dtv Wie kein anderer lebender Autor ist Günter Grass Repräsen- tant der deutschen Literatur nach 1945 mit weltweiter Wir- kung. Der Lyriker, Dramatiker und Romancier, der Bild- hauer und Grafiker hat durch sein Leben und Werk gegen die verstreichende Zeit gewirkt. Ein Zeitzeuge, der gegen das Verdrängen und Vergessen anschrieb und somit für unsere Nachbarn in Polen, Frankreich und anderswo zu einem glaubwürdigen Vertreter eines neuen Deutschland wurde. >Schreiben gegen die verstreichende Zeit( verbindet die Dar- stellung des Lebens von Günter Grass mit einer Werkbio- graphie. »Seit Thomas Mann hat kein deutscher Schriftstel- ler eine so große Wirkung auf die Weltliteratur gehabt.« (Nadine Gordimer)

Professor Dr. Volker Neuhaus lehrt Neuere deutsche und Verglei- chende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Er forscht und publiziert über Günter Grass seit 197o. Ig7g hat er eine wissenschaftliche Monographie zu Günter Grass vor- gelegt (2. Auflage 1993). Er ist Herausgeber der Werkaus- gaben des Autors seit 1987. Volker Neuhaus Schreiben gegen die verstreichende Zeit

Zu Leben und Werk von Günter Grass

Deutscher Taschenbuch Verlag Wem sonst als Dir? — Cui nisi tibi? (Richard Alewyn)

Ich danke Frau l)r. Barbara Baumann-Eisenack und dem Literaturarchiv Sulzbach Rosenberg fier die Möglichkeit zur Nutzung vier dortigen Grass-Archivalien.

Originalausgabe September 1997 2. Auflage Januar 1998 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Miinchen © 1997 Deutscher Taschenbuch Verlag, München Umschlagkonzept: Balk & Brutushagen Umschlagfoto: © keystone Pressedienst Gesetzt aus der Baskerville Book Satz: Steidl, Göttingen Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • ISBN 3-423-12445-8 Brüche und Umbrüche

Warum sollte man die Biographie eines zeitgenössischen Autors schreiben und lesen? Ist uns dieser Hunger nach Pri- vatem, diese Neugier auf intime Details, das Bedürfnis nach einer Nähe zum Autor als Person jenseits des Papiers seiner Werke, wie sie in der Klopstock- und Goethezeit aufkamen, eicht abhanden gekommen? Und falls nicht, kann man sie dann zu Lebzeiten des Autors befriedigen, ohne zum Voy- eur zu werden? Grass selbst hat einmal die Aspekte genannt, unter denen er seine Biographie allein von Interesse findet - nicht als Ge- schichte seiner wechselnden Empfindungen und privaten Befindlichkeiten, isoliert vom Zeitgeschehen, sondern gezeichnet von dessen Brüchen und Umbrüchen. In diesem Sinn hat Grass wiederholt in Interviews, Reden und Aufsät- zen sein eigenes Leben geradezu mit den positivistischen Kategorien von »race«, »milieu« und »temps« erklärt, es aus seiner familiären Herkunft, seiner Heimat und dem spezifischen Generationsschicksal von »Hitlers ehemaligem ,Jungvolk« hergeleitet.

5 Die Familie

Väterlicherseits entstammt der Danziger Günter Grass einer alteingesessenen protestantischen Handwerkerfamilie. Der Großvater Friedrich Grass besaß in der Elsenstraße im Vor- ort Langfuhr ein Mietshaus, in dessen Hof er seine Tisch- lerei betrieb. In der an derselben Stelle gelegenen Werkstatt von Tischlermeister Liebenau in den >Hundejahren< hat Grass diesem Abenteuerspielplatz seiner Kindheit mit »der Fräse, dem Gleichrichter, der wummernden Hobelmaschi- ne und der erregten, sich wieder abregenden, neu und heller erregten Kreissäge« ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Im Gedicht >Schlager im Ohr< heißt es noch im Jahr 1966: »Die Kreissäge meines Großvaters / konnte einen hellen lan- gen Vormittag / zu Dachlatten verschneiden. / Barackenteile für Durchgangslager«. Hier wird ein weiterer Grund deut- lich, warum eine Beschäftigung mit Grass' Biographie sinn- voll und lohnend ist: Erfahrungswelten werden rekonstru- iert, ohne die Grass' »auf Oberfläche angewiesene«, »vom Betastbaren, Fühlbaren, Riechbaren« ausgehende sinnliche Wirklichkeit in der Dichtung nicht denkbar ist. Grass' Vater Wilhelm (1899-1979) machte aus gesundheit- lichen Gründen, die auch dazu führten, daß er im Ersten Weltkrieg nicht einberufen wurde, eine Bürolehre und arbei- tete später als Vertreter für Papierwaren, bis das Lebensmit- telgeschäft seiner Frau Helene (1898-1954) die Familie er- nähren konnte. Während sie den Laden führte, kaufte er auf dem Großmarkt ein, dekorierte das Schaufenster und betreute den Haushalt, vor allem als guter Koch - eine Fami- lienkonstellation, die jedem Leser der >Blechtrommel< ver- traut ist.

6 Die Bedeutung der Mutter für Grass' künstlerische Nei- gung, seine Fähigkeiten und deren Entwicklung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wohl als Hommage an sie hat er den Erzähler-Helden des >Butt< mit einer »extremen Mutterbindung« ausgestattet: »Mich kriegt ihr nicht auf die Couch! An meinem Mutterkomplex verdiene nur ich!« »Ich sterbe unbehandelt. Auf meinem Grabstein soll stehen: Hier liegt mit seinem Mutterkomplex!« Vom Vater, der den künstlerischen Berufsplänen seines Sohnes schroff ableh- nend gegenüberstand, heißt es dagegen in >Aus dem Tage- buch einer Schnecke< : »Als ich fünfzehn war, wollte ich in Gedanken, Worten und Werken meinen Vater mit meinem Hitlerjugenddolch ermorden.« Drei Brüder der Mutter, die alle im Ersten Weltkrieg fielen, haben auf eigentümliche Weise Grass' spezifische Begabungen vorweggenommen. Der Älteste von ihnen wollte Maler oder Bühnenbildner werden, ein anderer Koch und der dritte, Artur Knoff, Schriftsteller. In einem Koffer auf dem Dachboden fand Grass Texte von seiner Hand, an Eichendorff angelehnte Er- zählfragmente und Gedichte, die zum Teil sogar in den >Dan- ziger Neuesten Nachrichten' abgedruckt wurden. Grass mag hier zum ersten Mal ein Gefühl für die Zufälligkeiten menschlicher Existenz bekommen haben - keinem der drei war es vergönnt, seine Fähigkeiten zu erproben und auszule- ben, sie starben, kaum zwanzig Jahre alt. Mit der Wahl des Verfasserpseudonyms Artur Knoff für eine literarische My- stifikation - unbekannte Erzählungen von Grass wurden ig66 in den 'Akzenten' und 1g68 in einem Heft von Walter Höllerers »Literarischem Colloquium Berlin« veröffent- licht - hat Grass seinem dichtenden Onkel ein kleines Denk- mal gesetzt. Seine Großeltern mütterlicherseits hat Grass nicht mehr kennengelernt. Großvater Knoff, Büchsenschmied in der Danziger Gewehrfabrik, muß, hierin Oskars Großvater

7 nicht unähnlich, dem Alkohol zugetan gewesen sein und des öfteren seinen Lohn vertrunken haben, weshalb die Großmutter in ihrer Wohnung im Brunshöfer Weg in Lang- fuhr ein kleines Geschäft, einen sogenannten Stubenladen, eröffnete. Vielleicht war der Schmied Knoff der »Großvater, ich meine den Sozi, der bei Tannenberg fiel», aus dem >Butt<- Gedicht >Bratkartoffeln<, der, »bevor er sich über den Teller beugt, flucht / und mit allen Fingern knackt«. Tochter Helene machte ihre Lehre im Einzelhandel hei der heute noch existierenden Handelskette »Kaiser's Kaffee«, führte eine Zeitlang den mütterlichen Stubenladen, um dann in der Parterrewohnung des Hauses Labesweg 13 in Danzig- Langfuhr ein Lebensmittelgeschäft zu eröffnen. Diesen Vor- ort, in dem er aufgewachsen ist, läßt Grass in seiner Be- deutung als Mikrokosmos durch Harry Liebenau in den >Hundejahren< kennzeichnen: »Es war einmal eine Stadt, die hatte neben den Vororten Ohra, Schidlitz, Oliva, Emaus, Praus, St. Albrecht, Schellmühl und dem Hafenvorort Neu- fahrwasser einen Vorort, der hieß Langfuhr. Langfuhr war so groß und so klein, daß alles, was sich auf dieser Welt ereig- net oder ereignen könnte, sich auch in Langfuhr ereignete oder hätte ereignen können.« Das Gebäude Labesweg 13 hat, wie das um die Ecke in der Elsenstraße gelegene großväterliche Haus und fast der gesamte Stadtteil, den Krieg unversehrt überstanden, ist aber zwischenzeitlich umgebaut worden. Als Grass sein Geburtshaus 1958 wiedersah, war vom Laden nur eine der »Spuren« geblieben, die Grass so liebt - ein nicht zu übertün- chender Fleck auf der Wand an der Stelle, wo bis 1945 Petro- leum aus einem Faß verkauft wurde. Aus dem Laden war das dritte Zimmer geworden, das der Familie Grass nach der Geburt der Kinder Günter 1927 und Waltraud 193o so sehr fehlte. Das Versprechen des Vaters, nach dem Krieg eine Dreizimmerwohnung in einem besseren Vorort zu

8 beziehen, blieb aus welthistorischen Gründen uneingelöst. So hatten die Kinder als eigenes Reich nur die Nischen unter den Fensterbrettern im Wohnzimmer; im Schlafzim- mer schlief die ganze Familie, und so »hörte ich, weil ich wach lag im Dunkeln, alles: den fortgesetzten Streit, die Liebe im Bett als Geräusch und den Schlaf der Eltern«. Diese Erfahrung sollte sich in den Massenquartieren der Flakbatterien und des Arbeitsdienstes, den Kasernen und

Truppenunterkünften, den Kriegsgefangenen - und Flücht-

lingslagern und Lehrlingsheimen noch lange fortsetzen ; erst Ende der vierzigerJahre kann Grass mit Anfang Zwan- zig die Tür zu einem eigenen Zimmer hinter sich schließen. Die nächsten Verwandten von Helene Grass sind eine Schwester ihrer Mutter und deren Familie. Die Krauses oder, polonisiert, Krauzes sind, wie die Großeltern Knoff. Kaschuben, im heutigen Polen eine Minderheit von etwa 300 00o Personen, »Altslawen, die eine aussterbende, mit deutschen und polnischen Lehnwörtern gespickte Sprache sprechen«, wie Grass selbst erläutert. Ihr Siedlungsgebiet liegt westlich von Danzig mit Karthaus/Kartuzy als Zen- trum. Während die Großeltern wegen der großväterlichen Tätigkeit als Büchsenschmied nach Danzig gingen, blieb die übrige Familie auf dem Land wohnen. auf einem kleinen Hof nahe Kokoschken/. Mit der Wiederherstel- lung Polens nach dem Ersten Weltkrieg und der Errichtung des Freistaats Danzig fanden sich die beiden Zweige der Familie trotz der wenigen Kilometer zwischen Langfuhr und Kokoschken in verschiedenen Staaten wieder, die Knoffs im Freistaat und die Krauses/Krauzes in Polen. Ver- bindend blieben neben den üblichen verwandtschaftlichen Besuchen regelmäßige Fuhren der Krauzes für die Bissauer Ziegelei mit Lieferungen für Langfuhr, wie sie der polnisch- kaschubische Schriftsteller Boleslaw Fac, der heute im Ulica Lelewela genannten Labesweg wohnt. anschaulich beschrie-

9 ben hat: »Aus dem nahegelegenen Bysewo konnte man zu Fuß oder mit dem Fuhrwerk den Labesweg erreichen. Onkel Jan erinnert sich an den Laden im Labesweg, den er jedesmal besuchte, wenn er mit Ziegelsteinen nach Lang- fuhr fuhr. Zuerst benutzte er einen Feldweg bis zur Chaus- see, die Richtung Ulica Slowackiego durch Bretowo führt, zwischen Friedhöfen hindurch, an der Nervenklinik in Szczebrzysko vorbei, bis zur Hauptstraße, die heute den Namen Grunwaldzka trägt. Er fuhr vorbei an den langen Gebäuden der preußischen Kasernen, dann peitschte er das Pferd an, um möglichst schnell den Autos zu entkommen, und gleich kletterte sein Wagen auf eine kleine Anhöhe, auf das Eisenbahnviadukt, von dem aus man den Flughafen, die Brauerei und die Pestalozzischule sehen konnte. Von da waren es nur noch ein paar Minuten zum Laden der Grass - Familie. Der Wagen rollte die Anhöhe hinunter. >Stoj, diach- le!< rief Onkel Jan wahrscheinlich dem Pferd zu, das mit weitausgreifenden Schritten auf der mit Katzenköpfen ge- pflasterten Straße lief. >Agnes !< rief Matzerath, als er den Wagen von Jan ankommen sah. >Die aus Bissau sind gekom- men!< Dieser Satz war für Agnes wie ein Signal, sie kam aus der hinter dem Laden gelegenen Wohnung, um den Ver- wandten zu begrüßen; und schon zog sie ihn in das Hintere des Ladens, machte Kaffee und konnte nach Herzenslust mit ihm Kaschubisch sprechen. So muß es gewesen sein. Oder stand es vielleicht so nur im Buch?« beschließt Fac die Beschreibung der durch ihre Spiegelung in der >Blechtrom- mel< weltweit bekannt gewordenen familiären Situation. Franz Krause hieß ein weiterer Vetter Helenes aus diesem Zweig. Er arbeitete auf der Polnischen Post, verteidigte sie am i. September 1939 gegen den deutschen Angriff und wurde standrechtlich erschossen. Da Danzig und die Kaschubei unmittelbar darauf erst einmal wieder für gut fünf Jahre deutsch wurden und die kaschubischen Polen

I0 oder polnischen Kaschuben Volksdeutsche, war das der Familie eher peinlich, während er nach dem Krieg auf dem Denkmal vor der früheren Polnischen Post geehrt wurde: Als Frantizek Krauze ist er für Polen gefallen, so wie seine drei Vettern gut zwanzig Jahre vorher für das deutsche Kai- serreich - Spannungen, Brechungen und Verwerfungen eines Grenzraums, eingegangen ins Schicksal einer Familie. Danzig als Heimat

Das hervorstechendste Merkmal an Grass' Danziger Hei- mat war natürlich die Tatsache, daß Danzig seit dem Versail- ler Vertrag mitsamt seinen Landkreisen und dem Großen Werder nicht mehr zum Deutschen Reich gehörte. Wegen seiner Lage an der Mündung von Polens bedeutendstem Fluß konnte das wiederhergestellte Polen Danzig nicht in deutschem Besitz dulden, andererseits konnte die nahezu ausschließlich von Deutschen besiedelte Stadt samt ihren beiden Landkreisen und dem Großen Werder nicht einfach wie Posen mit seinem hohen polnischen Bevölkerungs- anteil zur Republik Polen geschlagen werden. Gegen den erklärten Willen der deutschen Bevölkerung wurde aus die- sen Gebieten zum 15. November 1920 ein Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes errichtet, der durch einen Hohen Kommissar vertreten war. Der Freistaat hatte mit dem Gulden eine eigene Währung, wurde außenpolitisch durch Polen vertreten und gehörte zum polnischen Zollge- biet. Im Osten hatte er deshalb eine geschlossene Grenze gegen das zum Deutschen Reich gehörende, aber von die- sem durch den Polnischen Korridor getrennte Ostpreußen. Wirtschaftliche Probleme traten unter anderem dadurch auf, daß Polen Danzig immer weniger als Hafen nutzte und statt dessen forciert Gdynia ausbaute. Trotz dieser Trennung vom Reich und der formalen Ober- hoheit des Völkerbundes, die hätte verhindern können, daß der Terror gegen die, Juden vor dem »Anschluß« ans Reich am 1. September 1939 staatlich sanktioniert oder sogar orga- nisiert war, entwickelte sich die Judenverfolgung in Danzig fast parallel zu der im Reich selbst. In >Aus dem Tagebuch einer Schnecke< erzählt Grass seinen Kindern, »wie es bei

I2 mir zu Hause langsam und umständlich am hellen Tage dazu kam. Die Vorbereitung des allgemeinen Verbrechens begann an vielen Orten gleichzeitig, wenn auch nicht gleich- mäßig schnell; in Danzig, das vor Kriegsheginn nicht zum Deutschen Reich gehörte, verzögerten sich die Vorgänge: zum Mitschreiben für später...« Die durch wirtschaftliche Probleme verschärfte Irre- denta-Situation führte zu einer starken deutschnationalen Strömung und lautstarken »Heim ins Reich«-Rufen, die im Reich freudig aufgenommen wurden. Nachdem die Deutschnationalen und die Sozialdemokraten zuvor wech- selnde Koalitionsregierungen gebildet hatten, entschlossen sich die Deutschnationalen unter Dr. Ernst Ziehm schon 1930 zu einer Minderheitsregierung, die auf die Duldung durch die zwölf Sitze starke NSDAP angewiesen war. Als die Minderheitsregierung Ziehm im April 1933 den Danzi- ger auflöste, gewann die NSDAP mit 50,03 Pro- zent knapp die absolute Mehrheit — einen Anteil, den sie im Reich bei freien Wahlen nicht entfernt erreicht hat. Mit der »Heimholung« dieser Stadt begann am 1. September 1 939 Hitler einen Weltkrieg, und Grass hat wiederholt daraufhin- gewiesen. daß wie Sarajevo mit dem Ersten der Name seiner Heimatstadt mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden sei. Günter Grass verläßt Danzig 1944. Als er vierzehn Jahre später zurückkehrt, um vor Abschluß des >Blechtrommel<- Manuskripts noch einmal am Ort des Geschehens zu recherchieren, findet er zwar Langfuhr nahezu unversehrt und die durch Bodenkämpfe bei Kriegsende zerstörte Alt- stadt dank ungeheurer Anstrengungen der Polen zum Teil schon historisch restauriert und rekonstruiert vor, aber er hat doch das Gefühl, in einer gänzlich anderen Stadt zu sein, in der nach der Vertreibung der gesamten deutschen Bevöl- kerung Polen leben, die ihrerseits aufgrund des Hitler-Sta- lin-Paktes aus dem Osten ihres Landes vertrieben wurden.

1 3 Zu betreten ist sein Danzig nicht; es will beschworen sein, liegt, wie Grass es ausdrückt, »wie Vineta auf dem Meeres- grund« - ein Motiv, das er dann 1986 in der >Rättin< gestaltet, wenn den Frauen auf der »Neuen Ilsebill« Vineta zu Danzig wird. Die Bücher, die der britische Germanist John Reddick bezeichnenderweise >Danziger Trilogie< genannt hat, stellen insgesamt den Versuch dar, das politisch unwiederbringlich Verlorene literarisch zu bewahren. Grass entwickelt schon früh eine Poetik des Verlustes: »Was ich beschreiben werde, / es kann nur den Knopf meinen, / der bei Dünkirchen liegen- blieb, / nie den Soldaten, der knopflos davonkam«, heißt es im 196o veröffentlichten Gedicht >Abgelagert>, und 1992 be- stätigt und bekräftigt Grass diesen Gedanken in der >Rede vom Verlust>: »Die meisten meiner Bücher beschwören die untergegangene Stadt Danzig, deren gehügelte wie flache Umgebung, die matt anschlagende Ostsee; und auch Gdansk wurde im Verlauf der Jahre zu einem Thema, das fortgeschrieben sein wollte. Verlust machte mich beredt. Nur was gänzlich verloren ist, fordert mit Leidenschaft endlose Benennungen heraus, diese Manie, den entschwundenen Gegenstand solange beim Namen zu rufen, bis er sich mel- det. Verlust als Voraussetzung für Literatur. Fast neige ich da- zu, diese Erfahrung als These in Umlauf zu bringen.« Grass' Schüler und Bewunderer Salman Rushdie sieht Günter Grass aufgrund des Heimatverlustes geradezu als exemplarischen Repräsentanten »dieses Jahrhunderts der Wanderungen»: »Er ist damit eine Gestalt von zentraler Bedeutung in der Literatur der Migration, und vielleicht ist der Migrant die zentrale oder die maßstabsetzende Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts. Und wie viele Migranten, wie viele Leute, die eine Stadt verloren haben, hat er sie in seinem Gepäck wiedergefunden, verstaut in einer alten Blechdose. Kunderas Prag, Joyce' Dublin, Grass' Danzig:

1 4 Exilierte, Flüchtlinge, Migranten haben viele Städte in ihrem Gepäck herumgetragen ...« Auch wenn der reale Heimatverlust mit dem Schreiben der >Danziger Trilogie< erst einmal literarisch kompensiert schien, ist Grass doch immer wieder zum epischen Schau- platz Danzig zurückgekehrt. Es erwies sich nicht nur als der geeignete Ort für eine Zeitlupenstudie zur, Judenverfolgung, sondern auch als geschichtsträchtig genug, um in der Danzi- ger Bucht das welthistorische Panorama des >Butt< zu entfal- ten, und Danzig/Gdansk ist auch in seiner von den Polen sorgfältig restaurierten musealen Schönheit durchaus wert, von Neutronenbomben »geschont« und zum Schauplatz posthumaner Rattengeschichte zu werden. Jahrgang 1927

Grass' Jahrgang ist auf eine eigentümliche Weise mit dem >Dritten Reich< verbunden, auch wenn es in Danzig bis 1939 nur inoffiziell stattfindet. Es ist der Jahrgang, der von der Einschulung bis zum Abitur der N S-Indoktrinierung ausge- setzt ist, dessen männliche Angehörige aber andererseits das Abitur nie oder mit Verspätung machen werden, da sie mit fünfzehn Jahren als Flakhelfer eingezogen und mit sieb- zehn als Soldaten in die letzten Abwehrschlachten geworfen werden. Grass hat von der »idealistischen Erziehung« gesprochen, die ihn, aber auch die zwei Jahre jüngere Christa Wolf geprägt habe und die er dafür verantwortlich macht, daß Christa Wolf ohne Brüche und Verwerfungen 1945 das Braunhemd aus- und das Blauhemd angezogen habe. »Unser Grundübel ist der Idealismus«, befand Grass 1969 im Rahmen einer Titelgeschichte des Spiegels über ihn. Die- ser nicht erst im »Dritten Reich« inflationär gebrauchte Begriff entstammt in seinem damaligen Sinn direkt dem Wörterbuch des Unmenschen; er ist einer der zentralen Begriffe in Hitlers >Mein Kampf<, der darin das hervorste- chendste Merkmal des >Ariers< erblickt: »Opfersinn«. »So- wie sich dieser Sinn über die Grenzen des engen Rahmens der Familie erweitert, ergibt sich die Voraussetzung zur Bil- dung größerer Verbände und endlich förmlicher Staaten.« »Die grundsätzliche Gesinnung, aus der ein solches Han-

deln erwächst, nennen wir - zum Unterschied vom Egois-

mus, vom Eigennutz - Idealismus. Wir verstehen darunter nur die Aufopferungsfähigkeit des einzelnen für die Gesamt- heit, für seine Mitmenschen.« »Reinster Idealismus deckt

16 sich unbewußt mit tiefster Erkenntnis. Wie sehr dies zutrifft und wie wenig wahrer Idealismus mit spielerischer Phanta- sterei zu tun hat, kann man sofort erkennen, wenn man das unverdorbene Kind. den gesunden Knaben zum Beispiel, urteilen läßt. Der gleiche, Junge, der den Tiraden eines >idea- len< Pazifisten verständnislos und ablehnend gegenüber- steht, ist bereit, für das Ideal seines Volkstums das junge Leben hinzuwerfen.« Ein solches »unverdorbenes Kind«, ein solcher »gesunder Knabe« war Grass. in seinen eigenen Worten »ein dummer, unbeirrbarer Halbwüchsiger«: »Mit Glaubenssätzen dumm - gehalten und entsprechend auf idealistische Zielsetzungen getrimmt, so hatte das Dritte Reich mich und viele meiner Generation aus seinen Treuegelöbnissen entlassen. >Die Fahne ist mehr als der Tod<, hieß eine dieser lebensfeind- lichen Gewißheiten«, und genauso erinnert er sich, Rudolf Alexander Schröders »Heilig Vaterland in Gefahren« »anläß- lich Morgenfeiern. Weihestunden. beim Fahnehissen, im

Zeltlager nahe dem Lagerfeuer, in Jungvolk- und Hitler - jugenduniform nach choralähnlicher Melodie, mit Todes- schauern im Rücken oder sonstwo halb zu singen, halb in den Ostwind zu sprechen.« »Goebbels' Fangfrage >Wollt ihr den totalen Krieg?«< löste auch im sechzehnjährigen Günter Grass »opferbereite Weihestimmung« aus. »Todessüchtig waren viele meiner Generation bereit, das schönste Geschenk, das uns gemacht worden war, das Leben, für >Führer, Volk und Vaterland< hinzugeben.« »Soviel Dumm- heit resultierte nicht nur aus kriegsbedingt löcherigem Schulwissen, vielmehr war es eine allgemeine, Klassen- und Religionsunterschiede überwölbende Dummheit, die sich aus deutschem Selbstgefallen nährte.« Auch die nicht von der Schule beanspruchte oder von der HJ verwaltete Zeit war für diese Generation in einem un- vorstellbaren Maße kriegsgeprägt. Auf dem Schulhof pfiff

1 7 man den Marsch der Legion Condor wie heute Top-ten- Hits, spielte in der Pause die Verteidigung des Alkazar von Toledo, und keiner wollte Republikaner sein. Statt der Hubraum-, PS- und Höchstgeschwindigkeitszahlen späterer Generationen lernte man die Daten von Kriegsschiffen aus- wendig, wie nicht nur Grass in >Katz und Maus< überliefert, sondern auch sein Altersgenosse Christian Graf von Krok- kow bezeugt: »Worüber sprachen denn die Jungen unterein- ander? Sie sprachen vom Militär. Sie bastelten Flugzeuge, Panzer, Schiffe. Das >Taschenbuch der Kriegsflotten< bildete eine Hauptlektüre. Noch heute könnte ich wahrscheinlich nicht bloß die deutschen, sondern sogar die britischen Schlachtschiffe des Kriegsbeginns beim Namen aufzählen und in den Einzelheiten beschreiben.« Wenn Grass'Tochter Laura 1969 sechs Autogramme ihres Vaters gegen eines des Kinderstars Heintje tauscht, so sam- melt die Jugend eine Generation zuvor signierte Porträtpost- karten von Ritterkreuzträgern. Grass erinnert sich: »Ich bin mit Sondermeldungen im Ohr aufgewachsen. Immer wie- der erlag ich dem Rausch der Erfolge. Tapferkeit, die aus- schließlich an militärischen Leistungen gemessen wurde, geriet meiner Generation zum Glücksbegriff. Es kam dar- auf an, wie lange und gegen welche Übermacht, in welch taktischem bis strategischem Zusammenhang eine Stellung gehalten wurde. Es kam darauf an, wieviel Tausend-Brutto- Registertonnen versenkt, wie viele feindliche Flugzeuge abgeschossen, wie viele Panzer geknackt wurden. Es gab Spezialisten dieser Art Tapferkeit, sogenannte Asse, deren Bilder meine Generation tapferkeitssüchtig gesammelt hat.«

18 Kindheit und frühe Jugend

Im Labesweg 13, im hofwärts gelegenen Schlafzimmer, wur- de Günter Grass am 16. Oktober 1927 geboren. Wie damals überwiegend üblich, setzte sich die katholische Mutter als Angehörige der strengeren und straffer organisierten Kon- fession gegen den protestantischen Vater durch, und Günter wurde, ebenso wie später seine drei Jahre jüngere Schwester Waltraud - und drei Jahre zuvor Oskar Matzerath! -, in der neugotischen Herz-Jesu-Kirche in Langfuhr nach katholi- schem Ritus getauft und auch katholisch erzogen. An eine übertrieben strenge Observierung irgendwelcher ritueller Gebote, wie sie Heinrich Böll in seiner Familie so eindrucks- voll geschildert hat, erinnert Grass sich nicht; seine Mutter handhabte dergleichen nach seinen Worten »lässig«. Aber selbstverständlich wurde auch Günter Grass Meßdiener - etwa zur selben Zeit, als der Vater in »die Partei«, das hieß in die NSDAP eintrat: zum einen, weil »die Konkurrenz« das auch tat, zum andern, weil sein Vater durchaus das Gefühl hatte, in einer großen Zeit zu leben. »Und aufgewachsen bin ich zwischen / dem Heilgen Geist und Hitlers Bild», bringt Grass im Gedicht >Kleckerburg<, dem schönsten und dichte- sten Zeugnis über seine Kindheit, die Gegensätze, die damals keine waren, auf einen Punkt. Grass erinnert sich der regelmäßigen Gebete für den Führer in der Messe, spä- ter auch für die deutschen Waffen - nie für die Opfer, unter denen sich doch seit Beginn des Polenfeldzugs besonders viele polnische Priester befanden, was gerade in Danzig kaum übersehen werden konnte. Doch solche Beobachtun- gen führten nicht zum Verlust des Glaubens, den Grass etwa auf das vierzehnte Lebensjahr datiert. Dies war eher in

19 Zweifeln begründet, die beim Studium der Geschichte und vor allem der Kirchengeschichte aufkamen und mit denen sein damaliger Religionslehrer nicht umzugehen verstand. Meßdiener blieb Grass trotzdem, solange er in Danzig war - wie Pilenz in >Katz und Maus<, und nach Ausweis nicht nur dieses Werkes könnte Grass noch heute nach kurzem Nach- denken eine vorkonziliare lateinische Messe fehlerfrei zele- brieren. Das Jungvolk hat dem Zehn- bis Vierzehnjährigen nach eigenem Bekunden viel Freude bereitet, die anschließende HJ mit ihren Schulungsabenden und ihrer stärkeren ideolo- gischen Ausrichtung deutlich weniger. Das Jungvolk über- zeugte vor allem durch die Fortführung von Traditionen der bündischen Jugend, Wanderungen, Zeltlager, Lagerfeuer, Geländespiele. Aber auch die inzwischen hinzugekommene paramilitärische Ausbildung wie Kleinkaliberschießen dürfte den Jungen Spaß gemacht haben. Wilhelm und Helene Grass hatten den Wunsch, daß wenigstens ihre Kinder die eigenen beengten kleinbürger- lichen Verhältnisse überwinden sollten. Obwohl sie beide nur Volksschulabschluß hatten, wurden die Kinder - auch die Tochter, was in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich war - aufs Gymnasium geschickt. Da damals noch Schul- geld gezahlt werden mußte, bedeutete dies bei ständigen Geldsorgen und Konkurrenznöten durchaus ein Opfer. Günter Grass hat es ihnen schlecht gedankt. Außer auf ein Repetieren der damals (barta genannten 7. Klasse brachte er es in dem nicht sehr langen Zeitraum zwischen Sexta und Obertertia, das heißt zwischen 5. und 9. Klasse, auf zwei

Schulverweise, was jeweils einen Schulwechsel bedeutete - »während des Krieges ist kaum jemand endgültig aus dem Gymnasium geworfen worden«. schreibt Grass sachkundig zu Mahlkes Schulschicksal in >Katz und Maus<. Vom Conra- dinum in Langfuhr, dem in der Novelle porträtierten Gym-

20