realistisch und radikal Das Debattenheft der Sozialistischen Linken

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Nr. 3 – 1.Quartal 2014 DIE LINKE und Europa Mit Beiträgen von

Fabio de Masi, Özlem Alev Demirel, Klaus Dräger, Jules El-Khatib, Ulrike Herrmann, Daniel. Kerekeš, Costas Lapavitsas, Steffen Lehndorff, Susanne Kramer-Druzycka, Jasper Prigge, Alban Werner, Sabine Wils

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken realistisch und radikal Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Inhalt

Kritik der real existierenden EU-Politik aat 06 Interview: Es geht um Demokratie und Sozialst Sabine Wils (MdEP) 08 onkrete K Solidarität mit Beschäftigten in Europa Klaus Dräger 10 irtschaftsregierung W des Finanzkapitals J. El-Khatib, D. Kerekeš, J. Prigge 12 iderstand W gegen Jugendarbeitslosigkeit

opa? Linke Debatte Steffen Lehndorff Wie weiter mit Eur haften, Linke und die Eurokrise Interview: Gewerksc Paul Boccara u.a. 14 18 Kämpfen wir für einen anderen Euro! Costas Lapavitsas e Herrmann Der Euro und die Linke Ulrik 20 achen der Eurokrise 2 Interview: Zu den Urs 22

Kämpfe um politische und soziale Rechte in der EUÖzlem Alev Demirel . Susanne Kramer-Druzycka 26 EU aus migrationspolitischer Sicht 28 Die Klassenkämpfe in Polen Alban Werner 32 Nein zum EU-USA-Freihandelsabkommen!

Sonstiges 03 Vorwort hen Linken, Unterstützungserklärung, Spendenaufruf 4 0 Informationen zur Sozialistisc 4 3 Autorinnen und Autoren

Impressum realistisch und radikal - das Debattenheft der Sozialistischen Linken Redaktion: Juliane Pfeiffer, Felix Syrovatka, Alban Werner V.i.S.d.P.: Alban Werner, c/o DIE LINKE - Sozialistische Linke, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin Fotos: Ilona Herrmann | R-Mediabase (S.11,15,16), Hans-Dieter Hey | R-Mediabase (S.19, 24); . S.Schuh C.Martischius | R-Mediabase (S.23); Susanne Kramer-Druzycka (S. 29-31), SL, privat Druck: Laserline, Berlin

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Liebe Genossin, lieber Genosse,

am 25. Mai wird nicht nur das Europäische Parlament papolitik der LINKEN beitragen. Es kann leider nicht oft gewählt, sondern zeitgleich stehen auch kommuna- genug gesagt werden, dass es nicht um „für oder wider Inhalt le Parlamente in insgesamt zehn Bundesländern zur den Nationalstaat oder die EU“ geht, sondern um die Wahl. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger gibt es politischen Inhalte und Strukturen auf beiden Ebenen. einen unerfreulichen Zusammenhang zwischen beiden Dazu schreiben die beiden Europawahl-BewerberInnen Wahlgängen: Es geht nur um eine geschrumpfte Versi- Sabine Wils (MdEP) und Fabio de Masi sowie der EU- on von Demokratie. Experte Klaus Dräger. Zweitens wollen wir einen Blick über den deutschen Tellerrand hinaus ermöglichen. So hat das Europäische Parlament zwar mit den Jah- Eine AutorInnengruppe der französischen Kommunist- Kritik der real existierenden EU-Politik Fabio de Masi ren an Kompetenzen gewonnen. Aber ganz wesentli- Innen einerseits und Costas Lapavitsas aus London 06 Interview: Es geht um Demokratie und Sozialstaat Sabine Wils (MdEP) che Bereiche kann es nach wie vor nicht entscheiden: andererseits debattieren, ob ein sozialer Kurswechsel 08 Konkrete Solidarität mit Beschäftigten in Europa Klaus Dräger die Außen- und Sicherheitspolitik, die Währungspolitik, in Europa mit oder ohne Beibehaltung des Euro in den J. El-Khatib, D. Kerekeš, J. Prigge noch nicht einmal über den EU-Haushalt und seinen „Krisenstaaten“ möglich ist. Diese Debatte ergänzen In- 10 Wirtschaftsregierung des Finanzkapitals Umfang. Selbst wenn es fleißige ParlamentarierInnen terviews mit dem Sozialforscher Steffen Lehndorff und 12 Widerstand gegen Jugendarbeitslosigkeit geschafft hatten, Mehrheiten gegen die katastrophalen der taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, deren Stimmen

Steffen Lehndorff Kürzungsdiktate in der EU-Krisenpolitik zu erreichen, im Mainstream der deutschen Diskussion viel zu wenig Wie weiter mit Europa? Linke Debatte wurden ihre Beschlüsse durch fehlende Verbindlichkeit Gehör finden. Schließlich wollen wir Themen stärker in Interview: Gewerkschaften, Linke und die Eurokrise Paul Boccara u.a. 14 gegenstandslos. Schon lange beklagten politische Lin- die Diskussion rücken, die oft vernachlässigt werden. Kämpfen wir für einen anderen Euro! Costas Lapavitsas ke und soziale Bewegungen das Demokratiedefizit der Die DIDF-Vorsitzende Özlem Alev Demirel kritisiert 18 Der Euro und die Linke Ulrike Herrmann EU. Nicht nur dieser Demokratiemangel wurde durch die Migrationspolitik der EU, die selbst nach tausen- 20 die Krisenpolitik verschärft. Auch in den Mitgliedstaaten den Todesfällen von Geflüchteten nicht geändert wird. Interview: Zu den Ursachen der Eurokrise 3 22 besiegelte die Politik durch Troika-Auflagen, Entmach- Susanne Kramer-Druzycka berichtet über Auseinan- tung der Parlamente durch immer neue „Rettungspa- dersetzungen um soziale Rechte in Polen. Ihr Beitrag kete“, durch Fiskalpakt und „Economic Governance“ macht deutlich, dass Linke der Politik in Osteuropa Özlem Alev Demirel unterm Strich größere politische Ohnmacht. mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Zum geplanten Kämpfe um politische und soziale Rechte in der EU Freihandelsabkommen zwischen EU und USA schreibt 26 EU aus migrationspolitischer Sicht Susanne Kramer-Druzycka Auch in vielen Kommunen schrumpft die Demokratie, Alban Werner, warum es als Bedrohung der Demokra- 28 Die Klassenkämpfe in Polen Alban Werner weil sie durch Abwälzung zahlreicher Aufgaben, v.a. im tie verhindert werden muss. 32 Nein zum EU-USA-Freihandelsabkommen! sozialpolitischen Bereich, auch durch unbewältigten wirtschaftlichen Strukturwandel und fehlende Mittel Wir hoffen, dass unser Heft Diskussionen anstößt und Sonstiges finanziell ausgetrocknet sind. Kein Wunder eigentlich, bereichert. Herzlicher Dank gilt den Redaktionsmitglie- dass außerhalb der „bildungsnahen Schichten“ immer dern Juliane Pfeiffer und Felix Syrovatka und Elke The- 03 Vorwort weniger Menschen an europäischen oder kommunalen isinger-Hinkel, Harald Siepmann und Martin Thomas 04 Informationen zur Sozialistischen Linken, Unterstützungserklärung, Spendenaufruf Wahlen teilnehmen. DIE LINKE darf sich damit nicht Horsch für Korrekturen. 34 Autorinnen und Autoren abfinden, sondern muss Demokratie und Sozialstaat offensiv verteidigen und Menschen für Politik zurück- Weitere Exemplare dieses Heftes können einfach unter gewinnen. Die politische Linke in Deutschland hat eine [email protected] kostenlos bestellt werden. besondere Verantwortung, denn in den Kernländern der EU liegt machtpolitisch der Schlüssel, um die herr- Uns allen ein erfolgreiches (Wahl-)Jahr! schende Kürzungspolitik zu beenden. Deswegen hat- ten in Griechenland, Portugal, Spanien und Italien viele Menschen auf eine Abwahl von gehofft. Eure Sozialistische Linke Mit diesem Heft möchten wir deswegen dreierlei errei- chen. Zum einen möchten wir zur Debatte um die Euro-

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken WER sind wir? Die SL ist die gewerkschaftlich orientierte Strömung der Partei DIE LINKE. Wir knüpfen an linkssozia- listische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen an. Klassenorientierung: Der Widerspruch zwi- schen Kapital und Arbeit und die gemeinsamen Interessen der lohnabhängigen Mehrheit (Beschäftigte, Erwerbslose, Rent- ner/innen, lernende Jugend) sind der Anker unserer Politik. Die Gründer/innen der SL kamen überwiegend aus der Wahlalter- native Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG), jedoch auch aus der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS). Wir haben heute über 800 Mitglieder in Ost wie West. Ein Schwer- punkt unserer Arbeit ist politische Bildung (z.B. die jährliche Sommerakademie). WAS wollen wir? Wir streiten für gute Arbeit, Löhne und Renten; eine Ausweitung des öffentlichen Eigentums, öffent- liche Investitionen und des Sozialstaats sowie Frieden. Wir wollen die Lebensverhältnisse der Mehrheit verbessern, die Macht des Kapitals brechen und den sozial-ökologischen Um- bau der Wirtschaft verwirklichen. Die SL will eine kampagnen- fähige Mitgliederpartei, die sich auf gemeinsame Interessen von Lohnabhängigen konzentriert und eine starke Verankerung in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sucht. Gewerk- schaftliche Orientierung bedeutet kein unkritisches Verhältnis zu Gewerkschaften. Wir wollen unabhängige und kämpferi- sche Gewerkschaften, die sich aus der Umklammerung der SPD lösen. WARUM gewerkschaftliche Orientierung? Gewerkschaf- ten sind die Interessenorganisationen der Lohnabhängigen. Sie können – z.B. über Streiks – dem Kapital direkt in die Spei- chen greifen. 4 WARUM Politik der Arbeit? Arbeit schafft den Reichtum der Gesellschaft und ist Voraussetzung für die Finanzierung des Sozialstaats. Wir brauchen gemeinsame Kämpfe: Hartz IV ist zum Beispiel nicht nur Armut per Gesetz, sondern auch Lohndrückerei. Wir wollen uns nicht in den Verhältnissen ein- richten. Wir wollen den Kapitalismus überwinden. Es bringt aber nichts, nur radikale Sprüche zu klopfen oder Wünsch- Dir-Was-Forderungen zu erheben. Die LINKE muss realistisch und radikal sein, wenn sie Massen mobilisieren und Kräftever- hältnisse nach links bewegen will. Strömungen: Machtkämpfe und Strömungen gibt es in allen Parteien. Anders als Seilschaften, die vor allem für persönliche Interessen streiten, wollen wir offen und demokratisch für un- sere Ziele werben. Unser Ziel ist eine starke LINKE.

[email protected] www.sozialistische-linke.de www.facebook.com/sozialistischelinke

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Erklärung der UNTERSTÜTZUNG

Hiermit erkläre ich meine Zugehörigkeit zum Zusammenschluss Sozialistische Linke gemäß der Bundessatzung der Partei DIE LINKE.

Ich bin Mitglied der Partei DIE LINKE: ja O nein O Sollte ich zu irgendeinem Zeitpunkt die Partei verlassen, so werde ich die Landes- und die Bundesgremien des Zusammenschlusses Sozialistische Linke darüber umgehend in Kenntnis setzen.

Name: ...... Vorname: ......

Straße: ...... PLZ und Ort: ......

Landesverband: ...... Kreis-/Bezirksverband: ...... ggf. Parteifunktionen: ...... aktiv, ggf. Funktion in weiteren Organisationen: ......

Telefonnummern: ...... E-Mail: ......

Geburtsdatum: ......

Ort, Datum: ...... Unterschrift: ......

Bitte abtrennen und schicken an: Sozialistische Linke, DIE LINKE, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin ------%------Mit SPENDEN die Arbeit aktiv unterstützen 5 DIE LINKE erhält keine Großspenden von Lobbyisten und Konzernen. Darauf sind wir stolz. Unabhängige Politik braucht unabhängige Spender.

Liebe Kollegin, lieber Kollege, liebe Genossin, lieber Genosse, politische Arbeit kostet auch Geld. Ob Publikationen, Reisekosten oder Veranstaltungen: Oft heißt es „Ohne Moos nichts los!“. Deswegen bitten wir dich, die Sozialistische Linke finanziell zu unterstützen. Dies geht am besten mit der Überweisung einer Spende oder per Dauerauftrag.

Einzelspenden bitte an:

Parteivorstand DIE LINKE Konto-Nr. 132 257 31 BLZ 100 500 00 Berliner Sparkasse WICHTIG: Stichwort SPENDE Sozialistische Linke

Einzugsermächtigung

Mit dieser Einzugsermächtigung ist die Partei DIE LINKE bis auf Widerruf berechtigt, meinen ab fälligen monatlichen Mitglieds- beitrag für DIE LINKE in Höhe von ______Euro von unten stehendem Konto abzubuchen.

Einzugsrhythmus (Zutreffendes bitte deutlich markieren): monatlich/ vierteljährlich/ halbjährlich/ jährlich

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Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kritik der real existierenden EU-Politik Interview „Es geht um Demokratie und Sozialstaat!“

Ein Gespräch über die Eurokrise, Rechtspopulismus und LINKE Europa-Positionen mit Fabio de Masi

r+r: Vor welchen Herausforderungen steht DIE sich dafür aus, Rentnern und Arbeitslosen das Wahl- LINKE bei den Europawahlen 2014? recht zu entziehen. 6 Fabio De Masi: Menschen mit geringem Einkommen und Arbeitnehmer meiden die Europa-Wahl. Wir müs- Der LINKEN wird oft vorgeworfen, sie sei anti- sen daher Flagge zeigen und Oppositionsführer gegen europäisch. Was entgegnest Du? die Zerstörung von Demokratie und Sozialstaat sein. Wer ist Europa? Nicht DIE LINKE ist anti-europäisch, Die Chancen stehen nicht schlecht: DIE LINKE hat als sondern die Politik gegen die Mehrheit in der EU. Etwa einzige Partei im Deutschen den giftigen jeder zweite Jugendliche in den Krisenstaaten ist ohne Cocktail aus Bankenrettung und Kürzungspaketen ab- Arbeit. Die EU schafft eine verlorene Generation. Das gelehnt. Zudem steht sie einer Großen Koalition gegen- zerstört die europäische Idee. Wir könnten mit einer über. EU-weiten Vermögensabgabe sofort ein Investitions- programm gegen Jugendarbeitslosigkeit finanzieren. Wo lauern Gefahren? Allein das Geldvermögen der europäischen Millionäre Ich nehme den Aufstieg der sogenannten Alternative für übertrifft mit etwa 14 Billionen Euro die gesamte Staats- Deutschland (AfD) sehr ernst. Die AfD setzt sich ge- verschuldung der EU-Staaten. Der Merkel-Wahlverein schickt in Szene: Im Bundestags-Wahlkampf plakatier- SPD hat auf seinem Leipziger Parteitag eine Koalition te die AfD: „Die Griechen leiden, die Deutschen zahlen mit der LINKEN an eine „verantwortungsvolle Europa- und die Banken kassieren.“ politik“ geknüpft.. Wer das ernst meint, darf mit Merkel nicht regieren. Wir haben im Bundestagswahlkampf über 300.000 Stimmen an die AfD verloren. Wie sollten Brauchen wir mehr Europa? wir auf die AfD reagieren? Es geht nicht um mehr oder weniger Europa, sondern Wir dürfen unsere Kritik an der Euro-Rettung nicht ver- um Demokratie und Sozialstaat. Wenn mehr Europa stecken. Der ehemalige Vorsitzende der US-Zentralbank Steuerdumping unterbindet, dann will ich mehr Euro- Paul Volcker meinte einmal, die einzige sinnvolle Finan- pa. Wenn die EU das Streikrecht und Tarifverträge be- zinnovation der letzten Jahre war der Geldautomat. Wir kämpft, die Parlamente beim Staatshaushalt entmachtet wollen Zombie-Banken schrumpfen. Daher müsse wir oder über die EU-Battle-Groups der Parlamentsvorbe- auch die vermeintlichen Rettungspakte angreifen: Ge- halt bei Militäreinsätzen zerstört, verteidige ich die De- rettet werden nicht Menschen oder Staatshaushalte, mokratie. sondern Banken und Vermögende. Etwa 95 Prozent der Hilfen an Griechenland flossen an den Finanzsektor. Brauchen wir mehr europäische Öffentlichkeit? Aber wir müssen auch deutlich sagen: Die AfD ist eine Sicher. Wenn Abgeordnete anderer nationaler Parla- Partei, die die kleinen Leute verachtet. AfD-Vorstands- mente der EU auf dem Ticket einer Fraktion im Bun- mitglied und Ex-WELT-Kolumnist Konrad Adam sprach destag sprechen dürften, gäbe es tatsächlich mehr

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kritik der real existierenden EU-Politik europäische Öffentlichkeit. Dann könnte Alexis Tsipras der Massenkunden sowie das gewerbliche Kreditge- den Deutschen erklären, dass sie nicht Griechen retten, schäft sind abzusichern. In Schweden hat man in den sondern die Banken. 1990er Jahren zu den Banken gesagt: Wenn ihr die Hand aufhaltet, bringt die Aktien gleich mit. Das ist die Stichwort Bankenunion. Sollten deutsche Ban- billigste Lösung. Denn in Bankenkrisen explodieren die ken für spanische Banken bürgen, damit der Ban- Zinsen am Interbankenmarkt, nur der Staat kann den kensektor stabiler wird? Teufelskreis durchbrechen. Wir brauchen aber keine Die Wahrheit ist immer konkret. Der Steuerzahler bürgt: privaten Staatsbanken wie die Commerzbank – die wei- Und zwar nicht für das seriöse Kreditgeschäft sondern terhin Geschäfte mit Steueroasen macht. Wir brauchen für Wettbuden. Laut der Abwicklungsrichtlinie können öffentliche „Good Banks“ sowie Sparkassen- und Ge- bis einen Tag vor Abwicklung einer Schrott-Bank Ak- nossenschaftsbanken. Darüber hinaus sollte die EZB tionäre und Gläubiger jenseits der sogenannten Haf- öffentliche Investitionen statt den Deutschen Aktienin- tungskaskade mit Steuergeldern raus gekauft werden. dex finanzieren. Wir brauchen vor allem eine Stärkung Die Banken-Union ist daher eine Lebensversicherung der Binnennachfrage in Deutschland durch höhere Löh- für „Zombie-Banken“: Der Finanzsektor – insbesonde- ne, sichere Renten, öffentliche Investitionen und eine re das Investmentbanking – wird nicht geschrumpft. In Ausweitung des Sozialstaats. den Bankbilanzen stecken laut Schätzungen noch eine Billion Euro fauler Papiere, der gemeinsame Abwick- Was möchtest Du persönlich als Europa-Abge- lungsfonds soll erst in zehn Jahren einsatzbereits sein ordneter erreichen? und nur 55 Milliarden Euro umfassen. Die Europäische Ein Mandat ist ein Privileg. Ich will vor allem einen gu- Zentralbank (EZB) ist überdies für die Aufsicht völlig ten Job machen und durch meine internationalen Kon- ungeeignet. Sie unterliegt als Kreditgeber der letzten takte zu fortschrittlichen Ökonomen die Positionen der Instanz permanenten Interessenkonflikten und ist kei- LINKEN in der Wirtschaftspolitik bekannter machen. ner effektiven parlamentarischen Kontrolle unterworfen. Da geht noch mehr. Wir sollten zudem neben der Eu- Die SPD hatte in ihrem Regierungsprogramm „Das ro-Krise und den klassischen, nationalen Themen das Wir entscheidet“ versprochen, dass Steuerzahlerinnen Freihandelsabkommen der EU mit den USA in den und Steuerzahler nie wieder in Geiselhaft der Banken Mittelpunkt des Wahlkampfes rücken. Ich möchte mich und Spekulanten genommen werden. Sie sollte beim selbstverständlich auch mit Migranten und den Fischern nächsten Mal daher plakatieren „Die Deutsche Bank von Lampedusa gegen die humanitäre Katastrophe im entscheidet“ und „Das Wir bezahlt“. Mittelmeer engagieren. FRONTEX ist eine Schande. DIE LINKE lebt vom Leiharbeiter oder der Rentnerin, Was sind die Alternativen der LINKEN? die bei Regen und Sturm für unsere Ziele kämpfen. Da- DIE LINKE fordert die Haftung der Aktionäre und Gläu- her möchte ich den Parteiaufbau unterstützen. Dafür 7 biger von Banken. Das Investmentbanking ist nicht sys- bleibt uns nicht mehr viel Zeit. temrelevant und daher abzuwickeln. Nur die Einlagen

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kritik der real existierenden EU-Politik Konkrete Solidarität mit Beschäftigten in Europa

Einblicke in ihre Tätigkeit im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie im Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments gibt Sabine Wils (MdEP)

Seit 2008 wütet die Krise. Ein Ende ist nicht in Sicht. wir auch eigene Veranstaltungen gemeinsam mit Initi- Für die Tiefe der Krise ist die Fehlkonstruktion der Eu- ativen an mehreren Orten. Diese Auseinandersetzung ropäischen Union verantwortlich. Trotzdem wird der Lis- bestimmte die Arbeit im Umweltausschuss. 8 sabon-Vertrag, werden Standortwettbewerb und Spar- Das Flughafenpaket stellte einen schweren Angriff auf diktate von den anderen Parteien nicht in Frage gestellt. die Beschäftigten an den Flughäfen dar. Seit 1996 sind Die neoliberale Medizin hat soziales Elend in Europa die Bodendienste EU-weit liberalisiert. Seitdem sind verschärft. Trotzdem wird sie nicht abgesetzt, im Ge- die Löhne in diesem Bereich um 20% gesunken. Die genteil soll ihre Dosis erhöht werden. EU-Kommission plante weitere Liberalisierungsschrit- Die Wettbewerbsorientierung der Europäischen Union te. Durch größere Anbieterkonkurrenz an den großen wirkt in alle EU-Staaten hinein. Bei meiner Tätigkeit im Verkehrsflughäfen in der Bodenabfertigung wären dann Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit die Löhne noch mehr unter Druck geraten. Unsere Frak- und Lebensmittelsicherheit sowie im Verkehrsaus- tion hat hierzu gemeinsam mit ver.di eine Anhörung schuss des Europäischen Parlaments (EP) habe ich durchgeführt, an der die Betriebsratsvorsitzenden al- dies hautnah erlebt und bekämpft. ler großen deutschen Flughäfen teilnahmen. Das war Der Linksfraktion im EP GUE/NGL war es wichtig, den ein wichtiger Baustein zur Mobilisierung der Kollegin- Betroffenen, den Umweltverbänden und zuständigen nen und Kollegen. In Brüssel und in Straßburg haben Gewerkschaften ETF, ver.di und EVG zu all diesen EU- jeweils tausende Flughafenbeschäftigte demonstriert, Projekten über Anhörungen ein Forum zu geben, damit und ich sprachen zu den Protestieren- ihre Argumente mehr Gehör finden. den. Dank des außerparlamentarischen Drucks wurde die Richtlinie im Verkehrsausschuss abgelehnt. Mit Druck gegen neoliberale Projekte Leider hat das Parlamentsplenum die Richtlinie nicht Mit Liberalisierung will die EU im Verkehrsbereich den abschließend zurückgewiesen, und es kam zu Neu- Wettbewerb fördern: Sei es bei der Post, der Bahn verhandlungen im Verkehrsausschuss. ver.di, Sozi- oder auf den Flughäfen. Das Ergebnis ist aber nicht aldemokraten und Konservative verhandelten einen mehr Wohlstand für alle, sondern Dumping bei Löhnen Kompromiss. Nun müssen Flughäfen mit mindestens und Arbeitsbedingungen zu Lasten der Beschäftigten 15 Millionen Passagieren pro Jahr zumindest drei ver- und Qualitätsverschlechterungen öffentlicher Dienst- schiedene Anbieter bei den Bodenverkehrsdiensten zu- leistungen. Darunter leiden besonders diejenigen, die lassen. Diese Marktöffnung wird zu schwerwiegenden dringend auf sie angewiesen sind. Verschlechterungen für die Beschäftigten bei Einkom- menssituation und Arbeitsbedingungen zur Folge ha- Das Flughafenpaket – ben, aber auch bei Qualität und Sicherheit. Fluglärm und Bodendienste Das Flughafenpaket hat viele Facetten. Selbstverständ- Flugzeiten der Piloten lich engagieren wir uns gegen den Fluglärm, in Hessen Die Europäische Kommission hatte eine Verordnung gemeinsam mit der Landtagsfraktion. Dazu machten vorgelegt, in der sie willkürlich die Flugzeiten für Pi-

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kritik der real existierenden EU-Politik loten auf bis zu 12,5 Stunden ausweiten wollte. Ver- stand organisiert wird, was aber noch nicht erkennbar schiedene Studien und Gutachten hatten jedoch be- ist. Nach den erfolgreichen Kämpfen gegen Port Packa- legt, dass eine Dienstzeit von mehr als zehn Stunden ge I und II durch die Beschäftigten ist jedoch ein großes ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellt. Auch wurde Widerstandspotenzial vorhanden. der Vorschlag von den europäischen Pilotenverbänden Neben den genannten Beispielen mache ich auch im scharf kritisiert. Der Kommissionsvorschlag wurde im Umweltausschuss Druck von links, insbesondere wenn Verkehrsausschuss abgelehnt. In der Parlamentsdebat- Profitinteressen gegen die Interessen von Mensch und te deutete der zuständige EU-Kommissar Kallas vage Umwelt stehen. Vom Klimawandel sind besonders die Zugeständnisse an. Daraufhin votierte eine Mehrheit im Menschen in den Entwicklungsländern betroffen. Die Europäischen Parlament gegen den alternativen Vor- Weltklimakonferenzen können zurzeit daran nichts än- schlag des Verkehrsausschusses, der eine Flugdienst- dern. zeiten-Verlängerung ablehnte. Die Abgeordneten ver- Ob es um Agrotreibstoffe, Fracking, Tiefseebohren trauten mehrheitlich schwammigen Beteuerungen der nach Öl in der Arktis oder um den Klimawandel geht, Kommission mehr als wissenschaftlichen Gutachten eine satte Mehrheit der Allparteienkoalition setzt auf der Flugsicherheitsbehörde EASA. Gewinne der Konzerne statt auf die Zukunftsinteressen der Menschheit. Port Package III Im Sinne der Profitmaximierung der Atomkonzerne wird Ein anderes Beispiel neoliberaler EU-Politik ist der Ent- an der Sicherheit gespart. Im Vertrag zur Gründung der wurf der EU-Kommission zur „Verordnung zur Schaf- Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) sind fung eines Rahmens für den Zugang zum Markt für Ha- zwar Sicherheitsstandards festgelegt, diese wurden fendienste“. jedoch von der Atomlobby selbst gemeinsam mit der Die Verordnung soll die sog. Konzessionsrichtlinie auf EU-Kommission geschrieben. die Hafenbetriebe anwenden und stellt damit für die Be- Gemeinsam mit den Umweltbewegungen und den Be- schäftigten in den Häfen eine Bedrohung dar. Weltweit troffenen müssen wir in Zukunft noch mehr Druck entfal- agierende Konzerne werden den Zuschlag für die Arbeit ten um dies zu ändern. in den Häfen erhalten können. Sie werden niedrigere Löhne zahlen und die Arbeitsbedingungen verschlech- tern, wie z.B. im Hafen von Piräus. Weitere Informationen gibt es hierzu unter: Auch hier wird sich nur dann etwas bewegen, wenn in www.sabine-wils.eu den Hafenbetrieben durch die Gewerkschaften Wider-

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Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kritik der real existierenden EU-Politik Klassenkampf von oben. Die Wirtschaftsregierung des Finanzkapitals

Die Economic Governance der EU macht das soziale Europa tot meint Klaus Dräger

„Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung. Kollaps bewahrte. An den daraufhin explodierenden Wir brauchen eine Instanz, die jetzt die Finanzpolitik Staatsschulden verdienen nun dieselben Banken, die koordiniert, die jetzt die Steuerpolitik koordiniert, die zuvor vor den Folgen ihrer Fehlspekulationen gerettet jetzt vor allem die Lohnpolitik koordiniert, sonst bricht wurden. Die gelockerte Geldpolitik der EZB erlaubt den der Euro auseinander.“1 Banken, sich zu niedrigen Zinsen Geld bei der EZB zu leihen und Staatsanleihen der EU-Krisenländer zu kau- 10 Ein Geflecht aus neu geschaffenen Verfahren, Institu- fen, die ihnen weit höhere Zinsen bringen. tionen und Politiken gestaltet die wirtschaftspolitische Steuerung (Economic Governance) in der EU. Die Die Konsolidierung der Staatsfinanzen soll vorange- Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank trieben werden, indem die Überschreitung der Maas- (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF); die tricht-Obergrenzen zu Haushaltsdefiziten (3 % des BIP) Eurorettungsschirme EFSF und ESM; Europa 2020 als und staatlicher Gesamtverschuldung (60 % des BIP) Nachfolge der gescheiterten Lissabonstrategie der EU mit schärferen und automatischen Sanktionen belegt (2000 – 2010); der verschärfte Stabilitätspakt für den wurden und die Mitgliedstaaten eine Schuldenbremse Euro; ein neues EU-Verfahren zur Bekämpfung wirt- nach deutschem Vorbild einführen. Damit wurde die schaftlicher Ungleichgewichte; der EuroPlusPakt; neue Politik der Ausgabenkürzungen (Austerität) verschärft EU-Gesetze zu all dem (Six-Pack und Two-Pack) sowie und verstetigt. Dies ließ Kaufkraft und Binnennachfrage ein neues Verfahren zur Koordinierung und Überprüfung rapide einbrechen. So verlor z.B. Griechenland im Zeit- der damit verbunden Politiken von EU und Mitglied- raum 2008 – 2012 knapp ein Fünftel (18,5 %) seines staaten (Europäisches Semester); der zwischen 25 Bruttoinlandsprodukts (BIP), Portugal rund 8 %. Ge- Mitgliedstaaten (ohne Großbritannien und Tschechien) gen die dadurch entstehenden neuen Haushaltslöcher außerhalb der EU-Verträge vereinbarte Fiskalpakt; die muss nach den EU-Regeln mit erneuten Kürzungen EZB-Politik einer geldpolitischen Lockerung, Pläne für angespart werden. Kurzfristig sinken so zwar die jährli- eine Bankenunion, die im ersten schon beschlossenen chen Haushaltsdefizite. Weil das BIP schrumpft, steigt Schritt der EZB die Aufgabe übertrugen, „systemrele- aber der Anteil der öffentlichen Gesamtverschuldung vante Banken“ in der Eurozone zu überwachen und not- (z.B. 2008 – 2012 von 110,7 % auf 153,2 % des BIP falls abzuwickeln. in Griechenland, von 71,6 % auf 112,4 % des BIP in Portugal). Die Krise der Staatsfinanzen wird so weiter Mit Wirtschaftsregierung im Sinne Oskar Lafontaines angeheizt. hat der von der EU eingeschlagene Weg nichts zu tun. Die EU Economic Governance ist eine „stille Re- Neoliberale Strukturreformen sollen die EU-Wirtschaft volution“ (Kommissionspräsident Barroso) – eine Wirt- wieder dynamischer machen und Wachstum bringen. schaftsregierung für abermals verschärfte neoliberale Weitere Reformen des EU-Binnenmarkts sollen vor Reformen. allem die Dienstleistungen noch mehr liberalisieren und Vorschriften für Unternehmen abbauen. Die Re- Finanzielle Stabilität wurde aus Sicht der EU wieder gierungen verlängern Arbeitszeiten, kürzen Renten, hergestellt, indem man private Unternehmen und Ban- Bildungsetats und Sozialleistungen, erhöhen das Ren- ken durch Milliardenhilfen aus Steuermitteln vor dem teneintrittsalter, verkleinern den öffentlichen Dienst und

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kritik der real existierenden EU-Politik das Gesundheitswesen und privatisieren fast alles, was genzug für Kreditzusagen verpflichten, detaillierte Auf- nicht niet- und nagelfest ist. Entsprechende Politikem- lagen zur Strukturanpassung umzusetzen. Ihre Parla- pfehlungen der EU finden sich zuhauf in den Leitlinien mente verloren dabei weitgehend ihre demokratische zur Europa-2020-Strategie, im EuroPlusPakt, den län- Souveränität in Fragen der Fiskal-, Wirtschafts- und derspezifischen Empfehlungen des Rats im Rahmen Sozialpolitik. des Europäischen Semesters usw. Sie werden von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten auch umgesetzt. Wo solche direkten Eingriffsmöglichkeiten noch fehlen, hilft der Appell an das „ständige Plebiszit der globalen Fragen des Entgelts und der Tarifverhandlungen sind Märkte“ (Bundesbankchef Tietmeyer 1998). EU-Kom- zwar explizit vom Anwendungsbereich der EU-Verträge mission, EZB, die deutsche Regierung usw. stellten die ausgenommen. Die EU Economic Governance macht Wirtschafts- und Finanzpolitik einiger Mitgliedstaaten aber Vorgaben dazu. Lohnfindungsprozesse sollen stär- öffentlich an den Pranger. So erzwang z.B. die Reak- ker dezentralisiert, d.h. Tarifverhandlungen z.B. mehr tion der Finanzmärkte Expertenregierungen ohne de- auf die betriebliche Ebene verlagert werden. In den mokratische Neuwahlen in Griechenland (Papademos) EU-Ländern unter Kontrolle der Troika wurden Mindest- und Italien (Monti). Demokratische Wahlen (siehe zuvor löhne gekürzt, Tarifverträge komplett ausgehebelt und z.B. Irland, Portugal, Spanien und später z.B. Griechen- neue Regelungen eingeführt, die es z.B. Betriebsräten land, Italien, Slowenien, Frankreich) bringen keine Ab- (Spanien, Portugal) oder „Vereinigungen von mehr als kehr vom Austeritätskurs, denn die Parteien sowohl des 20 Arbeitnehmern“ (Griechenland) ermöglichen, Tarif- Mitte-Rechts wie des Mitte-Links-Spektrums vertreten verträge zu schließen.2 wirtschaftspolitisch im Prinzip das gleiche Programm. Egal wird, welcher Block am Ende regiert. EZB-Chef Die EU Economic Governance organisiert so in erster Mario Draghi hat daher im Grunde Recht: Das soziale Linie ein Programm des „Klassenkampfs von oben“: Europa ist mausetot. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Bevölke- rungsgruppen, die auf sozialstaatliche Leistungen an- gewiesen sind, werden enteignet und vormaliger so- ___ zialstaatlicher Rechte beraubt, um Finanzmärkte und 1 Oskar Lafontaine in seiner Rede auf dem 2. Bundesparteitag der Unternehmen wieder aufzupäppeln. LINKEN in Rostock am 15. Mai 2010. 2 Das Europäische Gewerkschaftsinstitut hat hierzu Studien und Dies bedeutet auch das Ende der Demokratie wie wir Länderberichte erstellt. Sie können unter folgenden Link im Internet sie kannten. Offensichtlich ist dies bei den EU-Ländern abgerufen werden: www.etui.org/Publications2/Working-Papers/ unter Kuratel der Troika (z.B. Lettland, Ungarn, Rumä- The-crisis-and-national-labour-law-reforms-a-mapping-exercise. nien, Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Zypern, 11 demnächst wohl Slowenien). Sie mussten sich im Ge-

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kritik der real existierenden EU-Politik Widerstand gegen Jugendarbeitslosigkeit

Für eine Perspektive für Jugendliche in Europa plädieren Jules El-Khatib, Daniel Kerekeš, Jasper Prigge

Seit Beginn der Krise des Kapitalismus 2008 spitzt Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern ge- sich die Situation auf den Arbeitsmärkten Europas ins- gen die Peripherieländer. Dieses Auseinanderdriften besondere im Süden des Kontinents immer weiter zu. In bedeutet eine Gefahr für die an sich gute Idee eines Griechenland und Spanien haben mehr als 50 Prozent geeinten Europas, die mit der EU nur unzureichend um- der Bevölkerung unter 25 Jahren keinen Job - in zehn gesetzt wird. Die Folgen sind politische Ohnmachtsge- weiteren europäischen Ländern wie Italien, Portugal, fühle und das Erstarken neofaschistischer Kräfte, die Zypern und Slowenien sind mehr als 20 Prozent der mit ihrer pseudo-antikapitalistischen Kritik vor allem ver- Jugendlichen und jungen Erwachsenen erwerbslos. Die suchen Jugendliche anzusprechen. 12 hohe Jugendarbeitslosigkeit kostet die EU jährlich 75 Milliarden Euro; hinzu kommt ein Vermögensverlust von Antikapitalistischer Widerstand 223 Milliarden Euro bei den Betroffenen. Während die Menschen im Süden der EU und in Irland auch als Antwort auf die neofaschistische Gefahr auf Vor kurzem wurde durch die EU-Kommission ein Hilfs- die Straße gehen, Gewerkschaften zu Generalstreiks paket für Jugendliche geschnürt. Doch die verspro- aufrufen und linke Parteien die Spardiktate ablösen chenen 45 Milliarden Euro sind wie schon der 2012 wollen, ist es Zeit, dass deutsche Aktivist*innen auch verabredete „Wachstumspakt“ nur eine Mogelpackung. mit Aktionen deutlich machen, dass sie die Troika-Poli- Um genug Arbeit für alle jungen Menschen zu schaf- tik ablehnen. Die Blockupy-Proteste stellen auch 2014 fen, muss die Kürzungspolitik gestoppt werden. Nötig den entscheidenden Aktionstagen in Deutschland für ist zudem ein massives Investitionsprogramm, das zu- antikapitalistischen Widerstand gegen die Kürzungspo- kunftsfähige Arbeitsplätze in den jetzigen Krisenländern litik dar. Die Linksjugend [‘solid] wird Blockupy 2014 schafft. Ohne einen radikalen Kurswechsel bleibt die erneut bestmöglich unterstützen. Auch die Solidarisie- EU ein Projekt, das für die Jugend Europas vor allem rung mit den Generalstreiks in den Krisen-Staaten bie- Verarmung und Perspektivlosigkeit bedeutet. Politisch tet die Möglichkeit zu internationaler Zusammenarbeit steht ein wirtschaftliches und politisches Zentrum mit und einer gemeinsamen linken Perspektive.

Die Wahl von Alexis Tsipras zum Spitzenkandidaten der Europäischen Linken (EL) ist ein wichtiger Schritt zu einer gemeinsamen linken Kampagne gegen die Troika-Politik. Sie kann der Startpunkt für eine breite- re Bewegung für einen Neustart eines gemeinsamen Europa sein. Ein Neustart, der mit der Kürzungspolitik bricht, alle Maßnahmen der Troika zurücknimmt und die Eigentumsfrage als einen zentralen Punkt der Ausein- andersetzung erkennt. Eine solche Europäische Linke kann im Bündnis mit Gewerkschaften und sozialen Be- wegung deutlich machen, dass nationalistische Parolen keine Alternative bieten, ein Bruch mit dem Kapitalis- mus notwendig und internationalistische Solidarität un- erlässlich ist, um der Jugend Europas eine Perspektive zu geben.

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kritik der real existierenden EU-Politik

eIntrIttserKlärung Hiermit erkläre ich meinen Eintritt in die Linksjugend ['solid] e.V.. Ich er- kenne die Satzung und die politischen Grundsätze des Jugendverbandes an. In meinem Mitgliedsbeitrag ist der Bezug der Verbandszeitung und regelmäßiger Infos enthalten. Der monatliche Mindestbeitrag der aktiven Mitglieder von Linksjugend ['solid] beträgt grundsätzlich 1 € als Mindestbeitrag für Nichtver- dienerInnen und 2 € als Mindestbeitrag für Nettoeinkommen bis 500 €. Bei Nettoeinkommen bis 1.000 € beträgt der Mindestbeitrag 4 €. Bei Nettoeinkommen bis 1.500 € beträgt der Mindestbeitrag 10 €. Bei höheren Einkommen beträgt der Mindestbeitrag 15 €. Aktive Mitglieder, die MandatsträgerInnen auf Landes-, Bundes- oder Europaebene sind, zahlen mindestens 25 €

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Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Wie weiter mit Europa? Linke Debatte Interview „SYRIZA als Vorbild: Konsequent an den politischen Alternativen arbeiten“

Über politische Strategien von Parteien und Gewerkschaften in der Eurokrise sprachen wir mit dem Gewerkschafts- und Arbeitsmarktforscher Steffen Lehndorff .

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r+r: Wie wird die Eurokrise in den Mitgliedslän- sich diese nationalen Eliten genau anschauen. In Spa- dern diskutiert? Was erwartet man? Ein weiteres nien z.B. regiert jetzt die Volkspartei (Partido Popular, „sich Durchwurschteln“ durch die Krise, einen PP), deren Wurzeln teilweise noch in die Franco-Zeit Kollaps, ein Kerneuropa oder eine „vervollstän- zurückreichen. Die PP setzt ein in jeder Hinsicht reak- digte“ Fiskalunion? tionäres Programm durch, für das sie unter „normalen“ Steffen Lehndorff: Ich denke, dass auf EU-Ebene ge- Umständen niemals eine Mehrheit gefunden hätte. Das- genwärtig ein „Durchlavieren“ stattfindet, allerdings auf selbe Grundmuster findet sich in Griechenland und der Basis eines knallharten neoliberalen Programms, Portugal. Es gibt sicherlich große Unterschiede in der also der Schwächung des Sozialstaats und der Dere- jeweiligen Rolle von Sozialdemokratie und radikaleren gulierung von Arbeits- und Produktmärkten. Auf den na- Linken zum Beispiel zwischen Spanien und Griechen- tionalen Ebenen gibt es zum einen die klare Dominanz land, aber das Verhalten der Eliten ist sehr ähnlich. Was des neoliberalen Kurses in den „Programmländern“, die den Umbruch der Strukturen angeht, ist Spanien sogar unter Kuratel der Troika stehen, sowie in Spanien, aber bemerkenswerter als Griechenland, weil dort jahrzehn- auch (gewissermaßen aus freien Stücken) in Großbri- telang etablierte soziale Kompromissstrukturen aufge- tannien. In den anderen Ländern ist der Einfluss eher brochen werden - mit unabsehbaren sozialen Folgen. mittelbar und macht sich durch die „Europa 2020“-Stra- tegie, das sogenannte Europäische Semester und den Gibt es denn auch Widersprüche im „bürgerli- Fiskalpakt, bemerkbar. Aber vor allem die Krisenländer chen Lager“ der Krisenländer? In Deutschland ähneln sich im Grundmuster. erleben wir mit dem Rausflug der FDP aus dem Bundestag und der AfD-Gründung gerade eine Welches Muster meinst Du? „Neusortierung“ bürgerlicher Parteien. Die herrschenden Eliten dort sind selbst politisch zu Es gibt durchaus auch Gegensätze. In Portugal etwa schwach für einen knallharten neoliberalen Kurs und treten sie auf zwischen dem Präsidenten Silva und dem nutzen die Troika, um eine Politik zu machen, die sie Ministerpräsidenten Coelho, die beide der konservati- alleine nie durchsetzen könnten. Allerdings werden sie ven PSD (Partido Social Democrata) angehören, weil dadurch selbst zum Instrument der Troika, was ihnen der Präsident stärker auf die Wahrung des sozialen bei Protestdemonstrationen deutlich gemacht wird. Sie Friedens bedacht ist. In Spanien treten Spannungen im sind sozusagen „Treiber und Getriebene“. Man muss Hinblick auf die Autonomiebestrebungen der Regionen

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Wie weiter mit Europa? Linke Debatte auf, vor allem bei der katalanischen Bourgeoisie. Ange- einem Notprogramm. Doch nach der Räumung durch la Merkel sagte bei einem der letzten Weltwirtschafts- die Polizei am 7. November blieb es offenbar erstaunlich gipfel in Davos, dass für „Strukturreformen“ Druck ge- ruhig. braucht werde. Was das bedeutet, können wir heute in den Krisenländern sehen. Durch seine Konstruktion Einen vergleichbaren kometenhaften Aufstieg wirkt der Euro für jedes Mitgliedsland wie eine Fremd- hat sonst nur die „Fünf Sterne“-Bewegung von währung und die Staaten konkurrieren miteinander, als Beppe Grillo in Italien hingelegt. Manche speku- ob es Unternehmen wären. Politischer Druck wird so lieren schon, ob sie sich im Europäischen Parla- durch vermeintliche Marktzwänge untermauert. Aber ment der Linksfraktion GUE/NGL anschließen. hier können Widersprüche auftreten, denn Akteure wie Wie schätzt Du sie ein? die spanische PP möchten sich nicht auf Dauer durch Ich denke, dass die Eurokrise auch eine Rolle bei ihrem die EU-Kommission oder die deutsche Bundesregie- schnellen Aufstieg gespielt haben mag. Aber in erster rung „hineinregieren“ lassen. Linie ist diese Bewegung ein Ausdruck der tiefen Kri- se des politischen System Italiens. Die Ära Berlusconi Wie siehst Du die politische Linke aufgestellt? (2001-2006, 2008-2011) war gleichbedeutend mit ei- Kann sie allgemein davon profitieren? ner erheblichen Entpolitisierung und einer beschleunig- Die kapitalismuskritische Linke in Europa ist bislang mit ten Zerrüttung des politischen Systems. Beppe Grillo Ausnahme Griechenlands nicht stärker geworden, da- besetzt mit seiner „Anti-Politik“ eine Lücke, die auch die her können die Risse im bürgerlichen Lager in diesen politische Linke hinterlassen hat. Es hat so viele Spal- Ländern wahrscheinlich erfolgreich gekittet werden. In tungen, Verrenkungen und Eitelkeiten gegeben von den Griechenland finden die Abspaltungen eher bei den Ko- Gruppen, die aus der Erbmasse der kommunistischen alitionspartnern der konservativen ND (Nea Dimokratia) Partei (PCI, Partito Comunista Italiano) entstanden statt, also der Partei von Ministerpräsident Samaras. Vor sind. Zwischenzeitlich hat die Fünf Sterne-Bewegung allem die sozialdemokratische PASOK ist inzwischen in auch wieder Niederlagen eingefahren. Geschadet hat der Wählergunst fast marginalisiert. SYRIZA ist die ein- ihnen wahrscheinlich auch ihr widersprüchliches Auf- zige linke Partei in Europa, die es geschafft hat, in den treten. Sie geben sich einerseits „netzdemokratisch“, Umfragen und Wahlergebnissen an die Mainstream- tatsächlich werden sie aber autoritär von Beppe Grillo Parteien heranzukommen. Der Zuspruch zu SYRIZA kontrolliert. Zudem sind die „Fünf Sterne“ weit entfernt ist sicherlich nicht allein Zustimmung zu ihrem linken davon, politische Alternativen zu formulieren. Sie sind Programm, sondern auch Ausdruck von Protest, Ver- zwar Ausdruck von Protest, aber wenn sie es dabei be- zweiflung und nackter Not angesichts der dramatisch lassen, wird sie das nicht weit bringen, ähnlich wie die verschlechterten Zustände in Griechenland. Sicherlich PIRATEN in Deutschland. wird in einer solchen Situation selbst das beste linke 15 Programm nur unvollständig zur Kenntnis genommen. Kann man überhaupt von einem gemeinschaftli- Das ist natürlich auch problematisch, denn Verzweiflung chen Auftreten, von einer „Strategie“ der kapita- kann sehr schnell in Resignation umschlagen, und das lismuskritischen Linken in Europa sprechen? wäre das Aus für die politische Linke in Griechenland. Bei den wichtigen linken Parteien gibt es durchaus star- Das lässt sich anhand des abgeschalteten früheren ke Gemeinsamkeiten, vor allem in der Bewertung der staatlichen Rundfunksenders ERT (Elliniki Radiofonia Krisenpolitik. Spannender wird es hinsichtlich der Alter- Tileorasi) beobachten. Zuerst gab es einen heftigen Widerstand mit Besetzung gegen die Schließung mit

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken 16

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Wie weiter mit Europa? Linke Debatte nativen: Geht die Gemeinsamkeit über Verlautbarungen Du hast die Gewerkschaften als wichtige Akteu- hinaus? Das in Arbeit befindliche Regierungsprogramm rinnen angesprochen. Viele Linke beklagen, dass von SYRIZA tut das meines Wissens tatsächlich und es kein abgestimmtes Vorgehen europäischer versucht ernsthaft Voraussetzungen für einen neuen, Gewerkschaften in der Lohnpolitik gegeben hat. sozialen und ökologischen Entwicklungspfad für Grie- Die Diskussion um Koordinationsschwierigkeiten unter chenland zu formulieren. Das betone ich, weil es auch europäischen Gewerkschaften ist sicherlich berech- für uns relevant ist. Denn: Im „Marshallplan für Europa“- tigt, sie hat aber auch etwas künstliches. Der größte Vorschlag des DGB wird richtigerweise sinngemäß „Ausreißer“ bei der Lohnentwicklung war eindeutig gesagt: „Wir können nicht FÜR EUCH (d.h., die Politik Deutschland. Allerdings nicht, weil die Gewerkschaften in den jeweiligen Mitgliedstaaten) Pläne für Investitions- das gewollt hätten. Ursächlich war vielmehr, dass das programme für Eure Länder ausarbeiten. Das könnt Ihr traditionellen „Geleitzug“-Prinzip bei Tarifverhandlungen nur selbst“. wegen der Blockade der Allgemeinverbindlichkeitser- Soweit ich weiß, hat bislang nur der italienische Ge- klärung von Tarifverträgen durch die deutschen Arbeit- werkschaftsbund CGIL (Confederazione Generale Ita- geberverbände ausgehebelt wurde. Zugleich haben die liana del Lavoro ) diese Frage (implizit) mit ihrem wirt- Steuersenkungen die Tarifentwicklung im öffentlichen schaftspolitischen Entwurf für „Arbeit in Italien“, der Dienst schwer belastet. Vor allem aber haben die sog. sich auch mit solch großen Problemen wie Korruption Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 diese Effekte und Ineffizienz des Staatsapparats auseinandersetzt, verschärft, so dass die Effektivlöhne weit hinter den Ta- beantwortet. Zudem hat das Forschungsinstitut der riflöhnen zurückgeblieben sind. Solange es in Deutsch- griechischen Gewerkschaften die Perspektivlosigkeit land diesen riesigen Niedriglohnsektor gibt, kann nicht des griechischen Wachstumsmodells der Vorkrisenzeit mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden, dass Tarif- schon kritisiert, als dieses noch von der EU-Kommission lohnerhöhungen tatsächlich zu höheren Effektivlöhnen bejubelt wurde, und arbeitet heute z.B. an regionalen führen. Entwicklungskonzepten. In Osteuropa ist die Situation noch viel schwieriger, dort Von den Parteien allerdings ist mir nur SYRIZA bekannt, haben die Gewerkschaften nur sehr geringen Einfluss. die sich mit dieser Ernsthaftigkeit auf die Gestaltungs- Sie leiden an einer geringen Tarifbindung und einem frage einlässt. Ich finde, es ist immer noch ein Defizit niedrigen Organisationsgrad. In Ungarn findet derzeit linker Parteien, dass sie nicht konsequent genug al- ein Frontalangriff der Regierung auf die Gewerkschaf- ternative wirtschaftliche, soziale und ökologische Ent- ten statt, in Rumänien geschieht Ähnliches schon län- wicklungspfade (um das Wort „Wachstumsmodelle“ zu ger. Diese Konstellationen sind noch immer Spätfolgen vermeiden) ausarbeiten und diskutieren. Meine spani- der Ablösung des Staatssozialismus nach 1989 und schen Kollegen zum Beispiel kritisieren in ihrem Beitrag der neoliberalen „Schockstrategien“, die darauf folgten. zu meinem Buch dieses Manko mit Blick auf ihr Land Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung in Polen mit 17 ausdrücklich. Nur wenn es konsequente Arbeit an alter- dem gemeinsamen Protest beider Gewerkschaftsver- nativen Entwicklungspfaden in den Krisenländern (und bände im September 2013 bemerkenswert und ermu- darüber hinaus) gibt, hat eine linke Reformstrategie auf tigend. EU-Ebene eine Chance. Man wüsste ja gar nicht, wo- Für mich zeigen diese sehr unterschiedlichen Entwick- hin die mit Hilfe von Eurobonds, Investitionsfonds u.ä. lungen, dass eine Fokussierung auf europäische Tarif- mobilisierten Mittel sinnvollerweise gehen sollten. Auf politik-Koordinierung zu eng ist. Genauso wichtig ist dieses Problem sollten Linke mehr Hirnschmalz verwen- die Auseinandersetzung um elementare institutionelle den, finde ich. Zum Beispiel gehen wichtige Anregun- Rahmenbedingungen für aktive Tarifpolitik in den ein- gen in diese Richtung von der europäischen Stiftung zelnen Ländern und die Durchsetzung eines europäi- transform!europe aus, die der Linken auf EU-Ebene na- schen Mindestlohns — natürlich nicht in gleicher Höhe hesteht. Aber ich bin mir nicht sicher, wie intensiv diese für alle Länder, sondern nach einer gemeinsamen For- Überlegungen in den Parteien der europäischen Linken mel. Ich halte es für wichtig, dass solche Fragen in der wahrgenommen werden. deutschen Linken ernster genommen werden. Denn Deutschland ist jetzt definitiv eine vorherrschende Kraft Aber waren nicht die Linken und kritische Wirt- in Europa, aber die Herrschenden in Deutschland wer- schaftwissenschaftlerInnen immer wieder in sol- den der damit verbundenen Verantwortung überhaupt chen Fragen Vorreiter? nicht gerecht. Für Linke ist der Blick über den Tellerrand Nach meinem vielleicht oberflächlichen Eindruck ist die deshalb unverzichtbar. Kritik an der herrschenden Politik in den meisten Län- dern deutlich stärker entwickelt als die Erarbeitung von Wir danken für das Gespräch. Alternativen, selbst dort, wo — wie in Frankreich — fort- schrittliche Ökonomen eine weitaus größere Rolle in der Öffentlichkeit spielen als insbesondere in Deutschland. Ich fände es gut, wenn in der europäischen Linken an einer Kultur gearbeitet würde, die es ermöglicht, lände- rübergreifend solche Schwächen offen anzusprechen, damit sie schneller überwunden werden können. Denn Hinweis: Im April 2014 erscheint im VSA-Verlag der die wechselseitige Abhängigkeit von Gewerkschaften Sammelband „Europa vor einem verlorenen Jahrzehnt?“ und Linken hat durch den Euro und die Dynamik der von Steffen Lehndorff mit zehn Länderstudien zu den Krise enorm zugenommen. Auswirkungen der Eurokrise.

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Wie weiter mit Europa? Linke Debatte Gegen die Austerität in Europa – kämpfen wir für einen anderen Euro!

Die Forderung nach einem EURO-Ausstieg ist eine Flucht vor einer Neuausrichtung der Politik der EZB sagen Paul Boccara, Frédéric Boccara, Yves Dimicoli, Denis Durand, Jean- Marc Durand und Catherine Mills

Die Wut gegen die Austerität wächst überall in Europa hen. Aus fünf gewichtigen Gründen handelt es sich da- und klagt das Versagen der politischen Entscheidungs- bei um eine demagogische und gefährliche Illusion. träger an, die nacheinander die Unterordnung unter die Forderungen der Finanzmärkte fordern. Die Arbeitslo- 1. Der Außenhandel Frankreichs leidet unter einem 18 sigkeit wütet und trifft auf brutale und massive Weise jährlichen Defizit von 60 bis 70 Milliarden Euro. Die junge Menschen. Rückkehr zum Franc, die mit einer Abwertung in einer Das schreckliche gesellschaftliche Leid gibt Illusionen Größenordnung von 25% im Verhältnis zum Euro ein- von trügerischer Radikalität Nahrung. Einerseits ist herginge, würde automatisch eine Verteuerung unserer steht eine Mehrheit dagegen, aus dem Euro auszustei- Importe in gleicher Höhe nach sich ziehen. gen, wie es die Griechen selbst bestätigt haben. Es geht nicht darum, sich vereinzelt den Finanzmärkten und 2. Das sei nicht so schlimm, sagt man uns daraufhin, der entfesselten Spekulation auszusetzen. Andererseits weil dank Abwertung des Franc unsere Exporte schlag- dröhnt der Protest gegen die Anwendung des Euro, die artig zunähmen. Aber das ist kaum abzusehen, wo doch so deutlich zugunsten der Herrschaft der Finanzmärkte überall auf absehbare Zeit das Wachstum gedrosselt und der großen Banken ausfällt. Daraus folgt für einige bleiben wird. Man übersieht dabei, wie der davon er- der Vorschlag, aus dem Euro auszusteigen. hoffte Anstieg preislicher Wettbewerbsfähigkeit franzö- François Hollande betont wiederholt, die Eurokrise sei sischer Exporte auf Kosten unserer südeuropäischen beendet. Diese Einschätzung ist genauso fehlgeleitet Nachbarländer ginge. Deutschland hingegen sähe sei- und trügerisch wie das Versprechen, bis Ende 2013 bei nen Außenhandelsüberschuss erhöht, weil die Abwer- der Arbeitslosigkeit in Frankreich die Wende zu schaf- tung der französischen Erzeugnisse die Importe seines fen. wichtigsten Handelspartners verbilligt. Und all dies in Bei ihm, der schließlich versprochen hatte, dass er „im einem Umfeld entfesselter Spekulation. Kurz: Es wäre Falle (seiner) Wahl zum Präsidenten“ den Fiskalpakt das schlimme Überbietungsszenario von Abwertungs- von Merkozy „nachverhandeln“, „die EZB neu ausrich- wettläufen und Vergeltungszöllen, in dem sich die eu- ten“, die Finanzmärkte als seinen „Gegner“ angehen ropäischen Länder gegenseitig zerreißen. Stattdessen und „das Wachstum verteidigen“ wollte, ist die Verleug- muss die Austeritätspolitik infrage gestellt werden, mit nung all dessen umso schädlicher, als Frankreich, zu- einem Kampf um eine fortschrittlich, soziale Wachstum- gleich herrschend und beherrscht, ein Weichensteller spolitik, die ein anderer Euro und eine andere, solidari- ist, um die Eurozone zu verwandeln. Hollande beugt sche Anwendung der EZB ermöglichen würden. sich den Forderungen Angela Merkels und der deut- schen Finanzwelt und beteuert zugleich, französischen 3. Unsere Staatsschuld wurde seit den 1980ern stark Interessen zu vertreten. internationalisiert. Heute wird sie zu 60% von nicht hier Angesichts dieser Hindernisse bemühen einige den ansässigen Marktteilnehmern gehalten sowie Banken, Vorschlag, aus dem Euro auszusteigen. Das bedeutete Versicherungsgesellschaften, Pensionsfonds…. Die aber letztlich, sich dem entscheidenden Kampf um eine Rückkehr zum Franc zöge automatisch eine Verteu- anderen Anwendung des Euro und der EZB zu entzie- erung von 25% der 1140 Milliarden Euro Schuldtitel

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Wie weiter mit Europa? Linke Debatte nach sich, die außerhalb Frankreichs gehalten werden. verwaltet und jedem Land anteilmäßig entsprechend In Franc ausgedrückt, würden die Zinszahlungen in die seiner Bedarfe zugewiesen. Höhe schießen, obwohl sie doch bereits ca. 50 Milli- arden Euro pro Jahr in Anspruch nehmen! Hingegen Fordern wir aufbauend um Kämpfe um Beschäftigung erlaubte die Abwertung des Franc ausländischem Ka- und Löhne, gegen die Kreditverkappung für die kleinen pital, etwa aus Deutschland, zu günstigen Preisen nach und mittleren Unternehmen, dass die EZB nicht weiter unseren Produktivvermögen zu greifen. die Kredite an Spekulanten finanziert oder an Unterneh- men, die Arbeitsplätze abbauen, prekärer machen oder 4. Am wichtigsten aber ist, dass man bei einem Euro- verlagern. Fordern wir, dass sie Kredite für Sach- und Ausstieg das Feld räumt, auf dem um einen anderen Forschungsinvestitionen der Unternehmen zu einem Euro und eine solidarische Konstruktion der Europäi- noch niedrigeren Zinssatz, bis hin zu Nullzinsen oder da- schen Union gekämpft wird, zum Nachteil einer neuen runter, finanziert, und dass diese Investitionen zu mehr Wachstumspolitik zugunsten der Bevölkerungen und Arbeitsplätzen und anständig bezahlten Ausbildungs- nicht zuletzt zur Unterstützung der südeuropäischen plätzen führen, sowie zu ökologischem Fortschritt. Länder. Man ließe die historische Chance vorbeiziehen, die wirtschaftliche und soziale Situation in Frankreich, in 5. Auf weltweiter Ebene bliebe nur noch der Dollar als Europa und weltweit zu verändern. Eine neue, solidari- internationale Reservewährung, wenn man den Euro sche Politik in der EZB würde sich auf Macht zur Geld- abschaffte. Dessen Vorherrschaft würde bestärkt. Die schöpfung stützen, die die EZB besitzt. Während jedes Dollar-Geldschöpfung ermöglicht den Vereinigten Staa- europäische Land für sich allein nur ein begrenztes Po- ten, ihre wirtschaftliche, kulturelle und militärische Herr- tential besitzt, bietet der Euro mit der gemeinschaftli- schaft zu finanzieren. Sie erlaubt es ihnen auch, sich in chen Geldschöpfung deutlich größere Möglichkeiten, ihrer eigenen Währung gegenüber dem Rest der Welt denn diese beruht auf der Fähigkeit zur Reichtumser- zu verschulden. China, Russland und die lateinamerika- zeugung und der Kreativität von 322 Millionen Perso- nischen Länder wollen sich von dieser Herrschaft befrei- nen. en durch eine gemeinschaftliche Weltwährung, ausge- Stützen wir uns auf das Scheitern der heutigen Euro- hend von Sonderziehungsrechten des Internationalen Konstruktion nicht, um im Hinblick auf notwendige Ver- Währungsfonds, wie es auch von Vertretern der PCF änderungen und Solidarität zwischen den Eurpäern zu- und im Wahlprogramm der Linksfront „Der Mensch zu- rückzufallen, sondern für eine neue Art von Wachstum erst!“ gefordert wird. Aber wie sollte man sein Gewicht und Entwicklung. in eine globale Verhandlung mit den Schwellenländern und gegen den US-Hegemon werfen, wenn der Euro Fordern wir aufbauend auf den Protesten gegen die verschwindet? Austerität, den Stabilitätspakt und das Versenken der 19 öffentlichen Dienste in Europa, dass die EZB direkt ei- Man sieht also, dass eine andere Anwendung des Euro nen großen Aufschwung öffentlicher Dienste und ihres entscheidend nicht nur zu einem anderen Wachstum für Zusammenwirkens in Europa finanzieren soll. Dazu soll sozialen Fortschritt in der EU beitragen kann, sondern jedes Land Schuldtitel ausgeben, die von der EZB ge- auch zu einem grundlegenden Wandel auf weltweiter kauft werden. Dass Geld würde einem Sozialfonds zur Ebene in geldpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer solidarischen und ökologischen Entwicklung der öffent- Hinsicht. lichen Dienste zugewiesen, von diesem demokratisch

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Wie weiter mit Europa? Linke Debatte Der Euro und die Linke

Es gibt keine realistische Perspektive für die Reparatur der Eurozone sagt Costas Lapavitsas

Der Euro ist das heikelste Thema der europäischen Lin- wurde mobilisiert, um angeschlagene Banken mit Li- ken in der aktuellen Krise. In den Jahren 2008/09 kam quidität zu versorgen, jedoch auch um widerspenstige 20 es zu einer gleichzeitigen, globalen Rezession, die von Staaten zu erpressen. Die Kosten für die Rettung der der Spekulation des Finanzkapitals im vorigen Jahrzehnt EWU wurden auf die Peripherie abgewälzt. Deutsch- ausgelöst wurde. Die Linke war verblüfft, aber fand bald land, als Zentrum des Zentrums, würde keine Anpas- wieder Fassung und wartete mit vertrauten Forderun- sung vornehmen. gen auf: Nein zu Austerität, Kontrolle des Finanzsek- tors, Verteidigung der arbeitenden Bevölkerung. Doch Der Irrtum der Linken in den Jahren 2010 bis 2013 wurden die Turbulenzen Die Reaktion der Linken auf die Berliner Strategie war zu einer fiskalischen Krise, die die Eurozone unmittelbar bestenfalls schwach. Nachdem sie realisierte, dass die bedrohte. Das stiftete bei der Linken aus zwei Gründen EWU der Kern der europäischen Krise war, überwog Verwirrung. der Ansatz, die „fehlerhafte“ Maschine der gemeinsa- men Währung durch „technische“ Reformen zu reparie- Zunächst offenbarte der Schock die scharfe Trennung ren: Eurobonds, Fiskaltransfers, Anleihekäufe der EZB zwischen Zentrum und Peripherie in der Europäischen etc. Die Linke protestierte ebenso gegen die vermeint- Währungsunion (EWU). Die EWU ist hierarchisch auf- liche, neoliberale Eroberung der EU-Politik, die das gebaut und verletzt die demokratischen sowie souverä- „europäische Projekt“ gefährde. Würde die neolibera- nen Rechte der kleineren Nationen. Dennoch hatten vie- le „Fehlentwicklung“ beseitigt, wäre das „europäische le in der Linken die Idee eines „europäischen Projekts“ Projekt“ somit wieder auf Kurs. zur Förderung der Solidarität und Demokratie durch die EU akzeptiert. Zweitens offenbarte der Schock die Pro- Die Schwäche der Linken entspringt der Weigerung zu- bleme der europäischen Währungsarchitektur, und der zugeben, dass das Scheitern des Euro auf Klassenbe- Euro entpuppte sich als historischer Fehlschlag. Erneut ziehungen gründet – statt „technischen Mängeln“ - und hatten viele Linke geglaubt, dass der Euro die gute Ver- dass das „europäische Projekt“ aus denselben Grün- fassung des „Europäischen Projekts“ demonstriere. den illusorisch ist. Die EWU dient den großen Banken und Konzernen in Europa, während die EU keine Allianz Die Verwirrung wurde noch größer, als sich die offizielle gleicher Partner ist. Die Wurzel der Probleme des Euro Strategie des Krisenmanagements in Berlin entfaltete. ist die schlichte Tatsache, dass das deutsche Kapital Der Peripherie wurden Kredite im Austausch gegen erfolgreicher bei der Disziplinierung seiner Arbeiter war grausame Sparmaßnahmen sowie weitere Liberalisie- als die meisten seiner Wettbewerber in der Eurozone. rung und Privatisierung angeboten. Die institutionelle Deutsche Arbeiter wurden seit Anfang 2000 Lohn- Perspektiven der EWU wurde durch einen Fiskalpakt stopps bzw. schwerer Lohnzurückhaltung ausgesetzt, - der Sparmaßnahmen in Zentrum und Peripherie bein- wodurch den deutschen Konzernen enorme Wettbe- haltete - gehärtet. Die Europäische Zentralbank (EZB) werbsvorteile verschafft wurden.

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Wie weiter mit Europa? Linke Debatte

Deutschland dominiert den europäischen Markt über de sicherlich abwerten und somit die Wirtschaft ankur- massive Handelsüberschüsse, die als Kredite an die beln, aber es ist wichtig, eine dramatische Abwertung Peripherie und in andere Regionen recycelt wurden. zu verhindern. Die Peripherie, und zunehmend auch andere Kernstaa- ten, haben an Wettbewerbsfähigkeit verloren und daher Ein mit der EWU ausgehandelter Ausstieg ist besser. Schulden angehäuft. Berlins Anti-Krisen-Maßnahmen Wenn sich jedoch eine Übereinkunft als unmöglich er- gehen nicht das eigentliche Problem der Eurozone an, weist, sollte die Linke auch einen unilateralen Exit ein- das heißt Deutschlands Politik gegenüber den Lohn- zelner Länder vertreten. Die Kosten wären natürlich abhängigen sowie anderen Ländern, sondern wälzt die größer, aber der Ausstieg ist zur gesellschaftlichen Kosten der Krise auf die Peripherie ab. Die Berliner Poli- und staatlichen Überlebensfrage der Länder der Peri- tik verschlimmert jedoch die Situation: Die Gesellschaf- pherie geworden. Wenn der Austritt einmal vollzogen ten der Peripherie sind hart getroffen und mit politischer wurde, könnten die Länder der Peripherie gründlich Instabilität konfrontiert, während Frankreich und Italien restrukturiert werden durch Schutz von Beschäftigung weiter Wettbewerbsnachteile anhäufen, und ihre Wirt- und Rechte der Lohnabhängigen, Entwicklung einer In- schaft sich nicht erholt. Der Euro ist daher noch weniger vestitions- und Technologiestrategie sowie die Diszipli- überlebensfähig als in 2010. nierung des Großkapitals . Ein anti-kapitalistischer und potentiell sozialistischer Entwicklungsweg für Europa Ein kontrollierter Euro-Ausstieg könnte eröffnet werden. als beste Option Es gibt keine realistische Perspektive zur Reparatur Der politischen Rechten entgegentreten der Eurozone. Länder der Peripherie wurden bereits Auf der anderen Seite bestünde für die Kernländer die verwüstet und sind einer unbestimmten Zeit Stagnati- Herausforderung darin, die gescheiterten Mechanis- on ausgesetzt, wenn sie in der EWU verbleiben. Wie men der EWU durch alternative Regelungen zu erset- Frankreich und Italien stehen sie vor einer unmögli- zen. Das Ziel wäre, Wechselkurse zu steuern und im chen Wahl: Wenn die bisherige Politik fortgeführt wird, Umgang mit Handels-und Kapitalströmen grundlegen- werden sie nicht signifikant wachsen, da sie sich ge- de Solidarität zwischen den europäischen Nationen zu gen Deutschland nicht behaupten können, aber wenn schaffen. Das Scheitern des Euro bedeutet nicht, dass 21 sie Berlins Medizin der Austerität umsetzen, wird ganz Europa zu Abwertungswettläufen zurückkehren muss. Europa in die Depression gestürzt. In der Praxis wird Auf der Grundlage von Kontrollen könnte der Neolibe- die Eurozone auf absehbare Zeit Austerität, Massenar- ralismus zurückgedrängt werden, wodurch Terrain für beitslosigkeit sowie sozialen und nationalen Konflikten die radikale Umgestaltung der europäischen Kernländer ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund muss die Linke in Richtung höherer Beschäftigung, höhere Löhne und ihre Radikalität wieder gewinnen und Vorschläge un- stärkerer Arbeitnehmerrechte entstünde. Wahrhafte terbreiten, die im Interesse der Arbeitenden in Europa Solidarität und Internationalismus könnten sich in Euro- sind. Der erste Schritt bedeutet anzuerkennen, dass die pa entwickeln. EWU unwiederbringlich gescheitert ist. Für Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien und Die Zeit ist knapp für die Linke. Die Rechte – einschließ- Irland wäre die beste Option ein kontrollierter und ver- lich der extremen Rechten – hat in der Krise erheblich handelter Ausstieg aus dem Euro. Es besteht kein Zwei- zugelegt. In der Peripherie hat die Rechte schnell ver- fel, dass – entgegen wiederholter Behauptungen – ein standen, dass der Kern nationale Unterwerfung, die Ausstieg machbar ist. Ein Ausstieg würde gleichwohl Zerstörung der Demokratie sowie ökonomische Ver- Probleme mit sich bringen: Erstens, im Bereich des wüstung einfordert, um die EWU zu schützen. In den Geldumlaufs, zweitens im Bankensektor und drittens Kernstaaten hat die Rechte den als teuer wahrgenom- bei der Neuausrichtung der Realwirtschaft. Keine dieser menen Maßnahmen, um die „nutzlose“ Peripherie in der Probleme sind jedoch unüberwindbar. Die betreffenden EWU zu halten, widersprochen. Die moderateren Ele- Länder müssten den Schuldendienst einstellen und über mente in Zentrum und Peripherie haben sich schließlich einen Schuldenschnitt verhandeln. Kapitalverkehrskon- mit Berlins Strategie versöhnt, da jede andere Strate- trollen sowie Banken-Kontrollen wären erforderlich, die gie für sie sozial und politisch riskant wäre. Durchaus Verstaatlichung beinhalten müssten. All diese Schritte verständlich hat die Rechte angesichts der schlimmen sind durchaus machbar, wie von der EU selbst im Falle Lasten für die arbeitende Bevölkerung profitiert, indem Zyperns im März 2013 gezeigt wurde. Der inländische sie mit Euroskepsis hausierte. Wenn die Linke keinen Zahlungsverkehr würde so schnell wie möglich mit elek- radikalen, anti-kapitalistischen Pfad vorschlägt, um das tronischem und physischem Geld ergänzt. Eine erheb- Scheitern der EWU zu bewältigen, könnte die extreme liche Schwierigkeit, die soziale Mobilisierung erfordert, Rechte die Lücke füllen. Die Zukunft Europas sähe dann wäre die anfängliche Sicherung der Versorgung mit Öl, wirklich düster aus. Medizin und Lebensmittel. Mit Abstand die schwierigste Aufgabe wäre jedoch, einen Kollaps im Außenwert der neuen Währung zu vermeiden. Die neue Währung wür- Übersetzung aus dem Englischen: Die Redaktion

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Wie weiter mit Europa? Linke Debatte

Interview „Wir erleben gerade Weltgeschichte“

Über das deutsche Inseldasein, die Funktion des Euros und den Zusammenhang von Lohnentwicklung und Krisen sprachen wir mit Ulrike Herrmann

r+r: Sie haben im September ihr drittes Buch nicht nur das Problem, dass sie weder im Bund noch in „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die den Ländern vertreten ist, sie hat auch kein zukunftsfä- Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld higes Programm. Der naheliegende Weg ist daher, nati- und Krisen“ veröffentlicht. Was hat Sie dazu ver- onalistische Töne anzuschlagen. Die AfD wird sowieso 22 anlasst? ihren populistischen Wahlkampf machen. Die FDP wird Ulrike Herrmann: Ich glaube, dass die Europäer gerade versuchen, auf dieser Welle mit zu reiten und der AfD Weltgeschichte erleben. Egal ob der Euro überlebt oder die Stimmen wieder abzugraben. auseinanderbricht, wie immer es mit der Währungsuni- on weitergeht, das wird die Zukunft Europas prägen. Manche Wirtschaftsliberale wie AfD-Sprecher Zudem habe ich die Sorge, dass durch das Missma- Konrad Adam oder Hans-Werner Sinn schimpfen nagement - vor allen durch Deutschland – der Euro auch auf die Finanzmärkte. Was haben diese Leu- auseinander krachen könnte. Die Tragik ist, wenn das te denn am „Casino-Kapitalismus“ auszusetzen? passiert, Deutschland die größten Verluste hätte. Noch Es ist schön, wenn auch rechte Kommentatoren finden, denken alle in Deutschland, sie würden sicher auf einer dass die Banken übertreiben. Nur was dann leider fehlt kleinen Insel sitzen, und nur die anderen Länder wären ist die Konsequenz. Auch Sinn oder Adam finden, dass in Schwierigkeiten. Das Buch ist der Versuch, den Deut- Banken haften müssen. Aber das war auch schon al- schen zu erklären, wie man es richtig machen müsste. les. Man beklagt den Finanzkapitalismus, aber dann hat man keinen Einfall, was man dagegen tun könnte. Wenn Bei der Bundestagswahl 2013 spielte die Wirt- aber Banken wirklich in der Lage sein sollen, ihre Ver- schafts- und Finanzpolitik fast keine Rolle, wenn luste zu tragen, dann muss man das Eigenkapital auf man von den diskutierten Steuererhöhungen ab- 30% der Bilanzsumme hochsetzen. Nur: Von einem Ei- sieht. Denken Sie, dass es bei der Europawahl genkapital lese ich bei Sinn und Adam nie etwas. anders seien wird? Meine Sorge ist, dass wir einen sehr nationalistischen Die AfD-Chefin Frauke Petry hat dem Handels- Wahlkampf erleben werden, der durch AfD und FDP blatt gesagt, sie sähe Gemeinsamkeiten mit getrieben wird. Die FDP ist ein interessanter Fall. Sie ist der Linken beispielsweise in der Ablehnung der aus dem Bundestag geflogen und sitzt eigentlich kaum „Bankenrettungspakete“. Gibt es Schnittmengen noch in Landesparlamenten. Das ist für eine Partei zwischen der linken Kritik an der Euro-Krisenpo- brandgefährlich und auch viel gefährlicher als das, was litik und der rechten Kritik? den Grünen und der PDS passiert ist. Die waren zwi- Da ist zum einen die Idee, man könnte Banken pleite schenzeitlich auch nicht im Bundestag. Aber sie waren gehen lassen. Ich weiß nicht, wo alle waren, als Lehman in den Ländern verankert und hatten ein klares Profil. Brothers pleite ging. Das war eine einzige Bank, die mit Die Grünen und die PDS mussten nur ein paar Fehler einer Bilanzsumme von 600 Milliarden Dollar nicht ein- abstellen und waren wieder im Bundestag. Aus meiner mal groß war, und diese Bank hat gereicht, um die Welt Sicht ist es für die FDP eine Existenzfrage, ob sie bei in den Abgrund zu ziehen. Daraus sollte man lernen, der Europawahl über drei Prozent kommt. Die FDP hat dass - wenn Banken erst einmal pleite sind - man sie

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Wie weiter mit Europa? Linke Debatte

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Das Debattenheft der Sozialistischen Linken 24 ner Währungsunion zu kommen. Es gibt zwei Gründe für den Euro. Wenn es keinen Euro gäbe, wären die leider retten muss. Das scheinen einige Vertreter der Schwankungen zwischen den einzelnen Währungen in Linken nicht verstehen zu wollen. Die richtige Idee wäre, Europa mörderisch. Zum Beispiel würden Lira, Franc das Eigenkapital bei den Banken hochzusetzen – wie und Deutsche Mark ständig gegeneinander schwan- gesagt, auf etwa 30 Prozent. Es wird immer gesagt, den ken, und es wäre sehr leicht, gegen diese Währungen Griechen wird nur geholfen, damit unsere Banken ge- zu spekulieren. Das hat man beispielsweise in den 70er- rettet werden. Das wirkt unterschwellig nationalistisch, Jahren gesehen. Kaum war das Währungsregime von da „gutes deutsches Geld zum Fenster rausgeschmis- Bretton Woods 1973 auseinander gebrochen, haben sen wird“. Ich glaube dass viele, die diese Art Kritik die Europäer begonnen, mit einer Währungsschlange, hören, denken, man könnte auf diese Hilfen verzichten. dem Europäische Währungssystem und allen mögli- Das ist vielleicht nicht so gemeint, aber es wirkt tenden- chen Ideen zu experimentieren, wie man die Wechsel- ziell so. Leider muss man den Griechen aber helfen. Die kurse in Europa stabilisieren kann. Das war außeror- Frage ist natürlich, wie man das am besten macht. Der dentlich mühsam und funktionierte eigentlich gar nicht. schnellste Weg wäre, die griechischen Staatsschulden Um sich also vor Spekulationen zu schützen, muss es an die EZB auszulagern. Das wäre für alle das Güns- einen großen europäischen Währungsraum geben. tigste. Der zweite Grund ist, wenn es keine europäische Wäh- rung gibt, dann regiert die Bundesbank in Europa. Von Bei einer Podiumsdiskussion mit linken Wissen- 1973 bis 1999 waren alle anderen Länder gezwungen, schaftlern bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung im ihre Währungspolitik an der deutschen auszurichten. August in Köln, die Sie moderiert haben, erinner- Das ist per se ungerecht und hat auch nicht sonderlich te IG Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban daran, gut funktioniert, weil natürlich die Interessen Deutsch- dass vor 20 Jahre viele Linke in Europa für den lands nicht automatisch die Interessen der anderen Euro waren. Die PDS hingegen protestierte im Länder waren. Bundestag dagegen mit dem Slogan: „Euro - so Dieses Problem würde auch wieder auftauchen, wenn nicht!“. Können Sie das kurz für unsere LeserIn- die Währungsunion auseinander bricht; also muss man nen aufklären? Hat sich von den Hoffnungen die- irgendwie zu einer gemeinsamen Währung kommen, ser Linken etwas erfüllt? und das ist auch nicht so kompliziert. Es würde wahr- Der Euro ist eine richtige Idee gewesen, und es war scheinlich schon reichen, die Steuern, also Unterneh- richtig, ihn einzuführen. Wenn der Euro auseinander menssteuern, Mehrwertsteuer etc. zu harmonisieren. brechen würde, würde man wieder versuchen, zu ei- Und man müsste dafür sorgen, dass die Löhne mit der

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Sie haben des Öfteren darauf hingewiesen, dass es in Europa nicht nur einen Euro, sondern ei- gentlich 17 Euros gibt. Was meinen Sie damit? Es ist absurderweise so, dass ein griechischer Euro oder ein italienischer Euro nicht so viel wert ist wie ein deutscher Euro. Das kann man immer am deutlichsten sehen, wenn irgendwo Unsicherheit ausbricht. Ange- nommen, es gäbe wieder eine Krise in Italien, weil man nicht weiß, ob Italien im Euro bleibt oder nicht. Dann würden die italienischen Sparer sofort ihre Gelder nach Deutschland überweisen, damit sie dort sicher sind. Aus dem italienischen Euro würde ein deutscher Euro. Das ist nicht fiktiv. Beispielsweise bei den letzten großen Un- sicherheiten vom Sommer 2011 bis zum Sommer 2012 sind eine Billion Euro so aus den Süden in den Norden gewandert. Eine andere Konsequenz zeigt sich bei den Zinsen. Eine Firma in Italien zum Beispiel, die genau- so profitabel ist wie eine Firma in Deutschland, muss trotzdem höhere Zinsen zahlen, wenn sie einen Kredit aufnimmt – nur weil sie in Italien sitzt. Da sieht man, dass ein italienischer Euro nicht genauso viel wert ist wie ein deutscher. Das ist natürlich hoch gefährlich, wenn man offiziell eine Währungsunion hat, aber praktisch die Euros der einzelnen Länder nicht gleichwertig sind. So wird die Währungsunion von innen gesprengt. Wenn man dies verhindern will, müsste man eine Bestandsgarantie für die Eurozone aussprechen. Es muss ganz klar sein: „Wir als Eurozone lassen nicht zu, dass eines unserer Länder pleitegeht“. Wenn es diesen einen Satz gäbe, wäre die Ungleichwertigkeit der Euros beendet. Die Zinsen wä- Produktivität steigen. Damit wäre das Problem schon ren harmonisiert, und die Griechen würden aufhören, ihr weitgehend gelöst. Geld nach Deutschland zu schaffen. Aber dieser eine 25 Satz kommt nicht, sondern man überlegt, wie man insol- Sie verweisen recht häufig auf den Zusammen- vente Staaten in Europa abwickeln kann. hang von Lohnentwicklung und Krisen. Können Sie das unseren LeserInnen kurz erklären, worin Wie wird es die nächsten Jahre in Europa und mit dieser Zusammenhang besteht. dem Euro weiter gehen? Das Lohndumping trägt in Deutschland den Namen Ich glaube, in den nächsten Jahren wird es weiterhin Agenda 2010. Man hat die Arbeitslosen gezwungen, eine Rhetorik geben, dass es die anderen Länder ma- jeden Job anzunehmen, die Leiharbeit ausgeweitet, und chen sollen wie Deutschland. Gleichzeitig wird natürlich gleichzeitig fehlte ein Mindestlohn. Dadurch sind die auffallen, dass das nicht funktioniert, und Deutschland Reallöhne in Deutschland sehr stark gesunken - im Mit- wird pragmatische Zugeständnisse machen. Die EZB tel von 2000 bis 2010 um 4,2%. darf jetzt schon mehr, als die Deutschen sich jemals vor- Aber warum hat man die Agenda 2010 erst unter Rot- gestellt haben. Grün begonnen? Warum nicht schon 1990 oder 1992? Das Problem ist: Die pragmatischen Zugeständnisse Lohndumping lohnt sich nicht, wenn man eine eigene sind alle richtig und unvermeidlich, aber sie sind einfach Währung hat. Hätte Deutschland die Agenda schon zu wenig – immer nur so viel, dass der absolute Crash 1992 verfolgt, hätte man durch die niedrigen Löhne nicht übermorgen passiert. Das wird langfristig nur dazu riesige Exportüberschüsse angehäuft, dadurch wäre führen, dass Europa in einer Rezession bei -0,5 % sitzt, die Mark im Vergleich zu anderen Währungen teurer kein Land so richtig in den Gang kommt, die Arbeits- geworden und die Lohnvorteile wären über Nacht weg losigkeit im Süden wahnsinnig hoch bleibt, sich nichts gewesen. Doch weil der Euro mehrere Länder umfasst, bessert oder bewegt. Das wird langfristig gefährlich. reagiert er nicht, wenn ein einzelnes Land Lohndumping Das machen sich die Deutschen nicht klar. Wir sind ja betreibt. hier selbstgenügsam und selbstgerecht auf unserer ein- Länder, wie Frankreich, die alles richtig gemacht haben gebildeten Insel. Aber im Süden herrscht Verzweiflung und ihre Löhne im Gleichklang mit Inflation und Produk- und Perspektivlosigkeit. Die Deutschen können sich tivität angehoben haben, haben dadurch einen Wettbe- nicht vorstellen, was in den anderen Ländern los ist. werbsnachteil von 15 bis 20%. Wenn die Deutschen nicht aufhören mit dem Lohndumping und endlich die Wir danken für das Gespräch. Löhne sehr stark nach oben korrigieren, dann werden Frankreich und Italien irgendwann aus dem Euro ge- Die Fragen stellte Juliane Pfeiffer. drängt.

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa Europa aus migrationspolitischer Perspektive

Über die Militarisierung der Flüchtlingspolitik und europäischen Nützlichkeitsrassismus schreibt Özlem Alev Demirel

Angesichts der Finanz- und Währungskrise in mehreren diskutiert. In Deutschland bleiben die Jahre 1992 /93 EU-Mitgliedstaaten werden andere Themen der euro- in schrecklicher Erinnerung. Damals wurden brutale 26 päischen Politik in der Regel eher in den Hintergrund Brandanschläge auf Asylbewerberheime und Häuser gedrängt. Eines kommt eigentlich nur unter tragischen von Einwandererfamilien in Deutschland verübt. Men- Umständen ans Licht der Öffentlichkeit: die Politik der schen starben, andere sind (wahrscheinlich ein Leben EU gegenüber Migrantinnen und Migranten im Allge- lang) traumatisiert und viele haben Angst um ihr Leben meinen und gegenüber Flüchtlingen im Besonderen. und um die Zukunft ihrer Familien. Deutschland reagier- Der Nützlichkeitsrassismus und die menschlichen Tra- te unverzüglich. Aber nicht durch eine Stärkung der Si- gödien, die bei dieser Migrationspolitik vorprogrammiert tuation der Flüchtlinge, sondern – nach der öffentlichen sind, sagen viel über den Geist der Institution EU aus. Trauer – durch die de facto-Abschaffung des Rechts auf Asyl. Jüngstes und wohl bekanntestes Beispiel für die un- menschliche EU-Flüchtlingspolitik ist der tragische Tod Nicht anders reagieret auch die EU auf das tragische von mehr als 400 Menschen im Oktober 2013 vor der Bootsunglück vor Lampedusa. Angeblich geht es da- italienischen Insel Lampedusa. Flüchtlinge aus ver- bei immer um Prävention. „Prävention“ ist ein positiv schiedenen Staaten Afrikas wollten auf europäischem besetztes Wort. Doch weder die Auslegung durch die Boden einen Neuanfang für sich und ihre Familien wa- deutsche Regierung, noch die der Europäischen Uni- gen. Doch die meisten von ihnen haben die „Festung on ist positiv. Denn mit Prävention ist nicht gemeint, Europa“ nicht erreicht. Sie sind nun nur noch Zahlen dass die Situation der Menschen in ihren Herkunftslän- in der Statistik der menschenverachtenden Grenzpoli- dern so verbessert werden soll, dass sie sich nicht zur tik Europas. Schätzungsweise 19.000 Menschen ha- Flucht gedrängt sehen. Stattdessen sollen Flüchtlinge ben in den letzten 25 Jahren ihr Leben an den Grenzen noch einfacher direkt beim Auslaufen ihrer Boote auf Europas verloren. Sie sind Opfer einer rigorosen Ab- das Meer abgefangen werden. So soll Frontex nun das schottungspolitik der EU, die durch eine eigene Agen- Recht haben, Flüchtlinge bereits auf hoher See abzu- tur (Frontex) abgesichert wird. Nach einer Phase der schieben und dabei stärker mit dem Militär verzahnt öffentlichen Trauer reagierte Europa. Doch anstatt der werden, um Flüchtlingsboote „rechtzeitig“ aufspüren zu Frage nachzugehen, wie Menschenleben gerettet wer- können. den können und für Flüchtlinge ein menschenwürdiges Leben gewährleistet werden kann, wird nur darüber dis- Diese Militarisierung der Flüchtlingspolitik ist ein gesell- kutiert, wie Flüchtlingsströme nach und Aufenthalt von schaftlicher Skandal, gegen den es kaum öffentlichen Flüchtlingen in Europa verhindert werden könnten. Widerspruch gibt. Das Perfide daran ist, dass gerade Militarisierung und die Rüstungspolitik Europas we- Auch auf anderer Ebene wird Migration nur unter sentliche Gründe für die Flucht vieler Menschen aus schlimmen Umständen von einer breiten Öffentlichkeit ihren Herkunftsländern nach Europa sind. Es sind nicht

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa zuletzt die Waffenexporte Deutschlands und der EU, Aktuell werden europaweit rassistische Ressentiments ohne die (Bürger)kriege kaum geführt werden könnten. gegen Roma und Sinti geschürt, was in einigen Län- Darüber hinaus sorgt auch die Wirtschafts- und Han- dern bereits zu massiven Übergriffen geführt hat. So delspolitik der EU dafür, dass viele Herkunftsländer der befeuern Politiker der verschiedenen Länder mit hetze- Flüchtlinge keine eigene wirtschaftliche Stärke und kei- rischen Aussagen gegen angebliche „Nutznießer“ der ne Industriepolitik entwickeln können, und dass Bauern europäischen Sozialsysteme und gegen „Armutsmigra- und Viehhirten die Grundlage für eigenständige Agrar- tion“ die Vorurteile und sorgen für Akzeptanz für diesen politik entzogen wird. Nützlichkeitsrassismus.

Diese Widersprüche der EU reichen weiter und treffen Der deutsche Innenminister hat mit seinen Äußerungen auch die Migrantinnen und Migranten, die bereits in der über „Armutsmigration“ die Stimmung gegen Sinti und EU leben oder die innerhalb der EU migrieren. Immer Roma geschürt. Er war es auch, der ein Quotensystem stärker steht in der Debatte um Einwanderung die Fra- für eine geregelten Einwanderung und Verteilung von ge im Mittelpunkt, ob Einwanderer dem Wirtschafts- Flüchtlingen verhinderte, das nach dem letzten tragi- standort „nutzen“ oder nicht. schen Unglück gefordert wurde.

Es ist grotesk, dass Deutschland und die EU auf der Diese Politik findet sich auch im Koalitionsvertrag von einen Seite im „Kampf um die besten Köpfe“ (eigentlich Schwarz-Rot für die Legislaturperiode 2013-2017. Dort im Kampf um den größten wirtschaftlichen Aufschwung) heißt es schönfärberisch, man wolle „Bosnien und Her- immer wieder darüber diskutieren, wie man hochqualifi- zegowina, EjR Mazedonien und Serbien als sichere zierte Kräfte aus anderen Ländern abwerben kann, und Herkunftsstaaten (…) einstufen, um aussichtslose Asyl- auf der anderen Seite diese geflüchteten Menschen als anträge von Angehörigen dieser Staaten schneller be- große Last brandmarken und ihnen den Zugang ver- arbeiten und ihren Aufenthalt in Deutschland schneller wehren. beenden zu können“. Diese Änderung wird dazu füh- ren, dass Roma, Sinti und andere Minderheiten noch Dieser Nützlichkeitsrassismus im Inneren wie im Äu- schneller abgeschoben werden können, obwohl sie in ßeren wird immer offener vertreten. Eine gezielt nach den Westbalkanstaaten massiv von Ausgrenzung und Wirtschaftsinteressen ausgerichtete Migration wird Rassismus betroffen sind. durchaus gefördert. Mit der sog. Dienstleistungs- oder Bolkestein-Richtlinie und ähnlichen Initiativen soll der Linke Politik muss klar dagegen halten. Nicht die Mig- Strom der „billigen Arbeitskräfte“ bewusst ermöglicht rantinnen und Migranten sind das Problem, sondern die werden, damit Löhne gedrückt und Profite gesteigert von Wirtschaft und Politik erzeugte Armut inner- und au- werden können. Nicht gewollt sind diejenigen Migran- ßerhalb der EU. Doch diese Armut gehört offensichtlich 27 tinnen und Migranten, die nicht direkt für wirtschaftliche zum Regelwerk der EU… Interessen „verwendet“ werden können.

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa Klassenkämpfe in Polen: Gewerkschaftlicher Aufbruch und neue Linkspartei gegen neoli- beralen Kapitalismus

Polen ist das Land der totalen Gegensätze, die Schere zwischen Arm und Reich geht am weitesten auseinander. Aber es gibt Widerstand sagt Susanne Kramer-Drużycka

Die Lebenswirklichkeit in Polen sieht völlig anders aus, fährlich verletzt, verlor einige Finger. Weil es ihm unter 28 als es die glänzenden Postkartenmotive der polnischen letzter Anstrengung gelingt, sich zur nächsten Straße Hauptstadt oder Erfolgsstories vom „Wirtschaftstiger zu schleppen, kann er überhaupt gerettet werden. itt- Osteuropas“ vermuten lassen. lerweile sind gewalttätige Übergriffe von Arbeitgebern leider keine Seltenheit mehr. Weit weniger bekannt, aber an der Tagesordnung sind Zwangsräumungen, auch im Zuge gezielter „Säuberun- Land der sozialen Spaltung gen ganzer Wohngebäudekomplexe“ im Spekulations- Polen ist das Land der totalen Gegensätze, hier geht interesse der Besitzer Seit einer 2012 verabschiedeten die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten Gesetzesnovelle sind sie auch in den kalten Wintermo- auf. Die Mieten auf dem freien Wohnungsmarkt sind naten noch zulässig. Dagegen mobilisieren junge Ak- horrend: Für eine 1-ZKB-Wohnung ist eine Kaltmiete tivisten zu frühmorgendlichen Blockaden vor Ort über von 1.600 Zł zu veranschlagen (4,2 Zł ≙ 1 EUR), dabei Mietervereine und die „Kanzlei für Gerechtigkeit“, allen sind die Lebenshaltungskosten vergleichbar mit denen voran Piotr Ikonowicz. Der der sozialistische Jurist muss- in westeuropäischer Länder. Der monatliche Durch- te Ende Oktober 2013 sogar eine Haftstrafe antreten, schnittsbruttolohn liegt laut Statistik derzeit landesweit weil er vor Jahren zur Verhinderung einer Zwangsräu- bei knapp 3.800 Zł (=904 EUR), allerdings mit deutli- mung (es ging um ein über 70jähriges Ehepaar, das chen regionalen Unterschieden. nicht wusste wohin) angeblich handgreiflich geworden sei. Seine Kanzlei hat in etlichen Fällen Betroffenen mit Das soziale Gefälle verläuft auch durch die Berufs- unentgeltlicher Rechtsberatung gegen Zwangsräumen gruppen. Das Grundgehalt in der Krankenpflege liegt unterstützt. bei 2.200 Zł (523 EUR), das einer Lehrkraft beträgt aktuell 3.109 Zł (740 EUR) brutto (aber ab der höchs- Ähnlich rechtlos sind die an den Rand Gedrängten auf ten Beförderungsstufe), das eines Verkehrspolizisten dem Arbeitsmarkt des knallharten polnischen Kapita- durchschnittlich 3.140 Zł (747,6 EUR). Ab 2014 soll lismus. Der 23jährige Krakauer Maurer Robert Barszcz der gesetzlich festgelegte Mindestlohn 1.680 Zł (400 etwa beschloss, für bessere Arbeitsbedingungen in die EUR) monatlich betragen. Gewerkschaften fordern die Hauptstadt zu gehen. Dort arbeitete er für 10 Złoty die Einführung eines Mindeststundenlohns von 11 Zł oder Stunde schwarz plus Unterbringung, bis er im Septem- 2,62 EUR, das Arbeitsministerium prüft dessen Einfüh- ber 2013 endlich eine bessere Stelle gefunden hatte. rung in Höhe von 10 Zł (2,38 EUR). Die Arbeitslosen- Daraufhin kündigte er und forderte seinen Restlohn. hilfe wird meist nur ein halbes Jahr lang gezahlt, nach Sein Chef und dessen Stellvertreter verlangten von mindestens fünf Arbeitsjahren gibt es pauschal drei Mo- ihm, in einem Waldstück ein Grab zu schaufeln, er wei- nate lang je 823,60 Zł (196 EUR), weitere drei Monate gerte sich jedoch und wurde mit einer Axt lebensge- je 646,70 Zł (154 EUR). Spätestens danach fällt man

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Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa

durch die Maschen des sozialen Netzes und landet bei wir jetzt geduldig Verzicht leisten, wird es uns allen in fehlendem Familienrückhalt auf der Straße, denn eine ein paar Jahren gut gehen“. Diese Rechnung ging bis Mindestsicherung gibt es faktisch nicht. heute leider nicht auf, denn keine der seit 1989 regie- renden Koalitionen, ob rechts oder links, gab diesem Die Arbeitslosigkeit betrug im September 2914 landes- Wirtschaftssystem eine sozialere Ausrichtung. weit offiziell 13% mit einigen regionalen Unterschie- den. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 26,3%. Viele Doch es regt sich vermehrt Widerstand in „Tuskoland“. resignieren angesichts mangelnder Perspektiven auch Es herrscht enorme Politikverdrossenheit angesichts für junge Akademiker im Heimatland (unbezahlte Prak- unzähliger Korruptionsaffären, nicht eingehaltener Wahl- tika, Beschäftigung über sog. „Müllverträge“ für Hun- versprechen und der allgemeinen Hilflosigkeit auch im gerlöhne) und entscheiden sich, ihr Glück anderswo zu Hinblick auf die demografische Entwicklung. Die drei suchen. Zum Wechsel des Wohnsitzes auch ins Aus- bislang stets gegeneinander konkurrierenden Ge- land sind 70% der jungen Polinnen und Polen bereit. werkschaftsverbände OPZZ, Solidarnosc und Forum Im Hinblick auf die gesamte Bevölkerung zieht beinahe schlossen sich im Juni überraschend, aber folgerichtig jede/r Dritte die Arbeitsmigration in Betracht. Die Lis- zusammen, um bis zur Erfüllung ihres gemeinsamen For- te gewünschter Ziele wird von Deutschland angeführt, derungskatalogs den Boykott der „Dreierkommission“, gefolgt von Großbritannien, Skandinavien, Spanien und d.h. dem Dialoggremium von Arbeitgeberverbänden, den Niederlanden. Dies hat die massenhafte Abwande- Gewerkschaften und Regierung anzukündigen. Als eine rung mitunter hochqualifizierter Arbeitskräfte zur Folge, entsprechende Reaktion seitens der Regierung aus- spürbar besonders auch im Gesundheitswesen. Statis- blieb, riefen sie zur Großdemonstration am 14.09.2013 tiken zufolge leben mittlerweile über 2 Mio. polnische in Warschau auf – es marschierten 200.000 Leute aus Bürger im Ausland. dem ganzen Land, unter Applaus vom Passanten und Anwohnerschaft, weitere Protestkundgebungen folg- Die neoliberal-kapitalistische ten. Gerade jetzt brauchen die geeint agierenden pol- „Schocktherapie“ wirkt nach nischen Gewerkschaften die tatkräftige Unterstützung Diese Entwicklungen sind die Spätfolgen der seit 1989 ihrer europäischen KollegInnen bei der Durchsetzung mit dem 1. „Balcerowicz-Plan“ über Nacht eingeführten, von sozialen Mindeststandards auch in Polen, das die kapitalistischen Marktwirtschaft ohne soziale Sicherun- europäische Grundrechtecharta bis heute nicht unter- gen. Damals herrschte weitgehende Akzeptanz gegen- zeichnet hat. über dieser Marschrichtung, es galt die Parole: „Wenn

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realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa

Bleibt Tusks Bürgerplattform PO bei ihrer gleichgülti- tet ihr seither an. Immerhin fördert Palikot die „Kanzlei gen Haltung, wird es wohl weitere Proteste geben oder für Soziale Gerechtigkeit“ Piotr Ikonowiczs und wird im sogar Streiks. Reguläre Wahlen sind erst 2015. Derzeit Gegenzug von ihr in sozialpolitischen Fragen beraten. führt die oppositionelle Kaczyński-Partei vor der PO die Unter den Abgeordneten sind mehrere mit eindeutig Umfragen an. linker Weltanschauung, die auf vorderen Listenplätzen ins Parlament gelangten: Anna Grodzka, Wanda Nowi- Und die polnische Linke? cka und Robert Biedroń, die allesamt das Streben nach Leszek Millers Bündnis linker Demokraten SLD hat, rechtlicher Gleichstellung und sozialer Gerechtigkeit selbst seit 1989 zwei Mal in der in Regierungsverant- verkörpern. Anna Grodzkas Parlamentariergruppe „FAI- wortung (zuletzt 2001-2005), eine ähnlich unsoziale RE Gesellschaft“ bietet regelmäßig Möglichkeiten zu ei- Politik gemacht wie die deutsche Partnerpartei SPD nem Austausch zu linken Ideen. Am Tag der Warschau- unter Gerhard Schröder, von den Kriegseinsätzen, z.B. er Großdemo stellte die TR im Sejm eine Vorlage zur im Irak ganz zu schweigen. Die SLD wehrt sich gegen Novellierung eines sozialeren Arbeitsgesetzes vor. Von das Stigma als „Postkommunisten“ und versucht sich Anfang an hat die TR eine Frauen- und eine Jugendsek- nun ein moderneres, jüngeres Image des Fortschritts zu tion eingerichtet und war erfolgreich um die Einrichtung geben. Das wirkt kaum glaubwürdig, denn Mitglieder- von landesweiten Strukturen und Bündnisse mit lokalen befragungen zeigen eine mehrheitlich wertkonservative NGOs bemüht. Gerade unter JungwählerInnen ist die und sogar gewerkschaftsfeindliche Stimmungslage. Die TR mit ihrem unkonventionellen Auftreten, einer ganz SLD ist mit über 8% fünftstärkste Kraft im Parlament. neuen Art die Dinge zu sehen und zu benennen, einem Drittstärkste Fraktion im Sejm ist die „Deine Bewegung antiklerikalen Programm eine beliebte Protestpartei und = Du bist am Zug“ (TR - Twój Ruch), die zunächst nach dürfte auch in Zukunft ein relevanter Politikfaktor in Po- ihrem Gründer und einstigem „enfant terrible“ der PO len sein, mit dem es zu sprechen lohnt. Zur Europawahl Janusz Palikot benannt war. Noch ist nicht klar, ob sie tritt die TR u.a. mit namhaften SLD-Abtrünnigen unter zur linken Kraft im politischen Spektrum werden möch- dem Bündnisschirm „Europa +“ an. te. 2012 stimmte ein Teil der TR-Fraktion für die Anhe- bung des Renteneintrittsalters auf 67, dieser Makel haf-

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Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa Der beste Deal, den das Kapital sich wünschen kann

Warum das Freihandelsabkommen zwischen EU und USA verhindert werden muss erläutert Alban Werner

Es sind wenige Sätze - aber Sätze, die viel bedeu- bewerbsfähiges Niveau aufzuschließen. Bei genauerem ten können. Im Regierungsprogramm 2013-2017 der Hinsehen sind die Hoffnungen, die in das Freihandels-

32 CDU/CSU heißt es knapp: „Freier Handel stärkt den abkommen gesetzt werden auch ganz anderer Art als weltweiten Wohlstand. CDU und CSU lehnen Han- öffentlich dargestellt. Selbst in ihren eigenen Papieren delsbeschränkungen ab und wollen den internationalen zum Abkommen spricht die EU-Kommission von einem Freihandel stärken (…)“. Folgerichtig unterstützen die erhofften, freihandels-getriebenen Zusatzwachstum Unionsparteien den Plan einer transatlantischen Han- von lediglich 0,27%-0,48% des BIP der EU! Schon dels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade jetzt beeinflussen nur wenige „tarifäre Handelshemm- and Investment Partnership, kurz TTIP), die Grundlage nisse“, sprich Zölle den Handel zwischen EU und USA. einer späteren transatlantischen Freihandelszone sein Auf US-amerikanischer Seite liegen sie durchschnitt- soll (Trans-Atlantic Free Trade Agreement, kurz TAFTA). lich bei 3,5%, auf europäischer bei ca. 5,3%. „Aber!“, Diese Pläne finden „die ausdrückliche Unterstützung“ werden manche Befürworter entgegnen, man müsse im aktuellen SPD-Regierungsprogramm- und so wur- die Wohlstandsgewinne im unter 1%-igen Bereich des den sie dann auch erfolgreich im Vertrag zur Bildung Wirtschaftswachstums auf die gesamte EU hochrech- der dritten Großen Koalition („GroKo“) verankert. nen. Auch das ist ein Scheinargument, denn mögliche Dass Freihandel immer zum Wohlstand beiträgt, ge- Wohlfahrtsverluste werden in den Berechnungsmodel- hört zu den unerschütterlichen Glaubenssätzen neo- len der neoliberalen Ökonomen gar nicht berücksich- liberaler Ökonomen. Es hat aber leider wenig mit der tigt. Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, historischen und heutigen Wirklichkeit zu tun. Histo- dass die Arbeitslosigkeit vor und nach Einsetzung des risch haben die heute mächtigsten Industriestaaten Abkommens unverändert bleibe. Das ist wenig über- ihre Wirtschaftszweige zunächst unter Schutzbarrie- zeugend für die Mehrzahl der Gesellschaften in Europa, ren aufgebaut und erst danach für den internationalen die durch Standortschließungen, -verlagerungen und Wettbewerb geöffnet. Wird ein Branche zu schnell der –verkleinerungen in etlichen Branchen Arbeitsplätze Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt, findet sie sich bald „in verloren haben und denen durch die Regeln des EU- Grund und Boden konkurriert“ und das fragliche Land Binnenmarktes wichtige industriepolitische Instrumente kann seinen Bedarf an den benötigten Gütern nur noch gar nicht mehr erlaubt sind. Das Abkommen ist auch durch die Importe aus anderen Ländern abdecken. Des- kein Mittel, um die verheerende Arbeitsplatzvernichtung wegen haben linke Regierungen in der Dritten Welt und in den europäischen Krisenstaaten abzufedern. Seriöse Solidaritätsbewegungen immer zu Recht dem neoli- Berechnungen gehen vielmehr davon aus, dass in Spa- beralen Mainstream entgegengehalten: „Freihandel ist nien den nahezu 600.000 jährlich krisenbedingt verlo- der Protektionismus der Starken!“. Eine ähnliche Erfah- renen Arbeitsplätzen gerade einmal 10.000 neue durch rung mussten auch viele Wirtschaften der ehemaligen TTIP neue gegenüberstünden- sofern sie tatsächlich staatssozialistischen Länder machen, die dem Welt- kämen. Man muss – wie oft in der Politik – die Frage markt ausgesetzt keine Chance bekamen, auf ein wett- stellen: „Cui bono“- wem nützt es? Und beim geplanten

realistisch und radikal - Nr.3 - 1. Quartal 2014 Kämpfe um politische und soziale Rechte in Europa

Freihandelsabkommen wird man der Nutznießer schnell werden Regierungen von vornherein auf anspruchsvolle fündig. Lori Wallach schrieb treffend in »Le Monde Dip- Regulierungen zum Schutz der Umwelt und Arbeitskräf- lomatique«: „Die Politiker beider Seiten, die das TAFTA- te, auf Sozialstandards, Antidiskriminierungsregeln oder Projekt betreiben, räumen auch ohne weiteres ein, dass Sicherung der „informationellen Selbstbestimmung“ es nicht in erster Linie um Zollsenkungen geht, sondern im Internet verzichten, weil sie sonst erhebliche Straf- vielmehr um ‚die Beseitigung, Reduzierung oder Verhin- zahlungen befürchten müssen. Denn: Ausgangspunkt derung unnötiger, nicht tarifärer Handelshemmnisse‘ - für die Berechnungen der Unternehmen ist immer der womit alle Handelsbeschränkungen gemeint sind, die Standort mit der geringsten Regulierungsdichte. Aus es über Zölle hinaus noch geben mag“. Banken und Sicht eines kapitalistischen Unternehmens bedeutet Großkonzerne wären tatsächlich die großen Gewinner jede Regulierung einen Mehraufwand und damit Minde- auf beiden Seiten des Atlantiks bei einem solchen Ab- rung seiner Profite- ganz egal, was durch die demokra- kommen. Ihre Lobby drängt auf die Einbeziehung sog. tisch beschlossene Regulierung geschützt werden soll. „nicht handelsbezogener“ Bereiche in das Abkommen. Es ist zwar gut, dass auf Druck aus Frankreich audiovi- wies für die Linksfraktion im Bundes- suelle Medien vom Geltungsbereich des Abkommens tag darauf hin: „Abgesehen von der Ausnahme ‚audio- ausgenommen werden sollen, aber dies ist lange nicht visueller Medien‘ kommt alles auf den Verhandlungs- ausreichend. Auch einzelne „Verbesserungen“ des Ab- tisch – von Umweltstandards über Arbeitnehmerrechte, kommens durch Ausnahmetatbestände oder das Fest- Gesundheitsversorgung und Verbraucherschutzregeln halten bestimmter sozialer und ökologischer Standards bis hin zur Finanzmarktregulierung. Stets mit dem Ziel, (so die Forderung von SPD und Grünen) sind keine Standards zu harmonisieren, also auf den kleinsten ge- wirksame Strategie. In beiden Fällen nämlich bleibt die meinsamen Nenner runterzuschrauben. Insofern sind Grundausrichtung des Abkommens bestehen, das die der Phantasie bezüglich möglicher Konsequenzen Beweislast gegen demokratische Regierungen um- kaum Grenzen gesetzt. Werden Umwelt- und Verbrau- kehrt und damit jeden Eingriff in die freie kapitalistische cherschutzstandards auf US-Niveau gesenkt, könnten Betätigung der Unternehmen unter einen Generalver- sich gentechnisch veränderte Nahrungsmittel bald un- dacht stellt. Deswegen sollten Linke in allen Parteien, gekennzeichnet neben Chlorhühnern in europäischen GewerkschafterInnen, Sozial- und Umweltbewegungen Supermarktregalen finden. Werden die Arbeitnehmer- sich den Bemühungen der GlobalisierungskritikerInnen rechte entsprechend gesenkt, wird die gewerkschaft- gegen TTIP/TAFTA mit aller Kraft anschließen. Dafür liche Organisation womöglich bald politisch erschwert ist der Wahlkampf vor dem 25. Mai 2014 eine ausge- werden. Die USA haben wichtige ILO-Normen, die das zeichnete Gelegenheit. Denn nicht nur das Europäische Recht auf die Organisierung von Arbeitnehmern fest- Parlament, sondern auch kommunale Parlamente und schreiben, nicht anerkannt und verfolgen in Teilen des Vertretungen werden in zehn Bundesländern an diesem Landes eine extrem gewerkschaftsfeindliche Politik. Tag gewählt. Die Kommunen als das unterste Glied der 33 Umgekehrt könnten die jüngsten Finanzmarktregeln der Kette in unserer Demokratie würden durch das geplan- US-Regierung im Rahmen der Freihandelsverhandlun- te Abkommen bis zum Ersticken geknebelt. Dass sie auf gen wieder abgeschafft werden. Die EU drängt auf eine Schutz ihrer Privatsphäre, der Umwelt und der Arbeit neue Welle der Finanzmarkt-Deregulierung“. verzichten sollen, wird man den allermeisten Menschen Daneben steht im Mittelpunkt die Errichtung sogenann- in Europa nicht länger einreden können, wenn die Fol- ter Schiedsgerichte, vor denen Unternehmen Regie- gen des Abkommens erst einmal für alle sichtbar und rungen auf entgangene oder künftig erwartete Gewin- öffentlich gemacht werden. Die LINKE hätte dann Gele- ne verklagen könnten, die (angeblich oder tatsächlich) genheit für eine faire Handelsordnung für Europa in der durch „übermäßige Regulierung“ geschmälert werden. Welt zu streiten, gegen die Gewalt freier Märkte. Ein Einen ähnlichen Mechanismus hatten westliche Regie- anderer Handel ist möglich! rungen schon beim multilateralen Investitionsab- kommen (MAI) geplant, dass glücklicherweise durch den erbitterten Widerstand der globalisie- rungskritischen Bewegung und linker Regierun- gen zu Fall gebracht werden konnte. Doch jetzt, wo die Welt noch unter den Folgen der welt- weiten Wirtschafts- und Finanzkrise ächzt und linke Gegenkräfte an vielen Orten geschwächt sind, erscheint den regierenden Eliten die Zeit reif für einen neuen Angriff. Setzt sich die Politik des Freihandelsabkommens durch, bekommen US-amerikanische und europäische Unterneh- men eine tödliche Abrissbirne zur Verfügung, um – auch linke! – demokratische Regierungen „handzahm“ gegenüber ihren Interessen zu ma- chen. Sämtliche Unternehmen, die auf beiden Kontinenten Geschäfte verfolgen, können je- weils mit Anrufung der o.g. Gerichte drohen, um gegen Handelshemmnisse und nicht handels- bezogene Regulierungen zu klagen. Langfristig

Das Debattenheft der Sozialistischen Linken Wir danken recht herzlich unseren Autorinnen und Autoren

Fabio De Masi wurde vom Bundesausschuss Forschungsschwerpunkte sind u.a. Politische Ökono- der LINKEN auf Platz 6 der Vorschlagsliste für die mie des Geldes und der Finanzmärkte sowie die japani- Wahlen zum Europäischen Parlament nominiert. sche Volkswirtschaft. Sein jüngeres Forschungsinteres- Fabio studierte Volkswirtschaft, Internationale se galt der Euro Krise. In 2012 war er Mitherausgeber Beziehungen sowie internationale Volkswirtschaft von „ Crisis in the Eurozone” (Verso), eine Koproduktion in Hamburg, Kapstadt (Südafrika) und Berlin. Er des Forschungsnetzwerkes Geld und Finanzmärkte der ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Sahra Wa- SoAS. Sein nächstes Buch heißt „Profite ohne Produk- genknecht und Dozent für Volkswirtschaft an der tion“ (Verso) und befasst sich mit den Auswirkungen Hochschule für Wirtschaft Recht. der Finanzialisierung auf den modernen Kapitalismus. Kontakt: [email protected] Özlem Alev Demirel ist die Bundesvorsitzende der Föderation demokratischer Arbeitervereine Steffen Lehndorff arbeitet als Sozialforscher am Ins- (DIDF). Sie sprach vor tausenden DemonstrantIn- titut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universi- nen zum Abschluss der „Umfairteilen“-Demonst- tät Duisburg-Essen. Er war Leiter eines europäischen ration in Bochum eine Woche vor der Bundes- Verbundprojekts über „Dynamiken nationaler Beschäf- tagswahl 2013. tigungsmodell“. Sein Sammelband „Europa vor einem verlorenen Jahrzehnt?“ mit Länderstudien zu Auste- Klaus Dräger war Fraktionsmitarbeiter bei der ritätspolitik, Deregulierung und gewerkschaftlichen Linksfraktion im Europäischen Parlament im Be- Handlungsperspektiven erschient im Frühjahr 2014 bei reich Arbeit und Soziales. Er veröffentlichte viel- VSA. 34 fach zur Wirtschafts- und Sozialpolitik u.a. in den . Zeitschriften „Sozialismus“ sowie „Prokla“ und Susanne Kramer-Druzycka ist Projektkoordinatorin arbeitete mit am „Euromemorandum“. mit Schwerpunkt Dokumentation im Regionalbüro War- schau der Rosa Luxemburg-Stiftung. Jules El-Khatib, Daniel Kerekeš und Jasper Prigge sind Mitglieder des LandessprecherIn- Alban Werner ist Doktorand der Politikwissenschaft nenrates der Linksjugend [‘solid] NRW an der RWTH Aachen und Mitglied im Bundesspreche- rInnenrat der Sozialistischen Linken. Ulrike Herrmann ist seit 2000 Wirtschaftskor- respondentin der tageszeitung („taz“). Sie ist Sabine Wils ist seit 2009 Abgeordnete im Europäi- bekannt durch Buchveröffentlichungen wie „Hur- schen Parlament. Dort ist sie Mitglied im Ausschuss ra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mit- für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsi- telschicht“ (Westend Verlag, Frankfurt am Main, cherheit sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss 2010) und zahlreiche Medienauftritte. für Verkehr und Fremdenverkehr. Die studierte Chemi- kerin arbeitete zuvor bei der Hamburger Umweltbehör- Costas Lapavitsas ist Professor für Volkswirt- de, in der sie auch Personalratsvorsitzende war. Der schaft an der „School of Oriental and African Bundesausschuss der LINKEN nominierte sie auf Platz Studies“ (SoAS) der Universität London. Seine 7 für die (Wieder)wahl ins Europäische Parlament.

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