Nr. 26 / 22.6.2019 Deutschland € 5,30 Slowakei € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Kc € 6,80 Spanien Tschechien in Printed Slowakei 0 € 6,50 Slowenien Spanien/Kanaren € 7,00 Ft 2490,- Ungarn Germany BRAUNE SCHLÄFER Vater, Nachbar, Killer? Der neue Terror von rechts BeNeLux € 6,40 Finnland € 8,30 Griechenland € 7,30 ZL 33,– NOK 86,– Norwegen (ISSN00387452) Polen Dänemark dkr 57,95 € 6,80 Frankreich Italien € 6,80 € 6,00 Österreich (cont) € 6,8 Portugal Irankrise Zitternde Kanzlerin Maut Kriegsspiele im Wenn Politiker Was der CSU-Flop den Nahen Osten Schwäche zeigen Staat kosten kann Unser Wissen kommt nicht von irgendwo. Unser Wein auch nicht.

Weine aus deutschen Regionen: Qualität, die man schmeckt.

Die 13 deutschen Weinregionen sind geschützte Ursprungsbezeichnungen.

Weine aus deutschen Anbaugebieten überzeugen nicht nur mit außergewöhnlichem Geschmack, sondern auch mit höchster Qualität. Das garantiert auch die Europäische Union, die alle 13 deutschen Weinregionen als geschützte Ursprungsbezeichnungen anerkannt hat. U N D Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung Betr.: Titel, Vogel, Braunkohledorf

Warum musste der Kasseler Regie- rungspräsident Walter Lübcke ster- ben, getötet auf seiner Terrasse per Kopfschuss? Der Generalbundes- anwalt stuft den Fall als rechtsextre- mistisches Attentat ein, der Haupt- verdächtige Stephan E. schweigt bis- her. Ein Team von SPIEGEL- und SPIEGEL-TV-Redakteuren hat sich auf die Suche nach dem rechten Netzwerk gemacht, das E. geholfen

JULIAN RETTIG haben könnte. Sie stöberten rechts- Bartsch extreme Kameraden aus früheren Jahren auf, die sich mit dem Tatver- dächtigen solidarisierten. Einer postete nach dessen Festnahme im Netz: »Freiheit für alle Nationalisten«. Redakteur Matthias Bartsch war in der Kasseler Siedlung un- terwegs, in der der Familienvater Stephan E. lebte. »Gepflegte Gärten, Rasen mähende Großväter, spielende Kinder«, so Bartsch, »es fällt schwer, sich vorzustellen, dass von hier rechter Mordterror im Land verbreitet werden sollte.« Redakteur Wolf Wied- mann-Schmidt, zuständig für innere Sicherheit, hat den Titeltext zusammengefügt. Er sagt: »Sollte sich bestätigen, dass der Mord an Walter Lübcke das erste tödliche Attentat eines Rechtsextremen auf einen Politiker seit 1945 war, wäre das eine Zäsur. Die Gefahr wird immer weniger berechenbar. Auf den Hass, der sich in den Echo- kammern des Internets bis zum Terror aufschaukelt, haben die Sicherheitsbehörden bisher keine Antwort gefunden.« Seite 14

Vor einem Jahr verunglückte die Bahnrad- Olympiasiegerin Kristina Vogel, 28, beim Training in Cottbus schwer. Zwei Monate später machte sie in einem Interview mit dem SPIEGEL (37/2018) öffentlich, dass sie Ein Leben querschnittgelähmt ist. »Ich vergleiche mich mit einem Baby, das lernen muss, sich voller Liebe, Mut & selber zu drehen und aufzusetzen«, sagte sie damals. Redakteurin Antje Windmann Gemeinschaft.

und der Fotograf Maurice Weiss haben sie DER SPIEGEL seitdem auf ihrem Weg zurück in den Weiss, Vogel, Windmann Alltag begleitet. Termine mit ihr zu finden war nicht immer einfach. Wahlkampf, Vorträge, TV-Auftritte, Reha – Vogel gibt inzwischen wieder Vollgas, als wäre nicht viel passiert. »Sie ist extrem hart zu sich«, sagt Windmann. »Andererseits, permanent beschäftigt zu sein hat auch den Effekt: Es bleibt kein Raum zum Nachdenken.« Seite 92

Keyenburg, vor ein paar Jahren knapp 900 Einwohner, ein Dorf in der Nähe von Mönchengladbach, soll bis 2023 dem Braun- kohletagebau weichen, obwohl der Kohleausstieg schon be- schlossen ist. Die neue Siedlung wird gerade gebaut, erste Bürger ziehen um. Reporterin Barbara Supp hat am alten Standort das AB DONNERSTAG, letzte Schützenfest besucht und mit Menschen gesprochen, die angesichts des Massenprotests gegen den Braunkohletagebau 20. JUNI wieder Hoffnung schöpfen, bleiben zu können. Sie traf aber auch solche, die wollen, dass die Umsiedlung zügig vorangeht. Eine der Fragen, die sich Supp stellte, war: Lässt sich Heimat NUR IM KINO überhaupt verpflanzen? Nach ihrem Besuch in Keyenburg sieht

JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL JOHANNES ARLT sie es so: »Die Heimat war ein Dorf, und mit ihm geht sie verlo- Supp ren. Was neu entsteht, sind Siedlungen.« Seite 52

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 3 Inhalt

73.Jahrgang | Heft 26 | 22.Juni 2019

Titel Strafjustiz Eine 13-Jährige verschwand mit einem 39 Jahre Leitartikel Die Politik hat älteren Mann – spielt es die tödliche Gefahr von rechts eine Rolle, dass er sie wohl nicht unterschätzt ...... 6 zwang mitzukommen? . . . . . 46

Terrorismus Der Mord an dem Bildung Eltern kämpfen Kasseler Regierungspräsidenten dafür, ihre Kinder später Walter Lübcke zeigt, wie gefähr- einschulen zu dürfen ...... 48 lich die rechte Szene ist . . . . . 14

Gesellschaft Deutschland Früher war alles schlechter: Meinung Die Gegen - Erasmus-Studenten / darstellung / So gesehen: Was können wir von Prinz Jetzt ist sogar die CSU Philip lernen? ...... 50 gegen alte weiße Männer . . . . . 8 Eine Meldung und ihre Wie Giffey ihren Doktortitel Geschichte Gérard Depardieu verteidigt / Gesine Schwan will Russen gesundes Essen bringt sich für SPD-Parteivorsitz beibringen ...... 51

ins Spiel / Regierung versagt / SHUTTERSTOCK TADEVOSIAN DAVID beim Energiesparen ...... 10 Verlust Kampf um die Heimat – »Mein Gott, war mein Kind für der Klimaprotest mobilisiert Ethik Gesundheitsminister die Braunkohledörfer ...... 52 (CDU) und Grünen- oder gegen Organspende?« chefin Homestory Wie es sich für streiten im SPIEGEL-Gespräch Der berät über ein heikles Gesetz: Sollte einen Mann anfühlt, gegen eine über den richtigen Weg zu jeder Hirntote automatisch Spender sein, wenn Frau im Tennis zu verlieren 57 26 mehr Organspenden ...... er zu Lebzeiten nicht widersprochen hat? Ja, sagt Parteien NRW-Minister - CDU-Minister Jens Spahn. Nein, findet Grünen - Wirtschaft präsident Armin Laschet wird als chefin Annalena Baerbock. Ein Streitgespräch. Seite 26 Kanzlerkandidat gehandelt 30 Minister Spahn verdoppelt Gehalt für Topmanager Verkehr Nach dem Urteil der Gesundheitskarte / Nur gegen die Pkw-Maut kommen 392 Wasserstofffahrzeuge auf die Regierung auf deutschen Straßen ...... 58 gewaltige Forderungen zu . . . 34 Finanzmarkt Mit einer Digital- SPD Vizekanzler Olaf Scholz währung will Facebook über seine sehr linke das Geldgeschäft aufmischen 60 Vergangenheit ...... 38 Mobilität Lufthansa-Chef Gesundheit Angela Merkels Carsten Spohr über seine Zitteranfall wirft die Ideen für eine CO²-Steuer 64 Frage auf, wie viel Schwäche Politiker zeigen können . . . . 40 ALLIANCE / AP DPA PICTURE Wohnungsnot Legal-Tech- Portale helfen Verbrauchern Kriminelle Gerichte können Showdown in Osaka im Kampf gegen überhöhte illegal verdientes Vermögen Mieten ...... 66 leichter einziehen ...... 43 Beim G-20-Gipfel in Japan könnte es zum Eklat zwischen den USA und China kommen. Medien Parteienfinanzierung Wegen US-Präsident Donald Trump drängt die einer Spendenaffäre in Presse Warum »FAZ«-Mit- Bayern muss die SPD hohe Europäer, sich auf seine Seite zu schlagen. Doch herausgeber Holger Steltzner Strafzahlungen fürchten . . . . 44 diese zögern – aus gutem Grund. Seite 74 gehen musste ...... 68

4 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Ausland Verkehr Feinstaubschwaden im Tiefbahnhof? ...... 103 US-Präsident Donald Trump eröffnet den Wahlkampf / Psychiatrie Wie Entzündungen Die Niederlande erwägen, seelische Leiden schüren – Freier zu bestrafen ...... 72 und warum dies Hoffnung auf neue Therapien macht . . . . 104 Geopolitik Der Handelskrieg zwischen den USA und Geschichte Kunsthistoriker China spitzt sich vor dem erforschen das Werk G-20-Gipfel in Japan zu . . . . 74 des berühmten Tätowierers Christian Warlich ...... 106 EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström über Europas Verhältnis zu China Kultur und den USA ...... 76 Ausstellung der Malerin Karin Großbritannien SPIEGEL- Kneffel / Animationsfilm Gespräch mit Schottlands »Pets 2« / Kolumne: Besser Regierungschefin weiß ich es nicht ...... 110 Nicola Sturgeon über den OSBORNE / AFP GETTY IMAGES AMY Brexit, Boris Johnson Zeitgeist Die Ära der High und Nationalismus ...... 78 Zuckerbergs neues Geld Heels geht zu Ende, der flache Schuh beherrscht Iran Droht ein neuer Krieg Mit Libra, seiner neuen Digitalwährung, will die Frauenmode dieses im Nahen Osten? ...... 82 Facebook nicht weniger als das Geld Sommers ...... 112 neu erfinden. Doch ist der skandalumwitterte Geschichte Warum der Intellektuelle Jürgen Habermas Vertrag von Versailles Social-Media-Konzern der richtige feierte seinen 90. Geburtstag – der Welt keinen Frieden Anbieter für Finanzdienstleistungen? Seite 60 und ein Land versucht, bei brachte ...... 84 ihm Halt zu finden ...... 116

Bestseller Die Tagebücher der Sport »Anonyma« erzählen Der überforderte Frieden von den Vergewaltigungen Immer mehr National- in Berlin 1945 – eine spielerinnen sind im Ausland Vor 100 Jahren wurde der Vertrag von Historikerin hat die Authen - aktiv / Magische Momente: Versailles unterzeichnet. Er sollte gemeinsam mit tizität untersucht ...... 118 Serhij Stachowskyj vier anderen Abkommen der Welt eine neue, über seinen Sensationssieg Künstlerinnen Die Fotografin in Wimbledon ...... 91 friedliche Ordnung bescheren. Stattdessen führte Nan Goldin kämpft er in den Zweiten Weltkrieg. Seite 84 gegen einen Pharmakonzern Schicksale Wie die quer- – einen mächtigen schnittgelähmte Rad-Olympia- Museumssponsor ...... 120 siegerin Kristina Vogel ihren Weg zurück in den Literaturkritik Der Schrift- Alltag meistert ...... 92 steller Jochen Schmidt erfindet in seinem neuen Affären Zu Beginn seines Roman eine totalitäre wichtigsten Turniers versinkt Welt ...... 123 der afrikanische Fußball- verband im Chaos ...... 97

Wissenschaft

Deutsche werden dümmer / Schleimiger Superkleber / Einwurf: Und wie ehrlich Das Ende der High Heels sind Sie so? ...... 98 Birkenstocks und Trekkingsandalen, Espadrilles Bestseller ...... 115 Evolution Stillende Spinnen, und Mokassins – die allermeisten Frauen Impressum, Leserservice . . . 124 selbstlose Käferpapas – sind in diesem Sommer auf flachen Schuhen unter- Nachrufe ...... 125 Bio logen kommen den merk- Personalien ...... 126 würdigen Spielarten wegs. Auch ein Weg, um eine größere Briefe ...... 128 der Brutpflege auf die Spur 100 Gleichheit der Geschlechter zu erreichen. Seite 112 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelfotos: Peter Juelich (2); SPIEGEL ONLINE; Swen Pförtner / dpa 5 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Befremdliche Nachsicht

Leitartikel Politik und Sicherheitsbehörden haben die Gefahr des Rechtsextremismus verharmlost.

ie Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke sich zumindest früher um einen glühenden, zum Morden wäre eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsge- bereiten Nazi handelte. Man habe sich eben nicht um D schichte, wenn sich der Verdacht der Polizei bestä- alle Gefahren gleichzeitig kümmern können und Prioritä- tigt. Sie wäre nicht nur ein Angriff auf Lübckes ten setzen müssen, bekannte er. Nein: Man hätte das Leben, sondern auch auf Freiheit und Demokratie. Es wäre, eine tun können, ohne das andere zu lassen. Das hätte soweit bekannt, der erste Mord von Rechtsterroristen an etwas gekostet, ja, aber es wäre sinnvoll investiertes Geld einem Repräsentanten des Staates seit sehr langer Zeit. In gewesen. der Weimarer Republik gehörten derartige Morde zum Für die neue Priorität stand wie kein Zweiter der frühere aufgepeitschten Alltag. Der frühere Reichsfinanz minister Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Ihn Matthias Erzberger und Außenminister Walther Rathenau trieben die Sorgen der Pegida-Bewegung an, Angst vor wurden die prominentesten Opfer des »weißen Terrors« Überfremdung, Angst vor islamistischen Attentätern. der paramilitärischen »Organi sa - Geschützt von dieser ideologi- tion Consul«. Erzberger, Rathenau schen Verblendung konnte und andere mussten auch deshalb die rechts extreme Szene in sterben, weil sie Verfechter der Deutschland wachsen und sich Demokratie waren. Mit den Atten- vernetzen. Die rechte Gefahr taten sollte das staatliche und wurde baga tellisiert. demokratische System erschüttert So ist es kein Zufall, dass die werden, für das sie standen. Behörden sowohl nach den neun Gewiss, es gibt Grenzen des Morden des NSU als auch nach Vergleichs zwischen Weimar und dem Mord an Lübcke zunächst der Gegenwart. Die Weimarer von unpolitischen Motiven aus- Demokratie war neu, unerprobt gingen. Dass Nazis dahinter- und somit fragil. Nach dem Ersten stecken könnten, sogar Gruppen Weltkrieg lag Deutschland mora- und nicht nur Einzeltäter, schien lisch und ökonomisch am Boden. die Vorstellungskraft der Diens- Die Feinde der Demokratie te zu übersteigen. Dass gültige trafen auf einen schwachen Staat, Haftbefehle gegen fast 500 der auf Dauer weder seine Regie- Rechtsradikale bis heute nicht rungsform noch seine Repräsen- vollstreckt sind, zeugt von

tanten verteidigen konnte. ALLIANCE / DPA / PICTURE WALSDORF YANN einer befremdlichen Nachsich- Heute sind die Bedingungen an- tigkeit und Halbherzigkeit der dere. Die Bundesrepublik ist eine deutschen Justiz. reife, wehrhafte Demokratie. Sie könnte ihre Repräsentan- Es ist seltsam, wie zurückhaltend die Spitzen der Union ten schützen, sie hätte auch Walter Lübcke schützen kön- auf die Erschießung ihres Parteifreunds reagierten. Die nen. Aber es fehlt der Wille, die Gefahr des neuen braunen Kanzlerin sprach wolkig von »bedrückenden Nachrichten« Terrors zu erkennen und mit Macht zu bekämpfen. Die und verweigerte dem Thema so die angemessene Behand- Politik und die Be hörden sind auf dem rechten Auge im- lung. Die CDU-Vorsitzende reagierte immerhin spät. Aber mer noch arg sehbehindert. man muss sich nur kurz vorstellen, es hätte sich bei dem In einem Land, das den Aufstieg Hitlers und der Natio- Täter um einen Linkextremen gehandelt. Es hätte einen nalsozialisten möglich machte, müsste die entschiedene Aufschrei gegeben, gefolgt von neuen Maßnahmen zur Be- Bekämpfung rechter Milieus und Netzwerke zur Staats- kämpfung des Linksextremismus. räson gehören. Aber so war es nicht. Seit der Wieder- Selbst wenn sie über den Lübcke-Mord sprachen, vergaß vereinigung, spätestens aber nach den Anschlägen vom in diesen Tagen kaum ein Unionspolitiker, zugleich auf 11. September 2001 wurde die Überwachung in Deutsch- die Gefahren durch Linke hinzuweisen. Das hat nichts mit land neu justiert – und die rechte Szene geriet aus dem Problembewusstsein zu tun, es relativiert. Seit 1990 töteten Fokus. Viele Beamte, die sie bis dahin auf dem Radar hat- Rechtsextremisten 170 Menschen, meist Einwanderer, wie ten, wurden mit der Beobachtung islamistischer Gefähr- »Tagesspiegel« und »Zeit« ermittelten. der betraut, nicht zusätzlich, sondern stattdessen. Es All das zeigt, dass die Gefahr durch den Rechtsterroris- war entlarvend, wie der heutige Verfassungsschutzpräsi- mus von vielen Vertretern des Staates bis heute nicht dent Thomas Haldenwang in dieser Woche erklärte, richtig verstanden wird. Es wäre gut, wenn der Mord an warum man den Tatverdächtigen im Fall Lübcke aus dem Walter Lübcke auch in dieser Hinsicht zur Zäsur würde. Blick verloren hatte, obwohl aktenkundig war, dass es Markus Feldenkirchen

6 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 LEGENDÄRE PERFORMANCE.

ALFA ROMEO STELVIO

Seit 1923 tragen Rennwagen und extrem leistungsstarke Serienfahrzeuge von Alfa Romeo das vierblättrige Kleeblatt und überzeugen im Zeichen des Glücksbringers mit kompromissloser Performance. Der Stelvio Quadrifoglio führt diese Tradition fort. Für seine herausragende Dynamik und einzigartigen Handling-Eigenschaften wurde er mehrfach ausgezeichnet – unter anderem im Vergleichstest der Auto Zeitung als „SUV of the Year 2018“.*

Kraftstoffverbrauch (l/100 km) nach RL 80/1268/EWG: innerorts 12,3; außerorts 8,4; kombiniert 9,8. CO2-Emission (g/km): kombiniert 227. *Auto Zeitung, Ausgabe 19/2018. So gesehen Meinung Letzte Ausfahrt

Alexander Neubacher Die Gegendarstellung (CSU) Das Ende der Verbotspartei dezimiert die Bevölkerung. G Wir werden weniger. In seinem Buch »Empty Planet« schreibt der Robert Habeck will, dass Bierverbot. In Berlin-Pankow hat Kanadier Darrell Bricker, dass die die Grünen keine Verbots- der grüne Vizebezirksbürgermeister Zahl der Erdenbürger entgegen bis- partei mehr sind. Inte - Vollrad Kuhn dafür gesorgt, dass im herigen Prognosen künftig zurück - ressanter Vorschlag. Ich Kiezlokal »Alois S.« kein Alkohol gehen werde. Insbesondere junge bin gespannt, was die mehr an die Eltern vom Spielplatz Frauen in Afrika und Asien würden Grünen dazu sagen. Wer nebenan ausgegeben wird. Zwar hat besseren Zugang zu Bildung und des- als Grüner in die Politik ge - sich fast 20 Jahre lang niemand daran halb weniger Nachwuchs bekommen: gangen ist, um seinen Mitmenschen gestört; die Bar ist ein Familientreff. je höher der Abschluss, desto gerin- Lektionen in korrekter Lebensführung Doch Kuhn verwies auf die Einhaltung ger ausgeprägt die Gebärfreudigkeit. zu erteilen, dürfte Schwierigkeiten des Berliner Grünanlagengesetzes, das »Ab 2070 wird die Menschheit haben, sich umzustellen. Die Besser- ein Alkoholverbot vorsehe. schrumpfen«, sagt Bricker voraus. wisserattitüde, der erhobene Zeige - Erschwerend für Habeck kommt Dem Bundesverkehrsminister geht finger, die Moralapostelei: Soll das hinzu, dass einige Parteifreunde Ver - das offenbar nicht schnell genug. Mit alles falsch gewesen sein? bote einfach gut finden. Sie halten den immer neuen Maßnahmen arbeitet An der Parteibasis ist jedenfalls Durchschnittsbürger für einen len- noch nichts angekommen. Hier eine kungsbedürftigen Konsumtrottel, dem kleine Auswahl grüner Forderungen der Einblick in höhere Wirkzusammen- der vergangenen Tage: hänge fehle. Beispiel Veggieday: Vor Schottergartenverbot. Die Grünen sechs Jahren sei man für die Forderung im Stadtrat von Velbert (NRW) woll- nach einem Fleischverbot verdroschen ten den Bürgern per Bebauungsplan worden, sagte die frühere Agrarminis- verbieten, Schotterlandschaften in terin Renate Künast neulich in der ihren Vorgärten anzulegen. Steingär- »Welt«. Und heute: überall Veganer ten würden das städtische Mikroklima und Vegetarier. Man habe damals den nachteilig beeinflussen, und zwar Zeitgeist vorweggenommen. Verbote durch »unnötige Wärmebestrahlung«. als Avantgarde. Andreas Scheuer (CSU) an einer Feuerwerkverbot. In Berlin und Werden sich die Grünen also zur rasanten Dezimierung der deutschen München wollen die Grünen den Toleranzpartei ummodeln lassen? Bevölkerung. Eine erste Beschleuni- Bewohnern das private Abbrennen Ich tippe: freiwillig nicht. gungsmaßnahme war die Zulassung von Raketen an Silvester verbieten. von E-Tretrollern auf Fahrradwegen Begründung: zu laut, zu dreckig, zu An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher und Straßen, die gewiss zu einer gefährlich. und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Bereicherung der Unfallstatistiken beitragen wird. Noch effektiver jedoch dürfte Scheuers jüngste Idee sein: Zukünftig soll jeder, der einen Autoführerschein besitzt, auch soge- nannte Leichtkrafträder fahren dür- fen. Bisher muss man dafür eine zusätzliche Ausbildung und Prüfung absolvieren, beides soll entfallen. Nach nur wenigen Übungsstunden will Scheuer die Beinahe-Biker in die freie Wildbahn entlassen. Der Bevölkerungsprophet Bricker muss nun seine Formel überarbeiten: Es fehlt der Scheuer-Faktor, mit dem sich das rapide Aussterben von jung gebliebenen, solventen Herren in den besten Jahren erklären lässt, die mit der frisch erworbenen »KTM RC 125 Supersport« zur letzten Aus- fahrt aufbrechen. Als hätte es der alte weiße Mann nicht schon schwer genug: Jetzt bedroht ihn auch noch ein Minister von der CSU. Stefan Kuzmany

8 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Achtung, Menschenrechte!

Existenzsichernde Löhne? Miserable Unterkünfte?

Kein Trinkwasser wegen Bewässerung?

Hinter jedem Produkt steckt die Arbeit von Menschen. Unternehmen haben die Verantwortung, bei der Herstellung und dem Einkauf von Produkten Menschenrechte zu achten – in Deutschland und weltweit.

Informieren Sie sich: www.wirtschaft-menschenrechte.de Linken-Doppelspitze 10 gesucht Frau fürBartsch dem Gutachten darauf verwiesen, dassGiffeys damalige Doktor- Nach Angaben von mit der Materie vertrauten Personen wird in Disserta tion über»Europas Weg zum Bürger« schlampig zitiert. derzeit denVorwurf prüft, dieSozialdemokratin habeinihrer Gutachten für dieKommission derFreien Universität Berlin, die E-Mails. Auf Basisdieser Dokumente erstellte derAnwalt ein Ordner mitAufzeichnungen sowie einUSB-StickmitHunderten die Unterlagen ausderZeitihrer Promotion, darunter mehrere Doktortitel. Vor einigen Wochen übergab Giffey ihrem Anwalt datin fürdenSPD-Vorsitz, kämpft hinter denKulissen umihren Sicht istdieWahl einermindestquotierten in Interimsphasen. »Aus frauenpolitischer zen. Siesoll ohneAusnahmen gelten, auch Verankerung derDoppelspitze durchset- ken imBundestagwilleinegrundsätzliche Das Frauenplenum derFraktion derLin- Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, möglicheKandi - Giffey kämpft umihren Titel »Ich habebeschlossen,dirdeinLebenzurückzugeben.« Deutschland Gutachten soll Täuschungsvorwurf entkräften. die Fraktion füreineÜbergangszeit allein seiner Amtskollegin Bartsch nachdem angekündigten Rückzug dass derFraktionsvorsitzende Dietmar Kurz zuvor war darüberdiskutiertworden, in einerMailanihre Fraktionskollegen. nelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin, und keine personelle Frage«, schreibt Cor- Doppelspitze eineinhaltlicheEntscheidung Familienministerin sie zuentkräften. räumt, fallsesihr gelingen sollte, dieTäuschungsvorwürfe gegen SPD werden Giffey große ChancenaufdenParteivorsitz einge- che Aberkennung von Giffeys Doktortitel entscheidet. Inder ebenso offen wiedieFrage, wann dasGremium übereinemögli- lediglich umgesetzt habe,was von ihrverlangt worden sei. tation, könne von einerTäuschung keine Rede sein, weil Giffey detailliert ausfallenalsimdeutschen Stil.Damit,so dieArgumen - habe, beiderdieVerweise aufandere Werke deutlich weniger mutter ihreinebestimmte amerikanische Zitierweise vorgegeben Ob sichdieKommission dieser Argumentation anschließt, ist HIC, VME es inderMail. ten wir, dasssiediesem Votum folgt«, heißt die Doppelspitze. »Von derFraktion erwar- Mehrheit derPlenumsfrauen votierte für tion zu erwirken«, so Möhring. Einegroße ein Votum desFrauenplenums derFrak - und michinderVerantwortung gesehen, Sprecherin eineklare HaltungzumThema führen solle. »Ich habealsfrauenpolitische ‣S. 46 ABE

MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA Bundesregierung mit 651 000 Euro. Das Bundesverkehrs- Steuergeld für ministerium fördert mit insgesamt 6,1 Millionen Euro auch das Forschungs- Autokonzerne projekt Providentia auf der Bundes- autobahn 9 in Bayern. Es befasst sich Die Bundesregierung bezuschusst mit automatisiertem Fahren unter Autokonzerne im Rahmen von 200 lau- Einsatz von Kameras, Radar und ver- fenden Förderprojekten mit insgesamt netzten Sensoren. BMW erhält dafür 123 Millionen Euro. Die BMW AG und 531 000 Euro aus Steuermitteln des der Daimler-Konzern erhalten jeweils Bundes. Das Testfeld befindet sich auf rund 28 Millionen Euro von den Bun- einem rund elf Kilometer langen Teil- desministerien für Wirtschaft, Verkehr stück der A 9 nördlich von München. und Forschung, Volkswagen sogar mehr Es ist besonders stark befahren und als 33 Millionen Euro. So fördert das umfasst das meistbefahrene Autobahn- Bundesverkehrsministerium den nieder- kreuz Bayerns. Zum Providentia-Kon- sächsischen Autohersteller im Rahmen sortium gehört neben der Telekom auch eines Forschungsprojekts, bei dem es / DPA BALK MATTHIAS der unter Spionageverdacht stehende um »autonome fernüberwachte Klein- Montage eines Landmarkenschilds für chinesische Telekommunikationsaus- transporter in der Paketlogistik« geht, autonome Fahrzeuge in Bayern rüster Huawei. MOP

Jüdische Kultur den und als solcher in allen Veröffentli- dass Kritik an der israelischen Regierung Festival distanziert sich chungen genannt werden. Jetzt zog als antisemitisch gebrandmarkt werden die Festivalleitung das Angebot an den könnte. »Wir haben stets davor gewarnt, von Menschenrechtlern NIF zurück. »Wir können bestätigen, dass dass die Dynamik der letzten Entwicklun- das Kooperationsangebot seitens des JFBB gen zu einer Atmosphäre der Einschüch - Das Jüdische Filmfestival Berlin & an den NIF-Deutschland überraschend terung und der Selbstzensur führen wird«, Brandenburg (JFBB) hat die Zusammen - zurückgezogen wurde«, teilt NIF-Deutsch - so Waldman. Für diese Atmosphäre sei arbeit mit einer Organisation einge- land-Chef Ofer Waldman mit. Als Grund aber nicht das Festival verantwortlich. schränkt, die der israelischen Regierung sei »die aktuelle, aufgeladene Atmosphäre »Dass diese Dynamik nun eine Organisa - kritisch gegenübersteht. Es geht um den um jüdisch-israelische Themen« genannt tion wie den NIF trifft, ist jedoch ein alar- New Israel Fund (NIF), eine Nichtregie- worden. Spätestens seit der Bundestags - mierendes Zeichen.« Die Festivalleitung rungsorganisation mit Sitz in den USA, resolution gegen die antiisraelische Boy- wollte den Vorgang weder dementieren die seit 40 Jahren die israelische Zivilge- kottbewegung BDS im Mai und dem noch bestätigen. Sie teilt lediglich mit, es sellschaft finanziell unterstützt. Eigentlich Rücktritt von Peter Schäfer als Leiter des werde während des Festivals eine Dis - sollte der NIF im September offizieller Jüdischen Museums in Berlin treibt Or - kussion mit NIF-Deutschland-Chef Wald- Partner des Jüdischen Filmfestivals wer- ganisationen wie den NIF die Sorge um, man geben. CSC

Führungskrise gen, dass das Bild der Partei in der Öffent- Sprache ist ja teilweise schrecklich. Wir »Ich will der SPD helfen« lichkeit positiver wird, als das im Moment reden davon, Menschen »mitnehmen« der Fall ist. Ich habe keinerlei Karriere - zu wollen. Auf einen solch bevormunden- Gesine Schwan, 76, Che- ambitionen, will also nicht Kanzlerin wer- den Begriff reagiere ich sehr allergisch. fin der SPD-Grundwerte- den oder sonst etwas. Das erleichtert es Die Menschen sollen in unserer Politik kommission, über den vielleicht, wieder Vertrauen für die SPD mitmachen und ihre eigenen Vorschläge verheerenden Zustand zu schaffen. Es kommt übrigens nicht nur einbringen können. ihrer Partei und ihr auf die Person an. SPIEGEL: Also mehr Mitgliederbefra- Angebot, selbst Verant- SPIEGEL: Sondern? gungen?

DPA wortung zu übernehmen Schwan: Die SPD braucht eine neue Schwan: Das auch. Aber es geht vor Begeisterungsfähigkeit. Wir müssen weg allem um die Perspektive und die Haltung, SPIEGEL: Die SPD sucht eine neue Füh- von diesem Spiegelstrich-Image, das die wir als SPD einnehmen. Es klingt viel- rung – aber bislang meldet sich niemand. wir haben. Es reicht einfach nicht, ein leicht naiv, aber ich will, dass wir über die Ist der Job derart unattraktiv? paar schöne Sachen zu versprechen und Grenzen unseres Landes hinaus für eine Schwan: Die Situation der SPD bedrückt im Sinne moderner Wahlarithmetik bessere Welt sorgen und ganz im Sinne mich, ich halte sie für wirklich gefährlich. sozialpolitische Wohltaten zu verteilen. von Willy Brandt die globale Dimension Nach außen vermitteln wir ein unerfreu- Das ist so durchschaubar. Wir wirken, als in den Blick nehmen. Ob in der Wirt- liches, kleinkariertes Bild. Dabei gibt es in machten wir das nur, damit uns noch schaft, bei der Mobilität, der Migration der SPD so großartige Leute und so viel jemand wählt. Unsere Politik muss über oder dem Klima: Auf allen möglichen Kraft. die konkreten Bedürfnisse hinausgehen Ebenen wird es dauerhaft Veränderungen SPIEGEL: Bewerben Sie sich um den Vor- und auch ein Gefühl ansprechen. geben. Wenn wir es nicht schaffen, mög- sitz? SPIEGEL: Solch ein Gefühl stellt man gera- lichst vielen Menschen das Gefühl zu Schwan: Wir müssen genau prüfen, wer de in der Krise doch nicht auf Knopfdruck geben, dass wir sie in diesen Turbulenzen an welcher Stelle Verantwortung überneh- her … repräsentieren, für sie kämpfen und sie men kann. Ich will der SPD gern helfen. Schwan: ... aber wir müssen es versuchen. zugleich einladen mitzumachen, dann Und ich traue mir auch zu, dazu beizutra- Und es gibt Möglichkeiten. Schon unsere werden wir nicht mehr gebraucht. VME

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 11 Rüstung stationierte Flugkörper gelten als gesicherte Sprung ins Dunkle Anzahl, möglicherweise sind es aber auch deutlich mehr. Sollte Moskau nicht nachge- Die Bundesregierung hat die Hoffnung ben, will Trump sich nach dem 2. August aufgegeben, der amerikanisch-sowjetische seinerseits nicht mehr an den Vertrag hal- Vertrag über die Abschaffung landgestütz- ten. Doch der Streit zwischen Demokraten ter Mittelstreckenwaffen (INF) von 1987 und Republikanern über den Verteidigungs- sei noch zu retten. Am 2. August läuft die haushalt 2020 droht seine militärischen Frist ab, die US-Präsident Donald Trump Optionen deutlich einzuschränken. Die Moskau gesetzt hat. Die Nato wirft den Demokraten haben in zwei Ausschüssen Russen vor, mit der Produktion und Statio- des Repräsentantenhauses bereits für eine nierung des Marschflugkörpers SSC-8 Kürzung jener Mittel gestimmt, aus denen gegen die Vereinbarung zu verstoßen, was ein konventioneller Marschflugkörper Moskau bestreitet. Im Bündnis gibt es frei- und eine ballistische Rakete finanziert wer-

lich unterschiedliche Schätzungen über das / IMAGO ITAR-TASS den sollen, die als Antwort auf die russische Ausmaß der russischen Bedrohung: Gut 60 Russische »Iskander«-Rakete SSC-8 infrage kommen. KLW

Pseudopartisanen Technologie entwickeln.« Dass trotzdem Pentagon- Sechs vom BND Pentagon finanziert Gelder angenommen wurde, habe mit der »Dual-Use-Problematik« zu tun: For- Die Vorbereitung der alten Bundes - deutsche Forschung schungsergebnisse können häufig zivil republik auf einen Partisanenkrieg wie militärisch genutzt werden. So sei es war deutlich bescheidener als bislang Deutsche Wissenschaftseinrichtungen bei einem Projekt um die stabile Strom- bekannt. Es geht um jene Männer, arbeiten in größerem Umfang als bekannt versorgung auf Schiffen gegangen. Nach die sich im Falle eines sowjetischen für das US-Verteidigungsministerium: Auskunft der Hochschule sei das »Grund- Angriffs überrollen lassen und dann im Rund 21,7 Millionen US-Dollar hat das lagenforschung, die auf Schiffe jeglicher besetzten Westdeutschland aktiv wer- Pentagon in den vergangenen Jahren an Art angewendet werden kann«. Außer- den sollten. Nach Untersuchungen des deutsche Universitäten und Forschungs - dem seien nur Daten von zivilen Schiffen Historikers Agilolf Keßelring lag die institute überwiesen. Seit 2008 wurden ausgewertet worden – dem Pentagon Iststärke der entsprechenden Einheiten 261 solcher Zuschüsse bewilligt – von war das 288399 US-Dollar wert. HDA, HIM des Bundesnachrichtendiensts in den 6000-Dollar-Finanzspritzen für Konfe- Sechzigerjahren bei sechs Mann; die renzen bis zum 1,7-Millionen-Dollar-Pro- Sollstärke betrug 135 Soldaten. Laut jekt in der Sprengstoffforschung. Das 3,67 Forschung, finanziert Keßelring hat sich an dieser Größenord- geht aus US-Haushaltsdaten von 2008 bis nung bis zum Ende des Kalten Kriegs 2019 hervor. Größter Einzelempfänger vom US-Militär Deutsche Universitäten wenig geändert. Beim BND galten die ist die Ludwig-Maximilians-Universität mit der höchsten Förderung, sogenannten Stay-behind-Einheiten als München, die vom amerikanischen Ver- in Mio. Dollar unproduktiv. Keßelrings Ergebnisse teidigungsministerium mehr als 3,6 Mil- Quelle: USA Spending widersprechen der verbreiteten Vermu- lionen US-Dollar bekam. 1,28 Millionen tung, es habe einst eine regelrechte US-Dollar erhielt die Rheinisch-West- Geheimarmee für den Partisanenkampf fälische Technische Hochschule (RWTH) 1,28 1,25 gegeben. Zwar hatten die Amerikaner Aachen. Die RWTH fühle sich »nicht nur 0,89 0,82 vor dem Nato-Beitritt der Bundesre - im Sinne der Gesetzgebung der friedli- publik im Jahr 1955 deutsche Einheiten chen Forschung verpflichtet und betreibt für Sabotageeinsätze und Brücken- keine Rüstungsforschung«, verteidigt ein sprengungen aufstellen lassen, aber auch Sprecher die Hochschule. »Sie steht nicht diese erreichten nie Divisionsstärke – zur Verfügung, wenn es darum geht, neue Uni Lübeck RWTH AachenTU Darmstadt TU München und wurden dann aufgelöst. KLW Waffentechnologien und Ähnliches zu LMU München

Gebäude ser Gebäude einen solchen Nachweis lie- ordnung am Dienstsitz Berlin, ergab die Regierung schlampt beim fern. Für Besitzer von Wohngebäuden ist Analyse der DUH, dass sie der selbst auf- ein Energieausweis Pflicht. Die Behörde erlegten Verpflichtung des Bundes nicht Energieverbrauch begründet das etwa damit, dass manche genügen. Um die Energiesparpotenziale Gebäude unter Denkmalschutz stünden, im Gebäudebereich nicht zu vergeuden, Bei der energetischen Sanierung der sodass »keine Pflicht zur Erstellung von müsse »die Bundesregierung den Still- eige nen Gebäude bleibt die Regierung un - Energieausweisen« bestehe, so die Bima stand beenden und jetzt im Klimakabinett ter den selbst gesteckten Zielen. Das trifft gegenüber dem Umwelt-Verein. Liegen- kurzfristig wirkungsvolle Maßnahmen insbesondere auf nachgeordnete Bundes- schaften wie das Eisenbahn-Bundesamt für den Bereich Gebäude auf den Weg behörden zu. Die Deutsche Umwelthilfe seien »der Öffentlichkeit nicht zugäng- bringen«, sagt Constantin Zerger, Bereichs - (DUH) hatte von 14 Verwaltungsbauten lich«, weshalb keine Analyse des Energie- leiter Energie und Klimaschutz bei der den Energieausweis angefordert. Doch die bedarfs notwendig sei. Für die beiden DUH. Er fordert die Veröffentlichung Bundesanstalt für Immobilienaufgaben Gebäude mit Energieausweis, darunter des Energetischen Sanierungsfahrplans (Bima) konnte überhaupt nur für zwei die- das Bundesamt für Bauwesen und Raum- Bundesliegenschaften. GT

12 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 ANZEIGE

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14 E SIGL Nr. 26 /22.6.2019 SPIEGEL DER Komplizen suchen,ringtdiePolitik umAntworten aufdieeskalierende Gewalt. Regierungspräsident Walter Lübcke getötet. DermutmaßlicheTäter: ein Terrorismus Rechtsextremist. Während dieErmittler nachmöglichen Mit einemKopfschuss wird derKasseler CDU- Name undAdresse stehen imTelefonbuch, Spurensicherung amTatort Lübcke wollte bürgernah sein 15

ARMANDO BABANI / EPA-EFE / REX Titel

m Nachhinein wirkt es, als hätte die Lübcke hatte im Herbst 2015, als meh- Schieflagen bestellt ist.« Folgt man dieser Runde, die auf Deutschland aufpas- rere Hunderttausend Schutzsuchende Argumentation, sind die Gräben in diesem I sen soll, eine düstere Vorahnung ge- über die Grenze kamen und überall im Land tief, dann hat das, was in den ver- habt. »Bericht zur Sicherheitslage« Land Notunterkünfte gesucht wurden, auf gangenen Jahren als Enthemmung und stand an erster Stelle auf der Tagesord- einer Bürgerversammlung rechte Pöbler Verrohung beschrieben wurde, ein neues nung der Konferenz der Innenminister im in die Schranken verwiesen. Im Internet Niveau erreicht. Dann muss der Staat neu Kieler Hotel Atlantic. Der Vizechef des wurde er daraufhin zur deutschlandwei- verorten, wo seine Feinde sitzen. Bundesamts für Verfassungsschutz, Sinan ten Hassfigur. »Volksverräter« stand in Tatsächlich hat sich die Eskalation rech- Selen, sprach über die größten Bedrohun- den Kommentarspalten, »Schädel ab- ter Gewalt seit Langem angekündigt. Im gen für das Land. schlagen und in die nächste Jauchegrube Herbst 2015 überlebte die Kölner Oberbür- Es folgten nicht, wie häufig in diesem Zir- kicken«. germeisterin Henriette Reker nur knapp kel, vor allem sorgenvolle Sätze zum Isla- Der Mord an Walter Lübcke ist eine ein Attentat, weitere Gewalttaten folgten. mismus. Selen redete, so berichten Teilneh- Zäsur. Wenn der Verdacht des General- Die Hetze im Netz, die Drohschreiben, mer, sehr ausführlich über die Gefahr, die bundesanwalts zutrifft, war die Tat ein ein- der Hass bei Wahlkampfauftritten, die von Reichsbürgern und Rechtsextremisten zigartiges politisches Attentat. feindselige Stimmung gegen Asylheimbe- ausgehe. Hier schlummere »eine der größ- treiber, gegen Mandatsträger und Beamte, ten Herausforderungen« für die Sicherheits- von der Kanzlerin bis hinunter an die Ba- behörden, sagte der Geheimdienstvize. Brauner Hass sis, das ist eine Seite dieser Entwicklungen. Keine 48 Stunden später sollte sich zei- Auf der anderen wird in Hessen, dem gen, wie groß die Gefahr durch den Rechts- Gewaltorientierte Rechtsextremisten Bundesland, in dem der Mord geschah, extremismus offenbar ist. schon länger gegen Polizisten ermittelt, die Am vergangenen Samstag um zwei Uhr 12700 verdächtigt werden, einer türkischstämmi- nachts nahmen Spezialeinsatzkräfte der 10500 gen Anwältin Drohschreiben geschickt zu Polizei im Kasseler Stadtteil Forstfeld ei- + 21% haben, unterzeichnet mit »NSU 2.0.« In nen Mann unter dem dringenden Tatver- Mecklenburg-Vorpommern werden Poli- dacht fest, dem nordhessischen Regie- 2014 2017 zisten eines Spezialeinsatzkommandos rungspräsidenten Walter Lübcke in den festgenommen, weil sie einem Mitglied Kopf geschossen zu haben. Eine Haut- der sogenannten Prepper-Szene, die sich schuppe auf dem karierten Hemd des To- Registrierte rechte Kriminalität* auf die Apokalypse vorbereitet, Dienst - ten hatte zu dem 45-Jährigen geführt. Wei- 2016 munition überlassen haben sollen. Und tere Indizien belasten ihn. Die Ermittler 23600 die Bundeswehr kämpft mit einer Reihe sind überzeugt, dass Stephan E. an dem rechtsextremer Verdachtsfälle. Dass aus- 2018 Mord beteiligt war. Er schweigt. 2014 20400 gerechnet Bedienstete des Staates verdäch- Derzeit sind die Beamten auf der Suche 17000 tigt werden, heimlich gegen ihn zu agieren, nach eventuellen Komplizen. Sie halten statt ihn zu schützen, ist besonders pikant. es für möglich, dass Stephan E. in der Tat- Kommunalpolitiker, die eine liberale nacht einen Begleiter hatte. Die Rolle einer Flüchtlingspolitik vertreten, müssen damit zweiten Person sei noch unklar, sie könnte rechnen, Zielscheibe nicht nur im Netz, auch nur das Auto gefahren haben. Gewalttaten sondern auch im echten Leben zu werden. Auf seine Nachbarn wirkte Stephan E. insbesondere Körperverletzung und Tötungsdelikte Landratsämter führen Sicherheitskontrol- wie ein braver Familienvater. Von seiner len ein, Polizeibehörden empfehlen Kom- 20-jährigen Vergangenheit in der Neo- 1700 munalpolitikern zu kontrollieren, ob je- naziszene wussten sie angeblich nichts, 1030 1160 mand die Radmuttern gelockert hat, bevor nichts davon, dass er eine Rohrbombe an sie ins Auto steigen. einem Asylbewerberheim zünden wollte 2014 2016 2018 Der Mord an dem Regierungspräsiden- und im Gefängnis einen Migranten mit ten geschieht in der Nacht vom 1. auf den einer Stange blutig geprügelt hatte. *davon über 60% Propagandadelikte; Quellen: BMI, BfV 2. Juni im nordhessischen Wolfhagen- Jahrelang lebte E. unauffällig in einem Istha, 20 Kilometer von Kassel entfernt. Häuschen mit Spitzgiebel, mit Frau und Von der »Weizenkirmes« schallt Musik Kindern. Zuletzt arbeitete er bei einem Es gab in der Geschichte der Bundes - durch die dörflichen Straßen, ein Rummel Hersteller für Bahntechnik, im Schicht- republik immer wieder Terror von rechts, mit Festzelt, hohem Geräuschpegel und dienst. Zurückhaltend soll er gewesen sein, es gab Anschläge auf US-Soldaten, die für ordentlichem Bierverbrauch. angeblich verstand er sich am besten mit die Neonazis »Besatzer« waren, es gab das Der 65 Jahre alte Walter Lübcke sitzt einem iranischen Kollegen. Oktoberfestattentat 1980 mit 13 Toten und am Abend auf der Terrasse seines Hauses Das zweite Leben des Stephan E. sah die NSU-Morde an neun Migranten und am Rande des Ortes. Die Kirmes ist in Hör- anders aus, er führte es im Netz. Dort kon- einer Polizistin von 2000 bis 2007. Aber weite. Lübckes Grundstück grenzt an Wie- sumierte er laut Ermittlern extrem rechte ein tödliches Attentat auf einen Politiker sen, die Terrasse ist einsehbar. Der Regie- Inhalte, angeblich soll er in Foren auch hat, soweit bekannt, bislang kein Rechts- rungspräsident und seine Frau passen an Drohungen verbreitet haben. extremist verübt. diesem Abend auf ihr Enkelkind auf, wäh- Am ersten Juniwochenende folgte der Von einem »Anschlag gegen uns alle, rend der Sohn auf der Kirmes feiert. Ir- verbalen die physische Gewalt. Den tödli- gegen diesen freiheitlichen Staat«, sprach gendwann zieht sich Lübckes Frau mit dem chen Schuss setzte E. nicht im fernen Ber- Innenminister Horst Seehofer (CSU): Kind ins Haus zurück, Lübcke selbst bleibt lin, sondern in seinem Umfeld, in dem klei- »Das ist eine neue Qualität.« noch mit einem Gast auf der Terrasse, es nen Ort Wolfhagen-Istha, wo der 65 Jahre Der Extremismusforscher Florian Hart- wird gelacht, der Besuch ver abschiedet sich alte CDU-Politiker Walter Lübcke wohnte, leb sagt: »Terrorismus spiegelt in extremer zwischen 22.30 und 23 Uhr. ein Verteidiger von Merkels Politik. So zu- Ausformung wider, wie es um das gesell- Was danach passiert, kann die Polizei mindest vermerken es die Ermittler. schaftliche Stimmungsbild und etwaige noch nicht komplett rekonstruieren. Lüb-

16 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 GÖRAN GEHLEN / DPA GÖRAN cke sitzt wohl noch eine Weile im Freien Schützenklub bei Kassel In den Daten der Polizei findet sich Ste- und raucht. Irgendwann erscheint der Tä- Abteilung Bogenschießen, angeblich phan E. gleich mehrmals wieder. Siebenmal ter, die Ermittler halten es für möglich, ohne Zugang zu Feuerwaffen wurden ihm bereits die Fingerabdrücke ge- dass sich Lübcke mit ihm noch unterhält. nommen, einmal seine DNA. Der erste Ein- Um 0.30 Uhr findet der Sohn, der von trag stammt aus dem Jahr 1989, erfasst von der Kirmes zurückkommt, seinen Vater der Polizei in Wiesbaden, Stephan E.s Ge- blutend mit einer Wunde am Kopf auf burtsort. Die Tat: besonders schwerer Dieb- der Terrasse. Er ruft einen befreundeten stahl. E. war damals 15 Jahre alt. Sanitäter, der ebenfalls auf dem Fest war, Über die Jahre kommen weitere Einträ- später kommen weitere Helfer hinzu. ge dazu: »Droht mit und benutzt Messer Ihre Reanimationsversuche scheitern, um sowie Reizgas«, »äußerst gewaltbereit«, 2.35 Uhr wird im Krankenhaus von Wolfs- »bewaffnet«, »politisch motivierter Straf- hagen Lübckes Tod festgestellt. täter«. Dazu notieren die Polizisten: 1,85 Erst in der Klinik bemerken die Ärzte, Meter groß, braune Haare, blaue Augen, dass die Verletzung am Kopf wohl eine näselnde Aussprache, mehrere Narben. Schusswunde ist. Die Obduktion ergibt, Nach allem, was man heute weiß, war dass Lübcke durch den Schuss einer Hand- Stephan E. zwei Jahrzehnte lang ein über- feuerwaffe gestorben ist, abgegeben aus zeugter Rechtsextremer. Immer wieder unmittelbarer Nähe, Kaliber 9 mm, nicht beging er Gewalttaten, wurde mehrmals wie zunächst angenommen ein Kleinkali- verurteilt, saß im Gefängnis. ber. Es ist eine Hinrichtung. Im November 1992, da ist er gerade 19 Zuerst glauben die Ermittler, Hinweise geworden, bringt er auf einer Bahnhofs- auf ein Verbrechen aus persönlichen Moti- toilette in Wiesbaden fast einen Ausländer ven im Umfeld der Familie gefunden zu ha- um. Weil der ihn angeblich sexuell ange- ben. Kurzzeitig wird sogar einer der Sani- macht habe, wie E. später sagte, sticht er

täter vom Tatort festgenommen, aber bald ONLINE SPIEGEL ihm von hinten mit einem Messer in den wieder freigelassen, die Fährte erwies sich Körper, und dann noch mal von vorn. als falsch. Erst eine mehrere Tage später aus- Verdächtiger Stephan E. Ein gutes Jahr später, am Tag vor Hei- gewertete DNA-Spur, gefunden auf Lübckes Immer wieder beging er Gewalttaten, ligabend 1993, will Stephan E. im hessi- Hemd, führt die Ermittler zu Stephan E. wurde mehrfach verurteilt schen Dorf Hohenstein-Steckenroth einen

17 gen die unter Rechtsextremen verhasste Wehrmachtsausstellung richtete, es kam zu Ausschreitungen, wieder mal. Stephan E. gehörte zu einer Gruppe von etwa 500 Neonazis, die aus mehreren Bundes- ländern sowie Dänemark und Schweden angereist waren. Das Amtsgericht verur- teilte ihn zu einer Geldstrafe von 90 Tages- sätzen – wegen Verstoß gegen das Ver- sammlungsgesetz: Zu der Demonstration war E. bewaffnet erschienen. Am 1. Mai 2009 schließlich stürmten 400 »Autonome Nationalisten« in Dort- mund eine Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds, eine friedliche Men- schenmenge. Es flogen Steine, Flaschen, Böller. Landfriedensbruch, entschied spä- ter ein Gericht, vor dem sich Stephan E. verantworten musste. Nach dieser Ver - urteilung wurde es still um ihn. Es kann damit zusammenhängen, dass er inzwi- REUTERS schen Familienvater war. Die Behörden je- denfalls verloren ihn aus dem Auge. Aber Trauerfeier für Lübcke in Kassel »Ein christlicher Patriot« verliert ein Mensch einfach so seinen Hass und seine Gesinnung? Mit Ehefrau und zwei Kindern wohnte Anschlag auf eine Asylbewerberunter- sage, sein früherer Freund Stephan E. habe Stephan E. in einem kleinen Siedlungshaus kunft verüben. Es ist die Hochphase rechts- einen CDU-Politiker ermordet? »Ich finde am östlichen Stadtrand von Kassel. In der extremer Übergriffe nach der Wende, es schlimm, dass ein Familienvater einge- Siedlung hört man das Hintergrundrau- weni ge Monate zuvor haben in Solingen sperrt wird. Es gibt keine Beweise.« schen einer nahen Autobahn, wenn nicht Neonazis das Wohnhaus der Familie Genç In Kassel trafen sich die Rechtsextremen gerade irgendwo ein Rasenmäher dröhnt. angezündet und fünf Menschen ermordet. früher in der Bar Stadt Stockholm am Glaubt man Nachbarn, ist Stephan E. E. bastelt eine Rohrbombe und legt sie Entenanger, genannt Stocki. Dort, so be- in dieser Umgebung kaum aufgefallen. Er in ein Auto, das zwischen zwei Wohncon- richtet ein ehemaliger V-Mann SPIEGEL habe viel an seinem Haus herumgewerkelt, tainern für Flüchtlinge steht. Statt einer TV, habe auch E. häufiger gesessen: »Wenn manchmal an Autos geschraubt, immer Explosion aber entwickelt sich nur ein die von der NPD da waren im Stocki, dann freundlich gegrüßt und sei oft zu verschie- Feuer, die Bewohner können den Brand war er auch da.« denen Zeiten zur Arbeit aufgebrochen. Er gerade noch löschen. Wer die Kneipe betritt, riecht: Zigaret- war Mitglied eines Schützenvereins, Ab- Noch in Untersuchungshaft begeht E. tenqualm, Bier, Schweiß. Am u-förmigen teilung Bogenschießen, angeblich ohne Zu- seine nächste Gewalttat, wieder richtet Tresen mit dem Zapfhahn in der Mitte gang zu Feuerwaffen. sie sich gegen einen Migranten: Er schlägt hocken Männer mittleren Alters vor ihrem Heute ahnt man, dass Stephan E. seine einem Mitgefangenen mit einem abmon- Bierglas, aus der Jukebox dringen Schlager. Ideologie trotz des unauffälligen Lebens tierten Stuhlbein aus Eisen auf den Kopf, Die Betreiberin erkennt Stephan E. gleich nicht abgelegt hat. Es könnte sich bei ihm bis dieser blutet. Er bekommt sechs Jahre auf einem Bild: »Na klar, der war doch mit um einen rechten Schläfer handeln, wie Jugendstrafe. der ganzen Truppe immer hier«, sagt sie. der Verfassungsschutzchef Thomas Hal- Nach der Entlassung aus der Haft taucht Sie sei froh, dass sie die los sei. denwang diese Woche spekulierte. Einer Stephan E. ein in die Kasseler Neonazi- Einmal gab es vor der Kneipe eine De- von denen, die ganz plötzlich wieder auf szene, nach Ansicht von Experten eine der monstration gegen Neonazis. Ein Foto aus Gewaltbereitschaft umschalten. gefährlichsten in Hessen. der Zeit zeigt, wie Stephan E. zu einem 2016 soll Stephan E. der rechtspopulis- Zu seinem Umfeld gehören Männer, die Stuhl greift. Auf seinem Hemd trägt er tischen AfD von seinem Konto bei der Verbindungen zu militanten Gruppen wie einen NPD-Aufkleber. Spardabank Hessen eine Spende von 150 »Combat 18« hatten, auch unter dem Na- Einige Zeit lang war Stephan E. Mitglied Euro überwiesen haben, dazu der Verwen- men »Kampftruppe Adolf Hitler« bekannt. der rechtsextremen Partei, bis sie ihn an- dungszweck »Gott segne euch«. Die Partei Viele ihrer Namen finden sich in Unter- geblich wegen nicht bezahlter Beiträge will sich dazu nicht äußern, Datenschutz. lagen der NSU-Untersuchungsausschüsse. wieder aus ihrer Kartei löschte. Stephan E. soll sich auch in einschlägi- Zum Teil treten sie noch heute offen als E. war überregional aktiv. Im April gen, rechten Foren aufgehalten haben. Rechtsextreme auf. 2003 nahm er, damals 29 Jahre alt, offen- Und vermutlich selbst im Netz gewütet Mike S. steht am vergangenen Mittwoch bar an einem Aufmarsch im schleswig-hol- haben: Wenn die Regierung nicht zurück- in Unterhemd und Jogginghose auf dem steinischen Neumünster teil, der sich ge- trete, gebe es Tote, soll er gepostet haben. Balkon eines gelben Mehrfamilienhauses. Irgendwann scheint der Entschluss ge- Er war mit Stephan E. jahrelang auf De- reift zu sein, dass Lübcke sterben muss. mos unterwegs, oft gab es Krawall. Lübcke wurde zum Ein Mann, den Stephan E. vielleicht als Nun stemmt er sich gegen das Geländer, Stellvertreter für all jene Politiker ansah, schaut in den Hof. Mike S. dreht die Musik Stellvertreter für die er für die vermeintliche Misere des auf, es läuft der Fehrbelliner Reitermarsch: die vermeintliche Landes verantwortlich macht. Aber wa- »Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm rum ausgerechnet der Kasseler Regierungs- wiederhaben.« Was er zu den Vorwürfen Misere im Land. präsident?

18 Titel

Walter Lübcke war kein Scharfmacher, kein Ideologe, kein Politiker, der zwangs- Blut und Bomben läufig ins Visier von Rechtsterroristen ge- Von 1990 bis Juni 2018 nach Angaben des Innenministeriums rät. »Er war ein konservativer, christlicher Todesopfer rechtsextremer Gewalt 83 Todesopfer, andere Quellen nennen jedoch höhere Zahlen. Vor 2001 wurde die Zuordnung von Straftaten zum rechtsextremen Patriot«, sagt der CDU-Bundestagsabge- in Deutschland Milieu nicht einheitlich erfasst. ordnete Michael Brand aus Fulda, der Lübcke nicht nur einen Parteikollegen, September 1980 Juni 2000 sondern einen Freund nennt. »Hätte mir Ein Sprengstoffattentat Der Rechtsextremist Michael Berger jemand gesagt, dass Walter ein Opfer rech- auf dem Münchner erschießt in Dortmund und Waltrop drei ter Gewalt werden würde, ich hätte das Oktoberfest fordert Polizisten und tötet sich anschließend nie für möglich gehalten.« Erst vor ein 13 Tote und 211 Ver- selbst. paar Wochen hatten sie gemeinsam letzte. Die alleinige Handwerker aus der Region getroffen, ein Täterschaft des bei der September 2000 Termin ganz nach Lübckes Geschmack. Explosion ebenfalls Der türkische Blumenhändler Enver Şimşek wird »Obwohl er als Regierungspräsident einen getöteten Neonazis in Nürnberg erschossen, Beginn einer beispiel-

Verwaltungsjob hatte, hielt es ihn nicht Gundolf Köhler wird / DDP IMAGES HARTLMAIER C. losen Mordserie des »Nationalsozialistischen lange hinterm Schreibtisch«, sagt Brand. bis heute vielfach Denkmal für die Opfer des Untergrunds« (NSU). Polizei und Verfassungs- angezweifelt. Oktoberfest-Attentats »Er musste raus zu den Leuten, an die schutz erkennen bis 2011 nicht, dass die Täter Basis.« aus dem rechtsextremen Milieu kommen. Bodenständig im wahrsten Sinne war der Politiker, acht Jahre Zeitsoldat bei der Dezember 1985 Juli 2002 Bundeswehr, Vater von zwei mittlerweile Neonazis machen Jagd auf türkisch- Der 16-jährige Marinus Schöberl erwachsenen Söhnen, Doktor der Wirt- stämmige Bewohner im Hamburger wird in Potzlow (Brandenburg) von schaftswissenschaften und im Neben - Stadtteil Hohenfelde. Als der flüchtende drei jugendlichen Rechtsextremisten erwerb Landwirt an seinem Wohnort in Ramazan Avcı von einem fahrenden zu Tode gequält. Nordhessen. »Zu meinem 30. Geburtstag Auto verletzt wird, prügeln die Skinheads Dezember 2003 hat er mir ein Ferkel geschenkt«, sagt Lo- ihn bewusstlos. Avcı stirbt an den Folgen thar Koch, inzwischen pensionierter Foto- der Attacke. In Heidenheim (Baden-Württemberg) ermordet graf der nordhessischen Lokalzeitung ein Skinhead drei junge Spätaussiedler mit gezielten Messerstichen ins Herz. Die Attacke »HNA«, der den Ermordeten noch aus hatte er zuvor in seiner Clique geübt. Bundeswehrzeiten kennt. Dezember 1990 2009 verpasste Lübcke den Wiederein- Ein von Rechtsextremen angeführter, zumeist Juli 2009 zug in den Landtag und wurde mit dem aus Jugendlichen bestehender Mob attackiert Job des Regierungspräsidenten in Kassel in Eberswalde (Brandenburg) afrikanische Die ägyptische Handballnationalspielerin Marwa Ali El-Sherbini wird im Verhandlungs- entschädigt. Es ist ein Behördenleiter- Migranten. Der aus Angola stammende Amadeu António saal des Landgerichts Dresden vom angeklag- posten, der keinen großen politischen Ge- ten Rechtsradikalen Alex Wiens attackiert. staltungsspielraum bietet. Obwohl er größ- Kiowa stirbt im Krankenhaus an seinen schweren Kopfverletzungen. Er ersticht die als Zeugin gegen ihn geladene tenteils nur die Vorschriften und Gesetze schwangere Frau und verletzt ihren Ehemann aus der Landeshauptstadt Wiesbaden um- schwer. setzte, wurde Lübcke von vielen Bürgern El-Sherbini für die Folgen verantwortlich gemacht: für Dezember 1992 den Bau von Windrädern im Wald, für die Bei einem Brandanschlag auf ihr Wohnhaus Einleitung von Kali-Salzen in die Werra in Mölln (Schleswig-Holstein) sterben drei oder für neue Flüchtlingsunterkünfte. Türkinnen. Im Regierungspräsidium gingen bald ers- te Drohbriefe und derbe Beleidigungen ein, von Windkraftgegnern, von selbst ernann- Mai 1993 ten Reichsbürgern, die Bußgelder nicht be- In Solingen zünden vier junge Männer zahlen wollten, zumeist aber von Gegnern ein von Türken bewohntes Haus an. der Berliner Flüchtlingspolitik. Zeitweise Fünf Menschen sterben in den Flammen. stand Lübcke unter Polizeischutz. MAX BECHERER / STERN / POLARIS / LAIF / STERN MAX BECHERER Er ließ sich davon wenig beeindrucken. Sein Name und die Adresse seines Wohn- November 2011 Februar 1997 hauses am Ortsrand von Wolfhagen-Istha Mit dem Selbstmord der beiden NSU-Haupttäter Der Polizeibeamte Stefan Grage wird stehen im öffentlichen Telefonbuch, be- und der Zerschlagung der Terrorzelle wird das bei einer Kontrolle auf der A 24 in grenzt wird sein Grundstück nur von Ausmaß ihrer Verbrechen offenbar: Ab 2000 Schleswig-Holstein von dem Rechts- einem dünnen Weidezaun, die Einfahrt ist ermordete sie zehn Menschen, verübte 43 extremisten Kay Diesner erschossen. offen. Lübcke wollte bürgernah sein, und Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und das wurde ihm zum Verhängnis. 15 Raubüberfälle. Vermutlich war es nur ein einziger An- lass, der dieses bürgernahe Leben jäh been- Februar 1999 2. Juni 2019 dete, die Winzigkeit von zwei markanten Auf der Flucht vor einer Gruppe Rechts- Walter Lübcke, hessischer CDU-Landtagsabge- Sätzen, geäußert in der hitzigen Atmosphä- radikaler in Guben (Brandenburg) ordneter und Regierungspräsident im Bezirk re einer Bürgerversammlung im Kasseler stürzt der algerische Asylbewerber Farid Kassel, wird zu Hause erschossen. Nachbarort Lohfelden am 14. Oktober 2015. Guendoul in eine Glastür und stirbt an Wegen seines Engagements für Flüchtlinge galt Lübckes Behörde musste damals Platz seinen Schnittverletzungen. Lübcke in der rechten Szene als Hassfigur. für bis zu 14000 Flüchtlinge schaffen, die

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 19 Titel in Nord- und Osthessen verteilt werden Diese wütenden Explosionen erreichen aufgeregt, heißt es, und ihn als »Volksver- sollten, so lautete die Vorgabe der Landes- auch Stephan E. Möglicherweise sieht er räter« bezeichnet. regierung in Wiesbaden. Der Regierungs- sie im YouTube-Video, vielleicht war er so- Es sind vor allem die Kommunalpoliti- präsident reiste selbst in die Orte, in denen gar selbst in der Halle. Die Ermittler halten ker draußen im Land, die seit der Flücht- die Unterkünfte entstehen sollten, und das für denkbar und überprüfen es derzeit. lingskrise im Feuer von Anfeindungen ste- stellte sich bei Versammlungen den Fragen Schließlich ging es um eine Erstaufnahme- hen. Bürgermeister oder Landräte, die sich der Bürger. Oft ging es um organisatori- einrichtung für bis zu 800 Menschen, die wie Lübcke für Flüchtlinge eingesetzt ha- sche Anliegen, manch einer äußerte auch einen guten Kilometer von seinem Haus ben oder rechte Krakeeler in die Schran- mal Ängste, meist war die Atmosphäre ge- entfernt eingerichtet werden sollte. Und ken verwiesen haben. spannt, aber sachlich. das Bürgerhaus liegt auch nur rund zwei Die Kölner Oberbürgermeisterin Hen- Nur im Lohfelder Bürgerhaus ging es Kilometer Luftlinie vom Wohnhaus des riette Reker, 62, der ein Rechtsextremist turbulent zu. 800 Bürger waren gekom- Verdächtigen entfernt. im Oktober 2015 im Wahlkampf ein Mes- men, kurz vor Beginn der Veranstaltung ser in den Hals rammte, überlebte nur seien noch etwa 15 Personen hinzugesto- knapp. Der Täter, ein arbeitsloser Anstrei- ßen, die ihm größtenteils als Anhänger der cher, der in den Neunzigern zur rechtsex- rechten nordhessischen Szene bekannt Finstere Gedanken tremen Szene in gehörte, hatte ein seien, erinnert sich der Kasseler Fotograf Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen, extra großes Jagdmesser ausgewählt, um, Kurt Heldmann. Unter ihnen der Organi- Anteil der Befragten in Prozent wie er sagte, »ein Zeichen« gegen die libe- sator des örtlichen Pegida-Ablegers, der Chauvinismus rale Flüchtlingspolitik zu setzen. Als die sich in die erste Reihe setzte. Beispiel: »Das oberste Ziel der deutschen Politik Stimmen ausgezählt wurden, lag Reker Von diesen 15 Leuten seien im Verlauf sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung noch im Koma. Der Angreifer hatte ihre des Abends immer wieder provozierende zu verschaffen, die ihm zusteht.« Luftröhre fast komplett durchtrennt und Zwischenrufe gekommen, sagt Heldmann: 13 einen Brustwirbel gespalten. »Hau ab«, »Scheiß-Land«, »Scheiß-Regie- Am Mittwochfrüh erhielt Reker erneut rung«, solche Töne. Lübcke sei zunächst Fremdenfeindlichkeit eine Morddrohung. Der Text der ziemlich ruhig geblieben, später indes spürbar ge- Beispiel: »Die Ausländer kommen nur hierher, wirr formulierten Mail bezieht sich auf den um unseren Sozialstaat auszunutzen.« nervt gewesen. erschossenen Walter Lübcke und faselt In einem Video, das den Abend festhielt, 9 von einer »Phase bevorstehender Säube- ist zu sehen, wie Lübcke, der evangelische rungen«, die mit dem Regierungspräsiden- Christdemokrat, die Kirche lobt. Er spricht Verharmlosung des Nationalsozialismus ten eingeleitet worden sei, »viele weitere« Beispiel: »Der Nationalsozialismus von Werten und dass es sich lohne, in die- hatte auch seine guten Seiten.« würden folgen, darunter Reker und der sem Land zu leben. Er steht allein hinter Bürgermeister von Altena, Andreas Holl- einem Stehpult, neben sich eine helle Pro- 3 stein. Auch eine finanzielle Forderung jektionswand, vor sich ein Laptop und die wird erhoben, beziffert mit 100 Millionen rechten Störer aus der ersten Reihe. Man Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur Bitcoins. Unterschrieben mit »Sieg Heil«. Beispiel: »Im nationalen Interesse ist unter bestimmten müsse für Werte eintreten, sagt Lübcke noch. Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform.« Die Staatsanwaltschaft wollte sich nicht Dann folgt der Satz: »Und wer diese Werte zu einer Bewertung des Schreibens äußern. nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land 3 Reker sagt am Telefon, dies sei nicht die verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.« erste Drohung, die sie seit dem Anschlag Das sei die Freiheit eines jeden Deutschen. Antisemitismus erhalten habe, sie sei deshalb »nicht beun- Beispiel: »Auch heute noch Im Saal wird es laut, es ertönen Buh-Rufe, ist der Einfluss der Juden zu groß.« ruhigt«. Sie lese die Drohbriefe nicht, ge- »Pfui« und »Verschwinde!«. nauso wenig wie die hasserfüllten Inter- In den sozialen Medien werden Sätze 3 net-Postings gegen sie. Der Mord an Lüb- wie diese zu verbalen Ikonen. Herausge- cke sei eine »ungeheuerliche Gewalttat«, rissen aus jeglichem Kontext, verpackt als Sozialdarwinismus ein »Anschlag neuer Qualität«. Offenbar Beispiel: »Es gibt wertvolles und unwertes Leben.« kurze Videosequenz, verbreiten sie sich gebe es mehr an rechter Gewalt, »als wir rasch, werden millionenfach aufgerufen, 2 es für möglich hielten«. vor allem in der rechten Szene. 17 Wörter, Was sie beunruhige, sei, »dass sich et- Quelle: Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung; vier Sekunden können da tödlich sein. 1890 Befragte deutscher Staatsangehörigkeit ab 18 Jahren; was in unserer Gesellschaft verändert hat, Unter dem Video stehen bald wüste Be- September 2018 bis Februar 2019 dass sie verroht und Menschen bereit sind, schimpfungen und unverhohlene Aufrufe Grenzen zu überschreiten«. Am Tag ihrer zum Mord: »Einfach an der nächsten La- Amtseinführung als Oberbürgermeisterin terne aufhängen, Schild um den Hals: Hier Findet sich hier das Motiv für die Tat? habe die Schriftstellerin Herta Müller ihr hängt ein Verräter am Deutschen Volk. Der War es der Unmut über die verhasste sinngemäß gesagt: Erst gehen die Hass- nächste wird sich das zweimal überlegen.« Flüchtlingsunterkunft in der Nachbar- parolen spazieren, dann die Messer. »Das Auch die AfD verbreitet Lübckes Äuße- schaft, zusammen mit Lübckes Satz? trifft es ziemlich gut«, sagt Reker. rungen weiter, ihr Facebook-Post zu sei- Es klingt plausibel, erklärt aber nicht, Andreas Hollstein, 56, Bürgermeister im nen Sätzen wird einer der erfolgreicheren. warum der mutmaßliche Täter noch mehr westfälischen Altena, holte mehr Flücht- Die Privatadresse des Regierungspräsiden- als dreieinhalb Jahre wartete, bevor er zu- linge in seine Stadt, als er hätte aufnehmen ten kursiert bald in den Kommentaren des schlug. müssen, im Mai 2017 bekam er den Natio- rassistischen Blogs »PI-News«. Im Februar Stephan E. macht bislang keine Aussa- nalen Integrationspreis der Bundeskanzle- tritt die frühere CDU-Bundestagsabgeord- gen. Die Ermittler wissen allerdings, dass rin. Ein halbes Jahr später setzte ihm ein nete und heutige Vorsitzende der AfD-na- er den Auftritt in Lohfelden nicht nur Mann in einem Dönerimbiss ein Messer hen Desiderius-Erasmus-Stiftung, Erika »sehr genau wahrgenommen«, sondern ge- an den Hals und drohte: »Ich stech dich Steinbach, eine neue Welle der Wut los genüber Gleichgesinnten auch »kommen- ab. Mich lässt du verdursten, aber holst mit Lübckes dreieinhalb Jahre alten Aus- tiert und bewertet« hat. Er habe sich in 200 Ausländer in die Stadt.« Hollstein kam sagen. einem Chat »furchtbar« über Lübcke mit einer Schnittwunde davon, der Imbiss-

20 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 betreiber und dessen Sohn halfen ihm, den Der Mann, der Reker fast getötet hätte, 2015 gewonnen zu haben. Wochenlang Mann niederzuringen. wurde wegen versuchten Mordes zu 14 hatte die NPD mit Aufmärschen gegen Plä- Der Mordfall Lübcke hat die Bilder des Jahren Haft verurteilt. Hollsteins Angrei- ne mobilisiert, 40 Asylbewerber in dem Anschlags wieder in ihm hochgespült, be- fer kam dagegen mit einer Bewährungs- Ort unterzubringen. Schließlich trat der richtet Hollstein am Telefon. Er denke an strafe wegen gefährlicher Körperverlet- Bürgermeister zurück – nicht aus Angst, die Familie des getöteten Regierungsprä- zung davon, er bestritt fremdenfeindliche wie er sagte, sondern aus Rücksicht auf sidenten, »denn ich weiß, was eine solche Motive. Der Richter bewertete die Attacke seine Kinder. Zuletzt wollte die NPD bis Tat in einer Familie anrichtet, selbst wenn nicht als politischen Anschlag, sondern als vor sein Privathaus ziehen – und das Land- man nur verletzt wurde so wie ich«. Auch »Kurzschlussreaktion«. Hollstein findet ratsamt dies nicht verhindern. Hollstein hat erneut Drohungen erhalten, das Urteil viel zu milde. Wenn Politiker Der Landrat des Burgenlandkreises, sie ließen sich alle dem »extremen rechten oder öffentliche Bedienstete wegen ihres Götz Ulrich, 49, sprang ein und beschloss, Rand« zuordnen. Amtes angegriffen würden, müsse sich das die Flüchtlingsunterkunft bezugsfertig zu Kommt nun also die Angst zurück? strafverschärfend auswirken, fordert er. machen. Bevor die ersten Bewohner ein- »Wenn ich Angst hätte«, sagt der CDU- Für manche Hasstäter reicht schon das ziehen konnten, stand die Unterkunft in Mann, »könnte ich meinen Job nicht mehr Bekenntnis zu den Werten der freiheit- Flammen – und im Briefkasten des Land- machen.« Deshalb sei er gegen Personen- lichen Demokratie, um einen Feldzug zu rats lagen rechtsradikale Drohbriefe mit schutz. »Ich muss doch mit meinen Bür- starten. Volker Poß, Bürgermeister der Naziparolen. Mehrere Monate lang stand gern ohne Hindernisse in Kontakt kom- Verbandsgemeinde Kandel in der Pfalz, der Landrat unter Polizeischutz. men können.« Außerdem könne man hatte bloß dazu aufgerufen, nicht alle Asyl- Es ist Mittwoch, der Landrat kommt nicht Zehntausende kommunale Mandats- bewerber unter Generalverdacht zu stel- gerade aus einer Mitarbeiterversamm- träger schützen. len, als Ende 2017 dort die 15-jährige Mia lung. Als Konsequenz aus dem Attentat Der Mord an Lübcke wird die Gefah- von ihrem Ex-Freund, einem Asylbewer- bei Kassel soll die Sicherheit seines reneinschätzung für sogenannte Schutz- ber aus Afghanistan, erstochen wurde. Da- Amts verstärkt werden. Künftig sollen, personen trotzdem verändern, je nach nach drohten Unbekannte, Poß’ Gesicht so die Erwägung, Besucher Sicherheits- Anlass werden die Maßnahmen ver- »zu Konfetti« zu schnitzeln oder seine schleusen passieren. Bei öffentlichen schärft. »Solche Taten können immer Er- Familie »abzuschlachten«, manchmal Sitzungen sollen die Taschen kontrol - eignisse für Nachahmer sein«, sagt ein stand seine Privatadresse dabei. liert werden. An Rücktritt habe er nie hochrangiger Beamter. »Die gilt es zu ver- Im sachsen-anhaltinischen Tröglitz gedacht, sagt Ulrich: »Das wäre ein Tri- hindern.« schienen die Rechtsextremen im März umph für die rechte Szene. Als Vertreter SASCHA RHEKER / VISUM SASCHA

Neonazis in Mainz 2009 »Der Staat muss dagegenhalten«

21 im Herbst 2015 in einem vertraulichen Papier. Anfang dieses Jahres warnte das BKA dann erneut vor »schwersten Gewaltstraf- taten«, die von rechtsextremen Einzel- tätern oder Kleinstgruppen begangen werden könnten. Als »Zielauswahl« wur- den »Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland« ausgemacht. Die Behörden waren sich der aufstei- genden Gefahr also durchaus bewusst. Und doch fühlt sich nach der Festnahme von Stephan E. manch langjähriger Ver- fassungsschützer an die Zeit erinnert, als die Terrortaten des NSU aufflogen. Da- mals wurde schnell offenbar, was der Ver- fassungsschutz alles nicht wusste. Nach der NSU-Entdeckung habe es vie- le Lippenbekenntnisse gegeben, was sich in den Ämtern alles ändern müsse, sagt ein ehemaliger hochrangiger Beamter. FEDERICO GAMBARINI / DPA GAMBARINI FEDERICO »Gefolgt ist bis heute nicht viel.« In der Analyse seien die für Rechtsextremismus Tatort des Anschlags auf OB-Kandidatin Reker in Köln 2015 zuständigen Abteilungen bis heute »Wachsam, aber nicht ängstlich« schwach. »Wer forscht systematisch nach, welche Rechtsextremisten Zugang zu le- des Staats muss man dagegenhalten zu köpfen. Im Januar bekamen er und eine galen Waffen haben, etwa über Schützen- können.« Anwältin aus Kreuzberg eine E-Mail, darin vereine oder Reservistenverbände? Wer Auch Politiker im Bundestag erleben Be- stand: »Zu Eurem Mord rufen wir nun kümmert sich um Neonazis, die einen drohung mittlerweile als Alltag. Karamba auch auf«, dazu ein Link zu einer Internet- Haftbefehl haben, aber untergetaucht Diaby zum Beispiel, Anfang der Neunziger- seite. Lindh ist seitdem in regelmäßigem sind?« Kaum einer. jahre wurde der SPD-Bundestagsabgeord- Kontakt mit Polizei und Staatsschutz. Besonders der hessische Verfassungs- nete von Fremden mit der Faust nach einer Die Eskalation kam nicht unerwartet. schutz sieht sich nach der Festnahme un- Busfahrt grundlos ins Gesicht geschlagen. Es gab Zeichen, viele sogar, kleine und angenehmen Fragen zu Stephan E. ausge- Heute ist der 57-Jährige mit schwarzer Haut- auch große. In vertraulichen Papieren der setzt. »Wir hatten ihn einfach nicht mehr farbe Integrationsbeauftragter seiner Frak- Sicherheitsbehörden aus den vergangenen auf dem Schirm«, sagt ein Beamter. Ab - tion und sitzt seit 2013 im Bundestag. »Ich Jahren lässt sich detailliert nachlesen, wie getaucht aus der aktiven Szene, keine De- erhalte in der Woche drei bis vier Beleidi- in der Flüchtlingskrise zunächst die Zahl mos, keine Schlägereien. Von den angeb- gungen und Bedrohungen«, sagt er. »In mei- der Angriffe auf Asylbewerber und Flücht- lichen Hassbotschaften im Internet bekam ner Post befand sich auch mal ein Schreiben lingsunterkünfte in die Höhe schoss – von offenbar niemand etwas mit. mit einem gezeichneten Galgenmenschen.« sechs Brandstiftungen im Jahr 2014 auf 94 Dabei hatte Hessen nach dem NSU- Wenn er mit dem Regionalzug in seine Hei- im darauffolgenden. Skandal beteuert, die rechte Szene genau mat in Sachsen-Anhalt fährt, fühlt sich der Den Angriffen auf Flüchtlinge folgten im Blick zu behalten. In den vergangenen promovierte Chemiker nicht sicher. Er Attacken auf Politiker. Derzeit ermittelt drei Jahren verdoppelte der Verfassungs- wuchs im Senegal auf, kam dann zum Stu- der Generalbundesanwalt gegen die schutz die Zahl der Mitarbeiter. Genützt dieren nach Halle, wo er bis heute lebt. mutmaßliche Terrorgruppe »Revolution hat es nichts, was auch an den Speicherfris- »Seit dem Einzug der AfD in den Bun- Chemnitz«, deren vermutete Gründer in ten im Nachrichtenverbund liegen könnte. destag haben die verbalen Attacken auf Untersuchungshaft sitzen, zu Recht wie Nadis heißt das Gedächtnis der Dienste mich zugenommen«, sagt Diaby. Er denkt der Bundesgerichtshof im Mai bestätigt in Bund und Ländern, eine Abkürzung für nun auch über Personenschutz für sich hat. Wie aus sichergestellten Chat-Nach- »Nachrichtendienstliches Informationssys- selbst nach. richten hervorgeht, träumten die Neonazis tem« – ein Datenverbund, in dem sämtli- , SPD-Bundestagsabgeord- von »effektiven Schlägen gegen Linkspa- che Hinweise zu Personen und Ereignissen neter aus , wird ebenfalls seit rasiten, Merkel-Zombies, Mediendiktatur gespeichert werden. Monaten bedroht. In der Flüchtlingskrise und deren Sklaven«. Doch selbst Tage nach dem Attentat war Lindh eine der vernehm- Die Sicherheitsbehörden liegen die meisten Informationen, die in barsten Stimmen bei den Sozi- warnen intern schon länger Hessen über Stephan E. über viele Jahre aldemokraten, sein Engage- vor einer »besonderen Gefähr- gesammelt wurden, dem Verfassungs- ment für eine liberale Flücht- dung«, die von »entschlosse- schutz nicht vor. Nadis hat eine gesetzlich lingspolitik fiel selbst jenseits 517 nen, irrational handelnden eingebaute Amnesie: Nach fünf Jahren seines Wahlkreises auf. Bis heu- rechts motivierte oder fanatisierten Einzeltä- muss der Datensatz zu einer Person ge- te ist er massiven Anfeindun- Straftaten 2018 tern« ausgehe, »die keine löscht werden, sofern keine neuen Er- gen ausgesetzt. Vor einigen gegen Politiker enge Anbindung an extremis- kenntnisse in dem Zeitraum hinzuge- Monaten erhielt er einen sie- tische Gruppen haben«. Die- kommen sind. Die alten Akten über ihn benseitigen handschriftlichen Quelle: BKA ser »Tätertypus« agiere mitun- existieren zwar noch, aber nur in einem Brief, in dem ihm der Autor ter spontan und gehe gegen besonders gesicherten Container, den der davon drohte, ihn an einem Baum zu 5 Ziele in seiner näheren Um- Datenschutzbeauftragte erst noch freige- erhängen oder per Guillotine Gewalttaten gebung vor. So steht es schon ben muss.

22 Titel

»Wer nicht in Nadis gespeichert ist, fin- Feste Strukturen werden durch lose Ver- WerteUnion prüft nun seinen Ausschluss. det nicht statt«, sagt ein hochrangiger bindungen ersetzt. Immerhin. Sicherheitsbeamter, »und genau das ist das »Wir sollten im digitalen Zeitalter unser Für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Problem.« Es müsse eine geregelte Nach- Verständnis von Netzwerken neu definie- zeigt der Mord, »dass der sorge für Personen geben, die von der ge- ren«, sagt die Innenausschussvorsitzende braune Sumpf von Reichsbürgern, Identi- walttätigen Radikalität in die harmlose (CSU). Es brauche heute tären, rechten Schulungszentren und Ideo- Normalität hineingleiten, sagt der Sicher- keine Treffen mehr, um Strukturen zu bil- logen bis tief hinein in die AfD ein Klima heitsexperte. den. »Unsere Instrumente wie Vereinsver- erzeugt hat, in dem jetzt gezielt die Ver- Auch Stephan E. hat das hessische Lan- bote greifen zu kurz, wenn sich Extremis- treter der Demokratie die Opfer werden«. desamt für Verfassungsschutz über viele ten über WhatsApp-Gruppen oder Inter- Zu Zeiten des linksextremen RAF-Terrors Jahre lang mehr schlecht als recht beob- netforen organisieren.« habe der demokratische Staat seine Zähne achtet. Sein Name stand auf einer vertrau- Seine Behörde sei noch nicht gut genug, gezeigt, sagt Gabriel. »Und heute? Wo ist lichen Liste besonders gefährlicher und räumte Verfassungsschutzchef Halden- die Sonderkonferenz der Innenminister? gewalttätiger Rechsextremisten. Der Lin- wang dieser Tage ein. »Angesichts der Di- Wann werden die Reichsbürger entwaffnet ken-Abgeordnete Hermann Schaus hat das mension der Bedrohung durch den Rechts- und die Schulungszentren in den Herren- Papier bei seinen Recherchen in vertrauli- extremismus sind wir noch nicht in der häusern ausgehoben, in denen die Ideo - chen Akten des Verfassungsschutzamts ge- Lage zu sagen, wir beherrschen diese logen sich als geistige Brandstifter auf - funden. Als er die zuständige Sachbearbei- Bedrohung vollständig.« Ein erstaunlich führen?« terin des Amtes in einer nicht öffentlichen ehrlicher Satz. Zugleich keiner, der die Bundesfamilienministerin Franziska Ausschusssitzung danach fragte, »konnte Menschen beruhigt. Giffey sieht die Staatsschützer in der sie nichts Konkretes mit dem Namen an- »Ich fürchte, es wird weitere solche Pflicht. »Was unter der Oberfläche pas- fangen«, erinnert sich Schaus. Attentate geben«, sagt Miro Dittrich. Seit siert – ob sich gefährliche Netzwerke bil- Dass die Verfassungsschützer auf dem drei Jahren durchforstet er im Auftrag der den oder Einzelne radikalisieren –, das rechten Auge so schlecht sehen, hat auch Amadeu Antonio Stiftung Foren und Kom- müssen vor allem die Sicherheitsbehörden damit zu tun, dass nach den Anschlägen mentarspalten im Netz nach hetzerischen, intensiver ergründen.« Sicht- und hörbare von 9/11 alle Kräfte auf den Kampf gegen extremistischen und illegalen Inhalten. Signale besonders im Netz müssten erns- den islamistischen Terror gesetzt wurden, ter genommen werde, fordert die SPD- auf Kosten anderer Abteilungen. »Davon Politikerin. haben sich die meisten Ämter bis heute Potenzielle Täter Der nordrhein-westfälische Ministerprä- nicht erholt«, sagt ein ehemaliger Verfas- sident Armin Laschet (CDU) assistiert: sungsschützer. Zwar würden die Behörden tummeln »Noch nie in den letzten 70 Jahren unserer inzwischen mit neuen Stellen bedacht, sich in anonymen Republik war die Demokratie von rechts doch Quantität ersetze keine Qualität. Bis herausgefordert wie in diesen Tagen.« Verbesserungen bemerkbar seien, würden Internetforen. Zwei von denen, die Politiker wie Ar- wohl noch Jahre vergehen. min Laschet vermutlich meinen, stehen Außerdem hatte das Bundesamt für Ver- am Mittwoch auf einem Hinterhof, 20 Ki- fassungsschutz mit Hans-Georg Maaßen Allein rund 200 Konten des Messengers lometer von Kassel entfernt. Sie tragen lange einen Präsidenten, der nach Ansicht Telegram hat er im Blick. Lonsdale-Shirts und Bärte, ihre Augen ver- einiger Mitarbeiter das Phänomen des Es brauche keinen Anführer mehr, keine stecken sie hinter Sonnenbrillen. Sie ken- Rechtsextremismus völlig unterschätzte, ob hierarchisch operierenden Organisationen nen Stephan E. aus ihrer gemeinsamen bewusst oder unbewusst. »Natürlich hätte oder Zellen für einen Terroranschlag, sagt Zeit in der Szene. man sich viel früher systematisch die Ver- Dittrich. »Diese Leute gehen los und han- Er glaube nicht, sagt einer von ihnen, zahnung und den Einfluss von Rechtsex- deln dennoch nicht alleine, sie wissen, es dass Stephan E. das gewesen sei, er habe tremisten mit der und auf die AfD ansehen gibt eine globale Community, die sie auf- doch Familie. Sie wollen ihm jetzt Pakete müssen«, sagt der ehemalige Verfassungs- fordert und anfeuert und sie nach ihrer Tat schicken, ihn vielleicht mal besuchen im schützer. Erst unter dem neuen Präsidenten sogar als Helden feiert und verklärt.« Knast. Er brauche jetzt Unterstützung. Thomas Haldenwang wurde ein sogenann- Das sei auch im Fall des Lübcke-Mordes Und was ist mit Walter Lübcke, dem Er- ter Prüfvorgang für die AfD angelegt. geschehen: Auf Instagram feierten Neo- mordeten? »Na ja«, sagt der Mann, »das Das wurde auch höchste Zeit. Denn die nazis das mutmaßliche Attentat – und rie- war halt keine schöne Aktion, was er da Gefahr ist viel schwerer fassbar geworden, fen zu weiteren auf. gesagt hat.« die Grenzen sind fließend, der rechtsradi- So laut der Widerhall aus den Foren, so Matthias Bartsch, Felix Bohr, kale Rand fasert aus. Es braucht keine Ka- leise der aus Berlin. Dafür, dass erstmals Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, meradschaften mehr, auch Parteien wie seit 1945 ein Politiker mutmaßlich aus Annette Großbongardt, Roman Höfner, die rechtsextreme NPD spielen kaum noch rechtsextremen Motiven hingerichtet wur- Max Holscher, Anna-Lena Jaensch, eine Rolle. Potenzielle Täter tummeln sich de, blieb die Reaktion aus dem politischen Martin Knobbe, Tim Kummert, in anonymen Internetforen oder Chaträu- Zentrum tagelang verhalten. Die Kanzle- Roman Lehberger, Peter Maxwill, men für Gamer, wo sie Amokläufer und rin sprach von »bedrückenden Nachrich- Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Henrik Neumann, Miriam Olbrisch, Terroristen verherrlichen. ten«, Vizekanzler Olaf Scholz mahnte, Sven Röbel, Marcel Rosenbach, Viele treibe dabei ein »diffuses Wider- »dass wir als Demokraten zusammenste- Fidelius Schmid, standsmotiv«, das sich etwa aus Verschwö- hen«. Nichts von der Wucht, mit der 2000 Wolf Wiedmann-Schmidt rungstheorien oder rechtsextremistischen Kanzler Gerhard Schröder nach einem Untergangsszenarien speise, so analysierte Brandanschlag auf eine Düsseldorfer Sy- Erklär-Animation jüngst der Verfassungsschutz. »Entschei- nagoge zum »Aufstand der Anständigen« Die rechte Szene in dend für Radikalisierungsprozesse« sei das aufgerufen hatte. Stattdessen beschwerte Deutschland Netz. Was früher die Szenekneipe war, ist sich ein CDU-Politiker der konservativen spiegel.de/sp262019rechts heute die Parallelwelt des Internets mit WerteUnion nach der Festnahme in Kas- oder in der App DER SPIEGEL ihren Echokammern und Wutverstärkern. sel über die »Hetze gegen rechts«. Die

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 23 ANZEIGE

GRAND PRIX VON MONACO: Mit dem Team Alfa Romeo Racing ist die Traditionsmarke zurück in der Formel 1 Zurück in der Königsklasse Schon der erste Formel-1-Weltmeister aller Zeiten fuhr einen Alfa Romeo. Seit dieser Saison feiern die Fans das Comeback der Traditionsmarke. Deren Kompetenz in Sachen Motorsporttechnologie kommt neben dem Rennstall auch den Serienfahrzeugen zugute.

ie gilt als die größte technische He- in die Anfänge des vorigen Jahrhunderts. rausforderung im Rennsport: die FORMEL-1-TERMINE 2019 Schon in den 1920er-Jahren erzielte Alfa S Formel 1. Jetzt ist Alfa Romeo nach Romeo unzählige Siege und war auch von 34 Jahren Pause als Titelsponsor für das Sau- Die noch ausstehenden Rennen 2019 Anbeginn in der Formel 1 aktiv. Die ersten ber-Team zurück in der Königsklasse. In den fGroßer Preis von Frankreich: 23. Juni beiden Weltmeistertitel der Klasse holten Cockpits der beiden C38-Boliden sitzen Kimi Piloten mit einem Alfa Romeo: 1950 siegte fGroßer Preis von Österreich: 30. Juni Räikkönen und Antonio Giovinazzi. „Alfa Giuseppe Farina am Steuer des Tipo 158 „Al- f Romeo Racing ist ein neuer Name mit einer Großer Preis von Großbritannien: 14. Juli fetta“, ein Jahr später der Argentinier Juan großen Historie in der Formel 1“, sagt Mike fGroßer Preis von Deutschland: 28. Juli Manuel Fangio mit dem Nachfolgemodell. Manley, Chef des Mutterkonzerns Fiat Chrys- fGroßer Preis von Ungarn: 4. August In den 1950er-Jahren zog sich Alfa Romeo ler Automobiles. Das Comeback dürfte als fGroßer Preis von Belgien: 1. September zwischenzeitlich aus der Formel 1 zurück, weiterer Meilenstein in die lange Motor- blieb aber in anderen Klassen aktiv. So ge- fGroßer Preis von Italien: 8. September sport-Geschichte von Alfa Romeo eingehen. wann die Marke seit den 1960er-Jahren zahl- f Großer Preis von Singapur: 22. September reiche Titel in der Tourenwagen-Europameis- Sieg bei der Premiere fGroßer Preis von Russland: 29. September terschaft. Und 1993 holte sie als erste Auf den Boliden des Rennstalls prangt das fGroßer Preis von Japan: 13. Oktober ausländische Marke den Titel bei der Deut- legendäre vierblättrige Kleeblatt (Quadri- fGroßer Preis von Mexiko: 27. Oktober schen Tourenwagenmeisterschaft (DTM). foglio). Es gehört zu den symbolträchtigsten fGroßer Preis von USA: 3. November Zeichen im Rennsport und ziert bei Alfa Von der Piste in Serie f Romeo bereits seit 1923 die Rennwagen und Großer Preis von Brasilien: 17. November Seit seiner Gründung erprobt Alfa Romeo die leistungsstärksten Serienfahrzeuge. Alfa fGroßer Preis von VAE: 1. Dezember neue Technologien im Motorsport, um sie Romeos Motorsporthistorie reicht zurück bis anschließend in Serienfahrzeuge zu über- ANZEIGE

AUTOGRAMM-JÄGER: Alfa Romeo-Werksfahrer Kimi Räikkönen wird von chinesischen Fans umlagert

PERFEKTER EINSTAND: Das erste Rennen in der Formel-1-Geschichte gewann 1950 Giuseppe Farina mit einem Tipo 158 „Alfetta“

BEIM 1.000. RENNEN DER FORMEL 1: Der Große Preis von China 2019 endete für Alfa Romeo Racing mit Rang 8 und zwei WM-Punkten tragen. Diese Rennsport-DNA hat auch die von Motor, Fahrwerk und Bremse bestehen Motorsport-Gene trägt auch der 2,9-Li- Ingenieure bei der Entwicklung der Limousi- aus dem Leichtmetall. Auch Kohlefaser ter-Turbo-Sechszylinder in sich. Das 375 kW ne Giulia und des SUV Stelvio geleitet. Sie kommt zum Einsatz. Aus dem ultraleichten (510 PS) starke Triebwerk wird von Ferrari setzten konsequent auf eine perfekte Ge- Hightech-Material werden in der Formel 1 gebaut. Kombiniert ist der potente V6 mit wichtsverteilung und ein geringes Leistungs- die kompletten Monocoque-Chassis gefer- einer 8-Stufen-Automatik, die im Fahrmodus gewicht. Letzteres beträgt beim Stelvio tigt. Alfa Romeo setzt Kohlefaser für die RACE Gangwechsel in nur 150 Millisekun- Quadrifoglio gerade mal 3,6 Kilogramm pro Kardanwelle ein. Professionelle Rennsport- den ermöglicht, während der Motor maxi- PS. Diesen Spitzenwert im Segment errei- technologie sitzt zudem an den Rädern: Op- male Performance zum Beispiel für eine chen die Konstrukteure durch den Einsatz tional lassen sich Bremsscheiben aus Kohle- schnelle Runde auf einer Rennstrecke zur von Aluminium. faser-Keramik-Verbundstoff ordern. Das Verfügung stellt. Schließlich brachen sowohl Türen, Kotfl ügel, Motorhaube und Kof- senkt das Gewicht noch einmal um rund die Giulia als auch der Stelvio kurz nach ihrer ferraumklappe sowie viele Komponenten 17 Kilogramm. Markteinführung den Rekord in ihrer jewei- ligen Klasse auf der legendären Nordschleife des Nürburgrings. ZURÜCK IN DER FORMEL 1: Mit dem Modell C 38 will Alfa „Alfi sti“ feiern die Rückkehr Romeo Racing in dieser Saison möglichst viele Erfolge einfahren Wenn jetzt auch wieder die Formel-1-Profi s mit den Boliden von Alfa Romeo ihre Runden drehen, dürfte das nicht nur die Herzen der traditionellen „Alfi sti“ höher schlagen lassen, sondern auch eine neue Generation von Mo- torsportfans begeistern.

Mehr Informationen unter www.alfaromeo.de

Kraftstoffverbrauch (l/100 km) nach RL 80/1268/EWG für den Alfa Romeo Stelvio Quadrifoglio: innerorts 12,3; außerorts 8,4; kombiniert 9,8. CO2-Emission (g/km): kombiniert 227. Deutschland

Baerbock: Für mich ist das keine Frage des Alters, sondern von Lebenssituatio- »Wer nicht spenden will, nen. Mit 18 hatte die Organspende eine andere Bedeutung für mich als jetzt, wo ich zwei Kinder habe. Und wenn man 84 ist, denkt man vielleicht kurz vor dem Tod kann widersprechen« noch mal anders darüber nach. SPIEGEL: Wie hat sich Ihre Haltung durch die Kinder verändert? Baerbock: Bevor ich eine eigene Familie hatte, habe ich viel rationaler draufge- schaut. Für mich war vollkommen klar, dass ich alle Organe für andere Menschen »So einfach spende, weil ich dann ja eh tot bin. Jetzt beträfe diese Entscheidung auch meine zwei kleinen Kinder, und ich habe daher noch mal viel intensiver darüber nachge- ist das nicht« dacht, ob es für sie eine Bedeutung hätte, was mit meinem Körper, mit meinem Her- zen nach dem Tod passiert. Im Ergebnis steht dasselbe auf dem Ausweis, dass ich alle Organe spende. Aber die Entschei- SPIEGEL-Streitgespräch CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn dung ist bewusster. SPIEGEL: Was sagen denn Ihre Angehöri- und Grünenchefin Annalena Baerbock wollen die Zahl gen, Herr Spahn? der Organspenden erhöhen – auf sehr unterschiedliche Weise. Spahn: Mein Mann und ich haben da - rüber gesprochen und haben beide ei- nen Spenderausweis. Mit meinen Eltern habe ich über den Tod ehrlicherweise s kann nicht sein, dass täglich drei dass man zu Hause starb und der oder die noch nicht viel geredet. Das will ich nach- Menschen auf der Warteliste für Tote zum Abschiednehmen noch ein, zwei holen. E Spenderorgane sterben, statistisch Tage in der Wohnung blieb. Heute haben SPIEGEL: Auf der politischen Tagesord- gesehen, weil sich kein neues Herz wir das Sterben ausgelagert. Das geht so nung steht das Thema aber schon lange. oder keine Niere für sie findet. In dem weit, dass Eltern ihre Kinder zum Teil be- Baerbock: Zu Recht. Bei aller grundsätz- Wunsch, die Zahl der Organspenden zu wusst davor schützen, überhaupt mit dem lichen Bereitschaft: Es muss uns gelingen, erhöhen, sind sich die Deutschen einig. Al- Tod konfrontiert zu werden. Ich finde das dass mehr Menschen den nächsten Schritt lerdings gilt das nicht für den Weg dorthin. falsch. Das Sterben gehört zum Leben dazu. gehen und sich tatsächlich erklären. Aber In der nächsten Woche berät der Bun- Baerbock: Ich habe mich schon früh mit Jens Spahns Vorschlag zur Widerspruchs- destag über zwei fraktionsübergreifende dem Tod beschäftigt, das hängt auch mit regelung ist dafür aus meiner Sicht kontra- Gesetzentwürfe zur Organspende. Eine Todesfällen und schweren Krankheiten in produktiv. Wir brauchen eine Lösung, die Gruppe um Bundesgesundheitsminister meiner Familie zusammen. Mit meinen bei so einer persönlichen Frage die sehr Jens Spahn, 39 (CDU), plädiert für die so- Kindern erlebe ich das noch einmal aufs individuelle Situation der Menschen im genannte Widerspruchslösung. Menschen Neue, in einer anderen Rolle, weil sie Blick hat. Deshalb haben wir fraktions- würden nach dem Hirntod automatisch als durch den Tod der Urgroßeltern ebenfalls übergreifend einen anderen Vorschlag Spender gelten, wenn sie zu Lebzeiten früh mit diesem Thema in Berührung ka- erarbeitet, um die tatsächlichen Spender- nicht widersprochen haben und ihre An- men. Da merkt man, dass Kinder auf eine zahlen zu erhöhen. gehörigen keinen anderen Willen kennen. unverkrampftere Art mit Leben und Tod Spahn: Für mich ist Organspende schon Der Gruppe von Abgeordneten um umgehen, wenn man darüber spricht. länger ein Thema. Vor sieben Jahren habe Grünenchefin Annalena Baerbock, 38, SPIEGEL: Ist das Verdrängen von Tod ein ich sogar im Bundestag am heutigen Recht geht Spahns Vorstoß zu weit. Ihr Entwurf Grund dafür, dass es Menschen offenbar mitgearbeitet. Damals war ich noch gegen sieht vor, dass die Bürgerämter allen Men- schwerfällt, sich mit dem Thema Organ- die Widerspruchslösung, weil ich dachte, schen Infomaterial aushändigen, wenn die spende zu beschäftigen? dass wir mehr Transplantationen durch einen Ausweis beantragen. In ein offiziel- Spahn: Es ist gar nicht so schwer. Ich erle- bessere Aufklärung erreichen könnten. les Onlineregister trägt man ein, ob man be oft auf Veranstaltungen, dass bei dem Aber da lag ich falsch. Organspender sein möchte oder nicht. Thema plötzlich Ruhe im Saal ist. Da SPIEGEL: Woran machen Sie das fest? Im SPIEGEL-Hauptstadtbüro trafen sich herrscht höchste Aufmerksamkeit. Gleich- Spahn: An der Zahl der Organspenden, Spahn und Baerbock zum Gespräch. wohl gibt es eine Diskrepanz zwischen der die von Tiefstand zu Tiefstand sank. All abstrakt hohen Bereitschaft, sich mit die- unsere Kampagnen haben nicht geholfen, SPIEGEL: Frau Baerbock, Herr Spahn, fällt ser Frage auseinanderzusetzen, und der einen weiteren Rückgang der Organspen- es Ihnen leicht, über den Tod zu sprechen? Bereitschaft, einen Spenderausweis auszu- den zu verhindern. Dabei sterben jeden Spahn: Nein, leicht nicht. Ich habe zum füllen. In Umfragen sagen über 80 Prozent Tag Patienten, die vergebens auf Spender- ersten Mal einen Toten gesehen, als ich 30 der Befragten, dass sie Organspende rich- organe warten. Und die, denen geholfen war: meine Großmutter. Da ist mir bewusst tig und wichtig finden. Aber zu wenige zie- wird, sind unendlich dankbar. Kürzlich geworden, wie sehr wir den Tod aus der hen daraus konkrete Konsequenzen. beim Tag der Organspende in Kiel kam Familie, aber auch generell aus der Gesell- SPIEGEL: Sie sind beide relativ jung, Jahr- ein neunjähriger Junge auf mich zugehüpft schaft verbannt haben. Meine Eltern erzäh- gang 1980. Warum treibt ausgerechnet Sie und erzählte mir, dass er zwei Jahre zuvor len, wie selbstverständlich es früher war, das Thema so um? eine neue Lunge transplantiert bekommen

26 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 hatte. Seither gehe er wieder zu Werder Bremen ins Stadion. Baerbock: Stimmt: Rund 9400 schwer- kranke Menschen warten auf ein Organ, hoffen auf ein neues Leben, wie der kleine Junge. Aber dafür müssen wir an der rich- tigen Stelle ansetzen. Die entscheidende Stellschraube ist, dass in den Krankenhäu- sern mehr Spender identifiziert werden und dass wir das Vertrauen ins Spenden- system stärken. Das Selbstbestimmungs- recht über den eigenen Körper ist ein sehr hohes Gut. Spahn: Die Widerspruchsregelung stellt das Selbstbestimmungsrecht ja nicht infra- ge, jeder kann frei entscheiden, ob er Spen- der sein will oder nicht. Wir zwingen nie- manden zur Organspende. Wir fordern nur ein, sich Gedanken zu machen und sich zu entscheiden. Baerbock: Wer nicht aktiv widerspricht, wäre nach eurem Vorschlag automatisch Spenderin oder Spender. Aufgrund unse- rer Geschichte gibt es in Deutschland eine besondere Verpflichtung, dass der Staat nicht unverhältnismäßig in die individuel- len Rechte eingreift, vor allem in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht am eigenen Leben in Artikel 1 und 2 unse- rer Verfassung. Spahn: Wer nicht spenden will, kann wi- dersprechen, auch mit einem Zettel in der Hosentasche. Ganz einfach. Baerbock: So einfach ist das nicht. Unser gesellschaftliches Zusammenleben fußt da- rauf, dass man ein Zustimmungsrecht hat, also gut informiert ist und bewusst einwil- ligen kann. Man nennt das auch Opt-in. Beim Recht am eigenen Bild etwa muss ich zustimmen, dass ich als normale Per- son fotografiert und veröffentlicht werde. Nun schlagt ihr vor, dass ich bei der sehr sensiblen Frage, ob mein Körper unver- sehrt bleibt oder meine Organe entnom- men werden, nicht mehr aktiv zustimmen muss, sondern automatisch als Spenderin gelte, wenn ich nicht widerspreche – nach dem Prinzip des Opt-out. Ja, das halte ich für einen unverhältnismäßigen Eingriff, gerade wenn es mildere Mittel gibt. Eben weil die Organspende so wichtig ist, muss die Lösung ja auch vor dem Verfassungs- gericht Bestand haben. Spahn: Unser Vorschlag beschränkt das Selbstbestimmungsrecht in keiner Weise. Er sieht vor, dass jeder Bürger dreimal in- nerhalb von sechs Monaten angeschrieben und über die Widerspruchslösung infor- miert wird. Er kann dann jederzeit wider- sprechen. Baerbock: Was ist mit den Menschen, die – aus was für Gründen auch immer – dazu nicht in der Lage sind? Millionen Menschen sind funktionale Analphabeten, die euren Brief nicht verstehen können. Abgeordnete Baerbock, Spahn Wir haben Menschen, die keine feste

ANDREAS CHUDOWSKI / DER SPIEGEL CHUDOWSKI ANDREAS Wohnanschrift haben, Obdachlose, was ist

27 mit denen? Mein Verständnis vom Selbst- gern eine Entscheidung abzuverlangen. Ich bestimmungsrecht ist, dass ein Eingriff in komme zu dem Ergebnis: ja. Und Annalena die Grundrechte mit den mildesten Mitteln Baerbock kommt zu dem Ergebnis: nein. passiert, die möglich sind. Wir schlagen Baerbock: Auch ich will, dass wir mehr deshalb vor, dass die Menschen regel- Leben retten. Aber wir müssen ehrlich mäßig nach ihrer Spendenbereitschaft sein. Auch mit der Widerspruchslösung gefragt werden und sich jederzeit online würde man nicht automatisch so viele Or- registrieren können. Der Unterschied ist, gane transplantieren, wie Menschen auf dass man bei unserem Vorschlag aktiv zu- ein Organ warten. Nur ein sehr geringer stimmt und nicht automatisch Spender ist. / DER SPIEGEL CHUDOWSKI ANDREAS Anteil aller Verstorbenen kommt über- Spahn: Moment einmal: Ein Arzt wird in Baerbock, Spahn, haupt als Spender infrage – unabhängig der Praxis nie die Organe eines Obdach- SPIEGEL-Redakteurinnen* davon, ob sie für oder gegen die Organ- losen oder Analphabeten transplantieren, »Es geht nicht ums Gewinnen« spende waren. Oft ist eine postmortale Or- der keine Angehörigen hat und wo die ganspende gar nicht möglich, denn nur Lage unklar ist. Das Argument ist konstru- Spahn: Und wenn nicht, dann passiert noch durchblutete und funktionsfähige Or- iert. Gleichwohl, das gestehe ich zu, ist die nichts. Euer Vorschlag verändert im wah- gane von Hirntoten können überhaupt Widerspruchslösung ein Eingriff in die ren Leben nichts. Ich stelle mir gerade vor, transplantiert werden. Freiheitsrechte. Unser Vorschlag ist aber wie sich die Papierkörbe auf dem Weg raus SPIEGEL: Die Unsicherheit vieler Men- keine Pflicht zur Organabgabe, wie fälsch- aus dem Rathaus mit leeren Organspende - schen hängt möglicherweise damit zusam- lich behauptet wird, sondern eine Pflicht, formularen füllen. men, dass sie dem Hirntodkonzept miss- sich zu entscheiden. Baerbock: Zugleich wollen wir ja, dass trauen. Für Laien ist das schwer zu begrei- SPIEGEL: Auch das ist eine Pflicht. Ärzte ihre Patienten zur Organspende be- fen: Angehörige sehen einen Menschen, Spahn: Ich denke, das Schicksal von raten und das, anders als bisher, als kas- dessen Brustkorb sich noch hebt und senkt. vielen Tausend Menschen rechtfertigt senärztliche Leistung abrechnen können. Spahn: Ein Hirntoter ist kein Sterbender, diese Verpflichtung. Zumal die Wahr- Spahn: Das ist eine gute Idee. Ich habe sondern verstorben. Das muss man so scheinlichkeit, selbst einmal eine Organ- nichts dagegen, dass Ärzte regelmäßig in- deutlich sagen. In dem Moment, in dem spende zu brauchen, deutlich höher ist formieren. Wir wollen im Rahmen der Wi- man die Maschinen abstellt, würde sich als die, Organspender zu sein. Jeder von derspruchslösung ja auch weitere Aufklä- nach kurzer Zeit nichts mehr bewegen, uns sollte sich die Frage stellen, was er für rung. Aber ich bezweifle, dass das allein auch der Brustkorb nicht. Warum hält man sich, seine Kinder, seine Familie wünschen genug bringt, um die Transplantationszah- die Maschinen am Laufen? Weil so noch würde. len wesentlich zu erhöhen. Nicht umsonst die Möglichkeit besteht, anderen Men- Baerbock: Genau dieses Ziel teile ich. Man gibt es in 20 von 28 EU-Ländern die Wi- schen mit einer Organspende zu helfen. kann die Spendenbereitschaft aber anders derspruchslösung. Natürlich ist es für die Angehörigen un- erhöhen. Die überwiegende Mehrheit der Baerbock: Mit sehr unterschiedlichen Er- glaublich schwer, einen Körper zu sehen, Bevölkerung ist – wie gesagt – bereit zu fahrungen. In manchen Ländern nahm die der scheinbar noch atmet, und gleichzeitig spenden. Deswegen schlagen wir vor, dass Spendenbereitschaft ab, nachdem die Wi- zu akzeptieren, dass der Mensch tot ist. Bürgerinnen und Bürger, wenn sie ohne- derspruchslösung eingeführt wurde. Deswegen müssen wir über öffentliche hin bei öffentlichen Behörden sind, aktiv SPIEGEL: Kann man bei der Widerspruchs- Stellen wie die Bundeszentrale für gesund- und wiederkehrend gefragt werden und lösung überhaupt von einer freiwilligen heitliche Aufklärung mehr Informationen sich dann dort oder zu Hause in das Regis- Spende reden? Man setzt damit einen über den Hirntod bereitstellen, die auch ter eintragen können. Standard für erwünschtes Verhalten. Kri- beim Googeln ganz oben auftauchen – an- Spahn: Das geht an der Lebenswirklich- tiker werten das als moralischen Druck. stelle von Verschwörungstheorien. keit in deutschen Amtsstuben vorbei. Wir Spahn: Der Nationale Ethikrat hat jeden- SPIEGEL: Lässt sich mit einem rationalen können doch nicht vom Beamten auf falls 2007 so eine Lösung vorgeschlagen. Instrumentarium ein emotionales Thema einem überfüllten Bürgeramt erwarten, Es ist am Ende eine Abwägungsfrage, da wie Sterben und Tod überhaupt erklären? dass er nebenbei noch eine Beratung zur gibt es kein Schwarz und kein Weiß. Es geht Spahn: Wir müssen definitiv mehr tun, als Organspende durchführt. darum, ob man es angesichts der Situation, Briefe zu verschicken. Ein kluger, informa- Baerbock: Er berät nicht. Er weist jeden in der wir sind, für vertretbar hält, den Bür- tiver Film wäre eine Idee. Bilder lösen darauf hin, dass man sich in das Organ- Emotionen aus, die ein Schreiben niemals spenderegister eintragen kann. schaffen könnte. Wir müssen erklären, Spahn: Das ist im Grunde kein Unter- Letzte Gabe dass zwei Fachärzte, die mit der Trans- schied zur jetzigen Regelung. Schon heute Organspenden in Deutschland 9697 plantation später nichts zu tun haben, un- steht im Gesetz, dass etwa Ausweisstellen benötigte abhängig voneinander den Hirntod fest- Broschüren zur Organspende ausliegen ha- Organe stellen. Sie weisen Schritt für Schritt nach, ben sollen. 4205 laut Warteliste, dass der Tote nicht mehr auf Reize reagiert. Baerbock: Ende 2018 Unser Vorschlag ist ein aktives gespendete Da werden Tests angewendet, die medizi- Zugehen auf die Menschen. Kein Faltblatt. Organe nisch anerkannt sind und ein eindeutiges Spahn: Wie soll das gehen? Ergebnis haben müssen. Es gibt da keine Baerbock: Ganz einfach: Ich komme zum 3113 Grauzone. Gerade in Zeiten von Fake Bürgeramt, bespreche mein eigentliches News setze ich auf Argumente. Anliegen. Am Ende des Gesprächs sagt 2594 Baerbock: Der Tod, ebenso wie das Leben die Mitarbeiterin: Sie können sich jetzt 1217 selbst, steckt immer voller Emotionen, Spender oder wenn Sie Ihren Ausweis abholen, hier auch bei der Organspende ist das so. Den- digital oder auch zu Hause als Organspen- 955 ken Sie nur mal an die Mutter, die jeden der eintragen. Und sie gibt einem dafür ohne Lebendspenden, Quelle: DSO 797 Tag auf eine Lunge für ihr sterbenskrankes alle Informationen mit. So erreicht man jeden Bürger in unserem Land. 2010 2012 2014 2016 2018 * Cornelia Schmergal und Christiane Hoffmann.

28 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Deutschland IN DER SPIEGEL-APP

Kind hofft. Denken Sie auf der anderen SPIEGEL: Sie sind beide religiös. Spielt das Seite an den Ehemann, der vom schreckli- beim Thema Organspende eine Rolle? chen Hirntod seiner Frau erfährt und sie Baerbock: Für mich nicht. Ich bin ohnehin nicht gehen lassen will. Das sind alles eher aus Gründen der gesellschaftlichen schwer zu ertragende Situationen, und es Solidarität in der Kirche und weniger aus ist kaum möglich, rational zu entscheiden – religiösen. und es muss trotzdem entschieden werden. Spahn: Ich bin durch und durch katholisch Daher bin ich froh, dass wir im Herbst ge- aufgewachsen, vom Kindergarten bis zum meinsam im Bundestag beschlossen haben, bischöflichen Gymnasium. Das gibt mir dass wir Ärzte in Krankenhäusern endlich Halt und Haltung, aber keine Anleitung freistellen, damit sie Angehörigen in dieser für konkrete Politik. sensiblen Situation erklären können, was SPIEGEL: Auch nicht für so ein existenziel- der Hirntod bedeutet. les Thema wie Organspende? SPIEGEL: Es gibt bei jeder Organspende Spahn: Nein. Wer mit seiner Religion zu diesen heiklen Moment, in dem ein Arzt der einen wahren Antwort kommt, der den Angehörigen sagen muss, dass der wird schnell fundamentalistisch. Für mich Mensch, den sie lieben, tot ist, dass er aber persönlich ist Organspende eine Frage der möglicherweise sein Herz spenden könnte. Nächstenliebe. Wie verändert das den Abschied? SPIEGEL: Irgendwie scheint es uns, dass Spahn: Ich glaube, dass es die Angehöri- Sie hier in vertauschten Rollen sitzen. Herr gen entlastet, wenn Menschen, die keine Spahn, Sie kommen aus der liberal-kon- Organspender sein wollen, das zu Lebzei- servativen Ecke. Frau Baerbock, als Grüne ten mit einem Nein erklären. Aber zur stammen Sie aus einer Partei, die wenig Wahrheit gehört auch, dass wir um schwie- Hemmungen vor staatlichen Eingriffen rige Situationen nicht herumkommen wer- hat – etwa beim Klimaschutz. Bei der Or- den, wenn wir mehr Organspenden wol- ganspende aber ist Ihre Argumentation je- len. Deswegen brauchen wir Ärzte in den weils genau umgekehrt. Kliniken, die Zeit dafür haben und beson- Spahn: Für mich ist es liberal-konservativ, ders ausgebildet sind. Freiheit nicht nur als meine eigene zu de- Baerbock: Auch deswegen ist es so wich- finieren und mich nicht nur darum zu küm- tig, dass wir das Thema Organspende viel mern, was ich selbst mir wünsche. Freiheit breiter öffentlich diskutieren. Wenn sich heißt auch, Verantwortung zu überneh- der Verstorbene zu Lebzeiten erklärt hat, men. Dazu gehört, sich mit dem Thema dann weiß man, was sein Wille war. Dann Organspende auseinanderzusetzen. So un- muss sich eine Mutter, deren Tochter einen terschiedlich sind unsere Ansätze deswe- tödlichen Autounfall hatte, nicht fragen: gen gar nicht: Wir gehen unterschiedliche Mein Gott, war mein Kind jetzt eigentlich Wege, aber die Verantwortung für andere Deutschland für oder gegen die Organspende? Und was sehen wir beide. soll ich tun? Baerbock: Der Kern von Politik ist immer, schwarz-weiß SPIEGEL: Ist denn eine Organspende für zwischen gesellschaftlicher Verantwortung die Angehörigen immer eine Zumutung? und individueller Freiheit abzuwägen. Für Städte sind steingewordene Flickentep - Spahn: Sie kann auch Trost sein. Ich höre mich ist das Bereichernde an dieser De- piche: Bauvorschriften, Kriegsschäden und nicht selten von Angehörigen, die sagen, so batte, dass sie so über die Parteigrenzen Grundstücksspekulationen prägen eine hatte der Tod wenigstens noch einen Sinn – hinausgeht. Stadt. Wer verstehen will, wie all das zu- nämlich, dass er anderen das Weiterleben SPIEGEL: Hält denn die Legislaturperiode sammenhängt, findet die Antworten ermöglicht hat. Wir haben das Datenschutz- so lange, dass Sie Ihre Pläne überhaupt in sogenannten Schwarzplänen, aufs recht so geändert, dass die Empfänger eines noch umsetzen können? Wesentliche reduzierten Luftaufnahmen in Spenderherzes den Angehörigen des Spen- Spahn: Kurze Antwort: ja. Schwarz-Weiß. Ein SPIEGEL-Team hat die ders schriftlich danken dürfen. Ich kenne SPIEGEL: Und die lange Antwort? selbst ein Ehepaar, das nach dem Tod des Spahn: Auch ja. Der Bundestag wird in Schwarzpläne von 36 Städten und Siedlun- Sohnes Ja zur Organspende gesagt hat. Er erster Lesung in der nächsten Woche be- gen in Deutschland analysiert. Sie erzählen hatte Medizin studiert, sie sind davon aus- raten, im Herbst könnte das Parlament von Bausünden und Fehlkalkulationen. Aber gegangen, dass er es so gewollt hätte. Die endgültig über die beiden Vorschläge ab- sie zeigen auch, wo Stadtentwicklungs - beiden berichten mir, wie wichtig es für sie stimmen. konzepte heute gut funktionieren – und wie war, einen persönlichen Dankesbrief der SPIEGEL: Und im Zweifel würden Sie, die Stadt der Zukunft aussehen könnte. Organempfänger erhalten zu haben. Sie ge- Herr Spahn, das Thema in einem grün- hen zu jährlichen Treffen mit den Angehö- schwarzen Kabinett unter Kanzler Ha- Sehen Sie die Graphic Story im digitalen rigen von anderen Spendern. Das hilft ih- beck oder Kanzlerin Baerbock voran- SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. nen. Manche fragen sich ein Leben lang, ob treiben? sie womöglich falsch entschieden haben. Spahn: Ich würde das Thema auch dann Baerbock: Das sehe ich genauso. Bei all vorantreiben, wenn sich der Bundestag für der Schwierigkeit und der Trauer, die im die Entscheidungslösung ausspricht. Es Tod mitschwingt, eint uns ja auch, dass geht darum, mit Organspenden Leben zu wir es nicht beim Status quo belassen wol- retten. Nicht ums Gewinnen. len und Menschen möglicherweise sterben, SPIEGEL: Frau Baerbock, Herr Spahn, wir weil wir uns diesem Problem nicht gestellt danken Ihnen für dieses Gespräch. haben. JETZT DIGITAL LESEN

29 Deutschland Mann für gewisse Stunden Parteien Armin Laschet hat viele politische Kämpfe verloren. Trotzdem wird der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen als möglicher Kanzlerkandidat der Union gehandelt. Von Ralf Neukirch

rmin Laschet kann sagen, was er lierer aus, wieder einmal. Als Angela Mer- will. Sie legen es immer gegen ihn kel im vergangenen Oktober erklärt hatte, A aus. Neulich hat er bloß Annegret sie werde nicht wieder als Parteichefin an- Kramp-Karrenbauer zitiert: Die treten, waren andere schneller als er. CDU werde sich der Frage der Kanzler- Friedrich Merz ließ via »Bild«-Zeitung kandidatur Ende 2020 widmen. Schon verbreiten, dass er für den CDU-Vorsitz hieß es wieder, er wolle selbst Kanzler- kandidieren werde. Gesundheitsminister kandidat werden. Was soll man dagegen Jens Spahn erklärte im Parteivorstand, machen? dass er sich ebenfalls bewerbe. Beide ge- Laschet, Ministerpräsident von Nord- hören zum Landesverband NRW. Laschet rhein-Westfalen, sitzt in der Vertretung sei- war überrumpelt. Eine Niederlage gegen nes Landes bei der EU in Brüssel. Gerade einen Kandidaten aus seinem Land hätte hat sein Kabinett getagt, in wenigen ihn politisch beschädigt. Er verzichtete auf Minuten wird er das Sommerfest eröffnen. eine Kandidatur. Er trägt sein Hemd offen und wirkt ent- Dass er jetzt als aussichtsreicher Kandi- spannt. Falls ihm die Missverständnisse dat gilt, sagt viel aus über den Zustand der zu schaffen machen, merkt man es ihm Partei. Kramp-Karrenbauer hat in den ver- nicht an. gangenen Wochen so viele Fehler gemacht, Es war ja nicht das erste Mal. Als dass offen über ihre Eignung debattiert Kramp-Karrenbauer wegen einer unglück- wird. Laschets Aufstieg ist ein Hinweis lichen Äußerung zur Meinungsfreiheit im darauf, wie ratlos die CDU und ihre Füh- Internet in Kritik geriet, sagte Laschet: rung sind. »Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut.« Wie- Er ist aber auch ein Beleg für die Hart- CDU-Vize Laschet: Nicht mit Wucht, sondern der hieß es, er gehe auf Distanz zur Par- näckigkeit, mit der Laschet seine politische teichefin. Karriere betrieben hat. Kramp-Karren- Dabei fiel der Satz auf einer Veranstal- bauer hat ihr Amt als Ministerpräsidentin noch ein paar Schritte Richtung Bahnhof tung der Deutschen Welle. Soll er sich da aufgegeben, um sich ganz auf die Partei mit. nicht zur Meinungsfreiheit äußern? Das zu konzentrieren. Laschet ist nie einen Laschet ist in Aachen groß geworden, wäre gar nicht gegangen. Nun hat er am ähnlich radikalen Weg gegangen. hier kennen ihn die Leute. Einige grüßen selben Tag auf Twitter die Sätze nachge- Sein Aufstieg vollzog sich unspektaku- ihn, aber Aufsehen erregt er nicht. Auf die schoben: »70 Jahre alt und doch wie für lär. Die großen politischen Schlachten ver- Aura, die manchmal mit dem Amt kommt, YouTube formuliert. Das Grundgesetz lor er meist, aber er gab nicht auf. Wenn wartet er bislang vergebens. Er wirkt wie schützt unsere Meinungsfreiheit – in allen es drauf ankam, war er da. Laschet kam ein freundlicher Gymnasialdirektor, nicht Medien.« Das wäre wohl nicht unbedingt nicht mit Wucht, sondern schleichend zur wie der Regierungschef eines Bundeslandes, nötig gewesen. Aber will ihm jemand Macht. das mehr Einwohner hat als die fünf ost- widersprechen? Die Frage ist: Kann man auf diese Art deutschen Länder und Berlin zusammen. Nach einem Gespräch mit Laschet Kanzler werden? Man kann es auch positiv formulieren. nimmt man den Eindruck mit: Der arme Ein warmer Frühlingsabend in Aachen. Laschet ist unprätentiös und freundlich ge- Kerl kann nichts dafür, dass er auf einmal Das Diner am Vorabend der Karlspreis- blieben, das Wichtigtuerische mancher als Kanzlerkandidat im Gespräch ist. verleihung ist zu Ende, Laschets Dienst- Amtskollegen geht ihm ab. Seine Leib- »Ich mache meinen Job sehr gerne und wagen wartet am Rande des Marktplatzes wächter sieht man nicht, als er durch die bin glücklich, wenn ich ihn noch viele auf ihn. Laschet lässt sich Zeit, er geht Stadt spaziert. Der große Auftritt passt Jahre machen kann«, sagt er. Dass ihn nicht zu ihm, und er ist klug genug, das zu einmal eine andere politische Aufgabe wissen. reizen könnte, schließt er nicht ausdrück- Wenn die Grünen der Als 33-Jähriger zog Laschet zum ersten lich aus. Hauptgegner sind, dann Mal für seine Heimatstadt in den Bundes- In der Krise, in der sich die CDU befin- tag ein. Was der Beginn einer großen Lauf- det, ist Laschet einer der wenigen Gewin- wäre Laschet der bahn sein sollte, endete schnell. Nach vier ner. Dabei sah er vor Kurzem wie ein Ver- naheliegende Kandidat. Jahren flog er aus dem Parlament.

30 Er habe nie daran gedacht aufzuhören, sagt er. »Ich habe immer gedacht, so ist Politik. Niederlagen gehören dazu. Das kannst du manchmal gar nicht beeinflus- sen.« Wenn die anderen dann weg waren, wie Röttgen nach der verlorenen Land- tagswahl 2012, dann war Laschet immer noch da. Und plötzlich, im Juni 2017, stieg er zum Ministerpräsidenten auf, weil die SPD in ihrem Stammland abgewirtschaftet hatte. Es war ein Triumph, über den sich in den eigenen Reihen nicht alle freuten. Für seine innerparteilichen Gegner ist die Art, wie Laschet nach oben gekommen ist, ein Makel. »Wenn er wirklich Ministerpräsi- dent wird, dann hat Nathanael ganze Ar- beit geleistet«, sagte Spahn kurz vor der Landtagswahl. Nathanael Liminski war damals Büro- leiter Laschets, heute ist er sein Staatskanz- leichef. Allein hätte Laschet das nicht ge- schafft, sollten Spahns Worte suggerieren. Aber kein Politiker schafft den Aufstieg al- lein. Es ist keine Schwäche, sich mit guten Leuten zu umgeben, sondern eine Stärke. Die Halle 32 in Gummersbach ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Laschet kommt zu spät, aber die Zuhörer nehmen ihm das nicht übel. Wer Nordrhein-West- falen für die CDU erobert, darf bei seinen Parteifreunden mit Nachsicht rechnen. Eigentlich geht es um die Europawahl, aber in Laschets Rede geht es um mehr. Es geht um den Kurs der Partei und um die Rolle, die einer wie Laschet spielen könnte. Laschet erzählt den Zuhörern, wie ihm vor der Landtagswahl viele geraten hätten, seine Linie zu ändern. »Ihr dürft nicht so MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL MARKUS in der Mitte reden«, hätten Parteifreunde schleichend zur Macht ihm erzählt. »Du musst aggressiver wer- den.« Das habe man ihm noch wenige Tage vor der Wahl empfohlen. Das war umso bitterer, weil die meisten wurden eine wichtige Stütze für Angela Wer die Aggressiven sind, braucht La- der politischen Freunde, mit denen er die Merkel, aus ihren Reihen kamen Minister, schet nicht zu erwähnen, das verstehen Partei verändern wollte, ihr Mandat ver- zwei CDU-Generalsekretäre, ein Kanzler- die Leute im Saal. Jens Spahn, der mitten teidigen konnten. Norbert Röttgen und amtschef. im Landtagswahlkampf eine Debatte über Hermann Gröhe, die mit ihm zusammen Laschets Karriere verlief dagegen holp- ein Islamgesetz angestoßen hatte, zum gro- ins Parlament eingezogen waren, gehörten rig. Er wurde 1999 Europaabgeordneter. ßen Ärger des Spitzenkandidaten. Und ebenso dazu wie und Peter Sechs Jahre später holte ihn der nordrhein- Friedrich Merz, der intern keinen Hehl da- Hintze, die schon vier Jahre lang im Bun- westfälische Ministerpräsident Jürgen raus macht, dass er Laschet nicht zutraut, destag gesessen hatten. Rüttgers als ersten deutschen Integrations- die CDU wieder für konservative Wähler Sie alle waren Mitglieder im Leichlinger minister ins Kabinett. Sein Einsatz für attraktiv zu machen. Kreis, einer losen Gruppe rheinischer Migranten trug ihm in den eigenen Reihen Laschet wirbt nicht nur für seine Linie, CDU-Politiker, die ihre Partei moderni- den Spitznamen »Türken-Armin« ein. Es er wirbt auch für einen bestimmten Typ sieren wollten. Die Gruppe hieß so, weil war nicht nur liebevoll gemeint. Nach Politiker – den eigenen. Es ist der Typus sie bei Waffeln und heißen Kirschen einer Legislaturperiode war auch das des ruhigen, zurückhaltenden Politikers. im Wohnzimmer von Herbert Reul, dem Ministeramt perdu. Es ist das Gegenstück zu den charismati- heutigen Düsseldorfer Innenminister, in Es ging nichts voran. Laschet wollte schen Anführern, die weltweit in Mode zu Leichlingen im Bergischen Land gegrün- Fraktionschef im Landtag werden, aber er sein scheinen, Selbstdarstellern wie Do- det wurde. unterlag knapp dem Sozialpolitiker Karl- nald Trump in den USA und Boris John- Aus dem Leichlinger Kreis kamen die Josef Laumann. Auch mit dem Landesvor- son in Großbritannien oder, auf liberaler Mitglieder der sogenannten Pizza-Con- sitz klappte es nicht. Die CDU-Mitglieder Seite, Emmanuel Macron in Frankreich. nection in Bonn, der ersten schwarz- entschieden sich in einer Urabstimmung Dass Laschet mit seiner Art überhaupt grünen Gesprächsrunde des Bundestags, für seinen alten Freund Röttgen, damals eine Chance hat, zeigt, wie schnell sich das lange bevor eine solche Konstellation Umweltminister in Berlin. Laschet war der, politische Klima ändern kann. Vor einem politisch denkbar schien. Die Leichlinger der nichts abbekam. Jahr schien auch in der Union der Wunsch

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 31 Deutschland nach einem traditionellen Politikertypus Es wirkt glaubwürdig, wenn er nach der chen, wo unsere Antworten sind. Wir scho- groß zu sein, einem Mann, der auch pola- Ermordung des hessischen CDU-Politikers nen die Grünen im Moment zu sehr.« risieren kann und enttäuschte Konservati- Walter Lübcke sagt: »Den Ton unserer Ge- Wen die Union als Kanzlerkandidat in ve von der AfD zurückholt. Die Partei sellschaft dürfen wir nicht den Spaltern, das Rennen schickt, wenn die Große Koa- suchte nach einem emotionalen Gegen- Hetzern und Demagogen überlassen.« Er lition platzt, ist offen. Merz hat in dieser modell zum Pragmatismus Angela Merkels. hat bereits nach den Ausschreitungen von Woche offen ausgesprochen, was ohnehin Die anfängliche Begeisterung für Fried- Chemnitz im vergangenen August den frü- jeder wusste: Wenn er von Kramp-Karren- rich Merz ließ sich so erklären, und wenn heren Reichskanzler Joseph Wirth von der bauer gefragt würde, würde er über eine der seinen Auftritt auf dem CDU-Parteitag Zentrumspartei zitiert: »Da steht der Kandidatur nachdenken, sagte er. nicht verstolpert hätte, wäre er vermutlich Feind – und darüber ist kein Zweifel: Die- Laschet sagt zu seinen Ambitionen Parteichef geworden. Die Stimmung hat ser Feind steht rechts!« nichts. Gelegentlich berichtet er von sei- sich seither gedreht. Die Union hat bei der Wie Kramp-Karrenbauer ist Laschet zu nen europapolitischen Erfahrungen und Europawahl massiv Stimmen an die Grü- Zugeständnissen an die Konservativen in weist darauf hin, dass Nordrhein-West - nen verloren und liegt in einigen Umfra- der Partei bereit. Seine Landesregierung falen nach seiner Einwohnerzahl in der EU an achter Stelle kommen würde. Das Saarland hat we- niger Einwohner als Köln, aber das erwähnt er nicht. Am Ende wird es auf den Zeitpunkt ankommen. Kramp- Karrenbauer ist als Parteichefin noch immer in einer starken Position, aber weitere Fehler kann sie sich nicht erlauben. Wenn die Grünen der Haupt- gegner sind, wonach es aussieht, dann wäre Laschet der nahelie- gende Kandidat. Merz, der noch nie ein Regierungsamt in- nehatte, wird in der CDU-Füh- rung wenig zugetraut. Er hat aber an der Basis viele Unter- stützer. Bei einer Mitgliederbe- fragung hätte er gute Chancen. Laschet ist naturgemäß ge- gen eine solche Befragung. »Eine Mitgliederbefragung zur Kanzlerkandidatur halte ich für problematisch«, sagt er. »Das hieße, dass die CDU die CSU überstimmen könnte. Das wäre für das Verhältnis

OMER MESSINGER / EPA-EFE / REX OMER MESSINGER / EPA-EFE zwischen beiden Parteien über Laschet-Konkurrenten Kramp-Karrenbauer, Merz: Noch immer in einer starken Position den Tag hinaus schwierig.« Es ist ein Argument, das nicht leicht zu entkräften ist. gen erstmals hinter der Umweltpartei. Zu- ließ ein Kopftuchverbot für unter 14-jäh- Sein größtes Problem könnte der eigene gleich scheint der bundesweite Vormarsch rige Mädchen prüfen. Aber in einer ent- Landesverband sein. Merz, Spahn und der AfD fürs Erste gebremst. scheidenden Frage ist er standhaft ge- auch der Vorsitzende der Bundestagsfrak- Hätte Kramp-Karrenbauer nicht so vie- blieben. tion, , haben kein Interes- le Schnitzer gemacht, müsste ihr diese Ent- Er hat sich nie von Merkels Flüchtlings- se an einer Kandidatur Laschets. Selbst wicklung zugutekommen. So aber fragen politik abgewendet. Das Werkstatt- NRW kann nicht alle Spitzenpositionen sich viele in der Partei, wer der richtige gespräch im Konrad-Adenauer-Haus, mit besetzen. Kandidat wäre, um den Grünen Stimmen dem Kramp-Karrenbauer sich von der Wenn Laschet nicht Kanzlerkandidat abzujagen. Merz, der vor allem in wirt- Linie der Kanzlerin distanzieren wollte, wird, muss dies nicht das Ende seiner Am- schaftsliberalen und konservativen Partei- hielt er für einen Fehler. Wenn Laschet bitionen sein. Falls die Grünen bei der kreisen ankommt und in Auftreten und Kanzlerkandidat wird, dann wäre das ein Bundestagswahl vor der Union landen, Habitus ein Mann der alten Zeit ist? Oder Bekenntnis zum Erbe Angela Merkels. sind alle Personalfragen in der CDU wie- doch Laschet, der eine große Anziehungs- Noch vor Kurzem galt das als Karriere- der offen. Das könnte seine Stunde wer- kraft hat und niemanden abstößt. hemmnis. Doch die Zeiten haben sich ge- den. Es wäre typisch Laschet. Den idealen Kandidaten gibt es in der ändert. Politik nicht. Es kommt darauf an, der rich- Laschets Standhaftigkeit in der Flücht- Video tige Mann oder die richtige Frau zur rechten lingsfrage erlaubt es ihm, die Grünen zu Armin Laschets Karriere Zeit zu sein. Bei der vergangenen Bundes- attackieren, ohne gleich selbst in die kon- im Zeitraffer tagswahl wäre das vielleicht Merz gewesen. servative Ecke gedrängt zu werden. »Wir spiegel.de/sp262019laschet Derzeit laufen persönliche Entwicklung dürfen nicht grüner werden als die Grü- oder in der App DER SPIEGEL und politischer Zeitgeist auf Laschet zu. nen«, sagt er. »Wir müssen sichtbar ma-

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Deutschland

len Jahren nicht mehr verlässlich, wenn es um große Fälle geht«, sagt der Göttinger Toxische Verträge Europarechtler Frank Schorkopf. Alle in Scheuers Umfeld waren sich so sicher, dass man ihn für den gegenteiligen Verkehr Das Aus für die Maut könnte den Staat mehr als 300 Millionen Fall nicht vorbereitet hatte. Als er mittags Euro an Entschädigung für die Betreiberfirmen kosten. ohne Plan B vor die Kameras trat, stand Mit einer List will Verkehrsminister Scheuer das verhindern. ihm der Schock ins Gesicht geschrieben. Zu dieser Stunde hatte Scheuer aller- dings noch einen Funken Hoffnung, dass m Wochenende könne er den zugestimmt. Hinzu komme, dass der Ge- es einen Ausweg aus dieser Krise geben Wahnsinn wieder aus nächster neralanwalt des EuGH das Plazet der könnte. Seine Ministerialen prüften, ob es A Nähe beobachten, klagt Bundesver- Kommission in seinem Schlussantrag im in dem Urteil Angriffsstellen gäbe. Oder kehrsminister Andreas Scheuer. Auf der Ergebnis bestätigt habe. In der Vergangen- ob man das Gesetz zur Pkw-Maut nicht A3, die durch seinen Wahlkreis führt, wer- heit hätten die Richter fast nie gegen des- doch noch so verändern könnte, dass es den sich Blechlawinen quälen. Die Ferien- sen Empfehlung entschieden, sagten die die Luxemburger Vorgaben erfüllt. welle rückt an. »Von zehn Autos sind sie- Beamten dem Minister. Ein Irrtum. »Der Die Richter kritisierten das Gesetz vor ben nicht aus Deutschland«, sagt der EuGH folgt den Schlussanträgen seit vie- allem in einem Punkt als Mogelpackung: Christsoziale aus Passau. Während ausländische Autofahrer zwi- Eigentlich wollte er von diesen Autofah- schen Zehntages-, Zweimonats- und Jah- rern Geld dafür kassieren, dass sie die resvignetten hätten auswählen dürfen, hät- Autobahnen in der Bundesrepublik nutzen. ten deutsche Pkw-Halter für ein ganzes Bis zu 25 Euro für zehn Tage, höchstens Jahr zahlen müssen. Weil sie ja die 130 Euro 130 Euro für das Jahr sollte die Pkw-Maut über eine Reduzierung bei der Kfz-Steuer betragen. Doch daraus wird nichts, das in gleicher Höhe zurückbekommen sollten. weiß Scheuer seit Dienstag, als das Urteil Keine Mehrbelastung für deutsche Auto- des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) fahrer, wie es die Regierung versprochen sein »Infrastrukturabgabengesetz« stoppte. hatte. Aber für Deutsche eben ein Nullsum- Der Urteilsspruch hat Scheuer tief ge- menspiel und damit kein Wechsel zum of- troffen. Für ihn ist der Wegezoll die zen- fiziell beschworenen Verursacherprinzip. trale Aufgabe, die ihm seine Partei als Mi- Dabei hätte sich das korrigieren lassen: nister aufgetragen hat. Bis zum Ende der »Man hätte den deutschen Kfz-Haltern zu- Legislaturperiode sollte sie in Deutschland mindest die Möglichkeit geben müssen, eingeführt sein. »Die Maut kommt.« Die- zwischen einer befristeten und einer Jah- ses Mantra hatte der langjährige CSU-Par- resvignette zu wählen«, sagt der Europa- teichef Horst Seehofer immer wiederholt. rechtsexperte Walther Michl, Assessor an Jetzt stürzt die »Ausländermaut«, wie PUCHNER / STEFAN PICTURE-ALLIANCE DPA der Münchner Ludwig-Maximilians-Uni- Seehofer sie im Bundestagswahlkampf Deutscher Irrweg versität. »Mit einer solchen Regelung hätte 2013 nannte, seinen deutlich jüngeren Par- Chronik der Pkw-Maut sich die Maut vermutlich halten lassen.« teifreund in die größte politische Krise. Das Verkehrsministerium prüfte, ob es 2013 Die CSU wirbt im Bundestagswahlkampf Das Gesetz, das die Luxemburger Rich- mit einer »Ausländer-Maut«, bei der nur auslän- diesem Kritikpunkt vielleicht doch noch ter wegen mittelbarer Diskriminierung dische Pkw-Halter für die Nutzung der deutschen abhelfen könnte: Eine Option hätte auch von EU-Bürgern kippten, hatte sich Scheu- Autobahnen und Bundesstraßen zahlen sollen. sein können, den Bürgern eine Art Gut- ers Vorgänger im Verkehrsministerium, schein in gleicher Höhe auszustellen. Juli 2014 Bundesverkehrsminister Alexander , ausgedacht. Dafür Dobrindt stellt sein Konzept vor: Inländische Auto- Die Beamten nahmen Kontakt zum kann Scheuer nichts, ebenso wenig wie für halter würden durch einen Freibetrag bei der Bundesfinanzministerium auf. Doch die juristische Fehler, die seine Beamten bei Kfz-Steuer von der Pkw-Maut ausgenommen. Leute von Finanzminister Olaf Scholz der Formulierung des Gesetzes machten. (SPD) blockten ab: Es werde mit den So- Das alles liegt vor seiner Zeit als Minister. März 2015 Der Bundestag beschließt zialdemokraten kein überarbeitetes Maut- die Einführung der Maut. Was ihn persönlich erledigen könnte, gesetz in dieser Legislaturperiode geben. das sind die Verträge, die er mit zwei Be- Juni Die EU-Kommission leitet ein Vertrags- Bis zum Abend wuchs in Scheuer die Ge- treiberfirmen für die Straßenabgabe Ende verletzungsverfahren ein, weil sie das Gesetzes- wissheit, dass das Gesetz tot ist. vergangenen Jahres abschloss – fatalerwei- paket für europarechtswidrig hält. Die Politiker von CDU und SPD waren se bevor die EuGH-Richter geurteilt hat- September 2016 Die EU-Kommission zwischenzeitlich auf Distanz zum CSU- ten. Scheuer befindet sich deshalb seit beschließt, Deutschland zu verklagen. Minister gegangen, wie zu einem Kranken, Dienstag in einer Abwehrschlacht gegen Dezember Dobrindt und die EU-Verkehrs- der hochansteckend ist. Es sei gut, dass die Ansprüche dieser Firmen. kommissarin einigen sich auf einen Kompromiss. »unsere Region im Herzen Europas maut- Es waren dramatische Stunden, die sich März 2017 Der Bundesrat gibt den Weg für frei bleibt«, sagte Armin Laschet, Minis- nach Bekanntgabe des Urteils gegen Viertel die Pkw-Maut frei. Geplante Einführung: 2019. terpräsident von Nordrhein-Westfalen. vor zehn am Dienstagmorgen abspielten. Scheuer und seinen Getreuen war klar, Scheuer war in München, in einem Konfe- Mai Die EU-Kommission stellt das dass sie sich nun schleunigst um die toxi- renzraum des Franz-Josef-Strauß-Flugha- Vertragsverletzungsverfahren ein. schen Verträge kümmern müssen, die sie fens wollte er seinen Triumph verkünden. Oktober Österreich und die Niederlande mit den Betreiberfirmen eingegangen wa- Seine Berater hatten ihm signalisiert: Die klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ren. Scheuer verteidigte sich damit, dass Richter würden sein Gesetz durchwinken. gegen die Maut. er nur dem Auftrag der Legislative, also Immerhin habe bereits die EU-Kommis- Juni 2019 Der EuGH kippt die deutsche Pkw- des Bundestags, gefolgt sei, um die Maut sion in einem Kompromiss der Pkw-Maut Maut: Sie diskriminiere andere EU-Länder. auch rechtzeitig einnehmen zu können.

34 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Die Haushaltsparlamen- Überschlägig geht man Urteil aus Luxemburg. Vielmehr hätten tarier hätten die prognos- von rund 60 Millionen die beiden Firmen ihre vertraglich zuge - tizierten Einnahmen von Euro aus. Darin seien sicherten Leistungen nicht erfüllt. Kapsch jährlich 500 Millionen auch Personalkosten ent- will sich dazu nicht äußern, man sei zur Euro bereits für Verkehrs- halten, etwa im Ministe- Geheimhaltung verpflichtet. projekte eingeplant. rium oder beim Kraft- Die Absicht Scheuers ist klar. Er provo- Doch das ist eine zwei- fahrt-Bundesamt, wo ei- ziert einen Rechtsstreit mit den Unterneh- felhafte Verteidigungsstra- ne Reihe neuer Stellen men, dessen Ergebnis in letzter Instanz tegie. Der verkehrspoliti- geschaffen worden sei. sicherlich nicht vor Ende der Legislatur- sche Sprecher der SPD 300 Millionen Euro, periode vorliegen wird. Der Kündigungs- und Fraktionsvize Sören das signalisierten die bei- grund schließt nämlich aus, dass der Kon- Bartol hatte bereits 2017 den Mautfirmen CTS zern Anspruch auf entgangenen Gewinn gewarnt: »Solange nicht Eventim und Kapsch Traf- hat, so jedenfalls sieht man es in der Bun- klar ist, ob die Pkw-Maut ficCom, werde man der desregierung. Lediglich das Geld, das bis- am Ende nicht doch vor Bundesrepublik Deutsch- lang geflossen ist, wäre weg. Gericht scheitert, dürfen / DPA SINA SCHULDT land in Rechnung stellen, Dem Verkehrsministerium kommt mög- keine Steuergelder in die CSU-Politiker Scheuer vor allem für entgangene licherweise zugute, dass es zwischen den Vorbereitung der Pkw- Seine größte politische Krise Gewinne. Schließlich be- Mautfirmen und dem Kraftfahrt-Bundes- Maut fließen.« Aus SPD- trage das Vertragsvolu- amt als verantwortlicher Bundesbehörde Kreisen heißt es, auch bei den Koalitions- men rund zwei Milliarden Euro. Beamte in letzter Zeit erhebliche Spannungen gab. verhandlungen habe man bewusst keine und externe Berater, die Scheuer in diesen Dabei geht es vor allem um die Frage, wie Frist gesetzt, bis wann die Maut kommen Schicksalsstunden zur Seite standen, ka- künftig kontrolliert werden sollte, dass die müsse, eben weil das Verfahren beim men sogar auf eine mehr als doppelt so Autofahrer tatsächlich eine Vignette ge- EuGH anhängig gewesen sei. hohe Schadenssumme, falls es in dem zu kauft haben. Das Flensburger Amt hatte Vieles hängt für die politische Karriere erwartenden Rechtsstreit schlecht für den dazu konkrete Ideen entworfen, die aller- des Andreas Scheuer davon ab, ob er den Bund laufen würde. dings von den Firmen weitgehend igno- finanziellen Schaden für die Bürger aus Wenn es nach Scheuer geht, sollen die riert worden sein sollen. dem Mautdesaster kleinhalten kann. Noch beiden Mautfirmen keinen Cent mehr be- Das ist die letzte Hoffnung für den an- rechnen die Beamten in seinem Haus zu- kommen. Schon am Mittwochmorgen er- geschlagenen Minister: eine juristische sammen, wie viel an Berater und die Be- hielten Kapsch und Eventim die Kündi- List. Dietmar Hipp, Gerald Traufetter treiberfirmen bereits bezahlt worden ist. gung. Grund sei nicht in erster Linie das

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b; 1_ouo7h-lbb;bv|mb1_| nur bei AMAZON erhältlich – ab sofort können Sie die Geräte auch im Handel bei SATURN oder MEDIA MARKT entdecken. * Separates Musik-Abonnement möglicherweise erforderlich möglicherweise Musik-Abonnement Separates * SPIEGEL: Herr Scholz, wir wollen mal ein Experiment wagen und nicht über harte Politik mit Ihnen sprechen, sondern über Sie persönlich und Ihr Verhältnis zur SPD. Was ist da schiefgegangen? Scholz: Ich bin seit 1975 in der SPD und »Ich habe mich fühle mich dort sehr zu Hause. SPIEGEL: Man hat häufig den Eindruck, die SPD und Sie hätten nicht allzu viel mit- einander zu tun. entgiftet« Scholz: Ihren Eindruck finde ich schräg. Als Arbeitsminister habe ich Branchen- SPD Vizekanzler Olaf Scholz, 61, über das schwierige mindestlöhne durchgesetzt, mit der Kurz- Verhältnis zu seiner Partei, seine linke arbeit viele Beschäftigte vor Arbeitslo- sigkeit bewahrt, als Bürgermeister in Vergangenheit und die Beziehung zu seiner Frau Hamburg gebührenfreie Kitas und flächen- deckend Ganztagsschulen eingeführt, den Wohnungsbau früh und energisch voran- getrieben. All das bin ich auch. SPIEGEL: Neulich, in einer Sitzung der Bundestagsfraktion, hielt Ihnen ein Partei- freund vor, Sie würden in seinem Wahl- kreis als »kaltherziger Technokrat« wahr- genommen. Berührt Sie so ein Urteil? Scholz: Und ob, auch wenn es nur genau einer war, der sich so geäußert hat. Ich ma- che Politik ja nicht, weil mir nichts Besse- res eingefallen ist. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, und ich bin Sozialdemo- krat durch und durch. SPIEGEL: Warum sind Sie eigentlich in die SPD eingetreten? Scholz: Ich war Schüler und wollte etwas für Gerechtigkeit tun. Ich war schon im- mer sehr politisch engagiert, bin früh Schulsprecher geworden in meinem Gym- nasium am Hamburger Stadtrand. SPIEGEL: Wann? Scholz: In der achten oder neunten Klasse. Ich glaube, mein Engagement hat etwas zu tun mit der Einstellung meiner Eltern. Mei- ne beiden Brüder und ich haben viel mit ih- nen diskutiert. Meine Eltern fanden Helmut Schmidt und Willy Brandt gut. Ich habe schon damals Schmidt und Jürgen Haber- mas geschätzt. Später, bei den Jusos, war ich dann etwas grundsätzlicher unterwegs. SPIEGEL: Sie waren damals stramm links, bei den Jusos gehörten Sie zum Flügel der Kritiker des staatsmonopolistischen Kapi- talismus. Wie sind Sie von dort dahin ge- langt, wo Sie heute stehen? Scholz: Ich habe bei den Jusos mit Mitte zwanzig aufgehört. Ich bin umgezogen, habe meinen Unterbezirk verlassen und als Anwalt angefangen. Ich war einfach ein paar Jahre gar nicht politisch aktiv, be- vor ich später wieder als Beisitzer im Orts- verein anfing. In dieser Zeit habe ich viele meiner Positionen überdacht. Diese Pause empfinde ich als großes Glück. SPIEGEL: Warum? Scholz: Ich habe mich entgiftet, die Praxis wurde für mich wichtiger als die Rituale einer politischen Organisation. Wir hatten bei den Jusos heftige Auseinandersetzun-

PETER RIGAUD / DER SPIEGEL PETER RIGAUD gen, obwohl wir ja als Freunde auch eine

38 Deutschland gute Zeit haben wollten. Diese Ambiva- ist eine soziale Partei, die eine bessere Zu- SPIEGEL: Vielleicht bekommen Sie dazu lenz war manchmal sehr anstrengend, und kunft durch demokratische Politik für mög- ja bald schon die Gelegenheit, wenn die die Pause hat mich entspannt. lich hält und ohne Ressentiments auftritt. Große Koalition zerbricht. Wie lange ist SPIEGEL: Brauchten Sie eine solche Ent- SPIEGEL: Das ist doch Parteitagssprech. dieses Bündnis noch das richtige? giftung heute noch mal? Scholz: Ob Ihnen das gefällt oder nicht, ich Scholz: Wir haben vereinbart, zum Ende Scholz: Nein, eben nicht. Ich kann andere meine das ernst. Wenn ich an einem Info- dieses Jahres Bilanz zu ziehen. Ich nehme Meinungen gut akzeptieren. Ich könnte stand bin, und jemand sagt mir: Um uns diese Bilanz sehr ernst. Und da es unsere meine Arbeit sonst nicht so machen, wie geht es ja nicht in der Politik, dann versetzt Mitglieder waren, die über den Eintritt in ich sie mache. mir das einen Stich. Neulich habe ich das diese Koalition entschieden haben, kann SPIEGEL: Gibt es aus Ihrer linken Vergan- Buch »Die Gesellschaft der Singularitäten« man die Frage nicht nur auf einer Vorstands- genheit etwas, das Sie noch in sich tragen? des Soziologen Andreas Reckwitz gelesen. sitzung entscheiden. Wir sollten die Mit- Scholz: Mir hilft bis heute, dass wir uns da- Danach hatte ich länger schlechte Laune. glieder an der Debatte beteiligen, und zwar mals unglaublich intensiv mit Wirtschafts- SPIEGEL: Warum? über das reine Abfragen von Einzelmeinun- theorien auseinandergesetzt haben, rechten Scholz: Im Prinzip steht dadrin, dass wir gen hinaus. Für mich ist, auch wenn die Re- wie linken. Aber das, was ich damals ge- uns zu einer Gesellschaft entwickeln könn- gierung noch bis 2021 weiterarbeiten sollte, glaubt habe, halte ich heute überwiegend ten, in der niemanden mehr kümmert, ob klar: Nach zwei Großen Koalitionen in Fol- für falsch. Der Feminismus, die Lösung der die Aldi-Verkäuferin und der Theater- ge darf keine dritte folgen. ökologischen Probleme waren auch neu direktor, die Rechtsanwältin und der SPIEGEL: Sie haben kürzlich gesagt, die und passten nicht zu allen alten Theorien. Metaller ein gemeinsames politisches An- Chancen der SPD, stärkste Partei zu wer- Ohne sie ist moderne Politik nicht denkbar. liegen haben. Aber genau dafür steht die den, seien so gut wie lange nicht. Was hat- SPIEGEL: Wenn Sie mal den Juso Scholz SPD. Für Wertschätzung. Wir sollten mit ten Sie da vorher geraucht? auf den Vizekanzler Scholz blicken lassen: unseren unterschiedlichen Hintergründen Scholz: Nichts. Ich bin Nichtraucher und Was würde der kritisieren? als 80- oder 90-Jährige sagen können: Das habe mich auch als Juso nicht mit bewusst- Scholz: Er hätte einerseits mit einer ge- war ein gelungenes Leben. seinserweiternden Alternativen beschäftigt. wissen Faszination auf die Professionalität SPIEGEL: Was sollte diese Aussage dann? sozialdemokratischer Regierungsarbeit Scholz: Unser Europawahlergebnis ist rich- geblickt. Allerdings: Um dieses Land gut tig schlecht. Aber ich sehe auch: Die finni- zu regieren, machen wir Kompromisse mit schen Sozialdemokraten haben die Parla- unseren Koalitionspartnern. Als junger mentswahl mit knapp 18 Prozent gewon- Sozialdemokrat hätte mir vielleicht die nen. Und die holländischen Genossen Geduld gefehlt, diesen Politikansatz, der haben sich nach einer fürchterlichen Wahl- ja nicht immer Spaß macht, zu verstehen. niederlage erholt und waren bei der Euro- SPIEGEL: Sie sind seit rund 20 Jahren in pawahl stärkste Partei. Das können wir der Spitzenpolitik: Was haben Sie im Le- sicher auch. Die politische Landschaft ist ben wegen der SPD verpasst? sehr in Bewegung, und die Zustimmungs- Scholz: Schwer zu sagen. Das Wichtigste raten wechseln schnell. In unseren Ländern im Leben ist die Liebe. Und deshalb bin wächst die Unsicherheit. Die technologi- ich sehr glücklich darüber, dass meine Frau ALLIANCE / DPA / PICTURE REINHARDT DANIEL schen Veränderungen lassen gerade hier die und ich seit vielen Jahrzehnten eine glück- Ehepaar Scholz, Ernst* Zuversicht sinken. Das Erstarken rechtspo- liche Beziehung miteinander haben. Das Glückliche Beziehung pulistischer Parteien, der Brexit, Trump sind hat für mich jeden Tag Priorität. Ich weiß, Ausdruck dieser Verunsicherung. Wir müs- dass das nicht ganz die Antwort auf Ihre SPIEGEL: Müsste die SPD wieder stärker sen aber allen einen Weg zeigen, wie man Frage ist. Aber meine Beziehung ist etwas, einzelne Gruppen in den Blick nehmen, trotzdem welt- und fortschrittsoffen bleiben, wofür ich gekämpft habe, es nicht zu ver- statt krampfhaft für alle da sein zu wollen? die Vorteile dieser Technologien nutzen und passen. Politik ist ein großer Teil meines Scholz: Uns muss es immer um Zusammen- ein gutes und sicheres Leben führen kann. Lebens, aber eben nur ein Teil. halt gehen und moderne Zukunftskonzepte. SPIEGEL: Mit Ihnen als Kanzlerkandidat? SPIEGEL: Was machen Sie eigentlich gern? Für den höheren Mindestlohn setze ich Sie haben Anfang des Jahres gesagt, Sie Also, außer Politik? mich ja nicht ein, weil ich auch mal was sa- würden sich diese Rolle zutrauen. Wir kön- Scholz: Zur Überraschung all jener, die gen will. Sondern weil ich es kaum ertragen nen uns Sie nur sehr schwer als Kandida- mich noch von ganz früher kennen: Sport. kann, dass jemand, der mir im Restaurant ten vorstellen. Sie stehen nicht für einen Als Jugendlicher war ich völlig unsportlich. den Kaffee bringt, der bei Amazon Regale Aufbruch, sondern für ein »Weiter so«. Ich habe erst mit Anfang vierzig angefan- einräumt, einen Lohn hat, von dem er oder Scholz: Finden Sie? Mal ganz unabhängig gen, mühselig zu joggen. Mittlerweile laufe sie im Alter nicht leben kann. Das berührt von meiner Person bin ich überzeugt, dass ich zwei- oder dreimal pro Woche ganz or- mich persönlich, und ich kann es nicht ab, die Bürger Sachlichkeit und Erfahrung bei dentliche Distanzen. Ich rudere, und ich wenn Leute, die sich für fortschrittlich hal- der Frage, wem sie das Land anvertrauen, wandere mit meiner Frau. Wir haben uns ten, unglaublich degoutant auf die Kellner etwas höher gewichten als manch politi- gerade neue Fahrräder gekauft. Und ich oder die Leute in der Küche herabschauen. scher Beobachter, dem es auch um das lese unheimlich viel. SPIEGEL: Wie wäre Ihr Leben ohne die eigene Entertainment geht. Um dieses SPIEGEL: Sie müssen immer aktiv sein? SPD verlaufen? Entertainment nicht ständig bedienen zu Scholz: Ich kann auch einfach mal stun- Scholz: Die SPD ist für mich biografisch müssen, habe ich im Januar zu dieser Fra- denlang dasitzen und nichts tun. ein großes Glück gewesen. Sie hat meinen ge alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt. SPIEGEL: Was ist die SPD für Sie? Viele Blick geweitet, mir Erfahrungen ermög- SPIEGEL: Was wünschen Sie der SPD? können das heute gar nicht mehr sagen. licht, die ich vielleicht sonst nie hätte ma- Scholz: Dass sie cool bleibt, zuversichtlich Scholz: Die SPD ist die einzige Partei, die chen können. Aber ich hätte auch ein glück- und mit geradem Rückgrat. von jeher dafür steht, dass es um jeden in liches Leben als Anwalt führen können. Interview: Christoph Hickmann, der Gesellschaft geht. Damit ist die SPD Veit Medick ein historisches Glück für unser Land. Sie * Britta Ernst (SPD) ist Bildungsministerin in Brandenburg.

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 39 Deutschland »Endlich ausgeschlafen« Gesundheit Nach Angela Merkels Zitteranfall stellt sich wieder die Frage, wie Politiker mit Schwächen oder Krankheiten umgehen sollen. Es gibt dazu zwei Denkschulen.

ls wollte sie sich den Beinamen So war es bislang üblich bei Spitzen - Nicht die Kanzlerin. Erst mehrere Tage »Eiserne Kanzlerin« verdienen, politikern. Bloß keine Schwäche eingeste- nach dem Sturz vereinbarte ihr Büro unter A marschierte an hen, keine Krankheit. Das ist die alte Schu- strengster Geheimhaltung einen Termin der Militärformation vorbei. Kurz le. Man demonstriert seine Pferdenatur, in der Berliner Charité. Dort wurde sicher- zuvor hatte sie heftig gezittert, womöglich um ja keine Zweifel an der Funktionstüch- heitshalber eine Krankenakte mit einem war es ein Schwächeanfall. Aber dieser tigkeit des Staats aufkommen zu lassen. falschen Namen angelegt. Als die Ärzte Eindruck durfte nicht bleiben. Sie steckte Aber es gibt inzwischen eine neue, eine die Kanzlerin schließlich über den Bruch das weg, als wäre sie superfit und kern- andere Form des Umgangs mit Schwäche aufklärten, scherzte Merkel, sie sei froh, gesund. in der Politik. Beide Denkschulen existie- keine Simulantin zu sein. Otto von Bismarck erwarb den Bei- ren derzeit nebeneinander. Sie zeigen den Die Ärzte redeten der Kanzlerin ins Ge- namen Eiserner Kanzler durch Härte ge- veränderten Blick auf den Politiker. Vom wissen, empfahlen mehr Bewegung und gen andere, bei Merkel ist es die Härte ge- Funktionsträger wird er mehr und mehr eine Diät, um die Hüfte und die Knie zu gen sich selbst. Keine Schwäche zeigen, zum Menschen in einer Funktion. entlasten, andernfalls drohten langfristige immer weiter, immer weiter. Merkels öffentliche Krankenakte ist für Schäden. Merkel machte es wie so viele. Das öffentliche Interesse an dieser klei- bald 14 Jahre Kanzlerschaft recht dünn. Sie hielt sich nur vorübergehend an die nen Szene beim Empfang für den ukraini- Der enorme Stress ihres Amts setzt ihr Ratschläge. schen Staatspräsidenten Wolodymyr Se- offenkundig nicht stark zu. Sie habe ge- Schon bei einem Staatsbesuch in Mexi- lenskyj am Dienstag war riesig. Medien wisse »kamelhafte Fähigkeiten«, sagte sie ko 2017 hatte sie offenkundig einen Schwä- suchten nach Ärzten, die eine Ferndiagno- einmal auf einer Veranstaltung der Zeit- cheanfall, begleitet von Zittern. Am Abend se wagen würden. Zu wenig getrunken, un- schrift »Brigitte«. Sie könne Energievor- vor dem CDU-Parteitag 2014 musste sie terzuckert, ein verschleppter Infekt? räte speichern. ein Interview mit dem ZDF abbrechen. Re- Das Patientengeheimnis gilt für eine Unter den handverlesenen Ärzten, die gierungssprecher Steffen Seibert sagte: Kanzlerin offenbar nur eingeschränkt, und für die Kanzlerin zuständig sind, gilt Mer- »Die Bundeskanzlerin fühlte sich einen das mit einem gewissen Recht. Ihr Job ist kel als ausgesprochen zäh. Als sie im De- Augenblick lang nicht wohl, hat dann so wichtig, dass die Bürger wissen sollten, zember 2013 beim Langlauf in der Schweiz etwas gegessen und getrunken und die ob sie in der Lage ist, ihn uneingeschränkt auf einer vereisten Loipe gestürzt war und Interviews anschließend fortgesetzt.« auszuüben. sich den Beckenring gebrochen hatte, igno- Das hatte sich aber noch nicht in Asien Merkels Botschaft nach dem Zittern: rierte sie die Schmerzen zunächst stoisch. herumgesprochen. Als wenig später die Auf mich könnt ihr euch trotzdem verlas- Viele Patienten lassen sich da sofort starke Börse in Tokio öffnete, fielen die Kurse. sen, ich bin unverwüstlich. Schmerzmittel verschreiben. Auch das ist ein Grund, warum manche METODI POPOW / IMAGO IMAGES / IMAGO POPOW METODI PETER RIGAUD / DER SPIEGEL PETER RIGAUD HERMANN BREDEHORST

40 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Spitzenpolitiker lieber den Gesunden hier liegt ein Grund, warum sie körper - spielen. liche Schwächen verbergen. Denn zeigen Relativ neu sind die widerlichen Reak- sie sich schwach, fühlen sich die Beobach- tionen, und dafür sorgt zuverlässig die ter von einer Schwäche repräsentiert, die AfD. Als die Kanzlerin am Mittwoch Dres- auf sie selbst zurückfällt. Die Krankheit den besuchte, rief die örtliche AfD mit des Herrschers wird abgewehrt, um sich dem Motto »Abzappeln mit Merkel« zu nicht selbst schwach zu fühlen. einer Demonstration auf. In einem Chat, Eine besondere Erfahrung machte im an dem vor allem AfD-Mitglieder und Herbst 2015 der damalige Innenminister Nahestehende teilnehmen, lautet ein Ein- Thomas de Maizière. Eine Erkältung trag: »Jeder bekommt, was er verdient. mauserte sich zum Politikum. Auf dem Niemand kann über so lange Zeit ein gan- Höhepunkt der Flüchtlingskrise unter- zes Volk der Abschlachtung zuführen, stellte ihm die »Bild«-Zeitung per Schlag- ohne Narben davonzutragen.« zeile Instinktlosigkeit, da er im Urlaub Es gibt also gute Gründe, Krankheiten auf Mallorca Cappuccino schlürfe, »wäh- verbergen zu wollen. Vor allem früher galt rend zeitgleich die GroKo in Berlin ver- darüber hinaus, dass der Spitzenpolitiker sucht, die Flüchtlingskrise zu lösen«. Bis oft übermenschlich und damit unersetzlich heute kann sich de Maizière darüber wirken wollte, und das deckte sich zum empören. Teil mit den Erwartungen der Bürger. De Maizière, intern als Aktenfresser Auf besonders komplizierte, aber trick- und Arbeitstier bekannt, plagte sich schon reiche Weise prägte das Christentum über Anfang September mit einer Bronchitis Jahrhunderte das ambivalente Verhältnis herum. Das Fieber stieg, der Minister legte von Macht und Verwundbarkeit: Weil Je- sich ins Bett. Von der historischen Nacht sus Christus zwar der Leidende war, zu- vom 4. auf den 5. September erfuhr er erst gleich aber auch der Herrscher, entwickel- am nächsten Morgen. Merkel informierte te sich in der politischen Theologie des ihn per Telefon, dass sie die Flüchtlinge, Mittelalters eine Vorstellung, die der His- die in Ungarn gestrandet waren, nach toriker Ernst Kantorowicz in seinem Stan- Deutschland holen würde. dardwerk »Die zwei Körper des Königs« De Maizière senkte das Fieber mit Me- beschreibt: Es gibt den natürlichen, den dikamenten und arbeitete zwei Tage lang leidenden Körper und einen politischen, von zu Hause aus. Dann eilte er zurück mystischen, unsterblichen Körper, der nach Berlin, obwohl er »wie ein Haufen den Staat als Ganzen vertritt. Diese Vor- Elend« aussah. Seine Blässe, seine Fah- stellung, so Kantorowicz, habe das mo- rigkeit wurden als Anzeichen gedeutet, derne Staatsverständnis geprägt: Der dass der Minister in der eigenen Regie- Herrscher steht mit seinem Körper für rung unter Druck stehe. »Aus heutiger das Amt ein. Sicht hätte ich die Erkältung damals Ist er schwach, leidet auch das Amt. offenlegen sollen«, sagt de Maizière. Er Und hier setzt die Sorge der Politiker ein, habe aber gedacht, gerade ein Innenmi-

Politiker Wagen- knecht, de Maizière, Selenskyj, Merkel, Mohring, Dreyer »Kaschieren lässt nur Spekulationen gedeihen« THOMAS KOEHLER/PHOTOTHEK.NET / IMAGO KOEHLER/PHOTOTHEK.NET THOMAS JENS JESKE / IMAGO

41 Deutschland nister dürfe keine Schwäche zeigen. Ende des politischen Betriebs mit Krankheit. Vie- Gauland hat auf diese Debatte reagiert und Oktober rieten die Ärzte dem Minister le Kollegen vertrauten sich ihm an und verkündet, dass er beim Parteitag Ende No- dringlich zu einer Auszeit. Seine Frau suchten seinen Rat, sagt Lauterbach, frak- vember eventuell nicht mehr zum Parteivor- schlug vor, für ein paar Tage nach Mallorca tionsübergreifend. »Der Beruf des Politi- sitz antritt. Fraktionschef will er aber bleiben. zu fliegen, um sich in der Wärme auszu- kers ist ein Hochrisikoberuf, man steht stän- Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsit- kurieren. Dort überraschte ihn am letzten dig unter Stress, es sei denn, man hat nicht zende der Linken, hat sich anders entschie- Urlaubstag ein Team der »Bild«-Zeitung viel Einfluss.« Hinzu kämen Ortswechsel den. Im März dieses Jahres kündigte sie beim Frühstück. Die Schlagzeile war ge- und Reisestress. »Gesundes Essen und nach einer zweimonatigen Pause an, sich macht. Sport als Gegenmaßnahmen, das schaffen aus der Spitzenpolitik zurückzuziehen – Inzwischen ist de Maizière von der alten nur die Jüngeren, die schon mit einem ge- aus gesundheitlichen Gründen. »Früher Schule in die neue gewechselt. Den Kolle- sünderen Lebensstil groß geworden sind.« war ich ständig angeschlagen«, erzählt sie. gen aus dem aktuellen Kabinett rät er zu Die Politik ist noch anstrengender ge- Infekte habe sie nicht auskuriert, sondern mehr Offenheit. »Wir müssen mit unseren worden, seit es das Internet gibt. Höheres ewig mit sich herumgetragen. »Wenn es Schwächen transparenter umgehen, das Tempo, stärkere Verdichtung. Die Nach- nur irgendwie geht, schleppt man sich zu Kaschieren lässt nur Spekulationen gedei- richten und Tweets prasseln auf die Politi- den Veranstaltungen, man nimmt Mittel, hen, die schnell außer Kontrolle geraten ker ein, ständig stellt sich die Frage, ob und um das Kranksein wegzudrücken«, sagt können«, sagt er. wie sie reagieren sollen. Neu ist zudem die Wagenknecht. Medikamente wie Grip- Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin Angst vor einem Shitstorm. Das alles ad- postad seien deswegen so beliebt, weil von Rheinland-Pfalz, hat das längst beher- diert sich zu einem enormen Druck. Es lau- sie einen aufputschen würden – aber mit zigt, hat eine Pressekonferenz einberufen, ern der Burn-out oder Schlimmeres. Heilung habe das nichts zu tun. um von ihrer multiplen Sklerose zu berich- Wer Krebs hat, kann sagen, dass er »Ich war ziemlich ausgebrannt«, sagte ten. Und viele Politiker haben freimütig trotzdem leistungsfähig ist. Wer ausge- sie damals im SPIEGEL-Interview. Jahre- von ihrer Krebserkrankung erzählt, unter brannt ist, dem kann nur Ruhe helfen. Die lang habe sie unter Dauerstress gestanden, ihnen Mike Mohring, 47, Spitzenkandidat aber ist in der Politik nicht zu finden. sei von Termin zu Termin gehetzt, von der CDU im Wahlkampf in Thüringen. Über psychische Probleme wird daher einem Konflikt in den nächsten geraten. Aber er hat lange dafür gebraucht. kaum geredet. sagt: »Das Sie habe nur noch funktioniert, ohne je Im Herbst 2018 wird bei ihm Krebs fest- Vorurteil lautet ja: Jemand, der schon mit innehalten zu können. gestellt. Operation, Chemotherapie, er Ein paar Monate später geht es Wagen- wird schwächer und schwächer, aber er knecht deutlich besser. Zwar steht sie wohl macht weiter wie bisher, will sich nichts »Irgendwann geht es noch bis November dieses Jahres an der anmerken lassen. Doch Anfang Januar will an die Substanz. Spitze ihrer Fraktion, erst dann wird neu er seine Krankheit nicht mehr verbergen. gewählt. Doch sie hat ihr Arbeitspensum Mohring postet ein Video auf Facebook, Ist das noch ein gutes und ihre Auftritte reduziert. Sie verbringt das ihn mit einer schwarzen Strickmütze Leben?« die meiste Zeit im Saarland bei ihrem Ehe- auf dem Kopf zeigt. Seine Haare sind mann Oskar Lafontaine. Sie liest viele Bü- durch die Therapie ausgefallen. cher, macht Sport. »Mir fehlt gar nichts, »Es war für mich nicht absehbar, wie Öf- sich selbst nicht klarkommt, wie soll der im Gegenteil«, sagt Wagenknecht. Sie sei fentlichkeit, Politik und Medien auf mein für andere gestalten können?« Das führe nun viel freier. Außerdem sei sie »endlich Video reagieren würden«, sagt Mohring dazu, dass Betroffene schwiegen. »Das fast immer ausgeschlafen«. im Rückblick. »Aber nachdem das Video Problem ist deshalb deutlich weiter ver- Zu Merkels Durchhalten nach dem Zit- dann online war, wusste ich nach den ers- breitet, als man annehmen würde.« tern sagt sie: »Sie hat getan, was sie tun ten Reaktionen, dass es die richtige Ent- In der AfD und ihrem Umfeld wird seit musste. Sie hatte keine andere Wahl als scheidung gewesen war.« Bis heute sei das einiger Zeit diskutiert, ob der Partei- und stehen zu bleiben und durchzuhalten.« so: »Erst gestern haben mich wieder wild- Fraktionsvorsitzende Die Regierung sei in desolatem Zustand, fremde Menschen umarmt und sich über depressiv ist. Vor zwei Jahren schrieb die eine zusätzliche Debatte über eine gesund- meine Genesung gefreut. Die Empathie »Süddeutsche Zeitung« in einem Porträt, heitlich angeschlagene Kanzlerin habe war und ist riesig.« Inzwischen gilt er als dass er offen über seine Beschwerden spre- Merkel auf jeden Fall verhindern wollen. geheilt, es ist kein Krebs mehr nachweisbar. che, »auch über die Schwermut, die ihn Wagenknecht selbst möchte derartige »Ich würde mir wünschen, dass mein seit Jahrzehnten immer wieder anfällt, Situationen nicht mehr durchstehen müs- Umgang anderen Menschen mit gesund- manchmal in heftigen Schüben«. sen. »Menschen sind unterschiedlich be- heitlichen Problemen den Druck nimmt, Gegenüber »Bild« versuchte Gauland, lastbar«, sagt sie, »ich hätte noch ein paar den sie in ihrer Arbeitswelt spüren, um es dann wieder etwas einzufangen: Das Monate so weitermachen können. Aber sich vollends auf ihre Genesung konzen- alles sei lange her, sei »überwunden«. Al- irgendwann geht es an die Substanz. Da trieren zu können«, sagt Mohring. »Der lerdings berichten Parteikollegen immer fragt man sich schon, wozu soll man sich Mensch, der auch Politiker ist, hat ebenso noch, dass er oft schwermütig sei, vor al- das antun? Ist das noch ein gutes Leben?« Stärken und Schwächen.« lem bei schlechtem Wetter. Gauland: Merkel würde wohl antworten, dass ihr Allerdings gibt es für die politische Welt »Herbst und Winter sind nicht so meine Leben in der Politik ein gutes sei, trotz die verträglichen und die unverträglichen Jahreszeiten. Aber das hat nichts mit De- aller Belastungen. Aber hin und wieder, Krankheiten, im Sinne von: Wie kommt pressionen zu tun.« das hat sie gesagt, als sie über ihre kamel- die jeweilige Schwäche in der Öffentlich- Sein ehemaliger Parteifreund Konrad haften Fähigkeiten sprach, müsse auch keit an. Multiple Sklerose und Krebs gel- Adam fragte in einem Gastbeitrag für die sie auftanken. Nun steht ja ihr Sommer- ten als Krankheiten, die Mitgefühl auslö- »Zeit« vor wenigen Monaten, ob Gau- urlaub an. sen. Anders ist das bei psychischen Erkran- lands demonstrative Gleichgültigkeit Nicola Abé, Susanne Beyer, kungen oder Stresssymptomen. »Ausdruck oder Folge seiner depressiven Florian Gathmann, Matthias Gebauer, Der Bundestagsabgeordnete Karl Lau- Anwandlungen« sei, »die er durch starke Christoph Hickmann, Dirk Kurbjuweit, terbach, SPD, schaut als Mediziner mit Medikamente in den Griff zu bekommen Ann-Katrin Müller dem Blick des Fachmanns auf den Umgang sucht«.

42 Beschlagnahmter Porsche in Berlin 2018, Clanmitglied Issa Rammo Akribisch Zahlungsflüsse verfolgt

oder Familienmitgliedern gehören. Es geht nicht um Strafe, nur darum, dass sich Ver- brechen nicht auszahlen. »Das finde ich nicht nur gut, sondern überfällig«, sagt Ro- land Probst vom LKA Baden-Württemberg. Die Bundesrechtsanwaltskammer hielt die neue Vorschrift dagegen von Anfang an für verfassungswidrig, weil sie eine »faktische Beweislastumkehr« bedeute. Be- troffene müssten nun nachweisen, dass sie ihr Eigentum legal erworben haben. Das

JÖRG BERGMANN / BILD BERGMANN JÖRG verstoße gegen die Unschuldsvermutung. Höchstrichterliche Urteile dazu stehen noch aus. Landgerichte haben die harte Tour in einigen Fällen bereits bestätigt. Im März befand das Landgericht Traunstein, Harte Tour dass die Justiz 759050 Euro einziehen durfte, die hinter Rückleuchten versteckt Kriminelle Seit zwei Jahren kann im Auto eines Italieners am Autobahndrei- eck Inntal gefunden wurden. Da im Auto die Justiz dubiose Vermögen auch Spuren von Kokain entdeckt worden leichter einkassieren. waren, ermittelte die Polizei wegen eines Polizisten und Juristen sehen Drogendelikts, was zu keinem Ergebnis führte. das Gesetz als Erfolg. Mehr als 61000 Euro wurden im Fahr- SPIEGEL TV SPIEGEL zeug mutmaßlicher Islamisten im Raum Stuttgart entdeckt. Da sie sich über die r ist einer der berüchtigtsten Clans chen, aber nur dann, wenn sich die kon- Herkunft des Geldes in Widersprüche ver- E von Berlin. Auf das Konto von Mit- krete Tat nachweisen ließ, aus der die Er- wickelten, wurde das Geld beschlagnahmt gliedern der libanesischen Familie träge stammten. und eingezogen. Zu Recht, wie das Land- Rammo sollen spektakuläre Verbrechen Am 1. Juli 2017 trat ein Passus in Kraft, gericht Stuttgart entschied. gehen. Wie der Überfall auf eine Berliner der weit darüber hinausgeht. Nach Para- Eine abenteuerliche Geschichte über Sparkasse 2014, Beute fast zehn Millionen graf 76a des Strafgesetzbuchs sollen Ge- den Verkauf von Gold in den Niederlan- Euro. Und der Raub einer 100 Kilogramm richte Vermögen unklarer Herkunft einzie- den präsentierte ein mutmaßlicher Geld- schweren Goldmünze aus dem Berliner hen, wenn diese bei Ermittlungen wegen kurier, der aus den Niederlanden kom- Bode-Museum. Davon sind jedenfalls Er- organisierter Kriminalität oder Terroris- mend 1,5 Millionen Euro in der Mulde des mittler überzeugt. Mit kriminellen Ge- mus gefunden wurden. Auch dann, wenn Reservereifens seines Autos versteckt hat- schäften sollen Angehörige der Familie, zu kein Täter verfolgt oder verurteilt werden te. Das Amtsgericht nahm ihm die Ge- der auch Issa Rammo gehört, rund 28 Mil- kann. Es reicht aus, wenn die Richter über- schichte nicht ab und das Geld weg. Das lionen Euro erwirtschaftet haben. zeugt sind, dass die Werte aus irgendwel- Landgericht Mönchengladbach bestätigte Vor einem Jahr rückte die Polizei mit chen illegalen Geschäften stammen. den Beschluss. einem Großaufgebot zur Razzia an. Zu- Diese Überzeugung können die Juristen In allen Fällen konnten die Beschuldig- dem wurden auch die Grundbuchämter etwa »auf ein grobes Missverhältnis zwi- ten nicht verurteilt werden. Der Deutsche informiert. Die Staatsanwaltschaft ließ schen dem Wert des Gegenstands und den Richterbund findet, dass sich die Neurege- 78 Immobilien beschlagnahmen, die den rechtmäßigen Einkünften des Betroffenen lungen zur Vermögensabschöpfung »grund - Beschuldigten zugerechnet werden. stützen«, so steht es in der Strafprozess- sätzlich bewährt« haben, auch wenn es in Es spielte keine Rolle, dass diese Miets- ordnung. Etwa wenn ein Hartz-IV-Emp- der Anwendung noch Schwächen gebe. und Bürohäuser zumindest auf dem Papier fänger Porsche fährt oder jede Menge Bar- »Im Vollzug des neuen Rechts gibt es noch anderen gehörten, etwa einem mittellosen geld besitzt. Die Erfahrungen mit dem deutlich Luft nach oben«, sagt Bundes- Taxifahrer im Libanon. Finanzermittler Gesetz seien vielversprechend, heißt es geschäftsführer Sven Rebehn. des Berliner Landeskriminalamts (LKA) bei Ermittlern und Juristen. Ähnlich sieht es der Bund Deutscher hatten in akribischer Arbeit Zahlungsflüs- Bereits 2010 hatte Peter Henzler, heute Kriminalbeamter. Für das Gesetz habe se verfolgt und waren zu dem Schluss ge- Vizepräsident des Bundeskriminalamts, in man »20 Jahre gekämpft«, sagt Vorsitzen- langt, dass es Strohleute seien. einer Arbeitsgruppe mit Polizisten und Ju- der Sebastian Fiedler. Einigen Bundeslän- Der Schlag gegen den Rammo-Clan war risten begonnen, Vorschläge für ein solches dern fehle nun Personal, um die Möglich- die bislang spektakulärste Aktion, die einer Gesetz zu erarbeiten. »Wir wollten die keiten des Gesetzes auszuschöpfen. Gesetzesreform vor zwei Jahren folgte. Da- Möglichkeit haben, kriminelle Gewinne In Berlin streiten sich derzeit die Anwäl- mals erweiterte der Bundestag die Vor- wegzunehmen und den Aufbau illegaler te der Rammos mit den Strafverfolgern, schriften zur Abschöpfung von Vermögen, Vermögen zu verhindern, die unweigerlich wem die Mieteinnahmen der beschlag- die kriminell erworben wurden. Zwar durf- zu Macht und Einfluss führen«, sagt Henz- nahmten Immobilien zustehen. Es geht ten Richter schon vorher Gewinne etwa ler, der damals in Fällen organisierter Kri- um 350000 Euro. Andreas Ulrich aus dem Drogenhandel beschlagnahmen minalität ermittelte. Das gilt auch, wenn Mail: [email protected] lassen und dem Staat oder Opfern zuspre- die Wertgegenstände offiziell Freunden

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 43 einen Verstoß gegen das Parteiengesetz feststellen, drohen der SPD in der Folge Die Baugemeinschaft womöglich hohe Strafzahlungen durch die Bundestagsverwaltung. Eine Sprecherin des SPD-Bundesvorstands mochte sich zu Parteienfinanzierung Wegen einer Spendenaffäre in Regensburg einem »laufenden Verfahren und mög - kommen auf die SPD womöglich hohe Strafzahlungen zu. lichen Konsequenzen nicht äußern«. Dabei war es ein Sozialdemokrat, der als Erster Alarm schlug. Vor drei Jahren wunderte sich der bayerische SPD-Lan- desschatzmeister, ein Oberstaatsanwalt aus Bamberg, dass zeitgleich mehrere Spender in ähnlichem Ausmaß ihr Herz für die Roten entdeckt hatten. Der haupt- berufliche Strafverfolger stellte Verbindun- gen zwischen den Spendern fest und in- formierte die zuständigen Kollegen. Nach Hausdurchsuchungen, Telefon- überwachungen und der zeitweiligen In- haftierung der beiden Hauptbeschuldigten geht die Staatsanwaltschaft von Bestech- lichkeit und Bestechung aus. Die Strafkam- mer hat diesen Vorwurf der Anklage nicht zugelassen, es bleiben unter anderem Vor- teilsannahme und Vorteilsgewährung. Binnen kurzer Zeit ist es schon der dritte Fall zweifelhafter politischer Landschafts- pflege in der Kommunalpolitik, der die bayerische Justiz beschäftigt. Das Landge- richt München verurteilte den ehemaligen Landrat von Miesbach und einen ehema- ligen Sparkassendirektor zu Bewährungs- strafen, in Ingolstadt steht ein Prozess ge- gen den früheren Oberbürgermeister vor dem Abschluss, er soll für Bauvergaben private Vorteile angenommen haben, be- streitet den Vorwurf aber. Der Regensburger SPD-Politiker Wol- bergs war 2008 dem CSU-Amtsinhaber

EIBNER / IMAGO im Kampf um das Rathaus nur knapp un- Oberbürgermeister Wolbergs 2016: »Jagd- und Vernichtungsfeldzug« terlegen. 2014 folgte dann ein Erdrutsch- sieg mit über 70 Prozent in der Stichwahl gegen einen anderen CSU-Konkurrenten. ielleicht wäre die ganze Sache gar ker Tretzel, 76, als Geber sind die Haupt- Gerade sah die darbende Bayern-SPD nicht aufgefallen, hätten die Spender figuren des Falls, in dem es um eine ziem- einen Hoffnungsträger heranwachsen, als V eine andere Standardsumme für ihre lich dreiste Form der Parteienfinanzierung Wolbergs’ Höhenflug jäh endete: Im Janu- Überweisungen gewählt. Aber so: 9900 geht. Er beschäftigt seit Jahren die Justiz ar 2017 nahm die Polizei den Oberbürger- Euro pro Zahlung, also knapp unterhalb und könnte für die deutsche Sozialdemo- meister in der Tiefgarage seines Wohnhau- der Schwelle, ab der das Parteiengesetz kratie noch teuer werden. ses fest, er kam in Untersuchungshaft und vorschreibt, die Spende zu veröffentlichen. Am 3. Juli steht vor dem Landgericht wurde vom Amt suspendiert. Das Ganze 48-mal, sodass in viereinhalb Regensburg das Urteil an. Die Staatsan- Seitdem er wieder frei ist, kämpft der Jahren eine beträchtliche Summe zusam- waltschaft fordert für Wolbergs und Tret- Politiker für seine Rehabilitierung. Regel- menkam: 475000 Euro. Bezahlt von ei- zel jeweils viereinhalb Jahre Haft, die Ver- mäßig veröffentlichte er auf seiner Face- nem Bauunternehmer und dessen Umfeld. teidigung Freispruch. Mitangeklagt sind book-Seite Videostatements. Nach dem Empfänger des Geldsegens war der der ehemalige Fraktionschef der SPD im Plädoyer der Staatsanwaltschaft sprach SPD-Ortsverein Stadtsüden in Regens- Regensburger Stadtrat, Norbert Hartl, und Wolbergs von einem »Jagd- und Vernich- burg, eine kleine Parteigliederung mit Franz W., ein früherer Mitarbeiter der tungsfeldzug«, der gegen ihn laufe. Den gerade einmal zwei Dutzend Mitgliedern BTT Bauteam Tretzel GmbH, der die Staatsanwalt titulierte er im Gerichtssaal unter dem Vorsitz von Joachim Wolbergs. Spenden koordiniert haben soll. Über elf als »Obergschaftler« (»Wichtigtuer«). Wolbergs, der Name hatte Klang in der Millionen Gewinn will die Staatsanwalt- Vom Gschafteln versteht er selbst eine Region, ein politischer Aufsteiger, Bürger- schaft beim Bauunternehmer abschöpfen. Menge, davon profitierte auch seine Partei. meister und dann Oberbürgermeister von Die Spendenaffäre in der Oberpfalz ragt Zwischen 2011 und 2016 vervielfachte sich Regensburg. Mit dem Geld seines Ortsver- wegen der Summen heraus. Zum Ver- das Spendenaufkommen seines Ortsver- eins machte er Wahlkampf. Spendenquit- gleich: Die dubiosen Zahlungen an die Bo- eins. Größter Wohltäter war sein Mitan- tungen stellte er selbst aus. densee-AfD aus dem Ausland summieren geklagter Tretzel. Der Unternehmer, der Der Kommunalpolitiker Wolbergs, 48, sich nur auf ein gutes Viertel der Regens- eine Jacht und ein Flugzeug besitzt, baut als Nehmer und der Bauunternehmer Vol- burger Beträge. Sollte das Landgericht Wohnanlagen in der florierenden Univer-

44 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Deutschland sitätsstadt Regensburg. Wolbergs’ CSU- hungsweise Bestechlichkeit. Allerdings Fürs Budget der SPD wird entscheidend Vorgänger erhielt von Tretzel nach Amts - müsste dafür eine pflichtwidrige Dienst- sein, wie das Landgericht die Spenden an ende einen gut dotierten Beratervertrag. handlung zu belegen sein. Laut Eröff- den Ortsverein einordnet. Überwiesen Mit dem SPD-Mann traf sich Tretzel nungsbeschluss konnte das Gericht bislang wurden sie unter anderem von sieben Per- laut dessen Terminkalender 88-mal. Die keine Unrechtsvereinbarung erkennen. sonen aus Tretzels Firma sowie dessen in- Nähe soll Wolbergs auch privat genutzt Wie also ist das Regensburger Amigosys- zwischen verstorbener Schwiegermutter. haben, so der Vorwurf. 2012 kaufte Wol- tem rechtlich zu bewerten? Handelte es sich um Einzelspender, könnte bergs’ Mutter für ihre drei Söhne eine Ei- »Der Angeklagte Tretzel hatte stets die die Partei aufatmen. Waren es Strohmän- gentumswohnung in einem von Tretzels Amtsträger im Blick und wollte auf diese ner Tretzels, hätte die SPD illegal kassiert. Firma BTT errichteten Wohnhaus namens Einfluss nehmen«, führte Staatsanwältin Die Anklage beruft sich unter anderem Villa Grassi – italienische Gebäudenamen Christine Ernstberger in ihrem Plädoyer auf einen Überweisungszweck, den ein tauchen immer wieder auf. Den ursprüng- aus. Beim Spenden habe Tretzel wie ein Mitarbeiter bei einer Spende vermerkte: lich genannten Kaufpreis musste sie nicht Geschäftsmann gedacht: »Er verknüpft die »Bürgermeisterwahl BTT«, außerdem in bezahlen, die BTT soll ihn um 37600 Euro Investition mit einem Zweck.« Spiegelbild- einer handschriftlichen Notiz »Splittung reduziert haben, indem sie Ausbauarbei- lich der Empfänger: Wolbergs habe sich SPD«. BTT-Mann Franz W. habe sich da- ten nicht in Rechnung stellte. Die BTT soll »sehenden Auges in die Abhängigkeit« hi- rum gekümmert, »dass die Jungs auch auch einen Teil der Kosten übernommen neinbegeben und zu seinem Gönner eine eine Spende abdrücken, so wie ich das haben, um ein Ferienhaus der Wolberg- »korruptive Dauerbeziehung« gepflegt. eigentlich erwartet habe«, sagte Tretzel sens zu renovieren. Auch die Schwieger- Die Staatsanwältin zitierte aus der in einem abgehörten Telefonat. In einer mutter Wolbergs’ kaufte 2015 eine Eigen- Richtlinie der Stadt zur Verhütung von Mail vom Juli 2016 erklärte der Boss, tumswohnung von BTT, gelegen in der Vil- Korruption, unterzeichnet vom damaligen »dass die Mitarbeiter, die am Erfolg der la Querini und laut Staatsanwaltschaft zu Oberbürgermeister Wolbergs: »Jeder An- Firma beteiligt werden, sich auch an deren einem geminderten Preis. Die Kosten im weiteren Sinne be- Verteidiger können keine be- teiligen sollen«. sonderen Rabatte erkennen. Der Erfolg war groß, wie Zusätzliche Nähe schuf der Verteidiger Ufer erklärt. Ihm Fußball. Tretzel zahlte regel- zufolge erhielten die spenden- mäßig Millionen an den SSV den BTT-Mitarbeiter rund Jahn Regensburg. Als Wol- 20 Millionen Euro ausgezahlt. bergs dort ab Juni 2014 den Ufer: »Die haben sich dumm Aufsichtsratsvorsitz des Ver- und dämlich verdient.« eins übernahm, erhöhte der Die Spenden seien »in vol- SSV Jahn mit Tretzel-Geld lem Umfang aus eigenem Ein- dreimal in kurzer Zeit das kommen beziehungsweise Ver- Grundkapital seiner teuren mögen der Mitarbeiter be- Profifußballabteilung, insge- stritten« worden, argumentiert samt um 2,8 Millionen Euro. Ufer. So führten die Mitarbeiter Die Geldspritzen stehen in die Spenden in ihren Steuer - zumindest zeitlichem Zusam- erklärungen an. Laut einem

menhang mit einer großen ALLIANCE / DPA ARMIN WEIGEL / PICTURE von der Verteidigung beauftrag- Bauvergabe: der Bebauung Neubau auf Kasernengelände: »Dumm und dämlich verdient« ten Experten für Parteienstraf- der Nibelungenkaserne. Die recht machten sie lediglich »von Stadt hatte das Grundstück einem Grundrecht Gebrauch«. im Regensburger Süden vom Bund über- schein von Parteilichkeit soll vermieden Tretzel klagt parallel zum Strafverfah- nommen. Beim Weiterverkauf sollte nicht werden.« Und: »Korruption ist kein Kava- ren vor dem Verwaltungsgericht gegen das der Höchstpreis allein zählen, sondern un- liersdelikt, sondern strafbares Verhalten.« »medial motivierte, nicht rechtsstaatliche ter anderem das Energiekonzept der Bau- Wolbergs-Verteidiger Peter Witting Verhalten der Staatsanwaltschaft«. Sein träger. Über die Kriterien sollen Wolbergs zeichnete hingegen das Bild eines Politi- Medienanwalt beklagt eine massive Vor- und der SPD-Fraktionschef Hartl, der kein kers, der »für die Menschen da sein« und verurteilung und grobe Fehler der Ermitt- Amtsträger war, die BTT-Leute 2013 einen etwas bewegen wollte. »Gefälligkeiten im ler, unter anderem durch falsch verschrift- Tag vor Heiligabend informiert haben, Bereich der sozialen Adäquanz« habe es lichte Telefonate. damit diese ein aussichtsreiches Angebot gegeben, mehr nicht. In abgehörten Tele- Nach dem Strafurteil ist eine Revision erarbeiten konnten. Über das Treffen exis- fonaten versicherten die Männer einander, wahrscheinlich, ähnliche Verfahren ste- tiert nur eine grobe Notiz, Tretzels Teil- immer korrekt gehandelt zu haben. Feh- hen an, denn auch weitere Bauunter - nahme ist nicht belegt. Dennoch lagen zu- lendes Unrechtsbewusstsein? »Vielleicht nehmer spendeten an die SPD. Die nächst Mitbewerber vorn, dann schrieb gab es auch kein Unrecht«, so Witting. Staatsanwaltschaft klagt zudem den ehe- die Stadt die Vergabe neu aus. Der Verteidiger des Unternehmers be- maligen CSU-Oberbürgermeisterkandida- Am 16. Juni 2014 schickte Hartl eine tonte die allgemeine Spendierfreudigkeit ten an, »wegen Beihilfe zur Steuerhinter- Mail an die anderen Angeklagten, mit der seines Mandaten. »Herrn Tretzel gefällt ziehung und Verstoß gegen das Parteien- Bitte, Änderungswünsche im Ausschrei- die wohnungsbaufreundliche Politik der gesetz«. bungsentwurf mit Rot einzutragen. Fünf SPD«, sagte sein Rechtsanwalt Florian Aus seiner Partei ist Wolbergs ausgetre- Monate später war die Sache abgeschlos- Ufer. Es sei wie in den USA: »Da wird ten, er kam damit seinem Ausschluss zu- sen: Der Stadtrat erlaubte der BTT am einer reich, und dann gibt er es zurück.« vor. Er will nun mit einer eigenen Liste bei 23. Oktober, die Bauabschnitte für 23 Mil- Dass man sich bei den Parteispenden an der Kommunalwahl 2020 antreten. Ihr lionen Euro zu kaufen. Obergrenzen gehalten habe, sei nachvoll- Name lautet: »Brücke – Ideen verbinden Die Anklage wertet die Vergabe der Ni- ziehbar – ähnlich wie bei Freibeträgen im Menschen«. Jan Friedmann belungenkaserne als Bestechung bezie- Falle von Schenkungen in der Familie.

45 Deutschland Aus freien Stücken? Strafjustiz Maria war 13, als sie mit einem 39 Jahre älteren Mann nach Italien verschwand. Fünf Jahre blieb sie bei ihm. Der Angeklagte redet von Liebe, er versteht bis heute nicht, dass er ein Kind missbraucht hat.

s kommt ziemlich selten vor, dass ein wohl die Nähe von H. suchte und Gele- Was ihre Kinder dann aussagen, spricht Tatverdächtiger sich freut, wenn er genheiten zur Flucht nicht ergriff. dagegen. Die Älteste berichtet, sie habe E einen Polizisten sieht. So erlebte es Maria ist inzwischen 19 Jahre alt, eine regelmäßig die Schule geschwänzt, gestoh- aber Kommissar B. aus Freiburg, als er im junge Frau, ungeschminkt, unauffällig ge- len und getrunken. Ihre Mutter habe sie vergangenen September nach Rom flog, kleidet, mit weichem mädchenhaftem Ge- dann in die Psychiatrie einweisen lassen. um dort einen mutmaßlichen Sexual- sicht. Sie tritt gemeinsam mit ihrer Mutter Die Zweitälteste erzählt, sie habe im Alter straftäter abzuholen. Der Beamte hatte als Nebenklägerin auf. von 16 Jahren darum gebeten, in einem ihn jahrelang in halb Europa gesucht. Der Maria war elf Jahre alt, als Bernhard H. Heim leben zu dürfen, was auch geschah. Verdacht: Kindesentziehung und sexueller sich ihr in einem Chatforum näherte. Der Maria habe ihren Schwestern anvertraut, Missbrauch. 50-Jährige wohnte mit Frau und Kindern sie würde lieber auf der Straße leben als Der Mann, den er im Sicherheitsbereich in Blomberg in Nordrhein-Westfalen, zu Hause. des römischen Flughafens traf, sei verängs- nannte sich »Karlchen« und soll ihr Bilder Es ist die Rede von Chaos, von schwie- tigt gewesen, eher klein, mit weißem Haar- seines Geschlechtsteils geschickt haben. rigen Umständen, drei der fünf Geschwis- kranz und Kinnbart. H. habe verstört ge- Später kam er zu ihr nach Freiburg, brach- ter hätten zeitweise nicht daheim gelebt. wirkt und sehr erleichtert, dass jetzt einer te seinen weißen Schäferhund mit und mie- Marias damals beste Freundin sagt, Maria komme, der seine Sprache spreche, dem tete ein Hotelzimmer, in dem Maria ihn habe immer »weg von zu Hause« gewollt. er alles erklären könne. Der ihn nach Hau- besuchte. Das Ganze flog auf, als die Ehe- Ihre Mutter sei streng gewesen, sie habe se begleite. Redselig habe Bernhard H. auf frau von Bernhard H. die Nachrichten ent- viel verboten, auch den Kontakt Marias dem Flug zurück nach Frankfurt immer deckte und ihren Mann anzeigte. zu ihrem Vater. wieder seine »Liebe« zu Maria bekundet H. und Maria berichten heute überein- Die Freundin gab Maria Alibis, wenn und wie sehr er hoffe, sie könnten bald stimmend, sie hätten damals Zärtlichkei- diese sich mit Bernhard H. traf. »Mir kam wieder zusammen sein. So berichtet es ten ausgetauscht, aber keinen Geschlechts- es so vor, als suchte sie in ihm eine Vater- Kommissar B., Mitarbeiter der Kriminal- verkehr gehabt. Die Polizei redete dem figur«, sagt die junge Frau. H. habe auch polizei in Freiburg. Marias Vater ähnlich gesehen. Fünf Jahre zuvor, im Mai 2013, hatte Staatsanwältin Nikola Novak wirft sich Bernhard H. mit der damals 13-jähri- »Mir kam es so vor, Bernhard H. rund hundert Fälle schweren gen Maria aus Freiburg ins Ausland abge- als suchte sie in sexuellen Missbrauchs vor. Er soll Maria setzt. Seitdem waren beide verschwunden. kontrolliert und dominiert haben, ihr Kon- Der Fall erregte großes Aufsehen, auch ihm eine Vaterfigur«, takte mit anderen verboten und verhindert deshalb, weil es Anzeichen gab, dass H. sagt die Freundin. haben, dass sie eine Schule besuchte. Au- das Mädchen nicht gezwungen hatte mit- ßerdem soll er sich von ihr ein Kind ge- zukommen. Die Freiburger Ermittler und wünscht und sämtliche sexuellen Übergrif- Zielfahnder des baden-württembergischen Mann bei einer Gefährderansprache ins fe ungeschützt vollzogen haben. Einmal, Landeskriminalamts versuchten jahrelang, Gewissen. Mehr passierte nicht. Niemand etwa einen Monat vor ihrem Verschwin- die beiden zu finden. Erfolglos. Bis dann, durchsuchte seine Wohnung und seine den, sei dies auch »gegen den erkennbaren im August vergangenen Jahres, Maria wie- Computer. Die Staatsanwaltschaft stellte Willen« des Kindes geschehen. der vor dem Haus ihrer Mutter stand. Kurz das Verfahren gegen ihn ein. Als Beleg zitiert Novak aus einer Chat- darauf wurde Bernhard H. auf Sizilien fest- Marias Mutter reagierte, indem sie ihrer nachricht von Maria an Bernhard H.: »Wie genommen. Tochter das Handy wegnahm. kann man so notgeil sein, dass man ein Seit Mai steht der 58-jährige Elektriker Doch Maria traf sich weiterhin mit Bern- Mädchen, das eindeutig auf diesem Gebiet nun vor der Großen Strafkammer des Land- hard H. schon schlimme Erfahrungen gemacht hat, gerichts Freiburg. Die bisherigen Aussagen Er besorgte ihr ein neues Mobiltelefon, so bedrängt. Was für ein Kranker, Perver- bestätigen, dass H. das Mädchen wohl nicht das sie vor ihrer Mutter versteckte. Sie ser, muss man sein? Sogar wenn sie sich mit Gewalt nach Italien brachte. Die Er- schrieben sich täglich Unmengen von halb weinend an dich kuschelt, weil sie mittler zeichneten vielmehr das Bild eines Chatnachrichten, morgens um fünf Uhr trotzdem Angst hat, da bekommt jeder Mannes, der die emotionale Verlorenheit die ersten, nach Mitternacht die letzten. normal denkende Mensch einen Schutzre- eines Kindes ausnutzte. Der sich zusam- Kriminalbeamte, die die Nachrichten nach flex und schützt das Mädchen. Nicht aber menfantasierte, er führe mit dem Mädchen Marias Rückkehr nach Deutschland lasen, Herr H., der wird nur noch geiler!« eine gleichberechtigte Liebesbeziehung. sagen, H. habe sich ihr gegenüber »wei- Sexuelle Handlungen mit Jungen oder Maria, offenbar auf der Suche nach Zu- nerlich« und »unterwürfig« geriert. Er leb- Mädchen unter 14 Jahren sind immer straf- wendung und einem Zuhause, soll er der- te da noch mit seiner Familie. bar, egal ob die Kinder sich damit einver- art manipuliert haben, dass sie zumindest Marias Mutter versucht als Zeugin, das standen erklären oder nicht. Sind die Ju- Teile dieser Sichtweise übernahm. Das Ge- Verhalten ihrer Tochter mit Abenteuerlust gendlichen älter, können sie selbst ent- richt muss auch die Frage klären, ob es für zu erklären: »Eine sehr neugierige 13-Jäh- scheiden. Das gilt nicht, wenn sie sich etwa die Beurteilung des Falles überhaupt eine rige macht Sachen, die ihr verboten sind.« in einer Zwangslage befinden oder dem Rolle spielt, dass das Mädchen trotz des Die Alleinerziehende beteuert: »Wir wa- Täter anvertraut sind. Die Staatsanwältin mutmaßlich fortgesetzten Missbrauchs ren eine ganz normale Familie.« geht davon aus, dass Bernhard H. im Aus-

46 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Angeklagter Bernhard H. im Gerichtssaal, Unterkunft auf Sizilien, Maria (2. v. r.) und ihre Mutter im Prozess FOTOS: PATRICK SEEGER / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.); GIUSEPPE MARRALI / ROPI (O.R.); ANTONIO PISACRETA / ROPI (R.) / ROPI PISACRETA ANTONIO (O.R.); (L.); GIUSEPPE MARRALI / ROPI ALLIANCE / DPA / PICTURE SEEGER PATRICK FOTOS: land Marias einzige Bezugsperson war. Je- kaufte Fahrräder, ein Zelt und Schlafsäcke. men. Er war nach Aussagen von Nachbarn der Sexualkontakt mit ihr wäre dann, auch Sie radelten am Tag 20 bis 30 Kilometer, aufgefallen, weil er, Maria suchend, durch nach ihrem 14. Geburtstag, als Missbrauch über die »grüne Grenze« in die Slowakei, die Straßen der Kleinstadt irrte, nachdem von Schutzbefohlenen strafbar. durch Ungarn und Slowenien bis nach das Mädchen abgereist war. Kommissar Novak argumentiert, Bernhard H. sei pä- Italien. B. vernahm Maria nach der Verhaftung er- dophil veranlagt, was der bestreitet. Auf sei- Die beiden gaben sich als Vater und neut. Diesmal stimmten ihre Angaben mit nem Rechner fanden die Ermittler Nackt - Tochter aus. Sie wuschen ihre Kleidung denen von Bernhard H. überein. fotos von ihm und Maria, 400 kinder- und auf Friedhöfen, lebten von dem Bargeld, Die Abreise aus Italien habe sie organi- jugendpornografische Bilder und rund das Bernhard H. von seinem Konto abge- siert, indem sie über das Internet Kontakt 10000 Aufrufe einschlägiger Seiten im In- hoben hatte. Auf Sizilien hausten sie erst zu ihrem Vater aufnahm. Der habe dann ternet. Seine Stieftochter hat ihm vorgewor- in einem Rohbau ohne Strom, ohne Was- Freunde gebeten, sie abzuholen, und die fen, er habe sie sexuell missbraucht, das soll ser. 2015 zogen sie in ein Haus in der Ha- hätten sie bis nach Freiburg zur Mutter ge- passiert sein, bevor er Maria kennenlernte. fenstadt Licata und blieben dort mehr als bracht. Das Gericht hat einen Psychiater be- drei Jahre lang. Die geringe Miete und ih- Die Ermittlungen der Polizei ergaben stellt, der untersuchen soll, ob H. für die ren Lebensunterhalt bestritten sie mit Ge- aber auch, dass Maria schon länger Zugang Allgemeinheit gefährlich ist, weil er einen legenheitsjobs und Almosen. zum Internet gehabt hatte. So hätte sie Hang zu Straftaten hat. Die Staatsanwältin Dann, am 31. August vergangenen Jah- etwa nach Hausmitteln gegoogelt, als Bern- sieht die Voraussetzungen für Sicherungs- res, meldete sich plötzlich Marias Mutter hard H. ab dem Jahr 2015 Probleme mit verwahrung gegeben. Wenn das Gericht bei Kommissar B.: Maria sei aufgetaucht. den Nieren und der Prostata bekam. Seit sie anordnet, käme H. auch nach Verbü- Der Kommissar befragte das Mädchen diesem Zeitpunkt hätten auch die sexuel- ßung seiner Strafe vorerst nicht frei. zu Hause. Maria habe behauptet, sich in len Übergriffe aufgehört, heißt es in der Als das Gericht Maria und Bernhard H. Polen aus ihrem Zelt geschlichen und Anklage. zu ihrem Verhältnis und den Jahren in Ita- den schlafenden Bernhard H. zurück- Am vergangenen Verhandlungstag liest lien befragt, schließt es die Öffentlichkeit gelassen zu haben. Die Jahre danach woll- der Vorsitzende Richter Arne Wiemann aus. Ermittler haben aber die Geschehnis- te sie sich allein durchgeschlagen haben, den Abschiedsbrief vor, den Maria in der se der vergangenen Jahre rekonstruiert. was der Kommissar für wenig glaubhaft Unterkunft in Licata hinterließ. Ihre Worte Demnach fuhren die beiden in der hielt. Wo Bernhard H. sei, habe sie ihm zeigen, wie sehr sie offenbar H.s Sichtwei- Nacht zum 5. Mai 2013 mit seinem Auto nicht gesagt. se übernommen hat. und einem gestohlenen Kennzeichen nach Trotzdem wurde der Mann eine Woche »Hey du, es tut mir leid, dass du es so Polen, dort ließ H. den Wagen stehen und nach Marias Rückkehr in Licata festgenom- erfährst. Ich habe einfach nicht die Kraft,

47 es dir persönlich zu sagen. Ich habe lan- ge nachgedacht. Ich weiß, was ich zu tun habe. Wir können nicht warten, bis es von alleine besser wird. Ich habe be- schlossen, dir dein Leben zurückzugeben. Die Schuld, in der ich stehe, halte ich nicht mehr aus. Dass du alles für mich aufgegeben hast. Es macht mich und un- sere Liebe kaputt. Wir müssen erst mal alleine klarkommen. Vielleicht werden wir dann wieder zusammenfinden und glücklich, wie wir es ursprünglich geplant haben.« Bernhard H. müht sich bei der Verle- sung im Gericht die Fassung zu behalten. Mehrere Polizeibeamte berichten, er sei immer wieder auf diesen Brief zu sprechen gekommen. »Für ihn war es eine Trennung auf Zeit, für eine gewisse Phase«, sagt Kommissar B. »Er war davon überzeugt, dass man wieder zusammenkommt.« Manche Polizisten scheinen Marias Ver- halten etwas ratlos gegenüberzustehen.

Die Art und Weise, wie sie ihn bei ihrer / DPA WARNACK THOMAS Vernehmung geschützt habe, spreche für Erstklässler auf dem Schulweg: »Leistungsdrill im System« eine »gewisse Vertrautheit«, sagt Kommis- sar B., Gewalt oder Druck habe Bernhard H. nie angewendet. »Es war wohl alles frei- willig«, glaubt B. »Was war das? Liebe?«, will Stephan Reife Äpfel Althaus, der Verteidiger, wissen. Von Liebe, antwortet B., habe Maria nicht Bildung Was in Bayern ein neues Gesetz erlaubt, wollen auch gesprochen. Ein weiterer Polizeibeamter sagt, H. Eltern in anderen Bundesländern erreichen: Im Sommer habe Maria als »Seelenverwandte« be- geborene Kinder sollen ein Jahr später eingeschult werden können. schrieben. H. habe ihm erzählt, wie un- glücklich er in seinem alten Leben gewesen sei und welche Hoffnung er hatte, in Maria ute Noten haben noch keinem Men- arzt und die Grundschulleitung einem An- die Frau fürs Leben gefunden zu haben. schen geschadet. Das findet auch trag der Eltern zustimmen, damit noch ein In seinem Testament habe er nur Maria G Katrin Göltenboth aus Bretzfeld, ei- Jahr zu warten. »Total entmündigend«, begünstigt. »Er ging komplett davon aus, nem kleinen Ort in Baden-Württemberg. findet Göltenboth. dass er nach dem allem hier Maria heiraten Sie ist eine Mutter, die vorausschauend Binnen vier Monaten haben rund 24000 würde«, sagt der Beamte. Bernhard H. plant, ihren ältesten Sohn aber nicht unter Unterstützer ihre Onlinepetition unterzeich- habe auf ihn wie »blind vor Liebe« ge- Druck setzen möchte. Er ist ja auch erst drei net. Offensichtlich trifft das Anliegen den wirkt. Der Polizist sagt, er habe sich Jahre alt. Seine »emotionale Entwicklung«, Nerv vieler Eltern – auch in anderen Bun- erinnert gefühlt an Opfer von Liebes- sagt sie, sei wichtiger als schulischer Erfolg. desländern. In Nordrhein-Westfalen kam schwindlern. Deshalb drängt die 33-Jährige auf eine eine ähnliche Onlinepetition zur »Ände- Die Anwältin Claudia Meng vertritt Ma- Änderung im Schulgesetz: Göltenboth will rung des Einschulungs-Stichtages« Anfang ria als Nebenklägerin. Sie wendet sich ge- die »Früheinschulung« stoppen, wie es in des Jahres auf rund 42000 Unterstützer. gen die Verkehrung von Täter und Opfer. ihrer Petition heißt, die sie im Februar ge- Aus Brandenburg haben Göltenboth Anfra- Aus Marias Abschiedsbrief ließen sich ihre meinsam mit zwei Mitstreiterinnen ins Le- gen von Nachahmern erreicht, die ebenfalls Schuldgefühle herauslesen und auch, in ben gerufen hat. Die Mütter fordern, den die zwangsweise Einschulung knapp sechs- welche Art von Abhängigkeitsverhältnis Kindern »wertvolle Zeit zu schenken!«. jähriger Kinder verhindern wollen. Bernhard H. sie gebracht habe, argumen- Nach heutiger Rechtslage würde Göl- Rund 726000 Erstklässler haben sich tiert die Juristin. tenboths Sohn, der Ende Juli 2021 sechs im vergangenen Jahr in Deutschland auf Maria soll einen Exklusivvertrag mit Jahre alt wird, kurz danach eingeschult. den Weg in die Grundschule gemacht, einem privaten Fernsehsender abgeschlos- Ob er dann schon schulfähig ist? Seine manche davon erst fünf, die meisten sechs, sen haben. In einem der TV-Interviews Mutter weiß nur so viel: Sie will selbst ent- andere schon sieben Jahre alt. Die Kultus- sagte sie: »Ich werde versuchen, mir im- scheiden können, ob ihr Sohn mit sechs ministerin von Baden-Württemberg, Su- mer wieder klarzumachen, dieser Mensch oder sieben Jahren bereit für den Gang sanne Eisenmann (CDU), findet das Alter sitzt auf der Anklagebank, weil er mir ins Klassenzimmer ist. Von der Politik ver- allein bei der Einschulung »nicht entschei- das angetan hat, weil er schuldig ist.« Es langt sie »mehr Flexibilität«. dend, sondern stets die Gesamtentwick- klingt, als müsste sie sich selbst überzeu- Ihr Anliegen betrifft Kinder, die zwi- lung des jeweiligen Kindes«. gen, dass ihr Unrecht geschehen sei. schen Anfang Juli und Ende September Deshalb will Eisenmann den Unter- Julia Jüttner sechs Jahre alt werden. Deren Einschulung zeichnern der Petition entgegenkommen: Mail: [email protected] ist in Baden-Württemberg bisher Pflicht. »Unser Haus wird nun einen Vorschlag für Ausnahmen gibt es nur, wenn ein Amts- eine Schulgesetzänderung erarbeiten«,

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teilt ihr Ministerium mit. Konkret zugesagt Uni Würzburg, sagt: »Man tut Kindern gen an die individuellen Lernausgangs- ist bereits, »den Stichtag auf den 30. Juni nicht unbedingt etwas Gutes, wenn man lagen des Kindes anpassen können.« zu legen« – ihn also gegenüber der bishe- ihnen die Schule vorenthält.« Die Klassen- Kinder müssen Lust aufs Lernen haben, rigen Regelung drei Monate nach vorn zu gemeinschaft könne »deutlich positive Ef- und so ist es meistens auch. Schlecht nur, ziehen. Wie weit die Eltern künftig über fekte« auf die Entwicklung eines Kindes wenn die Eltern den Kleinen sorgenvoll das Jahr der Einschulung ihrer Kinder mit- haben. Ähnlich sieht es die stellvertretende vermitteln, mit der Schule beginne der bestimmen können, ist noch offen. Vorsitzende der Kinder- und Jugendärzte Ernst des Lebens. So sieht es Simone Die Bayern sind auf diesem Weg voraus- in Bayern, Brigitte Dietz: »Bleibt ein nor- Fleischmann, die Präsidentin des Bayeri- gegangen. Im bevorstehenden Schuljahr mal entwickeltes und wissbegieriges Kind schen Lehrer- und Lehrerinnenverbands. haben Eltern dort die Möglichkeit, selbst zu lange im Kindergarten, können sich Des- Fleischmann fürchtet, dass die neue zu entscheiden, ob ihre zwischen 1. Juli interesse und Lernunlust entwickeln.« Ein- bayerische Flexibilität ein »fatales Signal« und 30. September geborenen Kinder jetzt schulungen mit sieben Jahren sollten des- sende: »Schule ist ein Schreckgespenst, oder erst 2020 eingeschult werden. Der halb Ausnahmen bleiben. vor dessen Klauen man Kinder, solange es bayerische Kultusminister Michael Piazolo Das Konzept der Schulreife habe sich geht, fernhalten muss.« Diese unter Eltern (Freie Wähler) hatte im vergangenen Land- in den vergangenen Jahrzehnten sehr ge- üblich gewordene Haltung habe Kultus- tagswahlkampf die Sorgen vieler Eltern wandelt, betont Sanna Pohlmann-Rother, minister Piazolo noch befeuert. erkannt, Abhilfe versprochen und seine Fleischmann, die zwölf Jahre lang eine Zusage eingehalten. Das kommt gut an: Grundschule geleitet hat, möchte den Blick Im nächsten Schuljahr werden voraussicht- Ist Schule »ein Schreck- auf etwas anderes lenken: Es gehe doch gar lich neun Prozent mehr Kinder als im Vor- gespenst, vor dessen nicht um Korridorkinder oder Kann-Kinder, jahr zurückgestellt. wie die Einschulungskan didaten bildungs- Das kann allerdings zu neuen Proble- Klauen man Kinder fern- bürokratisch genannt werden. Sie sagt: men führen. In Bayreuth bleiben zwei Drit- halten muss«? »Die Diskussion um den Einschulungs - tel der Kinder, die zur Schule gehen könn- termin ist eine um den Leistungsdrill im ten, noch im Kindergarten oder in der Vor- bayerischen und deutschen Schulsystem.« schule. Und blockieren damit die Plätze Professorin für Grundschulpädagogik und Die Lehrplanmacher in den Ministerien für nachrückende Dreijährige, die einen -didaktik an der Universität Würzburg. müssten zur Kenntnis nehmen, dass es Betreuungsplatz benötigen. Oberbürger- Man habe erkannt, dass Kinder keine Äp- Grundschüler gebe, die vom vielen Lernen meisterin Brigitte Merk-Erbe rechnet mit fel sind, die alle zum gleichen Zeitpunkt und dem Leistungsdruck Bauchschmerzen 50 Kitaplätzen, die jetzt im Eilverfahren reif werden. »Ich finde es gut, dass Eltern bekommen. In Bayern müssen Viertkläss- zusätzlich geschaffen werden müssen, etwas mehr Entscheidungskompetenz zu- ler einen bestimmten Notenschnitt errei- »auch mithilfe von Containern«. gebilligt wird«, sagt Pohlmann-Rother. chen, um aufs Gymnasium gehen zu kön- Der Trend zur späteren Einschulung ist »Aber wichtiger ist es, den Blick nicht al- nen. Fleischmann hält vom stressigen besonders bemerkenswert, weil es noch lein auf das Kind zu richten, sondern auch »Grundschul-Abitur« wenig. »Wir brau- nicht lange her ist, dass Kindern möglichst auf die schulischen Lerngelegenheiten.« chen mehr ganzheitliches Lernen.« früh die Schultüte in die Hand gedrückt wer- Vielversprechend sei zum Beispiel die Welche Motive haben also die Eltern, den sollte. Zwischen 1998 und 2004 stieg »flexible Grundschule«, die in Bayern der- die ihren Kindern noch ein Jahr Zeit schen- die Zahl der vorzeitigen Einschulungen stark zeit aber nur von 268 Schulen verwirklicht ken wollen? Fleischmann vermutet, dass an (siehe Grafik). Es entsprach dem dama- wird. Sie soll einen sanften Übergang vom es ihnen oft auch darum gehe, »irgendwel- ligen Zeitgeist und auch den Wünschen der Kindergarten in die Grundschule ermögli- che Vorteile für ihr Kind rauszuschlagen«. Wirtschaft, die Kleinen früh zu fördern. Sie chen. Statt einer ersten und zweiten Klasse Dominique Franzen aus München gibt sollten das Bildungssystem schnell durch- gibt es dort eine altersgemischte »Eingangs- das sofort zu. Sie ist die Mutter, die vor ei- laufen, denn die Arbeitswelt wartete schon. phase«, in der die Schüler je nach Veranla- nem Jahr mit ihrer Petition »Stoppt die Lange Zeit waren Kinder schulpflichtig, gung und Lerntempo ein bis drei Jahre ver- Früheinschulung« in Bayern alles ins Rol- die vor dem 30. Juni sechs Jahre alt wurden. weilen. Sollte sich dieses System durchset- len gebracht hat. Um eine frühere Einschulung zu ermögli- zen, seien Rückstellungen wohl überflüssig, Franzens Sohn Leopold hat Ende Sep- chen, empfahl die Kultusministerkonferenz meint Pohlmann-Rother: »Es ist weniger tember Geburtstag. Er wäre nach dem al- den Ländern 1997, den Stichtag nach hinten wichtig, wann das Kind eingeschult wird, ten bayerischen Stichtag mit fünf Jahren zu schieben, maximal bis auf den 30. Sep- sondern ob sich die schulischen Bedingun- in die Schule gekommen. »Natürlich möch- tember. Dieser Empfehlung folgten in den te ich nicht riskieren, dass seine fehlende nächsten Jahren acht Bundesländer, was Reife in dem Alter später einmal der für jüngere Erstklässler sorgte. In der Folge Vorzeitige Einschulungen Grund für schlechte Noten sein könnte«, sank die Zahl der Anträge auf Früheinschu- Anteil an allen Erstklässlern sagt Franzen. Genau wie Katrin Gölten- lung. Dann schwang das Stimmungspendel Quelle: both aus Baden-Württemberg wolle sie ih- Statistisches zurück: Berlin und Niedersachsen haben, Bundesamt Schuljahr 2004/2005 rem Kind aber keinen Druck machen: wie jetzt auch Bayern und Baden-Württem- 9,1% »Ich fände es überhaupt nicht schlimm, berg, in den vergangenen Jahren den Stich- wenn er in der vierten Klasse eine Emp- tag wieder vorgezogen. fehlung für die Realschule bekommen Die Petitionen von heute berufen sich würde. Mir ist nur wichtig, dass er diesel- auf Studien, die angeblich belegen, dass ben Chancen wie seine Mitschüler hat.« mit fünf Jahren eingeschulte Kinder öfter Franzen selbst ist wegen zu schlechter sitzen bleiben, seltener fürs Gymnasium Französischnoten vom Gymnasium auf empfohlen werden und unter geringem Schuljahr die Realschule gewechselt und sagt, sie 1998/1999 Selbstbewusstsein leiden. Es gibt allerdings habe es nie bereut. Heute arbeitet sie bei 4,1% Schuljahr Anna Clauß keine einhellige Meinung in der Wissen- 2016/2017 einer Investmentbank. schaft. Der Experte Tobias Richter, Profes- Mail: [email protected] sor für Pädagogische Psychologie an der 2,6%

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Wenn die Braunkohle von gestern ist, warum soll man dann heute noch Menschen ihr Dorf nehmen? ‣S.52

2016/17 waren Früher war alles schlechter es 40630. Nº 181: Erasmus-Studierende

2011/12 1987/88 33363 förderten deutsche Hochschulen 657 Auslandsaufenthalte. 1991/92 2007/08 6897 26289

1995/96 2003/04 20688 13637 1999/2000 15715 Quelle: Daad

Lernen in der Ferne. Der französische Volkswirtschaftsstudent Angebot zum Auslandsaufenthalt bisher genutzt. Im ersten Jahr Xavier zieht in eine Wohngemeinschaft nach Barcelona, wo er nahmen nur 657 deutsche Studenten an einem Austausch teil, sich mit einer Spanierin, einem Dänen, einem Deutschen, einer 1995/96 waren es bereits 13637 und 2016/17 schon 40630. Spanien, Belgierin, einem Italiener und einer Engländerin ein Apartment Frankreich und England sind die beliebtesten Austausch länder teilt. Er lernt an der Universität – aber vor allem das Zusammen- der Deutschen. Die Zahlen werden vom Deutschen Akademi- leben mit Fremden in der Fremde. Er geht aus, verliebt sich, hat schen Austauschdienst (DAAD) ausgewertet, der auf Rückmel- Sex und öfter mal einen Kater. »Barcelona für ein Jahr« heißt dung der 380 teilnehmenden Hochschulen warten muss, weshalb der Film, der 2002 erschienen ist und der Erasmus-Bewegung die Jahresberichte mit Verzögerung erscheinen. Man geht beim ein Denkmal gesetzt hat, weil er das Lebensgefühl treffend wie- DAAD aber auch für 2017 von keinem Rückgang aus, da nicht dergibt. Spaß und Studium im Ausland miteinander verbinden, nur die Zahl der Studierenden, sondern auch derjenigen, die im dafür steht Erasmus. Das Förder- und Austauschprogramm für Rahmen des Erasmus-Programms ein Praktikum absolvieren, Studenten wurde 1987 vom Rat der Europäischen Gemeinschaf- gestiegen ist. Europa hat ja derzeit wenige Erfolgsgeschichten ten gegründet. Mehr als 4,4 Millionen Studierende haben das zu erzählen. Erasmus ist eine davon. [email protected]

Paarungsverhalten Gän se. Prinz Philip wuchs unter weib - SPIEGEL: Und dennoch nur Nummer 679 in Was können wir lichem Regiment auf, allein mit vier der Thronfolge. Wie kompensiert man das? Schwestern und seiner Mutter. Der Vater Zurhorst: Die Thronfolge spielt keine von Prinz Philip lernen, verschwand mit einer Geliebten, Philip Rolle für die Liebe. Ich lag nie unter dem Frau Zurhorst? wurde aufs Internat geschickt und die Bett der Windsors. Deswegen maße ich Mutter schizophren. mir hier kein Urteil an. Jede Ehe ist ein Eva-Maria Zurhorst, 57, gilt als Deutsch- SPIEGEL: Da blieb nur ... ganz eigenes Gefüge. lands bekannteste Beziehungsratgeberin. Zurhorst: ... die Flucht in einen unbeug - SPIEGEL: »Leading from behind«? Prinz Philip, der Gatte der Queen, feierte samen Stoizismus. Dieser Mann hat Zurhorst: Oje, das ist alt, und Frauen kön- gerade seinen 98. Geburtstag. Die Bezie- seinen Vater verloren, seine Heimat und nen es – so rum oder so rum – nicht mehr hung begann, so die Legende, als die damals seinen Namen. hören. König 2.0 ist der Mann, der mit 13-jährige Elizabeth ihrem Cousin Philip seinen Gefühlen umgehen kann. Es ist der kurz vor Kriegsausbruch begegnete. Liebe und immer mehr Frauen egal, ob einer Vorstandsvorsitzender des Univer- SPIEGEL: Kennen Sie die Prinz-Philip- sums ist. Bewegung? SPIEGEL: Oder Kanzlerin? Zurhorst: Nie gehört. Zurhorst: Kanzlerin oder Prime Minister. SPIEGEL: Ein Südseekult, der den Duke Erster oder Zweiter oder Nummer 679. of Edinburgh als Gottheit verehrt. Wohl Am Ende fällt das alles weg. Auch im zu Recht. Allein schon für seine Fähigkeit, Buckingham-Palast bleiben abends ein- 71 Jahre lang Zweiter in einer Ehe zu sein. fach Mann und Frau übrig. Zurhorst: SPIEGEL: Prinzen sind in ihrer Partner- PRESS PRESS / PICTURE CAMERA In dieser Reihenfolge? wahl so prägungsgesteuert wie kleine Queen Elizabeth II., Prince Philip 2010 Zurhorst: Ganz egal. ASM

50 Depardieu besitzt Restaurants in Paris und Weingüter welt- Eine Meldung und ihre Geschichte weit, er hat ein Kochbuch verfasst und 2015 einen Dokumen- tarfilm gedreht, »A pleines dents!«, deutscher Titel: »Schlemmen mit Gérard Depardieu«. Vor laufender Kamera macht er sich Geschmackssache über einen schottischen Schafsmagen her, über baskischen Schin- ken, neapolitanischen Mozzarella, Hummer aus der Bretagne, Warum Gérard Depardieu den Russen Trüffel, Whisky, Rotwein. In einem Kuhstall redet er auf Kälber ein: »Uh, bébés, ihr werdet sterben, euch wird man essen!« russische Lebensmittel verkauft Zur selben Zeit gehen von Russland aus Bilder um die Welt: Planierraupen zerquetschen Lebensmittel, Parmesan, Camembert, türkische Mandarinen, die Russen sollen keine érard Depardieu kauft Wodka in einem russischen Su- Lebensmittel aus dem Ausland mehr essen, das ist Wladimir G permarkt. Fünf Flaschen. Die Kassiererin scannt die Putins Botschaft. Die Russen sollen ihr Essen selbst herstellen. Flaschen ein, Depardieu beobachtet ihre Hände, als Depardieu hält sich daran. Seine Soufflés, seine Soßen, könne hier noch etwas schieflaufen. Er trägt eine dicke die in Russland vermarktet werden, als seien sie ein Höhe- schwarze Lederjacke mit hochgeschlagenem Kragen. punkt der französischen Haute Cuisine, lässt er aus russischen Das Foto entstand im vorigen Winter in Nowosibirsk. Es und weißrussischen Zutaten herstellen. Alles bio, heißt es. zeigt eine Szene aus Depardieus Leben, keine Filmszene, In einem Werbevideo, das er für Geschmäcke Frankreichs aber es ist schwer, dabei nicht an »Mammuth« zu denken, ei- gedreht hat, zeigt Depardieu, wie man Kartoffelgratin mit nen der wenigen guten Depardieu-Filme der vergangenen der exquisiten Depardieu-Knoblauchsoße zubereitet: Kar- Jahre. Depardieu spielt darin einen alten Schlachthofarbeiter, toffeln schneiden, Fertigsoße drüber, ab in den Ofen. der vor einem Supermarkt einen Einkaufswagen losreißt und Als Depardieu 2013 die russische Staatsbürgerschaft annahm, sich auf dem Parkplatz zwischen Autos hindurchzwängt, mit geschah es in erster Linie aus finanziellen Gründen. Er wollte Gewalt. Steuern sparen. Die Steuerflucht stellt er als Rebellion dar, als Er sei kein Schauspieler, hat Depardieu mal über sich selbst Aufstand gegen das Establishment. In »Monstre«, seinem jüngs- gesagt. Er sei Gérard Depardieu. ten autobiografischen Buch, schreibt er, er sei müde von gesell- Er macht seit beinahe 50 Jahren schaftlichen Normen, ertrage kein Filme, ungehobelt, zärtlich, un - Geschwätz: »Bei Gesprächen, die ersättlich, Cyrano, Porthos, Obelix, ich mir anhöre, ziehe ich Sprachen 17-mal für den »César« nominiert, vor, die ich nicht verstehe.« ein Rekord, einer der wenigen In seinem Werbevideo schnip- Franzosen in Hollywood. pelt Depardieu Kartoffeln, grunzt Als Depardieu anfing, war er bei- leicht und sagt, man müsse solche nahe schlank. Mit den Jahren wur- Geräusche machen beim Kochen. de er immer feister. Er trinke bis zu Er sagt, warum er sich für Sibirien 14 Flaschen am Tag, sagte er 2014: entschieden hat: »Es ist eine beson- Champagner zum Frühstück, Rot- dere Region, eine riesige. Die Men- wein zum Mittag, Wodka und schen hier sind sehr stark, hier wa- Whisky am Abend – und Pastis ren ja Lager. Man spricht hier ein zwischendurch. Er verlor einen Depardieu in Supermarkt in Sibirien sauberes Russisch. Ich liebe Rus- Sohn, fuhr betrunken Motorrad, sisch, die Sprache der Seele.« einmal urinierte er in ein Flugzeug. »Kak dela?«, fragt ihn eine Mitar- Was macht Gérard Depardieu in beiterin vor der Kamera, wie geht’s? Sibirien? Depardieu sagt: »Kak dela, Seit etwa einem Jahr gibt es in good, very good.« Russland Lebensmittel mit Depar- Als Depardieu Russe wurde, dieu-Konterfei zu kaufen, Kirsch- fragte eine russische Zeitung ihre strudel, Apfelsoufflé, Caesar-Dres- Leser, welche Führungspositionen sing, Mayonnaise (72 Prozent Von der Website Archynewsy.com er nun übernehmen könnte: Dorf- Fettgehalt), Knoblauchsoße, Enten- klub? Die russische Regierung? Die leber, Cabanossi, Napoleon-Torten. Auf den Etiketten ist ein russische Alkoholaufsichtsbehörde? Die meisten Leser mein- schwarz-weißes Foto von Depardieu abgedruckt, vermutlich ten: Dorfklub. Als Unternehmer sah man ihn eher nicht. aus der Zeit der ersten »Asterix«-Verfilmung, aus den Neun- Depardieu ließ sich Zeit mit dem Geschäftlichen. Er lernte zigern: weit geöffneter Hemdkragen, breites Lächeln, man beim weißrussischen Autokraten Lukaschenko das Sensen, sieht viel von Depardieus Zahnfleisch. verglich Putin mit Macron (beide seien authentisch), reiste »Gérard Depardieu recommende«, heißt es auf den Etiket- nach Nordkorea. Spielte, im Kino, Rasputin und Stalin. ten. Depardieu empfiehlt. Im vergangenen Dezember kam Depardieu für drei Tage Die Firma, die diese Depardieu-Produkte vermarktet, nach Nowosibirsk. Er ging ins Theater, in die Kirche und in heißt »Geschmäcke Frankreichs« und hat ihren Sitz in No- die Sauna, rieb sich bei minus 36 Grad mit Schnee ein, wosibirsk. Depardieu, seit ein paar Jahren russischer Staats- schwänzte eine Sitzung des Kulturrats und kaufte jene fünf bürger, ist dort gemeldet. Mit Journalisten redet er selten, Flaschen Wodka: 40 Prozent Alkohol, neun Euro je 0,5 Liter, deswegen erklärt seine sibirische Geschäftspartnerin Julija er steht im Spirituosenregal neben Dutzenden anderen Wod- Mosman, wie die Russen an »Gérards kulinarische Philo - kas, zwischen dem Weißen Gold und dem Finlandia. sophie« herangeführt werden sollen. Die Russen, das ist Auf den Flaschen ist Depardieus Gesicht abgebildet, wie die Idee, sollen sich mit Gérards Hilfe gut und gesund er- er in den Siebzigern aussah: kraftvoll, aufsässig und ein wenig nähren. wollüstig. Timofey Neshitov

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 51 Gesellschaft Heimatfresser

Verlust Trotz Kohleausstieg will RWE noch fünf Dörfer wegbaggern. Doch jetzt begehren die Betroffenen auf. Denn sie wissen den erstarkten Einfluss der Klimaschützer hinter sich. Von Barbara Supp und Matthias Jung (Fotos)

ie wird auf der Ehrentribüne sein, Und fragen: Wenn die Braunkohle von war im Westen mit den 43000 Umgesie- bei den Majestäten und den Ho- gestern ist, warum soll man dann heute delten nicht viel anders als bei den mehr S noratioren; sie, die Umsiedlungs- noch Menschen ihr Dorf nehmen? als 80000 im Osten, in der DDR. Und beauftragte der RWE. Sie wird Es sind schwierige Tage für eine Um- jetzt funktioniert es nicht mehr, jetzt spielt sich anschauen, wie die Menschen sich siedlungsbeauftragte, die auf reibungslose auch dieser Begriff plötzlich wieder eine beim Schützenfest von dem Dorf verab- Umsiedlung hofft. Rolle, der lange als gestrig abgehakt wur- schieden, das es nach dem Willen ihrer Fir- Die Protestierer haben es fertiggebracht, de, als wäre er nur ein Synonym für Folk- ma bald nicht mehr gibt. dass die Öffentlichkeit nun doch Kenntnis lore: Heimat. Elisabeth Mayers-Beecks hat den Auf- nimmt von einem Vorgang, der jahrzehnte- Was Heimat eigentlich ist, diese Frage trag, die Dinge so zu managen, dass die lang hingenommen wurde wie ein Natur- stellt sich hier in aller Schärfe. Ob sie trans- Leute sich zufriedengeben in Keyenberg gesetz: ist nicht schön. Muss halt sein. Das portabel ist, ob sie sich verpflanzen lässt. und in den anderen vier Dörfern, die als letzte im Rheinland der Braunkohle wei- chen sollen. Von denen nichts übrig blei- ben soll als ein riesiges Loch. Und irgend- wann vielleicht ein See. Das ist der Plan. Das war der Plan. Der Plan war, dass Bernd Pieper, Marita Dresen, Norbert Winzen und 1600 andere Menschen ihre Dörfer, Häuser, Kirchen, Gassen, Gärten, Bäume verlieren, dass sie sich umsiedeln lassen, murrend vielleicht, aber doch einigermaßen reibungslos wie fast 43000 Rheinländer vor ihnen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es hat ja jahrzehntelang funktioniert. Braunkohle war unverzichtbar, so sah es die Wirtschaft, so vollzog es die Politik. RWE hat’s gegeben, RWE hat’s genom- men, Haus und Hof genommen und Geld gegeben, es war wie Schicksal für denjeni- gen, der auf Braunkohle saß. Braunkohle lässt sich hierzulande nicht unterirdisch fördern; um sie zu bergen, muss alles weg, was an der Oberfläche ist. Und wer das nicht hergeben will, kann enteignet wer- den. Das deutsche Bergrecht gibt dem Tagebau diese Keule in die Hand. Es fing ruhig an, hätte eine relativ rei- bungslose Umsiedlung werden können. Dann kam etwas dazwischen. Dann kam Paris, das Klimaabkommen. Dann kam der Protest gegen Braunkohle - tagebau im Hambacher Forst, und nun haben sich die Protestierer die Dörfer vor- genommen, Bäume reichen ihnen nicht mehr. Es gibt Demonstrationen, Blocka- den, für Samstag, den 22. Juni, haben sie zu Massenveranstaltungen mobilisiert, »Fridays for Future«, »Alle Dörfer blei- ben«, »Ende Gelände« und all die anderen. Sie haben sich die Dörfer und den Tagebau vorgenommen, lautstark, massiv. Der Kohleausstieg soll kommen, 2038, sie fordern ihn noch deutlich schneller.

52 Und ob der Versuch, dies zu tun, über- gegeben und pragmatisch beschlossen, im ten großen Protestaktion im März, die als haupt gerechtfertigt sein kann. So ist neue Neuen auch den Vorteil zu sehen. Solidarität mit den Dörflern gemeint war, Hoffnung und neuer Zweifel entstanden, Das neue Haus hat außen Klinker wie protestierte er gegen die Protestierer. ein Zwiespalt in den Dörfern. das alte, innen aber breite Türen, es ist Weil? Herr Winzen will Unwiederbringliches ebenerdig, barrierefrei. Im Rohbau ste- »Weil es das Dorf zerreißt.« nicht verlieren. hend wünscht er sich, »das Gefühl zu ha- Er will nicht, dass es zwei Keyenbergs Frau Dresen will der Welt zeigen, dass ben: Ich habe es richtig gemacht«. gibt, sondern eines, weil auch der Schüt- man so mit ihr nicht umgehen kann. Es ist Mitte Mai, jetzt kommt das Schüt- zenverein wissen muss, wo er hingehört. Herr Pieper will weg. zenfest, Pieper war dreimal Schützenkönig Er will nicht, dass das Dorf gerettet wird Es gibt Menschen, deren natürliches und wird auch diesmal wieder viel zu tun und ein anderer in seinem Haus wohnt. Habitat die Baustelle zu sein scheint, haben, als Vater der Schützenkönigin. Dann hätte er es ja falsch gemacht. Viel- Bernd Pieper, von Beruf Monteur, gehört Dann kommt noch ein Urlaub an der Mo- leicht ist es für ihn wie im Trauerfall: Ein Ri - dazu. sel, dann der Umzug. tual muss sein. Eine Beerdigung. Ein Ende. Nicht dass er Lärm und Dreck beson- Er hat mit RWE verhandelt, hat unter- Allerdings wird es dann ja keinen Ort ders schätzen würde. Der Dreck des he- schrieben. Er verbucht die Umsiedlung mit mehr geben, um zu trauern. Wo Wichtiges ranrückenden Tagebaus Garzweiler II ist dem Gefühl, finanziell auf seine Kosten passierte –heimlich rauchen, küssen, Kir- einer der Gründe, warum er sein Haus in gekommen zu sein. schen klauen: alles weg. Heimweh muss Keyenberg bald verlassen und umsiedeln Alles gut also? sich ins Abstrakte wandeln. Da ist ja nur will an den Standort Erkelenz-Nord. Nicht alles gut. noch das Loch. Pieper ist in Keyenberg geboren, und Er will den Abriss. Er will, dass sein Es ist ein Vorgang, der in Braunkohle- auch er hat mal gegen den Tagebau pro- Haus nicht mehr steht, er will, dass die regionen über Jahrzehnte normal war. testiert, die Sache dann als erfolglos auf- Umsiedlung zügig weitergeht. Bei der letz- Welche Zumutung er darstellt, wird manchmal erst durch den Blick von außen wieder klar. Die Leute, denen Pieper beim Urlaub an der Mosel davon erzählt hat, sagten: »Wie, die baggern euer Dorf weg?« Sie gaben dem Vorgang das Erschrecken zurück, das er eigentlich verdient hat. Aber Pieper wehrt sich dagegen, Opfer zu sein, er nimmt gern Dinge in die Hand. Pragmatisch hat er beschlossen, Heimat nicht streng räumlich zu begreifen, son- dern eher sozial, definiert durch die Men- schen, die er kennt. Seine Logik ist: Das Neue kann nur Heimat werden, wenn es das Alte nicht mehr gibt. Er hat sogar schon mal den optimistischen Satz gesagt: »Das hier wird mal ein Dorf.« Das hier: Das ist eine Ansammlung von Häusern und Baustellen am Standort Erke- lenz-Nord, 20 Minuten von Mönchenglad- bach entfernt. Wer von außen kommt, wird denken: eine Siedlung eben. Die Umsiedler aber werden wissen: Das hier ist Keyen- berg, das Kuckum, das Berverath. Und das hier Westricht, das nun aus den Resten von Ober- und Unterwestricht besteht. Es ist flach hier, guter Lössboden. Bau- ernland. Ein kleines Wäldchen im Hinter- grund rund um ein Wasserwerk, von Fel- dern umgeben das Neue, es ist – Dorf? Ortschaft? Neubaugebiet? »Wir bauen Träume«, steht auf einem Handwerkerfahrzeug, und genau so sieht es hier aus. Manche träumen vom Tos- kanahaus, andere vom Bauhausstil, kastig weiß. Viele Einzelträume. Oft Zäune, er- staunlich viele blickdicht und hoch. Es gibt Klinker rot, Klinker weiß, Klinker gelb, Klinker schwarz und Brachen da- zwischen, wo noch Sauerampfer und Sal- bei stehen. Die Hausgärten tendieren ins Pflegeleichte, es fühlt sich nicht an wie

Umzug beim Keyenberger Schützenfest im Mai RWE hat gegeben, RWE hat genommen

53 Gesellschaft eine Ortschaft, eher – Musterhaussied- schlossen, gibt sich selbst den Auftrag, »al- Und so verhandelt RWE weiter mit den lung, das ist es. les versucht zu haben«. Kuckum, Keyen- Dorfbewohnern, baggert weiter ab. Zer- Es wird mehr öffentliches Grün geben berg – sie sollen bleiben, und jeder soll stört Gewachsenes, hinterlässt Häuser - und irgendwann auch etwas höhere Bäu- dort siedeln, wo er mag. Und die Gemein- ansammlungen. me. Eine Kapelle dort, wo jetzt die roten schaft? »Ist eh schon zerrissen. Dank Musterhaussiedlung. Kräne stehen. Eine Mehrzweckhalle, Se- Braunkohle und RWE.« Besucht man die Umsiedlungsbeauftrag- niorenwohnungen. Eine Kneipe, ein Café? RWE ist die Chiffre für Allmacht bei te von RWE in ihrem Kölner Büro und Weiß man nicht. manchen, bei manchen auch für das Böse. sagt dieses Wort, dann guckt sie streng und Und Wiesen? Pferdekoppeln? Eine Macht ist RWE, weltweiter Jahres- sagt: »Sie sollten das nicht durch Ihre Brille Marita Dresen ist schon länger dabei, umsatz 13,4 Milliarden Euro, sicherlich. sehen.« den Planern mit diesen Fragen auf die Ner- Verflochten mit Kommunen, die als An- Elisabeth Mayers-Beecks, exakt betitelt ven zu gehen. Ursprünglich hat sie um die- teilseigner die Dividende brauchen. Un- als Leiterin Umsiedlungsabteilung von se Wiesen gekämpft. Aber jetzt kämpft sie terstützt von der Politik, die in der Braun- RWE Power, ist von Haus aus Stadtplanerin ums Ganze. kohle lange den einzigen verlässlichen ein- und Architektin und sagt, sie habe für RWE Familie Dresen, drei Kinder, drei Pferde, heimischen Energieträger sah. Privilegiert »die Umsiedlungsplanung entwickeln dür- 18 Hühner, lebt auf einem ehemaligen durch das Bergrecht, es gibt dem Unter- fen. Das war wirklich ein Dürfen«. Bauernhof in Kuckum. Was früher der nehmen das Mittel der Enteignung an die Tatsächlich? Kuhstall war, ist jetzt Wohnzimmer und Hand. »Tatsächlich. Denn ich konnte bei einem manchmal Organisationsort für Wider- Auch das Bundesverfassungsgericht hat- Prozess, der früher sehr starr lief, eine star- stand. te 2013 nichts dagegen einzuwenden. Als ke Bürgermitwirkung aufbauen.« Mitwir- Am Vorabend war Marita Dresen im ein Bewohner von Immerath auf ein Recht kung daran, wie die Umsiedlung stattfin- Pfarrsaal von Kuckum bei einer Veranstal- auf Heimat klagte, beschied es: Der Tage- det, nicht ob. tung der Gruppe »Alle Dörfer bleiben«, bau könne durchaus im Sinne des Gemein- Es ist ihre Abteilung, die Häuser und gezeigt wurde der Film »Die rote Linie« wohls sein. Die Regierung habe das Recht, Grundstücke kauft und Dorfgemeinschaf- über den Widerstand gegen den Tagebau. ihn als Teil der Energieversorgung so zu ten, wie sie sagt, »in ihrer Transformation Man erlebte in diesem Film einen RWE- definieren. Das individuelle Recht des vom alten in den neuen Ort begleitet«. Vorstandsvorsitzenden, der die Wörter Mannes, wohnen zu bleiben, habe dahin- Dazu gehört, dass man »die Oberfläche »Tagebau« und »Vernunft« zusammen- ter zurückzustehen. für den Bagger vorbereitet. Ja, ich finde bringt. Man hörte Wörter wie »Heimat- auch, das klingt hart«. Dass man Häuser fresser«. Man sah, wie sich ein Abriss- abbricht, den Friedhof räumt, für Um - bagger in die Kirche von Immerath fraß. Der Hahn kräht, der bettungen sorgt. Als die Kirchenmauern fielen, war es im Mist stinkt – im Dorf geht Macht ihr das etwas aus? Raum sehr still. »Natürlich. Ich bin ja auch ein Mensch. Frau Dresen also ging es erst mal um das. Im Neubaugebiet Ich weiß, was einem die Dorfkirche bedeu- die Wiesen, sie hat 15000 Quadratmeter gilt es als unzumutbar. tet. Das Grab der Eltern auf dem Friedhof.« Fläche und wollte genauso viel wieder - Sie sage sich: »Solange die Braunkohle- haben. Sie habe ein Recht auf Wohnen, gewinnung erforderlich und Umsiedlun- beschied man ihr, nicht aber darauf, ihre Würde das Urteil heute vielleicht anders gen nicht vermeidbar sind«, so lange wolle Hobbytierhaltung so weiterzuführen. ausfallen? Jetzt, da sich Deutschland ver- sie darauf achten, »dass der Prozess gut Das Grundsätzliche an ihrem Problem pflichtet hat, seinen CO²-Ausstoß bis 2030, gestaltet wird«. sind Vorschriften, die es nicht gab, als ihr verglichen mit 1990, um 55 Prozent zu Nicht vermeidbar. Erforderlich. Was soll Dorf zum Dorf wurde. Im Bestehenden reduzieren? sie auch sagen. sind Dinge möglich, die Nachbarn im Neu- Man werde grüner werden, verspricht Aber die Zukunft. Das Neue, das ent- baugebiet als unzumutbar empfinden. Der RWE. Auf Erneuerbare setzen. Aber eine steht. Was sagt sie, die Stadtplanerin dazu? Hahn kräht morgens. Der Mist stinkt. Der Studie des Deutschen Instituts für Wirt- Jetzt, sagt sie mit gewissem Enthusias- Traktor fährt abends über die Straße. schaftsforschung zum Beispiel, die besagt, mus, »jetzt kommen Sie zu meinem Dann noch die Gesetze, Brandschutz, dass ein deutlich schnellerer Ausstieg aus Hobby«. Sie spricht von ihm in der Ver- Lärmschutz und so weiter – wollte sie so der Braunkohle möglich sei – sie schätzt die gangenheit. »Mein Hobby war die missio- bauen, wie sie jetzt lebt, dürfte sie es nicht. abbaubare Braunkohlemenge laut RWE narische Tätigkeit.« Genau das sei ihre »Hambi« kam, der Massenprotest ge- »viel zu hoch« ein. Die Tagebaugenehmi- Mission gewesen: Das Neue, das da ent- gen die Zerstörung des Hambacher Forsts, gungen, die habe man und brauche sie auch. steht, möge »qualitätsvoll sein. Regional- und Marita Dresen begann, größer zu Anders sei Deutschlands Energiebedarf typische Baumaterialien, eine gemeinsame denken. Schließlich, das fällt ihr als Ver- nicht zu decken. Die Kohle von Keyenberg Formensprache, ein städtebauliches Leit- gleich ein, »ist in Berlin ja auch die Mauer benötige man schon 2023/24, der Tagebau bild für den neuen Ort«. Ihr Lachen besagt, gefallen«. stehe quasi vor der Tür. Außerdem habe dass sie jetzt klüger ist. Marita Dresen hat eine gewisse Uner- man sich mit 67 Prozent der Menschen in Man habe Umsiedlern durchaus Vor- schrockenheit, die sie, gelernte Friseurin, den fünf letzten Dörfern schon geeinigt. bilder gezeigt. Man habe zum Beispiel Angestellte in Mönchengladbach, auf die Es wäre aus RWE-Sicht auch wenig sinn- früher mal eine Siedlung in Düsseldorf RWE-Hauptversammlung gebracht hat. voll, jetzt, im Entschädigungspoker mit besichtigt, alles weiß, nur Grau in den Wie es sich anfühlt, aus der Heimat ver- der Bundesregierung, freiwillig zu verzich- Dächern, zweigeschossig, als Einfriedung trieben zu werden, erzählte sie dort. Sie, ten. Es ist ja noch nicht verhandelt worden, Hecke oder weiß gekalkte Mauer. Es war die nie eine Aktivistin gewesen sei, mache welche Braunkohlekraftwerke RWE aus der als gutes Beispiel gemeint, kam aber nicht bei »Alle Dörfer bleiben« mit und finde Produktion nehmen soll. Der Kohlekom- so an. es »cool, total toll«, wenn junge Menschen promiss, der Ausstieg bis 2038, ist bisher Die Stadt Erkelenz, zu der die fünf Dör- Bäume und Dörfer schützen wollen. nur Absichtserklärung, also unverbindlich. fer gehören, organisierte wie üblich die Braunkohle soll nicht mehr Schicksal Das Klimakabinett ist bisher ohne Be- Mitsprache der Bürger; sie wählten den sein, sie hat sich zum Rebellieren ent- schluss. Es passiert nichts, immer noch nicht. genauen Standort aus und den groben Ent-

54 Braunkohletagebau Garzweiler II, Umsiedlungsort Erkelenz-Nord, Bauherr Pieper Das Alte abreißen, damit das Neue Heimat wird

Scheune? Nein, das ist nicht nur eine Scheune. Die Kinder reiten darin. Türe? Nein, das ist nicht nur eine Türe, es ist eine wurf: Ringstraße, unterscheidbare Ortstei- Flügeltüre im hohen Raum. Die Fliesen le, Grünstreifen, Kapelle und Mehrzweck- sind von 1863. Das Treppengeländer? Aus halle mittendrin. Und dann gibt es immer Holz, gedrechselt. Das Ganze: denkmal- wieder welche, die gern eine dorftypische, geschützt. Wenn er etwas ändern will, geschlossene Bebauung wollen. muss er den Denkmalschutz fragen. Wenn Nur wohnen wollen sie so nicht. Rund es nach RWE geht, kommen die Bagger. 80 Prozent teilten mit: Sie wollen ein Ei- Dieses Denkmalgeschützte hier ist kein genheim. Frei stehend. So, dass man außen Museum, es ist Leben. An den gedrechselten rumlaufen kann. Mit ein bisschen Grün. Geländern sind Generationen von Kindern »Ich denke, dass wir das akzeptieren herumgeturnt. Heimatgefühl wurzelt ja in müssen, was da entsteht«, sagt die Stadt- der Kindheit. Diese Geborgenheit, das frag- planerin und Umsiedlungsbeauftragte. lose Gefühl, am richtigen Ort zu sein – Nor- »Akzeptieren, was gewünscht wird von bert Winzen fallen dazu die Tage ein, wenn den Menschen, die ihr Umfeld aus ener- immer geschlossen hat, einem Metzger, er krank war, er lag im Bett und bekam Tee, giepolitischen Gründen räumen müssen.« er hat nur noch ein paar Stunden geöffnet. und draußen rauschten die alten Bäume. Die große Zumutung durch kleine Frei- Über eine der Dorfstraßen läuft eine Winzen hat Zeiten seines Lebens an- heiten erträglicher machen, das ist die Idee. Keyenbergerin, betrachtet die Fenster derswo verbracht und weiß daher umso Dafür sorgen, dass hinterher gesagt wer- an einem der leeren Häuser. Es ist das besser, was er verlieren soll. Er war drau- den kann: Ihr wolltet es doch so. Haus ihrer Tante. Die Tante ist schon ßen und studierte Ernährungswissenschaf- Es ist der Tag vor dem Schützenfest in lange weg und das Haus vielleicht auch ten, wohnte eine Zeit lang draußen mit Keyenberg, blau-weiße Wimpel flattern bald, aber die Fenster sind dreckig, und Frau und Kindern, er ist wieder hier. Er über den Straßen, über einem halb toten sie wird sie putzen, damit sie sauber lebt im Vierkanthof mit Mutter, Schwester, Dorf. »Skolstrejk för klimatet«, der Gre- sind, wenn der Schützenzug vorbeimar- Schwager, deren fünf Kindern und seinen ta-Thunberg-Spruch hinter matten und schiert. eigenen beiden, die nicht immer da sind, blank geputzten Fenstern. Schotterbeete, Heimat, das sind ja nicht nur Mauern, aber oft. Lebt mit Menschen und Pferden in denen jetzt Löwenzahn wurzelt, wu- Farben, Geräusche, Gerüche, Gebräuche. und Hunden auf diesem ehemaligen Bau- chernder Rhododendron. Zugeklebte Es sind Gefühle, und die könne man eh ernhof, in dem sein Großvater sich nieder- Briefkästen. Wenn die Menschen weg sind, nicht entschädigen, findet RWE. Aber gelassen hatte, weil er anderswo der kappt RWE Wasser und Strom. Die Polizei müsste man es nicht versuchen? Braunkohle hatte weichen müssen. Keyen - fährt Streife, die unbewohnten Häuser Na ja, sagt Norbert Winzen, »wie soll berg schien damals sicher. sind für Einbrecher attraktiv. man das Emotionale bewerten? Wie oft Die Braunkohlepläne änderten sich. Vie- Keyenberg ist ein rheinisches Straßendorf man geweint hat, vielleicht«? Er fände le im Dorf glaubten trotzdem nicht, dass mit regionaltypischem rotem Backstein, mit eine Pauschale gut. sie gefährdet seien: Die Autobahn werde Häuserfronten oft ohne Vorgarten, dafür Norbert Winzen, ein schmaler Blonder sie schützen. Die werden doch nicht die mit langen Gärten nach hinten, wo früher in einem menschendurchwuselten Vier- A61 abreißen. Also, bis zur Autobahn ge- mal Tauben, Ziegen, Schweine waren. kanthof in Keyenberg, macht gerade die hen sie, aber weiter sicher nicht. Ein Weg zur Dorfmitte führt an einem interessante Erfahrung, wie es ist, ein Le- Die Autobahn hat sie nicht geschützt, der beiden Bäckerläden vorbei, der für ben in Sachwerte umzurechnen. ein Teil von ihr wich dem Bagger, und

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 55 Es gibt Jäger mit Gamsbart am Hut, Offiziere mit Federpuschel und unter an- derem auch Marine. Wer Knie hat, die es noch erlauben, zieht im Paradeschritt an der Ehrentribüne vorbei. Dort sitzt Jennifer, die Königin von Key- enberg, unter den Majestäten, und unter den Honoratioren sind nicht nur der Pfar- rer und der Bürgermeister, sondern auch die Umsiedlungsbeauftragte von RWE. Norbert Winzen ist in Zivil aus dem Vierkanthof gekommen, um sich die Para- de anzuschauen –die RWE auf der Ehren- tribüne? Ausgerechnet? Er sieht das kri- tisch. Die RWE in Gestalt von Elisabeth Mayers-Beecks tritt herbei und sieht das Positive: »Wirklich großartig, was die Dorf- Winzen-Hof in gemeinschaft hier auf die Beine gestellt Keyenberg, Demonstrantin Dresen hat, finden Sie nicht?« »In Berlin ist ja auch die Am nächsten Tag, dem Schützenfest- Mauer gefallen« montag, laufen mehrere Gruppen von Menschen über das Land. Alle haben ein Anliegen, nur an verschiedene Instanzen. wenn man in Winzens Garten tritt, sieht rock füllen die Kirche, Menschen in Zivil. Eine Bittprozession, teilweise in Schüt- man die Folgen. Man hört sie auch, eine Fahnen. Gesänge. zenuniform, erwünscht Gottes Segen für Zeit lang hörte man sie besonders laut: Glaube – Sitte – Heimat, der Dreiklang Felder, die es vielleicht bald nicht mehr Bong, bong, bong; tags, abends und auch der Schützenbruderschaften steht auf den gibt. am Wochenende, als die Pumpe in den Bo- Fahnen. Kummer – Angst – Sorge, das ist Eine Menschengruppe in T-Shirt und den gerammt wurde, um das Grundwasser der Dreiklang, den der Priester bei der Kapuzenpulli zieht mit Transparent übers rauszuholen, bis zu 220 Meter tief. Staub. Gemeinde diagnostiziert. Land und ruft, warum auch immer auf Lärm. Beleuchtung. Tag und Nacht. »Alt-Keyenberg oder Keyenberg-Neu, Englisch, in der Erkelenzer Börde nach Kli- Norbert Winzen tut alles, was ihm ein- da ist kein Unterschied«, sagt er. Er sagt magerechtigkeit: »What do we want? Cli- fällt, um zu bleiben, mit freundlicher Un- es sogar zweimal. »Die wahre Heimat ist mate justice! When do we want it? Now!« erbittlichkeit. Auch die RWE-Leute seien im Himmel, für immer«, sagt er auch. Die Der Plan ist, die Bagger zu blockieren, immer freundlich. Was nichts daran än- drei Kirchenglocken werden wohl mit um- die für den Tagebau eine Straße planieren. dert, dass man sich möglicherweise vor ziehen, der Hochaltar nicht. Auch die Or- Marita Dresen hat angekündigt, sie sei Gericht wiedersieht. RWE braucht rasch gel ist zu groß. bereit, sich in den Dreck vor eine Maschi- ein Stück Acker von Winzen und hat die RWE steht auf dem Toilettenwagen vor ne zu setzen. Das ist dann doch nicht nötig. Enteignung beantragt. Winzen sagt nicht, dem Festzelt, das Energieunternehmen hat Die Bagger sind weg. RWE macht Pause. wie er damit umgehen will. ihn zur Verfügung gestellt. Es weiß, wie Die Blockierer gehen zu Plan B über und Eigentlich, sagt er, hätte er sich ge- man Menschen durch Unterstützung an nutzen die Schaufeln und Schubkarren, wünscht, dass die katholische Kirche die sich bindet. RWE sponsert, unterstützt, die sie dabeihaben, und die Erde, die RWE Sache vor Gericht ausficht, dass sie die plant Umsiedlungsseminare für Vereine, unfreiwillig bereitgestellt hat. Sie pflanzen Frage des Gemeinwohls noch einmal klärt sorgt bei Festen für den Bustransport. Wie Bäume quer über die Trasse, hören Reggae und die Frage mit dem Recht auf Heimat. weit die Abhängigkeit gehen soll – auch aus dem Lautsprecher und bemühen sich, Sie hat Land, und sie hat den Auftrag, die die Schützen zerreißt es darüber. Aber das die paar Stunden Pause bei den Bauarbei- Schöpfung zu bewahren. ist ein Thema, über das man öffentlich, und ten zum Erfolg zu erklären. Ein paar Stun- Unwiederbringliches zu bewahren. Un- schon gar an so einem Tag, nicht spricht. den später ziehen sie friedlich ab. wiederbringlich wie Winzens Vierkanthof, Der Erste Brudermeister der Bruder- Noch etwas später, der Zufall ist ein oder Dresens Bauernhaus, oder diese Kir- schaft Sankt Sebastianus, Keyenberg, reißt guter Regisseur an diesem Tag, treffen die che, Heilig Kreuz in Keyenberg. Im neun- sich zusammen. »Dass so viele gekommen zwei Welten aufeinander. In einem Hof im ten Jahrhundert wurde dort erstmals ein sind …« Er sagt es beim Empfang bei Braunkohledorf Berverath finden sich die Gotteshaus urkundlich erwähnt, das jetzi- Piepers für Jennifer, die Schützenkönigin. Demonstranten zu Erfrischungen nach ge wurde teilweise neugotisch umgebaut, Der Brudermeister spricht und hört schnell ihrer Aktion ein. Und im Hof nebenan Reste von Älterem sind noch da. wieder auf. »Dass so viele gekommen sammeln sich die Schützenbrüder zur letz- »Aus ewgem Stein gebauet von Gottes sind …« ten, wirklich allerletzten Parade auf dem Meisterhand«, wie es im ersten Lied der Majestäten aus dem gesamten Bezirk Fest. Zwei Gemeinschaften mit Anliegen. Festmesse heißt – nein, das ist dieses Ge- sind da. Auch der Europaschützenkönig, Sie schauen sich an. bäude nicht. Auf- und wahrscheinlich bald er stammt aus den Niederlanden, »und un- Die einen betrachten den ganzen Pla- wieder abgebauet, beides von Menschen- sere Lage«, steht in der Festbroschüre, hat neten als Heimat, die anderen die Lebens- hand. Sonntagmorgens beim Schützenfest- ihn »sehr ergriffen«. welt, in der sie geboren sind. Etwas retten gottesdienst in der Heilig-Kreuz-Kirche Im Partyzelt ist es stickig. Majestäten ste- wollen beide Seiten. fällt es schwer, nicht dauernd Botschaften hen fächelnd an Piepers Zierteich. Pieper Und vielleicht tragen die einen zur Ret- herauszulesen, die über Theologisches sagt, »danke, es geht noch«, und weist auf tung des jeweils anderen bei. hinausreichen. Menschen im Schützen- die Aufstellung für den Festzug hin.

56 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Gesellschaft

und rief: »Erst mal bisschen einspielen!« Meine Freundin schlug gleich zu Beginn ein paar Bälle, die knapp übers Netz zischten, Rückschlag von meinem Schläger abprallten und von dort auf den Platz neben uns flogen. »Aus«, rief mir meine Freundin laut zu. Homestory Wie es sich anfühlt, gegen eine Frau Ich sah zu dem Mann mit der roten Mütze, er hatte seinen Stuhl so gedreht, dass er mich besser sehen konnte. Er grinste im Tennis zu verlieren mich an. Ich spürte das Bedürfnis, mich nicht vor ihm zu bla- mieren. Ich durfte ihn nicht enttäuschen. Ich dachte: »Reiß dich zusammen, Tennis verlernt man nicht.« ch bin 1,85 Meter groß, wiege 75 Kilogramm und laufe Ich esse Fleisch in Maßen und viel Gemüse. Das letzte Mal I fünf Kilometer in unter 22 Minuten. Ich mache morgens erkältet war ich 2017. Ich habe das Buch »Untenrum frei« 35 Liegestütze, 30 Sit-ups und 12 Klimmzüge. Abends der Feministin Margarete Stokowski gelesen und bin für die das Doppelte. Meine Freundin ist 1,64 Meter groß und wiegt Frauenquote. Meine Freundin ist Juristin. Sie wird einmal 54 Kilogramm. Es war ein warmer Sonntag im Mai, als wir mehr Geld verdienen als ich, und wenn wir Kinder haben zum ersten Mal Tennis gegeneinander spielen wollten. Zwölf sollten, will ich gern auf sie aufpassen, während sie Karriere Jahre lang hatte ich keinen Schläger mehr angefasst. Doch macht. Ich halte mich für einen modernen Deutschen. Aber meine Fitness würde das schon wettmachen. im Sport geht es um Sieg oder Niederlage. Stolz oder Scham. Wir fuhren auf unseren Rädern zu einem Hamburger Ten- Im Sport habe ich gegen sie zu gewinnen. nisklub, ein Kellner, der sich um die Platzreservierungen Ich glaube, das ist der Geist der alten deutschen Männer. kümmerte, sagte uns: »Ihr habt Platz 21 gebucht, aber der Er schlummert in mir. Er wird geweckt von Rentnern mit ist heute nicht bespielbar. Nehmt einfach Platz 3 direkt hier Schirmmütze, die mich »Junge« nennen. Ich spüre ihn, wenn vorn.« Ich schaute aus dem Fenster des Büros und sah die diese alten Männer mir Komplimente machen, weil ich ein Caféterrasse, auf der fast alle Tische belegt waren. Da saßen Bierglas schneller leere als sie. Er applaudiert mir, wenn ich viele Leute bei Kaffee und Kuchen, und hinter dieser Terrasse ihnen erklären kann, wie die Leistung eines Motorrads mit lag Platz 3, mit Spielstandanzeige dem Drehmoment zusammenhängt. und einer Tribüne mit Bänken für Er feuert mich bei jedem Klimmzug Zuschauer. Ich fragte mich, was, an. Der Geist ist verzückt, wenn ich wenn ich doch etwas aus der Übung mit meinem Chef über die Fußball- wäre? Verlieren, vor all den Leuten? bundesliga rede – und der mich des- Ich schaute meine Freundin an und halb gern mag und im Job bevor- hoffte, dass sie den Mann fragen zugt. »Abkumpeln« nennt meine würde, ob er nicht einen Platz wei- Freundin das. Abkumpeln ist das, ter hinten hätte. Aber meine Freun- was nur Männer untereinander din lächelte und nickte mir zu. Ich können. Frauen können das nicht. sagte zu dem Platzwart: »Center Abkumpeln ist das Machtrezept des Court, perfekt.« Patriarchats. Meine Freundin hatte Wir gingen aus dem Büro über Aufschlag, ein gut platzierter Ser- die Terrasse in Richtung Platz 3, und vice an die T-Linie, mein Rückhand- ich merkte, wie mir ein bisschen Return flog auf den Parkplatz. Ich übel wurde, weil ich vor meiner fühlte Wut. Freundin angegeben hatte, dass ich Der erste Satz ging mit 6:1 an mei- früher einmal ein wichtiges Mitglied ne Freundin, ein Spiel gewann ich,

in meinem Heimatverein Tennisclub FÜR DEN SPIEGEL ROTHACKER THILO weil sie, wie sie sagte, »mal beim Gruiten gewesen sei: Nummer drei Aufschlag ein bisschen was probie- im Juniorenteam, Spitzname »Joker«. Damals habe ich zwei- ren wollte« und ein paar Bälle ins Aus geschlagen hatte. Weil mal die Woche gespielt, das war mit 18. Heute bin ich 31. mir selbst kein Aufschlag von oben gelang, erlaubte meine Meine Freundin war sechs Jahre lang Mitglied im TC Klein- Freundin mir, auch von unten aufzuschlagen. Wie beim Fe- machnow. Sie spielt mindestens einmal im Monat. Während derball. Der Mann mit der Schirmmütze klatschte bei meinen wir über die Terrasse liefen, sagte ich deshalb zu ihr: »Ach, Fehlern in die Hände, und ich hörte, wie er »oh« und »ah« Mist, ich habe in letzter Zeit oft Squash gespielt, ich hoffe, und »jetzt aber!« rief. Ich dachte an einen Gewaltausbruch. das hat mir nicht meine Vorhand versaut«, denn beim Squash Ich dachte an Spielabbruch. Den Schläger gründlich zertrüm- schlägt man den Ball härter und in anderem Winkel als beim mern wie einst John McEnroe. Ich wollte einen Mann mar- Tennis. Ich sagte das laut, damit es auch die Kaffeetrinker kieren, der Konsequenzen zieht. hörten, die uns zuschauen würden. Da saß ein Mann, unge- Dann schaute ich zu meiner Freundin. Sie spielte nur fähr Mitte sechzig, vor Bienenstich und Weißwein, er trug noch mit halber Kraft, aber sie tat so, als forderte ich sie. eine rote Schirmmütze. Er sagte, während ich an ihm vor - Wenn ich den Ball wieder gegen das Netz oder ins Aus überging, zu seiner Frau: »Geht ja gut los, Junge.« Dann schlug, rief sie »guter Ballwechsel«. Ich dachte an die Lie- hörte ich ihn lachen. gestütze und all die Chefs in meinem Leben. Ich dachte an Während wir unsere Schläger auspackten, versuchte ich Sieg und Niederlage. Stolz und Scham. Abkumpeln. Eins mich zu erinnern, woran man beim Tennis Profis erkennt: Man gegen eins. Kategorien alter Männer. Beim Spielstand von muss sich mit dem Rahmen des Schlägers den Sand aus dem 5:0 im zweiten Satz für sie hörte ich den Mann auf der Ter- Schuhprofil klopfen. Vor dem Aufschlag sollte man den Ball rasse nicht mehr. Ich sah auch nicht mehr zu ihm hin. Ich zwei-, dreimal mit der Hand auf dem Boden aufspringen lassen. dachte daran, dass die Zeit, in der solche Typen den Ton in Wenn man einen Ball vom Boden aufhebt, bückt man sich Deutschland angegeben haben, bald vorbei ist. Ich gewann nicht, sondern klemmt ihn zwischen Schläger und Schuh ein sogar noch ein Spiel. Mit 6:1, 6:1 verließen wir den Platz. und schleudert ihn dann in die Hand. Ich stand also an der Meine Freundin spendierte mir ein Stück Käsekuchen. Grundlinie, drosch den Schläger gegen meine Schuhsohlen Verliererkäsekuchen. Max Polonyi

57 Wirtschaft

Deutschland wäre ärmer ohne die intelligenten Schwurbeleien im Feuilleton der »FAZ«. ‣S.68

Spahn KAY NIETFELD / DPA KAY

Gesundheitskarte Wundersame Gehaltsvermehrung Gesundheitsminister Spahn tauscht den Chef der Gesellschaft Gematik aus – und lockt mit üppigem Salär.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will dem laut Angaben aus Branchenkreisen mit rund 180 000 Euro designierten neuen Topmanager für die elektronische Gehalt pro Jahr und ohne Dienstwagen ausgekommen. Die Gesundheitskarte etwa doppelt so viel an Vergütung zahlen Gematik ist für die Einführung und Weiterentwicklung der wie dem bisherigen Amtsinhaber. elektronischen Gesundheitskarte verantwortlich, die sich seit Spahn hat entschieden, den Chef der Gesellschaft für Tele- Jahren als Pannenprojekt erweist. Im Mai hatte das Minis - matikanwendungen der Gesundheitskarte (Gematik), Alexan- terium per Gesetz die Mehrheit an dem Unternehmen über- der Beyer, abzuberufen und durch den Pharmamanager nommen und damit Kassenärzte, gesetzliche Krankenkassen, Markus Guilherme Leyck Dieken zu ersetzen. Laut einem Kliniken und Apotheker entmachtet. Der Verwaltungsrat der Schreiben des Ministeriums an die Gematik-Gesellschafter Gematik wollte am Freitag über die Berufung Leyck Diekens sieht der Vertragsentwurf für Leyck Dieken eine jährliche ent scheiden, eine Zustimmung gilt bislang als Formsache. Grundvergütung von 300 000 Euro vor, dazu eine variable Das Gesundheitsministerium erklärte auf Anfrage, um ei - Komponente von 40 000 Euro jährlich, eine Altersvorsorge nen Topmanager zu bekommen, müsse man »mindestens von rund 32 000 Euro sowie einen monatlichen Dienst- ein Gehalt zahlen, das unter Spitzenfunktionären der gesetz- wagenzuschuss von 1350 Euro. Sein Vorgänger war bislang lichen Krankenversicherung üblich ist«. COS

Gewerkschaften Mitglieder der krisengeplagten Gewerk- Lösungen: Sie votierten für die Nach - UFO-Führung gestärkt schaft am Donnerstag aber schon geschaf- benennung von bis zu vier Vor ständen fen: einen handlungsfähigen Vorstand. In per Onlineumfrage und reguläre Neuwah- Noch ist unklar, ob es auf dem Höhe- den vergangenen zwei Wochen stimmten len im Frühjahr 2020. Sollten Gerichte punkt der Reisesaison zu den von der sie über die künftige Führung ab, nach- einen Streik nicht schon im Vorfeld ver- Kabinengewerkschaft UFO angekündig- dem zuvor nahezu alle früheren Spitzen- bieten, kann die UFO also auch weiterhin ten Streiks bei der Lufthansa und ihrer funktionäre ausgeschieden waren. Die mit Arbeitskampfmaßnahmen drohen Billigtochter Eurowings kommt. Eine UFO-Mitglieder entschieden sich mit knapp und sie am Ende womöglich sogar in die wichtige Voraussetzung dafür haben die 41 Prozent für eine von drei an gebotenen Tat umsetzen. DID

58 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Wasserstoff zugelassen sind, liegt der Anteil von Was- Sechs Autos pro Tankstelle serstofffahrzeugen somit bei 0,0007 Pro- zent. Mittlerweile gibt es bundesweit Trotz Millionenhilfen von der Industrie 71 Wasserstofftankstellen. Das bedeutet: hat sich Wasserstoff als Antriebsenergie Auf eine Tankstelle kommen knapp sechs für Autos in Deutschland kaum etabliert. Fahrzeuge. Bis Anfang 2020 will H2 Zum 1. Januar 2019 registrierte das Kraft- Mobility, ein Konsortium aus Air Liquide, fahrt-Bundesamt in Flensburg 392 Fahr- Daimler, Linde, OMV, Shell und Total, zeuge, die mit Wasserstoff betrieben das Netz auf hundert Stationen erweitern. werden. Die meisten davon sind Pkw, Die Internationale Energieagentur in ihre Zahl ist seit 2015 von 144 auf 374 Paris hatte in einem Report diese Woche gestiegen, die Anzahl der Busse dagegen die Bedeutung von Wasserstoff als Ener- sank von 20 auf 12. Unter den 57,3 Millio- gielieferant für den Transport sektor her- nen Kraftfahrzeugen, die in Deutschland vorgehoben. AJU Transformator im Werk Nürnberg

Siemens ARD er sich aus rechtlichen Gründen nicht IG Metall will Mehr Gebührengeld äußern. Zu dem Paket gehören laut dem Papier exklusive Rechte für Ausstrah- Energiejobs retten für Fußballrechte lungen im Free-TV, darunter neun Live- spiele, inklusive der beiden Halbfinal - Bei Siemens bahnt sich ein Konflikt Die TV-Übertragungsrechte für den spiele sowie des Endspiels. Diese dürfen zwischen Geschäftsleitung und IG DFB-Pokal werden die ARD künftig nur im TV-Hauptprogramm »Das Erste« Metall um die geplante Abspaltung des mehr Geld kosten als in den Vorjahren. aus gestrahlt werden sowie im Internet. Energiegeschäfts an. Anfang Mai hatte Laut einem vertraulichen Papier zahlt Ebenfalls inbegriffen sind die Rechte der Vorstand unter Konzernchef Joe der Senderverbund insgesamt 135 Millio- an der Übertragung des DFB-Pokals der Kaeser angekündigt, nach der Verkehrs- nen Euro für die Saisons 2019/20 und Frauen. Der DFB-Pokal ist neben der und Medizintechnik auch diese Sparte 2021/22. Für die beiden Spielzeiten davor Bundesliga der wichtigste Fußballwett- auszugliedern und bis September 2020 lag die Vertragssumme noch bei 127 Mil- bewerb der Republik. Neben der an die Börse zu bringen. Die Arbeit - lionen Euro. Hinzu kommen weitere ARD bekamen auch andere Bewerber nehmervertreter im Aufsichtsrat trugen 1,4 Millionen Euro Produktionskostenzu- einen Zuschlag: So liegen die Pay-TV- den Trennungsbeschluss damals nach schuss pro Saison, den die ARD eben- Rechte exklusiv beim Bezahlkanal Sky; einigem Ringen mit, fühlen sich nun falls schultern muss. ARD-Sportkoordina- der Sender Sport1 erhielt nachrangige aber von Kaeser und seinen Vorstands- tor Axel Balkausky sagt, alle zustän- Livespiel-Rechte. Der Axel-Springer- kollegen düpiert: Anfang der Woche digen Gremien hätten den Konditionen Verlag darf On-Demand-Clips online teilte die Siemens-Führung überra- zu gestimmt; zu Vertragsdetails wolle ver breiten. MUM schend mit, dass in dem Bereich erneut 2700 Jobs gestrichen werden sollen, davon mehr als die Hälfte in Deutsch- land. Gesamtbetriebsratschefin Birgit Digitalisierung Entscheidung über einen Standort gefal- Steinborn erfuhr von den Plänen nach len. Unlängst hatte VW-Chef Herbert eigenen Angaben erst kurzfristig und VW plant Hightech- Diess angekündigt, eine Einheit für Auto- reagierte entsprechend sauer. »Wir kön- Standort in München software mit gut 5000 IT-Experten zu nen nicht nachvollziehen, dass in einem schaffen. Der Anteil der eigenen Software- langfristig wachsenden Markt ein kurz- Der Volkswagen-Konzern will ein neu- Entwicklung solle von knapp 10 Prozent fristiger Abbau der Mitarbeiter vor- es Zentrum für Software-Entwicklung in auf mindestens 60 Prozent steigen. SH genommen werden soll«, kritisiert sie. München aufbauen. Aktuell sieht sich Noch deutlicher äußert sich IG-Metall- der Autohersteller nach geeigneten Hauptkassierer Jürgen Kerner, der Räumlichkeiten um, heißt es aus Bran- ebenfalls im Aufsichtsrat sitzt. »Die chenkreisen. Einige Hundert IT-Exper- Pläne sind ideenlos, die IG Metall lehnt ten könnten demnach in der bayerischen sie grundsätzlich ab«, stellt er klar. In Landeshauptstadt angesiedelt werden. Zeiten eines wachsenden Fachkräfte- Für den Standort sprechen die guten mangels würden auch bei Siemens gut Universitäten und deren Verzahnung mit ausgebildete Mitarbeiter weiterhin der Wirtschaft. In München betreibt der gebraucht. Der Konzern müsse daher Konzern bereits ein sogenanntes Data »den massiven Veränderungen des Lab für künstliche Intelligenz, das Toch- Energiemarktes Rechnung« tragen und terunternehmen Audi forscht dort am in die Qualifizierung der Beschäftigten autonomen Fahren. Der Münchner Wett- investieren. Siemens hatte schon zuvor bewerber BMW beobachtet die Aktivitä- angekündigt, im Kraftwerksgeschäft ten des VW-Konzerns vor der eigenen 6000 Stellen abzubauen. Von den nun Haustür mit Interesse: Offenbar sei der bekannt gewordenen zusätzlichen Spar- VW-Hauptsitz Wolfsburg für Entwickler plänen wären die Mitarbeiter der Ener- nicht attraktiv genug, lästert man in gieübertragungssparte betroffen, in BMW-Kreisen. VW will sich zu den der Hochspannungsnetze und Transfor- Plänen nicht äußern, es sei noch keine VW-Elektroauto ID.3 (getarnter Prototyp) matoren hergestellt werden. DID

59 60 Finanzmarkt und neueErlösquellen erschließen. Regulierungsbehörden undZentralbanken sindalarmiert. Zahlungsmittel soll kostenlose Überweisungen viaWhatsAppundInstagram ermöglichen König Zuckerbergs Dukaten Mit seiner Digitalwährung Libra will Facebook dasGeldneuerfinden.Dasvirtuelle Facebook-Gründer Zuckerberg: Der mächtigste Banker derWelt?

FLORIAN GAERTNER / PHOTOTHEK.NET / IMAGO Wirtschaft

angen wir beim Namen an: Libra. Dollar gegen sogenannte Libra-Token tau- Die Versprechen sind groß. »Wir wollen, Der steht im Englischen für das schen. Ihr Echtgeld fließt derweil in einen dass das Geldsenden so einfach wird F Sternzeichen Waage und klingt Reservefonds. Der wiederum soll das Geld wie das Senden einer Textnachricht«, sagt auch irgendwie nach Freiheit, Li- in Bankeinlagen und Staatsanleihen ver- Kevin Weil, Produktvizechef bei Calibra. berty. Tatsächlich dürfte Facebook wohl schiedener Währungen investieren. Ohne Verzögerung und ganz oder fast eher an die römische Maßeinheit Libra ge- Hinter diesem Reservefonds steht nicht ohne Gebühren wäre das Geld beim Emp- dacht haben, als der Tech-Konzern einen nur Facebook, sondern die Libra Associa - fänger. Viele Millionen Menschen, die in Namen für seine neue Digitalwährung tion, ein Gründungskonsortium von bisher Ländern mit instabilen Währungen und suchte. Gründer Mark Zuckerberg hat ein knapp 30 Unternehmen. Dazu gehören schwach entwickelten Banken leben, be- Faible für die römische Antike. Dass Libra große Onlineplattformen (Spotify, Uber, kämen damit Zugang zu finanziellen Diens- auch an die alte schwindsüchtige italie - Ebay, Lyft), Finanzdienstleister (Visa, Pay- ten. Laut Facebook sind das 1,7 Milliarden nische Währung Lira erinnert, die Urlau- Pal, Mastercard, Stripe), Wagniskapi - Menschen. »Banking the Unbanked« heißt ber früher in Bündeln von der Adria nach talgeber, Blockchain-Unternehmen und deshalb das Ziel, was übersetzt so viel be- Hause brachten, ist vielleicht nur für eu- Non-Profit-Organisationen. Der Verein deutet wie: denen zu Bankdienstleistungen ropäische Ohren ein Problem. soll bis zum Start der neuen Währung im verhelfen, die bisher keine haben. Wie neu und unverstanden das Ding ist, kommenden Jahr auf 100 Mitglieder an- Doch so uneigennützig, wie das klingt, merkt man schon daran, dass sich im Deut- wachsen. ist es nicht. Mit Libra könnten Facebook schen noch kein grammatisches Geschlecht Aufbewahrt und eingesetzt werden soll und seine Töchter WhatsApp und Insta- durchgesetzt hat. Mal liest man »der Li- die Libra über einen digitalen Geldbeutel, gram neue Erlösquellen erschließen und bra«, mal »die Libra«. Beides klingt besser eine sogenannte Wallet. Facebook nennt sich für ihre Nutzer zunehmend unver- als »GlobalCoin« oder gar »Zuck-Buck«, seine Version Calibra, aber auch andere zichtbar machen. Rund 90 Millionen klei- wie das Digitalgeld genannt wurde, bevor Anbieter sollen Libra-Wallets programmie- ne Unternehmen sind derzeit bereits auf Facebook seine Pläne für eine eigene Wäh- ren und anbieten können. Facebook selbst präsent, Libra wird die rung nun offiziell enthüllte. Um Datenschutzbedenken zu zerstreu- wirtschaftliche Dynamik auf diesem gigan- Was ist das, Libra? en, will Facebook Calibra als separate Un- tischen Marktplatz wohl weiter beflügeln. Libra soll ein Zahlungsmittel werden ternehmenseinheit führen. Das Geschäft Anbieter könnten Kunden etwa mit Ver- wie der Dollar oder der Euro, nur digital. mit dem Zahlungsverkehr soll strikt ge- günstigungen locken, wenn diese in Libra Mark Zuckerberg wird kein Bargeld dru- trennt werden von Facebooks Social-Me- bezahlen. Bei Instagram könnten Nutzer cken, er will das Geld neu erfinden. Und dia-Aktivitäten. Bisher ist das vor allem künftig mit der neuen Währung Produkte die Töne, in denen Facebook seine Idee ein Versprechen, doch Zuckerberg kennt direkt bei Influencern oder dort vertrete- besingt, könnten denn auch kaum höher die immer lauter werdenden Rufe der nen Firmen kaufen; auch die Ankündi- sein: »Wir verändern die Weltwirtschaft. Politik nach einer Zerschlagung des schon gung, dass Unternehmen künftig ihre Pro- Damit die Menschen überall ein besseres jetzt übermächtigen Konzerns, weiß um duktkataloge bei WhatsApp hochladen Leben haben.« Weltverbesserung. Darun- die wachsenden Bedenken gegenüber dem können, erscheint nun in neuem Licht. ter macht es Facebook nicht. Datenmonster Facebook, das den Schutz Alle diese Dienste und der Facebook- Libra soll ähnlich wie die Kryptowäh- der Privatsphäre schon oft seinen geschäft- Messenger würden mehr und mehr zu rungen Bitcoin und Ethereum auf einer lichen Interessen geopfert hat. Handelsplattformen und Facebook somit Blockchain-Technologie basieren, aber an- Noch ist Libra bloß eine Idee, die noch höhere Umsätze bescheren. Die chinesi- ders als diese im Wert nicht schwanken. scheitern oder ausgebremst werden kann. sche Megaplattform WeChat, Facebooks Geplant ist eine stabile digitale Wertein- Doch wenn sie zündet, wird sie das Welt- wichtigster globaler Konkurrent, bietet heit. Die Nutzer sollen etwa Euro oder finanzsystem durchrütteln. schon lange Bezahl- und andere Finanz-

So soll das Libra-System funktionieren Libra ist ein Zahlungssystem, das auf einem Währungskorb basiert. Libra Association mit Sitz in der Schweiz

vergeben die Libras landen diese Wallet ist aktuell 28 Partner, Libras an in einer Wallet, zum Beispiel in darunter Facebook Nutzer Facebooks Version WhatsApp und im davon heißt Calibra Facebook Messenger verfügbar Libra-Partner erhalten Dividenden investieren je 10 Millionen Erlöse aus dem Verkauf von Libras aus den Anlagen Dollar, um Mitglied fließen in den Reservefonds des Reservefonds zu werden einfache einkaufen Rabatte Überweisungen

%

Die eingehenden Euros oder Dollars werden in Bankeinlagen oder Staats- innerhalb von WhatsApp unter anderem etwa bei Libra- anleihen angelegt. Anders als bei Kryptowährungen wie Bitcoin soll der und Facebook Messenger im Facebook Mitgliedern, z.B. Libra-Kurs durch Bindung an einen Währungskorb stabil gehalten werden. Marketplace Uber oder Booking.com

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 61 dienstleistungen an. Bereits 2021, schätzt wenig verdienen, aber einen Großteil ihres lerdings eher als Anlageklasse denn digitale die Bank Barclays, könnte Facebook dank Lohns in die Heimat senden. Der Umfang Alternative zu Gold oder Fonds. Für schnel- Libra zusätzliche 19 Milliarden Dollar Um- solcher internationaler Rücksendungen le Bezahlvorgänge an der Kasse und im Netz, satz machen. belief sich 2018 auf schwindelerregende wie Libra sie ermöglichen will, ist der Bit- »Superspannend« findet Johannes Reck, 689 Milliarden Dollar. Beträte Facebook coin zu langsam, sein Wert ist zu volatil und Gründer der Reiseplattform »GetYour- den Markt, könnte das »alle Konkurren- der Umgang nicht nutzerfreundlich genug. Guide«, den Facebook-Plan. Über Recks zanbieter wegfegen, samt den lokalen Ban- Die Erfinder von Libra haben sich von Start-up können Nutzer Tickets und Aus- ken und den informellen finanziellen Netz- Bitcoin und Ethereum inspirieren lassen. flugs touren an ihrem Urlaubziel buchen. werken«, sagt der Social-Media-Experte Selbst die Idee, das Projekt in der Schweiz Zahlungsdienstleister wie PayPal seien teu- Siva Vaidhyanathan von der Universität zu gründen, ist geklaut. Zahlreiche Krypto- er und unpraktisch, sagt Reck. »Facebook Virginia im »Guardian«. Projekte haben das Land wegen seiner nied- ist mit einer seiner Apps praktisch auf rigen Steuern und der weitmaschigen Regu- jedem Smartphone präsent, hat Milliarden lierung als Stand ort gewählt. Calibra-Chef Online identitäten, kann sie prüfen und Es bleibt die Frage, ob David Marcus, ein gebürtiger Franzose, ist damit eine sichere und kaum zu hackende ausgerechnet Facebook in Genf aufgewachsen. Auch das hat wohl Zahlung garantieren«, sagt Reck. Er ist eine Rolle gespielt. sich sicher: »Die Händler werden drauf- geeigneter Herausgeber Bleibt die Frage, ob ausgerechnet Face- springen.« einer Weltwährung ist. book ein geeigneter Herausgeber einer Viele Kunden wohl ebenso. Gerade für Weltwährung ist und Mark Zuckerberg ein die wachsende Zahl der Nutzer in Schwel- guter Zentralbankpräsident. Der Konzern len- und Entwicklungsländern würde Face - Wenn Libra funktioniert, dann vor al- ist – nicht zuletzt durch Regelverstöße – in book als globale Bank quasi unentbehrlich. lem dank Facebooks Größe. Mit 2,4 Mil - vielen Bereichen zum Quasimonopolisten Allein die 1,5 Milliarden Nutzer der Face- liarden Nutzern würde allein seine Markt- aufgestiegen. Facebook gelingt es nachweis- book-Tochter WhatsApp könnten über macht reichen, um eine massentaugliche lich nicht, die privaten Daten seiner Nutzer den Messenger nicht mehr nur Nachrich- Digitalwährung zu etablieren – ein alter ausreichend zu schützen oder einen Miss- ten, sondern auch Geldsummen verschi- Traum der Tech-Industrie würde Realität. brauch – wie im Fall der russischen Ein- cken. Das könnte zur »Killer-App« wer- Vor zehn Jahren trat der bis heute nur un- flussnahme auf die US-Wahlen – rechtzeitig den und die Kryptowährung populär ma- ter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto be- zu bemerken. chen – klassische Geldtransferanbieter wie kannte Erfinder des Bitcoins an, um genau Und diese Firma soll ein privates Zah- Western Union verlangen zum Teil hohe so ein »elektronisches Bezahlsystem« zu er- lungssystem betreiben, das möglicherwei- Gebühren. Darunter leiden Migranten, die schaffen. Sein Bitcoin wurde ein Erfolg – al- se an Institutionen wie Zentralbanken und

1982 Flüssigkristalle bringen dem Computer das Fahrradfahren bei: im Display des ersten digitalen Tachometers. 1888 1992 Eine reife Leistung: Das Macht Gegenwind zum lauen Vulkanisationsverfahren Lüftchen: Der Nickel-Cadmium- macht luftgefüllte Gummi- Akku im ersten Pedelec gibt reifen möglich und so das Radlern Extraschub. Fahrradfahren bequemer.

Die Chemie macht das Rad zum Wirtschaft

regulatorischen Behörden vorbei operie- Auch der EZB hat Zuckerberg sein Pro- sen. Durch die Koppelung an westliche De- ren könnte. Für Zuckerberg ist der Schritt jekt vorgestellt. Eine EZB-interne Task visen wäre eine Art Währungskolonialis- zu Libra konsequent. Sein Reich umfasst Force untersucht bereits seit dem Frühjahr mus denkbar – ähnlich wie im Kosovo und längst etwa doppelt so viele Menschen wie 2018 die Folgen des Booms digitaler Wäh- in Montenegro. Dort ist der Euro legitimes der größte Staat der Welt, die Marktkapi- rungen. Der ist den Zentralbanken sus- Zahlungsmittel, ohne dass die Balkanlän- talisierung seiner Unternehmen übersteigt pekt, weil er potenziell ihre Souveränität der Mitglied der Eurozone sind. die Haushalte vieler Volkswirtschaften, untergräbt – auch wenn von den virtuellen Nicht nur für die Regulierer, auch für mit seinen »Community-Regeln« vollstreckt Währungen gegenwärtig keine Gefahr für klassische Banken ist Facebooks Plan eine er eigene Gesetze. Nun bekäme König das Finanzsystem ausgehe, wie die Exper- poten zielle Bedrohung. Einige von ihnen Zuckerberg auch noch eigene Dukaten. ten im Mai erleichtert feststellten. Dafür sei haben sich selbst schon an Blockchain- Ein Selbstgänger ist Libra deshalb nicht. der Markt viel zu klein. Doch das war vor In itiativen versucht, etwa das US-Geldhaus Sofort nach Ankündigung der Facebook- Libra. Angesichts der Marktmacht von J. P. Morgan Chase. KPMG-Mann Korschi- Pläne forderte die Vorsitzende des US-Fi- Facebook und seinen Mitstreitern wächst nowski sieht eine weitere Kampfzone: das nanzausschusses, Maxine Waters, den Kon- die Sorge, die Zentralbanken könnten tat- Geschäft mit Kundendaten. »Je mehr Fi- zern auf, sein Libra-Projekt zu stoppen und sächlich ihr Monopol verlieren, über den nanzdaten von Kunden die Tech-Firmen die Einschätzungen der Behörden abzu- Leitzins die Geldmenge zu steuern. erhalten, desto schwerer wird es für die warten. Der französische Finanzminister Ganz machtlos sind die Notenbanken Banken, an klassischen Transaktionen noch Bruno Le Maire erneuerte sein Postulat, nicht. Sie geben die Libra-Deckungswäh- Geld zu verdienen.« Mit Facebooks Reich- Tech-Giganten schärfer zu regulieren. rungen aus, also etwa Dollar und Euro, weite können sie nicht mithalten. Wenn Mark Carney, dem Gouverneur der Bank und könnten das Projekt torpedieren. »Sie sich Libra durchsetze, erwarten Analysten of England, hatte Zuckerberg seine Wäh- könnten verbieten, dass Libra-Nutzer ihr der Citigroup, würden über die Plattform rungspläne schon vorab präsentiert. Er ste- Geld in Dollar oder Euro zurücktauschen mittelfristig womöglich nicht nur private he dem Projekt offen gegenüber, aber nicht können, es gibt keinen Annahmezwang«, Bezahlvorgänge abgewickelt, sondern alle mit offener Tür (»open mind but no open sagt Sven Korschinowski, Digital-Banking- möglichen Finanzdienstleistungen. door«), sagte Carney, als die Libra-Pläne Experte der Beratungsfirma KPMG. Facebook wüchse dann zu einer Art diese Woche publik wurden. Über Libra, Probleme könnten dagegen auf Zentral- Schattenbank. Und Mark Zuckerberg wä - so Carney, werde demnächst im Rahmen banken in Zweit- oder Drittweltländern re der mächtigste Banker der Welt. der G7, der führenden Industrienationen, zukommen. Wo das Vertrauen in die eige- Tim Bartz, Guido Mingels, sowie bei der Bank für Internationalen ne Währung gering, die Inflation hoch ist, Marcel Rosenbach Zahlungsausgleich und beim Internationa- könnten die Menschen rasch auf Libra um- Mail: [email protected] len Währungsfonds gesprochen. steigen und ihre Notenbanken ausbrem-

2015 Mit der Chemie als Tandempartner Hält die Hände am Lenker: wird das Fahrradfahren dank neuer Der Fahrradhelm mit integrierter Funktechnologie macht das Werkstoffe und Verfahren immer Smartphone auch unterwegs komfortabler und sicherer. Das Ziel: nutzbar – dank Mikrochips aus hochreinem Silizium. eine gesunde und nachhaltige 2018 Mobilität, die Spaß bringt. Gibt richtig Kette ohne Kette: Entdecken Sie mehr Der Prototyp mit hocheffi zientem Antriebssystem durch Kugellager unter www.ihre-chemie.de. aus technischer Keramik gewinnt einen EUROBIKE AWARD.

Renner. Wirtschaft

SPIEGEL: Herr Spohr, wann haben Sie das Wort »Flugscham« zum ersten Mal »Ich nehme das ernst« gehört? Spohr: Schon sehr früh, und zwar von mei- Mobilität nem schwedischen Kollegen Ulrik Svens- Lufthansa-Chef Carsten Spohr, 52, über Flugscham, son, unserem Finanzvorstand. Wir haben Tickets für 9,99 Euro und seine Ideen für eine CO2-Abgabe beide Kinder und wissen daher schon län- ger, dass da ein Thema auf uns zurollt. Und wir haben beschlossen, es offen anzuspre- chen und nicht defensiv damit umzugehen. SPIEGEL: Was heißt das? Spohr: Dass wir uns mit der Frage beschäf- tigen, wie eine ökologische Zukunft der Luftfahrt aussehen könnte, und uns dabei nicht bloß von außen treiben lassen wollen. Ich nehme das ernst. SPIEGEL: In Schweden steigen jüngere Menschen verstärkt auf die Bahn um, so wie das ihr Vorbild, die Umweltaktivistin Greta Thunberg, propagiert. Merken Sie diesen Trend auch in Deutschland? Spohr: Nein, im vergangenen Monat ist unsere Passagierzahl erneut um fast drei Prozent gewachsen. SPIEGEL: Gut für Sie, schlecht fürs Klima. Spohr: So simpel ist das nicht. Viele Kurz- streckenflüge sind für uns selbst unpro - fitabel. Wir drängen daher schon seit Jah- ren darauf, diese Reisen auf die Bahn zu verlagern. Doch bislang gibt es viel zu wenige zuverlässige und wettbewerbsfähi- ge Angebote der Bahn. Zwischen Köln und Frankfurt zum Beispiel funktioniert das, sodass wir diese Strecke bereits vor zwölf Jahren zugunsten der Bahn aufge- geben haben. Und in diesen Tagen folgt Nürnberg–Berlin. Aber davon müsste es viel mehr geben. SPIEGEL: Dass Sie auf diesen Strecken nichts verdienen, liegt doch vor allem an dem mörderischen Preiswettbewerb. Spohr: Es gibt dieses schnell wachsende, extrem preissensible Segment nun mal. Und es hat das Fliegen in den vergangenen Jahren enorm demokratisiert. Aber Ticket- preise unter zehn Euro sind weder ökono- misch sinnvoll noch ökologisch und poli- tisch verantwortbar. SPIEGEL: Sie geißeln Billigflüge für 9,99 Euro, wie Ryanair sie anbietet, gleichzeitig mischen Sie in dem Marktsegment über Ihre Billigtochter Eurowings selbst kräftig mit. Ist das nicht verlogen? Spohr: Bei uns liegt der Minimalpreis bei 25 Euro. Und wir kommen in der Tat um die Konkurrenz zu den Billigfliegern nicht herum, weil wir unseren Heimatmarkt ver- teidigen müssen. SPIEGEL: Der Preiskampf fordert offenbar seinen Tribut. Am vergangenen Sonntag mussten Sie Ihre Gewinnerwartungen nach unten korrigieren, vor allem wegen Ihrer Billigtochter Eurowings. Haben Sie falsch kalkuliert? Spohr: Die von Ihnen genannten Wettbe- BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO DER SPIEGEL BOSTELMANN BERT werber verkalkulieren sich, wenn sie mei- Unternehmenslenker Spohr: »Wir haben nur diesen einen Planeten« nen, uns aus unseren Heimatmärkten ver-

64 drängen zu können. Es war richtig, mit der Billiger fliegen schen als Grundrecht empfunden, und die Eurowings zu wachsen, die Air-Berlin-Lü- moderne Gesellschaft ist ohne Mobilität Die Lufthansa-Tochter Eurowings cke zu füllen und Marktanteile zu sichern. nicht denkbar. Es muss vielmehr darüber Jetzt allerdings geht es darum, den Turn - nachgedacht werden, wie man sie effizien- around bei Eurowings zu beschleunigen. Umsatz 2018 ter und umweltschonender organisieren SPIEGEL: Heißt das, Sie dampfen das An- 4,2 Mrd. € kann. gebot jetzt wieder ein? SPIEGEL: Gut 80 Prozent der Weltbevöl- Spohr: Nach dem schnellen Wachstum der Verlust 2018 kerung haben noch nie ein Flugzeug be- vergangenen Jahre werden wir jetzt vor- 0,2 Mrd. € treten. rangig Komplexität und Kosten reduzie- Spohr: Deshalb müssen wir aufpassen, ren. Daher haben wir das Wachstum auf dass wir, die wir uns an diese Mobilität ge- null gesetzt. In einer Branche mit hohen Marktanteile wöhnt haben, sie nicht für Teile der Welt * Überkapazitäten ist das übrigens ein in Deutschland, Januar 2019 wie Indien oder China unmöglich machen. durchaus rationaler Schritt. Dort freut man sich noch auf die Demo- SPIEGEL: Was heißt das für die Ange- kratisierung des Fliegens, und dort ver- stellten? zeichnet die Luftfahrt ein stürmisches Spohr: Die Eurowings hat eine starke Stel- Wachstum. Auch in anderen Ländern sa- lung in unseren Heimatmärkten. In dieser gen die Bewohner, jetzt sind wir auch mal Funktion ergänzt sie auch weiterhin un - Eurowings dran mit Fliegen, und das zu Recht. sere Netzwerkairlines in Frankfurt, Mün- SPIEGEL: Die gestiegene Nachfrage hat chen, Zürich oder Wien. Daran hat sich 51,5% auch ihre Schattenseiten. Fliegen ist an- nichts verändert. Und auch wenn wir jetzt Sonstige strengend geworden, weil zu viele gleich- 9,8% die Produktivität steigern und die Kosten zeitig unterwegs sind. Im Sommer 2018 senken, haben unsere Mitarbeiter im Ver- Ryanair war es besonders schlimm. In diesen Ta- 17,9% gleich zu den Wettbewerbern in diesem Wizz gen beginnen in den ersten Bundesländern 4,3% Segment weiterhin überdurchschnittlich die Sommerferien. Wird es wieder im gro- gute Tarifbedingungen und Sozialstan- EasyJet ßen Stil Verspätungen geben? 16,5% *nach Zahl der Abflüge Spohr: dards. Quelle: Low-Cost-Monitor Unsere Infrastruktur am Boden SPIEGEL: In der Politik gewinnt eine CO2- und in der Luft ist vor allem in Deutsch- Steuer an Befürwortern. Das heißt, Flug- land längst am Anschlag dessen, was sie tickets würden teurer, um die Klimaerwär- SPIEGEL: Das klingt nach der Devise: leisten kann, auch aufgrund der künstli- mung einzudämmen. Könnten Sie sich Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht chen Nachfrage durch zu viele Billigtickets. damit anfreunden? nass. Sind Sie nur für eine Kohlendioxid- Bei Lufthansa haben wir daher allein zur Spohr: Wir haben nur diesen einen Plane- Abgabe, wenn Fliegen nicht teurer wird? Stabilisierung des Flugbetriebs mehrere ten, und wir alle müssen mehr als bisher Spohr: Mir geht es zunächst darum, zu Hundert zusätzliche Mitarbeiter einge- tun, um ihn zu schützen. Und dazu muss vermeiden, dass unsere Kunden bei einer stellt und 37 Flugzeuge über ganz Europa auch unsere Branche weiter ihren Beitrag nationalen CO2-Steuer über die interna- als Reservemaschinen positioniert. Damit leisten. Man muss aber auch festhalten, tionalen Drehkreuze unserer Wettbewer- können wir Verspätungen in diesem Som- dass der Luftverkehr als einziger Verkehrs- ber fliegen und so zusätzlichen CO2-Aus- mer besser auffangen als im vergangenen. träger bislang schon am EU-weiten CO2- stoß verursachen. Über die Höhe einer sol- Aber auch die Flughäfen und die Deutsche Emissionshandel teilnimmt und wir inner- chen Abgabe entscheidet die Politik. Flugsicherung müssen mitziehen. In Mün- SPIEGEL: europäisch damit seit Jahren CO2-neutral Der französische Präsident Em- chen, um ein positives Beispiel zu nennen, wachsen. Außerdem haben wir bereits manuel Macron fordert anstelle einer CO2- wurden die Sicherheitskontrollen an un- eine CO2-Steuer, die heißt bei uns nur Luft- Abgabe eine europaweite Kerosinsteuer. serer am schnellsten wachsenden Ver- verkehrsteuer. Wäre das eine Alternative? kehrsdrehscheibe deutlich beschleunigt. SPIEGEL: Sie weichen aus. Spohr: Nationale Alleingänge oder auch SPIEGEL: Das Vertrauen der Kunden in Spohr: Überhaupt nicht. Aber warum nut- nur ein europäischer Flickenteppich wür- die Zuverlässigkeit des Fliegens hat seit zen wir die Einnahmen der Luftverkehr - den dazu führen, dass Fluggesellschaften dem Absturz von zwei Maschinen des steuer nicht zur Förderung alternativer vermehrt dort tanken, wo die Steuer nicht Typs Boeing 737 Max ohnehin stark gelit- Kraftstoffe und motivieren andere EU- erhoben wird. Unter dem Strich würde die ten. Gilt in der Branche das Motto: Profit Staaten mitzumachen? Synthetische Kraft- Umweltbelastung durch das Herumfliegen vor Sicherheit? stoffe sind im Luftverkehr ein zentraler des Treibstoffs noch weiter zunehmen. Spohr: Nichts liegt mir ferner, als die Tra- Schlüssel für CO2-neutrales Fliegen. Die Selbst ein gesamteuropäischer Ansatz bei gik dieser zwei Abstürze zu relativieren, sind heute allerdings noch so teuer und in der Kerosinsteuer brächte erhebliche Nach- auch nach dem, was wir selbst vor gut vier so geringer Menge verfügbar, dass sie teile, weil viele unserer Wettbewerber ihre Jahren bei unserer Tochter Germanwings kaum nutzbar sind. Drehkreuze außerhalb Europas betreiben. erlebt haben. Aber man sollte trotz allem SPIEGEL: SPIEGEL: Ziel einer CO2-Abgabe müsste Klar scheint, dass Fliegen mittel- nicht vergessen: Das Fliegen ist im Ver- doch sein, dass weniger geflogen wird. Das fristig teurer werden dürfte. Wird Reisen gleich zu anderen Verkehrsträgern die gelingt nur, wenn sie deutlich höher wäre per Flugzeug wieder zu einem Privileg für sicherste Form des Reisens. Und unsere als die bisherige Luftverkehrsteuer. die Oberschicht? Branche hat enorme Fortschritte bei der Spohr: Die Luftverkehrsteuer bringt dem Spohr: Davon kann keine Rede sein. Bei Weiterentwicklung der Sicherheitsstan- Fiskus schon jetzt mehr als 1,2 Milliarden 9,99 Euro pro Strecke muss man sich al- dards gemacht, weil aus jedem tragischen Euro pro Jahr ein. Umgerechnet auf den lerdings schon fragen, wie verantwortungs- Unfall gelernt wurde. einzelnen Passagier entspricht das bereits voll man mit dem Thema Mobilität und Interview: Dinah Deckstein, heute einer CO2-Steuer, wie sie etwa in mit den Mitarbeitern umgeht. Allerdings Martin U. Müller Schweden oder der Schweiz erhoben kann es nicht darum gehen, Mobilität ein- Mail: [email protected] wird. zuschränken. Sie wird von vielen Men-

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 65 WG-Mieterin A., Mitbewohner in Berlin GORDON WELTERS / DER SPIEGEL WELTERS GORDON

übernehmen und Legal Techs viele ähnli- che Forderungen bündeln, sind die Kosten Anwalt ex Machina pro Fall gering. Die Anbieter können des- halb auch Kleinstforderungen, etwa bei Wohnungsnot Sogenannte Legal-Tech-Portale helfen Verbrauchern, Bahnverspätungen, geltend machen. Klas- sische Anwälte lehnen solche Bagatell- ihre Rechte einzufordern. Das Start-up Wenigermiete.de hat jetzt arbeit häufig ab. einen spektakulären Erfolg im Kampf gegen überhöhte Mieten erzielt. Für ihre Anhänger sind Legal Techs des- halb die Rettung des Rechtsstaats, weil sie Verbrauchern helfen, ihre Forderungen s war eine Traumwohnung, welche Für die Studenten-WG schied ein klas- ohne horrenden Aufwand durchzusetzen. die Berliner Studenten-WG gefun- sischer Anwalt deshalb aus. Bei der Re- Für ihre Gegner sind die Plattformen da- E den hatte: Altbau, vier Zimmer auf cherche im Internet stieß Maha A. auf die gegen Wegelagerer, die auf Teufel komm 110 Quadratmetern, mit großem Balkon Seite Wenigermiete.de. Hinter dem Portal raus klagen und dabei Millionen verdienen. zum Garten im Innenhof – und das mitten steckt das Berliner Start-up LexFox, ein LexFox hat sich als Vermieterschreck in Kreuzberg. Nur: mit 1400 Euro Netto- sogenanntes Legal Tech. Diese Unterneh- etabliert, auch dank der Mietpreisbremse. kaltmiete leider viel zu teuer. men bieten im Internet automatisierte Geschäftsführer Daniel Halmer hat sein Die Studenten suchten weiter – und ga- Rechtsdurchsetzung an. Anders als her- Büro nicht weit von der Kreuzberger ben nach drei Monaten entnervt auf. Die kömmliche Anwälte verlangen sie oft nur Wohngemeinschaft, mitten im Zentrum teure Wohnung war da noch zu haben. Erfolgshonorare. Angefangen haben die der Schlacht um bezahlbaren Wohnraum. Kein Wunder: »Die Wohnung stand ja Legal-Tech-Start-ups mit Schadensersatz- In einem nobel sanierten Hinterhaus am zehn Monate lang leer«, sagt Maha A., klagen bei Flugverspätungen: Portale wie Paul-Lincke-Ufer arbeiten 25 Mitarbeiter. eine der Mieterinnen. Der Versuch, die EuClaim.de oder Flightright.de verdienen Halmer, der früher in der Großkanzlei Miete um 200 Euro herunterzuhandeln, damit, im Namen der Passagiere bei Air- Hengeler Mueller gearbeitet hat, ist der scheiterte, weil die Hausverwaltung ab- lines Entschädigungen für massiv verspä- einzige zugelassene Anwalt bei LexFox. Er lehnte. Der Vater von A. unterschrieb tete Flüge einzufordern. empfängt in einer Ecke des Großraum büros, schließlich als Bürge den Mietvertrag. Mittlerweile übernehmen das wie ein Gegenentwurf Zwei Monate nach dem Einzug ent- Legal Techs juristischen All- zu einer klassischen Anwalts- schieden die Studenten, sich gegen den tagsärger jeder Art. Unfall kanzlei wirkt: Reihen von weit über dem Mietspiegel liegenden gehabt? Verkehrsrechtshel- Standardschreibtischen vor Preis zu wehren. Schließlich gilt in fer.de. Kündigung erhalten? weiß getünchten Wänden Deutschland seit 2015 die Mietpreis- Abfindungsheld.de. Auto statt dunklem Holz und Mes- bremse für Bestandswohnungen. In Ge- vom Dieselskandal betrof- sing, gepolsterter Türen und bieten mit angespanntem Wohnungs- fen? Myright.de. Zu schnell Vorzimmer. »Ein Rechtsan- markt darf die Miete höchstens zehn gefahren? Geblitzt.de. Zug walt ist wie ein Maßanzug«, Prozent über dem ortsüblichen Vergleich verspätetet? Bahn-buddy.de. sagt Halmer. »Wir bieten mit liegen. Der Haken daran: Betroffene Mie- Der Anwalt ex Machina Wenigermiete.de einen An- ter müssen ihr Recht oft einklagen, das ist funktioniert vor allem bei zug von der Stange. Den teuer, zumindest für alle, die keine Rechts- standardisierbaren Verfah- meisten reicht das.« schutzversicherung haben oder nicht im ren. Weil Algorithmen ei- Anwalt Halmer Halmer sieht sich auf

Mieterbund organisiert sind. nen Teil der Arbeitsschritte / DER SPIEGEL WELTERS GORDON der Seite der Schwächeren:

66 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Wirtschaft

»Vermieter wissen, dass es für Mieter Gesetzgeber nicht gewollt«, sagt Plesser. schwierig ist, ihre Ansprüche durchzuset- Und während Anwälte hierzulande kein zen – sie spekulieren darauf, dass sich viele externes Kapital einwerben dürfen, be - nicht wehren.« sorgen sich viele Start-ups Geld von In- Innerhalb von gut zwei Jahren haben vestoren. bereits mehr als 50000 Haushalte ihren Nicht nur Anwälte, auch die Mieter- Mietvertrag auf der Website prüfen lassen. vereine sehen in dem Portal einen un- Derzeit bearbeitet LexFox nach eigenen erwünschten Wettbewerber. »Je kompli- Angaben mehrere Tausend Fälle zur zierter der Fall ist, desto schneller stößt Mietpreisbremse, die Erfolgsquote liegt, das System an seine Grenzen«, sagt Ulrich nach Aussage von Wenigermiete.de, bei Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen etwa 80 Prozent. Dabei werde die orts - Mieterbunds. Und: Anders als der Mieter- übliche Vergleichsmiete um durchschnitt- bund, der alles daransetze, Probleme lich 190 Euro überschritten. Überprüfen außergerichtlich zu lösen, stehe bei lassen sich diese Zahlen nicht. Sicher ist Wenigermiete.de sofort eine Klage im nur: LexFox ist noch nicht profitabel. Raum. »Unsere Konfliktlösung ist auf Offenbar aber hat sich das Portal inzwi- Ausgleich mit dem Vermieter angelegt. schen bei Vermietern einen Ruf erarbeitet. Schließlich muss das Mietverhältnis auch »Anfangs waren viele nach einer Auseinander- Vermieter nicht eini- Ohne Bremskraft? setzung weitergehen«, gungsbereit«, sagt Hal- sagt Ropertz. mer. Teilweise seien die Veränderung der Mieten bei Neu- Ein grundsätzliches Verfahren durch mehre- vermietung in ausgewählten Groß- Problem mit den Porta- re Instanzen gegangen, städten mit Mietpreisbremse, len habe er aber nicht: in einem Fall bis zum 2019 gegenüber 2015* »Es gibt eine große Bundesgerichtshof. In- Berlin +21% Gruppe von Menschen, zwischen ende nicht ein- die wir als Verein nicht mal mehr jeder zehnte erreichen und die nicht Stuttgart 20% Fall, in dem das Portal rechtsschutzversichert aktiv wird, vor Gericht, München 19% ist. Für sie können sol- sagt Halmer. che Portale ein sinnvol- Der Fall der Kreuz- Bremen 17% les Angebot sein«, sagt berger WG landete Ropertz. noch vor dem Kadi und Frankfurt am Main 16% Die Vermieter dage- schien zunächst wenig gen sehen sich mit einem Chancen auf Erfolg zu Köln 15% selbstbewussten Gegner haben. Erst reagierte die konfrontiert. »Im Mo- Hausverwaltung nicht Düsseldorf 14% ment bemerken wir zwar auf die Anschreiben von noch nicht die ganz LexFox. Dann prüfte Hamburg 9% große Durchschlagskraft das zuständige Amtsge- dieser Portale«, sagt Kai richt Tempelhof-Kreuz- *Wohnungen 60 bis 80 m², inserierte Preise; Warnecke, Präsident des jeweils 1. Quartal; Quelle: Empirica berg die Klage monate- Haus- und Wohnungsei- lang – und wies sie aus gentümerverbands Haus formalen Gründen schließlich zurück. Lex- & Grund, »aber ich kann mir vorstellen, dass Fox sei nicht berechtigt, die Klage zu füh- das erst der Anfang ist.« ren, erklärten die Richter. Im Fall der Kreuzberger Wohngemein- Denn das Geschäftsmodell der Legal- schaft legte LexFox Berufung vor dem Ber- Techs ist rechtlich umstritten. Die Rechts- liner Landgericht ein – mit Erfolg. Im Sep- anwaltskammer Berlin hat deshalb sogar tember 2018, 14 Monate nach Auftragser- eine Klage gegen Wenigermiete.de einge- teilung, kam es zur Berufungsverhandlung. reicht. Das Gesetz sehe vor, dass Rechts- Ein knappes halbes Jahr später schlossen dienstleistungen grundsätzlich nur von An- Vermieter und Mieter einen ziemlich spek- wälten erbracht werden dürfen, sagt Mar- takulären Vergleich: Die WG zahlt künftig kus Plesser, der von der Kammer für den nur noch 700 Euro Kaltmiete – statt zuvor Fall beauftragte Rechtsvertreter. »Es gibt mehr als 1400. Weil die Einigung rückwir- Ausnahmen für Inkassogesellschaften. kend gilt, muss der Vermieter mehr als Aber was Wenigermiete.de macht, geht 14000 Euro zurückzahlen, plus Zinsen weit darüber hinaus, fällige Forderungen und Rechtsverfolgungskosten. »Das war einzuziehen«, sagt Plesser. Das Portal sor- ein echter Geldsegen«, sagt Mieterin Maha ge erst dafür, dass solche Forderungen ent- A., »wir hatten gar nicht mit einer Rück- stünden. »Das ist viel eher eine typische zahlung gerechnet.« Das Honorar von Tätigkeit eines Rechtsanwalts.« LexFox beträgt 2800 Euro, ein Drittel der Auch die erfolgsbasierte Vergütung gesparten Jahresmiete. missfällt vielen Anwälten. Sie selbst dür- Claus Hecking, Nicolai Kwasniewski fen in Deutschland ausdrücklich keine Mail: [email protected] Erfolgshonorare nehmen. »Das ist vom

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 67 Medien Berthold und die Teddybären

Presse Seit dem Rauswurf von »FAZ«-Mitherausgeber Holger Steltzner kommt das Blatt nicht zur Ruhe. Der Wirtschaftsjournalist musste gehen, weil ihm eine versuchte Intrige gegen Feuilleton-Chef Jürgen Kaube zur Last gelegt wird. Doch das Zerwürfnis reicht tiefer. LARS / IMAGO BERG »FAZ«-Zeitungsseiten auf einer Ausstellung zum Gedenken an Mitherausgeber Schirrmacher 2014: »Wir machen keine Fünfjahrespläne«

68 erausgeber bei der »Frankfurter spektakuläre Begründung, gemessen da- Eine Frau, die den Job könnte, haben Allgemeinen« zu werden, das ran, dass die Herausgeber sonst einen wohl - Sie nicht gefunden? H war mal was. Es war eine Beru- erzogenen Umgang miteinander pflegen. D’Inka: »So eine Berufung hat ja meh- fung, wie es sie im deutschen Worin der Vertrauensbruch genau bestand, rere Komponenten, fachliche wie soziale. Journalismus kein zweites Mal gab. Ein darüber schwieg sich die »FAZ« lieber aus. Auch die journalistische Autorität in der Krönungsakt fast, der aus einem einfachen Im April beriefen die Herausgeber ei- Redaktion spielt eine Rolle. Darauf schau- Redakteur einen mächtigen Mann machte. nen Nachfolger in ihren Kreis, keinen jun- en wir und nicht danach, ob jemand Mann Das Gehalt enorm. Der Vertrag unbefris- gen Redakteur, auch keine Redakteurin, oder Frau ist.« tet. Der Einfluss: kaum zu überschätzen. sondern wieder einen – Teddybären. Ge- Warum haben Sie nicht jemanden aus- Es war der Aufstieg zur Mitregentschaft rald Braunberger, ein kluger, beliebter, um- gewählt, der mehr für digitalen Journalis- in einem Reich, in dem das Geld bestän- gänglicher Typ. Aber nicht gerade ein Sym- mus steht? dig durch die Anzeigenabteilung herein- bol des Wandels, mal abgesehen davon, Kohler: »Wir müssen uns alle um die und durch die Redaktion wieder hinaus- dass er keinen Bart trägt. Digitalisierung unseres Hauses kümmern. strömte. Ein Montag im Juni, ein enges Bespre- Wir sind nicht die vier Analogis, die den Ansonsten blieb fast alles beim Alten: chungszimmer im »FAZ«-Gebäude. Ne- Schuss nicht gehört haben.« Auch als Herausgeber schrieb man weiter ben Kohler sitzt Werner D’Inka, zuständig Finden Sie nicht, dass das Herausgeber - seine Texte, nun allerdings mit mehr für den Regionalteil, freundlich lächelnd. gremium vielfältiger besetzt sein könnte? Glanz. Neu war eigentlich nur die wö- Jürgen Kaube, verantwortlich fürs Feuille- Kaube: »Diese Vorstellung von Diver- chentliche Konferenz mit den anderen He- ton, schaut von der anderen Seite eher sivität ist mir zu simpel. Als ob sich Unter- rausgebern, in der man darüber redete, ob grimmig über den Tisch. Sie wollen erklä- schiedlichkeit nur nach biologischen Kri- man die vielen Millionen für neue Redak- ren, wie sie sich die »FAZ« der Zukunft terien wie Alter und Geschlecht bemessen teure ausgeben oder aufs Festgeldkonto vorstellen. Braunberger, der Neue, ist nicht würde.« verschieben sollte. dabei. Er hat einen Termin. Ein wenig ist es für sie ein Spiel. Sie wei- Es waren herrliche Zeiten für die Wie fanden Sie das Echo auf die Beru- chen aus, flüchten in intellektuelle Spitz- »FAZ«, und man kann verstehen, dass fung von Herrn Braunberger? findigkeiten, in Witz, Ironie, Sarkasmus. Berthold Kohler manchmal melancholisch Kohler: »Manches war schon sehr Wo soll die »FAZ« in fünf Jahren stehen? wird. Kohler ist seit 20 Jahren »FAZ«-He- schablonenhaft, doch gab es auch kluge Kaube: »Wir machen keine Fünfjahres- rausgeber«, seit 30 Jahren »FAZ«-Redak- und differenzierte Anmerkungen.« pläne.« teur, und er hat sie noch erlebt, die Jahre, D’Inka: »Das hat ja auch in der DDR in denen das Blatt samstags 200 Seiten mit nicht funktioniert.« Stellenanzeigen füllte. Und man nur des- Herrenriege Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass halb nicht noch mehr von ihnen druckte, Eigner der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« die Lage der Zeitung bedrohlich ist? weil die Post gedroht hatte, die »FAZ« D’Inka: »Wollen Sie auch die genaue nicht mehr als Zeitung auszuliefern, son- FAZIT-Stiftung Uhrzeit wissen?« dern als Päckchen. Dass sie sich überhaupt den Fragen stel- »Wir mussten damals Anzeigen ableh- 93,7% len, ist fast schon ein Wunder. Normaler- nen. Monat für Monat schoben wir einen weise geben »FAZ«-Herausgeber keine In- Millionenumsatz vor uns her«, sagt Kohler, Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH terviews, schon gar nicht gemeinsam. Be- lächelt und verweilt für einen Moment in zusammen 6,3% gründet wird die Schweigsamkeit mit viel der Vergangenheit. echter und ein wenig falscher Bescheiden- Die Gegenwart ist leider gar nicht 4 Herausgeber heit. Bei der »FAZ«, sagen sie, stehe golden, nicht mal bronze. Die Auflage stets die Zeitung im Vordergrund, nie sinkt beständig, nach ein paar Jahren mit die Person. Gewinnen (dank eines harten Spar- Steltzners Rauswurf hat dafür ge- programms) schlittert der Verlag sorgt, dass es doch wieder um Per- wieder Richtung Verlustzone. Die sonen geht, nicht nur ums Blatt. Er Website rangiert hinter denen war als Herausgeber zuständig für von »Welt« und SPIEGEL. Und die Wirtschaft und den Sport. Und publizistisch erfüllt die »FAZ« in mehrfacher Hinsicht umstritten. alle drei Kriterien, die es heute Die einen beschreiben ihn als Typ Werner Berthold braucht, um anachronistisch zu er- D’Inka Kohler mit Kante. Andere empfanden ihn als scheinen. Sie ist eher alt, eher weiß, engstirnig. Was jeder, der mit ihm gearbei- eher männlich. Gerald Jürgen tet hat, bestätigt: Steltzner ging Streit eher Zur allgemeinen Krise der Branche Braunberger Kaube nicht aus dem Weg. Publizistisch gab er kommt bei der »FAZ« hinzu, dass die He- seinem Ressort eine klare Linie vor und Verkaufte Auflage rausgeber gerade selbst das perfekte Bild der »FAZ« duldete da wohl auch wenig Widerspruch: liefern, das die Krise des Blattes illustriert gegen die Niedrigzinspolitik von EZB- 374031 Stand jeweils 1. Quartal und personifiziert. Vier Männer über fünf- Quelle: IVW Chef Mario Draghi. Mindestens Euro-kri- zig, drei davon mit Bart. Der mächtigste, tisch. Manche Leitartikel aus seiner Feder tonangebende ist Kohler. »Berthold und lasen sich wie eine Beschwörung alter 230311 die Teddybären«, lästern »FAZ«-Redak- D-Mark-Zeiten. Auch in seinem Ressort teure. fand das mancher unangenehm. Der fatale Eindruck der Gestrigkeit hat Unter den anderen Herausgebern war sich verschärft, nachdem die Herausgeber –38% er nicht besonders gelitten. Vor allem Koh- im März einen der Ihren, Holger Steltzner, ler soll genervt gewesen sein von Steltz- hinausgeworfen haben. Von »Vertrauens- ners politischen Ansichten, von dessen

bruch« war die Rede. Das war eine ziemlich 2009 2019 EILMES / F.A.Z. W. RÖTH/F.A.Z.; F. ALLIANCE/DPA; A. DEDERT/PICTURE ganzer Art. Kohler habe seine beiden

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 69 Co-Herausgeber gegen Steltzner aufge- für ausgesprochen haben. Doch die Runde bracht, sagen Steltzner-Freunde. Steltzner entschied sich abermals für einen Mann, habe alle anderen Herausgeber zuneh- für Kaube. Heute sieht es so aus, als hätten mend provoziert, sagen Steltzner-Gegner. die mächtigen Männer an der Spitze des In einem sind sich Freunde wie Feinde Blattes nichts dazugelernt. einig: Steltzner habe sich innerhalb des Kann man das noch machen im Jahr Herausgebergremiums noch am meisten 2019, eine der wichtigsten Zeitungen des für digitale Themen interessiert. Unter den Landes nur von Männern führen zu las- digital Blinden sei er immerhin der Ein- sen? Kann eine Medienmarke, die als äugige gewesen, sagt ein junger »FAZ«-ler. Printprodukt die besten Jahre hinter sich Steltzner, heißt es aus seinem Umfeld, hat, an der Spitze ohne einen auskommen, habe etwa die Idee gut gefunden, einen der für digitalen Journalismus steht? Herausgeber zu benennen, der fürs Digi- Die Frauenfrage zumindest wäre vor tale zuständig sein soll, stand damit aber fünf Jahren fast einmal positiv beantwor- allein gegen die anderen. tet worden. Als Günther Nonnenmacher Es rumorte in dem Gremium, es köchelte. in den Ruhestand ging, stand als Nachfol- Doch nichts geschah. Die »FAZ« ist so orga- gerin eine Auslandskorrespondentin be- nisiert, dass jeder Herausgeber in seinem reits so gut wie fest. Im Gremium waren Reich fürstenhaft herrscht. So lange Steltz- sich alle einig. Doch dann entschieden sich ner bloß in seinem Teil tat, was den anderen die Herausgeber, auch auf Druck aus dem missfiel, ging das die anderen nichts an. Ge- Aufsichtsrat, aus symbolischen Gründen waltenteilung auf Frankfurter Art. auf diesen Posten zu verzichten. Das Das war schon immer so. Auch der 2014 BÜHLER HARTMUT Si g nal an die Redaktion war: Auch an der verstorbene Feuilletonherausgeber Frank Herausgeber Steltzner 2016 Spitze wird gespart. Schirrmacher wurde von seinen Kollegen Er fiel rasch, tief und allein Bei der »Süddeutschen Zeitung« ist seit manchmal mehr ertragen als gemocht. Er gut einem Jahr eine Frau Mitglied der konnte gestandene »FAZ«-Redakteure Herausgeberrunde teilte das zustimmende Chefredaktion, Julia Bönisch. Weiblich, dazu bringen, entnervt zu kündigen. Doch Votum dem Aufsichtsrat schriftlich mit. jung, digital. Sie hat alles, was den alten damals bei Schirrmacher wie später bei Dann jedoch sprach er mit einem Redak- Herren des deutschen Journalismus, alles, Steltzner galt: Nicht im Traum wäre ein teur über Kaubes Vertrag und die anste- was Berthold und den Teddybären fehlt. anderer Herausgeber darauf gekommen, hende Verlängerung – und er soll, zumin- Und sie weiß das: »Wenn ich mir vor- sich in die inneren Angelegenheiten des dest wirft man ihm das vor, auch darüber stelle, ich wäre ein Journalist, Mitte fünf- anderen einzumischen. gesprochen haben, ob es nicht andere Per- zig, und würde jetzt bemerken, dass vieles Dann jedoch machte Steltzner einen Feh- sonen für diese Position gebe. Bessere als von dem, was ich kann und weiß, nicht ler, der dieses eherne Gesetz der »FAZ« Kaube. Jemanden mit mehr Digitalkom- mehr wichtig ist: Ja, das wäre unange- erschütterte. Binnen Stunden wurde sein petenz. Der Inhalt des Gesprächs erreichte nehm«, schrieb Bönisch vor Kurzem in ei- Rauswurf von den anderen Herausgebern den Aufsichtsrat – und wurde von Kaube nem Beitrag zur Zukunft des Journalismus. beschlossen. Niemand im Aufsichtsrat eilte als Versuch gesehen, die beschlossene Ver- Mit dem Text allerdings sorgte sie für ihm zu Hilfe. Er fiel rasch, tief und allein. längerung seines Vertrags zu hintertreiben einen ganz eigenen Eklat. Denn Bönisch Es ging, so ergibt es sich aus Gesprächen und jemand anderen zu berufen. Keiner erklärte darin, dass die Zeiten vorbei seien, mit mehreren Beteiligten, um einen Af- der Beteiligten will sich zu den näheren in denen diejenigen Karriere machten, die front Steltzners gegen Mitherausgeber Umständen des Zerwürfnisses äußern. wuchtige Texte hinlegen könnten. Statt gro- Kaube. Einige sprechen von versuchter Kann es sein, dass Steltzner tatsächlich ßer Schreiber seien eher flexible Manager- Intrige, andere von einer Dämlichkeit. offensiv versuchte, Kaube rauszudrängen? typen gefragt. Und dass sich Journalisten Vielleicht stimmt beides. Wenn, dann wäre es eine eher amateurhaft nicht so haben sollten, wenn Anzeigen- Um die Tragweite des Vorgangs zu ver- betriebene Intrige gewesen. Sicher ist nur, abteilung und Redaktion enger zusammen- stehen, muss man wissen, dass die Verträ- dass Kaube über Steltzners Tabubruch rückten. ge der Herausgeber seit einigen Jahren enorm verärgert war – und die drei He- Ein solches Szenario ist bei Kohler und nicht mehr automatisch bis zur Rente lau- rausgeber den Rauswurf Steltzners ohne Konsorten undenkbar. Sie leben und lie- fen. Anlass dafür war ein anderer Raus- langwierige Debatte beschlossen. Freunde ben Texte. Wenn sie leiden, dann vor allem wurf, der des ehemaligen Herausgebers waren Steltzner und die anderen ja schon darunter, dass sie vor lauter Management- Hugo Müller-Vogg. Auch seiner entledigte lange nicht mehr. runden, Digitalstrategien, Businessplänen, man sich wegen eines Vertrauensbruchs – Die »FAZ« trifft die Affäre Steltzner zur Worst-Case- und Best-Case-Szenarien die Abfindung und die Pensionsansprüche Unzeit. Das Signal zur Erneuerung wurde kaum noch dazu kommen, Journalisten sollen so enorm gewesen sein, dass der verpasst. Wieder einmal. Wie zu sein. Einer wie Kohler ist Aufsichtsrat beschloss, künftig nur noch schon damals, vor ziemlich nicht zur »FAZ« gegangen, befristete Herausgeberverträge zuzulas- exakt fünf Jahren, als Schirr- um Powerpoint-Präsentatio- sen. Der Erste, dem das widerfuhr, war, macher starb. Er war der 2030 nen der Verlagsleitung über ironischerweise, Holger Steltzner. Er soll, wohl prominenteste Heraus- käme die »FAZ« sich ergehen zu lassen. Er so wird erzählt, sich deshalb lange als »He- geber in der Geschichte der auf einen Verlust von wollte und er will am liebsten: rausgeber Holzklasse« empfunden haben. Zeitung, einer der wenigen, mehr als schreiben. Vor ein paar Monaten jedenfalls stand die als Person auch ohne die »Ob auf Papier oder digi- die Verlängerung des Vertrags von Jürgen Marke »FAZ« strahlten. Sein tal«, sagt er, es gehe darum, Kaube an. Im Herausgeberkreis wurde ein- Tod war ein Schock. den Journalismus zu erhalten stimmig beschlossen, die »Kooptierung« – Schon damals schien die 190 und auszubauen, für den die so vornehm formulieren sie das hier – fort- Zeit reif für die erste Heraus- »FAZ« stehe, »also für Sach- zusetzen. Steltzner als Vorsitzender der geberin. Steltzner soll sich da- Millionen Euro. kompetenz, analytische Tiefe

70 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Medien und intelligente Argumentation«. Der talabo auf rund 700 Euro im Jahr erhöhen intelligenten Schwurbeleien im Feuilleton. Printjournalismus habe nach wie vor hohe würde, käme man gerade mal in den Be- Ohne die ebenso klugen wie lustvoll un- Ansprüche zu erfüllen: »Die Texte für die reich der schwarzen Null. gerechten Kommentare in der Politik. gedruckte ›FAZ‹ müssen auch am nächsten Kohler wedelt mit der Hand, als wolle Ohne die schnörkellosen, tiefgründigen Tag noch relevant sein.« er die Zahlen wegwischen. Dann zählt er Analysen der Wirtschaft. Und ohne jenen Vor allem aber muss es die gedruckte auf, was sich alles verändert hat in den ver- Schuss von Anarchie, den man gerade bei Zeitung am nächsten Tag noch geben. Und gangenen Jahren. Welche Sparrunden es der »FAZ« am wenigsten vermutet, der das ist längst nicht mehr sicher. Die Auflage gegeben habe, welche neuen Produkte, sie aber auszeichnet. der »FAZ« rutscht seit Jahren dem Punkt wie sehr in der Redaktion das Bewusstsein Wenn etwa die Titelseite der »FAS« mit entgegen, an dem sich das Drucken und gestiegen sei, dass man sich verändern der These aufgemacht wird, Pippi Lang- Ausliefern nicht mehr lohnt. Sie liegt heute müsse. Und man merkt: Von innen fühlt strumpf sei eine Wegbereiterin von Do- bei 230000 Exemplaren. Unwirtschaftlich sich das Ganze rasant an. Der Weg der nald Trump – was man schon daran sehen wird das Ganze bei 100000, hat der Verlag »FAZ«, sagt Kohler, sei nicht die Revolu- könne, dass sein Name in ihrem verborgen intern ausgerechnet. Wenn der Leser- tion, sondern die Evolution. »Aber auch sei: »LangsTRUMPf«. Anarchistisch ist schwund im selben Tempo weitergeht, ist die ›FAZ‹ kennt Sprünge.« dies allein schon deshalb, weil der zustän- der Punkt in 15 Jahren erreicht. Tatsächlich wirken die Herausgeber seit dige Herausgeber Kaube bekennt, er selbst Stellenanzeigen in der Zeitung gibt es der Steltzner-Krise bemüht, den Ruf als habe den Text erst in der Zeitung gelesen kaum noch. Im Internet haben andere das Print-Dinosaurier abschütteln zu wollen. und sei sich bei der Lektüre auch nicht si- Geschäft übernommen. Sie versuchten sich gegenseitig zu über- cher gewesen, ob der Autor das Ganze Die »Frankfurter Allgemeine Sonntags- trumpfen, wer der Digitalste unter ihnen ernst oder parodistisch gemeint habe. zeitung« ( »FAS«) hält sich über der Null- sei, sagt ein Redakteur. Sein Kollege Kohler beherrscht vom linie. Aber wenn nichts geschieht, wird es Dass sie in der »FAZ« nicht längst viel Leitartikel bis zur gelehrten Blödelei eben- wohl nicht mehr sehr lange dauern, bis nervöser sind, liegt daran, dass sie nicht falls eine breite schreiberische Klaviatur. sie rote Zahlen schreibt. Die Kosten für nur eine große Zeitung ist, sondern einer Und er kann wunderbar selbstironisch die Zustellung wachsen. In manchen Ge- reichen Stiftung gehört. Die hat in den sein. »Alte, weiße Männer, seid doch keine genden findet sich überhaupt niemand guten Jahren ein Vermögen von mehreren Memmen!«, schrieb er neulich. »Ihr seid mehr, der das Blatt am Sonntag den Abon- Hundert Millionen Euro angesammelt, ein doch nicht in den Stellwerken des Lebens nenten in den Briefkasten legt. Geht das Teil davon steckt heute in Immobilien und an die Schaltstellen der Macht gekommen, so weiter, wird man die Sonntagszeitung Wertpapieren. So leicht ist die Zeitung des- weil ihr Heulsusen gewesen wärt.« vielleicht zur Samstagszeitung machen. halb nicht totzukriegen. Markus Brauck, Ulrike Simon Nachgedacht hat man darüber jedenfalls Vor allem aber: Die »FAZ« wird ge- Mail: [email protected] schon. braucht. Deutschland wäre ärmer ohne die Das Magazin »Frankfurter Allgemeine Woche«, gegründet vor drei Jahren, spielt trotz mickriger Ausstattung fast nichts ein. Die einzige Idee, die in den vergangenen Jahren wirklich etwas gebracht hat, war das digitale Bezahlangebot F+, das immerhin auf 28000 zahlende Abonnenten kommt. 11,80 Euro monatlich kostet F+, eine Art Basispaket, im ersten Jahr. Die Zeitung zu abonnieren ist mehr als fünfmal so teu- er: 67,90 Euro. Bis sich mit dem digitalen Abo irgend- wann die Redaktion finanzieren lässt, ist es ein langer Weg. Damit das gelingt, müs- sen die Herausgeber neue Digitalprodukte erfinden, die Lücke zwischen Basis- und Luxusangebot schließen. Dem Verlag geht das Erdenken dieser neuen Produkte nicht schnell genug. Damit sich das ändert, macht er Druck. In einer Prognose hat der Verlag analy- siert, wie das wirtschaftliche Ergebnis für die »FAZ« ausfiele, wenn sich Leser- und Anzeigenschwund fortsetzen wie gehabt, wenn man die Preise nicht erhöht und di- gital nicht schneller wächst. Für das Jahr 2030 käme die »FAZ« auf einen Verlust von mehr als 190 Millionen Euro. Es ist ein Szenario für den schlimmsten Fall, auch gebaut, um den Herausgebern etwas Angst zu machen und sie zum Han- deln zu animieren. Gruselig ist dieses Sze- nario trotzdem. Wie gruselig, zeigen zwei Zahlen: Selbst wenn man den Preis für das Printabo auf rund 1000 und für ein Digi- Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt. 71 Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/silvia Ausland

»Boris Johnson als nächster Premierminister Großbritanniens ist eine Horrorvorstellung.« ‣S.78 YASUYOSHI CHIBA / AFP CHIBA YASUYOSHI

Dieser sudanesische Demonstrant rezitiert auf den Straßen der Hauptstadt Khartum ein Gedicht über die Rebel- lion. Obwohl Sicherheitskräfte vor zwei Wochen ein Massaker unter Protestierenden angerichtet haben, gibt die Opposition nicht auf. Noch immer gehen Tausende auf die Straße und fordern die militärische Über- gangsregierung auf, die Macht nach dem Sturz von Diktator Omar al-Baschir an zivile Kräfte zu übergeben.

Analyse Die Greatest Hits von Donald Trump

Beim Wahlkampfauftakt in Florida zeigt sich die Ideenlosigkeit des Präsidenten. Reicht das für die Wiederwahl?

Wochenlang hatte er für diesen Abend geworben, aber am Ende Die Demokraten wissen, dass er als Amtsinhaber einen Bonus geschah kaum etwas. 20000 Unterstützer waren am Dienstag hat und dass sie seine Impulspolitik nicht unterschätzen dürfen. nach Orlando im Bundesstaat Florida gereist, wo Donald Trump Nichts macht im Kampf gegen ihn verwundbarer als die Zuge - den Beginn seines Präsidentschaftswahlkampfs für 2020 einläu- hörigkeit zum Establishment – das ist das Problem von Ex-Vize- tete. Er redete mehr als eine Stunde lang, hetzte gegen Immi - präsident Joe Biden, der laut Umfragen die besten Chancen hat. granten, die Demokraten und Hillary Clinton. Es war ein giftiger Trumps Kontrahenten wollen sich nicht noch einmal in einen Auftritt, aber einer, der seltsam veraltet wirkte. Angstwahlkampf hinabziehen lassen. Elizabeth Warren zum Deutlich wurde: Der Mann, der in 17 Monaten wiedergewählt Beispiel, Senatorin aus Massachusetts, versucht es mit einem Ideen- werden will, hält keine neuen Ideen bereit, sondern wieder nur wahlkampf, der soziale Gerechtigkeit als Mittelpunkt hat; Pete jene Mischung aus Bombast, Halbwahrheiten und Angstmache- Buttigieg, Bürgermeister aus Indiana, plädiert dafür, Trump rei, die seine Fans schon im ersten Wahlkampf elektrisierte. zu ignorieren. Es gibt Indizien dafür, dass beide Strategien bei Er nannte Medien, die ihn kritisieren, »fake news«, bezeichnete gemäßigten Wählern besser ankommen als Trumps Attacken. die Russlandermittlungen als »Hexenjagd« und versprach eine Der Präsident weiß um seine Verwundbarkeit. Als vorige Mauer zu Mexiko – fast wie 2016. Der Unterschied: Damals Woche Berichte auftauchten, seine eigenen Demoskopen sähen war Trump ein Außenseiter. Jetzt ist Trump Präsident. Wird die Demokraten mancherorts vorn, feuerte er kurzerhand einige seine alte Leier genügen, um wiedergewählt zu werden? der Meinungsforscher. Christoph Scheuermann

72 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Saudi-Arabien Rumänien kräftig verurteilt in einem Bukarester Zurück nach Europa Gefängnis ein. Der 33 Jahre junge Negres- Gefängnis statt cu, ehemals Minister für europäische Kreuzigung Die sozialdemokratische Regierungs- Angelegenheiten, gilt als Anwärter auf partei PSD hat das Land innerhalb der eine Führungsrolle in der durch Korrup - Der 18-jährige Murtaja Qureiris soll- EU in eine ähnliche Außenseiterposition tionsaffären und Vetternwirtschaft belas- te nach dem Willen der Staatsanwalt- manövriert wie Ungarn und Polen. Das teten PSD. Mit der Verhaftung Dragneas schaft hingerichtet und anschließend will eine neue Riege von sozialdemokrati- hat die proeuropäische Fraktion im Land öffentlich gekreuzigt werden – für schen Politikern nun ändern. Wegen der einen Etappensieg erzielt. Der deutsch- Taten, die er als Kind begangen haben Justizreform der Regierung hatte Brüssel stämmige Staatspräsident Klaus Johannis soll. Nun fällte ein Richter ein überra- gar mit einem Verfahren gedroht, an des- hatte sich der von Dragnea betriebenen schend mildes Urteil: zwölf Jahre sen Ende Rumänien seine Stimmrechte und von Brüssel kritisierten Justizreform Gefängnis. Das Gericht habe »trotz der hätte verlieren können. Doch die Sozial- zugunsten straffällig gewordener Man- Schwere der Vorwürfe das jugend - demokraten haben ihren datsträger widersetzt. Auch liche Alter des Täters einbezogen«, sagt langjährigen Parteichef Rumäniens Zivilgesellschaft ein Sprecher der Botschaft in Berlin. Liviu Dragnea gestürzt, der rebellierte – durch Massen- Qureiris, der seit seinem 13. Lebens- für diesen Kurs verantwort- proteste und ein eindeutiges jahr in einer Jugendhaftanstalt einsitzt, lich war. Nun müsse sich die Votum beim am 26. Mai könnte 2022 sogar freikommen. In der Partei endlich wieder auf abgehaltenen Referendum. Anklage heißt es, Qureiris habe Molo- ihre »proeuropäische Iden - Vier von fünf Rumänen towcocktails gegen Sicherheitskräfte tität« besinnen, fordert stimmten gegen die Justizre- geschleudert. Die saudische Regierung Victor Negrescu, Autor des form, mit deren Hilfe die scheint bemüht, das Image des mäch- neuen Parteiprogramms der Straftatbestände Korruption tigen Kronprinzen Mohammed bin Sozialdemokraten. Unter Negrescu und Amtsmissbrauch aufge- Salman zu schützen. Das Urteil gegen der Quasi-Alleinherrschaft weicht worden wären. Qureiris kommt fast zeitgleich mit Dragneas sei die PSD zu einer gegen die Im Herbst wird gewählt: Der so sture der Veröffentlichung des Reports von EU gerichteten, autoritär geführten wie streitbare Liberale Klaus Johannis Uno-Expertin Agnès Callamard, Partei verkommen, sagt Negrescu: »Wir strebt eine zweite Amtszeit als Staatsprä- die den Mord an dem Journalisten haben vergessen, wie wichtig es ist, frei sident an. Seine Chancen stehen gut. Im Jamal Khashoggi im Oktober 2018 im sprechen zu dürfen.« Lager der Opposition qualifizierte sich saudischen Konsulat in Istanbul unter- Beim außerordentlichen Parteitag am das vom ehemaligen EU-Agrarkommissar sucht hat. In ihrem Bericht schreibt kommenden Samstag arbeitet er auf eine und Ex-Premier Dacian Cioloş mitgeführ- Callamard, es gebe »glaubhafte Bewei- Zäsur hin – mit guten Erfolgsaussichten: te Bündnis USR-Plus bei den Wahlen zum se« dafür, dass der Kronprinz für den Dragnea sitzt seit dem 27. Mai wegen Europäischen Parlament mit 22,4 Prozent Mord verantwortlich sei. SUK Anstiftung zum Amtsmissbrauch rechts- der Stimmen für höhere Aufgaben. WMA

Prostitution Feministinnen und Konservativen als den, sexuelle Dienstleistungen zu ver - vorbildlich? kaufen. Diese werden indirekt kriminali- »Frauen werden Dodillet: Dahinter steht ein Weltbild, das siert und in den Untergrund gedrängt. Prostituierte grundsätzlich als Opfer sieht. SPIEGEL: Sind die Frauen damit größeren kriminalisiert« Für Zwangsprostituierte gilt das ja selbst- Gefahren ausgesetzt? verständlich auch. Aber es gibt eben auch Dodillet: Davon muss man ausgehen. Die Niederlande erwägen, zur Bekämp- Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, die Nach dem schwedischen Gesetz können fung der Prostitution das »nordische angeben, sich bewusst dafür zu entschei- sich Prostituierte nicht mehr zusammen- Modell« einzuführen – ein Gesetz, das tun, etwa gemeinsam Räume mieten. Sie die Bestrafung der Kunden von Prosti- machen sich dann der Kuppelei verdäch- tuierten vorsieht. Susanne Dodillet, tig. Deswegen müssen sie allein arbeiten, Dozentin an der Universität Göteborg, können sich im Notfall, wenn Freier über- spricht über die Bilanz des Modells griffig werden, kaum gegenseitig helfen. in seinem Ursprungs land Schweden. Auch sind die Anbahnungsgespräche hek- tischer geworden, weil die Polizei kom- SPIEGEL: In Schweden steht der Kauf men könnte. Prostituierte steigen eher in von Sex bereits seit 20 Jahren unter Stra- Autos ein, haben weniger Chancen, die fe. Was hat das Modell gebracht? Freier einzuschätzen. Dodillet: Das ist sehr schwer zu sagen, SPIEGEL: Hilft denn die schwedische genaue Daten gibt es nicht. So soll sich die Regelung bei der Bekämpfung der Zahl der Straßenprostituierten in Stock- organisierten Kriminalität rund um die holm, Göteborg und Malmö um die Hälf- Prostitution? te verringert haben. Nun weiß man Dodillet: Auch das ist schwer einzuschät- aber nicht, ob das ein Erfolg des Gesetzes zen. Es hat sich gezeigt, dass weniger ist oder ob das Gewerbe, die Anbah- Prostituierte und Freier in Prozessen um nung von Sexgeschäften, nur ins Internet Menschenhandel aussagen wollen. Die abgewandert ist. einen sorgen sich, ihre Kunden zu SPIEGEL: Aber dieses Antiprostitutions- GETTY IMAGES ver lieren, die anderen würden sich selbst gesetz gilt doch weithin unter vielen Prostituierte in Amsterdam strafbar machen. JPU, PEH

73 Ausland Zwischen den Stühlen

Geopolitik Der Handelskrieg zwischen den USA und China spaltet die Welt und stellt Europa vor ein Dilemma: Für welche Seite soll es sich entscheiden? Beim G-20-Gipfel in Japan könnte es zum Showdown zwischen Donald Trump und Xi Jinping kommen.

S-Präsident Donald Trump be- Denn die beiden Staatschefs repräsen- Die Folgen betreffen nicht nur die beiden gann das vergangene Wochen - tieren, was es seit dem Ende des Kalten Kontrahenten, sondern alle Teilnehmer- U ende auf einem Golfplatz in Vir- Krieges so nicht mehr gab: eine zuneh- staaten, die zusammen etwa 80 Prozent ginia und fing gleich an, sich zu mend polarisierte, eine politisch und wirt- der Weltwirtschaftsleistung, zwei Drittel ärgern. Auf Twitter schimpfte er über den schaftlich in zwei Teile auseinanderfallen- des Welthandels und zwei Drittel der Welt- Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, mit de Welt. Und es fügt sich, dass die Rivalität bevölkerung vertreten. dem ihn eine tiefe Abneigung verbindet. zwischen der etablierten und der aufstre- Anders als Amerikas Konflikt mit der »Khan ist ein Desaster«, schrieb Trump, benden Supermacht zum ersten Mal auf Sowjetunion hat sich der mit China nicht »wird immer schlimmer.« In einem Inter- einem G-20-Treffen so offen zutage tritt. an einer ideologischen oder militärischen, view beklagte er sich über den Kongress: Er finde die Abgeordneten, »ehrlich ge- sagt, schwieriger als viele der ausländi- schen Führer. Du weißt es nie genau, aber sie haben immer ihre eigene Sicht«. Am Dienstag verkündete er in Florida seine Kandidatur für die Präsidentschafts- wahl 2020 und pfefferte seine Rede mit Angriffen auf die Medien (»Fake News«), seine Gegner im Allgemeinen (»wütender linker Mob«) und die Demokraten im Besonderen: »Sie wollen unser Land, wie wir es kennen, zerstören.« Xi Jinping, der Präsident Chinas, be- suchte am Wochenende eine Konferenz in Tadschikistan, wo ihm Asiens Staatschefs zum 66. Geburtstag gratulierten. Sein Amtskollege Wladimir Putin überreichte ihm eine Torte, eine Vase und eine Box mit russischem Speiseeis. »Das ist das aller - köstlichste«, bedankte sich Xi. Am Donnerstag brach Xi zu einer Reise nach Nordkorea auf, der ersten eines chi- nesischen Präsidenten seit 14 Jahren. Er reise nach Pjöngjang, ließ er wissen, »um die strategische Kommunikation und den Austausch« mit Nordkorea zu stärken. Sollte auch er sich über etwas geärgert ha- ben, die chinakritischen Massenproteste in Hongkong etwa, das weltweit um sich grei- fende Unbehagen angesichts Pekings neuer Stärke oder den Handelskrieg mit den USA – Xi ließ es sich nicht anmerken. Das ist, anders als bei Trump, fast immer so. Es sind zwei ungleiche Charaktere, die sich am kommenden Wochenende zu einem mit Spannung erwarteten Gipfel treffen werden. Trump und Xi fliegen, wie weitere Staats- und Regierungschefs, zum G-20-Treffen nach Japan. Erst am Dienstag hatte Trump – in einem Tweet – bestätigt, dass es in Osaka zu einer »aus- gedehnten« persönlichen Begegnung zwi- schen ihm und Xi kommen werde. Ihr Showdown dürfte alle anderen Gipfel - termine überschatten. Präsidenten Trump, Xi 2017 in Peking: »Ein Kampf mit einer anderen Zivilisation«

74 sondern an der wirtschaftlichen Konkur- Eskalationsstufen Regierte ein anderer Präsident die USA, renz entzündet. Washington sieht sich von Maßnahmen im Handelsstreit, in Mrd. Dollar wäre die Frage auf Anhieb zu beantwor- Peking herausgefordert und treibt unter ten. Europa teilt das Fundament seiner Präsident Trump eine »Entkoppelung« der US-Strafzölle chinesische Werte und seine Wirtschaftsordnung mit beiden größten Volkswirtschaften voran – auf chinesische Strafzölle den Vereinigten Staaten, nicht mit dem Produkte auf US-Produkte eine schrittweise Kappung der nach China im Wert von: im Wert von: autoritären China. Doch der America-first- reichenden globalen Produktions- und Lie- Präsident Trump fordert mit seiner aggres- 1. Stufe ferketten, an denen allerdings auch fast 34 34 siven Wirtschafts- und Strafzollpolitik alle anderen Staaten hängen. seit 7. Juni 2018 nicht nur Peking, sondern auch seine Die amerikanisch-chinesische Rivalität 2. Stufe 16 16 europäischen Verbündeten und Staaten sei die »wichtigste geopolitische Entwick- seit 23. August wie Kanada, Japan und Südkorea heraus. lung unseres Zeitalters«, warnt die »Finan- All diese Länder, das exportabhängige cial Times«. Sie zwinge »zunehmend je- 3. Stufe Deutschland voran, haben Interessen in den, sich einer Seite anzuschließen oder seit 200 60 China. Die Entscheidung zwischen Wa- hart um Neutralität zu kämpfen. Sie droht 24. September shington und Peking ist keine Alternative. eine handhabbare, wenn auch irritierende Sie ist ein Dilemma. Beziehung (mit China –Red.) in einen all- 4. Stufe Derzeit ist es eher die US-Regierung als umfassenden Konflikt zu verwandeln«. angedroht am Peking, die den Rest der Welt drängt, ein- Wie sollen sich die Industrieländer, wie 13. Juni 2019 300 deutig Stellung zu beziehen. Beispiel Hua- sollen sich die Europäische Union und Quelle: wei: Seit Monaten setzt Washington Staa- Deutschland in diesem Konflikt verhalten? US-Kongress ten unter Druck, die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen chinesischen Netzwerk- ausrüster zu beenden. Im Mai nahm die Administration das Unternehmen in eine schwarze Liste auf, die es Firmen verbietet, ohne Erlaubnis der Regierung mit Huawei zu kooperieren. US-Konzerne wie Google und der Halbleiterkonzern Intel haben bereits angekündigt, ihre Geschäftsbezie- hungen mit Huawei abzubrechen. Mehr als 140 chinesische Firmen des Elektronik-, Luftfahrt-, Halbleiter- und Maschinenbausektors stehen bereits auf der Liste. Washington stuft sie als Gefahr für die nationale Sicherheit ein und zielt darauf ab, auch anderen Staaten und Un- ternehmen mit US-Verbindungen die Zu- sammenarbeit mit ihnen zu erschweren. Am Montag begann vor dem Senat die Anhörung für ein neues Paket an Straf- zöllen, es umfasst Waren im Wert von 300 Milliarden Dollar. Dafür wären prak- tisch alle Importe aus China mit hohen Abgaben belegt. Dagegen wehren sich nicht nur die Chinesen, sondern auch die Mehrheit der betroffenen US-Unterneh- men. 47 der 50 zur ersten Anhörung gela- denen Firmen sprachen sich gegen und nur zwei von ihnen für die neuen Zölle aus. In einem Brief an Trumps Chinaverhandler Robert Lighthizer warnte die amerikani- sche Handelskammer, das neue Zollpaket werde »den bereits angerichteten Schaden dramatisch vergrößern«. Die Methode ähnelt Washingtons An- satz im Umgang mit Iran: Entweder ihr seid für oder gegen uns. Und sie wird be- gleitet von Untertönen, die in den USA seit Langem nicht mehr zu hören waren: Die Rivalität mit China sei »ein Kampf mit einer wirklich anderen Zivilisation«, sagte Kiron Skinner, die Planungschefin des State Department. Peking, das den Zugang zu seinen Märk- ten seit Jahren selbst als politisches Druck- ANDREW HARNIK / AP mittel einsetzt, sieht sich als Opfer seiner eigenen Strategie. Zu Beginn des von Trump

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 75 Großmächte EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström, 51, erklärt, SPIEGEL: Wird Trump mit dieser Metho- warum der amerikanisch-chinesische Zollstreit für Europa teuer wird de Erfolg haben? Malmström: Das müssen andere beurtei- len, nicht zuletzt Sie als Journalisten. Ich habe nur eine ernsthafte Frage: Ist an der Südgrenze der USA wirklich etwas »Gesetz des Dschungels« passiert, außer dass dort mehr Soldaten stationiert wurden? Kommen dort weni- ger Flüchtlinge an oder mehr? Ich weiß es nicht. Fest steht aber: Der Schaden für SPIEGEL: Frau Kommissarin, kennen Sie giganten Huawei ablegen und, wie Trump die US-Wirtschaft ist real. Wir hören je- das deutsche Sprichwort: Wenn zwei sich es fordert, verhindern, dass das Unterneh- den Tag von Klagen in den USA, beispiels- streiten, freut sich der Dritte? men die 5G-Netze in der EU ausbaut? weise, dass Stahl und Aluminium teurer Malmström: Ja. Aber wenn Sie damit auf Malmström: Über den Umgang mit Hua- geworden seien. den Handelsstreit zwischen den USA und wei entscheidet jedes EU-Mitglied selbst. SPIEGEL: In Trumps Welt ist Europa kein China anspielen, dann passt dieses Sprich- Wir als Kommission können nur Emp - Freund, sondern ebenfalls ein Gegner. wort nicht. Ein Handelskrieg zwischen fehlungen aussprechen und koordinieren. Wenn Trump sich beim G-20-Gipfel kom- den beiden Ländern bleibt für Europa Das tun wir auch: Bis Ende September mende Woche in Japan mit Chinas Prä - nicht ohne Konsequenzen: Produkte wer- erwarten wir einen Bericht jedes EU-Mit- sident Xi Jinping im Handelsstreit einigen den teurer, die Märkte reagieren nervös, glieds, wie es die Gefahr für seine Kom- sollte, gerät die EU dann als Nächstes in Unternehmen verschieben Investitionen. munikationsinfrastruktur einschätzt, die sein Visier? Es gibt für uns keinen Grund zur Freude. von Huawei ausgeht. Malmström: Ein amerikanischer Präsi- SPIEGEL: Warum macht die EU mit US- SPIEGEL: Früher zogen die USA mit Pan- dent, der Europa als Gegner sieht – Präsident Donald Trump nicht gemeinsa- zern in die Schlacht, heute mit Strafzöllen. wir müssen alle immer noch lernen, mit me Sache gegen China? Ist die EU auf eine derartige Auseinander- dieser Situation umzugehen. Wir hatten Malmström: Wir sehen mit Blick auf setzung vorbereitet? immer wieder Probleme mit den USA, China vieles ähnlich wie die USA. Malmström: Präsident Trump bevorzugt im Kern aber war die transatlan tische Wir wehren uns dagegen, dass mit staat- offensichtlich diese Strategie, aber ohne Freundschaft unzerbrechlich. Unter lichen Subventionen gefütterte Unter - die Welthandelsorganisation WTO liefe Trump scheint das anders zu sein, das nehmen unsere kreativsten Firmen sie auf das Gesetz des Dschungels hinaus. verstört viele Europäer. aufkaufen, wir kämpfen gegen den Dieb- Sein Vorgehen sorgt für große Unsicher- SPIEGEL: Sie verhandeln seit Monaten stahl geistigen Eigentums und für mehr heit auf den Märkten. Dazu kommt, mit Washington, können Sie absehen, ob Transparenz. Wir arbeiten dabei mit dass manche von Trumps Maßnahmen, Trump im November Strafzölle auf euro- den USA und auch mit Japan eng zusam- etwa die Strafzölle, die die USA auf päische Autos erheben wird? men, zum Beispiel, wenn es darum Stahl und Aluminium aus der EU erheben, Malmström: Bislang gibt es keine Anzei- geht, chinesische Investitionen in unseren gegen die Regeln der WTO verstoßen. chen dafür. Wir teilen jedenfalls nicht die Ländern besser zu überwachen. Ansicht von US-Präsident Trump, dass SPIEGEL: Trumps Drohungen mit der Export europäischer Autos die ame - Strafzöllen wollen Sie sich aber nicht rikanische Sicherheit bedroht. In den anschließen? USA hängen 420000 Jobs von Europas Malmström: Das sind nicht unsere Autoindustrie ab. Sollte Trump mit seiner Methoden. Die EU ist eine Rechtsgemein- Drohung Ernst machen, sind wir vorbe- schaft, wir halten uns an internationale reitet. Unsere Liste mit Gegenmaßnah- Regeln. Trump dagegen droht mit men steht. Aber wir reden weiter – über massiven Zöllen, um politische Ziele ein Freihandelsabkommen und über die durchzusetzen. Diesen Ansatz teilen wir Angleichung von Industriestandards. ausdrücklich nicht. China ist für uns SPIEGEL: Trumps Handelsbeauftragter ein wirtschaftlicher Rivale, aber kein poli- Robert Lighthizer beklagt, die Europäer tischer Feind. hätten nicht den »gleichen Grad an SPIEGEL: Dennoch ist auch die Anspra- Ambition« wie die USA, vor allem bei che der EU gegenüber den Chinesen der Landwirtschaft. zuletzt deutlicher geworden, etwa beim Malmström: Ich habe von den EU-Mit- EU-China-Gipfel im April. Nutzt es gliedern kein Mandat dafür, mit den USA Ihnen, dass die Chinesen keine zweite über die Senkung unserer Agrarzölle zu Front im Handelskrieg riskieren wollen? verhandeln. Die USA sind ja auch nicht Malmström: Wir wollen mit China bereit, über einen verstärkten Zugang kooperieren, beim Umweltschutz, in der europäischer Firmen bei öffentlichen Aus- Wirtschaft. Aber wir geben dabei unsere schreibungen zu sprechen. Unsere Idee Ansprüche nicht preis, nicht, was die ist, erst einmal ein sehr rudimentäres Frei- Menschenrechte angeht, und auch sonst handelsabkommen zu verhandeln, um nicht. Wir wollen chinesische Investitio- Vertrauen aufzubauen. Am Ende könnten nen, aber wir werden nicht naiv zusehen, wir dann vielleicht sogar erreichen, dass wie China europäische Schlüsselindus- die USA und die EU gegenseitig alle Zölle trien aufkauft. / AFP GETTY IMAGES JOHN THYS auf Autos abschaffen. SPIEGEL: Muss Europa auch seine Naivi- EU-Kommissarin Malmström Interview: Peter Müller, tät gegenüber dem chinesischen Internet- »Der Schaden für die US-Wirtschaft ist real« Christian Reiermann

76 539,7 initiierten Handelskriegs noch eher de- 120,1 nung: China ist nicht mit Iran oder auch fensiv, verschärft China nun seine nur mit Japan zu vergleichen, Ame- Gangart. Ende Mai kündigte auch Pe- rikas Angstgegner der Achtziger - king eine schwarze Liste von »un- jahre. Das Handelsvolumen, das zuverlässigen« ausländischen Fir- die USA und die Sowjetunion men an und droht den USA zu- einst erzielten, betrug zwei Mil- dem mit einem Exportstopp für Ungleicher liarden Dollar pro Jahr. Mit Chi- seltene Erden, unverzichtbare na sind es derzeit zwei Milliar- Rohstoffe der Hightech-Indus- Warenhandel den Dollar am Tag. Exporte 2018, trie. Die staatliche Propaganda USA China Sollte der Gipfel in Osaka bereitet die Bevölkerung auf har- in Milliarden Dollar nicht mit einem Waffenstill- te Zeiten vor: »Niemand sollte stand enden, hätte das nicht nur die eiserne Entschlossenheit des Quellen: U.S. Census, Eurostat für Chinesen und Amerikaner chinesischen Volkes unterschät- schlimme Folgen. Für Deutsch- zen, einen anhaltenden Krieg zu lands exportorientierte Industrie kämpfen«, so das Blatt »Qiushi«. ist der chinesische Markt wichtiger Zugleich passt Peking seine Politik als für die USA. Über 40 Prozent der der neuen Lage an. Die Führung schwört 407,0 394,6 deutschen Firmen in China und mehr Unternehmer, Ingenieure und Wissen- 268,1 als die Hälfte der Betriebe in den USA schaftler darauf ein, sich zu wappnen und EU 209,8 spürten schon vergangenen Sommer die den eigenen Technologiesektor zu stärken. Folgen von Zöllen. »Der Handelskrieg kommt aus Sicht Europa sitzt in diesem Konflikt zwi- Chinas zu früh, denn noch gibt es eine Ab- schen den Stühlen. Einerseits betont EU- hängigkeit von US-Komponenten. Aber abgesenkt – für kanadische Hummer zum Handelskommissarin Cecilia Malmström, er wird auch als Bestätigung der eigenen Beispiel. am Multilateralismus festhalten zu wollen. Strategie gesehen«, sagt Max Zenglein Manche Kritik an China sei durchaus »Trumps Ansatz teilen wir ausdrücklich vom Berliner Mercator Institute for China nachvollziehbar, räumte Xi Jinping beim nicht. China ist für uns ein wirtschaftlicher Studies (Merics). Vor vier Jahren hatte Seidenstraßen-Gipfel ein, zu dem im Früh- Gegner, aber kein politischer Feind«, sagt Peking unter dem Namen »Made in China jahr auch mehrere europäische Regierungs- sie (siehe Interview Seite 76). 2025« einen industriepolitischen Master- chefs nach Peking gereist waren. Erste Ver- Andererseits hat die EU China zu einem plan für zehn Sektoren aufgesetzt, den es änderungen, von denen er dort sprach, »systemischen Rivalen« erklärt. Europäi- nun gezielt modifiziert: In klassischen sind bereits zu spüren: So darf BMW die sche Hardliner wie der frühere Nato-Ge- Hightech-Bereichen wie dem Flugzeugbau Mehrheit an seinem chinesischen Joint neralsekretär Anders Fogh Rasmussen plä- sei die Parteiführung bereit, Lücken in Venture übernehmen, BASF darf ohne ein- dieren dafür, die transatlantische Allianz Kauf zu nehmen, sagt Zenglein. »Halb- heimischen Partner ein Werk errichten. gegen Peking zu vertiefen. Das EU-Mit- leiterchips und künstliche Intelligenz wer- Zudem hat Peking zugesagt, Überkapazi- glied Frankreich und das Nochmitglied den dagegen klar priorisiert.« täten in der Stahlindustrie abzubauen, und Großbritannien unterstützen die USA Xi Jinpings wichtigster Wirtschafts - eine Beschwerde bei der Welthandelsorga- auch militärisch, indem ihre Seestreitkräfte berater und Verhandlungsführer Liu He nisation gegen die von der EU verhängten an Patrouillenfahrten im westlichen Pazi- gewinnt dem sich zuspitzenden Handels- Anti-Dumping-Zölle zurückgezogen. fik teilnehmen. konflikt sogar einen positiven Effekt für Unter Druck, so die neue Erfahrung Doch ein gemeinsames politisches und China ab: »Der äußere Druck wird uns der Europäer, bewegt sich China – allein wirtschaftliches Vorgehen gegen China helfen, Innovation und eigene Entwicklun- schon deshalb, weil es einen Zweifronten- würde voraussetzen, dass Trump Amerikas gen zu verbessern, uns schneller zu refor- krieg mit Washington und Brüssel vermei- Alliierte respektiert – und am Ende zu sei- mieren und zu öffnen und unser Wachs- den will. Beim EU-China-Gipfel im April nen Worten steht. Beides ist zweifelhaft. tum auf eine höhere Qualitätsstufe zu drohten die Europäer, das Abschluss - Trump droht seinen europäischen und asia- treiben.« In Chinas Internet, lobt die natio- kommuniqué durchfallen zu lassen – auch tischen Bündnispartnern mit den gleichen nalistische Pekinger »Global Times«, ver- damit hatten sie Erfolg: Am Ende stimm- Mitteln, mit denen er China droht. Und breite sich gerade ein Zitat »des deutschen ten die Chinesen deutlichen Formulierun- wie er sich im Konflikt mit Peking schließ- Philosophen Friedrich Nietzsche: ›Was uns gen zu, die der EU nicht nur besseren Zu- lich entscheiden wird, ist selbst nach einem nicht umbringt, macht uns stärker‹«. gang zum chinesischen Markt verschaffen, Jahr Handelskrieg immer noch offen. Diesen technologischen Ehrgeiz unter- sondern auch einen Kontrollmechanismus Es wird, wie oft, am Ende davon abhän- füttert Peking mit einer offensiven Außen- zulassen. gen, wovon Trump sich eine bessere Aus- politik, indem es bestehende Allianzen Etliche G-20-Staaten teilen Trumps sicht für seine Wiederwahl verspricht: von stärkt und neue schmiedet, von Russland Vorbehalte gegen China, fürchten aber, einem Abkommen mit seinem ungleichen über Zentralasien bis in den Nahen Osten. dass sein Handelskrieg genau die Welt- Rivalen Xi Jinping, das er als den »groß- Xis Reise zum G-20-Gipfel wird allein im wirtschaftsordnung zerstören könnte, die artigsten Deal aller Zeiten« (Trump) ver- Juni seine vierte sein. Er reist insgesamt Amerika entscheidend mit aufgebaut hat. kaufen kann – oder von einem mächtigen viel häufiger ins Ausland als alle seine Vor- Es ist schlicht eine Frage der Größenord- Feindbild für den bevorstehenden Wahl- gänger – und sein Rivale Trump. kampf. Es wäre das mächtigste, das sich Auch in seiner Wirtschafts- und Han- in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts delspolitik gegenüber der EU und ande- Sollte der Gipfel nicht wohl denken lässt. ren Staaten scheint Peking beweglicher Matthias Gebauer, Peter Müller, zu werden. Während China auf Strafzölle mit einem Waffenstill- Marcel Rosenbach, Michael Sauga, aus den USA bislang stets mit gleicher stand enden, hätte Bernhard Zand Münze reagierte, hat es Zölle für Ein- Twitter: @bzand fuhren aus anderen Ländern selektiv das schlimme Folgen.

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 77 Ausland »Boris Johnson hat seine Inkompetenz eindrucksvoll zur Schau gestellt«

SPIEGEL-Gespräch Schottland würde als eigenständiges Land prosperieren, sagt seine Regierungschefin. Nicola Sturgeon über linken Nationalismus, einen No-Deal-Brexit und den Machtkampf um die Nachfolge von Theresa May.

Sturgeon, 48, ist Regierungschefin (First ten als »niederträchtige Rasse« beschrie- dem ein neues schottisches Unabhängig- Minister) von Schottland und Vorsitzende ben werden, die es auszurotten gelte? keitsreferendum durchführen? der Scottish National Party (SNP). Mit Sturgeon: Ich habe es gesehen, ja. Und ich Sturgeon: Ich bin sicher, dass es eine zwei- einer ungewöhnlichen Mischung aus lin- bin gerade erst wieder an seinen Kommen- te Volksabstimmung geben wird. Der Bre- ker Sozialpolitik, ökologischer Program - tar erinnert worden, dass kein Schotte bri- xit zeigt doch eindrücklich, wie sehr uns matik und einer nationalistischen, aber tischer Premierminister werden sollte, weil Schottlands Abhängigkeit schadet. 62 Pro- migra tionsfreundlichen Agenda bestimmt uns dazu die politische Eignung fehle. Nun, zent der Schotten haben für einen Verbleib die SNP seit zwölf Jahren die Geschicke die meisten Schotten halten ihn für voll- in der EU gestimmt, aber das wird bis heu- Schottlands. 2014 war Sturgeon feder - kommen ungeeignet für das Amt – inso- te ignoriert. führend an der Vorbereitung eines schot- fern beruht das auf Gegenseitigkeit. SPIEGEL: Das Königreich als Ganzes hat tischen Unabhängigkeitsreferendums be- SPIEGEL: Johnson behauptet, niemand sei indes knapp für einen Austritt gestimmt. teiligt, das die Befürworter der Selbststän- besser als er selbst dazu in der Lage, das Sturgeon: Meine Regierung hat schon früh digkeit mit 45 zu 55 Prozent der Stimmen Vereinigte Königreich zu einen. im Brexit-Prozess Kompromissvorschläge verloren. Nun kündigt die Juristin aus Sturgeon: In Boris Johnsons politischer gemacht, die den EU-Binnenmarkt und Glasgow einen weiteren Anlauf spätestens Laufbahn findet sich wirklich keinerlei die Zollunion betrafen. Die Regierung in in zwei Jahren an. Indiz dafür. Ich bin recht häufig in Europa London hat das beiseitegewischt und dem und Übersee unterwegs. Und in den ver- schottischen Parlament sogar grundlegen- SPIEGEL: First Minister, drücken Sie die gangenen Jahren hat der internationale de Befugnisse streitig gemacht. Gleichzei- Daumen, dass Boris Johnson demnächst Ruf des Vereinigten Königreichs enormen tig wurde Irland von der EU vollkommen in 10 Downing Street einzieht? Schaden genommen. Der Hauptgrund da- anders behandelt, nämlich verständnisvoll Sturgeon: Nein. Boris Johnson als nächs- für ist sicher der Brexit. Aber knapp da- und solidarisch. Als unabhängiger Staat ter Premierminister Großbritanniens ist hinter kommt schon Boris Johnson, der innerhalb der EU hat Irland sehr viel mehr eine Horrorvorstellung, ganz sicher für vor allem in seiner Zeit als Außenminister Macht und Einfluss. Das haben die Schot- viele hier in Schottland, aber ich vermute seine Inkompetenz und seine mangelnde ten sehr wohl zur Kenntnis genommen. auch für zahllose andere Menschen im Redlichkeit eindrucksvoll zur Schau ge- SPIEGEL: Was, wenn London Ihnen die gesamten Vereinigten Königreich. stellt hat. Seine Karriere ist gepflastert mit Erlaubnis für ein erneutes Referendum ver- SPIEGEL: Johnson scheint gewillt zu einem vorsätzlichen Versuchen, bestimmte Men- weigert? Würden Sie wie Katalonien trotz- vertragslosen Bruch mit der EU, dem schen unnötig herabzuwürdigen, um sich dem abstimmen lassen? sogenannten No Deal. Und glaubt man anderen anzudienen. Er hat Schwule be- Sturgeon: Wir haben damit begonnen, Umfragen, würde ein No Deal schottische leidigt. Er hat muslimische Frauen lächer- die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Unabhängigkeitsbestrebungen beflügeln. lich gemacht. Die meisten dürften Schwie- Referendum zu schaffen. Es ergibt zurzeit Ist das nicht genau das, was Sie wollen? rigkeiten haben, sich vorzustellen, wie so wenig Sinn, mit der Regierung in London Sturgeon: Ich habe dem Vereinigten Kö- jemand als Premierminister Menschen mit- darüber zu diskutieren, dafür herrscht dort nigreich noch nie Schlechtes gewünscht, einander versöhnen will. zu großes Chaos. damit unser Verlangen nach Unabhängig- SPIEGEL: Wie wird der Brexit-Schlamassel SPIEGEL: Die Kandidaten für Theresa keit in Erfüllung geht. Ich wollte und will, Ihrer Ansicht nach enden? Mays Nachfolge haben gesagt, sie würden dass wir diesen Kampf mit positiven Ar- Sturgeon: Ich würde sagen, seit den Euro- den Schotten die Zustimmung verweigern. gumenten für Schottland gewinnen. Wenn pawahlen und Theresa Mays Rücktritt sind Sturgeon: Diese Leute haben aber auch es nach mir ginge, sollte es keinen Brexit zwei Dinge wahrscheinlicher geworden. versprochen, die Europäische Union spä- geben. Aber natürlich wird er, wenn er Zum einen ein zweites Referendum, mit testens am 29. März zu verlassen. Ich will denn kommt, unsere Unabhängigkeits- dem der Brexit rückgängig gemacht wer- nicht zu flapsig wirken, aber mir scheint, bewegung stärken, vor allem wenn Boris den könnte. Zum anderen ein No-Deal- diesen Tory-Politikern sollte man momen- Johnson Premierminister werden sollte. Brexit. Menschen wie ich arbeiten daran, tan nicht allzu viel Glauben schenken. SPIEGEL: Haben Sie das Gedicht gelesen, dass es auf Ersteres hinausläuft. SPIEGEL: Noch mal, würden Sie Ihre das Johnson vor Jahren als Chefredakteur SPIEGEL: Nehmen wir an, der Brexit wird Landsleute selbst dann zur Wahl rufen, des »Spectator« drucken ließ, in dem Schot- wieder abgesagt. Wollen Sie dann trotz- wenn London Nein sagt?

78 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 SOPHIE GERRARD / DER SPIEGEL Unabhängigkeitskämpferin Sturgeon: »Man sollte den Menschen die Wahrheit sagen«

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Sturgeon: Man sollte sehr genau betrach- Sturgeon: Wir würden so vorgehen wie reich an Vorzügen wie guter Erziehung. ten, wie illegitim und undemokratisch ein schon während des ersten Unabhängig- Wir werden prosperieren. solches Nein wäre. Ich bin 2016 als Regie- keitsreferendums 2014, als die Schotten SPIEGEL: Das schottische Haushaltsdefizit rungschefin Schottlands zur Wiederwahl sehr genau wussten, worum es geht. Wir liegt derzeit bei rund 13 Milliarden Pfund, angetreten. Unser Wahlversprechen war, reden darüber heute ein bisschen scherz- fast dreimal so hoch, wie die EU erlaubt. dass wir ein Unabhängigkeitsreferendum haft, aber damals debattierten Menschen Gibt es aus Brüssel irgendwelche Finger- durchführen werden, sollte Schottland aus an Straßenecken über die Refinanzierung zeige, dass man für Schottland eine Aus- der EU geführt werden. Auf dieser Basis von Krediten oder makroökonomische nahme machen würde? habe ich die Wahl gewonnen, und für diese Politikansätze. Eine besser informierte Sturgeon: Ich setze mich hier nicht hin Haltung haben wir eine Mehrheit im schot- Bevölkerung gab es nirgendwo auf dem und behaupte, dass wir kein Defizit erben tischen Parlament. Boris Johnson oder Je- Planeten. Vergleichen Sie das bitte mit den würden. Aber die Zahlen, mit denen Sie remy Hunt würden sich auf problemati- Lügen, welche die Brexiteers auf die Au- operieren, sind runtergerechnet vom Ge- sches Terrain begeben, wenn sie sagten: ßenwände von Bussen gepinselt haben. samtdefizit des Vereinigten Königreichs. Sorry, liebe Schotten, aber wir erlauben SPIEGEL: Die Volksabstimmung haben Sie Ich glaube nicht, dass das ein Hindernis euch keine eigene Entscheidung. damals trotzdem verloren. auf dem Weg zur Unabhängigkeit wäre. SPIEGEL: Wird es das Referendum, wie Sturgeon: Zugegeben, viele derer, die da- Sämtliche Gespräche, die ich vor allem seit von Ihnen angekündigt, definitiv vor Ende mals gegen die Unabhängigkeit stimmten, dem Brexit-Votum in der EU geführt habe, der Wahlperiode im Mai 2021 geben? wurden irregeleitet. Man sagte ihnen lassen mich glauben, dass wir mit offenen Sturgeon: Das ist meine Absicht. Tory- »Stimmt mit Nein, und sichert euren Platz Armen empfangen würden. Politiker mögen das Gegenteil behaupten. in der EU«, was gelogen war. Aber wer SPIEGEL: Besorgt Sie der Vormarsch natio- Aber: Es ist nicht an mir oder an ihnen, mit Ja stimmte, wusste genau, was er tat. nalistischer Kräfte in Europa? das letztlich zu entscheiden – es ist eine Sturgeon: Der Vormarsch der Rechten Sache des schottischen Volkes. macht mir Sorgen, ja. Ich tue mich schwer SPIEGEL: Ein schottisches Plebiszit, gefolgt mit dem Begriff Nationalismus, weil Sie womöglich von einer Abstimmung über mich mit gutem Grund Nationalistin nen- die irische Wiedervereinigung, könnte das nen könnten. Vereinigte Königreich zerstören. Würden SPIEGEL: Ist es nicht widersprüchlich, Sie das bedauern? links und nationalistisch zu sein? Sturgeon: Nächste Woche bin ich, wie Sturgeon: Meine Partei ist die migrations- zweimal im Jahr, beim Britisch-Irischen freundlichste im Vereinigten Königreich Rat. Dort sitze ich zusammen mit Vertre- und eine der offensten in ganz Europa. tern zweier unabhängiger Regierungen, Aber unserer Bewegung geht es um Auto- der irischen und der britischen. Außerdem nomie. Ich will, dass wir uns wie Deutsch- sind neben Schottland noch Wales, nor- SOPHIE GERRARD / DER SPIEGEL land und Frankreich selbst verwalten kön- malerweise auch Nordirland sowie die Sturgeon, SPIEGEL-Redakteur* nen. Von daher benutzen wir den Begriff Kronbesitztümer Guernsey, Jersey und die »Man könnte mich Nationalistin nennen« Nationalismus in einem anderen Kontext. Isle of Man vertreten. Sollte Schottland Schottland soll eine größere und konstruk- unabhängig und Irland vereinigt sein, wür- SPIEGEL: England ist Schottlands wichtigs- tivere Rolle spielen, um mit anderen Na- den wir auch künftig als Vertreter der bri- ter Handelspartner. Plötzlich wäre da eine tionen Antworten auf den Klimawandel tischen Inseln an diesem Tisch sitzen. Wir harte Grenze. oder die Flüchtlingskrise zu finden. müssen nicht vereinigt sein, um konstruk- Sturgeon: Ich will keine Grenze zwischen SPIEGEL: Das dezentralisierte schottische tiv miteinander zu arbeiten. Schottland und England. Parlament hat im Mai seinen 20. Geburts- SPIEGEL: Sie säßen dann mit einem wo- SPIEGEL: Wenn Sie in der EU blieben und tag gefeiert. Sie waren von Anfang an möglich stark nationalistischen Kleinbri- die anderen nicht, müsste es eine geben. dabei. Was treibt Sie persönlich an? tannien an einem Tisch. Sturgeon: Mal abwarten, wie genau das Sturgeon: Ich war 16, als ich der SNP bei- Sturgeon: Darauf hätten wir dann keinen Verhältnis zwischen der EU und dem Rest getreten bin. Ich wuchs in einem Schott- Einfluss mehr. Aber wäre Schottland un- des Vereinigten Königreichs am Ende aus- land auf, das von Margaret Thatcher re- abhängig, säßen wir dort als unser eigener sehen wird. Ich werde immer dafür wer- giert wurde. Sie hat mit ihrer Politik den Herr. Momentan werden uns von einem ben, dass es so eng wie möglich bleibt. Ich Kern Schottlands beschädigt, dabei hatte inakzeptablen Westminister-System Ent- bin jedenfalls nicht diejenige, die das Risi- die große Mehrheit der Schotten sie nicht scheidungen aufgezwungen. ko von Grenzen erhöht – das sind diejeni- mal gewählt. Wegen dieses demokrati- SPIEGEL: Der Brexit zeigt, wie schwierig gen, die das Königreich aus der EU, dem schen Defizits wurde ich zu einer Streiterin es für ein Land ist, sich aus einem langjäh- Binnenmarkt und der Zollunion reißen für die Unabhängigkeit. Wenn man es ge- rigen Staatenverbund zu lösen. Kämen auf wollen. Eine Grenze zwischen einem un- nau bedenkt, sind wir heute noch immer Schottland nicht ähnliche Probleme zu? abhängigen Schottland und England ist ge- in einer ähnlichen Lage. Sturgeon: Diese Annahme halte ich für nauso unnötig wie eine Grenze zwischen SPIEGEL: Würden Sie sich als gescheitert falsch. Der Brexit hat gezeigt, wie schwie- Frankreich und Deutschland. bezeichnen, wenn es nicht gelänge, Schott- rig es wird, wenn man Menschen nicht von SPIEGEL: Wie würde Schottland allein land in die Unabhängigkeit zu führen? Anfang an die Wahrheit sagt, man keinen überleben? Nordseeöl und -gas gehen zur Sturgeon: So würde ich es lieber nicht be- Plan hat und rote Linien zieht, die nichts Neige, und man kann eine Volkswirtschaft schreiben. Wenn wir in vielen Jahren auf mit der Realität zu tun haben. Ich lehne nicht nur mit Fisch, Whisky und Tourismus die jetzige Phase zurückblicken, können den Brexit ab, aber zum jetzigen Irrsinn über Wasser halten. Sie mir die Frage noch einmal stellen. Bis hätte er nicht zwangsläufig führen müssen. Sturgeon: Sie sollten die Fundamente der dahin versuche ich mich auf das zu kon- SPIEGEL: Was lässt Sie glauben, dass Sie schottischen Wirtschaft noch etwas gründ- zentrieren, wofür ich gewählt wurde. es einfacher haben werden? licher studieren. Schottland hat mehr na- SPIEGEL: First Minister, wir danken Ihnen türliche Ressourcen als die meisten ande- für dieses Gespräch. * Jörg Schindler in Edinburgh. ren Länder, es ist reich an Menschen und

80 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 DEINE GESCHÄFTSIDEE UMSETZEN?

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men gegen Iran fordern. Sicherheitsbera- Nur schlechte Optionen ter John Bolton und Außenminister Mike Pompeo hatten Teheran mehrfach mehr oder weniger unverhohlen mit Krieg ge- Iran Der Abschuss einer US-Drohne durch Teheran droht. Bolton war schon vor seiner Beru- fung ins Weiße Haus ein glühender Ver- katapultiert den Konflikt in eine neue Dimension. Droht der fechter eines Regimewechsels. Region ein neuer Krieg? Trump dagegen hat immer wieder klar- gemacht, dass er keinen Krieg will, son- dern nur einen »besseren« Deal als das s war am späten Mittwochabend, ir- bemüht, die Krise mit Iran einzudämmen. Abkommen, das die Europäer, China, E gendwo über der Straße von Hor- Noch am Montag sagte er, der Angriff auf Russland und die USA unter Barack mus, als die Flugabwehr der irani- zwei Tanker nahe der Straße von Hormus Obama mit Iran ausgehandelt hatten. Der schen Revolutionswächter ein unbemann- vergangene Woche, den das US-Verteidi- Präsident will Iran dazu zwingen, sein tes Flugobjekt ins Visier nahm. Es handelte gungsministerium Iran zugeschrieben hat- Raketenprogramm einzuschränken und sich um eine Drohne vom Typ »Global te, sei nur eine »sehr geringe Sache« ge- sich aus den regionalen Kriegen zurück- Hawk«, Millionen Dollar teuer, eine wesen. Und als er gefragt wurde, unter zuziehen. schwere Maschine, die zu Aufklärungsflü- welchen Umständen er gegen Iran Krieg Wollte Trump wirklich einen Krieg gen in der Region aufgebrochen war. Das führen würde, sagte er: »Sicherlich wegen gegen Iran anzetteln, hätte er genügend US-Militär sagt, die Drohne habe sich über nuklearer Waffen«, ansonsten würde er Gründe finden können. Immer wieder wa- internationalen Gewässern aufgehalten. aber »ein Fragezeichen« setzen. ren US-Soldaten oder Militärbasen in der Teheran behauptet, sie sei in iranisches Dazu passt ein Bericht der Nachrichten- Region Ziel von Angriffen, die die USA Hoheitsgebiet eingedrungen. Gegen 23.35 seite »The Daily Beast« vom Mittwoch. Da- auf Teheran zurückführen. Uhr schoss eine Flugabwehrrakete der rin hieß es, der Präsident habe seine Bera- So schlugen spätabends am 14. Juni auf Revolutionswächter die Drohne vom ter angewiesen, ihre Rhetorik zu zügeln. dem Gelände der Luftwaffenbasis Balad Himmel. Am Donnerstagmorgen brüsteten sich nördlich von Bagdad drei Mörsergranaten Seit Monaten wird der Streit zwischen die iranischen Revolutionswächter mit ein, wie das irakische Militär mitteilte. Auf den Vereinigten Staaten und Iran immer dem Abschuss der Drohne. Der Komman- dem weitläufigen Gelände, auf dem auch hitziger; der bewusste, gezielte Abschuss deur der Revolutionswächter, Hossein Sa- US-Militärtrainer stationiert sind, seien einer US-Militärdrohne fügt dem Konflikt lami, sagte laut iranischem Staatsfernse- einige Büsche in Brand geraten. Washing- nun eine neue, riskante Dimension hinzu. hen: »Der Abschuss der US-Drohne war ton wertete den Angriff nicht als Anschlag Die Regierung von Donald Trump hat eine klare Botschaft an Amerika. Unsere auf die nationale Sicherheit – sondern Sanktionen gegen das Regime in Teheran Grenzen sind Irans rote Linie, und wir wer- ignorierte ihn wie ein Buschfeuer. durchgesetzt, die iranische Führung um Prä- den auf jede Aggression stark reagieren. Am nächsten Tag wurde bekannt, dass sident Hassan Rohani drohte damit, die An- Iran will keinen Krieg mit einem anderen Trumps Kabinett dem Irak gerade die drit- reicherung von Uran hochzufahren, und Land, aber wir sind ganz und gar in der te Ausnahmegenehmigung in Folge erteil- auf diese Weise gegen das Atomabkommen Lage, Iran zu verteidigen.« te, Erdgas und Strom aus Iran zu impor- zu verstoßen. Bislang waren die Auseinan- Die Aktion bestätigt jene Hardliner in tieren. Eigentlich bildet das im November dersetzungen weitgehend auf rhetorische der US-Regierung, die härtere Maßnah- einseitig von Washington verhängte Em- Gefechte begrenzt. Das hat sich nun ge- ändert. Am Donnerstag schrieb Donald Trump auf Twitter: »Iran hat einen sehr schweren Fehler begangen.« Das klang nach Krieg. Kurz darauf ruderte er zurück. Möglicherweise sei der Anschlag von einem Offizier ohne Einverständnis Teherans ver- übt worden, sagte er. »Jemand war dumm.« Trump hat nur schlechte Optionen: Er könnte, erstens, gar nichts tun und abwar- ten – was Teheran signalisieren würde, dass man das US-Militär ungestraft angreifen kann. Zweitens könnte Trump die Sanktio- nen, die Iran ohnehin schon lähmen, weiter verschärfen, was aus Sicht mancher Hard- liner in Washington möglicherweise nicht genügen würde. Oder er könnte, drittens, den Befehl erteilen, militärisch gegen Iran zurückzuschlagen – und damit einen Flä- chenbrand im Nahen Osten riskieren. Letzteres ist die unwahrscheinlichste Option, aber in konservativen Washing- toner Kreisen war nach dem Drohnenab- schuss die vorherrschende Meinung: Das könnten sich die USA nicht bieten lassen. Dabei hatte es zuletzt eher nach vor- sichtiger Entspannung ausgesehen. Nach / REUTERS AIR FORCE U.S. Wochen der Kriegsrhetorik schien Trump US-Drohne »Global Hawk«: »Jemand war dumm«

82 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 bargo gegen Irans Öl- und Gasexporte das sprang um 2 Dollar auf knapp 65 Dollar Herzstück des amerikanischen Vorhabens, pro Barrel. Irans Führung in die Knie zu zwingen. Schon vor dem Drohnenabschuss hat- Aber der Irak ist, trotz reicher Ölvorkom- ten sich nach Angaben von »Lloyd’s List«, men, außerstande, die eigene Bevölkerung dem Fachportal für »Maritime Intel- im Sommer mit genügend Energie zu ver- ligence«, die Versicherungsprämien für sorgen. Um Massenproteste wie im die Tankerpassage verzehnfacht. Waren- vergangenen Sommer zu verhindern, im- terminspekulanten dürften auf steigende portiert der Irak derzeit täglich bis zu Preise wetten. In Form höherer Benzin- 28 Millionen Kubikmeter Gas und 1300 preise könnte das schließlich auch Trumps Megawatt Strom aus Iran – nun weiterhin / AP SALEMI VAHID Wähler treffen. mit dem Segen Washingtons. Revolutionswächter Salami Vergleicht man die Machart der Atta- Die Iraner verfolgen seit Wochen eine »Wir werden auf Aggression reagieren« cken, so fällt noch eine zweite Gemein- Strategie: Indem sie sich in der Region als samkeit auf: Alle verursachten wenig Scha- destabilisierender Faktor präsentieren, die Quartiere der Ölförderanlagen bei Bas- den. Die Raketen und Granaten im Irak scheinen sie einerseits die USA provozie- ra hat sich niemand bekannt. schlugen jeweils nachts auf offenem Feld ren – und gleichzeitig ein Signal an den Im Fall der Tankeranschläge am 13. Juni ein. Auf dem Areal von Ölfirmen nahe Rest der Welt senden zu wollen. Dass man hat das Pentagon zwar Indizien gegen Basra, wie ExxonMobil, wurden drei ira- sich in der Vergangenheit zurückgehalten Irans Revolutionswächter vorgelegt: Auf- kische Arbeiter verletzt. Bei den Schiffs- habe, jetzt aber durchaus in der Lage sei, nahmen, auf denen angeblich Revolutions- attacken war die Dosierung noch augen- allen das Leben schwer zu machen. wächter von einem ihrer Schnellboote aus fälliger: Kein Schiff sank, keine Ladung Der Abschuss der Drohne ist auch des- eine nicht explodierte Haftmine vom fing komplett Feuer. halb eine neue Stufe, weil die bisherigen Rumpf des angegriffenen Schiffes »Koku- Die Botschaft dieser Kombination aus Aktionen Irans in der Region dem Regime ka Courageous« entfernen. Angriffen und Zurückhaltung: Es könnte nicht eindeutig zuzuordnen waren. Es gibt Allein: Als Beweis war das anderen sehr leicht sehr viel schlimmer kommen. im Englischen einen schönen Begriff aus Staaten bis auf Großbritannien, Israel und Der deutsche Iran-Experte Adnan Ta- der Grauzone politisch-militärischer Kon- Saudi-Arabien zu wenig, zumal niemand batabai ist der Ansicht, dass Teheran er- flikte, der es nie so recht ins Deutsche ge- eine Eskalation will und Irans Führung um- kannt habe, dass es über kurz oder lang schafft hat, obwohl er von entscheidender gehend dementierte. direkte, bilaterale Gespräche mit den Ame- Bedeutung sein kann: »plausible deniabi- Ein Bekenntnis ist auch gar nicht nötig, rikanern werde führen müssen – und zwar lity«, die glaubhafte Abstreitbarkeit einer um den mutmaßlich beabsichtigten Effekt diesmal ohne Europa. »Um diese Gesprä- Tat. Wenn man den Gegner gern treffen, zu erzielen: einen Anstieg der Erdölpreise. che mit Washington aus einer Position der aber nicht die Konsequenzen des Angriffs Etwa 20 Prozent der weltweiten Exporte Stärke führen zu können, verspürt die tragen möchte. gehen durch den Golf und die Straße von Islamische Republik die Notwendigkeit, Genau dieses Prinzip schien Iran zu ver- Hormus. Schon die Gefahr einer Schlie- ausreichend Verhandlungsmasse zu akku- folgen: Zu den Angriffen auf die Umge- ßung macht die Märkte nervös. Es braucht mulieren«, sagt Tabatabai. »Diese dürfte bung der US-Botschaft in Bagdad, auf die nicht viel, wie sich am Donnerstagmorgen sich aus der Gesamtheit der iranischen Mit- Luftwaffenbasis nördlich davon, auf die nach Bekanntwerden des Drohnen - tel der Abschreckung zusammensetzen: Tanker im Golf von Oman und zuletzt auf abschusses zeigte: Der Rohölpreis Brent dem Einfluss auf die Nachbarregion, der Wiederaufnahme des Nuklearprogramms sowie der Ausweitung des Raketen- und Drohnenprogramms.« Es bleibt ein riskantes Spiel – sowohl vonseiten Irans als auch der USA. Denn zwar stimmt es: Keiner will den Krieg. Das sagen alle, auch Trump und die hartleibigs- ten schiitischen Milizführer im Irak, Liba- non, die Kommandeure der iranischen Revolutionswächter, Irans Präsident und die Europäer sowieso. Doch jenseits dieses Minimalkonsenses agieren Trumps Regie- rung, die Iraner und ihre Satellitenmilizen nach einer je eigenen Kosten-Nutzen- Rechnung. Trump hat mit seinen extremen Sank- tionen Iran wirtschaftlich dermaßen abge- schnürt, dass Teheran unter Zugzwang ist: Ölexport und Deviseneinnahmen sind zu- sammengebrochen, die Autoproduktion liegt danieder. Zugleich hat sich Trump mit all seinen Kriegsdrohungen in eine Sackgasse getwit- tert: Wenn Iran nicht nachgibt, forciert Trump entweder einen Krieg oder steht als Papiertiger da. US DEPARTMENT OF DEFENSE / DPA US DEPARTMENT Christoph Reuter, Christoph Scheuermann Aufnahme angeblicher Haftminenentfernung von »Kokuka Courageous«: Riskantes Spiel

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Dokument von Versailles »Stunde der Abrechnung« Geschichte Vor 100 Jahren wurde der Vertrag von Versailles unterzeichnet. Eine neue Weltordnung sollte entstehen, doch die Friedensmacher weckten zu hohe Erwartungen. Die Vereinbarung spielte den Faschisten in die Hände und führte zu Konflikten, die bis heute andauern. Von Dirk Kurbjuweit

ls der amerikanische Präsident chisch-ungarische Kaiserreich, das russische Woodrow Wilson am 13. Dezem- Zarenreich, das Reich des osmanischen A ber 1918 nach einer neuntägigen Sultans. Neue Staaten entstanden schneller, Schiffsreise in Brest an Land ging als man Landkarten ändern konnte, Polen, und in einem Cabriolet durch die Stadt Jugoslawien, die Tschechoslowakei. fuhr, empfingen ihn französische und Nach ihrer bis dahin größten Katastrophe amerikanische Soldaten freudig. Sie riefen brauchte die Welt eine neue Ordnung, und »Vive l’Amérique!« und »Vive Wilson!«. der Mann, der sie schaffen sollte, war Wood- Delegierte im Spiegelsaal von Versailles bei Es lebe Amerika, es lebe Wilson. Am row Wilson. Einen Monat nach Kriegsende nächsten Tag in Paris war seine Ankunft kam er nach Paris, um an der größten Frie- »spektakulär«, schreibt sein Biograf John denskonferenz aller Zeiten teilzunehmen. schichte der Pariser Friedenskonferenz er- Milton Cooper, Jr. »Horden jubelnder Ein halbes Jahr später, am 28. Juni 1919, vor zählt deshalb viel über eines der wesentli- Menschen füllten die Bürgersteige und hin- 100 Jahren, wurde der Vertrag von Ver- chen Spannungsfelder der Politik, das Ver- gen aus jedem Fenster.« sailles unterzeichnet. Ihm folgten vier wei- hältnis von Erwartungen und Möglichkei- Ein Vertrauter Wilsons notierte in sei- tere Verträge mit den Verlierern des Ersten ten. Es geht hier meist um eine Subtraktion: nem Tagebuch: »Die Franzosen glauben, Weltkriegs, mit Österreich, mit Ungarn, mit Zieht man die Möglichkeiten von den Er- dass er mit einem Hauch von Zauberei den Bulgarien, mit dem Osmanischen Reich. wartungen ab, bleibt als Rest die Frustration. Tag der politischen und industriellen Ge- Bei seiner Ankunft in Europa galt Und Paris habe mit »glo balen Erwartungs- rechtigkeit herbeiführen kann. Wird er Wilson als eine ähnliche Lichtgestalt wie überschüssen« begonnen, sagt der Freibur- das? Kann er das?« 90 Jahre später Barack Obama, dem vor ger Historiker Jörn Leonhard, der das Buch Auch die Deutschen hofften damals auf Amtsantritt zugetraut wurde, die Welt bes- »Der überforderte Frieden« geschrieben hat. den US-Präsidenten, zudem die Ungarn, ser und vor allem friedlicher zu machen. Die Aufgabe: die Deutschen so mit Re- die Italiener, die Chinesen, die Afrikaner In Berlin hörten Obama 200000 Leute bei parationen und Rüstungsbeschränkungen in den Kolonien. Es war eine Stunde null einer Rede zu, er konnte sich mit dem Frie- einhegen, dass sie nie wieder ihre Nach- der Weltgeschichte, der Erste Weltkrieg war densnobelpreis schmücken, bevor er wirk- barn überfallen können. Nach dem Zusam- vorbei, die Menschen betrauerten 15 Mil- lich etwas für den Frieden geleistet hatte. menbruch der vier Reiche viele Grenzen lionen Tote, vier Reiche waren zusammen- Wer am Start von so viel Euphorie emp- in Europa neu ziehen. Das deutsche Kolo- gebrochen, das deutsche und das österrei- fangen wird, kann nur enttäuschen. Die Ge- nialreich aufteilen. Den Völkerbund schaf-

84 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 ROGER-VIOLLET / ULLSTEIN BILD (L.); M. S. LENTZ / GETTY IMAGES (R.) / ULLSTEIN ROGER-VIOLLET Vertragsunterzeichnung am 28. Juni 1919: »Wir sind geneigt, Ihnen Frieden zu gewähren«

fen, ein multilaterales Gremium, das den ar 1919 62 Jahre alt. Er stammte aus den Friedenskonferenz verlor er regelmäßig die Frieden in aller Welt sichern könnte. Südstaaten und gehörte der Demokrati- Fassung.« Ein Wangenzucken wurde im Die Erwartungen: Im Januar 1918, wäh- schen Partei an. Die kanadische Historikerin Laufe der Konferenz stärker. rend des Ersten Weltkriegs, hatte Wilson Margaret MacMillan schreibt in ihrem Buch Zu den großen drei von Paris zählten seine berühmten 14 Punkte für die neue »Die Friedensmacher«: »In der Öffentlich- zudem der britische Premierminister Weltordnung verkündet. Vor allem die keit benahm sich Wilson steif und förmlich, David Lloyd George und der französische Aussicht, über ihr Schicksal selbst bestim- aber im Umgang mit seinen Vertrauten war Ministerpräsident Georges Clemenceau. men zu können, elektrisierte die Völker. er charmant und sogar zu Scherzen auf - Sie trafen die wichtigen Entscheidungen. Der Präsident versprach zudem Transpa- gelegt. Besonders wohl fühlte er sich bei Meistens präsent, aber weniger einfluss- renz, Friedenssicherung und Abrüstung. Frauen. Für gewöhnlich hatte er sich voll- reich war die Siegermacht Italien. Die Deutschen wollten einen milden kommen unter Kontrolle, aber während der Deutsche zählten nicht zu den Akteu- Friedensvertrag, andere Völker hofften auf ren. Es war die Eigenart und wohl auch einen eigenen Staat oder territoriale Zu- ein Problem dieser Konferenz, dass die gewinne, Frauen und Afroamerikaner auf Es verhandelten nur die Sieger untereinander verhandelten, nicht mehr Rechte, die Japaner auf eine Gleich- Sieger. Den Verlierern mit den Verlierern. Denen wurden fertige berechtigung aller »Rassen«. Vertragsentwürfe hingeknallt. Die Akteure: Woodrow Wilson war zu wurden fertige Verträge Die Atmosphäre: Beim Wiener Kon- Beginn der Pariser Konferenz am 18. Janu - hingeknallt. gress, der 1814/15 nach einer europäischen

85 Bei den Reparationen spürten Clemen- ceau und Lloyd George den Druck der Öffentlichkeit in ihren Heimatländern be- sonders stark. In Großbritannien wurde gefordert, die Deutschen auszupressen, »dass die Schwarte kracht«. Die Unterkommissionen verhandelten Tag und Nacht, werteten Belege für Kriegs- schäden aus, rechneten, verwarfen, rech- neten neu. »Sie spielen mit Milliarden wie Kinder mit Holzbauklötzen«, schrieb ein Journalist. Die Briten errechneten als Gesamtzahlung 120 Milliarden Dollar, die Franzosen 220 Milliarden, die Ameri- kaner 22 Milliarden. Der Ökonom John Maynard Keynes, der zur britischen Dele- gation gehörte, hielt 10 Milliarden Dollar für das Maximum: Mehr würde Deutsch-

ARCHIVE PHOTOS / GETTY IMAGES PHOTOS ARCHIVE land ruinieren. Pariser Bürger bei US-Präsident Wilsons Ankunft*: »Enden Sie mit dem rosa Nachthemd« Ein dritter Komplex waren Strafen für Kriegsverbrecher und die Schuldigen am Krieg, darunter der deutsche Kaiser Wil- Friedensordnung suchte, hatte man gern dachte man bei demografischen Zahlen helm II. sowie die Heeresführer Paul von getanzt und sich mit Mätressen vergnügt. vor allem an künftige Soldaten. Hindenburg und Erich Ludendorff. Als Die waren angeblich oft Agentinnen und Clemenceau forderte harsche Repara- Lloyd George erwog, den ehemaligen sollen morgens weitergeplaudert haben, tionen und wollte den Rhein zur deutschen Kaiser auf eine Insel zu verbannen, sagte was sie ihren Liebhabern nachts entlockt Westgrenze machen. Das passte Lloyd Wilson: »Schicken Sie ihn bitte nicht auf hatten. Daraus zogen die Briten die Kon- George nicht, auch weil den Briten nicht die Bermudas. Da will ich selbst hin.« sequenz, dass im Majestic, dem größten an einer Supermacht Frankreich auf dem Die großen drei und der italienische Mi- Hotel der britischen Delegation, keine Kontinent gelegen war. Sie zogen ein gut nisterpräsident Vittorio Orlando trafen Frauen übernachten durften. Tanzen hin- austariertes Kräfteverhältnis vor. Die Ame- sich nahezu täglich, meistens in Wilsons gegen war erlaubt. Nachdem der franzö- rikaner standen auf ihrer Seite. Wilson Arbeitszimmer im Palais Murat, manch- sische Oberbefehlshaber Ferdinand Foch musste sich von Clemenceau den Vorwurf mal im französischen Kriegsministerium. einen Ball im Majestic besucht hatte, stell- anhören, »deutschfreundlich« zu sein. Oft waren noch andere Delegierte dabei, te er die interessante Frage: »Warum ha- Um die Franzosen zu beruhigen, stellte sie arbeiteten nicht ein Land ab, um sich ben Briten so traurige Gesichter und so ihnen Lloyd George einen Tunnel unter dann dem nächsten zu widmen, sondern fröhliche Hintern?« dem Ärmelkanal in Aussicht, um schneller mussten in ihrer Aufmerksamkeit hin und Neu war die Rolle der Öffentlichkeit. Truppen schicken zu können, falls die her springen. Oft saßen sie über Karten Anders als in Wien berichtete ein Heer Deutschen noch einmal angreifen würden. gebeugt, manchmal auf dem Fußboden, von Journalisten über den Stand der Ver- Erst 70 Jahre später wurde er gebaut. und grübelten darüber, wie neue Grenzen handlungen. Das machte die Stimmung nervöser, fiebriger. Der Marburger Histo- riker Eckart Conze schreibt in seinem Buch »Die große Illusion«: »Zur ›neuen Der Zerfall der Imperien Diplomatie‹, die in Paris von vielen be- schworen wurde, gehörte auch dieses per- Grenzen 1914 manente öffentliche, mediale Interesse, Mittelmächte dem sich die Akteure kaum entziehen und Verbündete GROSS- konnten. In allem, was sie taten oder BRITANNIEN RUSSISCHES unterließen, standen sie unter Erklärungs- Entente-Mächte DEUTSCHES REICH und Verbündete REICH und Rechtfertigungsdruck, und die meis- BELGIEN ten Pressevertreter waren ja nicht neutrale neutrale Beobachter, sondern verfolgten mit ihren Staaten Blättern und entsprechend deren politi- FRANKREICH ÖSTERREICH- UNGARN scher Ausrichtung bestimmte Interessen mit dem Ziel, auf das Konferenzgeschehen RUMÄNIEN einzuwirken.« PORTU- SER- Die großen drei waren sich einig, dass GAL MONTE- BIEN BULGARIEN NEGRO die Deutschen und ihre Verbündeten die OSMANISCHES Schuld am Krieg trugen. Ansonsten wurde REICH viel gestritten. Vor allem die Franzosen ITALIEN wollten die Deutschen kleinhalten. Große Algerien GRIECHENLAND Gebiete im Osten ihres Landes waren ver- (Teil Frankreichs) heert, und die höhere Geburtenrate in Deutschland machte ihnen Angst. Damals Libyen Ägypten Französisch-Nordafrika (italienisch) (britisch) * Im Dezember 1918.

86 verlaufen sollten. Sie wurden keine Freun- de, feindeten sich aber nur selten an. Cle- menceau, schreibt MacMillan, »sprach sel- tener als Lloyd George und Wilson, doch wenn er sprach, dann leidenschaftlicher als Letzterer und logischer als Ersterer«. Die Konferenz wurde ständig gestört, durch Ereignisse innen und außen. In Ungarn gelang eine kommunistische Machtübernahme, in Russland tobte ein Bürgerkrieg, im Osmanischen Reich dräng- te Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, an die Macht. Am 19. Februar 1919 verletzte ein fran- zösischer Anarchist Clemenceau mit ei- nem Pistolenschuss. Wilson war da schon auf dem Weg in die USA, weil er innen - politische Probleme lösen musste. Am

13. März kehrte er zurück. / GETTY IMAGES COLLECTION HULTON-DEUTSCH Manchmal nervten auch exotische Be- Verhandlungspartner Clemenceau, Wilson, Lloyd George*: »Ich will auch Jerusalem« sucher. Die rumänische Königin Marie, die in Paris weilte, um zu shoppen und ihrem Land Territorialgewinne zu sichern, fragte sen. Mit dem Versprechen eines Selbstbe- Anfang Mai 1919 ging der Entwurf des ein Mitglied der britischen Delegation, ob stimmungsrechts der Völker hatte Wilson Vertrags mit den Deutschen in Druck. Cle- sie mit Wilson über ihre Einkäufe oder Erwartungen geweckt, die er an vielen menceau sagte: »Am Ende ist er, was er über den Völkerbund reden solle. Die Ant- Stellen nicht einhalten konnte. In den gro- ist; vor allem ist er ein Werk von Men- wort: »Fangen Sie mit dem Völkerbund ßen Reichen hatten die Volksgruppen bunt schen und deshalb nicht vollkommen.« an, und enden Sie mit dem rosa Nacht- gemischt miteinander gelebt. Welche Re- Am 7. Mai wurden die deutsche Dele- hemd. Wenn Sie mit Lloyd George spre- gion sollte welchem Staat zugeschlagen gation ins Palasthotel Trianon zur Über- chen, können Sie mit dem rosa Nacht- werden und nach welchen Maßstäben? gabe gebeten. »Die Stunde der Abrech- hemd anfangen.« Einige Alliierte hatten zum Beispiel den nung ist da«, sagte Clemenceau in seiner Zu ihrem Mittagessen mit Wilson kam Italienern in einem Geheimabkommen Ansprache. »Sie haben uns um Frieden Königin Marie eine halbe Stunde zu spät. neue Landstriche versprochen, um sie in gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu »Mit jedem Augenblick, den wir warten den Krieg gegen Deutschland und Öster- gewähren.« mussten, konnte man am Mahlen des Kie- reich-Ungarn zu ziehen. Italien forderte Das sah dann so aus: Das deutsche fers des Präsidenten sehen, wie Stück für Südtirol, was mit dem Selbstbestimmungs- Reich verlor, zum Teil nach späteren Volks- Stück von Rumänien abgeschnitten wur- recht nicht zu vereinbaren war, da die abstimmungen, im Westen unter anderem de«, bemerkte ein Gast. Menschen dort fast alle Deutsch sprachen. die Gebiete Elsass-Lothringen und Eupen- Die territorialen Fragen waren für die Trotzdem erhielt Italien den Zuschlag für Malmedy, im Norden den nördlichen Teil Friedensmacher am schwierigsten zu lö- Südtirol. Schleswigs, im Osten große Teile Posens und Westpreußens sowie Ost-Oberschle- sien. Danzig wurde freie Stadt unter Auf- FINNLAND sicht des Völkerbunds. Das Deutsche *britisches Mandat Reich verlor 13 Prozent seines Territori- ESTLAND ** französisches Mandat ums und 10 Prozent seiner Bevölkerung. LETTLAND Das Rheinland wollten die Alliierten für Grenzen nach 1919 5 15 Jahre besetzen. Das Heer wurde auf zum Vergleich: 4 6 7 LITAUEN 100000 Mann begrenzt. Deutschland Staatsgebiete 1914 SOWJETUNION durfte weder Panzer noch U-Boote oder (1922) DEUTSCHES POLEN (1923) Kampfflugzeuge besitzen. Auf eine kon- REICH 3 8 krete Obergrenze der Reparationen konn- Paris 2 9 ten sich die Siegermächte nicht einigen. 1 TSCHECHO- SLOWAKEI Aber es war klar, dass die Deutschen für ÖSTERREICH die Kriegsschäden würden zahlen müssen. Versailles UNGARN RUMÄNIEN Der folgenschwerste Satz fand sich, etwas Deutschlands wichtigste versteckt, in Artikel 231, wo es um die Re- Gebietsabtretungen: JUGOSLAWIEN parationen ging. Hier wurden Deutschland 1 Elsass-Lothringen BULGARIEN und seine Verbündeten als Urheber der 2 Saargebiet (dem Völkerbund für 15 Jahre unterstellt) ALBA- Kriegsschäden bezeichnet. 3 TÜRKEI Eupen-Malmedy (nach umstrittener Volksbefragung 1920) NIEN (1923) Der Leiter der deutschen Delegation, * 4 Nordschleswig (nach Volksabstimmung 1920) IRAK Außenminister Ulrich Graf von Brock- 5 Memelland (dem Völkerbund unterstellt) GRIECHEN- dorff-Rantzau, blieb bei seiner Erwide- ** 6 Westpreußen, Posen LAND SYRIEN rung sitzen, was einen denkbar schlechten SAUDI- 7 Danzig (als Freie Stadt dem Völkerbund unterstellt) Eindruck machte. Auch seine Worte kamen ARABIEN 8 Ostoberschlesien (nach Volksabstimmung 1921) (1932) nicht gut an. Er bestritt »nachdrücklich, PALÄSTINA*TRANS- 9 Hultschiner Ländchen JORDANIEN* * Im Juni 1919 in Versailles.

87 dass Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist«. Die neuere Forschung würde ihm im letzten Punkt recht geben. Wilson war außer sich vor Wut: »Das ist die taktloseste Rede, die ich jemals gehört habe. Die Deutschen sind wirk- lich ein dummes Volk. Sie tun immer das Falsche.« In Deutschland waren die Menschen entsetzt, demonstrierten in Massen. Reichsministerpräsident Philipp Scheide- mann, ein Sozialdemokrat, stieß den be- rühmten Satz aus: »Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legt?« Die Alliierten ließen sich auf kleine Kor-

rekturen ein, bereiteten sich aber gleich- BPK zeitig auf ein Nein der Deutschen vor. Sie Anti-Versailles-Demonstranten in Berlin 1919: »Dass die Schwarte kracht« ließen Foch einen Angriffsplan ausarbeiten und trafen sich zu einem Kriegsrat. Am Ende der Beratungen fragte Foch: »Heute anzulegen. Als Belohnung wollten sie das hard schreibt: »Jetzt wurde die Abreise ist der 20. Juni. Wenn es bis zum 23. Juni, Pachtgebiet Kiautschou zurückbekom- des Politikers, der weltweit wie kein an- sieben Uhr abends, keine Antwort der men, eine deutsche Kolonie. Aber Japan derer als Symbol und Garant der neuen Deutschen gibt, habe ich dann die unein- sicherte sich den Zuschlag. Damals entwi- Friedensordnung gegolten hatte, von der geschränkte Vollmacht, mit dem Vorstoß ckelte sich in China ein Misstrauen gegen- Presse kaum mehr wahrgenommen und zu beginnen?« Das Protokoll vermerkte über dem Westen, das bis heute anhält. nur noch am Rande vermerkt.« Zustimmung. Krieg lag in der Luft. Für die Japaner war es eine Kompen- Die Delegationen verhandelten weiter In Deutschland trat Scheidemann am sation, weil sie mit einem anderen Projekt über die anderen Verträge. Im September selben Tag zurück, samt seiner Regierung. gescheitert waren: der Gleichheit der wurde in Saint-Germain-en-Laye das Ab- Am 22. Juni stimmte die Nationalver- »Rassen«. Wie Japaner damals diskrimi- kommen mit Österreich unterzeichnet, im sammlung, die in Weimar über eine neue niert wurden, zeigte sich bei einer Sit- November in Neuilly-sur-Seine mit Bulga- deutsche Verfassung beriet, über den Frie- zung, in der Clemenceau seinem Außen- rien, im Juni 1920 in Trianon mit Ungarn. densvertrag ab. Mit 237 zu 138 Stimmen minister hörbar zuflüsterte: »Und wenn Die Österreicher verloren große Gebie- wurde er angenommen. Der Krieg nach man bedenkt, dass es auf der Welt blonde te, und ihnen wurde der von vielen erhoff- dem Krieg war abgewendet, vorerst. Frauen gibt! Wir aber bleiben hier mit te Anschluss an das Deutsche Reich unter- Nun ging es um ein Tintenfass. Cle- diesen Japanern eingeschlossen, die so sagt. Aber Saint-Germain-en-Laye wurde menceau gefiel das Exemplar nicht, das hässlich sind!« nicht zum nationalen Trauma. sich im Schloss von Versailles befand. Be- Das lange mit Österreich verbundene amte suchten in Museen und Antiquitäten- Ungarn hingegen hat sich immer noch läden nach einem Tintenfass, das Cle- Die Deutschen akzeptier- nicht mit seinen enormen Gebietsverlus- menceaus Ansprüchen genügen würde. ten nicht, dass sie allein ten versöhnt. Zwei Drittel des Territoriums Der Spiegelsaal des Schlosses war für die und der Bevölkerung gingen verloren. Bis Unterzeichnungszeremonie vorgesehen, schuld sein sollten heute ist der Traum von einem Großun- weil die Deutschen dort 1871 das Deutsche am Ausbruch des Krieges. garn präsent, und Ministerpräsident Viktor Reich proklamiert hatten, nach dem Sieg Orbán macht Politik damit. Zum 100. Jah- gegen Frankreich. restag von Trianon 2020 soll ein »Denk- Am 28. Juni 1919 um 15 Uhr betrat die Die Amerikaner wollten nicht, dass ihre mal der nationalen Einheit« entstehen. deutsche Delegation den Spiegelsaal, Au- Minderheiten gleiche Rechte erhielten. Sogar eine der Siegermächte fühlte sich ßenminister Hermann Müller und Verkehrs- Die Briten dachten besorgt an ihre Kolo- hinterher als Verlierer. Die Italiener beka- minister Johannes Bell. Der britische Di- nien. Die »Rassengleichheitsklausel« schaff- men zwar den Zuschlag für Südtirol, muss- plomat Harold Nicolson notierte: »Sie sind te es daher nicht in die Völkerbundakte, ten aber ihre Hoffnungen auf Gebiete an totenbleich. Sie sehen nicht aus wie Reprä- die Teil des Vertrags von Versailles war. der östlichen Adriaküste begraben. Orlan- sentanten eines brutalen Militarismus.« Insgesamt schuf die Akte ein multilate- do soll deshalb vor den großen drei ge- Der Saal war rappelvoll, angeblich hatte rales Gremium ohne Biss. Die Franzosen weint haben. Bald war vom »verstümmel- man hohe Eintrittsgelder verlangt. In einer setzten sich für eine eigene Streitmacht ten Sieg« die Rede. Der Faschist Benito Fensternische standen fünf französische ein, damit der Völkerbund seine Anliegen Mussolini nutzte auch dieses Trauma, um Veteranen, die im Krieg schwere Gesichts- durchsetzen könne, aber den anderen war sich an die Macht zu putschen. verletzungen erlitten hatten. Sie sollten an das nicht geheuer. Abgelehnt. Besonders kompliziert war die Lösung das Grauen des Krieges erinnern. Da fast alle Entscheidungen im Völker- für das Osmanische Reich, auch wegen der Die Füller tauchten ins Tintenfass, der bund einstimmig getroffen werden muss- Ignoranz und Arroganz der großen Sieger- Vertrag wurde unterzeichnet. ten, war er kaum handlungsfähig. Deutsch- mächte. Der britische Diplomat Arthur Wer nicht unterzeichnete, das waren die land durfte zunächst nicht beitreten. Balfour sagte: »Ich kann absolut nicht ein- Chinesen. China gehörte zur Seite der Sie- Nach der Zeremonie in Versailles reiste sehen, warum der Himmel oder irgend - ger, weil es den Alliierten rund 100000 Ar - Wilson sofort ab, ohne den Jubel, den er eine andere Macht uns daran hindern soll- beiter geschickt hatte, um Schützengräben bei seiner Ankunft ausgelöst hatte. Leon- te, dem Moslem zu sagen, was er denken

88 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 soll.« Die Folgen sind bis heute dramatisch. lang es nicht, die Völkerbundakte durch MacMillan, übrigens eine Urenkelin von den Senat zu bringen. Die USA traten SPIEGEL GESCHICHTE Lloyd George, überschreibt ihr Kapitel zu nicht bei, weshalb es zu einem wirksamen SONNTAG, 23.6., 20.15 – 22.30 UHR | SKY den Verhandlungen über das Osmanische Multilateralismus nicht kam. 20 Jahre Der Skandal um die Neue Heimat Reich mit dieser Formulierung: »Der Nahe nach Versailles überfielen die Deutschen Osten wird in Brand gesteckt«. Polen, der Zweite Weltkrieg brach aus. Die katastrophale Wohnungsnot Die Belange der Araber, die zu großen Warum sind die Siegermächte mit ihrer nach dem Ende des Zweiten Teilen im Osmanischen Reich gelebt hat- Politik von Paris großenteils gescheitert? Weltkriegs hat den gemeinnützigen ten, interessierten die Alliierten kaum. Bri- Conze und Leonhard kommen zum selben und gewerkschaftseigenen Woh- ten und Franzosen schacherten darum, Ergebnis: Es wurden vor allem zu hohe nungsbaukonzern groß gemacht. wer sich welches Gebiet unter den Nagel Erwartungen geweckt. Sie konnten nur Millionen Menschen verdanken der reißen durfte. Ein Dialog zwischen Cle- enttäuscht werden. Neuen Heimat ein neues, modernes menceau und Lloyd George bei einem Vor- Hohe Erwartungen sind das Gift der Zuhause. Der Schock ist groß, als gespräch in London Ende 1918 verlief so: Politik. Wer sie weckt, muss sich sicher der SPIEGEL Anfang 1982 die Clemenceau: »Nun, worüber müssen sein, dass er sie erfüllen kann. Das ist viel- »dunklen Geschäfte« des Vorstands wir reden?« leicht die Hauptlehre von Versailles. Sie aufdeckt. Jahrzehntelang haben Lloyd George: »Über Mesopotamien spricht gegen Visionen, was schade ist, sich Manager auf Kosten der Mieter und Palästina.« aber meistens ist der skeptische Politik - bereichert und den Konzern durch Clemenceau: »Sagen Sie mir, was Sie ansatz langfristig der gesündere. Misswirtschaft in den Ruin ge- wollen.« Gibt es Parallelen der Pariser Konferenz trieben. Lloyd George: »Ich will Mossul.« zu heute? Nicht direkt, aber die Folge- Clemenceau: »Sollen Sie haben. Noch jahre erinnern an die Gegenwart. Donald etwas?« Trumps Amerika distanziert sich gleich- ARTE RE: Lloyd George: »Ja, ich will auch Jeru- falls von Europa, hält nichts vom Multi- MONTAG, 24.6., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE salem.« lateralismus. Gleichzeitig erstarkt der Babys ohne Arme – Rätsel um Zwar entstand 1921 der Irak als arabi- Nationalismus, was auch in den Zwanzi- Neugeborene in Frankreich sches Königreich unter britischem Mandat, ger- und Dreißigerjahren der Fall war. Die aber das erfüllte die Hoffnungen der Ara- neuen Demokratien in Europa verwandel- In drei französischen Regionen sind ber auf einen großen, unabhängigen Staat ten sich damals zum Teil in autoritäre Staa- über mehrere Jahre Neugeborene nicht. Briten und Franzosen hielten die ten, auf einem ähnlichen Weg sind Ungarn mit Fehlbildungen zur Welt gekom- Region unter ihrer Kontrolle. Der Brand oder Polen heute. Es kann einem ein biss- men. Möglicherweise haben konnte bis heute nicht gelöscht werden. chen gruselig werden. Umweltgifte die Babys schon im Im Vertrag von Sèvres, abgeschlossen Alles in allem waren die Friedens - Mutterleib geschädigt. SPIEGEL TV im August 1920, wurden auch die Türken macher von Paris schlicht überfordert. Für begleitet betroffene Familien bei schwer gedemütigt, durch Gebietsverluste ein halbes Jahr bildeten sie eine Welt - ihrer Suche nach Hinweisen, um das und indem man Kurden und Armeniern regierung, mussten sich um Hunderte Pro- medizinische Rätsel zu lösen. die Unabhängigkeit in Aussicht stellte. bleme kümmern, das alles unter dem Doch inzwischen hatte Mustafa Kemal Druck der Öffentlichkeit. Flickwerk war faktisch die Macht im türkischen Kernland die Folge. SPIEGEL TV übernommen und führte einen Befreiungs- Wilsons Überforderung zeigte sich bald MONTAG, 24. 6., 23.25 – 0.00 UHR | RTL krieg, bis die Alliierten einlenkten. Dem in seinem Gesundheitszustand. Als er er- Vertrag von Sèvres folgte im Juli 1923 der kannt hatte, dass der Senat ihm Probleme Mietendeckel, Vorkaufsrecht und Vertrag von Lausanne. Die Türken schnit- bei der Völkerbundakte bereiten würde, Enteignung – So könnte der Staat in ten weit besser ab, das Versprechen an die brach er Anfang September 1919 in einem den Immobilienmarkt eingreifen; Kurden wurde zurückgenommen. Auch Sonderzug zu einer Rundreise durch die Der Fall Lübcke – Wie ein Familien- das wirkt bis heute nach. Noch immer USA auf, um für sein Projekt zu werben. vater zum mutmaßlichen rechtsex- kämpfen Kurden für einen eigenen Staat. Gegen den Rat seiner Mitarbeiter, die um tremen Mörder wurde. Aber das größte Problem war zunächst, seine labile Gesundheit wussten. Wilson dass es den Deutschen nicht gelang, sich entgegnete ihnen: »Ich kann nicht meine mit dem Versailler Vertrag zu versöhnen. persönliche Sicherheit, meine Gesundheit SPIEGEL TV REPORTAGE Die Reparationen waren nicht das Pro- gegen meine Pflicht aufrechnen – ich muss DIENSTAG, 25.6., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 fahren.« blem. Bis 1932 zahlte das Deutsche Reich Brötchen und Dessous – Er hielt eine Rede nach der anderen, am nach alliierten Berechnungen rund 22 Mil- Nachschub für Ostfriesland liarden Goldmark, nach deutschen Zahlen 25. September brach er zusammen, eine rund 68 Milliarden, was hart war, aber ver- Woche später hatte er einen Schlaganfall In Ostfriesland geht man nicht zum kraftbar. und blieb teilweise gelähmt. Am 3. Febru- Einkaufen, sondern wartet, bis Schlimmer wirkte Artikel 231. Die Deut- ar 1924 starb Woodrow Wilson im Alter der Laden vorgefahren kommt. In schen lasen ihn so, dass sie allein schuld von 67 Jahren, einer der großen Visionäre der dünn besiedelten Gegend sein sollten am Ausbruch des Ersten der Weltgeschichte, aber auch einer der sind Geschäfte Mangelware. Mit Weltkriegs. Bald hörten sie auf einen großen Gescheiterten. seinem rollenden Supermarkt liefert Mann, der ihnen das Wort »Schand- und Diedrich Hellmers deshalb alles, Schmachfrieden« ins Gemüt trommelte, was der Ostfriese zum Überleben Adolf Hitler. Video braucht. Auch Inge Rütters hat Ein Vertrag und Hitler profitierte auch davon, dass sich seine Folgen einen treuen Kundenstamm. Sie die amerikanischen Regierungen bald weit- spiegel.de/sp262019versailles versorgt die Landbevölkerung gehend aus Europa zurückzogen und die oder in der App DER SPIEGEL mit Dessous und Sexspielzeug. Dis- Deutschen gewähren ließen. Wilson ge- kret, versteht sich.

89 oder digital auf manager-magazin.de/premium Sport

»Natürlich hasse ich manchmal, was mir passiert ist.« ‣S.92

Legionärinnen auf dem Vormarsch WM-Fußballspielerinnen, deren Ligaverein nicht im Heimatland liegt

Carolin Simon 140 (25%) 225 (41%) Seit 2015 nehmen 24 Teams teil, dadurch erhöhte sich die Zahl der Spielerinnen. HÜBNER/PICTURE ALLIANCE HÜBNER/PICTURE 39 (12%) 71 (21%) 38 Legionärinnen (12%)

282 297 265 412 327 heimische Spielerinnen

WM 2003 2007 2011 2015 2019

Der Anteil der WM-Fußballerinnen, die nicht in ihrem Heimat - schen Liga, von den Deutschen sind Dzsenifer Marozsán und Caro- land spielen, hat sich in den vergangenen 16 Jahren verdreifacht. 41 lin Simon in Lyon beschäftigt. Der größte Teil der Legionärinnen Prozent der WM-Kickerinnen sind in einem ausländischen Klub – spielt in den USA, dahinter folgen England, Spanien und Frank- das spricht für eine zunehmende Professionalisierung im Frauenfuß- reich. Zum Vergleich: Bei der vergangenen Herren-WM standen 72 ball. Nur das US-Team besteht komplett aus Spielerinnen der heimi- Prozent der Profis bei einem ausländischen Verein unter Vertrag.

Magische Momente es erneut in den Tiebreak, beim Stand von 6:4 hatten Sie zwei Matchbälle. »Lass dich nicht umbringen!« Stachowskyj: Den ersten hatte ich bei eigenem Aufschlag, aber er wehrte ihn Der Ukrainer Serhij Stachowskyj, 33, über seine Sensation in Wimbledon ab. Ich weiß, das klingt grotesk, aber in dem Moment war ich mir sicher, die SPIEGEL: Sie trafen 2013 in Stachowskyj: Wenn du gegen ein Kali- Partie zu verlieren. der zweiten Runde des ber wie Roger spielst, denkst du dir nach SPIEGEL: Doch es kam anders. Beim Tennisturniers auf Roger so einer Chance eigentlich: Okay, du hast zweiten Matchball schlug Federer eine Federer. Er die Num- es versaut. Trotzdem saß ich nach dem Rückhand ins Aus. mer 3 der Weltrangliste, ersten Satz auf meinem Stuhl und sagte Stachowskyj: Und ich weiß bis heute Sie waren Nummer 116. mir: Spiele einfach so weiter. nicht, wie er den Ball so verhauen konn- Was ist Ihre erste Erinne- SPIEGEL: Es funktionierte. Sie gewannen te. Ich konnte es nicht fassen. Dann wur- rung an das Spiel? die nächsten zwei Sätze. Im vierten ging de ich von Emotionen übermannt. Stachowskyj: Wie ich den Rasen auf SPIEGEL: Nach dem Handschlag am Netz dem Centre Court mit seinen 15000 Plät- redeten Sie noch kurz miteinander. Was zen betrat. Roger ging hinter mir. Das Pu- hat Federer Ihnen gesagt? blikum klatschte mir zu, dann kam Roger, Stachowskyj: Das müssen Sie Roger fra- und die Leute drehten durch. Allein die- gen. Ich habe ab dem Matchball einen ser Applaus zerstört dich als Kontrahent. Filmriss, erinnere mich erst wieder, wie

GERRY PENNY / EPA-EFE / REX PENNY / EPA-EFE GERRY Das werde ich nie vergessen. ich nach der Pressekonferenz meine Frau SPIEGEL: Federer hatte das Turnier be- in die Arme geschlossen habe. reits siebenmal gewonnen. Mit welcher SPIEGEL: Ein Sieg gegen Federer in Wim- Einstellung gingen Sie in die Partie? bledon – war das der Höhepunkt Ihrer Stachowskyj: Lass dich nicht umbrin- Karriere? gen! Ich hatte schon einmal mit ihm trai- Stachowskyj: Nein, meine vier Turnier- niert und wusste, wie nahezu unmöglich siege bedeuten mir mehr. Und ganz ehr- es ist, auf Rasen gegen ihn zu bestehen. lich: Ich hatte nach dem Match Schuld - SPIEGEL: Im ersten Satz hatten Sie beim gefühle – ich hatte den König ermordet, Stand von 5:5 einen Breakball, schlugen verlor dann aber direkt mein nächstes

dann aber einen Volley ins Aus. Sie verlo- MIKE HEWITT / GETTY IMAGES Match. Darauf bin ich nicht wirklich ren den Satz 6:7. Stachowskyj 2013 in Wimbledon stolz. TNE

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 91 Sport Das Jahr der ersten Male

Schicksale Die Rad-Olympiasiegerin Kristina Vogel sitzt seit ihrem Trainingsunfall im Rollstuhl. Wie schafft eine Leistungssportlerin den Weg zurück in den Alltag? Von Antje Windmann

s gibt wenige Dinge, die Kristina junger niederländischer Fahrer die Bahn rechte Wange. Er sieht seine Kristina an, Vogel nicht leiden kann: Men- betritt, um einen Start aus dem Stand zu lächelt. »Dann hat sie genickt, ein paar E schen, die nur meckern. Die Frage, üben. Mit 60 Stundenkilometern rast Tränchen vergossen, die Augen wieder welchen Sport sie nun betreiben Vogel in ihn hinein. »Plötzlich war alles zugemacht und weitergeschlafen.« will. Und Leute, die sich unberechtigt auf schwarz«, erinnert sie sich. Schwer verletzt Vogel hat ihren Kopf in der rechten Behindertenparkplätze stellen. Dann wird bleibt sie auf der Strecke liegen. Sie kann Hand abgestützt. Sie weint leise. Ihre Trä- die 28-Jährige schon mal deutlich. So wie ihre Beine nicht spüren, wird in das Unfall- nen trocknet sie mit ihrem Pulloverärmel. Anfang Mai am Hauptbahnhof in Erfurt. krankenhaus nach Berlin geflogen. Seidenbecher und Vogel sind seit mehr Es ist ein frischer, windiger Morgen. Zweieinhalb Monate später macht Vo- als zehn Jahren ein Paar. Oft reichen ihnen Vogel hat gerade ihren ersten Wahlkampf- gel in einem Interview öffentlich, dass sie Blicke, um sich zu verständigen. Bereits auftritt hinter sich. Sie kandidiert für den querschnittgelähmt ist (SPIEGEL 37/2018). 2009 hatte Vogel einen schweren Unfall. Stadtrat, CDU, Listenplatz zwei. Barriere - Es wird weltweit zitiert. Sie wolle Motiva- Sie war mit dem Rad auf dem Heimweg, freiheit ist eines ihrer Themen. Mit einem tion für andere sein, sagt sie. »Egal was ein Transporter nahm ihr die Vorfahrt, sie Sonderzug ist sie in Vororte der thüringi- das Schicksal für einen bereithält, das Le- flog in die Seitenscheibe, verlor fünf Zäh- schen Landeshauptstadt gefahren. ben geht weiter.« Es sind Aussagen, die ne, ihr Gesicht ist seitdem vernarbt. »Und Vogel trägt eine graue Hose, einen hel- berühren. neun Jahre später mute ich ihm wieder so len Blazer und Wildlederstiefeletten. Sie Dass ihr Leben tatsächlich weitergehen etwas zu«, sagt sie und schaut ihren sieht müde aus, reibt sich die Augen. Sie würde, war in den ersten Stunden und Freund mitfühlend an. hat älteren Damen die Hände geschüttelt, Tagen nach ihrem Unfall nicht sicher, wie Im vergangenen Sommer wird Vogel in sich deren Sorgen angehört, freundliche Vogels Lebensgefährte Michael Seiden - Berlin mehrfach operiert. Ihr Brustbein ist Worte gefunden. Nicht so aber für eine becher, 34, erzählt. gebrochen, ebenso ihr Schlüsselbein. Am Frau mittleren Alters, die »mal eben« ihr schlimmsten hat es ihre Wirbelsäule Auto auf einem der Behindertenparkplät- Das Paar wohnt am Stadtrand von Erfurt erwischt, ihr Rückenmark wurde bei der ze auf dem Bahnhofsvorplatz abstellt. in einem Einfamilienhaus. Der Garten ist Kollision zwischen dem sechsten und sieb- Vogel ist Bundespolizistin, der Erfurter noch eine Baustelle. Die beiden sind erst ten Brustwirbel durchtrennt. Röntgen- Hauptbahnhof war ihr Revier, hier ist sie wenige Monate vor dem Unfall eingezogen. bilder dokumentieren die Verletzung. Ihr Streife gelaufen, früher. Nun greift sie zu Vogel öffnet in Kapuzenpullover und Rückgrat sieht aus, als wäre ein großer, den Rädern ihres schwarzen Rollstuhls aus Jogginghose die Haustür, rollt dann vor- kräftiger Ast abgeknickt. Carbon, ist mit wenigen Schwüngen bei weg ins Wohnzimmer, bittet an den Ess- In ihrem Körper werden Stangen aus der Frau, die gerade wieder in ihren Wa- tisch. In Regalen sind Dutzende Starbucks- Titan verbaut. Nach der Operation be- gen steigen will. Tassen aus aller Welt aufgereiht. Bis auf kommt sie eine Lungenentzündung. Sei- »Und was hätte ich gemacht, wenn ich drei hat sie alle selbst mitgebracht. Dazwi- denbecher erinnert sich, wie ein Arzt mit nun gerade angefahren gekommen wäre?«, schen stehen Familienfotos, Kochbücher ernstem Gesicht ihre Werte studierte und empört sich Vogel. Der Gesichtsausdruck und eine Einhornspardose, daran ein Zet- einen Kollegen bat, den Sauerstoff hoch- der Frau deutet an, dass sie sich in diesem tel: »Weil ein Haus teuer ist«. zudrehen. Dieser antwortete: »Ist schon Leben vermutlich nicht noch mal auf einen Seidenbecher, dunkle Haare, braune maximal.« Dann wandte er sich Seiden- Behindertenparkplatz stellen wird. Augen, bietet Kaffee an. Vogel kommt becher zu: »Es sieht gerade nicht gut aus.« »So was kann ich ja mal gar nicht ab«, nicht mehr an den Automaten, er ist etwas Vogel sagt: »Ich habe das alles mitbe- sagt Vogel, als sie zurückkommt. Sie habe höher in der Küchenzeile eingebaut. Sei- kommen. Ich habe gekämpft wie ein Bär.« da gar nicht geparkt, habe die Frau be- denbecher spricht darüber, wie sehr er sich Seidenbecher senkt seinen Blick. Für einen hauptet, nur kurz gehalten. Die Leute um vor ihrem Aufwachen fürchtete. Vor dieser Moment ist es ganz still im Wohnzimmer. Vogel herum schauen beeindruckt zu ihr einen Frage. »Was ist, wenn sie fragt? Plötzlich, wie aus dem Nichts, lacht Vogel hinunter. Wenn sie fragt: Kann ich laufen?« auf. Als wollte sie damit all die Schwere Kristina Vogel im Rollstuhl – ein Jahr Seidenbecher ist auch Polizist und frü- und Trauer wegwischen. »Glauben ist liegt ihr schwerer Unfall zurück, doch so her Bahnrad gefahren. Der Erfurter hat nicht wissen«, ruft sie in den Raum. Nun richtig vertraut ist dieser Anblick noch nicht ein ähnliches Naturell wie Vogel, ist zuge- muss auch Seidenbecher lachen, er ver- geworden. Zu sehr überstrahlen die Bilder wandt, lacht viel. Nun aber wirkt er in sich steht im Nu, was sie meint. ihrer Vergangenheit noch die Gegenwart. gekehrt, bewegt von den Erinnerungen: Es geht um einen Satz, den Vogel ihm Jene, die sie jubelnd im Deutschlandtrikot »Und so war es dann auch. Sie macht die auf der Intensivstation geschrieben hat. In zeigen, mit Goldmedaillen in den Händen. Augen auf, sieht mich und macht als Erstes den kurzen Phasen, in denen sie wach war, Mit zwei Olympiasiegen und elf Weltmeis- so …« Seidenbecher nimmt einen Zeige- verlangte sie oft nach Papier und Stift, um tertiteln ist sie eine der erfolgreichsten finger und einen Mittelfinger und lässt sie ihm Fragen zu stellen. Als er zu oft mit Bahnradsportlerinnen aller Zeiten. langsam über die Tischplatte spazieren. »Ich glaube« antwortete, schrieb sie: Bis zum 26. Juni 2018, jenem Dienstag »Und dann musste ich so machen …« – Sei- »Glauben ist nicht wissen.« vor einem Jahr. Vogel trainiert Sprints auf denbecher schüttelt langsam seinen Kopf. Seidenbecher hat die Zettel aufgehoben. ihrer Trainingsstrecke in Cottbus, als ein Eine einzelne dicke Träne läuft über seine Er holt sie aus einem Schreibtisch im Ober-

92 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Ehemalige Weltmeisterin Vogel beim Bogenschießen im Unfallkrankenhaus in Berlin: »Mann, was ist denn los heute?«

Fotos: Maurice Weiss / Ostkreuz / DER SPIEGEL 93 Sport geschoss. Die Papiere sehen aus, als hätte zieht sie sich im Liegen an, Zentimeter für groß an. »Was für Komplikationen?« Nie- ein Kleinkind mit schwarzem Filzer ge - Zentimeter. deggen mahnt sie, ihren Übermut zu brem- kritzelt. Immer wieder hat sie Spastiken in den sen. »Wir haben hier nur den Grobschliff Seidenbecher sagt: »Alle haben mich Beinen, sie bewegen sich wie von Geister- gemacht, das Leben da draußen macht den immer gewarnt, der Knick wird kommen.« hand geführt. Vogel muss dann warten, bis Feinschliff.« Vogel verdreht die Augen. Auch die Traumatologin. Eines Tages habe sie sich wieder entspannt haben, um sie »Jaja, ich weiß, Geduld ist mein Wort sie ihn aber zur Seite genommen und ge- sortieren zu können. 2018.« sagt: »Ich habe in meinem Leben noch nie Drei Tage vor Heiligabend wird Vogel Zu den häufigsten Komplikationen, die jemanden kennengelernt, der so drauf ist aus der Klinik entlassen. Drei Koffer und bei Menschen im Rollstuhl auftreten kön- wie Kristina.« acht Kartons kommen zusammen. In nen, gehören Druckstellen. Und bis sie ver- Ein halbes Jahr bleibt Vogel in der Ber- ihnen sind viele Geschenke, ein Karton ist heilen, das dauert. »Da habe ich eine liner Klinik. Schon nach kurzer Zeit trai- nur mit ihren Katheterutensilien für einen Scheißangst vor«, sagt Vogel. Einmal habe niert sie heimlich im Bett mit einem Thera - Monat gefüllt. sie 40 Minuten lang auf einem schwarzen band. Sie ist präsenter in den Medien als Immer wieder geht die Tür zu ihrem Plastikteilchen gesessen. Nur durch Zufall zu ihrer Zeit als Sportlerin. Die Interviews kleinen Krankenzimmer mit dem blauen habe sie es bemerkt. seien ein Stück weit wie Therapiestunden Linoleumboden auf. Das Pflegepersonal Um Druckstellen vorzubeugen, verän- für sie gewesen, sagt Vogel. will sich verabschieden. Einer Schwester dert sie immer wieder ihre Sitzposition et- Doch nur ganz selten sagt sie dabei Sät- schenkt Vogel ein großes Plüscheinhorn. was, drückt sich mit beiden Armen aus ze wie diesen: »Natürlich hasse ich manch- »Danke für alles. Ich werde Dich nie ver- dem Polster hoch, dreht sich ein Stück, mal, was mir passiert ist. Und ich bin auch gessen«, schreibt sie darauf. lässt sich wieder nieder. auf die eifersüchtig, die einfach so die Stra- Kurz vor elf an diesem Morgen wird sie ße langlaufen können.« Sie habe alles Revue passieren lassen, in einen Krankentransporter geschoben. Nach drei Monaten in der Klinik darf sagt Vogel. Wie sie nach zwei Wochen das Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt nach Vogel das erste Mal nach Hause. Vieles sei erste Mal auf der Bettkante saß. Wie sie Erfurt. Zu lang zum Sitzen. Wie sie so da- anders als erhofft gewesen, erinnert sie sich das erste Mal allein im Vierfüßlerstand liegt in dem Wagen, sieht sie aus wie ein sich. Die Flure zu schmal, die Dusche doch hielt. Wie sie das erste Mal den Bauch ein- Mädchen, das sich zum ersten Mal ohne nicht so breit wie gedacht. Sie zeigt auf ziehen konnte. Hinter ihr liegt ein Jahr der Eltern auf eine große Reise begibt. den Geschirrspüler. Ihn ein- und auszuräu- ersten Male. »Das Leben draußen, die Welt ist jetzt men sei bis heute »ein totaler Akt«, es Bevor sie zu emotional wird, lenkt sie meine Therapie«, sagt Vogel. gehe nur Teller für Teller, denn eine Hand ab, wieder einmal. »Habe ich eigentlich Um die Jahreswende nimmt sie Ab- müsse immer am Rollstuhl bleiben, damit schon erzählt, dass ich meinen Führer- schied von ihrem alten Leben als Sport - sie nicht nach vorn rausfalle. »Irgendwie schein gemacht habe? Ich darf jetzt mit lerin. Sie bekommt ein halbes Dutzend stand dieses Haus plötzlich für mein Schei- Handgas fahren!« Auszeichnungen, darunter: »Radsportlerin tern«, sagt Vogel. Die Tür geht auf. Der Chefarzt will sich des Jahres«, Sonderpreis »Vorbilder des Das größte Hindernis ist die Treppe verabschieden. Andreas Niedeggen berich- Sports«, »Thüringer Sportlerin des Jahres«. nach oben. Mehrmals am Tag trägt Sei- tet, dass »alles super verheilt« sei, er habe Im Alltag aber drängt eine Frage mehr denbecher sie hoch und runter. Um das zu sich noch einmal die aktuellen Röntgen - und mehr: Was fange ich mit meinem Le- reduzieren, hat Vogel nun einen Schreib- bilder angeschaut. »Wenn irgendwas ist, ir- ben an? tisch im Wohnzimmer. Darauf steht ein gendwelche Komplikationen auftreten, wir Im Januar gibt sie bekannt, dass sie für Foto von ihr als Kleinkind mit ihrem Groß- sind für Sie da, okay?« Vogel guckt ihn den Stadtrat in Erfurt kandidieren will. Sie vater. Es wurde in einem Auffang- lager aufgenommen, Anfang der Neunzigerjahre, als Vogel mit ihrer Familie aus Kirgisistan nach Deutschland kam. In der Küche hängt neben dem Herd eine lange, gelb-schwarze Greifzange, ein Hilfsmittel für Menschen im Rollstuhl. Neulich wollte Vogel einen Becher damit aus dem Schrank holen. Auf You- Tube hatte sie sich vorher Videos dazu angeschaut. Doch der Becher rutschte aus der Zange, fiel auf eine Schüssel auf der Arbeitsplatte, Vogel saß mit ihrem Rollstuhl in ei- nem Scherbenhaufen fest. Es war einer der Momente, in denen sie wieder mal davon abhängig war, dass jemand kommt, ihr hilft. Die- ses Gefühl, sagt sie, sei das Schlimmste für sie. Grundsätzlich versucht sie alles allein. Selbst wenn es dann viermal so lange dauert. Fürs Anziehen und Fertigmachen am Morgen braucht sie anderthalb Stunden. Ihre Hosen Olympiasiegerin Vogel, Lebensgefährte Seidenbecher vor ihrem Haus: »Glauben ist nicht wissen«

94 traurig. Dass sie nicht gehadert, sondern es einfach probiert habe. Sie schließt mit einem ihrer Lieb- lingssätze: »Machen ist wie wollen, nur krasser.« Standing Ovations. Nur vier Tage später ist Vogel schon wieder auf dem Weg nach Hamburg zum Pokalfinale des Deutschen Handballbundes. Sie liegt auf dem Rücksitz eines schwarzen VW-Busses. Am Steuer sitzt Seidenbecher. Sie sind um sechs Uhr in Erfurt losgefahren. Vogel soll an diesem Tag den DHB- Pokal überreichen. In der Hanse- stadt angekommen, zieht sie sich vor einer roten Ampel einen Lid- strich. Sie trägt eine gestreifte Bluse, darüber eine Kette mit drei roten Blumen. Sie hat sich für Fransenstiefel mit Pfennigabsatz entschieden, in die sie nun ihre Füße stopft. Durch die Lähmung Autofahrerin Vogel nach einem Vortrag in Berlin: »Ich hasse Stehempfänge« hat sie in ihnen keine Spannung mehr, müsste eigentlich zwei Num mern größer tragen. »Ich lässt sich für die CDU aufstellen, die habe Gesicht. Links von der Treppe ist ein Fahr- hänge an meiner Schuhsammlung«, sagt sie immer gewählt, zunächst will sie aber stuhl. sie, »wenn ich schon den Rollstuhl nicht parteilos bleiben. Neben Barrierefreiheit In dem Festsaal wirkt Vogel wie ein wei- kaschieren kann.« Es klingt trotzig. will sie Inklusion, Sicherheit und Sport zu ßer Punkt in einer Masse von Männern in In der Barclaycard-Arena gibt sie zu- ihren Themen machen. dunklem Anzug. Manche drücken sich nächst ein Interview mit Ronny Ziesmer. Ihr Lebensgefährte Seidenbecher findet unbeholfen an ihr vorbei, die meisten aber Der 39-jährige ehemalige deutsche Meister die Idee gut. »Ich glaube, dass sie etwas bleiben stehen, beugen sich zu ihr, begrü- im Turnen ist seit einem Sturz 2004 hals- bewegen kann.« Doch er würde sich wün- ßen sie. Sobald sie sich aufrichten, ist abwärts gelähmt. Beide versuchen, dem schen, dass sie es ruhiger angehen lässt. Vogel von der Unterhaltung abgeschnitten. Gespräch nicht zu viel Schwere zu geben. Ruhe aber ist für die ehemalige Leistungs- »Ich hasse Stehempfänge, da krieg ich Sie habe ja noch Glück gehabt, könne sportlerin Vogel schwer auszuhalten. nichts mit«, sagt sie. nur nicht laufen, sagt Ziesmer. Im Frühjahr ist Vogel zu einem Bankett Mehrmals kommt an diesem Abend »Du darfst das sagen«, entgegnet Vogel. einer großen Versicherung im Humboldt auch die Frage, was sie jetzt für einen Als sie später zu einem Interview auf Carré in Berlin eingeladen. Sie hat begon- Sport machen wolle. Vogel sagt dann oft: das Spielfeld rollen soll, hat sie Mühe, über nen, Vorträge zu halten über den Umgang »Das weiß ich noch nicht. Erst mal muss einen Kabelkanal zu kommen. Seiden - mit Schicksalsschlägen. Mit einem umge- ich was finden, für das ich so brenne wie becher steht in den Startlöchern. Unsicher, bauten schwarzen Smart fährt sie in eine für den Radsport.« ob er sie anschieben soll. Er weiß, wie sehr nah gelegene Tiefgarage. Das Auto war sie das hasst. Neulich hat sie jemand über der Preis für »Die Beste 2018«. Die Frage nervt sie. Denn wenn sie ihrem eine Rasenkante gezogen, obwohl sie gar Jedes Ein- und Aussteigen ist ein Kraft- Unfall etwas Gutes abgewinnen kann, nicht in die Richtung wollte. Nach zwei, akt. Sie trägt ein weißes Kleid an diesem dann ist es das: Erstmals in ihrem Leben drei Anläufen schafft Vogel es allein. Abend, das sie zunächst zwischen ihren muss sie nicht mehr ackern, um immerzu Der THW Kiel gewinnt gegen den SC Beinen zusammenrafft. Dann hebt sie zu gewinnen. Denn verlieren, das war für Magdeburg. Mit dem Pokal auf dem Schoß ihren Rollstuhl vom Rücksitz, stellt ihn Vogel nie eine Option. Sie, das kleine kir- rollt Vogel noch einmal auf das Spielfeld, neben die geöffnete Fahrertür. Sie spannt gisische Mädchen, wollte es immer der gro- lacht, winkt in die Kameras. Nach einer ihren Sitzgurt fest um den Oberkörper, ßen Welt beweisen. Portion Frikadellen und Kartoffelsalat fah- hängt sich weit aus der Tür und befestigt Am späteren Abend rollt Vogel für ihren ren Vogel und Seidenbecher wieder ab. nun die Räder an ihrem Rolli. Mithilfe der Vortrag auf die Bühne. Auf ihrem Schoß Ihr Ziel ist Kienbaum. Im Januar haben Tür drückt sie sich zurück in den Wagen, liegt ein pinkfarbenes iPad. sie ein behindertengerechtes Apartment schnallt sich ab. Dann hebt sie ihr linkes Sie erzählt, wie sie das erste Mal als in dem Zentrum für Spitzensportler bezo- Bein wie einen schweren Fremdkörper an Kind in einem Velodrom stand und ihren gen. Von hier aus pendelt Vogel zur ambu - und sortiert ihren linken Fuß auf das Tritt- Trainer fragte, ob sie links- oder recht s - lanten Reha ins rund 30 Kilometer ent- blech ihres Rollstuhls. Sie stützt sich ab herum fahren müsse. Leises Lachen im fernte Unfallkrankenhaus Berlin. Ihre The- und zieht die andere Körperhälfte nach. Saal. Wie sie sich nach ihrem ersten Unfall rapietage sind Dienstag und Donnerstag, Dann greift sie zu ihrem Rucksack, hängt zurückkämpfte, später olympisches Gold 9.30 bis 13 Uhr. ihn an die Griffe hinter sich und rollt los. holte und vorher zu ihrer Teamkollegin Mitte April rollt sie an schwarzen Li- Im Humboldt Carré angekommen, Miriam Welte sagte: »Komm, wir gehen mousinen vorbei auf das Therapiezentrum fragt sie nach dem Ort der Veranstaltung. jetzt da raus und reißen denen den Arsch zu. Auch Wolfgang Schäuble ist an diesem Die Treppe hoch, sagt ein Mann am Ein- auf.« Lautes Lachen im Saal. Dann kommt Morgen da. »Der Schäuble ist ja mein Vor- gang und erschrickt sogleich. »Schon Vogel zu ihrem zweiten Unfall. Sie sagt, bild«, gesteht Vogel. »Den nimmt man ein- okay«, sagt Vogel und verzieht etwas das dass sie nicht sauer aufs Leben sei oder fach als erfahrenen Politiker wahr, bei dem

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 95 sieht man den Rollstuhl gar Vogel überlegt. »Vielleicht so nicht mehr.« etwas wie, dass ich frischen Vogel geht es nicht gut an Wind in die Politik bringen diesem Morgen. Sie hat Rü- werde, weil ich ja mitten aus ckenschmerzen. »Es fühlt sich dem Leben komme?« so an, als wäre es da, wo das Am Abend ist der Jahres- Metall sitzt«, sagt sie. empfang der Erfurter CDU am Sie rollt in den Umkleide- städtischen Flughafen. Vogel raum. Mühsam zieht sie ihre fährt allein mit der Straßenbahn Sporthose hoch. Jede Bewe- hin. Die Leute mustern sie vor- gung scheint ihr wehzutun. In sichtig, einige lächeln zaghaft. einem holzgetäfelten Trainings- Vogel hat sich für schwarze raum macht sie sich zunächst hohe Stiefel entschieden. Un- an einer Handkurbel warm, ter einem weißen Blazer trägt 20 Minuten, um ihren Kreislauf sie ein T-Shirt: Es zeigt ein in Schwung zu bringen. Danach Mädchen, das mit einem rosa- erst darf sie in das sogenannte farbenen Luftballon durch den Spacecurl, ein rhönradähnli- Wind läuft. ches Gestell, in dem Quer- In der Schalterhalle des Flug- schnittgelähmte ihre Rumpf- hafens sitzen vorwiegend älte- muskulatur trainieren können. re Herren. Nach zwei Begrü- Mithilfe ihres Sporttrainers ßungsreden kommt Vogel auf Bodo Heinemann, 79, erhebt das Podium. Sie redet davon, sich Vogel aus dem Rollstuhl. wie wichtig ihr das Thema Zuvor hat er ihre Füße fixiert. Sicherheit sei. Dass man durch Sie legt ihre Hände auf zwei Sport die Welt verändern Griffe, zieht sich hoch. Sie könne. Dass sie dafür sorgen steht. Und strahlt. Nun soll möchte, dass alle Menschen Vogel das Spacecurl aus dem mobil seien und selbstbe- Rumpf heraus steuern. Auf stimmt leben können. »Was Vogels Stirn bildet sich eine mir guttut«, sagt sie, »tut auch steile Stirnfalte. »Mach mal ein anderen Leuten in meiner freundliches Gesicht«, ruft Situation gut.« Einige Wochen Heinemann. Reha-Patientin Vogel: »Mach mal ein freundliches Gesicht« später wird sie mit den meisten Eine halbe Stunde lang Stimmen aller CDU-Kandida- bleibt Vogel in dem Gerät. ten in den Stadtrat einziehen. Durch das Stehen bekommen ihre Gelenke der Leitplanke. Er erzählt, dass er an der Vogels Manager Jörg Werner, 47, ein und Knochen Druck. Das ist wichtig, damit Ostsee gewesen sei. Er hatte mal wieder drahtiger Mann mit modischer Brille, ist sie nicht an Dichte verlieren. Danach trai- im Sand sitzen wollen. Beim Transfer zu- an diesem Abend auch anwesend. »Ich niert sie mit Seilzügen ihre rechte, schwä- rück in den Rollstuhl hätten einfach ein weiß nicht, ob sie sich das mit der Politik chere Körperhälfte, damit sie eine mög- paar Leute zugegriffen. Zack, hätte er wie- gut überlegt hat«, sagt er. lichst gerade Sitzposition bekommt. der drin gesessen. Er freut sich. Nach der Veranstaltung machen sie sich Anschließend berichtet Vogel ihrer Os- »Bei so etwas kriege ich ja Plaque«, sagt zu seinem Wagen auf. Vogel hat keine teopathin von den Rückenschmerzen. Sie Vogel. »Ist doch besser als andersherum, Ahnung, was Werner vorhat, wo es hin- tastet sich an das Schmerzzentrum heran. wenn keiner hilft«, wundert er sich. Vogel gehen soll. Er tritt an ihren Rollstuhl, »Ich will, dass das weggeht«, sagt Vogel zuckt mit den Schultern. Dann unterhalten hebt sie hoch und setzt sie auf die Rück- leise. »Oder kann es sein, dass ich nur zu sie sich, wie es beruflich bei ihnen weiter- bank. Dann macht er den Motor an und viel gesessen habe?« Die Therapeutin geht. Vogel berichtet von der bevorstehen- fährt los. nickt stumm. Nach einer Weile sagt sie: den Wahl, dass ihr Terminkalender voll Das Ziel ist die Garage eines Freundes. »Deine Aufrichtungsmuskeln sind ver- sei. »Ich muss aufpassen, dass die Reha Es gibt Eierlikör aus Schokowaffelbechern spannt. Das ist nicht das Metall.« Zum ers- das Wichtigste bleibt.« und Tiroler Schinken, im Hintergrund läuft ten Mal lockern sich Vogels Gesichtszüge Sie sagt, sie wähle den Stress bewusst, auch Radiomusik. Sie reden darüber, dass Erfurt an diesem Tag. wenn sie dadurch an ihre Grenzen komme. eine Markthalle mit kleinen, individuellen Bevor sie noch massiert wird, legt Vogel Die Frage ist, ob ihr bewusst ist, warum sie Feinkostständen brauchte. Als es dunkel eine Runde Bogenschießen ein. Auch hier das tut. Und ob sie dadurch den Feinschliff wird, zündet jemand Kerzen an. Es wird geht es um Rumpfstabilität. Als sie ein vom Leben bekommt, von dem der Berli- viel gelacht. Vogels Augen strahlen. Über paarmal danebenschießt, motzt sie: »Mann, ner Chefarzt bei ihrer Entlassung sprach. ihren Beinen liegt eine große, karierte was ist denn los heute?« Fortan trifft sie Knapp drei Wochen später ist sie im Decke. fast immer ins Schwarze. »Bist du nun Wahlkampf mit dem Sonderzug in Erfurt Für ein paar Stunden ist ihr Rollstuhl zufrieden?«, fragt eine Mitpatientin. unterwegs. Am Rande bekommt sie Ter- verschwunden. »Geht so«, antwortet Vogel. mine diktiert, unter anderem für erste Fraktionssitzungen. »Ich kriege gerade In einer Pause unterhält sie sich mit Kopfweh«, sagt Vogel. Das klingt nicht Video Antje Windmann über ihre Treffen einem Mann, den sie vom Rollstuhltrai- nach einem Scherz. mit Kristina Vogel ning kennt. Sein Motorrad war in einer »Hast du dir schon überlegt, was du am spiegel.de/sp262019vogel Kurve einfach ausgegangen, wahrschein- Stand zu den Leuten sagen willst?«, wird oder in der App DER SPIEGEL lich ein technischer Defekt, er landete in sie von einem Mitkandidaten gefragt.

96 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Sport

Den plötzlichen Rückzieher erklärt Ah- zosen ein, trotz der hohen Preise und einer Teure mad so: Er habe nicht geglaubt, dass Puma merkwürdigen Partnerfirma? Versickerten rechtzeitig liefern würde, und darum sei- Teile des Geldes in dem freundschaftlichen nen engen Vertrauten Loïc Gerand um Hil- Firmengeflecht? Freunde fe gebeten. »Es war eine Notfallmission!«, Die französischen Behörden ermitteln sagt Ahmad. wegen des Verdachts der Korruption, der Gerand aktivierte einen Freund, dessen Untreue und einer kriminellen Vereini- Affären Zu Beginn Firma in Südfrankreich Stahlgerüste für gung. Die Büroräume von Tactical Steel des Afrika-Cups versinkt der Fitnessgeräte herstellt. T-Shirts und Sport- wurden durchsucht. Ahmad spricht von hosen gehörten eigentlich nicht zum Kern- Lügen und will sich auf SPIEGEL-Anfrage Kontinentalverband im Chaos. geschäft der Firma. Doch sie versprach, nicht äußern. Der Firmenchef von Tactical Nun schreitet die Fifa ein, um den Auftrag mit Produkten von Adidas er- Steel weist Fehlverhalten zurück und sieht das Missmanagement zu stoppen. füllen zu können. sich als »Kollateralopfer« im Machtkampf Die CAF bestellte also beim Freund des verfeindeter Fußballfunktionäre. Freundes des Präsidenten und erhöhte die Tatsächlich rumort es in afrikanischen ndlich Anstoß, endlich Fußball. Ah- gewünschte Artikelanzahl sogar noch um Funktionärskreisen. Ahmad scheint nicht E mad Ahmad, 59, gab sich optimis- etwa ein Drittel. Doch Tactical Steel ver- mehr alle Nationalverbände auf seiner Seite tisch: »Ich bin zuversichtlich, dass langte mehr Geld als Puma: über 300 Pro- zu haben. Seit seinem Amtsantritt steckt er dieser Cup der beste in der Geschichte des zent – mehr als eine Million Dollar. Und mitten in diesem Fußballsumpf und droht Wettbewerbs sein wird«, verkündete der das war nicht die einzige Bestellung: Im- nun langsam darin zu versinken. Auch die Präsident des afrikanischen Fußballver- mer wieder kaufte die CAF im großen Stil Anschaffung teurer Limousinen wird ihm bands CAF vor ein paar Wochen. in Südfrankreich ein. Tactical Steel stellte vorgeworfen sowie ein kostspieliger Pilger- Nur ein Fußballfest wie der Afrika-Cup, Rechnungen im Gesamtwert von rund trip mit muslimischen Verbandspräsidenten. der an diesem Wochenende in Ägypten 4,5 Millionen Dollar aus. Auch für den ak- Mittlerweile muss er sich zudem gegen beginnt, könnte zumindest kurzzeitig vom tuellen Afrika-Cup hat die CAF wieder bei Vorwürfe sexueller Belästigung wehren. Chaos in seinem Verband ablenken. Ah- Tactical Steel Waren bestellt. Das tut er so: »Wenn ich ein Mädchen lie- mad hat die Kontrolle über den großen Die Fitnessgerätefirma versorgte die be, umwerbe ich es, das ist alles! Wenn sie Kontinentalverband verloren. CAF auch mit Zehntausenden Fußbällen. mich mag, gehe ich mit ihr aus, wenn sie Der Funktionär aus Madagaskar steht Allein für die Lieferkosten in ganz Afrika mich nicht mag, hört alles auf!« seit Wochen in der Kritik. Dubiose Ge- sollte die CAF mehr als 700000 Dollar Die CAF-Führung hat nun vor dem schäfte und Korruption werden ihm zahlen. Ein Großteil der Kosten wurde da- eigenen Chaos kapituliert und die Fifa um vorgeworfen. Ahmad bestreitet alle An- bei über eine angebliche Partnerfirma ab- Hilfe gebeten. Am Donnerstag bestätigte schuldigungen. Doch umfangreiches Ma- gerechnet, die ein Konto bei der Abu Dha- der Verband, dass die Fifa-Generalsekre- terial, das dem SPIEGEL und dem franzö- bi Islamic Bank führt und ein leer stehen- tärin Fatma Samoura ab 1. August für min- sischen Investigativportal Mediapart vor- des Büro in einem kleinen Gebäude in destens ein halbes Jahr als »Fifa-General- liegt, könnte den CAF-Präsidenten weiter Dubai unterhält. So ein Außenbüro sei völ- Delegierte für Afrika« antritt. Sie soll die unter Druck setzen. Die Dokumente of- lig legitim, findet der Chef von Tactical CAF bei einer »forensischen Prüfung« un- fenbaren fragwürdige Vorgänge, die auch Steel. Auch die CAF-Vertreter sahen darin terstützen. Es gibt genug zu tun. die deutschen Sportartikelhersteller Puma offenbar keinen Grund zur Beunruhigung. Rafael Buschmann, Robin Wille, und Adidas betreffen. Doch die Fragen blieben: Warum ließ Christoph Winterbach Lediglich einen Tag nachdem Gianni In- sich die CAF immer wieder auf die Fran- fantino vor anderthalb Wochen bei seiner Wiederwahl als Fifa-Präsident geschwärmt hatte, dass niemand mehr von Korruption beim Weltverband spreche, war ausgerech- net sein Vizepräsident Ahmad in Paris für einen Tag festgenommen und von der Polizei verhört worden. Die Vorwürfe gegen Ahmad gehen un- ter anderem auf den Dezember 2017 zu- rück, als die CAF Equipment für die Afri- kanische Nationenmeisterschaft bestellen wollte: Trikots, Sporttaschen, Schuhe, Tau- sende Ausrüstungsartikel. Das Problem: Die Meisterschaft begann schon im folgen- den Januar, die CAF war mit ihrer Bestel- lung viel zu spät dran. Nur Puma erklärte sich bereit, den Auftrag innerhalb kürzes- ter Zeit durchzuführen. Doch am 20. Dezember, als der Sport- artikelhersteller unter Hochdruck die Lieferung vorbereitete, sagte der afrika- nische Verband den Deal plötzlich ab. »Was soll ich dazu sagen, ich bin sprach- los«, antwortete der zuständige Puma- Mitarbeiter per Mail. »Ich fühle mich wie ALLIANCE / DPA / PICTURE BACKPAGEPIX ein Idiot!« Fußballverbandsfunktionär Ahmad im April bei Kairo: »Es war eine Notfallmission«

97 Wissenschaft+Technik

Zur Fortpflanzung brauchen sie nichts als einen Partner und eine tote Maus. ‣S.100

Chemie Vom Schneckenschleim zum Superkleber

Die Füße des Geckos sind bisher das beliebteste Vorbild aus dem Tierreich für starke Haftverbindungen, die sich wieder ablösen lassen. Der Gecko bekommt jetzt Konkurrenz: von der Schnecke. Viele Schnecken produzieren einen Schleim, der bei Wärme aushär- tet. Damit schließen sie die Öffnung zu ihrem Gehäuse und schützen sich vorm Austrocknen – bis die Luft wieder feuchter wird. Ingenieure der University of Pennsylvania haben einen Klebstoff mit ähnlichen Eigenschaften entwickelt. Es handelt sich um spezielle langkettige Moleküle, die zu den Hydrogelen zählen. Das Gel zieht in feinste Poren ein und klebt deshalb auch auf glatten Oberflächen. Das Problem ähnlicher Stoffe war bislang, dass sie beim Aus- härten schrumpften, sich aus den Poren zurückzogen und wieder abfielen. Das neuartige Hydrogel jedoch behält seine Form bei und haftet zudem deutlich besser als die Fußhärchen des Geckos: In einem ersten Praxistest hielt eine briefmarkengroße Klebefläche einen

87 Kilogramm schweren Mann. MSK / IMAGO LIBRARY PICTURE NATURE

Fußnote 33

SARAH BETHEA / SWNS / ACTION PRESS / ACTION BETHEA / SWNS SARAH Prozent aller Franzosen sind misstrau- isch, was die Sicherheit von Schutzimp- Golden schimmert das Eis im Licht der tief stehenden Wintersonne in einer fungen betrifft. Das hat eine Umfrage Höhle des isländischen Vatnajökull, des größten Gletschers des Landes. Sol- im Auftrag des britischen Wellcome Trust in mehr als 140 Ländern ergeben; che Klüfte entstehen, wenn Schmelzwasser in Gletscherspalten fließt, gen Tal in keinem Land ist das Vertrauen ge - strömt und dabei Hohlräume von oft gigantischem Ausmaß ins Eis wäscht. ringer. Nur 13 Prozent der Deutschen Weil die Eismassen ständig in Bewegung sind, überstehen die Glitzergrotten zwei felten an der Ungefährlichkeit der manchmal nur einen Winter. Wie lange Gletscherhöhlenforscher noch auf Impfung. In Frankreich herrscht seit vergangenem Jahr eine schärfere Expedition gehen können, ist ungewiss: Der Klimawandel lässt den Vatnajö- Impfpflicht: Kinder müssen nun gegen kull schmelzen – in 200 Jahren könnte er komplett verschwunden sein. elf Krankheiten immunisiert werden.

98 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Kognition Jahrzehnten und 21 Ländern angeschaut, Pietschnig: Manche Forscher vermuten, aus Argentinien etwa, China, Kenia, dass Menschen mit einem niedrigeren »Unsere Österreich, Deutschland. Die Ergebnisse Intelligenzquotienten mehr Kinder be- haben wir für jedes Land zur jährlichen kommen. Dadurch könnte der mittlere IQ Intelligenz sinkt« Nettoeinwanderung in Beziehung über mehrere Generationen hinweg sin- gesetzt und zum gesamten Bevölkerungs- ken. Wir haben jedoch auch für diese The- Jakob Pietschnig, 37, ist Psy- anteil, der im Ausland geboren wurde. se keinen Zusammenhang gefunden. chologe an der Universität Das Ergebnis war eindeutig: Der IQ sinkt SPIEGEL: Wenn es nicht an der Migration Wien. Er erforscht, wie sich nicht, wenn die Zahl der Einwanderer oder der Geburtenrate liegt, warum der Intelligenzquotient global steigt. nimmt die Leistung in IQ-Tests dann ab? wandelt – und ob Migration SPIEGEL: Aber die Bevölkerungen unter- Pietschnig: Vermutlich liegt es daran, dabei eine Rolle spielt. schiedlicher Länder schneiden in IQ-Tests dass unsere Gesellschaft immer speziali- nicht überall gleich ab, was offenbar sierter wird. Studiengänge sind heute SPIEGEL: Machen Einwanderer die Bevöl- auch mit der Zahl der Schuljahre zusam- enger zugeschnitten, und Unternehmen kerung in ihrer neuen Heimat dümmer? menhängt. Wie kann es dann sein, bilden Mitarbeiter ganz spezifisch aus. Pietschnig: Die Fakten sagen: nein. dass die Migration keinen Einfluss hat? Wenn wir viel Energie in eine bestimmte Wir haben keinen Zusammenhang zwi- Pietschnig: Die Unterschiede zwischen Fähigkeit stecken, etwa in die räumliche schen der Zahl der Einwanderer und Migranten und den Menschen ihres Orientierung, dann werden wir darin bes- dem mitt leren Intelligenzquotienten der Gastlands sind kurzlebig. In Studien wa- ser – aber nur bis zu einem gewissen Gesamtbevölkerung festgestellt. ren sie innerhalb von ein bis zwei Ge - Punkt. Gleichzeitig vernachlässigen wir SPIEGEL: Wie kamen Sie darauf, diese nerationen verschwunden. Erstaunlicher- andere Fähigkeiten, etwa das logische Frage zu untersuchen? weise gleicht sich der IQ der Migranten Denken oder das Kopfrechnen. Irgend- Pietschnig: Weltweit hat der Intelligenz- immer demjenigen des Gastlands an, nach wann lässt sich dieser Verlust nicht mehr quotient im 20. Jahrhundert um fast oben oder unten. ausgleichen. 30 Punkte zugenommen. Wir nennen das SPIEGEL: Sie haben sich auch die SPIEGEL: Wissen ist heute im Nu abruf- den »Flynn-Effekt«. Die IQ-Tests mussten Ge burtenrate der Länder angeschaut. bar – macht uns das Internet schlauer? ständig nachjustiert werden, damit die Warum das? Pietschnig: Auch die Digitalisierung ver- Menschen im Mittel weiterhin 100 Punkte stärkt unsere Leistungen in einer ganz erreichen und nicht alle als hochbegabt bestimmten Richtung: Wir wissen heute gelten. Seit den Neunzigerjahren geht die besser, wo wir Informationen finden Zunahme jedoch langsamer vonstatten. In können. Was wir an Informationen im manchen westlichen Ländern hat sie sich Kopf behalten, wird dagegen unwichtiger. sogar umgekehrt, auch die Intelligenz der SPIEGEL: Sie forschen zur Migration in Deutschen und Österreicher sinkt. Manche einer politisch aufgeheizten Zeit. Wie Forscher vermuten, die Migration sei wären Sie mit einem gegenteiligen Ergeb- schuld an diesem »Anti-Flynn-Effekt«. Ich nis umgegangen? wollte wissen, was an dieser These dran ist. Pietschnig: Die Wissenschaft muss auch SPIEGEL: Wie sind Sie vorgegangen? unangenehme Erkenntnisse publizieren.

Pietschnig: Wir haben uns mehr als MARIA FECK Intelligenz ist ja kein Label, um Menschen zwei Millionen Testergebnisse aus fünf Lehrerin im Schulunterricht in gut und schlecht zu unterteilen. MSK

Einwurf Jetzt mal ehrlich

Was gefundene Portemonnaies über unseren Hochmut offenbaren

Einen Geldbeutel mit umgerechnet 9 Euro oder einen mit 63 Euro: sacken und nur noch vor Netflix-Serien chillen will. Die Gegner Welches Fundstück geben Menschen eher an den Eigentümer eines Grundeinkommens führen aber genau diese Sorge als Argu- zurück? Forscher haben solch einen Test gemacht, in den USA, ment an. Oder nehmen wir die Arbeit: Von uns selbst wissen wir, Polen und Großbritannien, mit jeweils Hunderten Portemonnaies. dass wir auch ohne Aufsicht fleißig sind. Die Kollegen jedoch ver- Ihr Ergebnis widerspricht der Erwartung: Je mehr Geld in den dächtigen wir, dass sie den Vormittag bei Facebook verbringen. Beuteln steckte, desto ehrlicher waren die Menschen. Wo es an Vertrauen mangelt, wird schnell der Ruf nach Über- Spannender als das Ergebnis selbst ist die Frage, warum es uns wachung und Sanktionen laut. Arbeitslose müssen dann jeden so überrascht. Dahinter steckt ein psychologischer Mechanismus, Monat eine Mindestzahl an Bewerbungen schreiben und Arbeit- der sich nicht nur bei Fundsachen offenbart, sondern auch in der nehmer stündlich beweisen, was genau sie erledigt haben. Berufswelt und bei politischen Debatten. Wenn es um Vertrauen Die Wahrheit liegt zwischen den Extremen. Für gewöhnlich, geht, handeln wir mitunter mit zweierlei Maß. Selbst glauben das zeigen Experimente, ist Ehrlichkeit ein hohes Prinzip. Lüge wir an einen inneren Kompass, der uns gewissenhaft und ehrlich und Betrug lassen sich deshalb nur schwer mit dem Selbstbild leitet. Anderen unterstellen wir gern das Gegenteil: dass sie vereinen. Gleichzeitig sind Prinzipien nicht unerschütterlich. Oder jede Gelegenheit nutzen zu schummeln, zu lügen, zu betrügen. was würden Sie machen, wenn Sie 63 Euro fänden, zu Hause Nehmen wir das bedingungslose Grundeinkommen: Kaum zwei unbezahlte Stromrechnungen lägen und die Waschmaschine jemand würde ernsthaft von sich behaupten, dass er das Geld ein- dringend repariert werden müsste? Na eben. Martin Schlak

99 100 A tusu und schon Altruismus – pinguin, Zistensänger wuchs vonBraunbär, Sieht zärtlich aus, ist Sieht zärtlich Kegelrobbe, Kaiser - oegäe u l.), Totengräber (u. Elterntiere, Nach- gar keine Liebe aber nichtnur

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IWAN TIRTHA / GETTY IMAGES WESTEND61 / GETTY IMAGES

IMAGO RALPH LEE HOPKINS / NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY IMAGES Wissenschaft Kuss der Käfer Evolution Eltern müssen sicherstellen, dass ihr Nachwuchs am Leben bleibt, nur wie? Wer kümmert sich: die Mutter, der Vater, beide, keiner? Biologen haben im Tierreich faszinierende Formen der Brutpflege entdeckt – besonders innig gehen manche Insekten mit ihren Kleinen um.

as Leben beginnt im Überfluss. Bakterien, Pilze und Substanzen, die Ver- um den Nachwuchs kümmert, ist erst mal Die Larven von Nicrophorus dauung und Immunsystem der Nach - weg vom Heiratsmarkt. Außerdem hat je- vespilloides, dem Schwarzhörni- kommen unterstützen. der Elternteil in der Regel nur 50 Prozent D des Erbguts mit seinen Abkömmlingen gen Totengräber, schlüpfen un- Totengräber zählen zu den Lieblingen mittelbar neben ihrer Nahrungsquelle. jener Zunft von Biologen, die mehr da - gemein, und Väter können nicht einmal Gleich darauf krabbeln sie hinein in eine rüber wissen wollen, wie sich elterliche ganz sicher sein, dass es tatsächlich die Wiege aus Halbverdautem, die ihre Eltern Fürsorge im Laufe der Evolution ent- Ihren sind. für sie angelegt haben. Die Larven könn- wickelt hat. Die Tiere eignen sich gut dafür: »Eltern und Kinder sind bestenfalls nah ten selbstständig davon essen. Stattdessen Im Labor lässt sich ihr Lebensraum sehr verwandt, aber sie sind nicht identisch«, aber recken sie Mutter und Vater Toten- einfach nachbilden. Zur Fortpflanzung erklärt der Evolutionsbiologe Per Smiseth gräber ihre Beinchen entgegen und betteln brauchen sie nichts als einen Partner und von der University of Edinburgh. Seit sei- um Futter. Prompt nähren die erwachse- eine tote Maus. In deren Kadaver, sorgfäl- ner Abschlussarbeit über die Frage, ob sich nen Käfer den Nachwuchs von Mund zu tig verscharrt (daher der Name), richten Kegelrobbenmütter intensiver um männ- Mund. sie die Kinderstube ein. liche als um weibliche Nachkommen küm- »Das sieht ein bisschen aus wie ein Sind die Larven erst mal da, lässt sich mern (die Antwort ist Nein), hat ihn die Kuss«, sagt Sandra Steiger. An der Univer- das Familienleben leicht manipulieren – Brutpflege nicht mehr losgelassen. In sei- sität Bayreuth hat sie vor Kurzem den die Forscher können einen Elternteil ent- ner Heimat Norwegen erforschte er deren Lehrstuhl für Evolutionäre Tierökologie fernen oder beide, sie können Klima und Mechanismen auch an bodenbrütenden übernommen. Mit ihr und ihrem Team Nahrungsangebot verändern oder auch Vögeln, doch allzu oft wurden die Nester bezogen Tausende Totengräber Quartier die Anzahl der Larven. Auf diese Weise von Fressfeinden geplündert. in den Räumen auf dem Campus. hat Steigers Gruppe nachgewiesen, dass Inzwischen hat sich Smiseth, Mitheraus- In Plastikboxen mit blauem Deckel die Totengräbermutter offensichtlich weiß, geber eines der wenigen Lehrbücher über hausen sie nun im Torf; Klimakammern wie viele Kinder sie hat. Nahmen die For- die Evolution der elterlichen Fürsorge, simulieren die Kühle der Wälder, in denen scher ein paar weg, legte sie weitere Eier. auf das Familienleben verwilderter Haus - diese Käferart normalerweise lebt. Auf Vor allem aber, und das macht sie zu schafe auf einer schottischen Insel verlegt – den Labortischen stehen Gaschromato- einer Art Laborratte der Evolutionsbio- und auf das der Totengräber. Meist ist das grafen zur Analyse der Ausdünstungen, logie, betreiben Totengräber eine verblüf- Thema nur ein Teilaspekt der Ökologie, Laservibrometer protokollieren das leise fend vielgestaltige Brutpflege. An ihnen, doch gegenwärtig wächst das Interesse – Sirren, das die Käfer mit ihren Schrillleis- hoffen die Forscher, können sie grund - auch weil neue Modellorganismen und ten am Hinterleib erzeugen. Pheromone legende Theorien zur Entstehung elter - Methoden Antworten auf grundlegende und Geräusche dienen der Kommunikati- licher Fürsorge testen. Fragen versprechen. on mit Artgenossen. Das Überleben möglichst vieler gesun- Quer durchs Tierreich habe sich das Biologin Steiger will die Sprache der der Nachkommen ist ein evolutionärer elterliche Kümmern immer wieder ent- Krabbeltiere entschlüsseln. Manche Bot- Imperativ – nur so rettet die Kreatur das wickelt und verändert, sagt Smiseth. Ein schaft hat sie schon verstanden. So düns- eigene Erbgut in die nächste Generation. paar Grundregeln immerhin gibt es: Alle ten Totengräbermütter nach der Eiablage Daher ist es nicht nur Altruismus und Säugetiere sorgen für ihre Babys, meist eine Art Lustkiller aus, das Gegenteil eines schon gar keine Liebe, wenn ein Pinguin- trägt die Mutter die Hauptverantwortung. Aphrodisiakums. Es lässt den Partner wis- männchen ein Ei mit seiner Körperwärme Auch Vögel umhegen ihre frisch geschlüpf- sen, dass nun Schluss sein soll mit Sex. So bebrütet oder eine Bärenmutter ihren te, hilflose Brut, hier arbeiten Mutter und hat der Käferpapa, der zuvor Hunderte Nachwuchs säugt – so zärtlich und zuge- Vater häufig im Team. Bei Reptilien und Male mit seiner Partnerin kopulierte, mehr wandt das auf Menschen wirken mag. Amphibien ist elterliche Fürsorge selten, Zeit für seine neuen Aufgaben: Larven Investitionen ins Wohl der Brut haben aber es gibt sie. Viele Pfeilgiftfroschväter füttern, Feinde abwehren und spezielle einen hohen Preis: Die Nahrungssuche für tragen ihre Kaulquappen huckepack zu Mikroben absondern, die die Heimstatt den Nachwuchs geht zulasten der eigenen, nahrungsreichen Tümpeln, weibliche Beu- vorm Verfaulen schützen. Fressfeinde haben leichteres Spiel, wenn telfrösche schleppen ihre gar wie Kängurus Auch warum die Kleinen mancher Ar- nicht nur das eigene, sondern auch das Le- mit sich umher, bis aus den Larven Frösch- ten von den Eltern gefüttert werden müs- ben der Sprösslinge geschützt werden lein werden. sen, hat Steiger ergründet. Im Labor zog muss, und wer sich im heimischen Nest Welchen Aufwand Mutter und Vater sie Larven, diesmal Exemplare der von treiben, um den Nachwuchs zu umhegen, ihren Eltern besonders abhängigen Art hängt von ökologischen Notwendigkeiten Nicrophorus orbicollis, mit flüssiger Nah- Stirbt das Ohrwurm- ab. So müssen Fische, die ihre Eier im rung auf, wie sie die Eltern sonst verabrei- weibchen, dient es den weiten Ozean absondern, darauf setzen, chen, nur eben nicht aus deren Mund. Fast dass die Nachkommen allein klarkommen. alle starben. Womöglich, folgert Steiger, Larven, Pragmatismus Wo viele Feinde umherstreifen, sollte im enthält der Brei aus der Direktfütterung vor Pietät, als Nahrung. Verborgenen gebrütet werden. Und in kar-

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 101 Wissenschaft ger Umgebung müssen die Eltern die Klei- Und kann sich Abhängigkeit nur entwickeln, Brutpflege auf den Partner zu verlassen. nen aktiv vorm Hungertod bewahren. wenn die Eltern während der Aufzucht eher Solche Pärchen sind nachlässiger als allein- Und ein komplexes Gehirn, auch das nicht in Gefahr geraten, zu sterben oder an- erziehende Zebrafinken – und ihre Nach- lehrt die Evolution, muss nach der Geburt derweitig abhandenzukommen? kommen haben es später schwerer im noch reifen – daher kommen die Jungen »Es braucht jedenfalls kein großes Ge- Leben, zum Beispiel bei der Partnerwahl. vieler Spezies mit großem Denkorgan be- hirn für Weiterentwicklungen in der elter- Nicht nur neue Modellorganismen, auch sonders hilflos auf die Welt. Totengräber lichen Fürsorge«, sagt Forscher Smiseth. neue Verfahren helfen gegenwärtig, die sind nach drei Tagen selbstständig – Men- In seinem jüngsten Projekt hat er bewie- Grundlagen der Elternliebe zu enträtseln. schen brauchen bekanntlich länger. sen, dass es den Nachwuchs widerstands- Neurowissenschaftler Johannes Kohl vom Doch es sind eben nicht nur derlei Fak- fähiger gegenüber wechselnden Umwelt- Londoner Francis Crick Institute etwa hat toren oder die Zwänge der Umwelt, die bedingungen macht, wenn die Eltern sich bei Mäusen mittels Methoden, die die Ver- eine faszinierende Vielfalt der Eltern-Kind- kümmern. Dafür ließ Smiseth Totengräber schaltung von Nervenzellen sichtbar ma- Beziehungen hervorbringen. Das zeigen bei unterschiedlichen Temperaturen he- chen können, eine Art Kommandozentra- vor allem die jüngeren Beispiele aus der ranwachsen. le für mütterliches Verhalten im Gehirn Welt der Wirbellosen. In dem Klima, das in ihrem natürlichen nachgewiesen. Bei Insekten galt intensive Brutpflege Lebensraum herrscht, kamen sie mit und Als wäre ein Hebel umgelegt worden, lange Zeit staatenbildenden Arten vorbe- ohne Eltern klar. War es jedoch kälter, star- sorgt ab Tag 21 der Trächtigkeit dieser neu- halten, Ameisen oder Bienen. Doch ronale Schaltkreis im Zwischenhirn auch bei anderen Insekten und bei dafür, dass Mutter Maus genau weiß, Spinnentieren stoßen Forscher im- was ihre Babys brauchen. Rund 20 mer wieder auf un erwartete Fürsorg- nachgeschaltete Systeme empfan- lichkeit – und faszinierende Paralle- gen Signale von diesem Zentrum, len zu Säugetieren. das nur aus wenigen Tausend Ner- So präsentierten chinesische For- venzellen besteht. scher Ende 2018 im Fachblatt »Sci- Vor dem – wohl hormonell gesteu- ence« den wohl ersten Fall einer Art erten – Umschaltprozess interessiert Muttermilch im Spinnenreich: Weib- sich die Maus nicht für Neugeborene, liche Springspinnen (Toxeus mag- sie würde sie sogar töten. Ist die Küm- nus) produzieren ein proteinreiches merermaschinerie aber erst mal an- Sekret, das sie ihrem Nachwuchs di- gelaufen, wollen Mäuse nichts ande- rekt verabreichen. Ohne die Milch, res mehr als Babys betüdeln, egal ob auch das zeigte sich in der Studie, es die eigenen sind oder nicht. Wird sterben die Babyspinnen. der Schaltkreis bei jungfräulichen Bei bestimmten Weberknechten Mäusen stimuliert, wissen auch sie kümmern sich ausschließlich die sofort, was Babymäuse brauchen. Männchen um die Nachkommen – »Neugeborene Mäuse sind kom- ein wahrhaft selbst loses Konzept, wie plett hilflos«, erklärt Wissenschaftler Wissenschaftler um Gustavo Reque- Kohl, »da ist keine Zeit für Fehler – na von der Universidade de São Pau- die Mutter muss von Anfang an wis- lo herausfanden. Die Männchen wel- sen, was zu tun ist.« ken im Zuge der Brutpflege geradezu Eine ähnliche Struktur, vermutet dahin, was kein Wunder ist, da sie sel- er, dürfte auch im menschlichen tener für sich selbst auf Futtersuche Gehirn vorhanden sein, vernetzt gehen als kinderlose Artgenossen. jedoch mit weit komplexeren Struk- Noch größere Opfer bringen die OCH / DER SPIEGEL SONJA turen als beim Nager. Auch bei wer- Mütter von jungen Ohrwürmern: Biologin Steiger mit Käfersammelgefäß denden Müttern bewirken hormo - Tagelang bewachen Weibchen vie- »Familienleben führt zu Interessenskonflikten« nelle Einflüsse Veränderungen im ler Arten ihr Gelege und befreien Gehirn – so eindeutig, dass Compu- die Eier regelmäßig von Pilzbefall. Sind ben fast alle, wenn die Eltern nicht bei terprogramme die Schwangerschaft anhand die Ohrwürmchen geschlüpft, würgen die ihnen waren. »Die Gegenwart der Eltern von Kernspinaufnahmen erkennen können. Mütter vorverdautes Futter für sie hervor. macht die Jungen einfach fitter«, erklärt Für Forscherin Steiger, die im Herbst Stirbt das Weibchen, dient es den Kleinen, Smiseth, »womöglich, weil Mutter und ihr erstes Kind erwartet, sind die Erkennt- Pragmatismus vor Pietät, als Nahrung. Vater als eine Art Puffer fungieren und nisse aus der Welt der Tiermütter und -vä- Nicht nur Eltern, auch die Kinder zah- jede Art von Stress aus dem Weg räumen, ter ganz beruhigend. »Familienleben führt len einen Preis für intensivere Brutpflege: dem der Nachwuchs sonst ausgesetzt von Natur aus zu Interessenskonflikten«, Sie begeben sich in eine Abhängigkeit, die wäre.« Helikopterkäfer sozusagen. sagt sie. Biologe Smiseth ergänzt: »Elter- sie das Leben kosten kann. Wenn eine Spe- Totengräber, das zeigte ein anderes Ex- liche Fürsorge ist harte Arbeit, stressig, zies die Fähigkeit ihrer Jungtiere zur periment in Smiseths Labor, gedeihen am zeitraubend.« Und es gebe nun mal besse- Selbstversorgung opfert, muss das also besten, wenn sich beide, Mutter und Vater, re und schlechtere Eltern. Bei Käfern und gewaltige Vorteile bergen. um sie kümmern – obwohl jeder Elternteil Menschen. Julia Koch Nur welche? Biologin Steiger will im Kä- den Job auch allein erledigen könnte: Die ferlabor testen, was die Entstehung von Fa- Nachkommen von Paaren waren im Schnitt milienleben befördert: So könnte es von stattlicher als die von Alleinerziehenden. Video Papa Käfer Vorteil sein, in einen größeren Körper zu »Diese Synergie hat uns überrascht«, investieren. Dann ist es unter Umständen sagt Smiseth, »weil bei manchen Tierarten spiegel.de/sp262019eltern notwendig, dass Mütter und Väter das auch das Gegenteil der Fall ist.« Zebrafin- oder in der App DER SPIEGEL Wachstum durch Füttern beschleunigen. ken zum Beispiel neigen dazu, sich bei der

102 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Technik Dicke Luft am Gleis

Verkehr Züge produzieren Fein- staub, wenn auch in erträglichen Mengen. Im Tiefbahnhof Stuttgart 21 wird daraus aller- dings ein ernstes Problem.

chienenfahrzeuge zählen zu den S Transportmitteln der Wahl, wenn es gilt, umwelt- und klimaschonend voranzukommen. Längst fahren sie vor- wiegend elektrisch und im Fernverkehr laut Auskunft der Deutschen Bahn nur

mit Ökostrom. INGENHOVEN GMBH, CHRISTOPH ARCHITECTS INGENHOVEN Doch der vorbildliche Nutzer der Züge Stuttgarter Bahnhofsprojekt (Simulation): Dumpfes Aroma des Schienenstrangs ist womöglich besonderen Gesundheits- risiken ausgesetzt. Im vergangenen Jahr alarmierte der technische Prüfdienst De- gene Worte zu kleiden: Der Staub ist da, liegen, die vom Stuttgarter Flughafen kom- kra die Stuttgarter Bevölkerung: Messun- er dürfte aber erst zu einem ernsten Pro- mend durch knapp zehn Kilometer Tunnel gen an U-Bahnhöfen hatten Feinstaub - blem werden, wenn große Bahnhofsanla- hinabführt. Mahner sehen den Bahnstaub konzentrationen von mehr als 100 Mikro- gen nicht mehr gut belüftet über der Erde wie durch ein riesiges Blasrohr in die gramm pro Kubikmeter ergeben – fünfmal liegen. Station schießen – womöglich in solchen so viel wie am Straßenverkehrsknoten Die Luftqualität in den Stuttgarter Mengen, dass sogar das großzügige Fein- Neckartor. U-Bahn-Stationen erweist sich entweder staublimit für Arbeitsplätze gesprengt wer- Dass die Expertise von Dekra kam, ei- als katastrophal – oder als unkritisch, je den könnte. nem Autodienstleister, machte den Befund nachdem welcher Maßstab angelegt wird. »Die Stuttgarter Werte werden alles in allemal verdächtig. Baden-Württembergs Die Grenzwerte, die im Freien gelten, wer- den Schatten stellen«, erklärte bereits der grünes Verkehrsministerium, eher pro den hier zweifellos überschritten. Als Bau- Münchner Verkehrsberater Karlheinz Röß- Bahn eingestellt, monierte sogleich metho- werk indes, in dem sich Arbeitsplätze be- ler, einer der prominenten Kritiker des dische Fehler. So sei »zu kurz, am falschen finden – und das ist ein Bahnhof ja –, dürf- im Bau befindlichen Tiefbahnhofs. Als Ort und nicht mit dem vorgeschriebenen te jede der Stationen sogar noch staubiger Musterbeispiel einer politischen Macht- Referenzverfahren« gemessen worden. sein. Hier liegt der Grenzwert um ein Viel- demonstration hat Stuttgart 21 bereits Dekra, das kann niemand bestreiten, faches höher als an der frischen Luft. einige gute Gegenargumente abgewettert, hat realen Staub gemessen. Am Gleiskör- Die Autolobby prangert hier gern eine von denen jedes für sich als Killerkriterium per herrscht mitunter dicke Luft. Jeder Ungerechtigkeit an, doch das Regelwerk gelten kann: die deutlich schlechtere Ver- Bahnreisende kennt das Aroma des Schie- folgt durchaus einer Logik: Straßen wer- kehrsleistung gegenüber dem bestehenden nenstrangs, das besonders dumpf nach den von Wohnhäusern gesäumt, in Bahn- Bahnhof, ungeklärte Brandschutzfragen, Eisen schmeckt, wenn ein Güterzug vor- höfen und Haltestellen aber wohnt nie- das riskante Gefälle, das die Gefahr un- beipoltert. Abrieb an Bremsen, Rädern mand, jedenfalls nicht offiziell. In den bis- kontrolliert losrollender Züge birgt und und Gleisen, dazu der im Schotterbett la- her auffälligen U-Bahn-Haltestellen hat nun auch noch die Staubbildung verstär- gernde Schmutz, den jeder Zug aufs Neue auch kaum jemand einen dauerhaften ken wird. verwirbelt, sind eine Begleiterscheinung Arbeitsplatz. Bahningenieur Eberhard Happe nannte des Bahnbetriebs, die sich nicht leugnen Ganz anders wird die Situation jedoch die Längsneigung des Bahnsteigs schon in und schon gar nicht so einfach beseitigen im Tiefbahnhof Stuttgart 21 sein, der als einem frühen Fachaufsatz »kriminell« und lässt. Nur, wie schlimm ist das Ganze? größter unterirdischer Verkehrsknoten der weckte den Zorn des damaligen Bahn- Genau das zu klären, steht die Bun - Republik im kommenden Jahrzehnt den Chefs Heinz Dürr – eines der großen För- desregierung derzeit in der Pflicht. Am Betrieb aufnehmen soll: Hier wird es reich- derer des schiefen Tiefbahnhofs. Inzwi- 27. Mai stellte die Fraktion der Linken lich Arbeitsplätze im staubigen Bereich ge- schen ist Happe in Rente, meldet sich noch im Bundestag eine Kleine Anfrage zur ben – und reichlich Staub. immer kritisch zu Wort und sieht auch in Feinstaubbelastung in unterirdischen Denn der Betrieb in der achtgleisigen dem Feinstaubproblem ein »ernstes The- Bahn höfen im Allgemeinen und zum deli- Kellerstation wird mit intensiven Brems- ma«. Ältere Züge, die nicht induktiv mit katesten Bahnprojekt der Republik im manövern einhergehen. Um das Konstrukt den Antriebsmotoren bremsen können, Besonderen – dem Tiefbauknotenpunkt in das bestehende System der U- und würden im Stuttgarter Gefälle »mit qual- Stuttgart 21. S-Bahnen zu integrieren, mussten die Pla- menden Bremsen« den Bahnhof erreichen. Die Deutsche Bahn, inzwischen von der ner den gesamten Bahnhofskorridor in ein »Am Ende«, feixt der Fachmann, »müss- Regierung mit der Beantwortung der ins- Gefälle legen, das die Richtlinien der Bau- te dann oben ein Fahrverbot für Autos und gesamt zwölf Fragen beauftragt, wird sich ordnung um den Faktor fünf übersteigt. unten eins für die Eisenbahnen gelten.« in absehbarer Zeit äußern. Es geht darum, Zudem wird der neue Hauptbahnhof am Christian Wüst eine unangenehme Wahrheit in abgewo- Fuße einer langen abschüssigen Strecke

103 Wissenschaft Schwelbrand im Gehirn

Psychiatrie Wie entstehen Schizophrenie, Depressionen und anderes seelisches Leid? Was lange ein großes Rätsel der Medizin war, klärt sich nun auf – im Fokus der Forscher: das Immunsystem.

anche Krankheitsgeschichten sind so verrückt, dass man M alle medizinischen Wahrhei- ten über Bord werfen muss, um sie zu verstehen. So auch die Geschich- te jenes 67-jährigen Mannes, der an Leu- kämie erkrankte und deshalb eine Stamm- zelltransplantation brauchte, ein neues Immunsystem mithin, das das alte, kaputte ersetzen sollte. Eine Routineprozedur eigentlich. Ein jüngerer Bruder, der an Schizophrenie litt, war bereit, die Stamm- zellen zu spenden. Nachdem dem Älteren die Zellen des Jüngeren übertragen worden waren, lief zunächst alles glatt. Die Leukämie war ge- heilt. Aber dann wurde das Medikament, mit dem das neue Immunsystem zunächst noch unterdrückt worden war, abgesetzt. Und plötzlich fing der 67-Jährige an, Stim- men zu hören. Stimmen, die ihm drohten, die kommentierten, was er erlebte. Er ent- wickelte bizarre Wahnvorstellungen, war überzeugt, andere könnten seine Gedan- ken lesen. Am Ende hegte er Selbstmord- und Mordgedanken. Ärzte konnten alle naheliegenden Ur- sachen für diese psychotischen Symptome ausschließen. Der Mann hatte keinen Tu- mor im Kopf und keine Virusinfektion, kei- ne Borreliose und kein Delir. Und obwohl er als Bruder eines an Schizophrenie Er- krankten selbst ein erhöhtes Risiko hatte, Opfer dieses psychiatrischen Leidens zu werden, wäre es extrem untypisch gewe- sen, wenn es ihn in seinem fortgeschritte- nen Alter noch erwischt hätte. Wurde dem Mann mit dem Immun- system seines Bruders auch dessen Schi- zophrenie übertragen? »Ich finde das plausibel«, sagt Norbert Müller, emeritierter Professor für Psychia- trie an der Ludwig-Maximilians-Universi- tät München. Er beschäftigt sich schon rund 30 Jahre lang mit dem Zusammen- spiel von Immunsystem und psychischen Erkrankungen. Lange Zeit war er damit ein wissenschaftlicher Außenseiter. Jetzt sieht es so aus, als wenn Müller seiner Zeit voraus gewesen war: Die Im- munoneuropsychiatrie, die Wissenschaft, die die vielfältigen Verflechtungen zwi- schen Immunsystem, Gehirn und Psyche erkundet, hat sich in den vergangenen Jah- JEROME BONNET / DER SPIEGEL JEROME ren zu einem der spannendsten For- Ärztin Leboyer: »Es sah aus, als trügen diese Menschen eine Dauerinfektion in sich« schungsgebiete in der Medizin entwickelt.

104 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Konferenzschaltung Wie Immunzellen im zentralen Nervensystem wirken

Botenstoffe Nervenzellen kommunizieren direkt und indirekt mit den Immunzellen.

Immunzellen e nk Botenstoffe des Gehirns ra ch Die sogenannte -S Blutgefäß irn Mikroglia kommuniziert H t- lu sowohl mit den Nerven- B zellen des Gehirns als auch mit den Immunzellen des Körpers. Sie beeinflusst die synaptische Immunzellen des Körpers Informationsübertragung im ü be produzieren Botenstoffe, die die Blut-Hirn-Schranke Gehirn, die die Grundlage ist r d as durchdringen können und die die Arbeit der Nerven- für Lernen, Gedächtnis und Lym phsy zellen im Gehirn beeinflussen. Anders als man lange soziales Verhalten. stem vermutete, wandern diese Immunzellen mitunter auch bei gesunden Menschen ins Gehirn ein.

»Die Sicht auf Krankheiten wie Schizo- sind und die Forscher lange unterschätzt ten, das Risiko für eine spätere Schizophre- phrenie, Depression und Autismus ändert haben: sogenannte Mikroglia. Sie erspü- nie oder Depression etwa verdoppelten. sich gerade«, sagt Marion Leboyer, Pro- ren mithilfe von Rezeptoren, welche Ner- Eine Infektion der werdenden Mutter wäh- fessorin für Psychiatrie an der französi- venzellen des Gehirns gerade arbeiten. rend der Schwangerschaft führt dazu, dass schen Université Paris-Est Créteil. 20 Jah- Durch direkten Kontakt und über Boten- das Kind mit einer größeren Wahrschein- re lang habe sie die Genetik der psy- stoffe können sie Einfluss auf die neuro- lichkeit als andere autistisch wird. chischen Erkrankungen erforscht, erzählt nalen Übertragungswege nehmen – die Ein defektes Darmmikrobiom, also eine sie, durchaus mit Erfolg, »aber ohne große Basis für Lernen, Gedächtnis und soziales falsche Zusammensetzung der dort heimi- Hoffnung, daraus einmal Therapien ent- Verhalten. schen Bakterien, trägt wahrscheinlich wickeln zu können«. Deshalb sei sie vor In den winzigen Lymphgefäßen der ebenfalls via Immunsystem zur Entste- rund zehn Jahren auf das Gebiet der Im- Hirnhäute umfließen auch Körper-Immun- hung seelischer Krankheiten bei. munologie gewechselt. zellen das Gehirn. So erhalten sie ständig Und auch genetische Studien bestätigen Die große Hoffnung lautet: psychische Informationen über dessen Zustand. Bei die wichtige Rolle der Immunabwehr: Vie- Leiden mit Immuntherapien behandeln zu Bedarf überwinden sie von den Blutgefä- le der Genvarianten, die das Risiko für können – wie Krebs oder Rheuma. ßen aus die Blut-Hirn-Schranke und be- eine Depression, Schizophrenie, für Autis- Dass Immunsystem und Psyche irgend- einflussen zudem mittels Botenstoffen die mus oder andere psychiatrische Störungen wie zusammenhängen, ahnte man schon zu Aktivität von Nervenzellen. erhöhen, beeinflussen die Funktion des Zeiten von Hippokrates (etwa 460 bis circa »Es wird immer klarer, dass Immun - Immunsystems. 370 vor Christus). Damals wurde erkannt, mechanismen für die normalen, gesunden Stück für Stück setzen Forscher ihre Er- dass Fieber – Zeichen einer Immunreak- Funktionen des Gehirns wesentlich sind«, kenntnisse zu einem völlig neuen Bild psy- tion – Psychosen lindern kann. Der Medi- sagt Frauke Zipp, Direktorin der Klinik chischer Störungen zusammen, das zwar ziner Galen, der im 2. Jahrhundert nach und Poliklinik für Neurologie an der Uni- noch lückenhaft ist, aber Anlass zur Hoff- Christus in Rom praktizierte, beschrieb ei- versitätsmedizin Mainz. »Immunsystem nung auf neue Therapieansätze gibt – vor nen Fall der Melancholie, der durch Malaria und Gehirn kommunizieren ständig mit- allem für die drei großen seelischen Lei- geheilt wurde. Und aus dem 18. Jahrhun- einander.« den: Depression, Autismus und Schizo- dert stammt ein Bericht über die Heilung Wichtig für das seelische Wohlergehen phrenie. »Tobsüchtiger« nach Pockeninfektion. ist das richtige Gleichgewicht in dieser Für Depressionen gibt es bekannte Doch die moderne Medizin verpasste Kommunikation. Wird dies gestört, durch Risikofaktoren, psychosozialer Stress ge- sich lange Zeit selbst ein Denkverbot. Das Entzündungen oder Autoimmunreaktio- hört dazu, psychische Traumata können Gehirn, so das Dogma, sei »immunprivi- nen, können psychiatrische Erkrankungen dazu führen. Solche Geschehnisse fachen legiert«, also dem Zugriff des Immunsys- entstehen. Entzündungen im Gehirn und im rest- tems weitgehend entzogen. Die Blut-Hirn- Mittlerweile haben Forscher jede Men- lichen Körper regelrecht an. Stress macht Schranke schotte es gegen Immunzellen ge solcher Gefahren für die Hirngesund- zudem die Blut-Hirn-Schranke durchläs - ab. Inzwischen weiß man: Ohne die regu- heit ausgemacht. Infektionen mit Viren siger, sodass bestimmte Botenstoffe leich- lierende Funktion des Immunsystems und Bakterien gehören dazu; so zeigte ter ins Gehirn gelangen können. Dort ent- kann der Mensch gar nicht denken. eine Kohortenstudie mit mehr als einer steht – zumindest bei einem Teil der de- Eine tätige Rolle dabei spielt eine Klasse Million Menschen, dass Infektionen, die pressiven Patienten – offenbar eine Art von Immunzellen, die im Gehirn ansässig einen Krankenhausaufenthalt nötig mach- Schwelbrand, eine chronische Entzün-

105 Wissenschaft dung, die die Funktion der Nervenzellen delten autistischen Kindern waren vor Be- beeinträchtigen kann. handlungsbeginn 15 als »schwer« betroffen Vieles, was die Stimmung aufhellt, hat eingestuft worden – zwei Jahre nach der Nadelkönig hingegen eine antientzündliche Wirkung: Stuhltransplantation waren es nur noch 3. Sport und Bewegung, aber auch Entspan- Die Symptome von 8 der behandelten Kin- Geschichte Kunsthistoriker er- nungsübungen und eine Psychotherapie, der hatten sich so stark verbessert, dass sie forschen den Nachlass Christian die hilft, mit Stress besser umzugehen. nicht mehr als Autisten galten. Erste Untersuchungen mit antientzünd- »Eine Stuhltransplantation bei Autismus Warlichs – und lüften dabei so lichen Medikamenten waren bereits erfolg- klingt völlig verrückt, oder?«, fragt Hanna manches Geheimnis des Urvaters reich. So konnte schlichtes Aspirin die Wir- Stevens, Direktorin der Abteilung für der deutschen Tattoo-Szene. kung des Antidepressivums Sertralin in Kinder- und Jugendpsychiatrie am Carver einer Studie mit 100 Patienten signifikant College of Medicine der University of verbessern. Das Arthrosemittel Celecoxib Iowa. »Aber es ist wirklich eine sehr inte- kann die Wirkung eines Antidepressivums ressante Idee.« Dringend müssten jetzt ilke Beiner-Büth könnte in diesem verstärken, ebenso wird Infliximab bei weitere Studien gemacht werden. Moment über vieles nachdenken, Depressionen erprobt, ein Mittel, das bei- Bei manchen Menschen, die wie Schi- S über Edith und Werner zum Bei- spielsweise bei entzündlichen Darmerkran- zophreniekranke unter Halluzinationen spiel. Vor ihr liegt ein Hautlappen von der kungen eingesetzt wird, weil es das Immun- und Wahnvorstellungen leiden, werden Größe eines Handtellers, darauf ein Tat- system unterdrückt. Nun hoffen Forscher, diese Symptome durch Autoimmunreak- too, es zeigt zwei Vögelchen. Sie tragen Therapien auch für jene depressiven Patien- tionen hervorgerufen, wie inzwischen be- zwei Anhänger in Herzform, die Schnäbel ten entwickeln zu können, denen bislang kannt ist. Dabei attackieren sogenannte berühren sich. Links neben den Anhän- nicht geholfen werden kann. Autoantikörper das Gehirn. Lassen diese gern steht der Name »Edith«, rechts da - Zahlreiche Indizien deuten darauf hin, sich nachweisen, behandeln Ärzte schon neben »Werner«, oben: »Treue Liebe«. dass auch beim Autismus, zumindest in heute mit einer Immuntherapie: mit Cor- Die Restauratorin treibt aber vor allem einem Teil der Fälle, das Abwehrsystem tison, Immunglobulinen oder einer Blut- eine Frage um: Schimmelt hier etwas? aus dem Gleichgewicht geraten ist. So lei- wäsche, bei der die Antikörper heraus- Beiner-Büth arbeitet für das Museum den überproportional viele Autisten an ty- gefiltert werden. »Dass die Betroffenen in- für Hamburgische Geschichte. Hier wird pischen Krankheiten: In einer kleinen Stu- zwischen erfolgreich therapiert werden derzeit unter der Leitung des Kunsthisto- die an Patienten mit Asperger, einer mil- können, ist wirklich bahnbrechend«, sagt rikers Ole Wittmann erstmals der Nachlass Neurologin Frauke Zipp. des Tätowierers Christian Warlich er- Auch bei tatsächlichen Schizophrenie- forscht, der ab 1919 auf St. Pauli tätowierte. patienten, die diese Autoantikörper nicht Warlich gilt als Urvater der deutschen Tat- haben, finden sich häufig entzündliche Ver- too-Kunst, seine Illustrationen waren weg- änderungen, die darauf hinweisen, dass weisend. Er konnte Tattoos nicht nur an- das Abwehrsystem entgleist ist. Fieberhaft bringen, sondern war auch einer der ers- suchen Forscher nun nach Biomarkern, die ten, der sie professionell wieder entfernte. ihnen verraten könnten, welche Erkrank- Wittmann will mit seinem Forschungs- ten auf eine Immuntherapie ansprechen projekt die Frage beantworten: Wer war würden – und welche Art von Therapie dieser Christian Warlich, der sich selbst jeweils besonders gut geeignet wäre. Noch als »König der Tätowierer« bezeichnete? steht die Forschung am Anfang. »Aber es Warlich kam im Jahr 1891 bei Hannover ist durchaus realistisch, solche Therapien zur Welt. Schon als Jugendlicher stach er Neurologin Zipp zu finden«, sagt der Münchner Psychiater Schulkameraden Motive auf die Haut, wie »Das ist wirklich bahnbrechend« Norbert Müller. Briefe belegen. Im Alter von 14 Jahren ver- Eine der spektakulärsten Heilungen der ließ Warlich sein Elternhaus und zog nach den Form des Autismus, waren 70 Prozent Schizophrenie verdanken Ärzte allerdings Dortmund, wo er einige Tätowierer kennen- von Allergien, Neurodermitis, Asthma dem Zufall. Einen jungen Mann befielen lernte. Als Heizer heuerte er auf dem Pas- oder ähnlichen Leiden betroffen – im Ver- mit 23 Jahren, kurz nachdem er seinen sagierschiff »Imperator« an, es brachte ihn gleich zu 7 Prozent in der nicht autisti- Universitätsabschluss gemacht hatte, plötz- nach New York. Dort erstand er wohl seine schen Vergleichsgruppe. lich Verfolgungswahn und Halluzinatio- erste Tätowiermaschine – und brachte sie Marion Leboyer entdeckte im Blut er- nen. Die Ärzte stellten die Diagnose »pa- nach Deutschland. In Hamburg angekom- wachsener Autisten Immunzellen, die »über- ranoide Schizophrenie«. Die Therapie mit men, inzwischen 23 Jahre alt, heiratete War- stimuliert und völlig dysfunktional« waren. üblichen Medikamenten gegen dieses Lei- lich, 1921 meldete er eine Schankwirtschaft »Es sah aus, als trügen diese Menschen eine den schlug nicht an. an. In einem Separee, abgetrennt durch Dauerinfektion in sich«, sagt sie, »nur dass Dann, mit 24 Jahren, bekam der Mann einen Vorhang, stach Warlich fortan die Tat- wir keine Infektion finden konnten.« eine Leukämie. Seine einzige Hoffnung war toos, die ihn weltberühmt machen sollten. Überdies scheint das für die Funktion eine Knochenmarktransplantation. Die ge- Eines von ihnen ist auf dem Hautstück des Immunsystems so wichtige Darm- fährliche Prozedur heilte nicht nur seinen zu sehen, das nun vor Silke Beiner-Büth mikrobiom bei einigen Betroffenen gestört Blutkrebs: Nach 30 Tagen waren auch seine auf dem Tisch liegt: satte Farben und zu sein. Als Forscher Stuhl von Autisten Schizophreniesymptome so gut wie ver- schwungvolle Linien mit zarten Fettungen, auf Mäuse übertrugen, zeigten die Nach- schwunden. Acht Jahre nach der Knochen- die Buchstaben hier und da etwas bauchi- kommen der Tiere plötzlich autistische Ver- marktransplantation, berichteten die Ärzte, ger machen; so hob sich Warlich von der haltensweisen. Umgekehrt konnten in einer ging es dem Mann hervor ragend – er war Konkurrenz ab. Das Hautstück ist eines Pilotstudie die Symptome einiger autisti- körperlich und psychisch gesund und arbei- von 29, die sich derzeit im Museum für scher Kinder durch eine Transplanta tion tete erfolgreich in einem bekannten Unter- Hamburgische Geschichte befinden. Bei- eines gesunden Stuhlbakterienmixes erheb- nehmen. Veronika Hackenbroch ner-Büth muss klären, wie man sie konser- lich verbessert werden. Von den 18 behan- viert, ohne dass sie Schaden nehmen.

106 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 durfte sie für seine Forschung ausleihen. Das zentrale Objekt in Warlichs Nachlass aber ist sein berühmtes Vorlagealbum. Bis zum frühen 20. Jahrhundert hatten Tätowierer ihre Vorlagen in Büchlein mit sich getragen; so zogen sie durchs Land. Als sie dann mehr und mehr sesshaft wur- den, kamen die »Flash Sheets« in Mode, größere Blätter, die Warlich und andere in ihre Warteräume und Schaufenster häng- ten, um Kunden anzulocken. Warlich war auch abseits seiner Schankwirtschaft ein Geschäftsmann, er vertrieb Tätowier - material an Interessierte und tauschte sich mit Medizinern aus. »Er hat sich gut ver- netzt«, sagt Ole Wittmann.

SHMH Um 1930, als Berufstätowierer noch eine Tätowierer Warlich, Kunde um 1930: »Politik, Erotik, Athletik, Aesthetik, Religiös!!« Ausnahme waren, arbeitete Warlich in Weste und Krawatte und warb mit Plaka- ten: »Atelier moderner Tätowierungen, Eigentlich arbeitet die Restauratorin in dem Hamburger Museum. Die Historiker elektrisch schnell! Ausführungen in allen ihrer Werkstatt im Museumskeller mit klas- ahnten wohl, welchen Wert das Werk des Farben«. Auch in der Zeit des National - sischer Kunst wie Pastellmalereien. Als Tätowierers einmal haben könnte und sozialismus tätowierte er weiter. Zwar habe vor rund einem Jahr klar war, dass sie sich kauften der Witwe Magdalena Warlich sein Laden als Treffpunkt für Hamburger demnächst um Hautstücke kümmern wür- einen Teil des Nachlasses ab. Dass derzeit Nazis gegolten, heißt es in einer Biografie de, bat sie einige Kollegen um Rat, einen noch viel mehr Objekte aus Warlichs Nach- von Vetter, Warlich sei aber weder rechts Apotheker, einen Lebensmittelforscher, lass im Museum lagern, nämlich knapp gesinnt noch Parteimitglied gewesen. eine Frau vom Landesdenkmalamt Han- 300, liegt allein an Ole Wittmann, der zu- In seiner Kundenansprache wurde War- nover. »Die haben mir geraten, erst mal sammen mit dem Museum vor vier Jahren lich über die Jahre deutlicher. Auf einer gar nichts zu machen«, sagt Beiner-Büth. mit dem Forschungsprojekt begann. Werbekarte vermutlich aus den Vierziger- Anders als bei der Restaurierung von Wittmann hatte sich in seiner Disserta- jahren heißt es: »Alles, was der männliche Kunst gelte in der Konservierung oft: Hän- tion mit Tattoos in der Kunst befasst, dabei Körper ausdrücken soll, steche ich ein: de weg! Es geht um Fragmente, die mit all war ihm aufgefallen, dass noch niemand Politik, Erotik, Athletik, Aesthetik, Reli- ihren Makeln erhalten bleiben sollen. intensiv zu Christian Warlich geforscht hat- giös!!« Erst 1962 meldete Warlich sein Doch als sie die Hautstücke unter die Lin- te. »Es gab viele Mythen und Legenden, Tätowiergewerbe offiziell an, zwei Jahre se eines Mikroskops legte, 400-fache Ver- aber wenig war belegt«, sagt Wittmann. vor seinem Tod. größerung, fand sie verdächtige weiße Stel- Er selbst ist vielfach tätowiert, zwei Moti- Zu dieser Zeit war weithin bekannt, len. Schimmel? Kann das sein? Nun muss ve sind von Warlich inspiriert, ein Dolch dass die Kunden der Tätowierer aus allen eine Molekularbiologin der Universität Hil- mit Schlange und ein Drachenkopf. Gesellschaftsschichten stammten. Dass desheim klären, ob da etwas wächst. Bis da- Wittmann wusste, dass die meisten Ob- Tattoos einmal so allgegenwärtig sein wür- hin soll die Warlich-Kunst bei einer Luft- jekte aus dem Nachlass des Tätowierers den wie heute, war jedoch kaum abzu- feuchte von unter 60 Prozent gelagert wer- einem Freund der Familie zukamen, Theo- sehen. Nach einer Studie der Universität den, um der Schimmelbildung vorzubeugen. dor Vetter, genannt Tattoo-Theo. Nach des- Leipzig aus dem Jahr 2017 ist jeder fünfte Eine weitere Frage, die sich Beiner-Büth sen Tod kaufte ein englischer Sammler vie- Deutsche tätowiert, bei den Frauen zwi- stellt: Werden sich die Hautstücke verän- le Objekte, Wittmann trieb ihn auf und schen 25 und 34 Jahren jede Zweite. Bis dern, zum Beispiel durch Rückstände des heute beeinflusst Warlich die Tattoo-Szene mysteriösen Ablösemittels, das Warlich in vielen Teilen der Welt. damals auf die Haut auftrug, um sie da- Im Museum für Hamburgische Ge- nach abziehen zu können? schichte, einen Fußmarsch entfernt von Die Mixtur dieses Ablösemittels galt lan- Warlichs Schankwirtschaft auf St. Pauli, ge Zeit als Geheimnis des Tattoo-Königs. wird Wittmann im Herbst seine For- Im Zuge seines Forschungsprojekts löste schungsergebnisse in einer Ausstellung prä- Ole Wittmann jetzt das Rätsel: Warlich sentieren. Und er wird, eher ungewöhnlich hatte 1935 das Tattoo eines Matrosen ent- für Wissenschaftler, seine Erkenntnisse ver- fernt, woraufhin sich dessen Hand entzün- markten: Bald soll ein Rum erscheinen, dete; als die Gesundheitsbehörde davon dessen Etikett ein Warlich-Motiv zeigt. erfuhr, musste der Tätowierer seine Me- Bei Instagram können Nutzer unter thode in einem Brief dokumentieren. dem Hashtag #inspiredbywarlich Bilder Er beschrieb die Rezeptur: destilliertes von Tattoos posten, die von Warlich- Wasser, Äther, Kali, Kochsalz, arsenfreie Motiven angeregt sind. Mittlerweile sind Schwefelsäure. Warlich trug die Tinktur dort Fotos aus dem italienischen Faenza in der Regel mehrmals auf die betreffende zu finden, aus dem britischen Derby und Stelle auf und konnte die Haut, sobald sie aus Hamburg. Dort hat sich jemand ein abgestorben war, mit einer Pinzette abzie- Tattoo stechen lassen, das zwei Herzen hen. Es blieb eine Narbe zurück. / SHMH MICHAEL MEINERT zeigt, darunter steht: »Treue Liebe«. Zehn der Hautstücke mit den Tattoos Erhaltenes Hautstück mit Warlich-Motiv Yannick Ramsel von Christian Warlich gehören seit 1965 Schimmelt hier etwas?

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In High Heels ist keine Work-Life-Balance zu schaffen. ‣S.112 KARIN KNEFFEL / VG BILD-KUNST, BONN 2019, FOTO: ACHIM KUKULIES FOTO: BONN 2019, BILD-KUNST, KARIN KNEFFEL / VG ACHIM KUKULIES FOTO: BONN 2019, BILD-KUNST, KARIN KNEFFEL / VG Kneffel-Bilder ohne Titel von 2016, 1996

Ausstellungen Wassertropfen auf der Illusion

Die Malerin Karin Kneffel, 62, hat eine besondere Meister- keit, indem sie beim Blick durch eine Scheibe auch Wasser- schaft darin entwickelt, auf ihren Bildern die Zeit anzuhalten, tropfen erfasst – eine kleine, fast gemeine Ablenkung, und die Kunsthalle Bremen würdigt sie dafür von diesem die eine besondere Konzentration erzwingt. Und sie schafft Wochenende an mit einer großen Ausstellung namens »Still«. es, selbst Menschen in ihre Bilder der Unbeweglichkeit Stillleben, die Darstellung des Unbeweglichen, sind ein altes zu schmuggeln, die dann aber auch nur wie Statisten wirken. Genre. Doch Kneffels Abbilder von Früchten, einer Schale Die einstige Meisterschülerin von Gerhard Richter lehrt mit Schokopudding oder Innenräumen (mit Kunstwerken da - seit Langem selbst als Professorin. Beide scheint der Glaube rin) wirken nicht nur wegen mancher Sujets sehr gegen- anzutreiben, dass Malerei eben doch von zeitloser Faszina - wärtig. Die Malerin durchbricht das Spiel mit der Reglosig- tion und Wichtigkeit ist. UK

Kino schen von den Tieren. Schon ein kleines durch verschiedene Genres, in denen Schlau und flauschig Baby frisst aus dem Hundenapf. Der die Helden normalerweise zweibeinig sind: Film, bei dem Chris Renaud und Jonathan Er ist ein Spionagethriller, in dem eine Gerade wollen Wissenschaftler heraus- del Val Regie führten, streift lustvoll Spitz dame undercover in die Katzenwelt gefunden haben, dass Hunde in der Lage eindringt, und ein Actionkracher, in dem sind, den menschlichen Gesichtsausdruck ein Kaninchen im Superheldenkostüm nachzuahmen. Für Hollywoods Trick - einen weißen Tiger aus dem Zirkus rettet. filmer ist diese Erkenntnis ein alter Hut. Die Figuren sind mutig und feige, cool Die Hunde, Katzen und Kaninchen in und neurotisch. Im Aufbau etwas zu epi - dem Animationsspektakel »Pets 2«, das sodenhaft, in einzelnen Szenen dagegen nun in die deutschen Kinos kommt, sind immer wieder mitreißend und witzig, bezaubernde Mischwesen, die zwinkern, folgt »Pets 2« der Devise: Haustiere aller grinsen und zur rechten Zeit große Augen Arten, vereinigt euch! Und seid mit

machen können. Hier läuft die Mimikry PICTURES UNIVERSAL den Menschen nicht so streng. Sie wissen bereits umgekehrt, hier lernen die Men- Szene aus »Pets 2« es einfach nicht besser. LOB

110 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Legenden dich ein«, »Keine Macht für Niemand«. Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht Revolte im Archiv Rio Reisers ältere Brüder Peter und Gert Möbius haben den Nachlass des 1996 Angstallianz Eine elektrische Gitarre – eine Fender verstorbenen Musikers jetzt dem Deut- Stratocaster, gebaut 1957 – in der ehr - schen Literaturarchiv Marbach gestif- »Ein Bild sagt mehr als tau- würdigen Marbacher Schatzkammer der tet: nicht nur Papier in Gestalt von send Tote«, so überschrieb Literatur? Warum nicht, wenn Rio Reiser Manuskripten, Briefen oder Thea- die »taz« einmal einen sie spielte, der wichtigste deutsche terstücken, sondern auch jede Menge Artikel über den Fotografen Rocksänger und Songschrei- digitale Datenträger Sebastião Salgado, dem ber des 20. Jahrhunderts, unterschiedlicher For- gerade der Friedenspreis des der seinen Künstlernamen mate; mehr als 90 Archiv- Deutschen Buchhandels zu - in Anlehnung an den Prota- kisten voll. Sie zeigen gesprochen wurde für seine monumen- gonisten aus dem Roman den Autodidakten Reiser talen, schwarz-grauen Ansichten der »Anton Reiser« von Karl als gründlichen Recher- Welt. Blicke unter anderem auf die Aus- Philipp Moritz wählte. Mit cheur und spielerischen beutung des Menschen und der Natur, seiner Band Ton Steine Texter, der keineswegs nur bei denen Schock und Schönheit eine Scherben schuf der schwule Politsongs verfasste. Mit geradezu peinliche Waage bilden. Anarchist in Berlin-Kreuz- »Halt Dich an Deiner Liebe Mit Bildern ist man stärker allein als berg den Soundtrack der fest« oder »Junimond« mit der Sprache, sie fahren direkt linksradi kalen Revolte schrieb er auch Songs, die ins Gemüt; man kann sie sich nicht nach 1968: »Alles verändert zu den schönsten Liebes- vom Leibe halten.

sich, wenn du es verän- DLA MARBACH liedern der deutschen Pop- Das gilt auch für die politische Kari- derst«, »Allein machen sie Songentwurf von Reiser musik zählen. MBS katur, die uns, wenn sie gut ist, beim Lachen erwischt, bevor das Nachdenken einsetzen kann. Ganz egal, ob es sich moralisch richtig verhält mit unse- Dokumentationen rer Belustigung. Wenn es schlecht läuft, schlägt die Regression auch bei Furchtbar echt den Zeichnern durch. Wegen antisemi - tischer Ikonografie wurde in Deutsch- Seine Fähigkeiten als Feldherr bewies nahmen wurden mit modernster Com - land ein Karikaturist der »Süddeut- der neuseeländische Regisseur Peter putertechnik restauriert, teilweise schen Zeitung« relegiert, und kürzlich Jackson, als er den Fantasy-Klassiker »Der koloriert, in 3-D konvertiert und durch hat es auch die internationale Ausgabe Herr der Ringe« verfilmte: Er befehligte eine eigens produzierte Tonspur ergänzt. der »New York Times« erwischt. Sie eine Crew von 2500 Mitarbeitern und Man hört das Rumpeln alter Panzer zeigte Netanyahu als Dackel mit einem drehte Kampfszenen mit Tausenden Statis - und Kanonen sowie Erinnerungen von Davidstern um den Hals, da war ent- ten. Nun hat sich der dreifache Oscar- Veteranen der britischen Armee; auf schieden etwas in jenen muffigen Gra- preisträger in einen echten Krieg gestürzt: Erläuterungen von Historikern hat der ben des Ressentiments verrutscht, über den Ersten Weltkrieg. Für die Dokumen- Regisseur verzichtet. Die 90-minütige den die wenigsten Menschen erhaben tation »They Shall Not Grow Old« sichte- Dokumentation ist technisch brillant und sind. Die Konsequenz der »New York ten Jackson und seine Mitarbeiter aus- menschlich berührend. So furchtbar Times«: Ab Juli wird sie vollständig schließlich historisches Filmmaterial aus echt hat man den Ersten Weltkrieg noch auf politische Cartoons verzichten. Die dem Archiv des Imperial War Museum nie gesehen. Jackson hält »They Shall verklemmte Erklärung dazu lautete, in London – Szenen von lachenden Not Grow Old« für seinen »persönlichs- man setze auf »Nuancen und Komple- Freiwilligen bei der Ausbildung ebenso ten Film«: Sein Großvater, ein Berufs - xität« – mit anderen Worten: auf die wie Horrorbilder aus dem Schützen - soldat, kämpfte vier Jahre lang im Ersten Sprache als Rückversicherungsgesell- graben. Die mehr als 100 Jahre alten Auf- Weltkrieg (Kinostart: 27. Juni). MWO schaft. Das Bild als Blitzschlag der Erkenntnis ist offensichtlich zu gefähr- lich geworden in den Zeiten leicht zu organisierender Empörung. Das ist eine gefährliche Entscheidung. Für die Karikatur als polemisches Statement wurden vor vier Jahren acht Mit arbeiter des Satiremagazins »Charlie Hebdo« von einem islamistischen Ter- rorkommando erschossen; ein dänischer Zeichner brauchte Polizeischutz, der türkische Karikaturist Musa Kart ist im Gefängnis – und das sind nur einige Bei- spiele einer bedrohten Spezies. In Saudi- Arabien hackt man Dieben eine Hand ab. Das ist die Art Prophylaxe, an der die »New York Times« sich nun ein Bei- spiel nimmt; mit der eigenen Hand.

WARNER BROS WARNER An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Szene aus »They Shall Not Grow Old« Nils Minkmar im Wechsel.

111 Kultur

eden wir über Schuhe, über High Irgendetwas muss also in Bewegung ge- das in China bis ins 20. Jahrhundert Tra- Heels: Beim Hineinschlüpfen kommen sein, wenn viele nun die Absatz- dition war. werden die Zehen zusammen - schuhe im Schrank lassen und sich für Mo- Erst mal hat es einen schlichten Grund, R wenn viele Frauen in deutschen Großstäd- gedrückt, der Spann wölbt sich delle entscheiden, in denen sie besser ge- nach oben, dabei ziepen einige Sehnen, hen können. Möglicherweise ein Ausdruck ten oder auch in Paris – noch immer die weil sie ungewohnt stark beansprucht wer- davon, dass sich die Alltagsaufgaben und Hauptstadt der Mode – heute auf flachen den. Das Gewicht verlagert sich nach vorn, Rollenbilder von Männern und Frauen Sohlen unterwegs sind: Es ist bequemer. als ob man auf Zehenspitzen stehen würde. einen weiteren Schritt angeglichen haben. Viel bequemer. Schmerzende Füße schrän- Um das Gleichgewicht zu halten, schiebt Der Vormarsch der flachen Schuhe ken den Alltag erheblich ein. Männer kön- sich der Po nach hinten, der Oberkörper bahnte sich seit einiger Zeit an. Gegen den nen sich das kaum vorstellen: Jeden zu- strafft sich. Zwang, in Stilettos auftreten zu müssen, sätzlichen Weg überlegt man sich zwei- Schon das Anziehen ist eine Balance- hat Julia Roberts schon bei den Filmfest- mal. Die spontane Entscheidung für ei nen übung, erst recht das Gehen: Weil der Fuß spielen in Cannes 2016 protestiert. Sie lief Biergartenbesuch nach der Arbeit fällt nicht gut abrollen kann, setzt man ihn im barfuß über den roten Teppich, weil Frau- in hohen Schuhen flach. Auch das An - Ganzen auf, dabei wird das Bein aus der en in flachen Schuhen im Jahr zuvor von mieten eines Elektrorollers, der Spazier- Hüfte nach vorn geschoben. Nach wie vor Ordnern zurückgewiesen worden waren. gang im Park. 10 000 Schritte täglich, liegt das Gewicht auf dem Vorfuß. wie Fitnessexperten es empfehlen, Die Zehen beginnen als Erstes zu kann man in ihnen sicher nicht ma- schmerzen. Nach einiger Zeit tut chen. Orthopäden predigen sowie- der Fußballen weh, irgendwann so, wie ungesund das regelmäßige wird der Schmerz brennend, dann Tragen ist: ruinierte Füße, Hüft - ist es höchste Zeit, sich hinzusetzen. Kommt probleme, sogar die Halswirbel - Das schafft ein wenig Erleichterung, säule kann leiden. aber der Schuh hält den Fuß über- Doch das war noch nie anders, streckt, an Entspannung ist nicht zu und trotzdem standen Frauen vor denken. Wieder aufzustehen ist die runter, zehn Jahren noch Schlange für Sti- Hölle, die Füße, der ganze Körper lettos von Manolo Blahnik oder signalisieren: Hol mich hier raus! Louboutin. Dies ist eine Erfahrung, die etwa Seitdem aber sind Designerin- die Hälfte aller Leute gar nicht entspannt nen in der Modewelt wichtiger und kennt: die Männer. Natürlich gibt erfolgreicher geworden. Frauen ge- es Ausnahmen, Frauen, die noch hen bei ihren Entwürfen unweiger- / PRISMA

niemals hohe Schuhe anprobiert lich stärker von sich selbst aus, REX, IMAGO, N VIERIG / GETTY IMAGES; 2 REIHE V.L.N.R.: haben, und Männer, die das aus in- euch von ihren Anforderungen an den dividuellen Gründen hin und wie- Alltag. Flache Schuhe sind schon der tun. Aber bleibt man beim Zeitgeist Die Gleichheit der Geschlechter seit ein paar Saisons in größerer Durchschnitt, haben Männer keine Auswahl zu bekommen, elegant Ahnung, was es bedeutet, einen zeigt sich auch an der Höhe der Absätze. und bequem. Früher sahen diese Abend oder sogar einen ganzen Und da gibt es Fortschritte zu vermelden. Modelle oft bieder aus, nach Ge- Arbeitstag in hohen Schuhen zu sundheitsschuh, heute glitzern die verbringen; mit Absätzen über Die Ära der High Heels geht zu Ende, sogenannten Flats und haben raffi- Kopfsteinpflaster zu stöckeln, sich der silberne Birkenstock ist das Symbol des nierte Riemchen. Zu den Volant- U-Bahn-Treppen rauf- und runter- Chics der Gegenwart. Von Claudia Voigt kleidern und Midiröcken dieses zukämpfen. Sommers passen sie perfekt. Als Es scheint so, als hätte mittler- flacher Schuh gilt übrigens alles weile auch die große Mehrheit der bis zu zwei oder drei Zentimetern, / GETTY IMAGES, WIREIMAGE / GETTY IMAGES, CHRISTIA Frauen genug von solchen Strapazen. Der Festivaldirektor räumte ein, es habe das ist je nach Fuß sogar die optimale Denn wenn man sich in diesem Sommer vielleicht einen »kleinen Moment des Absatzhöhe. auf den Straßen oder auf Partys umschaut, Übereifers« beim Personal gegeben. Ver- Für die neue große Auswahl war auch in Büros oder auf Flughäfen, hat man den gangenes Jahr ging Kristen Stewart eben- entscheidend, dass sich der Einfluss der Eindruck, eine stille Revolte habe statt- falls barfuß. Straße in der Mode durchgesetzt hat, gefunden: Espadrilles, Birkenstocks, Turn- In Großbritannien hatte die Rezeptio- Sportswear und Skaterklamotten haben schuhe, Ballerinas, Mules, Mokassins oder nistin einer Beraterfirma 2016 behauptet, das Design selbst traditioneller Marken Sandalen – überall flache Schuhe an den sie sei nach Hause geschickt worden, weil beeinflusst. Längst vermischt sich, was in Füßen von Frauen. sie entgegen der betrieblichen Vorschriften der Freizeit und bei der Arbeit getragen Vor nicht allzu langer Zeit sah das noch in flachen Schuhen zur Arbeit erschienen wird – weil sich auch Freizeit und Arbeit ganz anders aus, da wurde das Tragen von sei. Eine Petition mit mehr als 150000 Un- vermischen. High Heels als weibliche Ermächtigungs- terschriften führte dazu, dass sich das bri- Die berühmte Work-Life-Balance ist geste gedeutet. tische Parlament mit dem Thema befasste. Herausforderung genug, in High Heels ist Höllisch unbequem waren sie natürlich 2017 wurde in Kanada, in der Provinz Bri- sie nicht zu schaffen. Viele Frauen legen trotzdem. Aber Schuhe sind nun mal nicht tish Columbia, ein Gesetz geändert, um Tag für Tag einiges an Strecke zurück, auf irgendein Kleidungsstück. Sie haben eine Frauen vor Schuhvorschriften am Arbeits- flachen Schuhen ist man da einfach VALENTINA RANIERI / PICTURE ALLIANCE / DPA; 3 REIHE V.L.N.R.: IMAGO, NEWS PICTURES / ALL4PRICES, IMAGO, CHEN YICHEN / PHOTOSHOT / ALL4PRICES, IMAGO, PICTURES NEWS IMAGO, 3 REIHE V.L.N.R.: ALLIANCE / DPA; RANIERI / PICTURE VALENTINA Wirkung auf das Körpergefühl und auf die platz zu schützen. Und in Japan organi- schneller unterwegs, sie sind auch weni- VIERIG CHRISTIAN PICTURE-ALLIANCE, RANIERI / DPA VALENTINA 1 REIHE V.L.N.R.: Haltung. Die meisten Männer registrieren, siert die 32-jährige Yumi Ishikawa unter welchen Schuh eine Frau trägt. Frauen wis- dem Hashtag #KuToo gerade eine Bewe- Flache Schuhe sen das. Deswegen ist die Schuhfrage im- gung mit ähnlichem Ziel. Sie fühle sich an im Straßenbild, auf Modenschauen mer auch eine Geschlechterfrage. das Füßebinden erinnert, sagte Ishikawa, Mehr Stehvermögen

112 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019

Kultur ger formell. Wenn Milliardäre in Chinos tigen Gedanken formuliert. Schuhe sind stimmen das vorherrschende weibliche oder Shorts auftreten, verändert das selten einfach nur Schuhe. Weil der ge- Selbstbild. Dass auch in diesem Konzept etwas – die Avantgarde unter den Erfolg- wölbte weibliche Fuß und der Absatz- eine Falle liegt, dass es sehr anstrengend reichen verweigert den Gestus des For- schuh spätestens seit Beginn des 20. Jahr- werden kann, unangestrengt zu wirken, mellen. So wie die Schauspielerin Fran - hunderts als Ausdruck femininer Anmut sollte erwähnt werden. Wenigstens kön- ces McDormand, die im Februar zur gelten, sendet eine Frau mit der Auswahl nen sich die Füße in flachen Schuhen ent- Oscarverleihung in Birkenstockschuhen ihrer Schuhe unweigerlich ein Signal. Au- spannen. erschien. Das muss man sich leisten ßer vielleicht mit einem Gummistiefel. Am besten gelingt das in Birkenstock- können. Wollte man den vielen flachen Schuhen, sandalen, und der Erfolg dieser Marke in Pumps wirken dagegen plötzlich ange- die nun überall zu sehen sind, eine theore- den vergangenen Jahren zeigt, dass sich strengt und bieder. Das wurde deutlich, als tische Überhöhung geben, müsste sie wohl viele Frauen endgültig nicht mehr um den Meghan Markle ihren neuge- Rat ihrer Mütter scheren, ein borenen Sohn der Presse Absatz würde das Bein op- präsentierte. Zwei Tage nach tisch strecken. Birkenstock- der Geburt im Mai trat sie in sandalen lassen den Fuß beigen Pumps auf, man plump erscheinen, ein wenig konnte erkennen, dass ihre sehen Frauen darin aus, als Füße noch geschwollen wa- hätten sie Playmobil-Füße. ren, trotzdem hatte sie sich Aber die Sandalen sind nun in dieses Modell gezwängt. mal unfassbar bequem. Und Flache Schuhe wären für sie luftig. Und leicht, weil ihr komfortabler gewesen und Fußbett aus Kork besteht. ein Zeichen an alle Mütter Allein für dieses Ge- und Frauen draußen in der schäftsjahr geht man bei Bir- Welt: Kommt runter, ent- kenstock von einem 20-pro- spannt euch. zentigen Umsatzplus aus. Wie schnell das ging. Und das, obwohl sich das Es ist noch gar nicht so Unternehmen nach einem lange her, dass der Lipstick- Streit mit Amazon entschie- Fe minismus High Heels fei- den hat, Birkenstockschuhe erte. Weil sie eine Frau grö- nicht mehr über den Online- ßer machen, sie auf Augen- händler zu vertreiben. Auch höhe mit Männern bringen ein Angebot der amerikani- und ihr Erhabenheit verlei- schen Skatermarke Supreme hen können. Der verlang- für eine Kooperation wurde samte, wacklige Gang in den von Birkenstock abgelehnt, Dingern ließ sich feminis- ob wohl alles, wo Supreme mustheoretisch allerdings draufgeduckt ist, fantas - nie ganz auflösen. Die tische Absatzzahlen erreicht. Fernsehserie »Sex and the Teenies weltweit sind ver- City« machte High Heels rückt danach. endgültig populär. Darin Doch für das Familienun- wurde ein hedonis tischer ternehmen in Rheinland- Frauentyp gefeiert, der die Pfalz laufen weltweit Pro- eigene Sexualität genoss, minente Werbung, ganz durch eine be rufliche Karrie- umsonst. Nicht wenige weib- re unabhängig war und sich liche Hollywood stars sind aus freier Entscheidung schon in Birkenstocks abge- viele bunte, hohe Schuhe lichtet worden. Und nachdem kaufte, um darauf auf PRESS / ACTION FACE TO WIESE / FACE die Gesundheitsschlappen in Männerjagd zu gehen. Es Szene aus »Sex and the City – der Film«, 2008: Brennender Schmerz diesem Jahr bei den Oscars war gute Laune im Spiel, von Frances McDormand der Erfolg war groß. Die Kritik fiel deut- so aussehen: In ihnen lässt es sich besser zum Haute-Couture-Kleid kombiniert wur- lich aus: Verherrlichung des Kapitalismus, vorankommen, sie verleihen Frauen Steh- den, sind sie endgültig auch sommerfest- ein Frauenbild, das sich dem männlichen vermögen. Wenn Männer und Frauen glei- tauglich. Blick unterwirft. chermaßen auf flachen Sohlen stehen, gibt Und was wird im Winter sein? Birken- Schon im Feminismus der Sechziger- ihnen das auch am Arbeitsplatz eine an- stocks mit Socken sind nur etwas für wirk- und Siebzigerjahre war das ein entschei- dere Art von Augenhöhe, von gleich zu lich Modemutige. In der dunklen Jahres- dendes Argument gegen hohe Schuhe, nur gleich sozusagen. Mehr Selbstverständnis, zeit werden Boots mit dicken Sohlen oder gab es damals wenig elegante Alternativen. weniger »Achtung, eine Frau«. im Cowboystil und Doc-Martens-Stiefel Simone de Beauvoir schrieb, dass die Von Frauen in westlichen Großstädten für den schnellen, sicheren Schritt sorgen. Emanzipation mit der Schuhfrage beginne, werden High Heels häufig nur noch mit Der flache Schuh zum Kleid oder zum damit, dass eine Frau sich traue, nicht das ironischer Geste getragen, als Zitat einer Rock passt so unschlagbar gut zum Leben zu tragen, was Männer schick fänden, son- Sexiness, der man eine Party lang huldigt, der Frauen, wie es heute ist, dass er nicht dern das, was ihren Füßen guttue und Lust doch die Sneakers für den Weg nach Hau- mehr aus der Mode kommen wird. Wie am Laufen mache. Damit hat Beauvoir se hat man im Stoffbeutel schon mitge- die Jeans. auch zu diesem Thema einen bis heute gül- bracht. Flexibilität und Natürlichkeit be-

114 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Fragen Sie im Buchhandel nach der kostenlosen Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Sommerausgabe! Belletristik Sachbuch

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5 (4) Dörte Hansen 5 (–) Ursula Ott Das Haus Mittagsstunde Penguin; 22 Euro meiner Eltern hat viele Räume 6 (6) Simon Beckett btb; 18 Euro Die ewigen Toten Wunderlich; 22,95 Euro Die Eltern gehen, das 7 (10) Sibylle Berg Haus muss leer geräumt GRM Kiepenheuer&Witsch; 25 Euro werden: ein persönlicher, kluger Bericht über den 8 (8) Saša Stanišić Abschied von den Dingen und der Kindheit. Herkunft Luchterhand; 22 Euro

9 (7) Martin Walker 6 (5) Meike Winnemuth Menu surprise Diogenes; 24 Euro Bin im Garten Penguin; 22 Euro

10 (11) Alina Bronsky Der Zopf meiner 7 (7) Greta Thunberg/Svante Thunberg/ Großmutter Kiepenheuer&Witsch; 20 Euro Malena Ernman/Beata Ernman Szenen aus dem Herzen S. Fischer; 18 Euro 11 (–) Paluten/Klaas Kern Freedom. Die Schmahamas-Verschwörung 8 (6) Harald Jähner Wolfszeit Rowohlt Berlin; 26 Euro Community Editions; 12 Euro 9 (–) Gustav Dobos 12 (14) Walter Moers Das gestresste Herz Scorpio; 20 Euro Comedy vom Feinsten! Der Bücherdrache Penguin; 20 Euro Für alle Fans von Annette Frier und 10 (8) Jürgen Todenhöfer 13 (12) Leïla Slimani All das Die große Heuchelei Propyläen; 19,99 Euro Christoph Maria Herbst gibt es die zu verlieren Luchterhand; 22 Euro TV-Miniserie „Merz gegen Merz“ jetzt 11 (10) Marcel Eris/Dennis Sand 14 (17) John Ironmonger Der Wal und MontanaBlack Riva; 19,99 Euro auf DVD und Blu-ray: Lesen Sie mehr das Ende der Welt S. Fischer; 22 Euro erlesen- 12 (11) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für dazu in der Sommerausgabe! 15 (9) Axel Milberg das 21. Jahrhundert C.H. Beck; 24,95 Euro Düsternbrook Piper; 22 Euro 13 (9) Andreas Michalsen Sommerzeit ist Lesezeit – ob im 16 (15) Sebastian Fitzek Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro Strandkorb, im Garten oder auf dem Der Insasse Droemer; 22,99 Euro 14 (13) Sebastian Fitzek Fische, die auf Balkon! Wer noch die passende Bäume klettern Droemer; 18 Euro 17 (–) Colson Whitehead Urlaubslektüre sucht, findet in der erlesen- Die Nickel Boys Hanser; 23 Euro 15 (12) Anne Fleck aktuellen Ausgabe jede Menge Ran an das Fett Wunderlich; 24,99 Euro Buchtipps. Sommerlich leichte Unter- 18 (–) Mariana Leky Was man von hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro 16 (19) Theo Waigel Ehrlichkeit ist haltungsromane sind ebenso dabei wie eine Währung Econ; 24 Euro spannende Krimis und Thriller. 19 (–) David Baldacci Ausgezählt Heyne; 22 Euro 17 (14) Andrea Wulf Die Abenteuer des Alexander von Humboldt 20 (–) Anne Frank C. Bertelsmann; 28 Euro Auf buchaktuell.de finden Sie News aus Liebe Kitty der Welt der Bücher, SPIEGEL- Best seller 18 (20) Harald Welzer Alles könnte Secession; 18 Euro anders sein S. Fischer; 22 Euro sowie Online-Gewinnspiele!

In diesem Monat wäre sie 19 (15) Jürgen Kaube Ist die Schule zu blöd 90 Jahre alt geworden. Aus ihrem inzwischen für unsere Kinder? Rowohlt Berlin; 22 Euro weltberühmten Tagebuch machte Anne Frank 20 (17) Dieter Nuhr 1944 einen Briefroman. Gut für dich! Lübbe; 15 Euro kundenmagazine 115 www.buchaktuell.de Feueralarm

Intellektuelle Die Suche nach Sicherheit in unsicheren Zeiten: Die Bundesrepublik feiert den 90. Geburtstag von Jürgen Habermas inmitten einer neuen Diskussion über rechte Gewalt. PETER JUELICH / DER SPIEGEL Jubilar Habermas am Mittwoch in der Frankfurter Universität: »Zwangloser Zwang des besseren Arguments«

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ürgen Habermas kramt nach seiner Es wird kein gemütlicher, in Nostalgie wenig schief in der politischen Landschaft Lesebrille, dann wieder nach einer schwebender Abend, sondern eine echte zu stehen schien: Kann die Bundesrepu- J anderen Brille, und schließlich Vorlesung, der meisterlich komponierte blik es sich leisten, eine »erweiterte Tole- warnt er sein Publikum: Er werde Vortrag eines effektsicheren Popstars des ranz in Richtung rechts« zu entwickeln? die Anwesenden zugleich »enttäuschen Denkens. Eine Stunde lang spricht Haber- Das hatte vergangene Woche der frühere und strapazieren«, denn er habe einen aka- mas, es geht um Kant und Hegel und Marx, Bundespräsident Gauck im SPIEGEL- demischen, sprich komplizierten Vortrag um den kategorischen Imperativ und das Gespräch gefordert. Gauck meint, dass vorbereitet und könne das nun auch nicht geschichtliche Denken, um schließlich in nicht jeder, der rechts wählt oder denkt, mehr ändern. unserer aufgewühlten Gegenwart zu lan- automatisch ein Rechtsradikaler sein muss. Alles andere wäre auch eigenartig ge- den. Eine gnadenlose Geschichte und eine Und dass die Idee westlicher Toleranz wesen. Habermas hat noch selten Rück- komplizierte Philosophie, die Habermas eben auch bedeute, die Zumutung anderen sicht auf das Publikum genommen. Es ist entwickelt. Und indem er es tut, zeigt er Denkens auszuhalten. Mittwochabend, und gut 3000 Menschen die von ihm empfohlene Lösung aus dem Aber nun, nach dem Anschlag auf Wal- sind in das Hörsaal-Zentrum der Frankfur- Schlamassel der Moderne: darüber reden. ter Lübcke: mit Rechten reden? ter Johann Wolfgang von Goethe-Univer- Mit dem aber ist es, etwa eine Stunde Habermas selbst hat sich vor einiger sität gekommen. nachdem die Veranstaltung begonnen hatte, Zeit so geäußert: Man solle »diese Art von 3000 Leute. Um einen Philosophen zu auch schon vorbei: Der Saal muss wegen ›besorgten Bürgern‹, statt um sie herum- sehen. Wahrscheinlich gab es das nicht mal Feueralarm geräumt werden. Bestimmt ein zutanzen, kurz und trocken als das abtun, in Athen, damals bei Aristoteles oder Pla- Fehlalarm, wie die Universitätspräsidentin was sie sind – der Saatboden für einen ton. Und bei Kant in Königsberg sowieso gleich dazusagt. Aber aus rechtlichen Grün- neuen Faschismus«. nicht. Es ist der Höhepunkt der großen Fest- den müssten erst mal alle raus. Es gibt allerdings eine berühmte, auf spiele zu Ehren von Jürgen Habermas. Ei- Ein Feueralarm. ihn zurückgehende Formel, durch die sich nen Tag zuvor, am 18. Juni, war er 90 Jahre Geht es symbolischer? Bei der Geburts- die Sache ein wenig verkompliziert: die alt geworden. Die Feuilletons des Landes, tagsfeier des großen Philosophen der Kom- Gleichheit aller und die Freiheit jedes Ein- Radio- und Fernsehsender gratulierten munikation muss der Saal wegen eines zelnen. Sie steht dafür, wie Habermas in ihm – und irgendwie gratulierte sich die Fehlalarms geräumt werden. Leben wir den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Bundesrepublik dabei ein bisschen selbst. nicht mittlerweile so? In einem ständigen Ideen der Französischen Revolution wei- Die Republik ist 70 geworden, das Alarmmodus? tergedacht hat. Grundgesetz ebenso. Habermas ist einer Greta Thunberg, ungleich jünger als der Wer dem folgend über Gaucks Aussage der geistigen Väter dieses Landes. Schöp- Meister und keine philosophische Denke- nachdenkt, kann zu einer unbequemen Er- fer großer bundesrepublikanischer Leitbe- rin, hat Anfang des Jahres in Davos einen kenntnis kommen: Die Freiheit jedes Ein- griffe. »Verfassungspatriotismus« zum Bei- Ausspruch von biblischer Wucht getan: zelnen schließt Meinungs- und Gedanken- spiel. »Herrschaftsfreier Diskurs«. »Struk- »Our house is on fire.« Und: »I want you freiheit auch für diejenigen nicht aus, die turwandel der Öffentlichkeit«. to panic.« Fürchtet euch, das Haus steht jenseits der herrschenden linksliberalen Der Mann, der, wie viele seiner Gene- in Flammen. Ein Ausspruch wie von einer Meinung stehen. Das soll nicht heißen, ration und die von ihm geprägten 68er, Endzeitpredigerin, einer Warnerin vor der dass rechte Mörder oder rechte Hassred- von links außen in die Gesellschaft der Apokalypse. ner ungestraft bleiben. Aber eine offene Bundesrepublik eingewandert ist, der das Gesellschaft muss politischen Widerspruch Erbe der Kritischen Theorie weiterführte Die Leute fürchten sich wieder. Die grundsätzlich ertragen. Sie muss die Aus- und sie in ein liberales Denksystem über- einen vor dem Klimawandel, die anderen einandersetzung suchen. führte – er ist zum intellektuellen Symbol vor Flüchtlingen. Die einen vor dem so- Es gibt noch einen anderen, noch be- dieses Landes geworden. zialen Abstieg, andere vor Trump, vor rühmteren Habermas-Satz: »Der zwang- Die große öffentliche Anteilnahme zu Iran, vor Krieg. lose Zwang des besseren Arguments.« Habermas’ Geburtstag aber ist dabei nicht Auch die Nachricht, dass der tödliche Nicht die schneidige Anklage, der Vorwurf allein durch Werk und Person motiviert – Schuss auf den Kasseler Regierungspräsi- sollte die Form sein, in der sich die politi- sondern auch von kollektiver Verlustangst. denten Walter Lübcke wohl ein rechts - schen Lager der Bundesrepublik begegnen. Wird das Gedankenfundament, auf dem extremer Mordanschlag war, der erste auf Sondern die gründliche Diskussion. die Bundesrepublik errichtet worden ist, einen Politiker in der Geschichte der Bun- Denn, das ist der Kern des Werks von auch künftig die Basis sein, auf die das desrepublik, ist eine Nachricht zum Fürch- Jürgen Habermas: Man wird nicht durch Land sich verständigen kann? ten. Bekannt wurde sie zwei Tage vor dem das Selbstgespräch zum moralischen Oder ist der Aufstieg der Rechtspopu- 90. Geburtstag von Jürgen Habermas. Menschen, und ein gutes Gemeinwesen listen, erst im europäischen Ausland, dann Es sind nicht nur die großen Nachrich- organisiert sich nicht spontan – all das auch hier, ein Vorbote des Übergangs? Ein ten, die sich zu einem Bild verdichten. passiert nur im Streit, im Diskurs. Haber- Vorbote des Wandels von der liberalen hin Dass die Kanzlerin einen Schwächeanfall mas spricht vom »Maulwurf der Ver- zur illiberalen Demokratie? Wir leben in hatte, sie, die bislang scheinbar unerschüt- nunft«, der immer weiter gräbt und nur einer Zeit schwindender Gewissheiten. terliche Garantin stoischen Regierens – es insofern blind ist, als er nicht weiß, ob das Was bleibt? Ein 90-jähriger Philosoph. könnte eine Petitesse sein. In den Zeiten Hindernis, auf das er stößt, vielleicht un- Etliche junge Leute sind da. Aber auch des Niedergangs der Großen Koalition überwindbar ist. Kollegen und Weggefährten der vergange- wirkt das Zittern fast schon wie ein Mene- Den Feueralarm in Frankfurt selbst nen Jahrzehnte, der Soziologe Oskar Negt, tekel. Die scheinbar ewige bundesdeutsche kommentiert Habermas nicht. der Philosoph Axel Honneth, der Publizist Stabilität geht zu Ende. Die alte Bundes- Er bedankt sich nur für die zusätzliche Micha Brumlik. Politiker im Ruhestand republik, das Land von Habermas, stellt Publizität, für die der Alarm nun sorge: wie Rupert von Plottnitz und Roland sich auf unruhige Zeiten ein. Dafür brauche es »sonst ja die Unterstüt- Koch, der eine von den Grünen, der ande- Begonnen hatte die Woche, in der Ha- zung eines YouTubers«. re vom rechten Flügel der Hessen-CDU. bermas seinen Geburtstag feierte, mit Sebastian Hammelehle, Nils Minkmar, Sie waren mal politische Kontrahenten. einer Debatte, die nach den Nachrichten Tobias Rapp Habermas vereint sie alle. zu dem Anschlag auf Lübcke plötzlich ein

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 117 Kultur

löst betrachtet werden. Die Münchner His- torikerin Yuliya von Saal, 39, kommt nach Hölle auf Erden Sichtung des Hillers-Nachlasses zu dem Ergebnis, dass der Bestseller aus dem Jahr 2003 nur zu 35 Prozent aus jenen Tage- Bestseller Wie authentisch sind die Tagebücher der »Anonyma« über buchnotizen besteht, die Marta Hillers die Vergewaltigungen im Berlin des Jahres 1945? Eine Historikerin zwischen dem 20. April und dem 22. Juni hat die Originaldokumente gesichtet und Manipulationen festgestellt. 1945 angefertigt hat*. Ein größerer Teil wurde erst Anfang der Fünfzigerjahre geschrieben – allerdings von der Autorin anche Geschichten sind bekannt- Autor Kurt Marek befreundet war – er hat- selbst. Eine Mitwirkung Mareks, so bilan- M lich zu perfekt, um wahr zu sein. te unter dem Pseudonym C.W. Ceram den ziert die Historikerin, sei »sehr unwahr- Dass dies auch bei den Tagebü- Bestseller »Götter, Gräber und Gelehrte« scheinlich«. chern der »Anonyma« der Fall sein könn- veröffentlicht –, spekulierte der »SZ«-Re- Yuliya von Saal verdankt diese Erkennt- te, schien zunächst wenig wahrschein- dakteur auf eine Co-Produktion von Hil- nis einer Initiative von Mareks Sohn Max. lich, zu gut sind die darin geschilderten lers und Marek. »Es ist möglich«, so Der hatte 2016 das komplette Material Vergewaltigungen durch Soldaten der schrieb er, »dass sie Marek Papiere über- des »Anonyma«-Buchs dem Münchner Roten Armee auch andernorts do- gab, und dieser daraus Institut für Zeitgeschichte übergeben. kumentiert. Als das Buch 2003 ein Buch machte.« Neben Briefen und anderen Dokumenten unter dem Titel »Eine Frau in Nun, 16 Jahre später, handelte es sich dabei vor allem um drei Berlin. Tagebuchaufzeichnungen darf das Rätsel als ge- Schreibhefte mit handschriftlichen Noti- vom 20. April bis 22. Juni 1945« in der Anderen Bibliothek er- schien, wurde es von der Kritik als »unmittelbares historisches Zeugnis« gefeiert, man lobte das »hohe Reflexionsvermögen« der unbekannten Autorin und die besondere »Schonungs losigkeit« ihres Textes. Hillers 1946 Der historische Stoff hätte auch kaum dramatischer sein können: Eine junge Berlinerin erlebt das Ende des NS-Regimes und die siegreichen sowjeti- schen Eroberer am eigenen Leib. Immer wieder wird sie vergewaltigt, schließlich sucht sie sich einen»Wolf«, der ihr »die Wölfe vom Leib hält«, und flüchtet in die Arme eines russischen Majors. Erzählt wird das alles in einem coolen, schnoddri- gen Ton, der in einem merkwürdigen Wi- derspruch zur Ungeheuerlichkeit des »Schändungsbetriebes«, wie die »Anony- ma« das apokalyptische Treiben nennt, zu stehen scheint. Nur einer scherte 2003 aus dem Jubel- chor aus, Jens Bisky, Redakteur der »Süd- deutschen Zeitung«. Der Kritiker schrieb von einem »gut inszenierten Rätsel«, das der Eichborn Verlag und sein Herausgeber Hans Magnus Enzensberger den Lesern aufgegeben hätten. Tatsächlich fehlten im Vorwort des Buchs alle Angaben, die zu einer historischen Bewertung dieser Auf- zeichnungen notwendig gewesen wären – nicht nur der Name der Autorin, sondern, viel wichtiger noch, Hinweise auf die Ent- stehungszeit des gesamten Werks. Bisky gelang es, die Berliner Journalis- tin Marta Hillers (1911 bis 2001) als Auto- rin der »Anonyma« zu enttarnen. Zudem äußerte er erhebliche Zweifel an der Au- thentizität des Textes. Da Hillers mit dem

* Yuliya von Saal: »Anonyma: ›Eine Frau in Berlin‹. ULLSTEIN BILD ULLSTEIN Geschichte eines Bestsellers«. In: »Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte«, 67/2019, Seite 343 bis 376. Rotarmisten, Passantin in Leipzig 1945/46: Symbol der totalen Niederlage

118 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 zen sowie eine im Sommer 1945 dukt«. Im Buch findet sich man- verfasste Schreibmaschinenab- che kritische Passage über Hitler schrift. und die »Nazis«, die im Original Dank dieser Quellen konnte nicht existierte. Tatsächlich war Saal die Entstehung des Werks bis Marta Hillers eine Mitläuferin wie ins Detail rekons truieren. Kurt Millionen andere, sie arbeitete als Marek spielte dabei in der Tat freie Journalistin für Zeitungen eine wichtige Rolle, aber eben und Zeitschriften, die das natio- nicht als Co-Autor, sondern als Be- nalsozialistische System stützten rater und Agent im internationa- und nicht infrage stellten. len Buchmarkt. Manche Korrektur sollte sie of- Marek war es, der Marta Hil- fenbar im Nachhinein unangreif- lers davon überzeugte, ihre Tage- bar machen. Die Tatsache, dass bücher so zu bearbeiten, dass sie sie in den frühen Dreißigerjahren all das enthielten, was ein Buch auch mal ein aktives Mitglied der zum Erfolg braucht, neben KPD gewesen war, wird nur mit persönlichen Erlebnissen auch all- der Bemerkung angedeutet, dass gemeine Reflexionen und politi- ihr »in jungen Jahren« die »rote sche Kommentare – was zur Folge Fahne« so »leuchtend« erschie- hatte, dass sich allein der Umfang nen sei. Auch ihre Behauptung, im Verlauf dieses Prozesses fast sie spreche nur sehr schlecht Rus- verdoppelte. Während die Noti- sisch, war bestenfalls Tiefstapelei. zen in den drei Heften aus dem Tatsächlich beherrschte sie die Jahr 1945 noch aus gut 49000 Sprache jener Männer, die ihr im- Wörtern bestanden, enthält das merzu auflauerten, nach einem Buch heute mehr als 91000. längeren Moskau-Aufenthalt vor Die erste Ausgabe erschien dem Krieg sehr gut. nicht etwa auf Deutsch, sondern Hillers hat fast alle Spuren ge- 1954 in den USA. Marek, einst Ro- tilgt, die ihre Anonymität aufhe- wohlt-Lektor, hatte dort den Kon- ben könnten. Sie stellt sich als takt zu einem Verleger hergestellt / DER SPIEGEL DIETER MAYR »blasse Blondine« vor, obwohl sie sowie ein Vorwort beigesteuert. Wissenschaftlerin Saal mit Hillers-Tagebuch brünette Haare hatte. Sie ver - Bald folgten Übersetzungen in Rätsel gelöst ändert sämtliche Namen der Sol- zwölf weitere Sprachen, 15 Jahre daten, Freunde und Nachbarn. später hatte sich das Buch bereits weltweit manchmal ließ sie sich in ihrer Not bewusst Auch die Umstände der Trennung von ih- 750000-mal verkauft. auf Beziehungen mit Rotarmisten ein, die rem Geliebten, der im Juni 45 zu ihr zu- Eine deutsche Ausgabe wollte Marta sie mit Nahrungsmitteln entlohnten. Beson- rückgekehrt war, werden verschleiert. In Hillers anfangs nicht zulassen, zu groß ders die ersten Wochen der sowjetischen Wahrheit zerbrach die Liaison nicht an schien die Gefahr einer Enttarnung ihrer Präsenz in Berlin, von Ende April bis Mitte den erzwungenen Beziehungen mit den Person als Autorin und damit auch als Op- Mai 1945, müssen für Hillers die Hölle auf Rotarmisten, sondern an ganz banalen fer der Vergewaltigungen. Doch Marek Erden gewesen sein. Streitereien über »Fress-, Sauf-« und überredete sie auch zu diesem Schritt, fand Doch die täglichen Notizen haben bis »Rauchprobleme« des Freundes, wie sie allerdings zunächst keinen Verleger. zur Veröffentlichung eine weitgehende in den Originalaufzeichnungen notierte. Schließlich veröffentlichte ein Genfer Metamorphose erfahren. Betrachtungen Mitunter dramatisierte sie den ohnehin Kleinverlag das Buch 1959 – und erzielte über den Zusammenbruch der Zivilisation schon dramatischen Stoff auf fragwürdige einen krachenden Miss erfolg. Nicht ein- und die Verfügbarkeit des weiblichen Kör- Weise. Im Buch ist Ende Mai vom Aus- mal 3000 Bücher wurden verkauft. Noch pers etwa werden hinzugefügt. Auch das bleiben ihrer Menstruation die Rede, von wollte kaum jemand in Deutschland an Verhältnis zu dem sowjetischen Major ihrer Angst, schwanger geworden zu sein – dieses schreckliche Kapitel, das Symbol wird seltsam überhöht und so dargestellt, und schließlich von ihrem Besuch bei der totalen Niederlage schlechthin, erin- als hätte sie die Regeln dieser Beziehung einer Gynäkologin am 7. Juni, die sie be- nert werden. bestimmt – eine Passage, die im Original- ruhigt und die das Ausbleiben der Regel- Das änderte sich erst 2003 mit der von text fehlte und die wie so viele andere blutung als Folge des Hungers erklärt Hans Magnus Enzensberger angeregten Betrachtungen erst in der Rückschau ent- habe. Im Originaltext hingegen notierte Neuauflage. 13 Wochen lang stand das standen ist. sie schon am 30. Mai: »Im Rücken zieht Buch auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, wei- Andererseits löscht sie nahezu alles, was es – meine Tage haben begonnen, es ist tere Übersetzungen folgten. 2008 wurde auf eine emotionale Nähe schließen lässt. nichts mit meinem kleinen Ruski.« Und das Buch unter der Regie von Max Färber- Als sie von einem anderen Offizier, dem am 7. Juni ging sie laut Originaltext auch böck und mit Nina Hoss in der Hauptrolle Vorgänger des Majors, eines Tages verlas- nicht zu einer Gynäkologin, sondern zu auch noch verfilmt. sen wurde, notierte sie im Tagebuch noch: einer Zahnärztin, die ihr einen Weisheits- Dass Marta Hillers immer wieder per- »Mir ist ein wenig weh, ein wenig leer zu- zahn zog. sönlich zum Opfer der von ihr beschriebe- mute – ich fing an, ihn gern zu haben.« Im »Wer ein authentisches Zeitdokument nen Vergewaltigungen geworden war, steht Buch findet sich der Satz nicht mehr. lesen will«, so empfiehlt Yuliya von Saal außer Frage. Im handschriftlichen Original- Auch alle Aussagen, die »auf eine welt- allen Historikern, »muss zu Marta Hillers’ tagebuch werden die Attacken der Rotar- gewandte, selbstbewusste und dem NS- handschriftlichen Aufzeichnungen grei- misten stets mit dem Begriff »Schändung« Regime distanziert gegenüberstehende Au- fen« – und »nicht zum literarisierten Tage- protokolliert. Hillers litt zudem furchtbaren torin schließen lassen«, erweisen sich, wie buch der ›Anonyma‹«. Martin Doerry Hunger, so wie die meisten Berliner damals, Saal feststellt, als »nachgeschobenes Pro-

119 120 Künstlerinnen Kampagne versucht sienun,diePharmaunternehmer SackleralsKunstmäzene untragbar zu machen. Die US-Fotografin Nan Goldinwar abhängigvon Opioiden,starbfastdaran. Ineiner Die Droge Geld Aktivistin Goldin: Eine große, sogar übergroße HeldindesProtestes Kultur

ALEC SOTH / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS ie Stimme von Nan Goldin ist ein- die Gefahren bewusst verharmlost zu ralförmigen Gängen der Rotunde flatter- dringlich. Manchmal eine Spur haben. ten Flugblätter herab, auf denen unter an- D schleppend, dann energisch. Sie Lange galten die Sacklers allerdings als derem zu lesen war: »Sacklers lie, people ist in New York am Telefon, und Vertreter eines strahlenden Amerikas. Er- die«. Die Sacklers lügen, Menschen ster- jede Silbe klingt nach, prägt sich ein, das folgreich, reich, spendabel. Als Purdue ers- ben. Goldin legte sich auf den Boden, war ist gut, denn sie hat Wichtiges zu sagen. te Prozesse wegen Oxycontin verlor, wirk- umrahmt von diesen Zeilen. Goldin, geboren 1953, ist eine weltbe- te sich das kaum auf ihren blendenden Ruf Längst hatte sie außerdem die Londoner rühmte Fotografin. Am kommenden Don- aus. Man nannte sie immer noch lieber National Portrait Gallery wissen lassen, nerstag wird sie in Hannover eine Aus- Philanthropen als Unternehmer. Mit ihren dass sie dort nicht ausstelle, wenn das Mu- zeichnung für ihre künstlerische Leistung Spenden bedachten sie Universitäten, aber seum eine Sackler-Spende von mehr als entgegennehmen. Aber im Augenblick auch viele Museen, in den USA, in Europa. einer Million Euro annähme. Das Museum führt sie vor allem einen Kampf. Über Im New Yorker Metropolitan Museum, einigte sich mit den Sacklers, dass erst ein- den will sie reden. im Pariser Louvre, in der Royal Academy mal kein Geld fließen solle. Eine politische Künstlerin war sie von in London wurden dafür Gebäudeflügel Der Druck wuchs, etliche Museen ha- Anfang an, aber seit einiger Zeit ist sie zu- nach ihnen benannt. Im Londoner Victoria ben inzwischen gesagt, sie würden auf dem eine echte Aktivistin, ihr Thema ist die & Albert Museum trägt ein Hof ihren Na- Zuwendungen der Sacklers verzichten – Opioidkrise (SPIEGEL 33/2017). Die habe, men, im Hyde Park steht die renommierte eben auch das von Hollein geführte Me- wie sie sagt, in den USA 400000 Men- Ausstellungshalle Serpentine Gallery – tropolitan Museum. schen getötet und werde Schätzungen zu- und ihr Ableger, die Serpentine Sackler Goldin verrät, dass sie in Europa bald folge in den kommenden sechs Jahren wei- Gallery. Viele weitere Institutionen wur- eine weitere Aktion plane, »Aktionen tere 700000 umbringen, wenn sich die bis- den beschenkt. sind unsere Art zu kommunizieren«. herige Entwicklung fortsetze. »Die Durch das Einbeziehen der Öffent- Menschen sterben und sterben.« lichkeit »machen wir daraus eine Es ist ein Tod auf Rezept, denn sexy Performance«. die Schmerzmittel, die in kurzer Sie weiß, wie sie Bilder erzeugt, Zeit abhängig machen, sind ver- wie sie einer Gesellschaft, oder schreibungspflichtig. Pharmaunter- zumindest einem Teil davon, die nehmen hätten »des Profits wegen« Augen öffnet. ein Interesse daran gehabt, Ärzte Und ihre mächtigen Gegner, die dazu zu drängen, die Medikamente Sacklers? Der Sackler Trust ist übermäßig zu verschreiben, sagt eine der mäzenatischen Stiftungen, Goldin. Sie will nicht, dass dieser die auch der Pflege des Familien- »riesige« Medizinskandal in Verges- namens dienen. Auf der Website senheit gerät. hat Theresa Sackler ein Statement Der Künstlerin selbst wurde – veröffentlicht, sie ist die in England trotz früherer Drogenprobleme – lebende Witwe von Mortimer Sack- vor einigen Jahren einer dieser ler, der die Firma Purdue jahrzehnte - Schmerzkiller verordnet, der ähn- NAN GOLDIN lang mit führte. In dem kurzen Text liche Eigenschaften wie Morphium Goldin-Fotografie »Dope on My Rug, New York«, 2016 erwähnt die Verfasserin die »fal- hat. Verschrieben wurde er ihr zu- Abhängig über Nacht schen Anschuldigungen«, gegen die erst in Berlin, wo sie sich einer Ope- man sich nun wehren müsse. ration unterzog. Sie sei »über Nacht« wie- Museen aber gehören einer Sphäre an, Das Ansehen dieser Familie hat gelitten. der abhängig geworden, schrieb sie darü- in der auch Goldin zu Hause ist, in der ihr Doch natürlich bleibt es ein grundsätzli- ber. Irgendwann ließ sie sich Lieferungen Name so viel gilt wie jener der Sacklers. ches Dilemma, das vor allem die USA und per FedEx schicken. Zurück in ihrer Hei- Und sie beschloss, dort gegen ihre Gegner all die anderen Länder betrifft, in denen mat New York, fand sie einen Dealer, der anzutreten. Mit ihren Verbündeten fegte die Kultureinrichtungen zu großen Teilen sie rund um die Uhr versorgte. sie wie ein Orkan durch die ruhmreichsten durch private Zuschüsse finanziert werden. Das Präparat, das die Herrschaft über Kunsttempel. Die stehen noch und sind Um an Spenden zu kommen, müssen sich sie übernommen hatte, heißt Oxycontin, doch nicht mehr dieselben. die Museumsdirektoren mit den Millionä- es ist stärker als Heroin, ihr Leben habe Sie begann im wichtigsten Museum der ren und Milliardären des Landes gut stel- nur noch daraus bestanden, »an Oxy zu USA, dem Metropolitan Museum in Man- len, auch das ist eine Form der Abhängig- kommen«. hattan. Darin warfen sie und ihre Leute keit, Goldin nennt es eine »Abhängigkeit Ob es stimme, dass sie fast daran gestor- im März 2018 Pillendosen in das Wasser- von den reichen Leuten«, »wir wissen, ben wäre? Ja, antwortet sie, leise, und sie becken eines altägyptischen Tempels. dass sie deren Gelder brauchen«. sagt auch, die Hersteller solcher Medika- Ein paar Monate später wurde der Öster- In der Kunstwelt gebe es »viel verdor- mente hätten immer schon gewusst, dass reicher Max Hollein Direktor des Hauses. benes Geld«, Firmen würden durch Mu- diese zum Tod vieler Menschen führten. Er sagt, Goldins Aktivismus veranschauli- seen »ihre Reputation waschen«. Museen Die Dokumente, die nun im Zuge der juris - che die Macht der Künstler, Debatten aus- aber seien wichtig für die Gesellschaft, sie tischen Auseinandersetzungen öffentlich zulösen. Das Publikum höre auf das, was hätten einen Bildungsauftrag, »sie sollten geworden seien, belegten den »ganzen Kunst und Künstler sagen, und sie küm- kein Geld annehmen von Leuten, die die Zynismus«, die »Unmenschlichkeit«. merten sich darum, was Organisationen schlimmste Gesundheitskrise in der Ge- Vor allem der Pharmakonzern Purdue, wie das Metropolitan Museum täten, »was schichte der USA verursacht haben«. der seit den Neunzigerjahren Oxycontin ich sehr ermutigend finde«. Ein Autor des US-Kunstmagazins »Art- produziert, wurde für sie zum Inbegriff Ein weiterer Protest fand im Smithso - forum« schrieb vor Kurzem von einem dieser lukrativen Epidemie. Dem Unter- nian Museum in Washington statt, im Vertrauensverlust, der nicht mehr nur die nehmen und inzwischen auch der Eigen- Februar 2019 war das New Yorker Guggen- Sacklers, sondern die gesamte amerikani- tümerfamilie Sackler wird vorgeworfen, heim-Museum an der Reihe. Von den spi- sche Elite betreffe. Natürlich will die Fo-

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 121 nicht mehr so sicher, ob sie den Preis an- nehmen sollte. Galerist Alexander Baumgarte betont in einer E-Mail an den SPIEGEL, er be- daure diese Irritation. In seinem Schrei- ben verweist er auf jüdische Vorfahren. Er erwähnt aber genauso, Riefenstahl wer- de »bekanntermaßen« von vielen Persön- lichkeiten der internationalen Kulturszene als »große Künstlerin« benannt. 2005 habe er sich mit ihr in einer Ausstellung auseinandergesetzt. Ihre Werke, schreibt er, könne man in seiner Galerie nicht erwerben. In der »Neuen Zürcher Zeitung« hieß es allerdings 2005, die Galerie Samuelis Baumgarte fordere auf der Messe Art Co- logne »für postume Abzüge von Motiven Leni Riefenstahls in hoher Auflage (meist

YANA PASKOVA / GUARDIAN / EYEVINE LAIF / GUARDIAN PASKOVA YANA um 25 Exemplare) 4000 bis 18000 Euro«. Protestaktion im Guggenheim-Museum im Februar: Wie ein Orkan durch die Kunsttempel Drei Jahre später sollte eine Aufnahme laut Pressebericht 24000 Euro kosten. Noch 2015 diente eines ihrer großformati- tografin solche Debatten über die Rolle Über ihr Engagement will sie kommen- gen Körperfotos als Blickfang auf einem der Museen und ihrer Geldgeber beför- de Woche in Hannover berichten. Nur ist Messestand Baumgartes. An anderer Stel- dern, das macht sie seit Monaten. Aber die Veranstaltung im dortigen Sprengel le nannte seine Galerie Riefenstahl aus- noch wichtiger sei es, dass den Abhängi- Museum ein Beispiel dafür, wie leicht so- drücklich als Künstlerin, deren Werk »stän- gen geholfen werde, »am Leben zu blei- gar eine Idealistin, eine wache Heldin wie dig vertreten« sei. ben«. Sie wünscht sich Einrichtungen, in Goldin, Teil einer etwas undurchschau - Nun kooperiert das Sprengel Museum denen Süchtige Drogen unter Aufsicht ein- baren Inszenierung werden kann. mit Baumgarte, und es verspricht sich wo- nehmen könnten und die Therapien zur Sie sagte schon vor einiger Zeit zu, den möglich etwas davon. Da wäre vor allem Überwindung der Sucht anböten. »Kunstpreis Ruth Baumgarte« entgegen- der Auftritt der großen (und momentan Sie selbst war als junge Frau abhängig zunehmen. Ausgelobt wird der von einer sogar übergroßen) Nan Goldin. von Heroin, daraus hat sie nie ein Geheim- Bielefelder Stiftung, die ebenfalls den Na- Reinhard Spieler ist der Direktor des nis gemacht. Der Selbstmord ihrer älteren men der 2013 verstorbenen Malerin und Sprengel Museums, er gehört auch dem Bei- Schwester hatte sie traumatisiert, als sie Galeristin Ruth Baumgarte trägt. Überrei- rat der Ruth-Baumgarte-Stiftung an, und 11 Jahre alt war. Mit 14 zog sie zu Hause chen wird ihn der Sohn der Verstorbenen, er war Mitglied der Jury. Für Goldins zwi- aus, studierte schließlich Kunst. der Stiftungsvorsitzende und Kunsthänd- schenzeitliches Zögern hat er wenig Ver- Lange sprach sie dann vor allem durch ler Alexander Baumgarte. Und womöglich ständnis, das wird im Gespräch deutlich. ihre Fotografien. Mit ihnen teilt sie ihr ist die Angelegenheit eine ganz gute Wer- Auch andere Galerien würden mit Fotos Glück und oft ihr Leid, sie fotografierte bung für ihn. von Riefenstahl handeln, die sei eine »re- ihr eigenes blaues Auge, nachdem sie ge- Wer die Website seiner Galerie Samue- nommierte Künstlerin« mit einer »proble- schlagen wurde, sie hielt mit der Kamera lis Baumgarte aufrief, fand unter der Ru- matischen politischen Einstellung und fest, wie Menschen, die ihr nahestanden, brik Künstler bis vor ein paar Tagen den Biografie«. Ihm missfielen aber die heutige an Aids starben. Namen der 2003 verstorbenen Fotografin Tendenz zur Skandalisierung, der Mora- Ihr emotionaler und schonungsloser Leni Riefenstahl. Über ihr Schaffen war lismus und die Verbotskultur. Zugang zum Leben war in den Achtziger - dort zu lesen: »Kritiker haben gesagt, dass Es ist wenig verwunderlich, dass Goldin jahren, als sie ihre Aufnahmen erstmals aus- ihre frühen Arbeiten faschistische Obertö- als Fotografin, als politischer Kopf und als stellte, ungewöhnlich. Eines ihrer bekann- ne hätten. Wenn man die Ästhetik ihrer Tochter jüdischer Eltern anderer Meinung testen Werke ist ein fast filmisches Konvolut, Bildsprache untersucht, erweist sich das über Riefenstahls Ästhetisierung des NS- eine Slideshow aus mehr als 700 Fotos, der als falsch.« Systems ist. Goldin sagt, dass sie ebenso sie den Titel »Ballade von der sexuellen Ab- Fünf ihrer Fotografien wurden abgebil- ein Problem mit Riefenstahls Afrikaserien hängigkeit« gab. Manche sagen, sie habe det, drei Aufnahmen stammten aus dem habe, sie spricht von einer fetischistischen mit diesem fotografischen Tagebuch ihres Jahr 1936, sie heißen »Der Diskuswerfer«, Tendenz. Lebens, des Lebens ihrer Freunde im Grun- »Der Turmspringer«, »Der Einsprung«. Nachdem sie durch den SPIEGEL von de die sozialen Medien vorweggenommen. Solche Bilder bescherten Riefenstahl einst der Riefenstahl-Sache gehörte habe, hätte Sie selbst findet den Gedanken abwegig. die Gunst Hitlers. Zwei weitere Abbildun- es »viele Diskussionen« mit der Stiftung 1989 organisierte und kuratierte sie in New gen zeigen spätere Bilder aus Afrika, eines gegeben, sagt sie ein paar Tage später. York eine Gruppenausstellung, sie versam- nennt sich »Drei Tänzer«; Riefenstahl setz- Baumgartes Galerie habe das Richtige ge- melte Werke, die von Aids handelten. Da- te ihre Stilisierung von Körpern nach dem tan und die Bilder von der Homepage der mals war das eine Provokation. Krieg ja fort. Galerie genommen. Aus Goldins Kampf wird wieder Kunst Nan Goldin wirkt überrascht, als sie Sie kommt nach Hannover. Und sie entstehen. Für den Herbst plant sie eine nach ihrer Meinung zu dieser Selbst- wird die museale Bühne sicher für ihre Ausstellung in einer der wichtigsten Gale- darstellung der Galerie gefragt wird. Sie Zwecke zu nutzen wissen. Allerdings rien New Yorks, ihre Werke werden eine sagt, davon habe sie nichts gewusst, und scheinen Museen genau das zu sein, bloße neue Slideshow ergeben, sie werden von das gefalle ihr auch nicht, »not at all«, Bühnen. Ulrike Knöfel Sucht erzählen. ganz und gar nicht. Sie ist sich zunächst

122 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Kultur

Helden führen würde: in ein Kinderreich des Terrors. Er nennt es Urfustan. Hat er seine Urfustan liegt weit, weit im Osten, wird von einem abso- lutistischen Herrscher namens Zültan Tantal regiert, und dieser Zültan erwählt aus Gründen, die wir nicht kennen, un- Frau verspeist? seren schlurfigen Otto Kwant zu seinem architektonischen Helden. Er soll ihm und seinem Volk einen fantastischen Literaturkritik Der neue Roman des Berliner »Palast der Demokratie« entwerfen. Bitte sofort. Otto ist geschmeichelt, natürlich. Fällt ihm die Verwirkli- Autors Jochen Schmidt ist eine furiose chung der Träume seines Vaters einfach in den Schoß? An- Reise in die Terrorwüste des wilden Ostens. dererseits: Er will das ja nicht. Er will ja nichts. Bauen im Traum. Oder wenn schon etwas Echtes bauen, dann einen Kinderspielplatz. Das ist seine Utopie, »Gegenentwurf zu in junger Mann möchte wahnsinnig gern nichts machen. unserer Gesellschaft«. Kwant träumt ihn sich so: »Er sollte E Einfach nur nichts. Wäre das bitte möglich? Schwierig, die Wunden heilen, die die Erwachsenenwelt den Kindern als Spross einer Architektendynastie, vom Vater mit Hoff- zufügt. Im Idealfall würden ihn auch Erwachsene bevölkern, nungen vollgestopft, das eigene Architekturstudium kurz vor die hier Trost suchen.« dem Abschluss. Das Leben, das sogenannte, müsste eigentlich Der Herrscher Zültan kann damit wenig anfangen. Er jetzt anfangen. Mit Beginnerfreude, Enthusiasmus, Begeiste- verkennt, dass dieser Spielplatz des von ihm erwählten Otto rung fürs neue Bauen. Welt, ich komme und errichte dich neu. Kwant in Wahrheit natürlich der ideale »Palast der Aber wir sind hier in der Welt von Jochen Schmidt, lange Demokratie« für sein Urfustan wäre, das Reich, in dem die Jahre einer der Lesebühnenstars Berlins, 1970 in Ost-Berlin Untertanen scheinbar freiwillig alle schwer zu ertragende geboren. Seine Bücher sind be- Mündigkeit und Freiheit an völkert von Sehnsüchtlingen den Herrscher abgegeben ha- der Kindheit, Davonträumern ben. Zültan erkennt das nicht, einer untergegangenen Welt. und Kwant will wieder nach Schmidts Helden stecken trau- Hause. Doch da muss er fest- rig fest im Jetzt, fürchten je- stellen, dass Urfustan, das Kin- des Voran. Es war doch schon derreich ohne Verantwortung, mal alles perfekt. Die Welt diese Albtraum-DDR in der geordnet, jedes Objekt für Steppe, ihn nicht mehr freigibt. immer an seinem vorbestimm- Er kommt ins Gefängnis. Auch ten Ort. Die Erinnerung, das gut, denkt Kwant. Wort, die Schrift holen es wie- Es ist wie in der Welt der der zurück. Romane Christian Krachts: Die Schmidt ist ein Ostalgiker, Sehnsucht nach Unschuld, der seine DDR nicht zurück- Reinheit, Schönheit schlägt haben möchte, der aber aus um in Terror und Verderben. der Spannung zwischen Sehn- Kwant will nur eins: ein vor- sucht und Verbot die Kraft sei- bildlicher Häftling sein. Leider nes Schreibens schöpft. Seine hat er einen doch recht zwie- Helden sehnen sich zurück ins lichtigen Typen in seiner Zelle. perfekte Einst – wissen aber Einzelzelle wäre ideal gewesen, zugleich, dass die Wiederer- aber so … Kleiner Dialog über richtung jenes Traumreichs der Haftgründe in Urfustan: »›Hat

Kindheit, das politisch eine ein- TIM JOCKEL / PIPER VERLAG er seine Frau verspeist?‹ ›Nein, gemauerte Diktatur gewesen Schriftsteller Schmidt er hat Blindschach gespielt.‹ ist, nicht möglich und nicht Davonträumer einer untergegangenen Welt ›Ist das denn verboten?‹ ›Ja, wünschenswert ist. natürlich.‹« Eines seiner schönsten Bücher hat Schmidt über Marcel Die Zellentür lässt sich leicht öffnen, Otto Kwant ver- Proust geschrieben. Ein Lesetagebuch, wie er, der späte Schü- lässt das Gefängnis einfach, und wir sehen ihn mit einem ler Prousts, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« liest, Kinderwagen durch die Steppe schlurfen. Mit der U-Bahn was er dabei empfindet, denkt, träumt, sieht und isst. Sein in die Wüste fahren. Wir sehen ihn in einer zerstörten bislang bester Roman war »Schneckenmühle«. In ihm war Landschaft, die einst von hoffnungsvollen Jungkommunisten das Ferienlager, in das der junge Erzähler immer fuhr, ganz urbar gemacht werden sollte, die dabei in Wahrheit und gar eins geworden mit dem Staat diesseits der Mauer, aber eine gigantische ökologische Katastrophe verursacht der eines Nachts einfach verschwand. haben. Wo einst Träume der perfekten neuen Welt ver- Schmidts neuer Roman »Ein Auftrag für Otto Kwant« ist wirklicht werden sollten, lebt heute beinahe gar nichts pointenreich, lustig, melancholisch, beschreibungsfetischis- mehr. tisch wie alle seine Bücher zuvor. Aber er hat eine abgründige Otto Kwant, der Nichtstuer, sieht sich auf seinem Weg Perspektive hinzugewonnen. Jochen Schmidt ist einen ent- durch die Steppe in seiner Weltsicht bestätigt. Wie ein spä - scheidenden Schritt vorangegangen. Er hat das poetisch- ter Hans im Glück wird er auf seinem Weg zurück wieder politische Experiment gewagt, sich auszudenken, wohin die zum Kind. »Wir leben hin und haben nichts gestört«, hat Verwirklichung der Sehnsüchte seiner vergangenheitsseligen Rainer Maria Rilke diese Utopie einst beschrieben. In der Welt von Jochen Schmidt müssen die Helden einmal Jochen Schmidt: »Ein Auftrag für Otto Kwant«. C. H. Beck; 345 Seiten; durch die Zerstörung hindurch, bevor sie ankommen. 23 Euro. Volker Weidermann

123 Service Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail [email protected] www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966 Mail: [email protected] Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir Impressum MEINUNG Lothar Gorris KAPSTADT Bartholomäus Grill, auch gern per Mail entgegen: [email protected] P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, HERAUSGEBER Rudolf Augstein SPIEGEL PLUS Alexander Neubacher Tel. +27 21 4261191 Hinweise für Informanten (1923–2002) DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, KIEW Kathrin Breer (stellv.). Redaktion: Antonia Luteranska wul. 3, kw. 63, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und CHEFREDAKTION Bauer, Claudia Beckschebe, Patrick Blume, 01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen Steffen Klusmann (V.i.S.d.P.), Dr. Barbara Alexandra Schulz, Marco Wedig Hans, Clemens Höges, Jörn Sucher (stellv.) LONDON Jörg Schindler, folgende Wege zur Verfügung: 26 Hanbury Street, London E1 6QR, Post: , c/o Investigativ, Ericusspitze 1, CHEF VOM DIENST Anke Jensen, DER SPIEGEL Tel. +44 203 4180610 BLATTMACHER Armin Mahler Thomas Schäfer, Gesine Block (stellv.) 20457 Hamburg NACHRICHTENCHEF Stefan Weigel Telefon: 040 3007-0, Stichwort »Investigativ« Schlussredaktion: Christian Albrecht, MADRID Apartado Postal Número 100 64, MANAGING EDITOR Susanne Amann Gartred Alfeis, Ulrike Boßerhoff, Regine 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung, REPORTER Ullrich Fichtner Brandt, Lutz Diedrichs, Ursula Junger, MOSKAU Christian Esch, Glasowskij Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Katharina Lüken, Stefan Moos, Sandra Tel. +7 495 22849-61 PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können. Leitung: Dr. Melanie Amann, Martin Pietsch, Fred Schlotterbeck, Sebastian Der dazugehörende Fingerprint lautet: Knobbe; Wolf Wiedmann-Schmidt Schulin, Sandra Waege NEW YORK Philipp Oehmke, 233 Broad- 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC (Teamltg. Politik), Christian Reiermann way, Suite 1460, New York, NY 10279, (Teamltg. Wirtschaft). Redaktion Politik und Produktion: Petra Thormann, Reinhard Tel. +1 212 2217583, [email protected] Wirtschaft: Nicola Abé, Maik Baumgärtner, Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno, Redaktioneller Leserservice Markus Dettmer, Julia Amalia Heyer, Veit Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra PARIS Britta Sandberg, 137 Rue Vieille du Medick, Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg, Temple, 75003 Paris, Tel. +33 1 58625120 Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966 Sven Röbel, Cornelia Schmergal, Christoph Martina Treumann, Rebecca von Hoff, Mail: [email protected] Schult, Anne Seith, Gerald Traufetter. Katrin Zabel PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, Autoren, Reporter: Susanne Beyer, Markus Peking 100101, Tel. +86 10 65323541 Nachdruckrechte / Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken Feldenkirchen, Konstantin von Hammer- BILDREDAKTION Leitung: Michaela stein, Christoph Hickmann, Marcel Rosen- Herold, Claudia Jeczawitz (stellv.); Tinka RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Nachdruck und Speicherung in digitalen Medien nur mit bach, Michael Sauga. Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Caixa Postal 56071, AC Urca, schriftlicher Genehmigung des Verlags. 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Marco Kasang, Elisabeth Kolb, Bernhard www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984 Autor: Stefan Berg Riedmann WASHINGTON René Pfister, Christoph Scheuermann, 1202 National Press Buil- Abonnement für Blinde WIRTSCHAFT Audio Version, Deutsche Leitung: Markus Brauck, LAYOUT Leitung: Jens Kuppi, Reinhilde ding, Washington, D.C. 20045, Tel. +1 202 Isabell Hülsen. Redaktion: Simon Hage, Blindenstudienanstalt e.V. Telefon: 06421 606265 Wurst; Michael Abke, Lynn Dohrmann, 3475222 Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde Alexander Jung, Nils Klawitter, Alexander Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Kühn, Martin U. Müller, Ann-Kathrin Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa DOKUMENTATION Leitung: Dr. Hauke Telefon: 069 9551240 Nezik. Reporterin: Michaela Schießl Hundertmark, Louise Jessen, Nils Küppers, Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Peter AUSLAND Leitung: Mathieu von Rohr, Annika Loebel, Leon Lothschütz, Florian Wahle (stellv.); Zahra Akhgar, Dr. Susmita Abonnementspreise Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Maximili- Rauschenberger, Barbara Rödiger Arp, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg, Inland: 52 Ausgaben € 265,20 an Popp (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Studenten Inland: 52 Ausgaben € 187,20 Katrin Kuntz, Jan Puhl, Raniah Salloum, TITELBILD Leitung: Katja Kollmann, Catrin Fandja, Thorsten Hapke, Susanne Samiha Shafy, Helene Zuber. Autoren, Johannes Unselt (stellv.); Suze Barrett, Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland Reporter: Marian Blasberg, Susanne Koelbl, Iris Kuhlmann Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Dietmar Pieper, Christoph Reuter Stefanie Jockers, Michael Jürgens, Tobias Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Ulrich WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: REDAKTIONSVERTRETUNGEN Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Peter Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. DEUTSCHLAND Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Abonnentenservice Persönlich erreichbar Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Julia Deutsche Politik, Wirtschaft Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070 Koch, Kerstin Kullmann, Martin Schlak, Tel. 030 886688-100; Deutschland, Bernd Musa, Claudia Niesen, Sandra Öfner, Hilmar Schmundt, Frank Thadeusz, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft Dr. Vasilios Papadopoulos, Ulrike Preuß, Mail: [email protected] Christian Wüst. 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Autoren, Repor- Lukas Eberle, Fidelius Schmid , Jägerhof- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg – ter: Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar straße 19–20, 40479 Düsseldorf, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Gorris, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, Tel. 0211 86679-01 Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, Andrea oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo Elke Schmitter, Volker Weidermann Tholl, Nina Ulrich, Peter Wetter, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Ich bestelle den SPIEGEL GESELLSCHAFT Leitung: Özlem Gezer, FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, ❏ Tim Bartz, Dr. Felix Bohr, An der Welle 5, Anika Zeller, Malte Zeller für € 5,10 pro gedruckte Ausgabe Hauke Goos (stellv.). Redaktion: Maik ❏ Großekathöfer, Barbara Hardinghaus, Felix 60322 Frankfurt am Main, NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper Hutt, Timofey Neshitov, Dialika Neufeld, Tel. 069 9712680 dpa, Los Angeles Times / Washington Post, beträgt € 0,60) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Jonathan Stock. Autoren, Reporter: Uwe New York Times, Reuters, sid Buse, Jochen-Martin Gutsch (frei), Marc KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Hujer, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt GMBH & CO. KG SPORT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: MÜNCHEN Anna Clauß, Dinah Deckstein, nur in Deutschland. Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje Jan Friedmann, Martin Hesse, Thomas Verantwortlich für Anzeigen: Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Windmann, Christoph Winterbach Schulz, Rosental 10, 80331 München, André Pätzold BESONDERE AUFGABEN Matthias Geyer Tel. 089 4545950 Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 73 INVESTIGATIVREPORTER Rafael Busch - vom 1. Januar 2019 Name, Vorname des neuen Abonnenten mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, REDAKTIONSVERTRETUNGEN Mediaunterlagen und Tarife: Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ AUSLAND www.spiegel.media spiegel.de). 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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel Mohamed Morsi, 67 der Weitergabe von Staats - Nachrufe »Das Ersatzrad« war der geheimnissen an Katar zu spöttische Spitzname, der in 40 Jahren Haft. Menschen- Ägypten die Runde machte, rechtsgruppen wie Amnesty nachdem die Muslimbrüder International bezeichneten im Frühjahr 2012 Mohamed die Prozesse als »Farce«. Bei Morsi zum Präsidentschafts- einer weiteren Gerichts - kandidaten gekürt hatten. anhörung am 17. Juni brach Bei einer Stichwahl setzte er er zusammen. Mohamed sich knapp gegen Ahmed Morsi ver starb kurz darauf Schafik durch, einen Vertrau- in einem Krankenhaus in ten des gestürzten Diktators Kairo. SYD Hosni Mubarak. Auch viele Ägypter, die Morsis islamis - Franco Zeffirelli, 96 tische Ideologie eigentlich Der gebürtige Florentiner ablehnten, stimmten damals war ein überaus erfolgrei- für den Muslimbruder, weil cher Opernregisseur, an der ihnen der Mann des alten Mailänder Scala wie an Regimes als größeres Übel der New Yorker Met. Jedes erschien. Als Präsident war Detail war ihm wichtig, er

STARK-OTTO / ULLSTEIN BILD / ULLSTEIN STARK-OTTO entwarf sogar Kostüme selbst. Franco Zeffirelli, der Heinrich Lummer, 86 seine Karriere als Assistent Der Christdemokrat war ein streitbarer Antikommunist des Regisseurs Luchino Vis- und profilierte sich als Rechtspopulist, bevor dieser Begriff conti begonnen hatte, pfiff geläufig wurde. Der gelernte Elektromechaniker und stu- auf Modernität, Abstraktion dierte Politologe aus dem Ruhrpott stieg 1965 in die West- und Reduktion schienen für Berliner Landespolitik ein als Geschäftsführer der CDU- ihn Fremdwörter zu sein. Fraktion im Abgeordnetenhaus. Zwei Jahre später wurde er Nichts war ihm groß genug,

für die Union ins Landesparlament gewählt und 1969 Frak - HITIJ / AP DDP MAJA vor allem die Ge fühle tionsvorsitzender. Nachdem Richard von Weizsäcker 1981 nicht. Auch in seinen Filmen die Vorherrschaft der SPD in der Mauerstadt gebrochen Morsi jedoch überfordert: schwelgte er in romanti- hatte und Regierender Bürgermeister wurde, machte er Mit dem Internationalen schen Bildern – mal gelang Lummer zu seinem Stellvertreter und Innensenator. Hein- Währungsfonds konnte er ihm dies erfolgreich wie in rich Lummer – ein klassischer Law-and-Order-Mann – ließ sich nicht auf Finanzhilfen der Shakespeare-Adap tion im September 1981 acht besetzte Häuser auf einen Streich einigen, um die marode Wirt- »Romeo und Julia«, für räumen. Als er für Journalisten posierte, prügelte die Poli- schaft in Gang zu bringen. die er 1969 eine Oscarnomi - zei Demonstranten und Besetzer in den fließenden Verkehr, Er verzettelte sich in einem nierung erhielt, mal trieb ein Besetzer starb. 1986 stellte sich heraus, dass Lummer Machtkampf mit dem er den Kitsch weit über die einem zwielichtigen Bekannten günstig landeseigene Woh- Militär, das sich als Bollwerk Schmerzgrenze hinaus wie nungen vermitteln wollte, er musste zurücktreten. Zudem gegen die Islamisten ver- in »Endlose Liebe« (1981). hatte er sich von einer Stasi-Agentin in Ost-Berlin, mit stand und Morsi einhegen Er war ein bekennender der er eine sexuelle Beziehung unterhielt, im großen Stil wollte. Die christliche Min- Homosexueller und flam- abschöpfen lassen. Nach dem Ende seiner politischen derheit verschreckte er, mender Katholik, wie in Laufbahn im Bundestag versank Lummer langsam im rech- indem er einen früheren isla- seinen Regie arbeiten verlor ten Sumpf: Ein 1999 erschienenes Buch von ihm hieß mistischen Terroristen zum er auch im poli tischen Dis- »Deutsch land soll deutsch bleiben«, er warnte vor der Gouverneur ernannte. Nach kurs manchmal jedes Maß »Überfremdung« Deutschlands und lästerte über die einem Jahr im Amt schließ- und forderte für Frauen, die »Holocaust-Industrie«. 2003 erlitt er einen Schlaganfall. lich gingen erst Hundert - abtreiben, die Todesstrafe. Heinrich Lummer starb am 15. Juni in Berlin-Zehlendorf. MBS tausende, dann Millionen Im Zuge der #MeToo-Debat- Ägypter gegen Morsi auf die te warfen ihm frühere Mitar- Straßen – mit aktiver Unter- beiter vor, er habe sie sexu- Philippe Zdar, 51 stützung des Militärs. Die ell be drängt und belästigt, Er war eine zentrale Figur der franzö- Massenproteste gaben Ver- sein Adoptivsohn bestritt die sischen Musik der vergangenen teidigungsminister Abdel Vorwürfe. Franco Zeffirelli 30 Jahre – auch wenn er vor allem Fattah el-Sisi schließlich den starb am 15. Juni in Rom. LOB wegen seiner großartigen Dance- Vorwand für einen Militär- Music- Entwürfe bekannt wurde. Das putsch. Die Armee nahm Album »Pansoul« seines Projekts Morsi fest und stellte ihn vor

UNIMEDIA INTERNATIONAL / T&T UNIMEDIA INTERNATIONAL Motorbass ist heute ein Klassiker. Er Gericht. Er wurde unter arbeitete aber auch mit Hip-Hop- anderem wegen eines Ge- Pionier MC So laar zusammen, mit der Band Phoenix fängnisausbruchs während sowie mit dem Rapper Kanye West. Am 21. Juni hätte er der Revolution 2011 zum das Erscheinen des neuen Albums seines Duos Cassius Tode verurteilt. In einem gefeiert. Philippe Zdar starb am 19. Juni bei einem Unfall, anderen Verfahren verurteil-

als er aus dem Fenster eines Pariser Hauses stürzte. RAP ten ihn die Richter wegen INTERTOPICS PHOTOSHOT/

DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 125 Personalien PLANET PHOTOS / DDP IMAGES PLANET PHOTOS

unterzutauchen und zu schweigen. Mittlerweile plane sie ihr Leben als Kontrollfreak Leben bis ins kleinste Detail, jeder öffentliche Moment sei durchchoreografiert. Nun ist Swift, die erfolgreichste Sängerin G Der amerikanische Superstar Taylor Swift, 29, hat drei ihrer Generation, allerdings berühmt dafür, vielen ihrer Ex- Jahre lang kein Interview gegeben, weil ihr das eigene Leben Freunde nach dem Ende der Beziehung Songs hinterhergesun- durch die Reaktionen der sozialen Medien vollkommen gen zu haben. Kaum jemand hat seine Klatschseiten-Existenz entglitten sei. Jeder Satz habe für einen Sturm in den sozialen so erfolgreich mit Musik gedoppelt wie Swift. Kein Wider- Netzwerken gesorgt, sagte sie dem französischen Magazin spruch, sagt sie. »Ich glaube, dass es mir erfolgreich gelungen »Paris Match«, ihr sei nichts übrig geblieben, als eine Weile ist, Karriere und Privatleben zu verbinden.« RAP

spielen, der durch die Welt Kalten Krieges und danach Steirische jetten und 007 Konkurrenz politische Krisen mit Raffine- Agentenschmiede machen soll: Malko Linge ment und diplo matischem heißt er, ist adelig und gut aus- Geschick statt mit Fäusten G Das Land Österreich war sehend, lebt auf einem und Spezialwaffen. Für Fass- bislang nicht für seine Super- Schloss in der Steiermark und bender, der in Heidelberg agenten bekannt. Die Speku- erledigt Einsätze in der geboren ist und mit starkem lationen um die Entstehung ganzen Welt. Er ist die Haupt- Akzent Deutsch spricht, geht des inzwischen legendären figur einer französischen es in seinem ersten Malko- Ibiza-Videos, das den Vize- Taschenbuchreihe, von der Film gleich nach Berlin: Die kanzler Strache zu Fall brach- sich seit Erscheinen des ersten Vorlage heißt »Check-Point te, warfen die Frage auf, Bandes 1965 über hundert Charlie«. Da kann er dem ob der Nachrichtendienst des Millionen Exemplare verkauft BND mal zeigen, wie man die Landes besonders verschlafen haben. Bereits in den frühen Welt rettet. Vielleicht fällt ja oder besonders verschlagen Achtzigerjahren wurde einer sogar noch eine saftige ist. Nun will Hollywoodstar der Malko-Romane verfilmt. Nebenrolle für den wohl be- Michael Fassbender, 42, In den Agentengeschichten rühmtesten Steirer ab: Arnold LOB RICK FINDLER / ACTION PRESS RICK FINDLER / ACTION einen österreichischen Spion löst der Held während des Schwarzenegger.

126 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Am 4. Juli kommt »Kroos« Im Pool mit ins Kino. Der gebürtige Mr Cool Greifswalder, der schon als kleiner Junge großes Ball - G Der deutsche Fußballer gefühl hatte, gibt sich im Toni Kroos, 29, Mittelfeld- Film als Familienmensch, star bei Real Madrid, gilt als der nach einem Länderspiel kühler Stratege, der sich auf sofort nach Hause jettet, um dem Spielfeld durch nichts mit seinen Kindern im Swim- aus der Ruhe bringen lässt mingpool zu planschen. Der und seine Pässe so präzise Zuschauer hat das Gefühl, wie niemand sonst an den dass Kroos auf diese Weise Mann bringt. Der deutsche auch schlimme Niederlagen Filmemacher Manfred Ol - so schnell abstreifen kann denburg hat den Weltmeister wie ein durch geschwitztes

von 2014 an mehr als ein Trikot. Während der Film ANNA LOGUE Jahr lang begleitet und ver- einen stetig wachsenden sucht, hinter das Geheimnis Chor prominenter Kroos- Der Augenzeuge seiner Coolness zu kommen Fans – von Robbie Williams und gleichzeitig den Men- bis Jupp Heynckes, von Ziné- »Es soll wehtun« schen Kroos zu entdecken. dine Zidane bis Gareth Bale – ein donnerndes Halle- luja anstimmen lässt, wirkt Wer in Mannheim Zigarettenstummel, Kaugummis er selbst so abgeklärt, wie oder Verpackungen auf die Straße oder in die man ihn kennt. Wenn Landschaft wirft, muss seit Anfang April drastische er erzählt, wie es war, jahre- Bußgelder zahlen. Das zeige Wirkung, sagt Martin lang von seinem eigenen Vater trainiert zu werden, Schmitt, stellvertretender Dienstgruppenleiter im wird allerdings deutlich spür- »Besonderen Ordnungsdienst« der Stadt. bar, dass Kroos für seinen Erfolg einen bedeu tenden G »Seit zwei Monaten ist es richtig teuer, in unserer Innen- Teil seiner Kindheit opfern stadt Kleinstmüll wegzuwerfen. Für Zigarettenstummel,

FILIP SINGER / EPA-EFE / REX SHUTTERSTOCK FILIP SINGER / EPA-EFE musste. LOB Pappbecher, Essensreste und Verpackungen werden 75 Euro Bußgeld fällig, für Kaugummis, Farbdosen, Styropor oder Hundekot sogar 100 Euro. Dazu kommen Verwaltungs - anbauen musste. Im Zentrum: gebühren und Auslagekosten von knapp 30 Euro. Im Einzel- Die Königin von ein große Baumskulptur, fall kann das Bußgeld auch doppelt so hoch ausfallen, Dollywood in die Parton 620 Schmetter- etwa wenn jemand den Müll nicht aufhebt, nachdem wir linge aus Acryl hängen ließ, ihn darauf angesprochen haben. G Es gibt Dinge, die an sich die dort in der Sonne blitzen. Es geht nicht darum, die Stadtkasse aufzufüllen. Die Stadt schon verrückt genug sind. Sie selbst, sagte Parton nun hat die Bußgelder erhöht, nachdem sie die große Einkaufs- Dass es etwa in der amerika- der »New York Times«, sei meile, die Planken, das Herzstück der Fußgängerzone, für nischen Kleinstadt Pigeon in ihrem Park allerdings rund 30 Millionen Euro saniert hatte. Die soll sauber bleiben. Forge, im Bundesstaat Ten- vorsichtig. »Meine Frisur Wir gehen daher verstärkt zu zweit in Zivil Streife, ein bis nessee, den Vergnügungs- lasse ich nur von einem zwei Tage pro Woche, zu unterschiedlichen Zeiten. Vor den park Dollywood gibt, den Mann ruinieren, nicht von Schnellrestaurants oder wenn abends ein Grüppchen Raucher Dolly Parton, 73, erfunden einer Achterbahn.« RAP unterwegs ist, schauen wir noch genauer hin. Wenn jemand hat und betreibt, seine Zigarettenkippe einfach wegschnippt, sind wir zur Stelle. die amerikani- Früher haben wir erst mal mündlich verwarnt, jetzt kostet es. sche Countrysän- Viele sind dann schockiert, sagen: ›Das ist nicht Ihr Ernst.‹ gerin und Pop - Oder: ›Warum gerade ich?‹ Dann erklären wir, dass es jeden ikone. Es gibt ihn trifft, den wir erwischen. Das Gute ist, dass das auch anderen nicht nur, er wird eine Lehre ist. Oft sprechen uns andere Passanten an und auch noch von reagieren zustimmend. Manche meinen sogar, die Bußgelder Gästen überlau- seien noch zu niedrig. Es kommen viele positive Zuschriften. fen. Rund drei Die Bürger wollen eine saubere Innenstadt. Millionen Men- Manche der Erwischten wollen uns erst nicht ihre Perso - schen kommen nalien geben. Denen erklären wir dann, dass es noch teurer jedes Jahr, um wird, wenn wir die Kollegen vom Polizeivollzugsdienst dazu- Parton auf ihrem holen müssen. Natürlich tut so ein Bußgeld weh – das soll es Rummel zu auch. Wir kassieren dabei aber nicht selbst, das macht die feiern. So viele Bußgeldstelle, die setzt auch den Betrag fest. Die Bußgelder Menschen, dass und Kontrollen wirken schon sichtbar: Wir beobachten, dass sie nun noch ein- die Leute häufiger die paar Schritte zum Mülleimer gehen, mal rund 24000 und die Fußgängerzone sieht sauberer aus als vorher.«

Quadratmeter / REX FEATURES AFF-USA Aufgezeichnet von Dietmar Hipp

127 »Sind die Grünen erst mal vor den Karren der Wirtschaft gespannt, werden auch ihre Wähler erkennen, wem die grünen Visionen auf die Füße und den Geldbeutel fallen.«

Uwe Engelage, Renningen (Baden-Württemberg)

Muster Bienenstaat Die Grünen bereiten sich schon lange auf Kompetenz überstrapaziert die Zeit der Macht vor, mit einer geradezu Nr.25/2019 Operation Kanzleramt Nr.24/2019 Leitartikel: Der Instabilisator Weniger Gefühl, mehr Politik – wie sich die genialen Methode nach dem Muster Bie- Grünen auf die Macht vorbereiten nenstaat. Die Partei hat sich ihre Klientel Neuwahlen hätten sich über Monate hin- durch jahrzehntelange Ideologisierung gezogen. Sie hätten vermutlich keine bes- Insgesamt zehn Journalistinnen und Jour- und Indoktrinierung selbst herangezogen. seren Ergebnisse erbracht, eher noch mehr nalisten setzen auf den Hype um die Grü- Jetzt kommt ein Quantum Glück und der Kleinteiligkeit. Dem Bundespräsidenten nen noch einen drauf und möchten uns Mantel des Zeitgeists hinzu. Es könnte Anmaßung vorzuwerfen ist abwegig. Er Robert Habeck als Kanzler schmackhaft klappen. hat dafür gesorgt, dass Deutschland in der machen! Kann und will er das überhaupt? Prof. Dr. Uwe Hinrichs, Leipzig Mitte Europas nicht über weitere quälende Umfrageergebnisse sind Momentaufnah- Monate ohne kräftige Stimme blieb. Ein men. Die SPD und insbesondere Martin Es ist offensichtlich, dass seit einem Jahr Verdienst für unser Land und Europa! Schulz können ein Lied davon singen. die bürgerlichen Leitmedien die Grünen Dr. Norbert Kruhme, Hamburg Wenn es ernst wird, kann passieren, was zur Regierungspartei und zur Kanzler- in dem Artikel festgestellt wird: Die Leute Endlich wagt es jemand, den Bundesprä- mögen, was Robert Habeck sagt und wie sidenten zu kritisieren! Richtig: Herr Stein- er es sagt, wissen aber hinterher nicht meier hat seine Partei par ordre du mufti mehr ganz genau, wovon die Rede war. in die dritte Große Koalition gezwungen. Werner Schnepp, Werdohl (NRW) Das schlechte Gewissen des Herrn Bun- despräsidenten, seine vom Grundgesetz Die bewährte Idee der Grünen für eine vorgegebene Kompetenz überstrapaziert Doppelspitze muss sich im künftigen grü- zu haben, merkt man daran, dass Stein- nen Zeitalter durchsetzen. Robert Habeck meier noch keinen Kommentar zur aktu-

ist der ideale Kandidat für die Bundesver- / DER SPIEGEL PETER RIGAUD ellen Misere hat verlautbaren lassen, wäh- sammlung, die 2022 den nächsten Bundes- Grünenchefs Habeck, Baerbock rend er doch sonst zu jeder Kleinigkeit sei- präsidenten wählt. Und so liegt auf der nen Senf dazugibt. Hand, Annalena Baerbock zur Kanzler- schaft hochschreiben wollen, ihre Themen Dr. Klaus Brink, Bad Soden (Hessen) kandidatin der Grünen und damit auch setzen, ihre Vorsitzenden in jeder Talk- zur Kanzlerin zu machen. Sie wäre sicher show, auf jeder Titelseite, in jedem Kom- Wir können das Volk nicht viermal wählen geeigneter als der eher zögerliche Habeck, mentar anpreisen. Diese Titelgeschichte lassen, bis ein Ergebnis rauskommt, das schlechter als Angela Merkel würde sie es scheint geradewegs aus der grünen Presse- den Parteien und deren Strukturen ent- bestimmt nicht machen, und wenn mit ih- stelle zu stammen und setzt unverhohlen spricht. Außerdem hat die Große Koalition rer Wahl auch noch Annegret Kramp-Kar- die Werbung für eine grüne Regierung fort. gute Gesetzespakete und Entwürfe hervor- renbauer als Kanzlerin verhindert würde, Nichts über die inneren Widersprüche, gebracht. Aus meiner Sicht werden wir uns wäre das ein Segen fürs Vaterland. die Weltfremdheit und die Risiken der in fünf Jahren noch zurücksehnen nach Dr. Wolfgang Weng, Gerlingen (Bad.-Württ.) Grünenpolitik, kein kritisches Nachhaken. den guten und konstruktiven Jahren der Parteipropaganda statt kritischer Journa- Großen Koalition. Seit 40 Jahren lese ich den SPIEGEL. Ge- lismus. Andreas Meyer-Aurich, Potsdam gen Anfeindungen in Diskussionen, das Herbert Weber, Berlin Magazin sei links und tendenziös, habe Zu Recht bezeichnen Sie Herrn Steinmeier ich es immer in Schutz genommen und mit Im Nachhinein hat Franz Josef Strauß also als Ruinator der SPD. Er hat sie 2018 ge- Überzeugung erklärt, dass es das einzige doch recht, außen grün, innen rot, siehe gen ihren erkennbaren Willen zur Neuauf- noch ernst zu nehmende journalistische Bremen! Aber es passt ja auch vieles zu- lage der deutlich abgewählten GroKo ge- Blatt mit Qualität in Deutschland ist, das sammen: Gebote, Verbote, staatliche Gän- zwungen. Er ist sogar der doppelte Ruina- alle Parteien kritisch begleitet. Leider kann gelei/Bürokratie und Steuererhöhungen! tor der SPD. Als Konsequenz der Agenda ich angesichts des Artikels diese Meinung Jürgen Zimmermann, Aachen 2010 unter Schröder hat er die SPD von nicht mehr aufrechterhalten. Ihr Artikel 40 auf 20 Prozent halbiert und mit seinem ist eine Wahlwerbung für die Grünen. Eine nicht repräsentative Umfrage in mei- Eingreifen 2018 auf bald nur noch 10. Ein Andreas Meschkat, Leipzig nem Bekanntenkreis ergab, dass erstaun- bemerkenswerter Sozialdemokrat. lich viele Sympathisanten von FDP und Dr. Helmut Eschweiler, Berlin In der Gründerzeit der Grünen war ich voll CDU bei der Europawahl die Grünen ge- und mit Begeisterung dabei! Jetzt bin ich wählt haben. Grund? »Protest, um wach- Die einfachen Grundrechenarten hätten 65 und würde mir als langjähriger Liberaler zurütteln.« Aber einen grünen Bundes- ausgereicht, um nach der Jamaika-Pleite eine grüne Partei wünschen, die sich neben kanzler (m/w/d) wollte dann doch keiner. die Notwendigkeit einer GroKo einzuse- ihren Klimazielen wieder mehr den christ- Die Grünen tun deshalb gut daran, das hen. Dafür den Bundespräsidenten verant- lich-jüdischen Werten zuwendet. Umfragehoch bescheiden zu genießen. wortlich zu machen ist unerklärlich. Erwin Chudaska, Leer (Nieders.) Frank Koch, Hamburg Kurt Grosse, Wiesbaden

128 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Briefe

Kesse Lola Korrektheit bei anderen kritisiert. Aber Kollhoff beziehungsweise Stimmann ist das gehört zum Geschäft und gerade in Berlin eine zeitgenössische Architektur Nr.24/2019 Der schwarze Kanal – Abschiedskolumne von Jan Fleischhauer wohl zu der Funktion, die Sie mit Ihrer gelungen, die nicht durch glasige Gesichts- Ko lumne erfreulicherweise eingenommen losigkeit und Kälte abstößt, sondern zum Ich habe mich so oft über Sie geärgert, wer haben. Hinschauen und Verweilen einlädt, wie soll jetzt diese Funktion übernehmen? Martin Heinen, Hannover am Walter-Benjamin-Platz. Jedem Zweif- Wenn alle meiner Meinung wären (was na- ler sei empfohlen, vor Ort im Sommer mal türlich vernünftig wäre), würde ich mich Die letzten SPIEGEL-Worte Jan Fleisch- einen Kaffee zu trinken, um sich selbst ein zu Tode langweilen. Und was bereitet hauers erinnerten mich an »Ich bin die kes- vorurteilsfreies Bild zu machen. mehr Vergnügen und ist eine größere He- se Lola«. Den aus seiner Perspektive tum- Anna Lena Peters, Hamburg rausforderung, als wenn jemand eine ent- ben Thoren, von denen er sich trennt oder gegengesetzte Meinung intelligent und ge- getrennt worden ist, tritt er in die Seite schliffen formulieren kann? Ich vermisse und tut so, als glaube man ihm, er scherze Sie schon jetzt. nur. Ich habe ihn als Verteidiger der Un- Uwe Protsch, Frankfurt am Main verbesserlichen erlebt, die nie genug be- kommen können. Dass sich Herr Fleischhauer auf Augstein Wolfgang Jedliczka, Sundbyberg (Schweden) beruft und sich sogar mit ihm vergleicht, ist sein Gesellenstück in puncto Realitäts- Ich bedaure sehr, dass Sie den SPIEGEL

verlust. verlassen. Sie standen für mich die letzten ALLIANCE / DPA HUREK / PICTURE M. C. Wolfgang Moselle, Much (NRW) Jahre für den typischen SPIEGEL-Kom- Walter-Benjamin-Platz in Berlin mentator, indem Sie mit wachem Verstand Sie haben die Gabe, Dinge aus ihrer kon- grundsätzlich aufzeigten, dass man prak- Der Antisemitismus von Ezra Pound ist servativen oder doch auch liberalen Sicht- tisch jedes Geschehen auch ganz anders mit seiner »Kritik des internationalen Fi- weise überspitzt, aber immer auch mit ei- betrachten kann, als es alle Welt in der Re- nanzkapitals« (so interpretiert Kollhoff in nem schelmischen Grinsen und nie ohne gel unisono vertritt. Ihrem Interview die fraglichen Zeilen) Selbstironie darzustellen. Letzteres fehlt Prof. Dr. Dirk Langner, Wiehl (NRW) ebenso so verwoben, wie dies bei Joseph der Linken, zu der ich mich Rot-grün-Ver- Goebbels der Fall ist. Zudem ist Pounds sifften auch zähle, ein wenig. Frage, wie wir leben wollen Verehrung für Mussolini weder mit seiner Andreas Herz, Wiesbaden Abscheu für Hitler noch mit seiner Ableh- Nr.24/2019 Der Stararchitekt Hans Kollhoff steht im Zentrum einer Debatte um die nung des Kapitalismus entschuldbar. Ich werde Ihre Kolumnen vermissen. Wa- Frage, ob Bauen rechts sein kann Moritz Schramm-Beykirch, Braunschweig ren sie doch immer ein erfrischender Bei- trag in dem sonst so einseitigen Meinungs- Dieser Glaubenskrieg Glas vs. Stein ist fa- Von der Nazi-Einschüchterungsarchitek- bild des SPIEGEL. tal. Nach Jahrzehnten eines (nachkriegs-) tur mit ihren unproportionierten Kolon- Gisela Neudeck, Wiesbaden modernen Städtebaus und all seiner Irrtü- naden, abweisenden Fassaden und massi- mer ist es durchaus nachvollziehbar, dass ven Steinsimsen ist das neue Berlin mit Oft haben Sie mir aus der Seele gespro- sich viele Menschen alte Städte zurück- seinen zarten, fast schüchternen Stäbchen- chen. Ich habe es am SPIEGEL geschätzt, wünschen. Das Links-rechts-Denken im fassaden weit entfernt. Es erinnert mehr dass gerade auch Ihre Kolumne Platz im realen Raum ist Unsinn, Architektur und an den Westteil von Washington, D.C., als Blatt hatte. Wie mit dem SPIEGEL bin ich Stadtgestaltung sind nicht links oder an Albert Speer. Künftige Beobachter wer- auch mit Ihrer Kolumne oft nicht einer rechts, sondern gut oder schlecht, alltags- den Berlin vielleicht milder beurteilen als Meinung gewesen, fand sie gelegentlich in tauglich oder nicht. die jetzige Kritik. Aber es wird ihnen nicht der Kritik so unzutreffend und pauscha- Markus Erich-Delattre, Hamburg entgehen, dass das neue Stadtbild ein Pro- lisierend, wie sie übertriebene politische dukt zutiefst romantischen Denkens ist. Bei der Architekturdebatte links vs. rechts Ob es Bestand haben wird, hängt weniger geht es eigentlich um die Frage, von Bauverordnungen ab als von der Dy- wie wir leben wollen. Ob Le Corbusier, namik des Kapitalismus. Und die hat das Bauhaus oder Schinkel die Vorbilder sind: neue Berlin noch nicht wirklich erfasst. Architektur hat sich nach Wohn- und Le- Prof. Dr. Albrecht Ritschl, London bensbedürfnissen zu richten. Der Walter- Benjamin-Platz ist trotz Springbrunnen Dem wunderbaren Walter Benjamin eine reine städtische Katastrophe. Ein wünschte ich einen Platz, wie er ihm selbst Platz ohne Grün, ohne Gras, ohne Schat- vorgeschwebt haben mag: »Diese Plätze

DIETER MAYR/ DER SPIEGEL DIETER MAYR/ ten von Bäumen. sind glückliche Zufälle, … nicht von langer Kolumnist Fleischhauer Tina Dreier, Berlin Hand geplant«, sondern »architektoni- schen Improvisationen« ähnelnd, »Häu- Korrekturen sermengen, wo sich niedrige Bauten etwas regellos durcheinander tummeln. Auf die- zu Heft 25/2019, Seite 11: Angst vor dem Hype sen Plätzen haben die Bäume das Wort.« Die Berliner Grünen wollen bis 2021 den Anteil der Amts- und Mandatsträger mit Migra- Ludwig Engstler-Barocco, Bonn tionshintergrund dem der Berliner Bevölkerung anpassen, nicht den Anteil der Mitglieder. Seite 22: Hoffnung für Geschädigte Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe Der Vorsitzende Richter hat sich, anders als berichtet, nicht zur Verjährung von Scha- ([email protected]) gekürzt densersatzforderungen gegen VW geäußert. sowie digital zu veröffent lichen und unter Seite 24: Bürger gegen weitere Umsiedlungen www.spiegel.de zu archivieren. Die Mehrheit der Deutschen wünscht den Erhalt des Hambacher – nicht Hamburger – Forsts.

129 Hohlspiegel JETZT IM HANDEL: Rückspiegel DER Zitate Die »Süddeutsche Zeitung« zu Aussagen des früheren Bundespräsidenten Von der Website der »Tiroler DIGITALE Joachim Gauck im SPIEGEL-Gespräch Tageszeitung« (»Wir müssen lernen, mutiger KUNDE intolerant zu sein«, Nr. 25/2019): Aus dem »Göttinger Tageblatt«: Joachim Gauck … hat wohl einfach seine »›Ihr Lieblingslied ist das Entchen von Worte nicht abgewogen. Sein Plädoyer für Tharau – da kann sie alle Strophen eine »erweiterte Toleranz in Richtung noch mitsingen und hat schon den rechts« wollte er als Unterscheidung Gesangsverein beeindruckt, als der zu zwischen rechts, rechtsradikal und rechts- Besuch war‹, so Reinelt.« extremistisch verstanden wissen. Aber eine solche Unterscheidung wird auch ein Bundespräsident a.D. nicht mehr durch- setzen; stattdessen setzt er nur sich selbst Missverständnissen aus. »Toleranz enthält das Gebot der Intoleranz gegenüber In- toleranten.« Das ist ein Satz, den Gauck Aus der »Süddeutschen Zeitung« im SPIEGEL auch gesagt hat. Und mit dem alles gesagt gewesen wäre.

Aus der »Frankfurter Rundschau«: Die »Berliner Zeitung« findet, »Ich denke, wir sind in absehbarer dass eine SPIEGEL-Metapher über den Zeit so weit, dass wir Küken neuen Leiter der Berliner nicht mehr lebend töten müssen.« Stasi-Gedenkstätte zutrifft (in »Mielkes verlassene Stadt«, Nr. 22/2010).

Weitere Themen: Sein freundliches, dezentes Auftreten hat ihm im SPIEGEL schon einmal die leicht RESTRUKTURIERUNG spöttische Bemerkung eingebracht, er spre- che über ein Gebäude der alten Stasi-Zen- Der erfolgreiche Turnaround von trale, als handele es sich um ein schwieri- DHL Express ges Gebiet im Fernen Osten. Inzwischen darf man allerdings annehmen, dass ihn SELBSTMANAGEMENT genau diese Begabung zur diplomatischen Schilder im Reptilienzoo Scheidegg So bleiben Sie kreativ und off en Zurückhaltung für sein neues Amt prä - im Allgäu destiniert hat. Der 1963 in Remscheid ge- für Neues borene Historiker Helge Heidemeyer wird FALLSTUDIE von diesem Herbst an die Nachfolge von Ausden»Badischen Neuesten Nachrichten«: Hubertus Knabe als Leiter der Gedenk- »Ihren ersten Einsatz hatte die Tierärztin Wie heilt man ein vergiftetes stätte Hohenschönhausen antreten, um die 2005 in Italien, wo es damals weit Betriebsklima? nach Sexismusvorwürfen ein erbitterter verbreitet war, Rotkehlchen und andere Streit entbrannt war. Singvögel zu Polenta zu verarbeiten.« Der SPIEGEL berichtete …

… in der Titelgeschichte »Wer glaubt denn sowas« (Nr. 17/2019) über die wachsende Aus der Tageszeitung »Dolomiten« Anzahl von Christen, die nicht an zentrale Lehren ihrer Religion glauben.

Aus den »Husumer Nachrichten«: Nach Pfingsten er- »Aufgrund ihrer Demenz fällt es Ingrid hielt die Redaktion Sülzer bisweilen schwer, sich in der Welt ! 64 Ansichtskarten noch zurechtzufinden. Doch wenn von Angehörigen sie auf den Hof von Marie-Luise von der Auch als digitale Ausgabe erhältlich: der evangelischen Sode kommt, ist das alles vergessen.« harvardbusinessmanager.de Kirchengemeinde Steinhagen (Nord- rhein-Westfalen) mit einem Foto ihrer Aus der »Schwäbischen Zeitung«: Kirche. Die Absender wünschen dem »Eine Szene wie aus einem Dan-Brown- SPIEGEL »Gottes Segen« und schreiben, Roman: Ein 1000 Jahre alter, 700 Tonnen dass »Jesus lebt« und Gott »nicht tot« sei, schwerer Sargdeckel wird angehoben.« oder »der Heilige Geist komme über Sie«.

130 DER SPIEGEL Nr. 26 / 22. 6. 2019 Mit SPIEGEL+ nutzen Sie die ganze digitale Welt des SPIEGEL.

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