör- wegs vernünftigen Lösungswegen – die künf- terten Gründen. Ist das wirklich gut? tige Regierung einschlagen soll. Dabei wäre es nicht schwer, die Vorboten Falls ein sensibel reagierendes System die- solcher Entwicklungen zu erkennen und recht- ser Art seit Jahrzehnten verlässlich funk- zeitig das Richtige gegen sie zu tun. Erkennt tioniert, gibt es für die Bürger keine guten denn wirklich niemand, wie töricht es ist, Re- Gründe, sich ob der Verschleppung politi- präsentationslücken entstehen zu lassen? Und scher Entscheidungen Sorgen zu machen. wie dumm ist es, solche Lücken – einmal auf- Man hat nämlich erlebt: Ganz normale politi- gerissen – in offene Wunden einer politischen sche Willensbildung reicht aus, um in plausi- Kultur zu verwandeln, nämlich durch Miss- bler Weise Problemlösungen herbeizuführen. achtung von Sorgen, durch Wegdrücken vor- Zeiten perfekt funktionierender repräsenta- gebrachter Anliegen, durch Herabsetzung tiver Demokratie sind aber selten. Häufiger sie artikulierender Bürger? Sieht denn kei- kommt es vor, dass Parteien mit den sie bis- ner, wie viel klüger es wäre, zunächst einmal lang tragenden Bevölkerungsschichten über durch Kommunikation auf gesellschaftlichen Kreuz geraten und beim nächsten Urnengang Zusammenhalt auszugehen (nämlich unter durch Wahlabstinenz oder Stimmvergabe Durchsetzung bewährter Diskursregeln und für eine Konkurrenzpartei bestraft werden. gestützt auf die Überzeugungskraft besserer Es kommt ebenfalls vor, dass bislang be- Argumente) und dann solche Repräsentati- währte Parteien das Aufkommen neuer Pro- onslücken wieder zu schließen (nämlich durch bleme nicht wahrhaben oder sich nicht dazu problemlösende oder wenigstens sorgenlin- durchringen wollen, neue Herausforderun- dernde Politik)? Warum halten es dennoch gen durch Beschreiten neuer Wege zu beste- viele für vernünftig, besorgte und empörte hen. Falls in einer solchen Lage nennenswer- Bürger erst einmal zum Starkmachen von Pro- te Teile der Bürgerschaft sehr wohl ein neues testparteien zu reizen – um anschließend zu Problem sehen und sich ernsthaft wünschen, versuchen, diese dann wieder kleinzubekom- Politiker sollten es angehen, so entsteht das, men? Adelt der Kampf gegen die Folgen eines was man eine „Repräsentationslücke“ nen- solchen Fehlers so sehr, dass es begehrenswert nen kann: Ein Teil der Bürgerschaft fühlt sich wird, ihn zu begehen? von den etablierten, die bestehende politische Ordnung tragenden Parteien im Stich gelas- sen. Genau dann öffnet sich Raum für Pro- Problementsorgung durch Ausgrenzung? test- und Alternativparteien, können gleich- sam brachliegende Politikfelder von neuen So mancher reagiert auf Proteste, die er nicht politischen Kräften bestellt werden. selbst unterstützt, mit einer Art „politischer

APuZ 40/2015 19 Spinnenfurcht“: Angeekelt und angstgetrie- in Talkshows – und natürlich auch nicht mehr ben wird auf den Störenfried eingeschlagen – auf Diskussionspodien oder an Rednerpulte! obwohl dieser meist nur lästig, nicht aber Perfekt ist es, wenn der Auszugrenzende sich gefährlich ist. Mancher meint auch, eine ge- nicht nur Blößen gibt, die dies alles rechtfer- schichtlich bekannte schlimme Lage neu her- tigen, sondern wenn er auf solchen Ausgren- aufziehen zu sehen – und macht sich dann en- zungsdruck auch noch so reagiert, dass er sei- gagiert daran, „den Anfängen zu wehren“. In ne Außenseiterrolle eben annimmt und sich beiden Fällen entscheidet man sich nicht für trotzig immer mehr ins Unrecht setzt. Kommunikation, sondern für Ausgrenzung. Das Ausgrenzen kann aber noch weiter ge- Die dafür verwendeten Techniken beginnen hen. Anzustreben ist es, den Abweichler vor mit dem Verzicht darauf, sein eigenes Denken einen „virtuellen Gerichtshof“ zu bringen – infrage zu stellen und jene Zusammenhänge etwa: ihn in einer Talkshow „fertigzumachen“ überhaupt nachvollziehen zu wollen, die den und den Videoclip dann auf Youtube zu stel- besorgten, vielleicht auch schon empörten len. Vielleicht kann man dem Auszugrenzen- Andersdenkenden wichtig sind. Schon wei- den auch ein echtes staatsanwaltliches Ermitt- ter ist man mit solcher Ausgrenzung, wenn es lungsverfahren anhängen, es wird schon etwas als Zeichen besonderer Sachkompetenz gilt, hängenbleiben! Das Ziel ist erreicht, wenn der alles das „wegerklären“ zu können, was den Auszugrenzende als „nicht mehr ernst zu neh- Auszugrenzenden überhaupt für ihre Sorgen men“ gilt, nicht mehr als ein „redlicher Fach- Anlass gibt. Dann kann man sich über deren mann“, ja vielleicht nicht einmal mehr als ein „offensichtlich unbegründete“ Ängste lus- „akzeptabler Mitbürger“ angesehen wird. tig machen oder diese als „bloß vorgescho- ben“ ausgeben – und die „eigentlichen Grün- Auf dem Weg zu diesem Ziel ist es beson- de“ in zweckgerecht düsteren Farben malen. ders nützlich, den Auszugrenzenden als die Noch mehr ist erreicht, wenn dem Gegner Erscheinungsform eines für die Allgemein- ihm wichtige Begriffe weggenommen sind heit gefährlichen Typs auszugeben. Dann oder zumindest deren öffentlicher Gebrauch nämlich richtet sich das Ausgrenzungsver- unterbunden ist. Dann lassen sich jene Un- langen nicht mehr gegen einen – unter ande- terscheidungen und Bewertungen, auf die es ren Umständen vielleicht gar halbwegs sym- den Besorgten oder Empörten ankommt, nur pathischen – Mitmenschen oder sein Tun, noch gegen unmittelbar erhobenen Wider- sondern gegen „das Böse“ sowie gegen dessen spruch vortragen – und setzt den Gegner al- Verkörperung im „Feind“. Das erlaubt dann lein schon seine Wortwahl ins Unrecht. auch schwer zu entkräftende Ansprüche auf eigene moralische Überlegenheit. Und zum Die nächste Stufe des Ausgrenzens ist er- Abschluss gelangt das Ausgrenzen, wenn der reicht, sobald man seinen Gegnern Etiket- Gegner sich aus der Öffentlichkeit zurück- ten anheften kann, von denen „jeder weiß“, zieht, in einer Diktatur vielleicht eingesperrt dass sie jemanden als „schlechten Menschen“ oder exiliert, womöglich auch umgebracht ausweisen. Am besten beginnt man mit der wird – und er in einer Demokratie wenigs- Einschätzung als „notorischer Querulant“ tens keine Chancen mehr besitzt, bei Wahlen oder als „Ewiggestriger“. Ansonsten eig- eine nennenswerte Stimmenanzahl zu errei- net es sich für solche „strategische Etikettie- chen. All diese Ausgrenzungsschritte lassen rung“ in Deutschland besonders gut, wenn sich aufs Beste mit Häme gegenüber „den Bö- man jemanden als „Rechtspopulisten“, als sen“ und mit sich selbst feiernden symboli- „Faschisten“ oder – neuerdings populär – als schen Aktionen „der Guten“ abrunden. „Rassisten“ hinstellen kann. Und wenn am Auszugrenzenden allzu wenig direkt erkenn- Vieles von alledem war – einmal mehr – bar Übles auffällt, hilft meist die Rede vom beim Umgang mit Pegida zu beobachten. „Extremismus der Mitte“ weiter. Wer solche Doch einmal für ihre Analyse sensibilisiert, Schellen trägt, kann anschließend mit großer lassen sich diese Ausgrenzungsverfahren stets Plausibilität um seine öffentlichen Redechan- ganz unabhängig davon erkennen, wann und cen gebracht werden. Einem Rechtspopulis- wo, auch gegen wen oder gegen was sie einge- ten oder Rassisten darf man doch wirklich setzt werden – und natürlich ebenfalls ganz „keine Bühne bieten“; also gehört er nicht unabhängig davon, ob diese Methoden „den mehr als gleichberechtigter Gesprächspartner Guten“ oder „den Bösen“ dienen, ob man sie

20 APuZ 40/2015 selbst nutzt oder abzuwehren versucht. Es ist densstiftende Minima. Zu diesen gehört, ers- Kinderart, solche Verfahren zu verwenden, tens, Konsens über gemeinsame Grundwerte. ohne zu wissen, was man da tut. Und es wäre Diese reichen – so das Bundesverfassungsge- kindisch, die mitunter fiese Verwendung die- richt schon 1952 – von den Menschenrechten, ser Methoden samt deren oft schädlichen Ne- die jede Form von Rassismus inakzeptabel ma- benwirkungen einfach deswegen zu bestrei- chen, bis zum Recht aufs Dagegensein, was ten, weil man sie selbst einsetzt – und sei es auch das Recht auf Torheit einschließt. Zwei- für einen guten Zweck. Das alles vor Au- tens braucht es Konsens über die Spielregeln gen, dürfte klar sein: Wenn es ­darum geht, des Streitens. Diese reichen von der Verpflich- eine freiheitliche politische Kultur gegen ihre tung auf physische und psychische Gewaltlo- Gegner zu verteidigen, ist derlei Ausgren- sigkeit bis hin zur Einhaltung grundlegender zung höchst angebracht; doch wenig nützen Diskursregeln. Drittens braucht es Konsens solche Methoden, wenn pragmatische Prob- über jene Stätten, an denen welche Art von lemlösungspolitik vonnöten wäre. Streit zu führen ist. Das meint unter anderem: Auf der Straße wird demonstriert und gegende- monstriert; entschieden aber wird in den Par- Was tun? lamenten – und deren reale Mehrheiten werden auch nicht dadurch außer Gebrauch gesetzt, Es dürfte deutlich geworden sein, dass viel po- dass man sich auf der Straße zuschreibt, wahl- litische Energie immer wieder auch dort ver- weise „das Volk“ oder „die Guten“ zu sein. schwenderisch ins Ausgrenzen investiert wird, wo man seine Kraft besser auf problemlösende Doch statt sich mit einem Gegner auf der Politik verwenden sollte. Auf Dresdens Stra- Grundlage solchen Minimalkonsenses aus­ ßen ist – beispielsweise – Pegida inzwischen de- ein­an­der­zusetzen, liegt oft (wie unlängst beim zimiert, in anderen deutschen Städten ohnehin Umgang mit Pegida so deutlich zu sehen war) kaum mehr erwähnenswert. Doch die Pegida- der schlichte Wunsch nahe, den Andersden- Kandidatin erhielt trotz aller „Ausgrenzeri- kenden eben auszugrenzen – so, als ob sich da- tis“ bei der Dresdner Oberbürgermeisterwahl durch auch schon seine Anliegen oder Sorgen rund 21 000 Stimmen, was einem Zehntel der erledigten. Offen kann hier bleiben, ob zur da- Wähler und fünf Prozent der Wahlberechtig- maligen Diskursverweigerung eher ein Über- ten entsprach. Bundesweit würde das ausrei- schuss an gutem Willen beim Eintreten für un- chen, um eine unerprobte Protestpartei in den sere freiheitliche Ordnung geführt hat oder Bundestag zu wählen. Hätten wir wohl poli- ein Übermaß an Sorgen über den Fortbestand tisch genug gekonnt, wenn es so weit käme? unserer Demokratie, vielleicht auch besonders große Empörung über unerwartete „Wutbür- Warum vertrauen wir in solchen Lagen nicht ger von rechts“ – oder gar die Arroganz des jus- den Prinzipien jenes Pluralismus, den wir doch te milieu unserer Republik. Klar ist hingegen, sonst so gerne in Sonntagsreden und bei der dass die Ursachen jener Sorgen, die sich bei Pe- politischen Bildungsarbeit beschwören? Des- gida Luft gemacht haben, weiterhin bestehen: sen Grundgedanke ist es, die jeweils vorhande- vom passiv hingenommenen Einwanderungs- ne Vielfalt von Problemsichten und Interessen geschehen und den Problemen, die beim Wan- erst einmal so hinzunehmen, wie sie ist, ja real del hin zu einer Einwanderungsgesellschaft Umstrittenes auch ausdrücklich als umstritten entstehen, über sich verschärfende Vertei- darzustellen – und das alles weniger als Gefahr lungskonflikte im unteren Drittel unserer Ge- denn vielmehr als eine Ressource wechselseiti- sellschaft bis hin zum risikoreichen Umgang gen Lernens zu behandeln. Gelernt aber wird mit Russland. All diese politischen Her­aus­for­ durch gemeinsames Streiten darüber, ob – und derungen dürften noch etliche Jahre lang vie- welche – Sorgen zu Recht bestehen, welche Art lerlei Anlass für Demonstrationen und Wäh- von Empörung begründet, welche andere aber lerprotest geben. Hoffentlich gehen wir dann nur selbstgerecht ist, und was es folglich zu tun klüger mit besorgten Bürgern und empörten oder zu lassen gilt. Demonstranten um als im vergangenen Win- ter und Frühjahr – gerade dann, wenn wir doch Natürlich braucht solcher Streit auch ver- für Freiheit, Demokratie und Pluralismus so- bindenden Konsens. Der aber muss – eben der wie für die Nachhaltigkeit all dessen stehen! Möglichkeit inhaltlichen Streitens willen – be- schränkt sein auf freiheitssichernde und frie-

APuZ 40/2015 21 Christoph Giesa Einordnung und Erscheinungsformen Eine wichtige Vorläuferbewegung entstand Anfang der 1970er Jahre in Frankreich un- Die neuen Re chten ter dem Namen „Nouvelle Droite“ und wur- de maßgeblich von dem Publizisten Alain de Benoist geprägt. Inzwischen haben sich auch – Keine Nazis in Deutschland Strukturen herausgebildet, die es ihren Vertretern ermöglichen, in eta- blierte Organisationen wie Parteien und Me- und trotzdem dienhäuser hineinzuwirken. Um das gesamte Phänomen besser beleuchten zu können und nicht an der etwas engen wissenschaftlichen brandgefährlich Definition haltzumachen, werde ich im wei- teren Verlauf dieses Textes „neue Rechte“ be- Essay wusst klein schreiben. Eine wichtige geistige Grundlage für die ie Stimmung in Deutschland im Jahr neurechten Bewegungen bildet das Denken D2015 ist angespannt: Nach den „Spazier- und Wirken mehrerer rechter Intellektueller gängen“ der „Patriotischen Europäer gegen aus der Weimarer Zeit, die unter dem Begriff die Islamisierung des „Konservative Revolution“ subsumiert wer- Christoph Giesa Abendlandes“ (­Pegida) den und in den 1920er Jahren gegen die junge Geb. 1980; freier Autor und seit Herbst 2014 in Demokratie agitierten. Einige ihrer bekann- Berater, lebt in Hamburg. Dresden und anderen testen Vertreter waren Arthur Moeller van den www.christophgiesa.de Städten sowie den an- Bruck, Oswald Spengler, Edgar Julius Jung [email protected] haltenden Diskussi- und Carl Schmitt. Zu ihren Stärken gehörte onen darüber scheint die Fähigkeit, in der Regel radikales Denken es in Teilen der Gesellschaft – und zwar aus- und bürgerliche Erscheinung zusammenzu- drücklich nicht nur an ihren Rändern – zu- bringen. So waren die Protagonisten damals nehmend salonfähig geworden zu sein, frem- in der Mitte der Gesellschaft verankert, be- denfeindliche Haltungen offen zu vertreten. wegten sich in Salons und Lesezirkeln, publi- Unter dem Schutzmantel der freien Meinungs- zierten in durchaus auflagenstarken Zeitungen äußerung wird im sächsischen Heidenau und und Zeitschriften, sowohl im extremen Spek- andernorts inzwischen mit bösartigsten Paro- trum als auch im konservativen, teilweise so- len gegen die Unterbringung von Geflüchte- gar im Gewerkschaftsmilieu. Einige von ih- ten demonstriert, während sich der Hass im nen gerieten später in Konflikt mit den Nazis, Internet ohnehin ungezügelt Bahn bricht. manche verloren dabei sogar ihr Leben. Trotz- dem gilt etwa Arthur Moeller van den Brucks Dennoch ist die Einordnung nicht einfach: Buch „Das Dritte Reich“ von 1923 bis heute Denn das entsprechende Gedankengut gedeiht als eines der einflussreichsten Werke für den nicht nur auf den Straßen strukturschwacher Aufbau des Nationalsozialismus. Regionen oder in einschlägigen Onlineforen, und es wird auch keineswegs nur von Leu- Die Orientierung an den Protagonisten der ten verbreitet, die sich selbst als rechtsradikal Konservativen Revolution hat für die heuti- bezeichnen würden. Aber womit hat man es gen Nachahmer einen großen Vorteil: Vie- dann zu tun? Die Antwort ist in einer Bewe- le Behauptungen und Forderungen, die man gung zu suchen, die nicht nur andere Vorbilder von neurechter Seite vernimmt, hören sich hat, sondern auch andere Strategien verfolgt als zunächst nicht nach rechter oder faschis- Rechtsextremisten mit Sympathien für Hitler tischer Ideologie an. Das ist natürlich ge- und den Nationalsozialismus. Zugleich hängt wollt – wer sich heute zu Hitlers Ideen oder sie aber einem Gedankengut an, das alles ist, Goebbels’ Demagogie bekennt, ist morgen was die liberale Gesellschaft, in der wir leben, geächtet. Trotzdem: Mit einer Mischung aus nicht sein will: autoritär, antidemokratisch, einer Analyse, die das Politische entmensch- anti­westlich, fremdenfeindlich und homo- licht, einem Zynismus gegenüber Minder- phob. Die Rede ist von der „Neuen Rechten“. heiten, einer Verachtung für die „weibische“

22 APuZ 40/2015 Demokratie und der Begeisterung für eine allem von der linken Seite des politischen Spek- Ästhetik der Stärke tritt sie gleichermaßen trums kamen“, hätten viele Liberale „die rech- elitär wie brachial auf. Sie geriert sich intel- te Gefahr nicht erkannt“; es drohe eine Un- lektuell, schwört der Gewalt ab und verbrei- terwanderung liberaler Kreise. Und sie fragt tet doch puren Hass auf alles, was unsere zu Recht: „Wo nur kommt der Brass auf Aus- heutige Gesellschaft lebenswert macht. länder in den eigenen Reihen her? Das Schön­ reden von Diskriminierung? Die Ausfälligkei- Wie giftig dieser Cocktail sein kann, zeigen ten gegenüber Gleichstellung, Inklusion und zwei Beispiele, die eine gewisse mediale Auf- Integration? Die Sticheleien gegen Homosexu- merksamkeit auf sich zogen. Im Januar 2015 elle? Das Gerede von der ‚natürlichen Bestim- erklärte Michael Miersch, einer der Gründer mung der Frau‘? Die schrillen Aufrufe zur ‚Re- des einst liberal-konservativen Blogs „Ach- Evangelisierung des Abendlandes‘, von der das se des Guten“, dass er sich als Autor und He- Überleben der Zivilisation abhänge?“ ❙2 Es folg- rausgeber des Blogs zurückziehen werde. Er te ein erbitterter Richtungskampf innerhalb begründete seinen Schritt mit dem veränder- der Hayek-Gesellschaft, der mit dem Austritt ten Charakter der „Achse“. Weitgehend un- Horns sowie zahlreicher weiterer Mitglieder bemerkt seien jene Gedanken, gegen die sich schließlich zur Spaltung des Vereins führte. der Blog anfangs gerichtet hatte, genau dort tonangebend geworden. „Der kulturpessi- In den Beispielen klingt es bereits an: Die mistische, anti-westliche, national-konserva- Agitatoren, mit denen sich Miersch und Horn tive Gegenpol zur Achse wurde damals von auseinandersetzen, inszenieren sich (nicht nur Publizisten wie Konrad Adam und Alexander in diesen Fällen) als Opfer. Strategisch ist das Gauland repräsentiert“, konstatierte Miersch ein kluger Schachzug. Schon Arthur Moeller mit Blick auf die Anfangszeit des Blogs. Ob- van den Bruck behauptete in den 1920er Jah- wohl genau diese Herren zur Führung der ren, die Weimarer Demokratie „suchte jede AfD zählten, seien auf der „Achse“ inzwi- Stimme zu unterdrücken, die sich gegen die- schen jene Autoren „eindeutig in der Über- se ihre Politik erhob. Sie verfolgte die natio- zahl“, die Verständnis für AfD und Pegida nale und die radikale Opposition, statt sich hätten. Miersch machte seine Beobachtungen ihrer gegen den gemeinsamen Feind deutscher an dem im Blog zu beobachtenden „monokul- Nation zu bedienen“. ❙3 Heute heißt es, man turellen Dünkel“ fest, an absurden Behaup- sei ein Opfer der „herrschenden Kaste“, der tungen wie „die EU ähnele immer mehr der „Mainstreammedien“, der „Gutmenschen“ UdSSR und der Euro sei die schlimmste Dest- und insgesamt des „Systems“. Ansonsten hat ruktion seit dem Zweiten Weltkrieg“ oder an- sich an der Argumentation wenig geändert. deren (neurechten) Ansichten wie die, „dass Die Strategie tritt immer deutlicher zutage: das heutige Deutschland dekadent ist“ oder Wer die ganze Zeit vor einem „Meinungsdik- „sexuelle oder andere Abweichungen von der tat“, „Denk- und Sprechverboten“ und „Zen- Norm Verfallserscheinungen sind.“ ❙1 sur“ warnt, gerät zunächst nicht in Verdacht, selbst andere Meinungen ausschließen zu wol- Die Erfahrung, dass neurechtes Gedanken- len. Schaut man allerdings genauer hin, wird gut in den eigenen Reihen an Deutungsmacht klar: Aus einem inszenierten Abwehrkampf, gewinnt, machte auch eine andere, ehemals an- einer vorgeschobenen Notwehrsituation, ist gesehene Organisation aus dem liberal-konser- längst ein Angriff geworden. vativen Spektrum. Die Rede ist von der Hayek- Gesellschaft. Deren damalige Vorsitzende, die Wirtschaftspublizistin Karen Horn, wie Hass als Triebfeder Miersch gänzlich unverdächtig, einen links- liberalen Freiheitsbegriff zu pflegen, schlug Woher kommt all dieser Hass? Allein die Fra- in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntags- ge danach birgt schon gefährliche Fallstricke. zeitung“ im Mai 2015 mit deutlichen Worten Denn dass jedes menschliche Handeln einen Alarm: „Gewöhnt, dass die Angriffe auf die Freiheit seit Ende des Zweiten Weltkriegs vor ❙2 Karen Horn, Die rechte Flanke der Liberalen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom ❙1 Michael Miersch, Na dann ohne mich, 20. 1. 2015, 17. 5. 2015, S. 20. www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/ ❙3 Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, na_dann_ohne_mich (18. 9. 2015). Berlin 1923.

APuZ 40/2015 23 legitimen Grund haben muss, dürfte eines der Geschlecht oder seine sexuelle Neigung da- größten Missverständnisse unserer Zeit sein. durch aufwertet, dass er alle, die anders sind, Jean-Paul Sartre stellte schon vor Jahrzehn- abwertet. Ob sie selbst auch nur das Gerings- ten fest, dass der Schlüssel zum Anti­semi­tis­ te etwa zum wirtschaftlichen Erfolg Deutsch- mus der Antisemit sei, nicht der Jude. Warum lands oder dem Funktionieren unserer Demo- sollte das bei Muslimen, Homosexuellen oder kratie beigetragen haben, spielt keine Rolle: anderen Minderheiten anders sein? „Der Hass Im Vergleich zu einem vor Folter geflüchteten klagt an ohne Kenntnis der Fakten. Der Hass Raketenwissenschaftler aus Syrien sieht sich urteilt, ohne begreifen zu wollen. Der Hass selbst ein sich von Dschungelcamp zu Dschun- verurteilt willkürlich. Er hat vor nichts Res- gelcamp hangelnder „deutscher Michel“ qua pekt, er sieht sich als Objekt einer universellen Geburt, Haut- und Haarfarbe mit einem nicht Verschwörung. Am Ende, erfüllt vom Ressen- einzuholenden Vorsprung ausgestattet. timent, gegen alle Argumente gefeit, zieht er eigenmächtig und großspurig einen Schluss- Nicht nur Minderheiten sind es übrigens, strich, indem er zubeißt. Ich hasse, also bin auf die sie ihren Hass projizieren und den sie ich“, brachte der Philosoph André Glucks- für alles, was in ihrem Leben schief läuft, ver- mann das Phänomen später auf den Punkt. ❙4 antwortlich machen. Auch der Staat lässt sich dafür bestens nutzen. Der dient dann vasal- Für den aufgeklärten Menschen in uns ist das lenhaft immer genau jenen, die sie gerade für schwer nachzuvollziehen. Wir wollen uns in die Hauptschuldigen an, nun ja, allem Übel keinem abgeschlossenen Weltbild einrichten, auf der Welt halten: entweder dem „Ost- wir wollen nicht vorschnell urteilen, auch wenn küstenkapital“, den „Rothschilds“ oder ir- wir den Impuls alle kennen. „Der vernünftige gendeiner Lobby. Damit ist die Ausrede per- Mensch sucht unter Qualen“, schrieb schon fekt: Warum sollte man einem solchermaßen Sartre. „Er weiß, dass seine Schlüsse nur wahr- fremdgelenkten Staat noch Respekt zollen? scheinlich sind, dass sie durch andere Betrach- Warum sich nach seinen Gesetzen richten? tungen zu Zweifeln werden; er weiß nie genau, Warum Steuern zahlen – noch dazu, wenn wohin er geht; er ist ‚offen‘, er kann als Zaude- man dem Irrglauben anhängt, das Haupt- rer gelten.“ Der Hassende hingegen entschei- ziel der aus dem Ausland gesteuerten Regie- det sich bewusst gegen diesen Weg des Hin- rung und Medien be­stehe vor allem darin, terfragens. Er sucht, wie Sartre es formuliert die „richtigen“ Deutschen bluten zu lassen? hat, die „Abgeschlossenheit“, oder, wie man So weicht der verschämte, anonyme Hass es heute wohl sagen würde: einfache Antwor- dann auch dem offenen. Dem Hass, zu dem ten. Sartre wusste: „Sie wollen keine erworbe- man mit seinem Gesicht und seinem Namen nen Anschauungen, sie erstreben angeborene; steht – weil man überzeugt ist, dass es ein ge- da sie Angst vor dem Denken haben, möchten rechter Hass ist. sie eine Lebensweise annehmen, bei der Den- ken und Nachforschen nur eine untergeordne- te Rolle spielen, wo man immer nur nach dem Von der Hoheit über das Denken forscht, was man schon gefunden hat, wo man zur Gegenrevolution immer nur wird, was man schon war.“ ❙5 Der Erfolg der neuen Rechten ist dabei üb- Dadurch, dass die „Pegidisten“ und ihre neu- rigens nicht von Umfragewerten oder Wahl- rechten Stichwortgeber jemanden haben, dem ergebnissen für die AfD oder den Teilneh- sie negative Eigenschaften zuschreiben kön- merzahlen von Pegida abhängig: Um die nen, sind sie nicht gezwungen, sich im Ver- gesellschaftliche Atmosphäre zu vergiften, gleich zu ihresgleichen zu betrachten. Selbst der braucht es weder eine parlamentarische Mehr- letzte Versager kann sich noch zur Elite zählen, heit noch eine flächendeckende Präsenz in den wenn er seine Hautfarbe, seine Religion, sein Parlamenten. Karlheinz Weißmann, seit Lan- gem einer der führenden Köpfe der neurech- ten Bewegung in Deutschland, sieht eher Pa- 4 ❙ André Glucksmann, Hass – Die Rückkehr einer rallelen zum Vorgehen der 68er: „Sicher nicht elementaren Gewalt, München–Wien 2005, S. 10. im Sinne einer Kopie, aber doch schon so, dass ❙5 Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Hamburg 1994 (1944), S. 15, http://zeitgenoessischeaes- man sich die Mittel der Subversion aneignen thetik.de/wp-content/uploads/​2013/​07/Sartre­Ueber­ und vor allem die Methoden der Herrschen- legungen.pdf (18. 9. 2015). den entlarven muss. Die Kritik der Verhält-

24 APuZ 40/2015 nisse wäre das erste, was zu leisten ist, dann überlegen, mit welchen Begriffen man Kritik an kommt alles andere: Gegenaufklärung – Ge- bestehenden Missständen formuliert – und die genöffentlichkeit – Gegenrevolution.“ ❙6 Vermeidung des antidemokratischen Vokabu- lars der neuen Rechten – wäre schon ein erster Das erste Zwischenziel ist also nicht, formale Schritt zur Entschärfung der Debatte. Macht über Entscheidungen zu erlangen, son- dern die faktische Deutungshoheit zu wichtigen Auch inhaltlich kann man einiges tun, etwa Themen – und damit die Macht über die Ge- beim aktuell viel diskutierten Thema der danken der Menschen. Diese Fähigkeit, gesell- Spannungen zwischen Religionen und Kultu- schaftliche Diskurse im vorpolitischen Raum ren. In der neurechten Szene werden alle Indi- so zu dominieren, dass die eigenen Interessen zien ausgeschlachtet, die auf einen nicht mehr von anderen übernommen und am Ende als ge- aufzuhaltenden „Clash of Civilizations“ (Sa- samtgesellschaftliche Interessen wahrgenom- muel Huntington) oder auf weltweite Reli- men werden, wird in der neuen Rechten unter gionskriege hinweisen könnten. Die Absicht dem Benoist-Begriff „Metapolitik“ diskutiert. ist klar: Seht her, die passen nicht zu uns, also schotten wir uns lieber ab! Die Völker und die Die Verschleierung der wahren Ziele beugt Religionen bleiben besser unter sich, will man Verboten vor und führt dazu, dass sich nur ei- sagen, und unterstützt damit das neurechte nige Landesämter in ihren Verfassungsschutz- Konzept des Ethnopluralismus. berichten mit dem Phänomen der neuen Rech- ten auseinandersetzen. Dass die Überlegungen Nun wäre es natürlich töricht, die real exis- und Pläne von deren Szenehelden deswegen tierenden Probleme und Auseinandersetzun- weniger radikal wären als die derjenigen, die gen, die vermeintlich im Namen von Religio- unter verschärfter Beobachtung stehen, lässt nen ausgetragen werden, zu verleugnen. Und sich klar verneinen. Gerade weil die neue Rech- doch hilft die Verkürzung der Debatte, der te es schafft, sich kommunikativ immer noch Verweis auf das Konfliktpotenzial, nicht, wie innerhalb der Grenzen des Legalen zu bewe- etwa Claus Dierksmeier, Direktor des Welt­ gen, ist sie auf lange Sicht so gefährlich. Oder ethos-Institutes in Tübingen, im Gespräch um es mit Peter Glotz zu sagen, der schon Ende mit dem Autor feststellt. „Die Gemeinsam- der 1980er Jahre vor der Bewegung warnte: Die keiten, die in den Religionen an sich angelegt neue Rechte „bildet ein core curriculum, einen sind, sind viel größer als bekannt. Und eigent- Lehrplan“ heraus, der „für die liberale, aufge- lich im Alltag auch viel mächtiger, als die Un- klärte, im Kern laizistische, tolerante Zivilge- terschiede, die heute im Fokus der Öffent- sellschaft eine weit größere Gefahr bedeutet als lichkeit stehen“, gibt er zu bedenken. Seine das, was unsere Polizisten beobachten“. ❙7 jahrzehntelange Forschung habe gezeigt, dass sich über alle Grenzen von Kulturen, Religio- nen und Generationen hinweg immer wieder Debatte als richtige Reaktion? zwei Prinzipien und vier Werte förderlichen Umgangs miteinander bewährt hätten. Dazu Wie geht man nun mit diesen Entwicklun- gehören die Regel der Gegenseitigkeit und das gen um? Einer der wichtigsten Ansätze ist und Prinzip der Menschlichkeit sowie das Streben bleibt die Überzeugungsarbeit mit der Macht nach den Werten der Gewaltlosigkeit, Gerech- des Wortes. Diese muss Hand in Hand mit dem tigkeit, Wahrhaftigkeit und Partnerschaft der Versuch gehen, dem Misstrauen im Allgemei- Geschlechter. „Diese sechs Weisungen sind der nen entgegenzuwirken. Wer mit einem Bauch- Kern einer ethischen Haltung, die Menschen gefühl, dass er es in Politik und Medien ohnehin überall auf der Welt und stets zu verantwortli- nur mit Dienern fremder Interessen und Mäch- chem Handeln inspiriert haben“, sagt Dierks- te zu tun hat, an Themen herangeht, der ist für meier. Wer das weiß, kann sicher so manche Populismus jeglicher Art empfänglicher als die- Debatte in eine andere Richtung dre­ hen. jenigen, die – ohne dabei unkritisch zu sein – immer noch ein Grundvertrauen in die demo- kratischen Institutionen haben. Sich genau zu Tabus verteidigen

❙6 Karlheinz Weißmann, Unsere Zeit kommt, Schnell­ Aber was macht man nun mit denjenigen, mit roda 2006, S. 69. denen ein Dialog nicht mehr möglich ist, weil ❙7 Peter Glotz, Die deutsche Rechte, Stuttgart 1989, S. 38. sie ihn verweigern? Die Antwort ist in der

APuZ 40/2015 25 Theorie einfach, verlangt einem in der Realität mindest die Bereitschaft zu ernsthaften Dis- allerdings einiges ab: Gegenhalten, Grenzen kussionen und Kompromissen erkennen las- setzen, Tabus verteidigen. Der römische Dich- sen. Wer seine Meinung absolut setzt, wer ter Lucius Accius hat schon vor Christi Ge- keine anderen Argumente gelten lässt, steht burt eine seiner Figuren den Satz sagen lassen: außerhalb der Runde. Das gilt ebenso für all „Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten.“ diejenigen, die ganze Bevölkerungsgruppen In diesen Worten steckt die Erkenntnis, dass als Feindbild etablieren wollen. In einer Ge- sich der Hass niemals ganz beseitigen, sondern sellschaft, in der das Individuum zählt und Sip- höchstens kontrollieren lässt. Inzwischen ha- penhaft nicht gilt, ist das der Moment, das Ge- ben einige derjenigen, die etwa auf Facebook spräch abzubrechen – und dem Gegenüber das unter Klarnamen ihrem Hass gegen Ausländer auch deutlich mitzuteilen. Wer sich etwa da- oder Juden freien Lauf ließen, ein Strafverfah- rauf einlässt, darüber auch nur zu diskutieren, ren am Hals und sind ihren Job los. ob der pure Hass gegenüber einer bestimmten Gruppe von Menschen nicht von dieser selbst Wenngleich es sich inzwischen eingebürgert zu verantworten sei, ermöglicht denen, die hat, Tabus grundsätzlich schlecht zu finden – so diesen Ansatz vertreten – der ganz nebenbei einfach sollte man es sich nicht machen. Auch schon seit Jahrhunderten die Basis für rassisti- Dinge wie Anstand und Rücksichtnahme ba- sche und insbesondere auch antisemitische Po- sieren letztlich auf Tabus. Manche von ihnen grome ist – schon den ersten Erfolg. unterliegen Moden und einem zeitlichen Wan- del, etwa wenn es um Kleidung oder Sexuali- Die Publizistin Lena Gorelik hat 2014 über tät geht. Andere Tabus wiederum sichern das den Antisemitismus geschrieben, dieser ma- gedeihliche Zusammenleben unterschiedlichs- che „von seiner Wandelbarkeit Gebrauch“. ter Menschen. Es verwundert daher nicht, dass Er passe sich „den jeweiligen politischen Ge- diejenigen, die die Axt an die Pfeiler unserer sellschaftsformen, aktuellen Sprachcodes und Gesellschaft legen wollen, sich den Kampf ge- der jeweils diskutierten Themen an, nimmt gen Tabus auf die Fahnen geschrieben haben. Strukturen an, mit denen er sich am besten tarnen kann – als das, was er niemals ist: Ge- Denen kann man das eine oder andere Ein- sellschaftskritik beispielsweise, eine einzelne geständnis ihrer Vordenker zum Kauen geben. Meinungsäußerung, ein Ausdruck der Angst Karlheinz Weißmann etwa formulierte: „Der oder ein konstruktiver Beitrag zu einer politi- Irrtum oder die vorgeschobene Behauptung schen Debatte“. ❙9 Diese Beschreibung trifft ge- der Linken war ja, dass eine Existenz ohne Ta- nauso auf neurechtes Gedankengut zu – we- bus, ohne Bindung, ohne Institutionen mög- nig überraschend, dass der Antisemitismus, lich sei. Davon ist keine Rede. Es geht nur da- wenn auch nicht offensichtlich, so doch oft ge- rum, dass die richtigen Leute mit den richtigen nug unterschwellig Teil des Wertekanons die- Vorstellungen die Tabus setzen, die Bindun- ses Milieus ist. Und in Goreliks Beobachtung gen schaffen und erhalten und die Instituti- liegt auch schon die größte Herausforderung onen führen.“ Auf die Nachfrage seines Ge- für die demokratische Mehrheitsgesellschaft: sprächspartners, wer denn nun die „richtigen Sie wird sich niemals zurücklehnen und glau- Leute“ seien, antwortete er mit entwaffnender ben können, das Problem durch eine klare Be- Arroganz: „Wir.“ ❙8 Hat man diese Absicht ein- schreibung schon halb gebannt zu haben. Die mal durchschaut, ergibt sich der Umgang da- neue Rechte wird irgendwann, in nicht allzu mit fast von allein: Schafft man es, bestehende ferner Zukunft, wieder eine alte Rechte sein, gesellschaftliche Tabus zu verteidigen, kommt weil sie wiederum selbst von anderen, neuarti- man gar nicht erst in die Lage, gegen die Tabus gen Formen des Menschenhasses abgelöst wer- der neuen Rechten ankämpfen zu müssen. den wird. Es ist ein ewiges Hase- und Igelspiel. Und wer jeweils Hase und wer Igel ist, wird sich immer wieder neu beweisen müssen. Wachsam bleiben

Auch in einer Demokratie gibt es übrigens kei- ❙9 ne Pflicht, jeden Unsinn zu debattieren. Wer Lena Gorelik, „Man wird doch noch mal sagen dürfen …“ Antisemitismus in Hoch- und Populär- mitreden und mitgestalten will, der sollte zu- kultur, in: APuZ, (2014) 28–30, S. 3–9, hier: S. 3.

❙8 K. Weißmann (Anm. 6), S. 74.

26 APuZ 40/2015 Frank Decker te Besorgnis auslöste, so rieben sich diesel- ben Beobachter erstaunt die Augen, als im Gefolge der ostdeutschen AfD-Wahlerfol- ge eine Bewegung namens Pegida („Patrio- AfD, Pegida und tische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) in der sächsischen Landes- hauptstadt Dresden seit Oktober 2014 Tau- die Verschiebung sende von Menschen Woche für Woche zu Massendemonstrationen auf die Straße lock- te. Die aus einer Facebook-Gruppe hervor- der parteipoliti- gegangene Pegida bildete rasch Ableger in anderen ost- und westdeutschen und sogar ausländischen Städten (Wien, Kopenhagen, schen Mitte Newcastle). Deren Zulauf blieb aber nicht nur deutlich hinter dem Dresdner Origi- uf der Landkarte des europäischen nal, sondern auch hinter den nun geballt ein- ARechtspopulismus war die Bundesrepu- setzenden Gegendemonstrationen zurück. blik Deutschland lange Zeit ein weißer Fleck. Letztere waren in ihrer Wirkung insofern Zwar hat es auch hier ambivalent, als sie die mediale Aufmerk- Frank Decker seit Mitte der 1980er samkeit für Pegida über Gebühr verstärkten. Dr. rer. pol., geb. 1964; Profes- Jahre gelegentliche Tatsächlich handelte und handelt es sich bei sor für Politische Wissenschaft Wahlerfolge verschie- Pegida in hohem Maße um ein regionales – an der Rheinischen Friedrich- dener rechtspopulis- ostdeutsches und sächsisches – beziehungs- Wilhelms-Universität Bonn, tischer und rechtsex­ weise lokales – Dresdner – Phänomen. ❙2 Dass Lennéstraße 27, 53113 Bonn. tremer Gruppierungen der Rechtspopulismus in den „neuen“ Län- [email protected] gegeben – von den Re- dern ein günstigeres Terrain vorfindet als in publikanern über die den „alten“, lässt sich auch an den Wahler- Schill-Partei bis hin zur NPD. Diese blieben gebnissen der AfD ablesen. aber im Wesentlichen auf die regionale Ebe- ne der Landtagswahlen beschränkt und führ- ten nicht zur dauerhaften Etablierung einer Ursprünge und Erfolgsursachen Rechtsaußenpartei im nationalen Rahmen. ❙1 Mit dem Aufkommen der euro(pa)kritischen Wenn dem so ist, bleibt die Frage, warum der Alternative für Deutschland (AfD) änderte Rechtspopulismus in Deutschland erst seit sich das. Bei der Bundestagswahl 2013 noch jüngster Zeit so lautstark auftritt und orga- knapp an der Fünfprozentmarke gescheitert, nisatorische Strukturen ausbildet. Aus der gelang dem Neuankömmling ein gutes Jahr vergleichenden Forschung weiß man, dass es nach seiner Gründung bei den Europawah- in der Regel einer bestimmten gesellschaftli- len Ende Mai 2014 mit 7,1 Prozent der Stim- chen Krisenkonstellation bedarf, um solche men ein eindrucksvoller Erfolg. Noch weit- Parteien und Bewegungen hervorzubringen. aus bessere Ergebnisse erzielte die AfD bei Im Falle der AfD war dies die Finanz- und den im Spätsommer folgenden Landtagswah- Eurokrise. Sie öffnete das Gelegenheitsfens- len in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. ter für eine neue, EU-kritische Partei, deren Etwas geringer blieb der Zuspruch bei den programmatische Kernforderungen – kon- Bürgerschaftswahlen in Hamburg (Februar trollierte Auflösung der Währungsunion und 2015: 6,1 Prozent) und Bremen (Mai 2015: Absage an eine weitere Vertiefung des euro- 5,5 Prozent), was jedoch ausreichte, um erst- päischen Integrationsprozesses – geeignet mals auch im Westen in die Landesparlamen- waren, um daran eine breitere rechtspopulis- te einzuziehen. tische Agenda anzudocken.

Stellt die Ankunft des neuen Rechtspo- 1 pulismus im deutschen Parteiensystem eine ❙ Vgl. Frank Decker, Warum der parteiförmige Annäherung an den (west)europäischen Rechtspopulismus in Deutschland so erfolglos ist, in: Vorgänge, (2012) 1, S. 21–28. Normalzustand dar, der bei ausländischen ❙2 Vgl. Werner J. Patzelt, Was ist Pegida – in Dres- Beobachterinnen und Beobachtern zwar den und anderswo?, in: Forum Politikunterricht, 28 aufmerksames Interesse, aber keine ech- (2015) 1, S. 34 ff.

APuZ 40/2015 27 Betrachtet man die Entstehungsgeschich- Die Abspaltungstendenzen lassen sich nach- te der Partei genauer, zeigt sich, dass sie da- vollziehen, wenn man die Entwicklung be- bei auf ein bereits vorhandenes Netzwerk an denkt, die CDU und FDP in den vergangenen gesellschaftlichen und politischen Struktu- eineinhalb Jahrzehnten genommen haben. Die ren zurückgreifen konnte. Die AfD fing also CDU hat sich unter Merkels Führung einer- bei ihrer offiziellen Gründung im April 2013 seits wirtschaftspolitisch „sozialdemokrati- nicht bei Null an. ❙3 Als Vorläufer und Samm- siert“ und der von Merkel selbst ursprünglich lungsbewegungen im Vorfeld sind unter an- favorisierten liberalen Reformagenda abge- derem zu nennen: die im Gefolge des Maas- schworen. Andererseits ist sie kulturell immer tricht-Vertrags 1993 entstandene und 2000 mehr in die Mitte gerückt, indem hergebrach- wieder aufgelöste europakritische Partei te Positionen in der Familien- und Gesell- Bund freier Bürger, die Hayek-Gesellschaft, schaftspolitik reihum aufgegeben wurden: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Von der Anerkennung gleichgeschlechtlicher das Bündnis Bürgerwille, die Wahlalternati- Lebenspartnerschaften über die Einführung ve 2013 und das von Beatrix von Storch ini- einer gesetzlichen Frauenquote in Unter- tiierte fundamental-christliche Kampagnen- nehmen bis hin zur Öffnung für ein moder- netzwerk Zivile Koalition. Dies weist darauf nes Einwanderungsrecht liegt die Partei heute hin, dass die Verbindung von wirtschaftlich ganz auf der Linie des Zeitgeistes. ❙5 Der FDP liberalen und gesellschaftlich konservativen gelang es unterdessen nicht, in der gemeinsa- beziehungsweise nationalen Positionen in der men Regierung ein Gegengewicht zur Union politischen Stoßrichtung der Partei von An- zu bilden. Als euroskeptische Stimme fiel sie fang an angelegt war. ❙4 aus, nachdem die Parteibasis in dem von Frank Schäffler angestrengten Mitgliederentscheid Neue Parteien entstehen entweder aus der mit knapper Mehrheit für eine Unterstützung Gesellschaft heraus oder als Abspaltung von der Rettungspolitik votierte. Und ihre Forde- bestehenden Parteien. Auch Letzteres trifft rung nach Steuersenkungen konnte sie in der auf die AfD mit gewissen Einschränkungen Koalition gegen den Widerstand der CDU/ zu. Viele ihrer Führungsfiguren stammen aus CSU nicht durchsetzen. Beide bürgerlichen dem bürgerlichen Lager von Union und FDP, Parteien haben also durch ihren programma- hier allerdings nur aus der „zweiten Reihe“. So tischen Kurs und ihr Regierungshandeln Ni- kehrte beispielsweise Bernd Lucke, der bis zu schen im Parteiensystem geöffnet, in die die seinem Austritt im Juli 2015 das bekanntes- AfD erfolgreich hineingesprungen ist. te Gesicht der AfD war und neben ­Alexander Gauland und Konrad Adam zu ihrem Grün- Bei der Suche nach den Ursprüngen und Er- dungstrio gehörte, der CDU wegen deren Kurs folgsursachen der Partei darf schließlich die in der Eurokrise den Rücken. Gauland dage- Sarrazin-Debatte nicht unerwähnt bleiben. gen verweist auf seine negativen Erfahrungen Die in Buchform veröffentlichten Thesen des mit dem „Berliner Kreis“ – einem Zusammen- SPD-Politikers und früheren Bundesbankvor- schluss von Vertreterinnen und Vertretern der stands Thilo Sarrazin zum angeblichen Schei- Parteirechten innerhalb der CDU, der von der tern der Einwanderungs- und Integrationspo- Vorsitzenden und dem dama- litik, die die Bundesrepublik im Sommer 2010 ligen Generalsekretär Hermann Gröhe offen für mehrere Monate in Atem hielten, ❙6 haben bekämpft wurde (Gauland war 40 Jahre lang maßgeblich dazu beigetragen, den diskursi- CDU-Mitglied und von 1987 bis 1991 Chef der ven Raum für den Rechtspopulismus zu öff- hessischen Staatskanzlei). Der frühere Indus­ nen. Dies gilt zumal, als Sarrazin dessen Pro- trie­verbands­präsi­dent Hans-Olaf Henkel fand grammformel mit Büchern zur Eurokrise und wiederum – nach einem kurzen Umweg über Political Correctness weiter ausbuchstabierte. die Freien Wähler – von der FDP zur AfD.

❙5 Vgl. Frank Decker, Wenn die Populisten kommen. ❙3 Vgl. David Bebnowski, Die Alternative für Beiträge zum Zustand der Demokratie und des Par- Deutschland. Aufstieg und gesellschaftliche Reprä- teiensystems, Wiesbaden 2013, S. 82 ff. sentanz einer rechten populistischen Partei, Wiesba- ❙6 Vgl. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. den 2015, S. 19 ff. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. ❙4 Vgl. Sebastian Friedrich, Der Aufstieg der AfD. Zur Debatte vgl. z. B. Patrik Schwarz (Hrsg.), Die Neokonservative Mobilmachung in Deutschland, Sarrazin Debatte. Eine Provokation – und die Ant- Berlin 2015. worten, Hamburg 2010.

28 APuZ 40/2015 Ideologische Einordnung lichkeitsüberlegungen beruhenden Zuwan- derungspolitik niederschlägt. Dies schließt und Programmatik sowohl an christlich-konservative als auch ordoliberale Ordnungsvorstellungen an. ❙9 Manche Beobachter wollten der Verlegenheit, die AfD als rechtspopulistisch einzustufen, Weil der wirtschaftsliberale Flügel in der entkommen, indem sie unter Verweis auf die Führung personell dominierte, trug die of- Personalquerelen und Richtungskonflikte in fizielle Programmatik der AfD, die in ihren der Partei behaupteten, diese bestehe aus drei politischen Leitlinien und den Programmen im Grunde unverträglichen Strömungen: ei- zur Bundestags- und Europawahl nieder- ner wirtschaftsliberalen, einer national-kon- gelegt wurde, zunächst ganz dessen Hand- servativen und einer rechtspopulistischen. ❙7 schrift. ❙10 In den Wahlkampagnen waren Darin liegt aber ein Missverständnis, denn allerdings von Beginn an andere Töne zu die Strömungen sind nicht nur miteinander vernehmen. Das galt insbesondere für die vereinbar, sondern in gewisser Weise sogar ostdeutschen Bundesländer, wo das Thema aufeinander bezogen. Zusammen bilden sie nationale Identität und ein rigoroser Anti- die programmatische und elektorale „Ge- Establishment-Diskurs mehr Resonanz ver- winnerformel“ der neuen Rechtsparteien, in sprachen als im Westen. Weil sich die gemä- die sich auch die euroskeptischen Positionen ßigten Vertreter um Bernd Lucke in diesen problemlos einfügen. ❙8 Der Populismus fun- Sog freiwillig hineinziehen ließen, konnte giert dabei als übergreifendes Scharnier. Er man ihnen später den Vorwurf machen, zum steht für die Anti-Establishment-Orientie- Erstarken der radikalen Kräfte in der AfD rung der Partei, die bereits im Namen „Al- selbst beigetragen zu haben. ternative“ zum Ausdruck kommt, und für ihren Anspruch, das „eigentliche“ Volk be- Schon bei der Bundestagswahl 2013 zeig- ziehungsweise dessen schweigende Mehrheit te sich, dass die kritische Haltung vieler Bür- zu vertreten. Des Weiteren teilt die AfD mit gerinnen und Bürger gegenüber Zuwande- dem Mainstream des europäischen Rechtspo- rung ein wichtigeres Motiv für die Wahl der pulismus die – aus der Systemkritik abgeleite- AfD abgab als deren euroskeptische Positio- te – Forderung nach mehr direktdemokrati- nen, die im Mittelpunkt des Wahlprogramms schen Beteiligungsrechten, die sich laut ihren standen. ❙11 Bei der Europawahl wurde die politischen Leitlinien am „Schweizer Vor- Einwanderung von den AfD-Wählerinnen bild“ orientieren sollen. und -Wählern genauso häufig als ausschlag- gebendes Thema für ihre Wahlentscheidung Die wirtschaftsliberalen und konservativen genannt wie die Stabilität der Währung (40 Positionen der Partei stellen ebenfalls keinen gegenüber 41 Prozent). Unter den Wählern Gegensatz dar. Sie werden in einem natio- aller Parteien waren es nur 13 gegenüber nalen „Besitzstands- oder Wettbewerbspo- 29 Prozent. Das Überwiegen rechter Ein- pulismus“ zusammengeführt, der die Über- stellungsmuster in der AfD-Wählerschaft legenheit des eigenen Wirtschaftsmodells lässt sich auch an ihrer Unterstützungsbe- gegenüber anderen Ländern und Kulturen reitschaft der Dresdner Pegida-Bewegung betont. Die aktuelle Misere der Südländer ablesen. Obwohl diese wegen ihrer fremden- im Euroraum spielt dieser Argumentation in die Hände, lässt sie sich doch mit der ver- meintlichen deutschen Tugendhaftigkeit un- ❙9 Vgl. David Bebnowski/Lisa Julika Förster, Wett- mittelbar verknüpfen. Dasselbe gilt für das bewerbspopulismus. Die Alternative für Deutsch- von der AfD gegen den bestehenden Sozial- land und die Rolle der Ökonomen, Arbeitspapier der Otto Brenner Stiftung, Frank­furt/M. 2014. staat hochgehaltene Bild einer „Leistungs- ❙10 Vgl. Simon Tobias Franzmann, Die Wahlpro- gesellschaft“, das sich zum Beispiel in der grammatik der AfD in vergleichender Perspektive, Konzeption einer ausschließlich auf Nütz- in: Mitteilungen des Instituts für Parteienrecht und Parteienforschung, 20 (2014), S. 115–124. ❙11 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck, Euro-Kritik, Wirt- ❙7 Vgl. z. B. Alban Werner, Vor der Zerreißprobe: schaftspessimismus und Einwanderungsskepsis: Wohin treibt die AfD?, in: Blätter für deutsche und Hintergründe des Beinahe-Erfolgs der Alternati- internationale Politik, 60 (2015) 2, S. 85 f. ve für Deutschland (AfD) bei der Bundestagswahl ❙8 Vgl. Frank Decker, Der neue Rechtspopulismus, 2013, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 45 (2014) Opladen 20042, S. 177 f. 1, S. 94–112.

APuZ 40/2015 29 feindlichen und rechtsextremen Tendenzen kampfes noch Luckes Niederlage gegen die von den AfD-Offiziellen – allerdings mit er- Vorsitzende der AfD Sachsen, Frauke Petry, kennbaren Akzentunterschieden ❙12 – auf Dis- bei der Wahl des/der Bundesvorsitzenden auf tanz gehalten wurde, äußerten 76 Prozent dem Essener Parteitag Anfang Juli 2015 ver- der AfD-Wähler Verständnis für die Protes- hindern konnte. Lucke stemmte sich gegen die te. Unter der Wählerschaft aller Parteien be- Abwahl, indem er im Vorfeld des Parteitages trug der Zustimmungswert nur 22 Prozent; seine Anhängerinnen und Anhänger in einem selbst unter den Nichtwählern lag der Wert eigenen Verein (Weckruf 2015) versammelte. mit 36 Prozent deutlich darunter. ❙13 Dieser nahm die Spaltung der AfD vorweg. Bis Mitte Juli verließen mehr als 2000 Mitglie- der die Partei, darunter neben Lucke selbst Innere Entwicklung und Spaltung mit Hans-Olaf Henkel, Ulrike Trebesius, Bernd Kölmel und Joachim Starbatty fast alle Der Rechtsruck der AfD wurde dadurch be- Protagonisten des liberalen Flügels. Die Mit- günstigt, dass nach den erfolgreich verlau- glieder des Weckrufs befürworteten mit gro- fenen Bundestags- und Europawahlen im ßer Mehrheit die Gründung einer neuen euro- Spätsommer 2014 drei Landtagswahlen in pakritischen Partei unter Luckes Führung, die Ostdeutschland anstanden. Die Partei er- den Namen Allianz für Fortschritt und Auf- zielte dort bessere Ergebnisse als im Westen, bruch (ALFA) tragen soll. was die Landesverbände als Bestätigung ih- rer Linie auffassten, die bisherige Fixierung Die Chancen für die Neugründung sind der AfD auf das Eurothema zugunsten einer gering. Denn wo sollte das Potenzial für eine breiteren rechtspopulistischen Plattform zu „Lucke-Partei“ liegen, die politisch zwi- überwinden. Ehemalige Mitglieder der Re- schen der Rest-AfD und der FDP zu veror- publikaner, der Schill-Partei und der Partei ten wäre? Dies gilt zumal, wenn sich Letztere Die Freiheit traten der AfD reihenweise bei nach den für sie erfreulichen Wahlergebnis- und drängten nach und nach in ihre Vorstän- sen in Hamburg und Bremen regeneriert. Als de. In fast allen Landesverbänden kam es da- Hauptproblem dürfte sich erweisen, dass der rüber zu zum Teil heftig ausgetragenen Kon- Partei ihr wichtigstes Thema – die Kritik an flikten. Der Bundesvorstand versuchte dem der Währungsunion – aus den Händen rinnt, durch eine Erweiterung seiner eigenen Be- ohne dass andere Themen in Sicht sind, die fugnisse zu begegnen, was aber den Wider- eine nennenswerte Wählermobilisierung ver- stand an der Basis erst recht provozierte. ❙14 sprechen. Von der FDP könnte sie sich zwar durch eine konservative Linie in der Rechts- Spätestens Anfang 2015 zeichnete sich ab, und Gesellschaftspolitik abheben, die sie dass die mehrheitlich aus Vertretern der Ge- dann aber in unmittelbarer Konkurrenz zur mäßigten bestehende Parteiführung den Rest-AfD vertreten müsste. Rückhalt der Funktionäre und Mitglieder der AfD verloren hatte. Lucke versuchte die Kon- Auch für diese dürften sich die Aussichten trolle durch eine Satzungsänderung zurück- nach der Spaltung eintrüben. Blickt man auf zugewinnen, durch die die AfD nach einer die Motive, um derentwillen die Partei bisher kurzen Übergangsphase nur noch von einem gewählt worden ist, scheint der Abgang der einzigen Vorsitzenden – ihm selbst – geführt Liberalen zwar verkraftbar. Dies gilt aber nur werden sollte. Obwohl ihm der Bremer Par- für die östlichen Landesverbände, die im Un- teitag Ende Januar 2015 darin folgte, erwies terschied zu den Parteigliederungen im Wes- sich der Beschluss als Pyrrhussieg, da dieser ten kaum Austritte verzeichnen, weil sie sich weder die Zuspitzung des nun immer erbitter- längst zu einem Sammelbecken für den rech- ter ausgetragenen innerparteilichen Macht- ten Rand entwickelt haben. Ausgerechnet der sächsische Landesverband von Frauke Petry ❙12 Vgl. Lars Geiges/Stine Marg/Franz Walter, Pegi- spielt hier eine unrühmliche Vorreiterrolle. ❙15 da. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Biele- Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die AfD feld 2015, S. 151 ff. unter diesen Vorzeichen zu einer Regional- ❙13 Zahlen von TNS Infratest. partei des Ostens entwickelt, ist hoch. Auch ❙14 Vgl. Oskar Niedermayer, Eine neue Konkurrentin im Parteiensystem? Die Alternative für Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestags- ❙15 Vgl. „Sing, mei Sachse, sing!“, in: Frankfurter All- wahl 2013, Wiesbaden 2015, S. 201 ff. gemeine Zeitung vom 21. 7. 2015.

30 APuZ 40/2015 hier wird sich für die neue Führung um Pe- monstranten verortet sich im liberal-konser- try aber das Problem der Abgrenzung nach vativen Lager, wobei die AfD als bevorzug- ganz rechtsaußen unweigerlich stellen. An te Partei deutlich vor der CDU liegt. Nach der Frage, wie man mit den unerwünschten den Gründen ihrer Teilnahme befragt, nen- Unterstützern umgeht, sind in der Vergan- nen 71 Prozent die „Unzufriedenheit mit der genheit alle rechtspopulistischen Neugrün- Politik“, 35 Prozent „Kritik an Medien und dungen gescheitert – von den Republika- Öffentlichkeit“ und 31 Prozent „grundlegen- nern über den Bund freier Bürger bis hin zur de Vorbehalte gegen Asylbewerber und Mi- Schill-Partei. Bei der AfD könnte sich diese granten“. Ablehnende Haltungen speziell ge- Geschichte jetzt wiederholen. genüber Muslimen oder dem Islam äußern 15 Prozent. ❙17

Rätsel Pegida Offizielle Solidaritätsadressen, Unterstüt- zungsbekundungen oder eine Einladung zur Größere Rätsel als die sich in die Phalanx der Zusammenarbeit mit Pegida blieben vonsei- europäischen Rechtspopulisten einreihende ten der AfD aus, weil man die Sorge hatte, AfD gibt aus vergleichender Sicht Pegida auf. mit etwaigen rechtsextremen Tendenzen so- Dass eine im bürgerlich-konservativen Lager wohl in der Organisation der Protestbewe- angesiedelte Organisation auf Formen der po- gung als auch unter den Demonstrationsteil- litischen Partizipation zurückgreift, die man nehmern in Verbindung gebracht zu werden. eher aus dem linken Spektrum kennt, ist an Dennoch scheint es nicht unangebracht, Pe- sich schon ungewöhnlich. Die „Pegidisten“ gida als Ausdruck derselben rechtspopulisti- nahmen damit die Tradition der „Montags- schen Grundstimmung in weiten Teilen der demonstrationen“ auf, die auf die Massenpro- ostdeutschen Wählerschaft zu deuten, die der teste gegen das untergehende DDR-Regime AfD bei den Landtagswahlen im Spätsommer im Herbst 1989 zurückging und seither auch 2014 zweistellige Ergebnisse einbrachte. Ob bei anderen Anlässen aktiviert wurde (etwa Pegida ohne die „Vorarbeit“ der AfD in die- bei den Protesten gegen die Sozial- und Ar- ser Form entstanden wäre und einen so star- beitsmarktreformen der rot-grünen Bundes- ken Zulauf gehabt hätte, ist fraglich, wenn- regierung 2004). Ihren Höhepunkt erreichten gleich das stark konservativ geprägte Umfeld die Demonstrationen in Dresden im Januar der sächsischen Politik, die Anknüpfungs- 2015, als geschätzt etwa 20 000 Teilnehmerin- punkte im organisierten rechtsextremen Mi- nen und Teilnehmer wöchentlich auf die Stra- lieu und der spezifische Dresdner Opferstolz ße gingen. Danach ging der Zulauf stark zu- am Erfolg sicherlich großen Anteil hatten. rück (bis auf durchschnittlich jeweils 2500 Teilnehmer im Mai und 1500 im Juni 2015). Die Motivlagen der AfD-Wähler und Pegi- da-Teilnehmer lassen sich mit dem Begriffs- Umfragen und teilnehmende Beobachtun- paar Unsicherheit und Unbehagen am besten gen bestätigen, dass der Typus des routinier- umschreiben. Unsicherheit bezieht sich dabei ten Demonstrationsteilnehmers, der etwa bei mehr auf die soziale Situation, also die Sorge den Protesten gegen den Bahnhofsneubau vor Wohlstandsverlusten, während Unbeha- „Stuttgart 21“ in der Mehrheit war, bei Pe- gen auf kulturelle Entfremdungsgefühle ab- gida nur eine Randerscheinung darstellt. ❙16 zielt, den Verlust vertrauter Ordnungsvor- Der durchschnittliche Pegidist ist mittelalt, stellungen und Bindungen. ❙18 Dass die Angst männlich, in familiäre Strukturen eingebun- vor „den Fremden“ nicht unbedingt dort am den, befindet sich in einer Vollzeitanstellung größten ist, wo die meisten Fremden leben, und verfügt über einen mittleren bis geho- ist keine neue Erkenntnis. Durch Pegida ist benen Bildungsabschluss. Die überwiegende sie noch einmal ins Bewusstsein gerückt wor- Mehrheit der zu zwei Dritteln aus Dresden den. Wenn die AfD durch die Bestellung des beziehungsweise Sachsen stammenden De- rechtspopulistischen Terrains zur Entstehung

❙16 Vgl. Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in ❙17 Vgl. Hans Vorländer et al., Wer geht zu Pegida und Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, warum? Eine empirische Umfrage unter Pegida-De- methodische Grundlagen und offene Fragen, in: Mit- monstranten in Dresden, Dresden 2015. teilungen des Instituts für Parteienrecht und Partei- ❙18 Vgl. L. Geiges/St. Marg/​F. Walter (Anm. 12), enforschung, 21 (2015), S. 133–143. S. 179 ff.

APuZ 40/2015 31 von Pegida beigetragen hat, so könnte sie auch Analyse ihrer bisherigen Wahlergebnisse be- der Grund sein, warum die Bewegung nach legt, dass die Rechtspopulisten von allen an- ihrem Höhepunkt im Januar 2015 rasch in deren Parteien (und aus dem Lager der Nicht- sich zusammengefallen ist. Denn mit der AfD wähler) Stimmen abgezogen haben – die haben Protest und Unzufriedenheit der „Wut- Verortung der AfD im rechten politischen bürger“ in das Parteiensystem ja bereits Ein- Spektrum findet insofern keine Entsprechung zug gehalten, verfügen diese also gerade in auf der Wählerebene. Besonders ausgeprägt Ostdeutschland über eine kontinuierlich ver- zeigt sich dieser Effekt in Ostdeutschland: So nehmbare, politisch wirksame Stimme. sind bei der Landtagswahl in Thüringen im September 2014 insgesamt mehr Wählerin- nen und Wähler von den drei linken Parteien Schlussbemerkungen (Linke, SPD und Grüne) zur AfD übergelau- fen als von CDU und FDP. Und in Bran- Abschließend stellen sich zwei Fragen. Die denburg war es ausgerechnet die Linkspar- erste Frage bezieht sich auf die politische tei, die den größten Abfluss in Richtung der Funktion von Parteien und Bewegungen wie Rechtspopulisten hinnehmen ­musste. ❙22 AfD und Pegida. Nützlich wären sie, wenn sie dazu beitragen, dass der Protest nicht in Dass die Wähler linker Parteien für kon- schlimmere, sprich: gewaltsame Bahnen ab- servativ-autoritäre Wert- und Ordnungsvor- gleitet (Kanalisierungsthese). Der Soziologe stellungen durchaus empfänglich sind, weiß Ruud Koopmans hat in einer internationalen man in den Sozialwissenschaften seit Lan- Vergleichsuntersuchung, die inzwischen aller- gem. Wahlerfolge der Rechtspopulisten tra- dings über 20 Jahre zurückliegt, Belege dafür gen insofern dazu bei, dass sich die Achse beigebracht. ❙19 Der umgekehrte Zusammen- des Parteiensystems insgesamt nach rechts hang erscheint aber theoretisch mindestens verschiebt. Dies ist einerseits eine schlechte genauso plausibel. Machen Rechtspopulis- Nachricht für die deutsche Sozialdemokratie, ten Stimmung gegen die Fremden und die- weil es ihre Chancen für eine Rückeroberung jenigen, die das „Eindringen der Fremden“ des Kanzleramtes von der Union weiter ver- betreiben, erzeugen sie ein Klima, das zur Ge- mindert. Andererseits schadet es CDU und waltanwendung erst ermuntert (Verstärker- CSU, die zumindest mittelfristig kein Inte- these). Inzwischen mehren sich die Hinweise, resse daran haben können, mit der AfD eine dass die Pegida-Bewegung in Ostdeutschland wie auch immer geartete Zusammenarbeit in dieses gewaltbereite Milieu „diffundiert“ einzugehen. Deren Präsenz erhöht also so- ist. ❙20 Gleichzeitig vermelden die Verfassungs- wohl die Polarisierung als auch die Segmen- schutzämter einen Anstieg der rechtsextrem tierung des Parteiensystems. Dieses könnte motivierten Gewalttaten um 24 Prozent im damit künftig in eine ähnliche Lage geraten Jahr 2014, obwohl die Szene selbst mit rund wie in Österreich, wo der Wettbewerb inzwi- 21 000 Personen nicht größer geworden ist. schen mehr an den Rändern als in der Mitte Zugenommen haben insbesondere die Angrif- stattfindet und die mangels anderer Koaliti- fe auf Asylbewerberunterkünfte (von 55 im onsmöglichkeiten erzwungene Fortsetzung Jahr 2013 auf 170 im Jahr 2014 und 150 im ers- der Großen Koalition den Rechtspopulisten ten Halbjahr 2015). ❙21 Die ostdeutschen Län- direkt in die Hände spielt. Ob dies für die der und hier wiederum vor allem Sachsen sind Bundestagswahl 2017 ein realistisches Sze- dabei überproportional vertreten. nario ist, wird sich vielleicht schon im kom- menden Frühjahr bei den Landtagswahlen in Die zweite Frage bezieht sich auf die Kon- Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und sequenzen einer möglichen Etablierung der Sachsen-Anhalt andeuten. AfD für das deutsche Parteiensystem. Die

❙19 Vgl. Ruud Koopmans, A Burning Question: Ex- plaining the Rise of Racist and Extreme Right Vio- lence in Western Europe, Berlin 1995. ❙20 Vgl. Doreen Reinhard, „Werte Brandstifter“, in: Die Zeit vom 2. 7. 2015. ❙22 Laut TNS Infratest. ❙21 Vgl. Gewalt gegen Asylbewerber nimmt drastisch zu, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. 7. 2015.

32 APuZ 40/2015 Claudia Luzar Mitte ist somit maßgeblich an politischer und demokratischer Willensbildung beteiligt be- Rechter Rand ziehungsweise sollte es sein. Der Sozialpsychologe Andreas Zick und die Erziehungswissenschaftlerin Anna Klein be- und Mitte – schreiben die Mitte der deutschen Gesellschaft in einer aktuellen Studie als „fragil“ in Bezug auf ihre Normen und Werte, was sich unter an- Kein einheitliches derem anhand der Akzeptanz von Gruppen- bezogener Menschenfeindlichkeit abbilden lässt. ❙4 Einer anderen Studie zufolge sind 2014 Verhältnis die rechtsextremen und menschenfeindlichen Einstellungen in Deutschland gegenüber den ie gesellschaftliche Mitte ist ein begehrtes Vorjahren zurückgegangen. ❙5 Doch schon ein DGut im Streit um politische Macht. Ins- Jahr später lassen die aktuellen Ereignisse – die besondere vor Wahlen weisen Parteien auf ihre sich häufenden Proteste vor Asylbewerberhei- Nähe zur „Mitte“ hin, men und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünf- Claudia Luzar aber auch soziale Be- te – einen raschen Wandel der Einstellungen in Dr. phil., geb. 1975; Konflikt- wegungen reklamieren der deutschen Bevölkerung vermuten. Oder und Gewaltforscherin; Lehr- für sich, den „Durch- werden diese Einstellungen erst sichtbar, wenn beauftragte am Fachbereich schnittsbürger“ zu re- Konflikte wie jener über die deutsche Einwan- Angewandte Sozialwissenschaf- präsentieren. Im all- derungs- und Flüchtlingspolitik oder Ängste ten der Fachhochschule Dort- tagssprachlichen Ge- vor einer „Islamisierung“ offen zutage treten? mund, Emil-Figge-Straße 44, brauch steht der Be- 44227 Dortmund. griff für Neutralität, Wie stellen sich die Übergänge zwischen www.claudia-luzar.de Demokratie und so- der demokratischen Mitte und dem Rechtsex- [email protected] zialen Ausgleich. Al- tremismus dar? Ein Mensch wird nicht über lerdings bleibt „die Nacht zu einem Extremisten, sondern diese Mitte“ bis heute ein politisches Konstrukt, das verschiedene Interpretationen erfährt – ❙1 Vgl. Seymour Martin Lipset, Some Social Requisi- je nach angelegten ökonomischen und sozi- tes of Democracy. Economic Development and Poli- alen Kriterien sowie aus Sicht der Bevölke- tical Legitimacy, in: American Political Science Re- rungsteile selbst, die sich als Mitte und somit view, 53 (1959), S. 69–105. ❙2 als die diskursbestimmende gesellschaftliche Der Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeind- lichkeit“ geht auf den Soziologen Wilhelm Heit- Kraft definieren. meyer zurück, der im Rahmen eines zehnjährigen Forschungsprojekts untersucht hat, wie verbreitet feind- In der Extremismusforschung bildet die ge- selige Einstellungen gegenüber Menschen aufgrund un- sellschaftliche Mitte die entscheidende Re- terschiedlicher sozialer, religiöser oder ethnischer Her- ferenz, von der aus eine Unterscheidung in kunft oder anderem Lebensstil sind. Kern des Begriffs ist Rechts- und Linksextremismus vorgenom- die Ideologie des Ungleichwertigkeit. Vgl. Wilhelm Heit- meyer, Deutsche Zustände, Folge 1, Frank­furt/M. 2002. men wird. Die Definition des Soziologen Sey- ❙3 Vgl. Oliver Decker et al., Ein Blick in die Mitte. mour Martin Lipset erweiterte den Blick: Er Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer ergänzte den Links- und Rechtsextremismus Einstellungen in Deutschland, Berlin 2008, S. 11. um einen „Extremismus der Mitte“. ❙1 Auch ❙4 Vgl. Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte – die Autoren der sogenannten Mitte-Studien, Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen die Psychologen Oliver Decker und Elmar in Deutschland 2014, Bonn 2014, www.fes-gegen- rechtsextremismus.de/pdf_14/FragileMitte-Feindse- Brähler, weisen darauf hin, dass rechtsextreme ligeZustaende.pdf (18. 9. 2015). Rechtsextremismus als Einstellungen und „Gruppenbezogene Men- Phänomen umfasst weiterhin Gewalt(akzeptanz) ge- schenfeindlichkeit“ ❙2 in allen gesellschaftli- genüber den als ungleichwertig empfundenen „Ande- chen Gruppen und Regionen anzutreffen sind ren“ sowie die Orientierung an einer idealistisch-au- und keinesfalls ein Randphänomen darstel- toritären Staatsauffassung. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, len. ❙3 In diesem Artikel wird „gesellschaftliche Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendli- chen, München 1992. Mitte“ als normbildende Mehrheit verstanden, ❙5 Vgl. Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, die sich über die Institutionen der Öffentlich- Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in keit, des Rechts und der Politik definiert. Die Deutschland 2014, Leipzig 2014.

APuZ 40/2015 33 Entwicklung ist eng mit den gesellschaftlichen dass sie besonders dort Zustimmung erfährt, Konfliktlagen, ihrer individuellen Verarbei- wo demokratische Parteien und Verbände so- tung sowie der persönlichen Entwicklung ver- wie zivilgesellschaftliche Organisationen rela- knüpft. Die Radikalisierung einer Person ist tiv schwach sind. Mit Aktionen wie Kinder- somit ein mentaler und emotionaler Prozess, festen oder Suppenküchen stößt die NPD zum der immer mit einem tief greifenden Wandel Beispiel in gesellschaftliche Bereiche, die in von Überzeugungen, Gefühlen und Hand- Teilen Ostdeutschlands noch nicht oder bisher lungsweisen einhergeht. Auch ein rechtsext- zu wenig von den demokratischen nicht-rech- remer Mensch hat ein „tief empfundenes Ver- ten Parteien ausgefüllt werden. Insbesondere langen nach soziopolitischen Veränderungen“, im ländlichen Raum, wo es sonst wenige An- während Radikalisierung verstanden werden gebote gibt, kann sie sich auf diese Weise Sym- kann als eine „wachsende Bereitschaft, weit- pathien erwerben. Nach ihrem Verständnis reichende Veränderungen in der Gesellschaft wollen die Aktivisten der NPD in Gegenden zu verfolgen und zu unterstützen, die mit der und gesellschaftlichen Bereichen, denen bisher existierenden Ordnung in Konflikt stehen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, oder diese gefährden“. ❙6 „Kümmerer“ und „Aufklärer“ sein.

Ich vertrete hier die These, dass es kein ein- Die NPD und andere rechtsextreme Parteien heitliches Verhältnis zwischen dem Rechts- leben davon, dass sie dort Antworten geben, wo extremismus und der gesellschaftlichen Mit- bereits die Fragen tabu sind. Ein Beispiel: Darf te gibt. Je nach historischen, geografischen, man nur noch „Schokokuss“ sagen? Während kulturellen und sozialen Konfliktkonstel- der alte, rassistische Begriff in der medialen lationen sowie politischen Realitäten ver- und politischen Öffentlichkeit längst verpönt ändert sich dieses: Im Folgenden werde ich ist, ist er (nicht nur) an vielen Stammtischen zunächst am Beispiel der NPD zeigen, wie durchaus noch geläufig, und die Diskussion da- Rechtsextremisten versuchen, selbst die ge- rüber wird mit Unverständnis aufgenommen. sellschaftliche Mitte zu repräsentieren. Da- An diesem Punkt setzt die Strategie in der Öf- ran anschließend werde ich darstellen, wie fentlichkeitsarbeit der NPD an: So behaupten die rechtsextreme Splitterpartei Die Rechte ihre Vertreter, dass bei ihr – im Gegensatz zum den Kampf gegen die gesellschaftliche Mit- „Establishment“ – jeder frei denken und han- te führt und wie diese darauf reagiert. Im deln könne. Sie verstehen sich also selbst gleich- dritten Abschnitt schließlich geht es darum, sam als Repräsentanten einer gesellschaftli- wie sich Teile der gesellschaftlichen Mitte in chen Mitte, die für die „wahren Interessen“ des ­Gestalt von Pegida selbst radikalisierten. deutschen Volkes eintreten, während sich die etablierten schwarz-rot-grünen Parteien nach Lesart der Rechtsextremisten nur noch um die NPD: Selbstbild als „deutsche Mitte“ Interessen von „Randgruppen“ (etwa Zuwan- derer oder Homosexuelle) kümmern und des- Aktuell schwinden die Mitgliederzahlen der halb viel weniger „Mitte“ sind. NPD, einzig in Mecklenburg-Vorpommern ist sie noch in einem Landesparlament vertre- Vor allem in Westdeutschland fristet die ten, zudem in einigen Kommunalparlamenten NPD in den Kommunalparlamenten eine Au- sowie im Europaparlament. Die Strategie der ßenseiterexistenz. Hinzu kommt: Wer ein- NPD ist es bis heute, sich als gesellschaftliche mal in der NPD eine führende Position hat- Mitte zu definieren, die eine schweigende, un- te, wird in der demokratischen Gesellschaft zufriedene Mehrheit darstellt und Konflikt- keine große Karriere mehr machen können, themen wie Einwanderung, Armut und sozia- weder als Lehrer, noch als Rechtsanwalt oder le Gerechtigkeit aufgreift. Und in der Tat kann Arzt. Aber gerade diese Ausgrenzung ist ein die NPD vielfach auf einen verbreiteten All- wichtiger Resonanzboden für die Partei; sie tagsrassismus bauen, der sie in Teilen der Be- schafft Bindungskräfte, weil es kein Zurück völkerung anschlussfähig macht. Auffällig ist, mehr für Führungskader gibt, was diese des- halb eher stärker als schwächer macht. ❙6 Anja Dalgaard-Nielsen, Violent Radicalization in Europe: What We Know and What We Do Not In den vergangenen Jahren hat sich die Know, in: Studies in Conflict and Terrorism, 33 NPD fast ausschließlich auf den Einzug (2010) 9, S. 797–814. in Parlamente konzentriert und die Wahl-

34 APuZ 40/2015 kampfveranstaltungen mit Blick auf das Es- schaft hinter sich zu versammeln. Speziell im tablishment entsprechend konfrontativ an- Kommunalwahlkampf sprachen Die Rechte- gelegt. Doch die Strategie, eine unzufriedene Aktivisten einige soziale Themen in Dort- Mitte in den Parlamenten zu repräsentieren, mund an und zeigten insbesondere in Sozi- verfängt nicht mehr in dem gewünschten alräumen Präsenz, in denen gesellschaftliche Maße, sodass aktuell wieder eine verstärk- Problemlagen und Desintegration akut sind. te Zuwendung zum „Kampf um die Straße“ Bei den Kommunalwahlen 2014 erreichte Die erfolgt und dort speziell die Proteste gegen Rechte ein Prozent der Wählerstimmen und Asylbewerberheime im Fokus stehen. Dieses einen Sitz im Stadtrat sowie vier Sitze in den Konfliktthema wird inzwischen aber auch Bezirksvertretungen der Stadt. durch andere Akteure „bearbeitet“, die eben- falls für sich beanspruchen, für „die Mitte“ Doch auch die parlamentarische Strategie zu sprechen und entsprechende Präsenz auf der Partei bleibt Provokation: So stellte bei- der Straße zeigen. Dazu unten mehr. spielsweise ihr Ratsmitglied im Herbst 2014 eine Anfrage, wie viele Juden in Dortmund leben. Die Aktivisten präsentieren sich als Die Rechte in Dortmund Opposition zu den „Systemparteien“, insbe- sondere zu den regierenden Sozialdemokra- Anders als die NPD, die sich selbst als ge- ten. Provokationen werden als Handlungs- sellschaftliche Mitte sieht, führt die rechtsex- instrument genutzt, um Öffentlichkeit zu treme Splitterpartei Die Rechte bewusst einen erzielen – sei es durch den Versuch, eine Art Kampf gegen die Mitte, die im Ruhrgebiet vor Bürgerwehr („Stadtschutz“) zu etablieren, allem in der Sozialdemokratie verankert ist. oder durch parlamentarische Anfragen. So- Die Rechte, die nach dem Kameradschaftsver- mit bleibt Die Rechte eine Partei jenseits der bot des Nationalen Widerstands Dortmund Mitte, die bewusst auf Abgrenzung und „au- und den Verboten und Niedergängen ande- toritäre Rebellion“ setzt. rer Kameradschaften zu einem Sammelbe- cken rechtsextremer Szeneangehöriger wur- Die gesellschaftliche Mitte – unter anderem de, zählt aktuell rund 500 Mitglieder. Auch in Gestalt der nicht-rechten demokratischen wenn der bekannte Rechtsextremist Chris- Parteien und der zivilgesellschaftlichen Or- tian Worch als Parteivorsitzender fungiert, ganisationen – setzt auf klare Ab- und Aus- agieren die Kreisverbände weitgehend auto- grenzung. Mittlerweile gibt es den zweiten nom mit einer auf die jeweilige Stadt bezoge- Versuch, Die Rechte zu verbieten; Mitglieder nen Agenda, in der sie kommunalpolitische der rechtsextremen Partei haben nach diver- Themen aufgreifen und im Sinne ihrer rechts- sen Outings durch antifaschistische Organi- extremen Ideologie deuten. Mit rund 200 sationen ihren Arbeitsplatz verloren oder ih- Personen ist der Dortmunder Kreisverband nen wurde ihre Wohnung gekündigt. Diese derzeit der stärkste. Die Stadt selbst gilt als Maßnahmen haben bis heute jedoch nicht zu Hochburg der rechtsextremen Szene in West- einer Abnahme rechtsextremer Strukturen deutschland. Diese präsentiert sich mit einer oder Gewalt geführt. hohen Frequenz an Aufmärschen sowie ei- ner professionellen Internetpräsenz, die hohe Strahlkraft für die gesamte rechtsextreme Sze- Pegida: Die Radikalen aus der Mitte ne in Deutschland besitzt. Nicht nur die NPD hat das Konfliktthe- Während das Feindbild der Dortmun- ma Zuwanderung (und damit verbunden die der Rechtsextremisten in den 2000er Jahren Angst vor einer vermeintlichen Islamisie- bis 2008 vor allem autonome, linksextreme rung) als Protestmotiv aufgegriffen. Die „Pa- Antifaschisten waren, verlagerte sich die- triotischen Europäer gegen die Islamisierung ses immer mehr hin zu den Repräsentanten des Abendlandes“ (Pegida) wurden mit ih- der regierenden Sozialdemokraten und ih- ren Dresdner „Spaziergängen“ erstmals im rer „Blockparteien“. Mit ihrer konfrontati- Herbst 2014 öffentlich wahrnehmbar. Von ven Strategie bei gleichzeitiger Pflege einer Anfang an war es das Prinzip der Organisato- „rechtsextremen Erlebniskultur“ mit Kon- ren, politische Parteien von den Demonstra- zerten, Fußballspielen und Partys gelang es tionen fernzuhalten und sich politisch nicht der Partei, eine nennenswerte Anhänger- vereinnahmen zu lassen. Mit diesem Rezept

APuZ 40/2015 35 gelang es, viele Unzufriedene aus der gesell- Als im Januar 2015 ausländerfeindliche schaftlichen Mitte anzusprechen, die sich Aussagen des Pegida-Organisators Lutz nicht mehr repräsentiert fühlten und bereit Bachmann bekannt wurden, spaltete sich der waren, ihren Protest gegen die in ihren Augen Organisationskreis, und die Bewegung ver- schlechten Zustände in Deutschland auf die lor an Teilnehmerzahlen und Dynamik. Den- Straße zu bringen. Die Themenschwerpunk- noch konnte die Kandidatin der Bewegung te von Pegida sind die Ablehnung einer mul- bei der Dresdner Oberbürgermeisterwahl tikulturellen Gesellschaft, die vermeintlich Anfang Juni 2015 im ersten Wahlgang fast mangelnden ­Mitbestimmungsmöglichkeiten zehn Prozent der Stimmen auf sich vereini- sowie ein empfundenes „Meinungsdiktat“ gen. Die Parteien der gesellschaftlichen Mitte durch Politik, Medien und Wissenschaft. verloren massiv, und kein Kandidat errang im Weiteres Thema war der Ukraine-Konflikt, ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit, bei dem Pegida für eine klare Parteinahme um den Oberbürgermeister zu stellen. Zu ei- für Russland stand, was zum Teil mit offe- nem zweiten Wahlgang trat die Pegida-Kan- nem Antiamerikanismus einherging. didatin nicht mehr an und empfahl, die FDP zu wählen. Letztlich aber zeigten diese Wah- Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der len, dass den Repräsentanten der gesellschaft- Pegida-Demonstrationen traten ebenfalls als lichen Mitte Vertrauen entzogen wurde. Repräsentanten der gesellschaftlichen Mit- te an. ❙7 Mit der auf den Veranstaltungen ge- Dieses Ereignis stellt jedoch keineswegs rufenen Parole „Wir sind das Volk“ wurde den Schlusspunkt der Geschichte von Pe- zudem bewusst versucht, eine Kontinuitäts- gida dar. Die fremdenfeindlichen Protes- linie zu den Montagsdemonstrationen 1989 te und Ausschreitungen unter anderem in in der DDR zu konstruieren. Durch Teil- Freital, Meißen und Heidenau, wo auch die nehmerzahlen von bis zu 25 000 erreichten NPD kommunalpolitisch wieder an Boden die zunächst wöchentlichen, später zweiwö- gewinnt, zeigen, dass entsprechende Einstel- chentlichen Dresdner „Spaziergänge“ eine lungen vorhanden sind und sich flexibel mo- öffentlichkeitsrelevante Größe. Auch wenn bilisieren lassen. Pegida lässt sich somit nicht in Westdeutschland einige Ablegerdemons- als Gegenstück zur gesellschaftlichen Mitte trationen stattfanden, blieb die Durchset- beschreiben. Tatsächlich hat sich in den ver- zungs- und Diskurskraft der rechten Bür- gangenen Jahren eine soziale Bewegung von gerbewegung jedoch hauptsächlich auf rechts mit Kristallisationspunkten in Ost- Ostdeutschland beschränkt. Zwar liegen bis deutschland gebildet, die ihre Ursprünge di- heute keine empirisch gesättigten Daten über rekt aus der gesellschaftlichen Mitte bezieht. die Bewegung vor, aber die von einigen Wis- senschaftlern erhobenen Daten liefern erste Von linken sozialen Bewegungen wissen Anhaltspunkte. Rein statistisch entstamm- wir, dass sie sich mit der Abgrenzung zu Ge- te der durchschnittliche Demonstrationsteil- walt stets schwer getan haben. ❙10 Soziale Be- nehmer tatsächlich aus der Mitte der sächsi- wegungen in diesem Ausmaß mit direkten, schen Gesellschaft: männlich, 48 Jahre alt, sichtbaren Verknüpfungen von rechts zur ge- parteilos, keine Mitgliedschaft in einer Kir- sellschaftlichen Mitte sind neu. Aus der Be- che, berufstätig und mit einem überdurch- obachtung rechtsextremer Bewegungen lässt schnittlichen Nettoeinkommen. ❙8 Doch gab sich feststellen, dass bei eigenen Demonstra- es ganz offensichtlich auch Verbindungen be- tionen penibel auf Gewaltfreiheit geachtet ziehungsweise eine Allianz mit Vertretern wird und der Großteil rechtsextremer Ge- politisch (rechts)extremer Randbereiche. ❙9 walt abseits von Veranstaltungen und offizi- ellen Anlässen ausgeübt wird. Doch Pegida, ❙7 Vgl. Dieter Rucht et al., Protestforschung am Li- die Proteste und Ausschreitungen in Hei- mit. Eine soziologische Annäherung an Pegida, denau sowie diverse Anschläge auf Flücht- 28. 1. 2015, www.wzb.eu/sites/default/files/u6/pegi- lingswohnheime zeigen, dass es keine ausrei- da-report_berlin_2015.pdf (18. 9. 2015). chende Distanzierung zur Gewaltfrage gibt 8 ❙ Vgl. Antonie Rietzschel, Männlich, gut gebildet, und eine klare Abgrenzung nicht stattfindet. parteilos, 15. 1. 2015, www.sueddeutsche.de/politik/​ -1.2303475 (18. 9. 2015). ❙9 Vgl. Olaf Sundermeyer, Die Pegida-Miliz aus dem ❙10 Vgl. Sebastian Haunss, Gewalt und Gewaltlosig- Stadion, 12. 1. 2015, www.zeit.de/sport/​2015-01/pe- keit in sozialen Bewegungen, in: Forschungsjournal gida-dynamo-dresden (18. 9. 2015). Soziale Bewegungen, 25 (2012) 4, S. 6–16.

36 APuZ 40/2015 Auch auf Facebook hat Pegida noch immer nisse geprägt gewesen sei. ❙11 Wechselnde und über 150 000 Anhänger, die in unterschied- vermehrt unsichere Arbeitsverhältnisse, Pro- lichem Ausmaß Symptome Gruppenbezoge- bleme durch die Entwicklung hin zu einer ner Menschenfeindlichkeit zeigen. Ob diese Einwanderungsgesellschaft, aber auch die soziale Bewegung weiter wächst und einen Auflösung traditioneller Familien- und Rol- parlamentarischen Weg einschlagen oder sich lenbilder haben in vielen Teilen der Gesell- weiter radikalisieren wird, bleibt also weiter schaft zu Unsicherheiten geführt. Diese Unsi- zu beobachten. cherheiten und Konflikte beschäftigen sowohl die sogenannte Mitte als auch die sogenann- ten Ränder der Gesellschaft – entsprechend Fazit unterschiedlich werden sie jeweils interpre- tiert und verarbeitet. Dass beispielsweise die Die Trennung zwischen „gesellschaftlicher Menschen in Deutschland in einer Einwan- Mitte“ auf der einen und „rechtsextremen derungsgesellschaft leben, ist einerseits un- Einstellungen“ auf der anderen Seite ist künst- bestreitbar, andererseits entzündet sich genau lich und je nach gesellschaftlicher Konfliktlage daran eine Reihe von Konflikten, weil die po- stärker oder schwächer ausgeprägt. So zeigten litischen und sozialen Strukturen sowie das Erhebungen 2014 zwar noch einen Rückgang kulturelle Selbstverständnis vieler Menschen rechtsextremer und rassistischer Einstellun- diese Realität noch nicht vollständig integriert gen, doch spätestens seit dem Diskurs über und verarbeitet haben. Die Proteste wie auch „Flüchtlingsströme“ und den Angriffen auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen ge- Asylunterkünfte im Jahr 2015 würden die- gen Asylbewerber zeigen dies deutlich. se Erhebungen aller Wahrscheinlichkeit nach aktuell wieder anders ausfallen. Die gewaltigen Veränderungen bezüglich der Bevölkerungsentwicklung und der so- Die NPD mit ihrem Selbstbild als „deut- zialen Realitäten vollziehen sich immer ra- sche Mitte“ könnte von den rechten Protesten scher. Unmittelbar spürbar wird dies vor al- langfristig profitieren – sei es als Auffangbe- lem in Stadtbezirken, die ohnehin durch eine cken für enttäuschte Bürger, die gleichzeitig hohe Armutsquote und soziale Desintegra- Merkmale Gruppenbezogener Menschen- tion gekennzeichnet sind, aber auch in länd- feindlichkeit zeigen, oder auch als parteipoli- lichen Regionen, die bisher wenige Erfahrun- tisches Zuhause für erlebnisorientierte rechts- gen mit Migranten und Flüchtlingen haben. extreme Jugendliche. Die Splitterpartei Die Diese Konflikte sind aktuell der Lackmustest Rechte dagegen wird parlamentarisch über die unseres Gemeinwesens. Es spricht viel für die kommunale Ebene hinaus keine Rolle spielen. These, dass Rechtsextremismus und die ge- Pegida als rechte, aber aus der gesellschaftli- sellschaftliche Mitte eng verwoben sind und chen Mitte kommende Bewegung bildet das rechte Bewegungen sich nicht durch Ausgren- Protestpotenzial ab, das in den Umfragen zung verhindern lassen. Notwendig ist viel- über Einstellungen zur Gruppenbezogenen mehr eine Ursachenanalyse, die sich der öko- Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremis- nomischen, kulturellen und psychologischen mus längst bekannt war, jedoch erst aktuell Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft auch auf der Handlungsebene sichtbar wird. annimmt, dabei aber auch auf die Ursachen Auch vor dem Aufkommen von Pegida zeig- von Flucht und Migration eingeht. Für die pä- ten Umfragen sowie diverse Wahlenthaltun- dagogische Praxis kann dies nur heißen, kon- gen und Ergebnisse bei Kommunal-, Land- fliktsensibel zu agieren und nicht einäugig auf tags- und Bundestagswahlen, dass sich viele Rechtsextremisten zu schauen, sondern mehr- Bürgerinnen und Bürger schlecht repräsen- gleisiges Arbeiten zu fördern und dabei stets tiert fühlen und von demokratischen Willens- einen kritischen Blick auf die gesellschaftli- bildungsprozessen abwenden. che Mitte zu haben, die von diesen Konflikten nicht abgelöst betrachtet werden kann. Aber warum ist das so? Der Soziologe Wil- helm Heitmeyer sprach mit Blick auf die ers- ten zehn Jahre dieses Jahrtausends von einem ❙11 Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 9, „entsicherten Jahrzehnt“, das durch Moderni- Berlin 2010. sierung, Umbrüche und einem extrem schnel- len Wandel der Arbeits- und Lebensverhält-

APuZ 40/2015 37 Karim Fereidooni · Mona Massumi ßend stellen wir das Konzept des institutio- nellen und individuellen Alltagsrassismus dar, um dann die Schwierigkeiten zu erörtern, die Rassismuskritik sich in Alltag und Schule ergeben, wenn Ras- sismus verhandelt wird. Der Artikel endet mit einem Plädoyer für die Relevanz einer ras- in der Ausbildung sismuskritischen Perspektive im Rahmen der von Lehrerinnen Professionalisierung von Lehrkräften. und Lehrern Länderübergreifende Empfehlungen Mit der gemeinsamen Empfehlung „Lehrer- bildung für eine Schule der Vielfalt“ haben ehrerinnen und Lehrer gehören zu den- HRK und KMK die Bedeutung von „Di- Ljenigen Berufsgruppen, die fast idealty- versität in einem umfassenden Sinne“ unter pisch die gesellschaftliche „Mitte“ symboli- Berücksichtigung „verschiedene(r) Di­men­ sieren. Aufgrund ih- sio­nen“ für die Lehrerbildung jüngst wieder Karim Fereidooni rer pädagogisch-er- deutlich hervorgehoben. Unter anderem wird Geb. 1983; Lehrer für Deutsch, zieherischen Arbeit darin zum Beispiel die Erwartung formu- Politik/Wirtschaft und Sozial­ mit Kindern und Ju- liert, dass (zukünftige) Lehrkräfte Benach- wissenschaft am St. Ursula gendlichen haben sie teiligung im schulischen Kontext entgegen- Gymnasium Dorsten; Lehr- zudem eine eminent wirken und aufbrechen, indem sie „jedwede beauftragter der Hochschule wichtige gesellschaft- Diskriminierung vermeiden“. ❙1 Bereits in den Magdeburg-Stendal und am liche Funktion: Wie vergangenen Jahren haben sowohl KMK als Zentrum für LehrerInnenbildung sie mit bestimmten auch HRK ihr Augenmerk vor allem auf die der Universität zu Köln (ZfL); Themen und Proble- migrationsbedingte Diversität gelegt. Im promoviert an der Ruprecht- men umgehen, prägt Zuge dessen wird in der Lehrerausbildung die Karls-Universität Heidelberg über auch ihre Schülerin- Förderung interkultureller Kompetenz(en) Diskriminierungs- und Rassis- nen und Schüler. Ob gefordert, um mit der migrationsbedingten muserfahrungen von Lehrkräften Lehrerinnen und Leh- Vielfalt der Schülerschaft umgehen zu lernen. an deutschen Schulen. rer aber für bestimmte So sollen Lehramtsstudierende im Rahmen [email protected] Problematiken über- ihrer Ausbildung Kenntnisse über die „inter- haupt sensibel sind, kulturellen Dimensionen bei der Gestaltung Mona Massumi hängt wiederum eng von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ er- Geb. 1983; abgeordnete Lehre- mit ihrer eigenen Aus- werben und in der Praxis die „soziale und rin am Zentrum für LehrerInnen- bildung zusammen. kulturelle Diversität in der jeweiligen Lern- bildung der Universität zu Köln gruppe (beachten)“. ❙2 Eine gesonderte Ausei- (ZfL), zuständig für die Koordi- Im Folgenden soll in nandersetzung mit Rassismus findet in den nation Diversity sowie das Mo- den Blick genommen Vorgaben für die Ausbildung von Lehrerin- dul „Deutsch für SchülerInnen werden, ob und inwie- nen und Lehrern bisher an keiner Stelle Be- mit Zuwanderungsgeschichte“; fern Rassismuskritik rücksichtigung. promoviert über Schulerfah- im Anforderungspro- rungen von neu zugewanderten fil (angehender) Leh- Schülerinnen und Schülern in rerinnen und Lehrer ❙1 HRK/KMK, Lehrerbildung für eine Schule der Deutschland; ZfL, Albertus- eine Rolle spielt. Vor Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von Hochschul- Magnus-Platz, 50923 Köln. dem Hintergrund feh- rektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz, März 2015, www.kmk.org/fileadmin/veroeffentli- [email protected] lender rassismuskri- chungen_beschluesse/​2015/​2015_03_12-Schule-der- tischer Vorgaben für Vielfalt.pdf (18. 9. 2015), S. 2. die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern ❙2 KMK, Standards für die Lehrerbildung: Bildungs- werden wir hierfür zunächst die relevanten wissenschaften, Fassung vom 12. 6. 2014, www. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschlues- der Länder (KMK) und der Hochschulrekto- se/​2004/​2004_12_16-Standards-Lehrerbildung-Bil- dungswissenschaften.pdf (18. 9. 2015), S. 9. Vgl. auch renkonferenz (HRK) vorstellen und diese mit HRK, Empfehlungen zur Lehrerbildung, 14. 5. 2013, Blick auf die Zielsetzung der interkulturellen www.hrk.de/uploads/media/Empfehlungen_zur_ Kompetenz kritisch untersuchen. Anschlie- Lehrerbildung_2013.pdf (18. 9. 2015), S. 6.

38 APuZ 40/2015 Aus den länderübergreifenden ­Leitlinien sen beziehungsweise -handlungen im Umgang „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der mit einer im allgemeinen Bildungsdiskurs häu- Schule“ der KMK geht zudem hervor, dass in- fig als problematisiert dargestellten, homoge- terkulturelle Kompetenz zum einen als Hand- nisierten Gruppe zu ermöglichen. Die Annah- lungskompetenz von Lehrkräften, zum an- me, dass die Präsenz von „Migrantinnen“ und deren als Bildungsinhalt beziehungsweise „Migranten“ in pädagogischen Institutionen Bildungsziel für die Schülerinnen und Schü- „spezifische kulturelle Fertigkeiten und spe- ler betrachtet wird. Dabei wird interkultu- zifisches kulturelles Wissen aufseiten der pro- relle Kompetenz als „Kernkompetenz für das fessionellen Nicht-Migrant/innen erforder- verantwortungsvolle Handeln in einer plura- lich mache“, verstärkt die „migrationsbedingte len, global vernetzten Gesellschaft“ bezeich- Differenzierung und Markierung“ in kulturell net, die jedoch „nicht nur die Auseinander- „Andere“ und kulturell „Nicht-Andere“. ❙6 setzung mit anderen Sprachen und Kulturen (bedeutet), sondern vor allem die Fähigkeit, Durch die von der HRK ­formulierte Emp- sich selbstreflexiv mit den eigenen Bildern von fehlung, in der Lehrerbildung Auslands­ Anderen auseinander und dazu in Bezug zu praktika zur Förderung ­interkultureller setzen sowie gesellschaftliche Rahmenbedin- Kompetenzen zu ermöglichen, wird die Dif- gungen für die Entstehung solcher Bilder zu ferenzmarkierung untermauert, weil da- kennen und zu reflektieren“. Explizit wird ge- mit nahegelegt wird, dass ein sogenannter fordert, für Benachteiligung und Diskriminie- Migrationshintergrund automatisch „nicht rung zu sensibilisieren und dagegen vorzuge- deutsch“ bedeutet – als wären die betreffen- hen. Bei den Schülerinnen und Schülern sei den Schülerinnen und Schüler keine Deut- der „Erwerb interkultureller Kompetenzen im schen. So wird eine Art „Ausländerhabitus“ ❙7 Unterricht aller Fächer und durch außerunter- erzeugt, der eine Homogenisierung zweier richtliche Aktivitäten“ zu fördern. Dabei wird Gruppen („Deutsch“ und „Nicht-Deutsch“) an zwei Stellen explizit formuliert, dass sie un- konstruiert und damit dem Grundsatz der terstützt werden sollen, „bewusst gegen Dis- rassismuskritischen Beschulung zuwider- kriminierung und Rassismus ein(zu)treten“. ❙3 läuft. Der dieser Sichtweise zugrunde lie- gende Kulturbegriff befördert gesellschaft- liche Inklusions- und Exklusionsverfahren, Rassismuskritische Auseinandersetzung die die Schülerinnen und Schüler auf eine Zu- mit den Empfehlungen gehörigkeit zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften festlegen; ras- Auch wenn es gut gemeint ist, ist die Verwen- sistische Ausgrenzungsstrategien werden da- dung des Begriffs „interkulturelle Kompe- durch letztlich fortgeschrieben. ❙8 tenz“ durchaus kritisch zu sehen: suggeriert er (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern doch Nicht allein die Differenzbeschreibung, einen Kompetenzerwerb, der sie in die Lage sondern vor allem die damit reproduzierten versetzt, „mit heterogenen und durch kulturel- Dominanzverhältnisse, die „in Kategorien der le Vielfalt geprägten Lerngruppen pädagogisch erfolgreich umzugehen“ ❙4 – dabei aber das pä- sitzen einen „Migrationshintergrund“ in dem Sinne, dagogische Handeln ausschließlich auf den dass sie selbst eingewandert sind. Daher ist generell Umgang mit einer spezifischen, festgeschrie- zu fragen: Wie lange wird ein Mensch als „Migrant“ benen Zielgruppe fokussiert, und zwar „die“ oder „Migrantin“ bezeichnet? Schülerinnen und Schüler mit „Migrationshin- ❙6 Paul Mecheril et al., Migrationspädagogik, Wein- tergrund“. ❙5 Der Begriff gibt vor, Rezeptwis- heim–Basel 2010, S. 78. Vgl. auch Franz Hamburger, Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädo- yer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte, ❙3 KMK, Interkulturelle Bildung und Erziehung in Weinheim–Basel 20122, S. 50 f. der Schule, Fassung vom 5. 12. 2013, www.kmk.org/ ❙7 Paul Mecheril, Prekäre Verhältnisse. Über natio- fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/​1996/​ ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Müns- 1996_10_25-Interkulturelle-Bildung.pdf (18. 9. 2015), ter 2003, S. 216. S. 2 ff., S. 7. ❙8 Vgl. Dorothea Bender-Szymanski, Interkulturel- ❙4 HRK (Anm. 2), S. 6. le Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der ❙5 Der Zusatz „Migrationshintergrund“ ist irrefüh- Sicht der empirischen Bildungsforschung, in: Georg rend: In quantitativer Hinsicht sind die meisten der Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz hier lebenden Kinder und Jugendlichen in Deutsch- und pädagogische Professionalität, Wiesbaden 20134, land geboren und aufgewachsen. Die wenigsten be- S. 201–228, hier: S. 201.

APuZ 40/2015 39 Über- und Unterordnung gefaßt sind“, ❙9 ber- Erscheinungsformen von Rassismus gen die Gefahr aufgrund einer einseitigen und eindimensionalen Auffassung ohne Berück- Während die normative Wirklichkeit in der sichtigung der Machtunterschiede bestimmte Bundesrepublik (mehrheitlich) von dem Schüler(gruppen) zu problematisieren. ❙10 Aus Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes diesem Grund sollte Rassismuskritik elemen- und des Antidiskriminierungsschutzes ge- tarer Bestandteil in der Ausbildung von Leh- prägt ist, weist die gesellschaftliche Realität rerinnen und Lehrern sein. Da sie in den dar- egalitätsverweigernde und somit auch rassis- gestellten Empfehlungen von KMK und HRK tische Strukturen auf: So haben zwar weiße jedoch keine Rolle spielt, liegt der Schluss Deutsche, Deutsche of Color beziehungswei- nahe, dass dort offenbar davon ausgegangen se Schwarze Deutsche auf dem Papier diesel- wird, dass die Anbahnung interkultureller ben Rechte, doch in der alltäglichen Praxis Kompetenz quasi automatisch Rassismus ver- besitzen die Erstgenannten mehr (un)sicht- hindere – als bildeten beide ein komplementä- bare Privilegien als die beiden anderen Ge- res Begriffspaar, was mitnichten so ist. sellschaftsgruppen. ❙12

Darüber hinaus werden die Anforderungen Die Rassismusforscherin Philomena Essed bezüglich der interkulturellen Kompetenz be- definiert Alltagsrassismus als latente und ziehungsweise der migrationsbedingten Di- subtile Form des Rassismus, die „eine Ideo- versität in den bildungspolitischen Vorgaben logie, eine Struktur und einen Prozess (dar- umfangreich dargestellt, ohne sie jedoch bil- stellt), mittels derer bestimmte Gruppierun- dungswissenschaftlich und fachdidaktisch gen auf der Grundlage tatsächlicher oder umzusetzen oder anzubahnen. So wird vor zugeschriebener biologischer oder kulturel- dem Hintergrund „interkulturelle(r) Hand- ler Eigenschaften als wesensmäßig anders- lungskompetenzen“ ❙11 von ausgebildeten Leh- geartete und minderwertige ‚Rassen‘ oder rerinnen und Lehrern zwar eine Reflexion über ethnische Gruppen angesehen werden. In eigene „Fremd“-Bilder erwartet, eine rassis- der Folge dienen diese Unterschiede als Er- muskritische Auseinandersetzung aber nicht klärung dafür, dass Mitglieder dieser Grup- explizit benannt. Weiterhin wird von Lehrkräf- pierungen vom Zugang zu materiellen und ten verlangt, dass sie sich gegen Benachteiligung nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlos- und Rassismus in der Schule einsetzen. Es ist je- sen werden.“ ❙13 Die Wirkungsweise von Ras- doch fraglich, wie sie zu diesen komplexen me- sismus beschreibt sie wie folgt: „Rassismus takognitiven, (selbst)kritischen Leistungen be- als Ideologie wird auf sozialer Ebene repro- fähigt werden sollen, wenn rassismuskritische duziert. Er wird mitgeteilt und weitergelei- Erörterungen, die zu einer Sensibilisierung ras- tet über formelle und informelle Kanäle. Auf sismuskritischer Wissensbestände beitragen, in der formellen Ebene erfolgt die Vermittlung der Ausbildung nicht vorkommen. des Rassismus durch politische Abhand- lungen, durch die Medien und auf dem Bil- Es kristallisiert sich damit eine Leerstelle dungssektor. Die informelle Weiterleitung zwischen der Ausbildung von Lehrerinnen des Rassismus wird erzeugt bei der Soziali- und Lehrern und der Erwartung an ihr Pro- fessionsprofil heraus. Denn die Anforderun- ❙12 Ein Beispiel für Ungleichbehandlung ist das so- gen an pädagogisches Handeln in der Schule genannte racial profiling. Der Begriff „People of Co- sind konkret und erfordern einen differen- lor bezieht sich auf alle rassifizierten Menschen, die zierteren Blick auf die interkulturelle Hand- in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asi- lungskompetenz. Hierbei ist insbesondere atische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, in- auch die Haltung der Lehrkräfte in den Blick digene oder pazifische Herkünfte oder Hintergrün- de verfügen. Er verbindet diejenigen, die durch die zu nehmen, die (selbst)kritisch sein muss, um Dominanzkultur marginalisiert sowie durch Ge- eigene Einstellungen und Handlungen hin- walt kolonialer Tradierungen und Präsenzen kol- terfragen zu können. lektiv abgewertet werden.“ Kien Nghi Ha, People of Color – Koloniale Ambivalenzen und historische Kämpfe, in: ders. et al. (Hrsg.), Re/visionen. Postko- ❙9 Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zu loniale Perspektiven von People of Color auf Rassis- Fremdheit und Macht, Berlin 20062, S. 22. mus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, ❙10 Vgl. P. Mecheril et al. (Anm. 6), S. 136 f., S. 141, Münster 2007, S. 31–40, hier: S. 37. S. 159 f. ❙13 Philomena Essed, Rassismus und Migration in ❙11 KMK (Anm. 3), S. 8. Europa, Hamburg 1992, S. 375.

40 APuZ 40/2015 sation in der Familie, bei Gesprächen in der Der institutionelle Rassismus unterschei- Nachbarschaft, unter Freunden und in ande- det sich in zweifacher Hinsicht vom direkten ren privaten Sphären.“ ❙14 Rassismus: Zum einen ist er in seiner Entste- hungs- und Wirkungsform komplexer als der Diese Definition deckt sich mit derjeni- direkte Rassismus, weil die aus ihm resultie- gen der Diversity-Forscherin Maureen Mai- renden Benachteiligungen zum Teil von den sha Eggers, die vier Elemente herausgearbei- rassistischen Personen nicht mutwillig aus- tet hat, die „Rassismus als gesellschaftliches gehen beziehungsweise nicht beabsichtigt Ordnungsprinzip“ ausmachen: erstens die sind. Die Ungleichbehandlung geht nicht von „Kategorisierung weiße und ‚nicht-weiße‘ der einzelnen Politikerin oder dem einzelnen Menschen (Markierungspraxis)“; zweitens die Lehrer aus, sondern von dem Netz der In- „Feststellung der ‚Andersheit‘ von rassistisch stitutionen, deren Maßnahmen in der Erzie- markierten Menschen (Differenzierungspra- hung, Wirtschaft und Rechtsprechung kumu- xis)“; drittens die „Festlegung der Minder- lativ wirken und in der Summe den Zustand wertigkeit ihres moralischen Status (hierar- rassistischer Diskriminierung bewirken. ❙18 chische Positionierung)“ sowie viertens „ihr Der institutionelle Rassismus wird auch in- Ausschluss aus dem zivilpolitischen Regula- direkter oder versteckter Rassismus genannt, tionssystem (…) (­Ausschlusspraxis)“. ❙15 weil bei ihm die Handlung nicht von (rassis- tisch) diskriminierenden Einzelhandlungen, Das Wissen über sozial konstruierte „Ras- sondern durch Organisationsprozesse inner- sen“ und die damit einhergehenden (de)pri- halb von Institutionen und somit von system­ vilegierenden Dimensionen verorten beide inhä­renten Strukturen ausgeht. ❙19 Dieser Um- Wissenschaftlerinnen unter anderem in der stand macht sowohl seine Benennung als auch Sozialisation von Gesellschaftsmitgliedern. seine Bekämpfung zu einer vielschichtigeren Somit wächst jeder Mensch, der in Deutsch- Aufgabe als die Beseitigung von offenem, di- land sozialisiert wird, mit Wissen auf, das rektem Rassismus. Zum anderen gründet sich als „rassistisches Wissen“ ❙16 bezeichnet wer- der direkte Rassismus auf die unterschiedli- den kann. Dieses führt dazu, die eigene Ge- che Behandlung von Gesellschaftsmitgliedern sellschaft und die eigene sozial konstruier- aufgrund ihrer sozial konstruierten „Rasse“, te „weiße Rasse“ als anderen Gesellschaften wohingegen der institutionelle Rassismus sei- und anderen sozial konstruierten „Rassen“ ne negativen Auswirkungen auch entfaltet, überlegen anzusehen. Bereits Kleinkinder wenn alle Personen, trotz ungleicher Privile- besitzen rassistisches Wissen und benutzen gien, gleich behandelt werden. dieses, um sich selbst und ihr soziales Umfeld ❙17 zu kategorisieren. Schwierigkeiten bei ❙14 Dies., Die Niederländer als Alltagsproblem. Ei- der Verhandlung von Rassismus nige Anmerkungen zum Charakter des Weißen Ras- sismus, in: dies./Chris Mullard, Antirassistische Er- Die Ursache für einen bagatellisierenden Um- ziehung. Grundlagen und Überlegungen für eine gang mit dem Thema Rassismus in der Schule antirassistische Erziehungstheorie, Felsberg 1991, liegt unter anderem daran, dass es in der deut- S. 11–44, hier: S. 15. ❙15 Maureen Maisha Eggers, Rassifizierte Machtdif- schen Gesellschaft nach wie vor schwierig ist, ferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Handlungen und Sinnbezüge, die „rassismus- Weißseinsforschung in Deutschland, in: dies. et al. relevant“ sind, ❙20 zu beschreiben, diese zu dis- (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische kutieren und als solche zu benennen. Eine 2 Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2009 , Ursache dafür ist sicherlich auch das Selbst- S. 57, S. 59. ❙16 Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue ❙18 Vgl. Michael Bommes/Frank-Olaf Radtke, Insti- Perspektive, Bielefeld 2004, S. 10. tutionelle Diskriminierung von Migrantenkindern. ❙17 Vgl. Maureen Maisha Eggers, Rassifizierung und Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, kindliches Machtempfinden. Wie schwarze und wei- in: Zeitschrift für Pädagogik, 39 (1993) 3, S. 483–491. ße Kinder rassifizierte Machtdifferenz verhandeln ❙19 Vgl. Mechtild Gomolla/Frank-Olaf Radtke, In­sti­ auf der Ebene der Identität, Diss., Kiel 2005, http:// tu­tionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethni- macau.uni-kiel.de/servlets/MCRFileNodeServlet/ scher Differenz in der Schule, Wiesbaden 20093. dissertation_derivate_00002289/Dissertation_Mau- ❙20 Anja Weiß, Rassismus wider Willen. Ein anderer reen_Eggers.pdf;jsessionid=35E99F8E3A5A50F1D64 Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit, Wies- 6853B35A04281 (18. 9. 2015). baden 20132, S. 81.

APuZ 40/2015 41 verständnis der Bundesrepublik als postnati- gesellschaftliche Macht- und Privilegienver- onalsozialistischer Staat, in dem es seit 1945 gabe verantwortlich ist, (auch) entlang (fikti- offiziell keinen Rassismus mehr gibt. ver) kultureller Grenzziehungen verläuft. 4. Verschiebung in die Vergangenheit Nachfolgend werden vier Distanzierungs- muster beschrieben, die eine rassismuskriti- Ein wichtiger Grund, warum die Ursa- sche Auseinandersetzung in der deutschen chen- und Wirkungsanalyse von Rassis- Gesellschaft im Allgemeinen und in der mus in der Gesellschaft und in der Schule Schule im Speziellen behindern: ❙21 gegenwärtig nur unzureichend betrieben werden kann, ist der Umstand, dass die 1. Diagnosen als Skandal alltägliche Praxis des zeitgenössischen Rassismus in der hiesigen Gesellschaft Die gesellschaftliche Inszenierung von weitgehend negiert und stattdessen vor al- Rassismus als skandalöse Tat, die eine Be- lem auf die Zeit der nationalsozialistischen sonderheit im gesellschaftlichen Umgang Herrschaft bis 1945 bezogen wird. darstellt und als außerordentlicher Eklat zwischenmenschlicher Interaktion ge- wertet wird, kann der alltäglichen Praxis Notwendigkeit der Rassismuskritik des Rassismus nicht gerecht werden, weil Schwarze deutsche Schülerinnen bezie- Vor diesem Hintergrund zeigt sich die drin- hungsweise Schüler of Color Rassismus gende Notwendigkeit, insbesondere die Aus- in ihrer Lebenswirklichkeit regelmäßig bildung der Lehrerinnen und Lehrer so zu wahrnehmen und davon betroffen sind. verändern, dass (angehende) Lehrkräfte Ras- 2. Verlagerung in den (Rechts-)Extremismus sismus in der Schule nicht (re)produzieren.

Die Verlagerung von Rassismus in das In dem Beschluss der KMK „Standards für rechtsextreme Milieu und die Annahme, Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ von dass rassistisches Wissen nur von einigen 2004 nimmt die Förderung der Reflexion in wenigen Rechtsextremen geteilt wird, ist der Lehrerbildung eine elementare Rolle ein. nicht geeignet, um im schulischen Kontext Insbesondere „biografisch-reflexive Ansät- die Ursachen- und Wirkungszusammen- ze“ werden empfohlen. ❙23 In diesem Zusam- hänge des gesellschaftlichen Rassismus zu menhang sollte die Ausbildung Impulse zur analysieren und wirkungsvolle Rassismus- rassismuskritischen Reflexion liefern, damit kritik zu betreiben. Stattdessen muss aner- die Dichotomisierung und Hierarchisierung kannt werden, dass bürgerliche Schichten, ethnisch-kultureller Markierungen sowie die die die Mitte der Gesellschaft symbolisie- damit verbundenen Zuschreibungen bewusst ren (unter anderem Lehrkräfte), rassisti- gemacht und in einem weiteren Schritt auf- sches Wissen (re)produzieren. gebrochen werden können. ❙24 Erst durch das 3. Kulturalisierung Bewusstwerden der eigenen Sozialisation mit ihrer rassistischen Prägung kann eine Verän- Im zeitgenössischen Rassismus hat die Un- derung der eigenen Denk- und Verhaltens- terscheidungskategorie der Kultur an Ein- muster erreicht werden. Die (selbst)kritische fluss gegenüber der historischen Differen- Reflexion ermöglicht schließlich, dass nach zierungsgrundlage der biologischen „Rasse“ den Prinzipien der Gleichheit und Gleichbe- 22 gewonnen, ❙ sodass nun die Zugehörig- rechtigung die Grundlage geschaffen werden keitsunterscheidung, die maßgeblich für die kann, allen Kindern (sowie Eltern) gegenüber eine anerkennende sowie rassismussensible ❙21 Vgl. Wiebke Scharathow, Risiken des Widerstandes. Haltung zum Ausdruck zu bringen. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen, Bielefeld 2014, S. 29 f.; Astrid Messerschmidt, Distanzierungs- Zu dieser professionellen rassismuskriti- muster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus, in: schen Haltung gehört auch, Rassismuserfah- Anne Broden/Paul Mecheril (Hrsg.), Rassismus bildet. rungen von Schülerinnen of Color sowie von Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung Schwarzen deutschen Schülern ernst zu neh- und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bie- lefeld, S. 41–57; Paul Mecheril et al. (Anm. 6), S. 162 f. ❙22 Vgl. Étienne Balibar, Gibt es einen „neuen Rassis- ❙23 Vgl. KMK (Anm. 2), S. 6. mus“?, in: Das Argument, 45 (1989) 252, S. 707–721. ❙24 Vgl. P. Mecheril et al. (Anm. 6), S. 168 f.

42 APuZ 40/2015 men und diesen Möglichkeitsräume zu schaf- die Entkategorisierung können Individuen fen, damit sie eine Sprache finden, um Rassis- als solche wahrgenommen und „kollektivie- mus zu benennen. Zu diesem Zweck gilt es, rende Zuschreibungen“ ❙30 vermieden werden, „die eigene strukturelle Verwobenheit (…) sodass rassismusrelevante (pädagogische) sei es aufgrund eigener (Rassismuserfahrun- Haltungen und Praktiken unter dem Deck- gen, Anm. d. A.) oder aufgrund der eigenen mantel der Förderung nicht weiter bestehen privilegierten (…) Position, in der Whiteness bleiben. unsichtbar gemacht wird, weil es der unaus- gesprochenen Norm entspricht“, ❙25 anzuer- Schwarze deutsche Lehramtsstudierende kennen und aufzuarbeiten. und angehende Lehrerinnen und Lehrer of Color sollten, angesichts ihrer selbst durch- lebten rassistischen Erfahrungen, insbeson- Fazit dere in der eigenen Bildungsbiografie, in der Lehramtsausbildung Empowerment er- Rassismus ist Teil der Lebenswirklichkeit al- fahren, um behutsam mit eigenen Kraftres- ler Menschen, die in Deutschland leben, un- sourcen umzugehen und zu lernen, ihre kör- terrichtet werden und selbst unterrichten, weil perliche und psychische Unversehrtheit zu jede Person sozialisationsbedingt rassistisches wahren. Wissen besitzt. Aus diesem Grund ist eine rassismusfreie Gesellschaft eine bisher uner- Die wissenschaftliche Auseinandersetzung reichte Utopie, weil „in allem, was wir wissen mit schulischer und universitärer Rassismus- (…) ein Stück rassistische Wissensgeschichte“ kritik steckt noch in den Kinderschuhen. steckt. ❙26 Aus diesem Grund geht es darum, Um die zahlreichen Forschungslücken be- mit Rassismus und rassistischem Wissen sen- ziehungsweise Desiderata zu schließen, sind sibel und kritisch umzugehen. So sollte die grundlegende empirische Studien notwendig. (selbst)kritische Auseinandersetzung mit Ras- Beispielsweise sollte erforscht werden, wie sismus in der Gesellschaft zu einem obligatori- die Leerstelle zwischen der unzureichenden schen Bestandteil in der von der KMK erstell- rassismuskritischen Ausbildung von Lehr- ten Liste über die „curricularen Schwerpunkte amtsstudierenden und der anschließenden der Bildungswissenschaften in der Ausbildung Erwartung rassismussensiblen Handelns von von Lehrerinnen und Lehrern“ werden. ❙27 Lehrerinnen und Lehrern in der schulischen Praxis beseitigt werden kann. Außerdem soll- „Es kommt darauf an, dass man lernt, die ei- te die rassismuskritische Schulbuchforschung gene Praxis unter dem Gesichtspunkt zu be- die Lehrwerke in den Schulen kritisch analy- obachten, wo versteckte latente Mechanismen sieren und eine Neubewertung des Curricu- (des Rassismus, Anm. d. A.) bisher nicht wahr- lums vornehmen. ❙31 genommen werden konnten“. ❙28 Weiße deut- sche Lehramtsstudierende und (angehende) Lehrerinnen und Lehrer sollten sich mit ihrem Weißsein und den damit zusammenhängen- den (un)sichtbaren Privilegien auseinander- setzen und diese Schritt für Schritt dekonst- ruieren; zudem sollten sich die (angehenden) Lehrkräfte fortwährend selbstkritisch fragen, „Was passiert (in der Schule, Anm. d. A.) ei- gentlich Rassismusrelevantes?“ ❙29 Erst durch

❙25 Vgl. A. Messerschmidt (Anm. 21), S. 39. ❙26 Susan Arndt, Rassismus und Wissen, in: Gudrun ❙30 F. Hamburger (Anm. 6), S. 89. Hentges et al. (Hrsg.), Sprache – Macht – Rassismus, ❙31 Vgl. Elina Marmer/Papa Sow (Hrsg.), Wie Ras- Berlin, S. 17–34, hier: S. 33. sismus aus Schulbüchern spricht. Kritische Ausei- ❙27 KMK (Anm. 2), S. 5. nandersetzung mit „Afrika“-Bildern und Schwarz- ❙28 M. Gomolla/​F. O. Radtke (Anm. 19), S. 292. Weiß-Konstruktionen in der Schule. Ursachen, ❙29 Nadine Rose, Differenz-Bildung. Zur Inszenie- Auswirkungen und Handlungsansätze für die päda- rung von Migrationsanderen im schulischen Kon- gogische Praxis, Weinheim 2015. text, in: A. Broden/​P. Mecheril (Anm. 21.), S. 209– 233, hier: S. 229.

APuZ 40/2015 43 Heike Kleffner an Seite mit organisierten Neonazis demons- triert hatten. Seitdem beschäftigt Winter und sein Team die Suche nach den Motiven für Die Leerstelle in der die Veränderung bei den Jugendlichen, die sich immer deutlicher auch im Zurschaustel- len von Szene-Zugehörigkeitsmerkmalen be- Fachdiskussion füllen. merkbar macht – etwa durch das Tragen be- stimmter Kleidermarken oder das Hören Sozialarbeit und einschlägiger Musikbands wie „Sturmfront“ oder „Nordwehr“. Den Jugendlichen impo- niere besonders das radikale Auftreten der der NSU-Komplex Neonazis, die nicht „nur reden, sondern Lö- sungen anbieten“, sagt der Sozialpädagoge. eit Monaten hetzen im gesamten Bundes- Sgebiet Neonazis und neonazistisch un- Dennoch ist Klaus-Jürgen Winter davon terwanderte Bürgerinitiativen gegen die Un- überzeugt, trotz dieser überraschenden Ent- terbringung von Ge- wicklung innerhalb einer vorher eher „ganz Heike Kleffner flüchteten – in Dörfern normal schwierigen“ Gruppe in mehrfacher Geb. 1966; Journalistin und ebenso wie in Klein- Hinsicht Glück zu haben: Der Träger des Rechtsextremismusexpertin; städten und Städten Treffpunkts habe dem Team schnell Unter- derzeit wissenschaftliche wie Berlin oder Dort- stützung in Form von Fortbildungen und Su- Mitarbeiterin im Deut- mund. Die Angebote, pervision angeboten. Und vor allem: „An un- schen Bundestag, zuvor die organisierte neo- serer Entscheidung, klar Position gegen die Referentin der Fraktion Die nazistische Strukturen rassistischen Äußerungen der Jugendlichen ­Linke im Bundestag für den dabei für Jugendliche zu beziehen und NPD-Kadern Hausverbot NSU-Untersuchungsausschuss.­ und junge Erwachsene zu erteilen, rüttelt hier niemand.“ Kollegin- bereithalten, sind viel- nen und Kollegen in anderen Jugendeinrich- fältig und überall präsent: Insbesondere die tungen im Bezirk, die mit ähnlichen Ent- zahllosen Facebook-Gruppen und Websites, wicklungen konfrontiert seien, fühlten sich über die rassistische Parolen bis hin zu offe- hingegen „allzu oft alleine gelassen mit einer nen Aufforderungen zu Mord und Totschlag neuen rechten Welle, die sich eben auch in der an Flüchtlingen und politischen Gegnern ver- Jugendarbeit bemerkbar macht“. breitet werden, bieten einen niedrigschwelli- gen Einstieg. Häufig gehen damit Mobilisie- rungen zu Aufmärschen und Protesten in der „Über die Rolle der Sozialarbeit „realen Welt“ einher. spricht kaum jemand“

Klaus-Jürgen Winter (Name geändert), der Auch Hagen Ludwig, der als Sozialarbei- als Pädagoge in einem Brennpunktbezirk ei- ter schon Mitte der 1990er Jahre in Berlin- ner Großstadt im Osten Deutschlands vor al- Treptow mit einer schnell wachsenden ex- lem mit männlichen Jugendlichen zwischen trem rechten Jugendclique konfrontiert war, 12 und 16 Jahren arbeitet, hat das „neue An- betont: „Eine Grundfrage bei akzeptieren- ziehungspotenzial“ der Neonazis, wie er es der Arbeit mit Rechten muss sich jede Päda- nennt, gerade erst an den Jugendlichen in sei- gogin und jeder Pädagoge gleich am Anfang ner offenen Einrichtung beobachten müssen. stellen: Inwieweit bin ich denen gewachsen? Winter und sein Team waren sich sicher, dass Kann ich überhaupt unterscheiden, wer Mit- die vor allem männlichen Teenager, die den läufer und wer Kader ist? Und bin ich denen offenen Jugendtreff eines freien Trägers be- inhaltlich überhaupt gewachsen? Denn wenn suchen, „wenn überhaupt, dann auf der Sei- ich nicht darauf vorbereitet bin, dann können te derer zu finden sein würden, die sich im die einen auch argumentativ schnell an die Bezirk für Flüchtlinge engagieren“. ❙1 Umso Wand reden.“ Zudem, so Ludwig, sei es wich- überraschter war der erfahrene Mittvierzi- tig, „diejenigen, die Verbindungen in die Sze- ger, als „seine Kids“ am Wochenende nach ne haben, gezielt anzusprechen und ihnen zu dem vierten „Nein-zum-Heim“-Aufmarsch vor der neu eröffneten Flüchtlingsunterkunft ❙1 Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen plötzlich offensiv damit prahlten, wie sie Seite sämtliche Zitate aus Interviews mit der Autorin.

44 APuZ 40/2015 zeigen, dass man weiß, wo sie sich bewegen.“ Und nicht zuletzt müsse die politische Bil- Er könne allen Kollegen und Kolleginnen nur dung insgesamt in der Aus- und Fortbildung raten, „Kader und Strippenzieher“ aus der ei- von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern genen Einrichtung herauszuhalten. ❙2 gestärkt werden, damit die Fachkräfte befä- higt würden, sich als gesellschaftspolitische Ludwig weiß, wovon er spricht: Ein Be- Akteure zu begreifen. sucher seiner Einrichtung, ein bekennender Neonazi, verübte Ende der 1990er Jahre einen Barbara Schäuble, Professorin an der Ali- Brandanschlag auf einen Treffpunkt alternati- ce Salomon Hochschule in Berlin, spricht im ver Jugendlicher, bei dem nur durch glückliche Zusammenhang mit dem NSU-Komplex von Zufälle niemand zu Schaden kam. „Man darf einer „Leerstelle in der Aus- und Fortbildung die Entschlossenheit und die Militanz von or- von Sozialarbeitern und Pädagogen“. Weil die ganisierten Kadern einfach nicht unterschät- Studierenden ihres Seminars trotz der medi- zen – auch und gerade, wenn sie in den offenen alen Berichterstattung wenig Wissen über die Jugendtreffs wortgewandt und immer an der rassistische Mordserie des NSU hatten und es Grenze des Erlaubten auftreten.“ Und noch „kaum glauben konnten, dass neonazistische etwas ist ihm wichtig: „In den letzten Jahren Gewalt über Jahre hinweg ungeahndet blei- war ja immer viel die Rede davon, dass Poli- ben konnte“, organisierte Schäuble gemein- zei und Verfassungsschutz die Konsequenzen sam mit einer Kollegin und einem Studenten aus der Mordserie des ‚Nationalsozialistischen im Rahmen eines Seminars im Sommer 2015 Untergrunds‘ ziehen müssen. Über die Rolle einen Besuch beim Prozess gegen Beate Zsch- der Sozialarbeit und Jugendtreffs in diesem äpe und ihre Mitangeklagten vor dem Ober- Zusammenhang spricht aber kaum jemand.“ landesgericht München.

Albert Scherr, der als Soziologe und Sozial- Auch Josefine Heusinger, die an der Hoch- arbeitswissenschaftler an der Pädagogischen schule Magdeburg im Frühjahr 2015 eine gut Hochschule in Freiburg im Breisgau seit fast besuchte Vorlesungsreihe unter dem Motto zwei Jahrzehnten die Entwicklungen in der „Von der Mitte zum braunen Rand“ initiiert pädagogischen Arbeit mit rechtsextremen Ju- hatte, hat bei ihren Studierenden großes Inte- gendlichen begleitet, betont: „Eine angemes- resse an einer fundierten Auseinandersetzung sene fachliche Auseinandersetzung mit dem mit Rechtsextremismus im Berufsfeld der So- NSU-Komplex findet in der Sozialen Arbeit zialen Arbeit festgestellt. Dass die Vorle- bislang nicht statt.“ Er vermutet die Gründe sungsreihe so breit angenommen wurde, habe dafür zum einen in einer „Gewöhnung inner- ihr „nicht nur deutlich vor Augen geführt, halb der Sozialen Arbeit daran, dass Rechts- wie viele Berührungspunkte die Studieren- extremismus zur gesellschaftlichen Normali- den mit dem Thema Rechtsextremismus ha- tät gehört“. Zum anderen werde die fachliche ben – beispielsweise in ihrem familiären oder Auseinandersetzung über, der fachliche Streit sozialen Umfeld“. Vielmehr sei deutlich ge- um, aber auch die Weiterentwicklung von worden, dass es sich beim Thema Rechtsex- entsprechenden Konzepten von Sozialarbeit tremismus auch um eine Querschnittsaufgabe mit rechtsextremen, aber auch rechts-affi- für die Lehrenden an der Hochschule hande- nen Jugendlichen und jungen Erwachsenen le. Schließlich kämen Sozialarbeiter und -pä- kaum noch offensiv und öffentlich geführt. dagoginnen – unabhängig davon ob sie für freie Träger oder Behörden arbeiteten – vie- lerorts mit (potenziellen) Opfern und Täte- 2 ❙ Vgl. weiterführend: Mobile Beratung gegen rinnen und Tätern rechter und rassistischer Rechtsextremismus Berlin (MBR)/Verein für Demo- Gewalt und Diskriminierung in Berührung. kratische Kultur (Hrsg.), Handreichung zur Rechts- extremismus-Prävention und -Intervention in der Jugendarbeit. Für eine menschenrechtsorientierte Die Professorin für Grundlagen und Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Berlin Handlungstheorien der Sozialen Arbeit be- 2006, www.mbr-berlin.de/materialien/publikatio- tont, dazu gehöre auch, dass Sozialarbeite- nen-handreichungen/pravention-und-intervention- rinnen und -arbeiter und Studierende der So- in-der-jugendarbeit .(18. 9 2015); Agentur für Soziale zialen Arbeit sich mit dem NSU und seiner Perspektiven (Hrsg.), Grauzonen: Rechte jugendliche Lebenswelten in Musikkulturen, Berlin 2014, https:// Entstehungsgeschichte beschäftigen. Denn es aspberlin.de/mediapool/gz_broschuere_web_s1-7_ bestehe die Gefahr, den NSU und die in des- kl.pdf .(18. 9 2015). sen Netzwerk handelnden Personen – seien

APuZ 40/2015 45 es Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Bea- Bundesmitteln zusätzlich gefördert, ❙3 darun- te Zschäpe als das mutmaßliche Kern-Trio ter sowohl der Winzerla-Jugendclub in Jena oder deren polizeibekannte Unterstützer und als auch die Mobile Jugendarbeit im Heckert- Helferinnen aus Thüringen und Sachsen – Stadtviertel in Chemnitz. Zweitens: Die kom- als etwas „Außergewöhnliches“ zu betrach- munalen Jugendtreffpunkte in Jena-Winzerla ten und davon auszugehen, dass eine Wieder- und im Heckert-Viertel in Chemnitz stellen holung unmöglich sei. Dabei werde aber ein wichtige Bausteine in der Entstehungsge- entscheidender Aspekt ausgeblendet: die weit schichte des „Nationalsozialistischen Unter- verbreiteten rassistischen Einstellungen, als grunds“ dar. deren Vollstrecker sich die Aktivistinnen und Aktivisten des NSU fühlen konnten. Fernsehbeiträge zum NSU zeigen immer wieder Bilder eines für die Nachwendezeit bis zum Ende der 1990er Jahre in den ostdeutschen NSU-Komplex als Fallbeispiel Bundesländern vertraut wirkenden Jugend- clubszenarios: eine sanierungsbedürftige, mit Barbara Schäuble verweist darauf, dass es in Graffiti überzogene Baracke und inmitten von der Aus- und Fortbildung von Sozialarbeitern ganz „normalen“ Jugendlichen Uwe Mundlos gängige Praxis sei, im Sinne lernender Or- und Uwe Böhnhardt im „klassischen“ Neo- ganisationen mit sogenannten Worst-Case- nazi-Outfit mit Glatze und Bomberjacke. ❙4 In Fallbeispielen zu arbeiten, etwa wenn es um Interviews und auch in dem von ihm mitver- Themen wie Kindeswohlgefährdung bei Kin- antworteten Film „Der verlorene Sohn. Uwe dern und Jugendlichen ginge. Mit Blick auf Böhnhardt – der Weg in den Untergrund“ er- den NSU-Komplex ist die Professorin davon klärt und verteidigt Thomas Grund die Ent- überzeugt, dass es anhand von Primär- und scheidung des Streetworker- und Sozialarbei- Sekundärquellen möglich ist, ein ausdifferen- terteams, „dass wir Gruppen gemischt haben. ziertes Praxisszenario zu zentralen Fragen der Dass wir versucht haben, rechtes Denken ab- Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen und zubauen“. ❙5 Er äußert sich überzeugt davon, jungen Erwachsenen sowie der Gemeinwe- dass es sonst noch viel mehr rechtsextreme senarbeit gegen Rassismus und Rechtsextre- Jugend­liche gegeben hätte. mismus zu entwickeln. Zu den wichtigsten Quellen gehören etwa die Fernsehinterviews Der Thüringer NSU-Untersuchungsaus- mit Sozialarbeitern und Streetworkern wie schuss hat sich als bislang einziger parlamenta- Thomas „Kaktus“ Grund aus Jena, der in den rischer Untersuchungsausschuss auch mit der frühen 1990er Jahren mit den Besuchern des Rolle der akzeptierenden Jugendsozialarbeit mit Winzerla-Jugendclubs arbeitete, in dem auch rechtsextremen und neonazistischen Jugendli- Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Bea- chen und jungen Erwachsenen bei der Entste- te Zschäpe ein- und ausgingen, oder die An- hörungen von Sachverständigen zur Rolle der Jugendarbeit in den 1990er Jahren in den ❙3 Vgl. Irina Bohn/Richard Münchmeier, Dokumen- NSU-Untersuchungsausschüssen der Land­ tation des Modellprojekts, in: Jürgen Fuchs (Hrsg.), tage Thüringen und Sachsen. Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Ge- walt (AgAG), Bd. 1, Münster 1997, S. 207 ff. Eine Kurzdarstellung des AgAG-Programms aus der Per- Tatsächlich werden in den Abschlussberich- spektive der Bundesregierung findet sich auch unter: ten des Thüringer Untersuchungsausschusses BIK Netz – Präventionsnetz gegen Rechtsextremis- „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ mus, Aktionsprogramm gegen Aggression und Ge- und des Sächsischen Untersuchungsaus- walt (AgAG), o. D., www.biknetz.de/wissen-gene- schusses zwei zentrale Aspekte deutlich. Ers- rieren/bundesprogramme/agag.html (18. 9. 2015). ❙4 Vgl. Ulrich Stoll, Brauner Terror, Blinder Staat. tens: Der Streit über die Konsequenzen und Frontal 21 Dokumentation, ZDF, 27. 6. 2012, www.you- Schlussfolgerungen aus der „akzeptierenden tube.com/watch?v=5w8Zaxdq62k (18. 9. 2015); Ankla- Jugendsozialarbeit“ mit rechtsextremen Ju- ge Mord – der Prozess gegen die NSU, Deutsche Wel- gendlichen und jungen Erwachsenen dau- le 2013, www.youtube.com/watch?v=7ElO1B0mefk ert bis heute an. Von 1992 bis 1996 wurden (18 . 9. 2 015). ❙5 unter anderem im Rahmen des „Aktions- Zit. nach: Andreas Kuno Richter, Der verlorene Sohn: Uwe Böhnhardt – der Weg in den Untergrund, programms gegen Aggression und Gewalt“ 2012, www.eikon-nord.de/produktionen/details/der- (AgAG) in Thüringen und Sachsen drei Dut- verlorene-sohn-uwe-boehnhardt-der-weg-in-den- zend Projekte der Jugendsozialarbeit aus untergrund.html (18. 9. 2015).

46 APuZ 40/2015 hung des NSU-Netzwerks auseinandergesetzt gen von Zeugen im Prozess gegen Beate Zschä- und eine Reihe von Sachverständigen und Zeu- pe vor dem Oberlandesgericht München deut- gen dazu gehört. Experten wie der Jenaer Sozio- lich: Vormittags richteten die Neonazis eine loge Matthias Quent kritisierten vor dem Un- Wohnung für die gesuchten Kameraden aus tersuchungsausschuss, dass mithilfe staatlicher Jena in der Wolgograder Allee ein, am Abend Mittel – insbesondere durch das AgAG-Pro- traf man sich – ohne das Trio – zum Billard- gramm – nicht nur Anlaufpunkte für rechtsge- Spielen im nahegelegenen „Piccolo“ und be- richtete Jugendliche geschaffen, sondern auch sprach dort die Ausflüge zu Konzerten des rechtsextreme Strukturen mit aufgebaut wor- rechtsextremen Netzwerks Blood & Honour. den seien. ❙6 Vor den Abgeordneten des Thü- Am 30. November 2000 überfielen Uwe Mund- ringer Landtags schilderten Sachverständige los und Uwe Böhnhardt in unmittelbarer Nähe und Zeugen – darunter ehemalige Sozialarbei- zum „Piccolo“ eine Postfiliale und erbeuteten ter, Jugendamtsmitarbeiter, Polizeibeamte und dort knapp 20 000 Euro. Auch in der Fahn- Wissenschaftler –, wie im Winzerla-Jugendtreff dung nach dem gesuchten Trio nennt das Lan- und in anderen aus Mitteln des AgAG-Pro- desamt für Verfassungsschutz Sachsen damals gramms finanzierten Jugendprojekten aus auf das „Piccolo“ als einen bekannten Treffpunkt den ersten Blick losen rechten Gruppen gefes- der gewaltbereiten rechtsextremistischen Sze- tigte neonazistische Kameradschaftsstruktu- ne. Doch da nutzt der Neonazifreundeskreis ren wie die „Kameradschaft Jena“ entstanden. von Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt das So seien etwa die Räume kommunaler Jugend- „Piccolo“ schon nicht mehr als Treffpunkt. ❙10 clubs für Neonazi-Konzerte genutzt und die Produktion neonazistischer Musik unter an- Der ehemalige Sozialarbeiter des „Picco- derem sogar durch Zuschüsse für den Kauf von lo“ berichtet, dass dem Team die „Organi- Instrumenten unterstützt worden. ❙7 Schon 1997 sierung“ von Jugendlichen des Clubs in Ver- hatte auch die Begleitforschung des AgAG-Pro- einigungen wie Blood & Honour, die 88er, gramms an der Technischen Universität Dres- Hoonara und Junge Nationalsozialisten den festgestellt, „dass die Projekte nicht nur durch informelle Quellen schon damals be- milieustärkende sondern auch milieubildende kannt gewesen sei. Im „Beziehungsverhält- Effekte haben“. ❙8 nis“ zwischen Jugendlichen und Sozialarbei- tern seien aber keine Informationen zu den Auch das neonazistische Helferinnen- und Untergrundnetzwerken geflossen, vielmehr Helfernetzwerk, welches das untergetauchte seien die Sozialarbeiter von den Jugendlichen NSU-Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschä­pe eher als „Sozialfuzzies“ wahrgenommen über zwei Jahre lang in Wohnungen in Chem- worden. Im Rückblick, sagt der ehemalige nitz unterbrachte und mit Ausweispapieren Sozialpädagoge, sei das Konzept der offenen und Geld unterstützte, hatte sich in dem kom- Kinder- und Jugendarbeit nur „bedingt taug- munalen Jugendtreff „Piccolo“ im Heckert- lich gewesen für die Arbeit mit den ‚Rechten‘ Viertel in Chemnitz zusammengefunden. ❙9 Die und eher anwendbar für die ‚Normalos‘ und Jugendlichen und jungen Erwachsenen hätten die Kindergruppe“, die es auch im „Picco- den Treffpunkt als eine Art „Ersatz-Heim- lo“ gegeben habe. Eine Supervision und eine statt“ angesehen, erinnert sich ein ehemaliger fachliche Auseinandersetzung um Konzepte Sozialarbeiter. Das wurde auch in den Aussa- der akzeptierenden Sozialarbeit habe es da- mals für das Team nicht gegeben. ❙6 Vgl. Thüringer Landtag, Abschlussbericht des Un- tersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, Drs. 5/8080, 16. 7. 2014, S. 397 ff. Neue Herausforderungen ❙7 Vgl. ebd. S. 398. ❙8 Lothar Böhnisch/Karsten Fritz/Thomas Seifert (Hrsg.), Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Barbara Schäuble verweist darauf, dass es für Gewalt (AgAG), Bd. 2: Die wissenschaftliche Beglei- ihre Studierenden mit der Exkursion zum NSU- tung – Ergebnisse und Perspektiven (erstellt durch die Prozess am OLG München sehr viel greifbarer Projektgruppe am Institut für Sozialpädagogik und geworden sei, dass es für die Soziale Arbeit mit Sozialarbeit der TU Dresden), Münster 1997, S. 23. rechtsorientierten Jugendlichen Grenzen gebe – ❙9 Vgl. Abweichender Bericht der Fraktion Die Lin- und dass sie sich immer auch der Stärkung von ke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum 3. Untersu- chungsausschuss der 5. Legislaturperiode des Sächsi- Alternativen zuwenden müsse. schen Landtags „Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen“, 29. 6. 2014. ❙10 Vgl. ebd., S. 216 f.

APuZ 40/2015 47 Die Grenzen Sozialer Arbeit mit rechts- Nanett Bier extremen Jugendlichen hatte der Bremer Pä- dagogikprofessor Franz-Josef Krafeld, auf dessen Konzepte der akzeptierenden Jugend- arbeit sich in den 1990er Jahren bundesweit Journalisten und viele Pädagogen und Jugendämter bezogen, ❙11 schon frühzeitig verdeutlicht: „Ohne ein un- terstützendes, ohne ein zivilgesellschaftlich der NSU-Prozess engagiertes Umfeld hat zum Beispiel pädago- gische Arbeit gegen den Rechtsextremismus ournalistinnen und Journalisten, die über kaum Chancen. Wo vor Ort Pluralität und Jden sogenannten NSU-Prozess berichten, Vielfalt, wo Respekt und Achtung der Men- stehen vor großen Herausforderungen, be- schenwürde nicht Gewicht haben, da kommt trachtet man einer- Pädagogik, erst recht Pädagogik allein, meist seits die Anforderun- Nanett Bier ganz schnell an ihr Ende.“ ❙12 gen an eine juristische M. A., geb. 1985; Kommuni­ Prozessberichterstat- kationswissenschaftlerin; Der Freiburger Soziologe Scherr hofft, dass tung, andererseits die lebt in Berlin. sowohl anhand des NSU-Komplexes als auch bislang häufig stereo- [email protected] aufgrund der aktuellen Welle rassistischer type Berichterstattung Gewalt eine dringend notwendige „Weiter- über das Thema Rechtsextremismus im Allge- entwicklung angemessener Strategien gegen meinen. Besonders auffällig sind die in vielen Rechtsextremismus“ stattfinden wird. Er will Medien zu Prozessauftakt verwendeten ober- daher Jugendarbeiterinnen und Jugendarbei- flächlichen bis diskriminierenden Wortschöp- ter ermutigen, Konflikte auszuhalten, betont fungen wie „NSU-Show“, „Zschäpe-Braut“ ❙1 aber auch: Von prekär beschäftigten Sozial- oder erneut „Döner-Morde“. ❙2 Aus kommu- arbeiterinnen, die kaum über Zeit für Fach- nikationswissenschaftlicher Sicht handelt diskurse und Vernetzung verfügten, sei kein es sich bei diesen Schlagworten um verbali- substanzieller Beitrag zur Zurückdrängung sierte „Rahmungen“ oder „Muster“ komple- von Rassismus und Rechtsextremismus zu xer Ereignisse ( framing), die von den Journa- erwarten. Seine Vision: „Jugendarbeit kann listen in der Nachrichtenproduktion formu- dann einen wichtigen Beitrag gegen Rassis- liert werden – in der Darstellung des Themas mus und Rechtsextremismus leisten, wenn Rechtsextremismus sind diese jedoch kritisch sie von Jugendlichen als eine offensive und zu hinterfragen. Wie wichtig eine solche Aus- attraktive Gegenkultur erlebt werden kann, einandersetzung hinsichtlich des Themen- in der Vielfalt und Gleichberechtigung erfah- komplexes „Nationalsozialistischer Unter- ren werden können und die sich eine deutli- grund“ (NSU) ist, formuliert der Medienwis- che politische Positionierung gegen Rassis- senschaftler Michael Haller provokativ: „Das mus und Rechtsextremismus zutraut.“ Framing deckt sich mit dem Interesse an den Bedingungen, die den Rechtsterrorismus her- vorgebracht haben.“ ❙3 Nach Bekanntwerden des NSU-Trios ist Raum für journalistische ❙11 Vgl. u. a. Informations- und Dokumentationszen- Selbstreflexion notwendig. Denn es stehen trum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfa- Fragen im Raum: danach, wie diese Begriff- len (IDA NRW e. V.), Das Bremer Modell der Ak- lichkeiten Geltung erlangen, welche journa- zeptierenden Jugendarbeit, o. D., www.ida-nrw.de/ listischen Faktoren Einfluss auf die Berichter- paedagogische-arbeit/akzeptierende-jugendarbeit-/ stattung haben und was Journalisten, die aus akzeptierende-jugendarbeit_2.html (18. 9. 2015). dem Gerichtssaal berichten, in der Themen- ❙12 Franz-Josef Krafeld, Grenzen in der sozialen Ar- beit – speziell in der Arbeit mit rechtsorientierten Ju- produktion zum NSU-Prozess beeinflusst. gendlichen, 4. 10. 2013, www.franz-josef-krafeld.de/​ 7.%20Akzeptierende%20Jugendarbeit/​Grenzen%20 in%20der%20Arbeit%20mit%20rechtsextremen%20 Rechtsextremismus Jugendlichen%20%282010%29.pdf (18. 9. 2015). Siehe und Justizberichterstattung auch Martin Langebach/Cornelia Habisch (Hrsg.), Zäsur? Politische Bildung nach dem NSU, Bonn 2005 (i. E.). Vor Bekanntwerden des NSU mangelte es in der medialen Berichterstattung vielfach an Kontinuität und Hintergründen über Struk-

48 APuZ 40/2015 turen rechtsextremistischer Organisationen umfassend und möglichst auch regelmäßig sowie über die weite Verbreitung rechtsex- über Vorgänge bei den Gerichten zu berich- tremistischer Einstellungen. ❙4 Doch auch da- ten, die von öffentlichem Interesse sind“. ❙8 nach wurde (und wird) das Thema Rechts- Das erfordert die Bereitschaft, sich juristi- extremismus in vielen Medienhäusern eher sche Kenntnisse anzueignen und mit juris- als „Quotenkiller“ ❙5 angesehen, unterliegt es tischen Sachverhalten auseinanderzusetzen. doch bestimmten Aufmerksamkeitsmecha- Der klassische Gerichtsreporter ist kost- nismen: Rechtsextremismus wird als The- spielig, und nur finanzstarke Medienhäuser ma für Redaktionen meist erst dann relevant, können sich ein entsprechendes Ressort leis- wenn von besonders gewalttätigen oder fol- ten. Gerichtsverfahren bieten grundsätzlich genreichen Taten berichtet werden kann, die Raum für unterhaltsame Formen der Bericht- viele Nachrichtenfaktoren wie „Negativität“, erstattung, da jedem Prozess eine eigene Dra- „Schaden“, „Konflikt“ oder „Ereignishaftig- matik innewohnt. Diese ergibt sich zum ei- keit“ in sich vereinen. ❙6 Neben den Taten ste- nen daraus, dass viele Verfahren als „Kampf hen vor allem die Täter im Fokus der bishe- der Prozessparteien um ihr Recht“ verstan- rigen Berichterstattung. Dabei werden diese den werden können – zum anderen daraus, häufig dramatisierend, unreflektiert, emoti- dass die Beweisaufnahme in einem Strafver- onalisierend oder stereotypisierend als „ver- fahren einem Prozess der schrittweisen Auf- rohte, animalische“ Gruppe im Kontrast zu deckung von Wahrheit (mit überraschenden „normalen“ Menschen dargestellt. ❙7 Wendungen) gleiche. ❙9 Bei der Auswahl von Prozessen und Themen setzen Journalisten Neben diesen Herausforderungen bei der demnach eher auf „gefällige Themen“ als auf Thematik Rechtsextremismus haben sich die schwierige und spröde Materien. ❙10 Journalisten den Besonderheiten der Justiz- berichterstattung zu stellen. Zentrale Aufga- Der Zwang zur Selektion und die Rück- be der Justizberichterstattung ist es, „aktuell, sichtnahme auf Bedürfnisse des Publikums sind Rahmenbedingungen, die die Arbeit von Gerichtsreporterinnen und -reportern ❙1 Vgl. Nanett Bier, Media Reporting About Right- prägen. ❙11 Nicht ohne Grund wird daher von- Wing Terror – A Content Comparison Between Ger- man and Norwegian Leading Newspapers, Fors- seiten der Justiz neben der Konzentration kningsrådet 2013. der Medien auf sensationsreiche Aspekte, die ❙2 Vgl. Elke Grittmann/Tanja Thomas/Fabian Vir- die juristische Substanz in den Hintergrund chow, Das Unwort erklärt die Untat, OBS-Arbeitsheft treten lassen, regelmäßig auch die fehlende 79/2015, www.otto-brenner-shop.de/publikationen/ fachliche Qualifikation der Berichterstat- obs-arbeitshefte/shop/das-unwort-erklaert-die-un- ter kritisiert. ❙12 Sind dies die Gründe, warum tat-ah79.html .(18. 9 2015). ❙3 Michael Haller, Rechtsterrorismus in den Medien, der NSU-Prozess mit Begriffen wie „NSU- Berlin 2013, S. 21. Show“ oder „Nazi-Braut“ verbunden wur- ❙4 Vgl. Hauke Hartmann, Rechtsextremismus de? Wie kommt es zu diesen oberflächlichen und Medien – Informieren statt Moralisieren. Zur Sprachmustern eines so komplexen Prozes- Notwendigkeit einer verbesserten Berichterstat- ses, der doch als Anstoß für eine gesellschaft- tung über Rechtsextremismus, in: Regiestelle E&C liche, juristische oder politische Aufarbei- der Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin (Hrsg.), Ideologie und Strategien des Rechtsextre- tung des NSU gesehen werden kann? mismus – Wie geht man als Journalist/in damit um? Dokumentation des Werkstattgesprächs am 8. Mai ❙8 Frauke Höbermann, Publizistischer Auftrag und 2006 in Berlin, S. 14–25. journalistisches Selbstverständnis, in: Holger Wei- ❙5 Andrea Röpke zit. nach: Anne Haeming, Rechts mann/Norbert Leppert/Frauke Höbermann, Ge- im Blick, Interview mit Andrea Röpke, in: Medium richtsreporter. Praxis der Berichterstattung, Berlin Magazin, (2012) 3, S. 16–19, hier: S. 18 2005, S. 22. ❙6 Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Johanna Haber- ❙9 Vgl. Udo Branahl, Justizberichterstattung, Wies- meier, The Impact of Key Events on the Presentation baden 2005, S. 109. of Reality, in: European Journal of Communication, ❙10 Vgl. F. Höbermann (Anm. 8), S. 30. (1995) 10, S. 371–390; Bertram Scheufele/Hans- ❙11 Vgl. Sabine Gerasch, Prozeßwirklichkeit und Ge- Bernd Brosius, The Frame Remains the Same?, in: richtsberichterstattung, München 1995, S. 27. Rundfunk und Fernsehen, (1999) 47, S. 409–432; ❙12 Vgl. Christian von Coelln, Zur Medienöffent- Britta Schellenberg, Die Rechtsextremismus-De- lichkeit der Dritten Gewalt. Rechtliche Aspekte des batte. Charakteristika, Konflikte und ihre Folgen, Zugangs der Medien zur Rechtsprechung im Ver- Wiesbaden 2014. fassungsstaat des Grundgesetzes, Tübingen 2005, ❙7 Vgl. B. Schellenberg (Anm. 6), S. 257. S. 203.

APuZ 40/2015 49 Raum für Beobachtung nen Blick auf die Materialien der Prozessbe- teiligten werfen. Fragen oder unangemesse- Der Sitzungssaal A 101 des Münchner Straf- nes Verhalten sind untersagt. justizzentrums in der Nymphenburger Stra- ße 16 ist ein kleiner, beengter Raum ohne di- rektes Tageslicht. Von der Zuschauerempore, Raum für Selbstreflexion die Platz für insgesamt 100 Journalisten und Besucher bietet, schaut der Beobachter hin- Welche Einflüsse dominieren die Berichter- ab auf die Ebene der Verfahrensbeteiligten. stattung im NSU-Prozess aus Sicht der Jour- Seit mehr als 200 Prozesstagen sitzt dort die nalisten, und worin sehen diese ihre Auf- Hauptangeklagte Beate Zschäpe unter ande- gabe? Gespräche mit den Berichterstattern rem wegen des Verdachts der Bildung einer liefern Einblicke in ihre Arbeitsweise und terroristischen Vereinigung. Um sie herum ihr Selbstverständnis. ❙16 Die meisten Jour- befinden sich viele weitere Prozessteilneh- nalisten, die aus dem Gerichtssaal berich- mer: der Vorsitzende Richter Manfred Götzl ten, verstehen sich als sachliche Übersetzer und sieben beisitzende Richter des 6. Strafse- und Aufklärer, wie Kai Mudra von der „Thü- nats, drei Vertreter der Bundesanwaltschaft, ringer Allgemeinen“ bestätigt: Er wolle sei- vier Verteidiger der Hauptangeklagten, vier nen Leserinnen und Lesern erklären, „wie so weitere Angeklagte mit ihren jeweils zwei ein Strafprozess funktioniert und wo mögli- Verteidigern, 77 Nebenkläger und 53 Ne- cherweise die Grenzen eines Strafprozesses benklagevertreter, Sachverständige, Justiz- liegen“. Die Gerichtsreporterin Karin Tru- beamte und die geladenen Zeugen. ❙13 Die An- scheit von der „Frankfurter Allgemeinen geklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Zeitung“ (FAZ) sieht ihre Arbeit außerdem Carsten S., André E. und Holger G. sind der darin, „beim Prozess Dinge zu erklären, die Beihilfe zum Raub, Mord und der Unterstüt- nicht unbedingt zu unserer Lebenswirklich- zung der terroristischen Vereinigung NSU keit gehören“. Gerade nach der Kritik über beschuldigt. ❙14 die Berichterstattung vor Bekanntwerden des NSU ❙17 findet laut ARD-Terrorismusexper- Die Anklageschrift umfasst knapp 500 Sei- te Holger Schmidt „eine Art Selbstreflexion ten, ❙15 die entsprechenden Ermittlungsakten statt. Denn nachdem wir selbst zehn Jahre füllen 700 Ordner, von denen eine Auswahl falsch gelegen haben, ist unsere Aufgabe jetzt sichtbar sortiert hinter dem Richter und dem zu helfen, zu erklären und aufzuklären, was Senat in zwei großen Regalen steht. Kurz da vor Gericht in München passiert“. vor Sitzungsbeginn sind neben Tastaturge- räuschen viele unterschiedliche Fragen aus Eine weitere Priorität vieler Journalisten den Gesprächen auf der Tribüne zu verneh- liegt darin, eine „neutrale Berichterstattung men: Wo genau sitzen die Angeklagten? Wird zu gewährleisten“ und sich mit der eigenen Beate Zschäpe heute reden? Welche Bedeu- Meinung zurückzuhalten. Auch wenn eini- tung hat der Zeuge, und wird er überhaupt ge Journalisten persönlich von den Infor- aussagen? Die Justizbeamten auf der Zu- mationen, Bildern und Geschehnissen im schauertribüne sorgen für Sicherheit: Weder Gerichtssaal „erschüttert“ sind, steht das Zuschauer noch Journalisten dürfen zu nah „professionelle Arbeiten“ im Vordergrund. an die Glasscheibe der Tribüne heran oder ei- Nur so könnten sie in der Berichterstattung den Opfern und den Angehörigen gerecht werden. Anhand zahlreicher weiterer Aus- 13 ❙ Vgl. Strafverfahren gegen Beate Z. u. a. wegen sagen der Reporter kann bestätigt werden, Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereini- dass die objektive Berichterstattung zwar ein gung u. a. (NSU), Pressemitteilung des Oberlandes- gerichts München, 12. 4. 2013, www.justiz.bayern.de/ wichtiger Anspruch ist, eine subjektive Be- gericht/olg/m/presse/archiv/​2013/​03918/index.php einflussung aber nicht von der Hand gewie- (18. . 9 2 015). sen werden kann. ❙14 Vgl. Bundesanwaltschaft erhebt Anklage im „NSU“-Verfahren, Pressemitteilung des General- bundesanwalts, 8. 11. 2012, www.generalbundesan- ❙16 Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen die walt.de/de/showpress.php?newsid=460 (18. 9. 2015). wörtlichen Zitate aus Gesprächen mit der Autorin, ❙15 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung die im April und Mai 2015 geführt wurden. (Hrsg.), Hintergrund aktuell: Vor dem NSU-Pro- ❙17 Vgl. E. Grittmann/​T. Thomas/​F. Virchow (Anm. 2), zess, 15. 4. 2013, www.bpb.de/​158006 (18. 9. 2015). S. 55–65.

50 APuZ 40/2015 Einen der stärksten Einflüsse auf die Jour- Eine mögliche Erklärung dafür liefert nalisten übt die „Medienroutine“ aus. Vor FAZ-Reporterin Truscheit, die erläutert, dass dem Hintergrund, dass der NSU-Prozess dieses Verhalten journalistischer Bestandteil bereits seit mehr als zwei Jahren läuft, be- jedes Gerichtsverfahrens sei: „Je nachdem stätigen einige Journalisten eine sinkende wie die Angeklagten auftreten, hat das ja mit Nachfrage nach der Berichterstattung, den- ihrem Selbstverständnis zu tun und charak- noch betont Schmidt: „Verglichen mit ande- terisiert die Personen, wie sie wahrgenom- ren großen Terrorismusprozessen der letz- men werden möchten. Beschreibungen ge- ten zwölf Jahre ist es außergewöhnlich viel, hören hier einfach dazu.“ Tom Sundermann, leuchtturmartig, wie sich die Medien mit freier Redakteur von „Zeit Online“, erklärt diesem Prozess beschäftigen. Das hat natür- den Fokus auf die Hauptangeklagte wie lich mit der Dimension zu tun: Zehn Morde, folgt: „Artikel, in denen Zschäpe im Mittel- die lange Zeit im Untergrund und die gesell- punkt steht, verkaufen sich gut. Die Faszina- schaftliche Betroffenheit, über das, was pas- tion des angeblich Bösen, konzentriert in der siert ist.“ meist entspannt zurückgelehnten Angeklag- ten, wirkt. Auch ich schreibe gerne Zschäpe­ - Truscheit bestätigt, dass es eine Tendenz Geschichten. Warum? Erstens, weil die Leser gibt, vermehrt auf tägliche Meldungen oder es goutieren. Zweitens, weil sie es ist, für die Nachrichten zugunsten der leserorientier- das Ermittlerversagen und die Hilfeleistun- ten Aufbereitung zu verzichten: „Wenn bei- gen mutmaßlicher Unterstützer letztlich re- spielsweise ein neues Beweisthema behan- levant ist.“ ❙18 delt wird, wie zum Beispiel der Anschlag in der Kölner Keupstraße als eigenständiger ARD-Journalist Schmidt sieht einen wei- Komplex, sammle ich eher zwei Prozesswo- teren wichtigen Grund: „Neben der krimi- chen und versuche es dann in einem größeren nalistischen Beschäftigung sorgt beim Pu- Überblicksartikel näher zu bringen. Das ist blikum vor Ort die schillernde Figur der für die Leser nachvollziehbarer, als wenn wir Beate Zschäpe für viel Gesprächsstoff. Bei nur Details aufgreifen, die ja angesichts der der man sich fragt, was hat die Frau an, wa- Fülle von behandelten Themen für Außen- rum schweigt diese Frau noch, wie verhält stehende mittlerweile sehr schwer einzuord- sich diese Frau? Das sind Faktoren, weswe- nen sind.“ Einige Journalisten resümieren, gen man sich immer noch mit dem NSU-Pro- dass inhaltlich bisher alle Anklagepunkte an- zess beschäftigt.“ Die Schwierigkeit, die in gesprochen wurden, sei es durch Sach- oder diesem Personalisierungsmechanismus liegt, Zeugenbeweise, und daher die Themen für kommentiert der SZ-Journalist Hans Leyen- die Leser, Zuschauerinnen und Zuhörer we- decker so: „Weit größer ist jedoch die Gefahr, niger Neuigkeitswert haben. Daher seien laut dass die Medien den Prozess selbst als gro- Tanjev Schultz, Redakteur und Reporter der ße Show inszenieren. Und darüber die bri- „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), vor allen Din- santen Skandale, die in den Untersuchungs- gen „die Nuancen vor Gericht interessant: ausschüssen aufblitzen, durch die Fixierung Wie gestaltet sich das denn vor Gericht? Wie auf Zschä­pe komplett ignorieren.“ ❙19 Neben- stellt sich der Zeuge dar? Was sind seine Wor- klagevertreter Hoffmann ergänzt: „Nur bei te? Das ist ja in dem Sinne ‚neu‘.“ einem geringen Teil der Presse ist das tat- sächliche Bemühen vorhanden, systematisch die verschiedenen Facetten des eigentlichen Raum für „Skandälchen“? Skandals aufzuarbeiten.“

Durch die Fokussierung auf die Hauptan- Die Medienwissenschaftlerin Tanja Tho- geklagte neigten viele Medien zu Prozessbe- mas nennt einige Positivbeispiele wie den ginn zu einer reduzierten, oberflächlichen NSU-Prozess-Blog von der „Zeit“ oder Berichterstattung „bei der sich die Journalis- etwa die Berichterstattung in der SZ. Zu- ten am Anfang mehr mit der Haarfarbe und dem erwähnt sie den Blog „NSU-Watch“: der Bekleidung von Frau Zschäpe beschäftigt haben“, so Alexander Hoffmann, ein Vertre- ❙18 Tom Sundermann, Frau Zschäpe und ich, in: Jour- ter der Nebenkläger. „Da springt die Presse nalist, (2015) 5, S. 24–27, hier: S. 25 f. auf bestimmte Beobachtungen, die vielleicht ❙19 Zit. nach: Michael Kraske, Der Monsterprozess, Skandälchen versprechen.“ in: Journalist, (2013) 5, S. 80–84, hier: S. 84.

APuZ 40/2015 51 „Es gibt auch Initiativen, die genauer hin- lich meint. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist sehen und Öffentlichkeit erzeugen können. es aber relativ einfach, das fehlende Recherche- Wenn man detaillierte Berichterstattung ha- wissen mit Stereotypen abzudecken. Das ist ben will, findet man diese auch.“ „Thüringer immer eine ganz schwierige Sache.“ Allgemeine“-Redakteur Mudra verweist auf weitere Beispiele wie die bereits 2000 gegrün- dete Initiative „Gesicht zeigen“, „die genau Recherche als Luxus die Gegenrichtung gegangen ist und auch auf solche Probleme aufmerksam gemacht hat“. Recherchearbeit kostet die Medienhäuser Zeit und Geld. Den Eindruck abnehmender Die Kritik der stereotypen Berichterstat- Investitionsbereitschaft für die Recherche- tung, die besonders vor Bekanntwerden des tätigkeiten bestätigte auch ein weiterer be- NSU bezogen auf den Umgang mit den An- fragter Journalist, während andere von ei- gehörigen von Opfern laut wurde ❙20 oder sich ner großen (finanziellen) Unterstützung für während des NSU-Prozesses in Charakteri- Recherchereisen berichteten. Eine kontinu- sierungen der Prozess-Akteure wiederfin- ierliche Berichterstattung gilt bei einigen den, ❙21 kann SZ-Redakteur Schultz teilwei- Befragten als Luxus für Journalisten und Me- se nachvollziehen: „Mit dem Ziel, dass man dienorganisationen, der aber notwendig sei, Stereotype sucht, wird man auch fündig in weil durch die Unregelmäßigkeit in der An- der Presse. Denn Journalismus funktioniert wesenheit beziehungsweise der Ad-hoc-Be- mit Kategorien, in denen gearbeitet wird, die richterstattung sonst Probleme in der jour- dann mehr oder weniger differenziert sind. nalistischen Prozessdarstellung entstünden. Das ist die Schwierigkeit, wenn man Zeu- Eines dieser Probleme nennt die Medienso- gen beschreiben muss, die mit martialischen ziologin Tanja Thomas, die sich bei ihren Re- Tattoos und Springerstiefeln vor Gericht er- cherchearbeiten und Gesprächen mit Journa- scheinen.“ Holger Schmidt meint dazu: „Die listen auch mit der Frage der journalistischen Verwendung von Stereotypen durch uns Ausbildung beschäftigt hat: „Wir haben auch Journalisten stimmt ganz sicher. Die Denk- sehr junge Journalistinnen und Journalis- weise von allen Beteiligten ist kanalisiert, ten gesprochen, die uns geschildert haben, eben auch bei Journalisten, die vielleicht so- dass angesichts von Zeitdruck und finanzi- gar auf einer kriminalistisch gerechtfertigten ellen Restriktionen in den Redaktionen ganz Erwartungshaltung aus der damaligen Zeit viel Learning by Doing passiert. Es ist kaum basiert und zu wissen glaubt, wohin der Hase möglich, über die Aufbereitung von Themen läuft. Dennoch glaube ich, dass diese Stereo- wie den NSU zu diskutieren oder sich mit typenverwendung eher ein Fall für Kollegen erfahrenen Kollegen auszutauschen. Dann ist, die nicht so häufig im Prozess sind, und bleibt das eben auf der Strecke, und die Jün- diejenigen, die eher gesamtbetrachtend be- geren sind auf individuelle Lern- und Ausei- richten, im Gegensatz zu unserer Berichter- nandersetzungsbereitschaft verwiesen.“ stattung vor Ort, die ja sehr chronistisch für den jeweiligen Tag angelegt ist und das Tages- Ein weiteres Problem unterstreicht Kai geschehen herausstreicht.“ Mudra: „Das Zeitungsgeschäft ist ein kom- merzielles Geschäft, und im Gegensatz zu ei- Eine wichtige Voraussetzung zur Vermei- nigen Fernsehanstalten, die zusätzlich noch dung von Stereotypen erklärt Kai Mudra: „Um von Gebühren leben, müssen Zeitungen je- Stereotype zu vermeiden, wird Recherche vor- den Tag ihre Ausgaben verkaufen und sicher- ausgesetzt. Wenn Sie die Zeit und die Möglich- stellen, dass sie das am darauffolgenden Tag keiten für Recherche haben, werden sie auch noch tun können. Dieser Kostendruck und keine Stereotypen verwenden, weil sich ein die zunehmende Konkurrenz digitaler Medi- Journalist dann mit dem Thema beschäftigt en kann dazu führen, dass sich auch die Ar- hat und im Detail erklären kann, was er eigent- beitsbedingungen verschlechtern, dass eben nicht mehr drei Tage Zeit zur umfassenden Recherche eines Beitrages bleiben, sondern ❙20 Vgl. E. Grittmann/​T. Thomas/​F. Virchow (Anm. 2), dass manchmal in kürzester Zeit ein Text S.. 10 ❙21 Vgl. Astrid Hansen, Journalistische Charakte- für die nächste Ausgabe geschrieben werden risierung der Akteure im „NSU“-Prozess, Frank­ muss, der trotzdem lesbar ist und im Internet furt/M. 2015, S. 79 ff. geklickt wird.“

52 APuZ 40/2015 Soziologin Thomas ergänzt, dass journa- oder Zeugen und wie Ermittlungen gelaufen listische Arbeit aufgrund knapper Ressour- sind. Punkte, die Sie sonst überhaupt nicht cen immer schwieriger werde und Medien- erfahren würden – oder nur durch schwieri- kritik grundsätzlich nicht allein in Appelle ge, intensive Recherche. An einige Personen, an das individuelle Handeln einzelner Jour- die als Zeugen aussagen, wäre im normalen nalisten münden dürfe. Sie müsse an ande- Leben zudem nur schwer ranzukommen, ren Ebenen ansetzen. Dazu gebe es beispiels- selbst als Journalist. In einem Prozess aber weise Kontrollinstanzen wie den Deutschen müssen diese als Zeugen Angaben machen, Presserat, der Redaktionen Empfehlungen die Sie Ihnen gegenüber sicherlich verwei- für einen fairen Journalismus liefert. SZ-Re- gern würden.“ porter Schultz erklärt es als Besonderheit, dass die journalistische Form „oft zu etwas Die unterschiedlichen Interessen von Pro- führt, was mindestens wie eine Vorverurtei- zessbeteiligten sind weitere große Einflussfak- lung aussieht oder auch als solche wahrge- toren für Journalisten: Dies birgt die Gefahr nommen wird“. Auch wenn sehr viele Indizi- einer möglichen Instrumentalisierung, derer en für eine mögliche Schuld der Angeklagten sich die Journalisten in der Themenaufberei- sprächen, gelte es, diese Vermutung nicht als tung stets bewusst sein sollten, ❙22 und stellt sie gesetzt zu formulieren. weiterhin vor die Herausforderung, sich von den gesammelten Informationen zu distanzie- ren und sich ein eigenes Bild zu machen. Die Institution Gericht Konsequenz daraus ist, dass Journalisten in ihrer Recherchearbeit öffentliche Institutio- Die Institution Gericht ist eine große He- nen wie (Strafermittlungs-)Behörden, Polizei rausforderung für die berichtenden Jour- oder Justiz wie jede andere Quelle behandeln nalisten, wie Nebenklageanwalt Hoffmann und deren Aussagen nicht unhinterfragt über- bestätigt: „Ich sehe nach wie vor sehr große nehmen sollten, so wie es in der Berichterstat- Probleme in der Berichterstattung, die sich tung über die Mordserie des NSU vor seinem zum Teil nicht lösen lassen. Das liegt an der Bekanntwerden allzu häufig geschehen ist. ❙23 Komplexität des Prozesses; auch die Form, wie der Vorsitzende den Prozess führt, kann Truscheit schlussfolgert daraus: „Wir müs- für die Presse problematisch sein. Der Vorsit- sen die Energie aufbringen und alle Informa- zende muss eben seinen Prozess führen und tionen gegenchecken. Denn das Plausible ist seine Anklagepunkte abarbeiten und nicht in nicht immer unbedingt das Wahre.“ Tanjev erster Linie die Interessen der Öffentlichkeit Schultz spricht von erhöhter Sensibilität für bedienen. Aber so wie das im Moment auf- die Angaben der Behörden und mahnt mehr gebaut ist, ist es sehr schwierig, dem Prozess Misstrauen beziehungsweise Vorsicht an: als Ganzes zu folgen, weil eben überwiegend „Wir müssen uns auch immer die Fakten ver- zwischen Themen sehr viel gesprungen wird, gegenwärtigen und schauen, wo offene Fra- weil die Liste mit den Zeugen nicht tatsäch- gen sind und wo nicht. Dabei ist es wichtig, in lich nach Themen aufgebaut war, weil es auch alle Richtungen zu schauen und nicht blind sehr schwierig ist, alle Zeugen zum richtigen den Ermittlern zu folgen, aber auch nicht Zeitpunkt zu laden. Für die Presse entsteht blind irgendjemand anderem.“ dadurch ein Riesenproblem, dass das insge- samt sehr unübersichtlich ist.“ Schlussfolgerungen Das bestätigt auch Karin Truscheit von der FAZ, die ihre Anwesenheit zum Beispiel Die Reflexion der Journalisten und ihre sensi- von der Zeugenliste des Gerichtes abhängig bilisierten Einstellungen im Umgang mit den macht: „In der Redaktion entscheidet man Angehörigen der Opfer zeigen, dass aus den gemeinsam, ob man dieses oder jenes schon teilweise diskriminierenden Sprachmustern inhaltlich breit behandelt hat oder ob das ein der ersten NSU-Prozesswochen gelernt wur- ganz neuer Aspekt ist, den man noch mal de. Wenngleich Leser mangelnde Selbstrefle- herausarbeiten müsste.“ Für Mudra ist der NSU-Prozess als journalistische Quelle eine ❙22 Vgl. E. Grittmann/​T. Thomas/​F. Virchow (Anm. 2), „Fundgrube“, „weil Sie dort vieles erfahren S.. 10 wie zum Beispiel die Sicht der Angeklagten ❙23 Vgl. ebd. S. 57 f.

APuZ 40/2015 53 xion seitens der Journalisten weiterhin vermu- der Langwierigkeit des Verfahrens und der ten mögen, so ist die Kritik offenbar eher den gesellschaftlichen Scham ob ihrer „quoten- Mechanismen der Medienproduktion geschul- killenden“ Berichterstattung. Es sei ein Ver- det. Einerseits lässt der Mangel an Ressourcen dienst des Prozesses, „dass inzwischen die kaum Spielraum für eine Aufarbeitung der Angehörigen der Opfer zu Wort kommen Hintergründe. Andererseits schreiben Jour- und auch deutlich machen können, wie sie nalisten auch immer im Hinblick auf die Er- selber unter der Art der Polizeiermittlungen, wartungshaltung ihrer Leser. Insofern ist aber auch unter der Berichterstattung gelitten die „NSU-Show“ auch ein gesellschaftliches haben“, betont Kai Mudra. „Grundsätzlich Spektakel, für das die Leser Eintritt bezahlen. gibt es in unserer Branche so ein Einsehen, Es scheint, als lasse das Wechselspiel zwischen dass einiges schief gelaufen ist in der Bericht- Medienproduktion und -konsum kaum Ener- erstattung. Grundsätzlich sollte das Bedürf- gie für eine tiefere gesellschaftliche, juristische nis der Medien, auch die eigene Rolle mit auf- oder politische Aufarbeitung des NSU. zuklären, da sein. Das betrifft aber letztlich auch die gesamte Gesellschaft“, fasst Tanjev Für die meisten Journalisten, die aus dem Schultz zusammen. Gerichtssaal berichten, ist ihre Tätigkeit auch eine moralische Verpflichtung – trotz

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54 APuZ 40/2015 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail Anne-Sophie Friedel (Volontärin) über die neuen Ausgaben. Barbara Kamutzki Johannes Piepenbrink Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell (verantwortlich für diese Ausgabe) Anne Seibring Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected]

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Viola Neu · Sabine Pokorny 3–8 Ist „die Mitte“ (rechts)extremistisch? Die Formulierung „Extremismus der Mitte“ ist missverständlich. Die These, dass Rechtsextremismus ein Phänomen der sozialen Mitte sei, ist empirisch nicht haltbar. Potenziell kann jedoch jeder für Extremismen anfällig werden. Andreas Zick · Beate Küpper 9–16 Rechtspopulistische Überzeugungen der Mitte Der Rechtspopulismus hat in jüngster Zeit einen weiteren Rechtsruck erlebt. Dieser vergrößert die Risse in der Gesellschaft und fordert die demokratische Mitte auf, sich klar zu Vielfältigkeit und Gleichwertigkeit zu bekennen. Werner J. Patzelt 17–21 Die Sorgen der Leute ernst nehmen! In der Debatte um den Sonderfall Pegida wurde Allgemeines sichtbar. Den dort arti- kulierten Sorgen der Bürger liegen echte Probleme zugrunde, die nicht dadurch gelöst werden, dass diejenigen, die sie äußern, ausgegrenzt werden. Christoph Giesa 22–26 Keine Nazis und trotzdem brandgefährlich Vieles, was von neurechter Seite zu vernehmen ist, hört sich zunächst nicht nach rech- ter Ideologie an. Ihre Vertreter gerieren sich intellektuell, schwören der Gewalt ab und verbreiten doch Hass auf alles, was unsere Gesellschaft lebenswert macht. Frank Decker 27–32 AfD, Pegida und die Verschiebung der parteipolitischen Mitte Pegida lässt sich als Ausdruck einer rechtspopulistischen Grundstimmung in Teilen Ostdeutschlands deuten, von der auch die AfD profitierte. Deren Wahlerfolge tragen dazu bei, dass sich die Achse des Parteiensystems nach rechts verschiebt. Claudia Luzar 33–37 Rechter Rand und Mitte – Kein einheitliches Verhältnis Zwischen dem Rechtsextremismus und der gesellschaftlichen Mitte gibt es kein ein- heitliches Verhältnis. Am Beispiel von NPD, der Partei Die Rechte in Dortmund und Pegida werden drei verschiedene Konstellationen aufgezeigt und diskutiert. Karim Fereidooni · Mona Massumi 38–43 Rassismuskritik in der Lehrerausbildung Rassismus ist Teil der Lebenswirklichkeit aller Menschen, die in Deutschland leben, unterrichtet werden und selbst unterrichten. In der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sollte Rassismuskritik daher fester Bestandteil sein. Heike Kleffner 44–48 Sozialarbeit und der NSU-Komplex Es gilt als erwiesen, dass kommunale Jugendclubs einen wichtigen Baustein bei der Ent- stehung des NSU bildeten. Dennoch findet in der Sozialen Arbeit eine angemessene fachliche Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex bislang kaum statt. Nanett Bier 48–54 Journalisten und der NSU-Prozess Journalistinnen und Journalisten, die über den NSU-Prozess berichten, stehen vor eini- gen Herausforderungen. Zwischen juristischer Berichterstattung und den Zwängen des journalistischen Alltags gilt es, auch die eigene Rolle kritisch zu reflektieren.