Spion wider Willen

Eine Spurensuche von Tanya Lieske

Wie wird einer, der von den Nationalsozialisten ins Ausland geflohen ist, zum Mitarbeiter der ? Die Autorin Tanya Lieske ging dieser Frage nach und erzählt die Geschichte des Saaremigranten Gustav Regitz, der 1938 in die Fänge der Gestapo geriet und vor die Entscheidung gestellt wurde, zu kollaborieren oder im KZ Dachau zu sterben.

Aus Zeitzeugenberichten und Archivmaterialien hat Lieske den Fall ihres Großonkels Regitz alias Spion "Albert" rekonstruiert. Der Werkstattbericht wird ergänzt durch gelesene Passagen aus ihrem Ihr Buch "Spion wider Willen" - ein literarisches und historisches Dokument über Schuld, Verdrängung und darüber, wie in Familien aus Geschichte Geschichten werden.

Sprecher

Spion wider Willen. Wie ein dokumentarischer Roman entstand. Ein Feature von: Tanya Lieske

Musik: Accordéon Paris Musette CD 1 Track 016 Flambée Montalbanaise (1'30)

Autorin

Paris, das Künstlerviertel Montparnasse, 1939. Der Krieg hat begonnen. In einem kleinen Hotel in einer kleinen Straße leben deutsche Emigranten. Sie sind vor dem neuen Regime in Deutschland geflohen. Sie haben ihre Hoffnungen auf eine bessere Welt mitgenommen, ihre privaten Träume, und sie wollen überleben. Unter ihnen ein junges Ehepaar Gustav und Margarete Regitz aus dem Saarländischen Neunkirchen. Gustav steht im Dienst der Gestapo. Er hat die Aufgabe, jene Emigranten zu beobachten, seine Weggefährten.

O-Ton 1, Margarete Tape 5 Track 006 0'58 Rue de l'Ouest: es war eine Straße mit vielen kleinen Läden. Es war immer Markt in der Straße. Der Gemüseladen hatte eine Verkäuferin, die

1 hat so laut geschrieen, dass wir das oben im Zimmer gehört haben. Quatre Francs Cinquante! Die Bäckerei existiert noch.

Autorin Die folgenden Aufnahmen waren nie fürs Radio bestimmt. Sie sollten mir eine Gedächtnisstütze sein, falls ich irgendwann einmal Margaretes und Gustavs Geschichte aufschreiben würde. Auf meinen Bändern hört man:

Sprecherin: Margarete Regitz Sprecher: Straßenlärm Sprecherin: Kaffeetassen Sprecher: Zigaretten Sprecherin : Gelächter Sprecherin: Saarländisch

Musik: Flambée kurz aufnehmen 0'30

O-Ton 2, Tape 2 Track 015 0'27 Ich habe Pullover für die französische Armee geschickt. Einen offiziell, zwei nebenbei, die wurden bezahlt. Zweieinhalb Tage habe ich an einem Pullover gestrickt. Damit habe ich den Winter überlebt, mehr schlecht als recht. Es waren Minus zehn Grad. Im Hotel war es kalt. Vor vier Jahre stand es noch. Sie haben renoviert. Mauern rausgebrochen und Leitungen gelegt ... das war ganz primitiv ein Bett und ein Schrank und ein Waschbecken und sonst gar nichts.

Autorin: Margarete Regitz ist meine Großtante. Sie ist heute 94 Jahre alt. Als sie mir ihr Leben erzählt hat, war sie knapp 90. Gustav Regitz, ihr Mann war da schon lange verstorben. Ihre gemeinsame Geschichte ist die einer großen Liebe, eines Exils, einer Gefangenschaft. Ob sie auch die Geschichte eines Verrats ist, das war nie klar. Halb erzählte, halb

2 verschwiegene Geschichten bekommen ein Eigenleben. Sie machen, was sie wollen. Sie schaffen ein Geheimnis. Je weniger geredet wird, desto größer wird das Geheimnis.

Musik: Arvo Pärt Fratres, 1'19 – 1'45 0'25

Autorin Margaretes Geschichte war eine gute Geschichte, das wusste ich. Viele Jahre lange habe ich meine Großtante gebeten, sie mir zu erzählen. Irgendwann hat sie nachgegeben. Mein Entschluss, sie zu veröffentlichen, war nicht einfach. Vieles spricht dafür, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Andererseits war mir immer klar, dass es hier sehr viel zu erfahren, sehr viel zu begreifen gab. Für mich auf jeden Fall. Für meine Leser hoffentlich.

Sprecher: Spion wider Willen. Für Margret geschrieben, den Frauen des Exils zugedacht.

Sprecherin, S. 14 – 15 Sie saß auf ihrem Platz am Kopfende des Tisches und betrachtete das Mikrofon, das sich auf der weißen Tischdecke duckte wie ein kleines Tier, mit Argwohn. Es war ihr angestammter Platz. Immer hat Margarete am Kopfende dieses Tisches gesessen. Die anderen Plätze sind meist leer. Es ist, als säße sie, Margarete, in einem Zugabteil, die Fahrt dauert länger als beabsichtigt, und einer nach dem anderen sind ihre Mitreisenden ausgestiegen. Die letzten Sätze hängen noch im Raum und auch der Geruch ihrer Zigaretten, denn Margarete, konsequente Raucherin bis fast zuletzt, hätte ein Raucherabteil gebucht, und auch nun streift sie die Asche ab an dem kleinen runden Aschenbecher, der immer neben ihr steht, ohne den sie nie dort sitzt, am Kopfende des Tisches. Wozu die alten Geschichten, denkt Margarete, aber sie spricht es nicht aus, nur die Haltung ihrer Schultern drückt ihren Widerstand aus, sie legt ihren

3 Greisenkopf etwas schräg und fokussiert ihr Gegenüber, der graue Star macht ihr zu schaffen und auch die fließenden Übergänge der Erinnerung, sitzt dort nun ihre Schwester Louise, deren Tochter oder Enkelin, sie weiß es nicht zuverlässig, und so spricht sie zu allen Dreien.

Autorin Der Tisch, von dem die Rede ist, steht im Elternhaus des Gustav Regitz in einem Vorort von Neunkirchen/Saar. Vor dem Fenster führt eine Hauptverkehrsstraße vorbei, an deren Lärm man sich so gewöhnt, dass man ihn nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Ich habe viele Stunden meiner Kindheit und meines Erwachsenenlebens an diesem Tisch verbracht. Als Gustav Regitz noch lebte, lieferten wir uns hier erbitterte Wortgefechte. Worüber wir gesprochen haben? Gott, die Welt, Politik meistens. Worüber wir nicht gesprochen haben: Seine Vergangenheit als Informant im Dienst der Gestapo.

Sprecherin, ebda : Am entscheidenden Punkt wurden die Stimmen derer, die früher um den Tisch versammelt waren, zu laut. Oder das Gespräch brach unvermittelt ab. Immer war es Margarete, die die Situation rettete, wer will noch ein Stück Käse, rief sie; ich habe Mousse au chocolat gemacht. Sie kochte französisch und es wurde stundenlang in den Abend hinein getafelt an ihrem Tisch. Man hatte die französische Lebensart aus Frankreich mitgebracht. Die Kunst der Küche als pièce de résistance gegen die Enge der Adenauerjahre, so zelebrierten sich die heimgekehrten Emigranten. Sie verwarfen ein Leben, das sie anderswo geführt hatten, in Paris oder in Montauban. Das französische Abenteuer starb und lebte immer aufs Neue an Margaretes Tisch. Ihre eigene Geschichte aber wollte Margarete sicher verwahren. Eine Hülle bestehend aus fest gefügten, alten Sätzen wollte sie zurücklassen. Alles, was lebendig war und noch ungesagt, sollte mit ihr reisen, nur mit ihr.

4 Musik: Arvo Pärt Fratres, 1'19 – 1'45 0'25

Autorin: Gustav Adolf Regitz wurde im September 1913 geboren. Er stammte aus einer Bergarbeiterfamilie, besuchte, und das war nicht selbstverständlich, das Gymnasium. Er war ein guter Schüler, klug, wortgewandt. Sein rhetorisches Talent würde ihm nützen oder schaden, je nachdem, von welcher Seite aus man seine besondere Geschichte betrachtet.

Sprecher S. 61: Seine endlosen Debatten verdienen die Metapher des Wortgefechts. Er umkreiste seinen Gegner mit kleinen Tänzelschritten. Er übte einige Ausfälle und Paraden, taxierte und nahm Maß, bis er die Gesprächsführung des Gegenübers erkannt hatte, dazu brauchte er im Regelfall einige Minuten. Die hinter der Bewegung liegende Idee, ein Wort, welches für ihn neben dem Begriff der Ideologie beheimatet und als solches abzulehnen war, hatte er schon früher erfasst. Er wusste längst, wie er den Gegner mit einem finalen Stich ins Herz seiner Idee zur Strecke bringen würde. Allerdings erst, wenn er seine Überlegenheit zur Genüge ausgekostet hatte; wenn er sich ausgetobt hatte, wenn er müde geworden war oder wenn es Zeit war, das Dessert einzunehmen. Mit Menschen, die er respektierte, diskutierte er nicht. Mit ihnen spielte er Schach.

Autorin: Über Gustav Regitz zu schreiben schien mir kaum möglich, weil er eine Autorität war. Über seine Frau Margret zu schreiben ging auch nicht, denn ich mag sie zu gerne. Über ihre gemeinsame Vergangenheit zu schreiben, ging schon gar nicht, denn hier wartete ein Tabu. Ich wollte es trotzdem tun und suchte nach einer Lösung, und die führt direkt ins Herz der Literatur. Ich würde nicht über Gustav Regitz schreiben, sondern über eine fiktive Person gleichen Namens und gleicher Biografie, die beim

5 Schreiben neu erstand, die mir von sich verraten konnte, was sie wünschte. Auch für Margret fand ich einen Ausweg. Ich veränderte ihren Namen um einen einzigen Vokal, aus Margret wurde Margarete. Schon war ein wenig Abstand geschaffen, und es ging.

Musik Arvo Pärt, Fratres, ab Anfang

Autorin: Margaretes und Gustavs Geschichte beginnt in den frühen Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts Das Saargebiet steht unter der Verwaltung des Völkerbunds. Im Januar 1935 sollte darüber abgestimmt werden, ob es künftig zum Deutschen Reich gehören würde, zu Frankreich, oder ob der Status Quo erhalten bliebe. Für den Status Quo, für die Fortsetzung der Völkerbundsverwaltung, gehen die Gegner Hitlers auf die Straße, sie gehören zum Zentrum, zur Katholischen Kirche, sind Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter, Parteilose. Mit dabei: Margarete und ihr späterer Mann Gustav. Er ist knapp zwanzig Jahre alt, und schon ein gefragter Redner auf politischen Versammlungen:

Sprecherin: Volksstimme Nummer 197, Donnerstag, 30. August 1934 Sprecher (Schlagzeilen) Antifaschistische Front! Internationaler Jugendtag! Gegen Jugendversklavung der 3. Reiches, für eine glückliche freie Zukunft! Gegen den Krieg! Für den Frieden! Gegen Hitler! Für den Sieg des Status Quo! Heraus zu den antifaschistischen Jugendkundgebungen! Es sprechen in diesen Kundgebungen: , Ernst Braun, Gustav Regitz, Ernst Kunkel, Artur Mannbar, Fritz Nikolay.

O-Ton 3 Margarete Tape 2 Track 012 0'27

6 Man hat ja nur diese Zeitung lesen müssen, die im Badischen rausgekommen ist, "Der Stürmer", etwas Ekelhafteres konnte man sich gar nicht vorstellen. Der Judenhass war von Anfang an ein ganz großes Thema der Nazis. Jeder hat gewusst, die Juden haben ausgespielt, schon 1932.

Autorin 1932 ist Margarete 17 Jahre alt. Der zwei Jahre ältere Gustav Regitz ist seit zwei Jahren ihr Geliebter. Sie würden fast sechs Jahrzehnte bis zu seinem Tod in den Achtziger Jahren miteinander leben. Beide stammen aus Arbeiterfamilien, die an der Saar sehr politisch sind, sehr engagiert im Kampf gegen Hitler. Margarete hilft seit ihrer Kindheit viel im Haushalt, sie ist die Jüngste von sieben Geschwistern.

Sprecherin, S. 13: Der Vater und zwei der fünf Brüder übten das Handwerk des Zimmermanns aus. Von ihren Einkünften lebte die neunköpfige Familie. Die Mutter führte ihren Haushalt mit eiserner Hand; sie war eine strenge, korpulente Frau. Ihre beiden Töchter mussten früh zupacken. Mit Sieben putzte Margarete das Löffelblech, mit Neun die Fenster, mit Fünfzehn wusch sie die Wäsche. Männerhemden, Arbeitshemden, Sonntagshemden, Unterwäsche und Strümpfe waren von Hand zu waschen. Persil weißte und riss die Finger auf. Wenn sie morgens aufstand, war es immer dunkel. Die Frauen machten Feuer, bürsteten neun paar Schuhe, kochten Kaffee. Im Sommer wurde um sechs Uhr gefrühstückt, im Winter um sieben. Für das Mittagessen wurden drei Kilo Kartoffeln geschält. Kaffee gab es um vier, Abendbrot um sechs. Auf jede Mahlzeit folgten Berge von Geschirr. Nachmittags, zwischen Hausarbeiten und Schulaufgaben, übernahm Margarete die Buchführung für die Schreinerei des Vaters. Sie verstand sich auch auf die doppelte Buchführung.

7 O-Ton 4, Kassette 1, Track 006 0'51 In der Obersekunda hat es mir dann gereicht, da bin ich mit Gustav ausgebüchst. ... aber das ist schief gegangen ... dann haben wir uns eine Fahrkarte geholt und sind nach Frankreich gefahren. Immer nachts, wir haben in der Scheune geschlafen und über Gott und die Welt geredet ... und dann sind wir natürlich alle beide von der Schule geflogen, Gustav war drei Monate vorm und ich zwei Jahre später, das kannst Du Dir vorstellen!

Sprecherin, S. 18 Margaretes Flucht nach Frankreich würde übergehen in das Erzählrepertoire der nächsten und der übernächsten Generation. Es war ein Vorkommnis, welches in den Familien ihrer Geschwister vagabundierte; jeder, der es erzählte, fand seine eigene Fassung. Sie seien bis Paris gekommen, sie seien mehrfach von zuhause ausgebrochen, sie hätten die Geschäftskasse mitgehen lassen. Der Mythos Frankreich nahm hier seinen Ursprung - es war ein Land gemeinschaftlicher Sehnsüchte geworden. Das Land der Freiheit und der Lebenskunst; auch, in einer vorläufigen Form, bereits das Land des Widerstands gegen Konventionen und Autoritäten.

Musik: Arvo Pärt, Fratres, 1'50 – 2'20

Sprecher S. 17 Der Fall ist aktenkundig geworden. Neben den Einträgen in Schulakten und Zeugnisse würde sich später, zu gegebenem Zeitpunkt, auch die Gestapo für jenen frühen Grenzübertritt des Gustav Regitz nach Frankreich interessieren. Regitz, den man wegen seiner politischen Aktivitäten verhörte, stand vor der pikanten Situation, sich zu exkulpieren für ein Ereignis, welches in der Tat privater Natur gewesen war. Regitz verlegte sich auf den nächsten Ausweg. Er versuchte, seinem Gegenüber zu imponieren mit seinen frühen amourösen Eskapaden, er setzte sein

8 Sie-wissen-schon-ich-bin-eben-ein-ganzer-Kerl-Gesicht auf und hatte den gewünschten Erfolg. Die Angelegenheit wurde als Jugendsünde verbucht.

Musik Pärt 4'45 – 5'10

Autorin: Am 13. Januar 1935 stimmen die Saarbürger mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss ans Hitlerdeutschland. Die Gegner des Regimes sahen einen Ausweg: Das Exil. Ein Exodus setzte ein über die Grenze ins benachbarte Lothringische Städtchen Forbach. In der Forschungsliteratur schwanken die Angaben darüber, wie viele Menschen tatsächlich gegangen sind, es waren wenigstens 3000, vielleicht sogar 8000. Inzwischen bin ich mit einigen betroffenen Familien in Kontakt gekommen, die mir übereinstimmend berichten, dass die Auswirkungen dieses Exils in der zweiten und dritten Generation noch spürbar sind. Besonders schwierig war es für die Frauen, die durch ihre Arbeit ans Haus gefesselt waren, die durch fehlende Sprachkenntnisse von der Umwelt abgeschnitten waren. Am Beispiel meiner Großeltern Hans und Louise Burgard, die nach Südfrankreich, nach Montauban gegangen sind, habe ich versucht, ein solches Leben mitzuerzählen. Zu den ersten Emigranten gehörte auch Margarete, sie hatte sich ihrer Schwester und ihrem Schwager angeschlossen. Sie war nun von Gustav Regitz getrennt, denn den hatte es in den französischen Wallfahrtsort Lourdes verschlagen.

O-Ton 5, Tape 2, Track 004 0'24 Und ich bin dann von Montauban aus nach Lourdes gekommen und dort habe ich als Verkäuferin gearbeitet in einem Andenkenladen. Der Gustav hat das Heilige Wasser hinterm Haus an einer Pumpe geholt.

Sprecherin, S. 44 f

9 Lourdes lag im Winter wie ausgestorben, die Gaststätten und Läden hatten geschlossen, die Stadt wartete auf die Pilger des Frühjahrs. Sie wohnten in einem Zimmer in der Nähe der Grotte. Es war kalt. Einmal versuchte Gustav, die Heizung anzustellen, er drückte den falschen Schalter und das Licht in der Grotte ging an. Eine unverhofft beleuchtete Mutter Gottes lächelte sie bleich an, warf ein gespenstisches Licht auf die Allee, in der die Blätter trieben. Der Wind, der von den Pyrenäen hinabfegte, drängte durch jede Ritze der Zimmerwand. Den wenigen Besuchern, die des Winters kamen, verkaufte Margarete, Medaillons, Rosenkränze und Kruzifixe. Die Veteranen des Großen Kriegs, Krüppel in Rollstühlen und auf Krücken, hängten sie über ihre ordensgeschmückten Uniformjacken, dann rollten und humpelten sie auf die Grotte zu. Kamen sie zurück, händigte ihnen Gustav phosphoreszierende Blechgefäße aus. Er hatte sie hinter dem Haus an der Pumpe gefüllt und Margarete mit geradem Gesicht erklärt, es sei Wasser aus Lourdes, also heiliges Wasser. Sie machten Läusekuren und litten Hunger. Margarete goss sich Petroleum über die dicken, schwarzen Haare; Gustav ließ sich eine Glatze schneiden. Was tun wir hier eigentlich, fragte sie eines Abends, sie stand am Fenster und drehte sich nicht um. Warten, antwortete Gustav. Warten worauf, fragte sie. Wir warten, bis der irre Arier aus sich ausgebrüllt hat. Im Frühjahr 1936 wurde Margarete schwanger. Sie verließ Lourdes und kehrte nach Wellesweiler zurück. Die erste Etappe ihres Exils, ihr zweiter Aufenthalt in Frankreich war beendet.

Musik Pärt, 5'10 – 5'40

Autorin Meinem Buch Spion wider Willen liegt eine aufwändige Recherche zugrunde. Neben den Interviews mit Margarete Regitz habe ich Unterlagen in Archiven gesucht und gefunden, im Bundesarchiv in Berlin und im Landesarchiv in Saarbrücken, Verhöre, Protokolle, Aussagen. Ich

10 hätte daraus einen wissenschaftlichen, historischen Beitrag zur Saarabstimmung schreiben können oder auch – einen Roman. Ich habe mich für einen Mittelweg entschieden. Ich wollte auf den Realitätsbezug nicht verzichten, denn die besten Geschichten schreibt bekanntlich das Leben. Die Atmosphäre der Zeit sollte deutlich werden, und die Persönlichkeit meiner Hauptfiguren. Ich habe mir Szenen vorgestellt, Dialoge nachempfunden, um eine Stimmung, auch eine Emotion zu transportieren. Dahinter steht meine Überzeugung, dass die historische Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus geleistet ist. Was noch zu erzählen bleibt, sind die persönlichen Geschichten, in denen die Verhältnisse und Verhängnisse der Zeit deutlich werden. Margaretes und Gustavs Geschichte ist eine solche Geschichte. Sie macht deutlich, dass wir Menschen in einem Atemzug schwach und mutig sein können, dass wir fehlbar sind. Es gibt für das Genre, ich dem ich mich Spion wider Willen bewege, schon einige Begriffe. Man nennt es einen dokumentarischen Roman, Docufiction oder, aus Amerika kommend etwas lässig: Faction, also die Verbindung von Fakt und Fiktion. Ich würde meine Aufgabe am ehesten mit der einer Übersetzerin vergleichen: ich bin so genau wie möglich und so frei wie nötig vorgegangen.

Musik, Pärt, 1'19 – 1'45

Sprecher S. 47 ff Anfang 1937 nahmen das Heimweh und die Sehnsucht nach Margarete überhand. Seine carte d'identité berechtigte ihn nicht zur Ausreise. Gustav Regitz war dreist genug, sich auf der Deutschen Botschaft einzufinden, doch diese verweigerte ihm einen Reichsdeutschen Pass. Regitz ließ sich nicht beirren, er dachte nach. Dann setzte er sich in ein gutes französisches Restaurant, der Kellner im Livrée beäugte ihn misstrauisch. Er bestellte sich eine Consommé, ein Stück Paté aux Truffes, ein Filet Mignon mit winzigen Röstkartoffeln, ein Soufflée, Käse, Crème Caramel

11 und Kaffee, wischte sich mit der gestärkten Serviette sorgfältig den Mund, hob die Hand, winkte dem Kellner und sagte: "Garçon, arretez-moi, je n'ai plus d'argent." In weniger als zwölf Stunden brachte ihn die französische Polizei zur saarländischen Grenze. Er wurde in die Heimat abgeschoben. (...) Bis zur Grenze ging die Rechnung des Gustav Regitz auf – er hatte den schnellsten und billigsten Weg zurück ins Saargebiet gesucht und gefunden. Was die neue politische Wirklichkeit im Saargau betraf, hatte er sich grob verschätzt. An der Grenze wurde seine Identität ermittelt, die NSDAP im heimischen Wellesweiler befragt, die Staatspolizeistelle in Saarbrücken traf ein. Man sperrte ihn ins Saarbrücker Gefängnis Lerchesflur. Die Gestapo verhörte ihn am 12.3.1937 zum Sinn und Zweck seiner Frankreichreisen. Sie stellte Landesverrat fest. Bevor Gustav Regitz ins KZ Dachau gebracht wurde, gelang es Margarete noch einmal, ihn zu sehen.

Autorin Dachau war das erste Konzentrationslager auf deutschem Boden, und keines bestand länger. Es war der erste rechtsfreie Raum, SS- Lagerkommandanten hatten hier die alleinige Gerichtsbarkeit. Sie wurden in diesen Lagern ausgebildet für den Dienst in den Vernichtungslagern. Sie konnten mit den Gefangenen verfahren, wie es ihnen beliebte. Gustavs Aufenthalt in Dachau ist eine Leerstelle in der Geschichte seines Lebens, denn er hat darüber nicht gesprochen. Bekannt ist wenig. Gesichert die Tatsache, dass er in Dachau fast gestorben wäre.

Sprecher, S. 49 f Was geschehen war, erfuhr Margarete nach dem Krieg über einen ehemaligen Mithäftling, der sie ein einziges Mal besuchte. Regitz hatte, vielleicht durch eine aufsässige Bemerkung, den Zorn der Lageraufseher auf sich gezogen. Sie schlugen ihn und zertrümmerten seine Brille, ohne

12 die er hilflos war. Sie warfen ihn, es war Winter, in einen Graben mit eisigem Wasser. Regitz verlor das Bewusstsein. Danach schleppte ihn ein Kapo, dem er sein Leben verdankte, in eine Krankenbaracke. Dort lag Regitz acht Tage. Als er aufwachte, war seine Jugend vorbei.

O-Ton 6 Tape 1 Track 009 0'51 Eines Tages wird Gustav abgestellt nach Berlin, mit dem Gefängnis wagen von Stadt zu Stadt ... und von dort ist er zur Gestapo-Hauptstelle gekommen, und da haben sie ihn dort vor die Alternative gestellt, entweder er geht in ihrem Auftrag nach Frankreich, dort sollte er diese Emigranten-Klicke beobachten. Die Alternative war Rückkehr ins KZ mit der Aussicht, dort nie wieder raus zu kommen. Wie hättest du dich da als 25Jähriger verhalten?

Autorin: Die Frage der Fragen. Wer ist bereit, sein Leben zu geben für das, woran er glaubt? Um diese Frage kam ich nicht herum, von ihrer Beantwortung hing ab, in wie weit ich nicht nur als Erzählerin, sondern auch als urteilende Instanz gegenüber Regitz auftreten konnte. Ich habe darauf verzichtet, diese Frage direkt an den Leser weiterzureichen, bin davon ausgegangen, dass ein jeder sie sich selbst stelle, dass ein jeder seine Antwort finden möge. Allerdings hat mich diese Frage doch verwandelt, sie hat im Geheimen mitgewirkt. Beim Schreiben seiner Geschichte habe ich eine größere Sympathie für Gustav Regitz empfunden, als jemals zu seinen Lebzeiten.

Musik, Pärt, 1'19 – 1'45

Sprecher: Wie könnte es sich abgespielt haben? Regitz wurde in einen fensterlosen Raum geführt. Der Wärter hatte ihm die Handschellen abgenommen, ihn durch eine schwere Tür

13 gestoßen, diese schnell hinter ihm verschlossen. Es war sehr still. Regitz versuchte, zu fokussieren, doch ohne Brille verschwammen die Konturen des Raums. Er schrak zusammen, als er in seinem Rücken ein Räuspern hörte. Ein Tisch, eine Lampe, eine Schreibmaschine. Halb hockend auf der Tischkante ein schmächtiger, dunkel gekleideter Mann; seine Brille war fast so dick wie die, die Regitz gebraucht hätte. "Regitz", sagte Kriminalsektretär Kling. "Ich habe einen guten Eindruck von Ihnen gewonnen." Regitz schwieg. Kling erhob sich. Hinter ihm kam eine Schreibkraft zum Vorschein, sie saß da, neigte den Kopf und lauschte. Die schwarze Schreibtischlampe warf einen engen Lichtkegel auf die Triumph Adler, darüber flatterten ihre Hände. "Ich möchte Ihnen helfen, Regitz", sagte Kling. "In wenigen begründeten Ausnahmefällen machen wir unseren Gefangenen ein Angebot." Er legte eine Pause ein. "Vertrauenswürdigen Gefangenen", sagte er und lächelte verbindlich. Er zog, ohne sich umzudrehen, ein Blatt Papier von einem Stapel, der neben der Schreibmaschine lag. Regitz erkannte sein letztes Schulzeugnis. "Französisch eins, Englisch zwei", las Kling. "Sie sind ein heller Kopf, Regitz. Und Sie haben Verbindungen ins Ausland. Leute wie Sie können wir gut brauchen.""Was wollen Sie von mir", fragte Regitz. "Nun", sagte Kling. "Bevor ich Ihnen mein Angebot unterbreite, muss ich mich versichern, dass Sie mit Ihren früheren sozialistischen und marxistischen Anschauungen unwiderruflich gebrochen haben. Wir sind keine Unmenschen. In anbetracht ihres Alters sind wir bereit, über einige Jugendsünden hinwegzusehen." Er zog eine Augenbraue hoch. "Sollten Sie allerdings noch nicht eingesehen haben, dass Sie sich auf dem Irrweg befanden, sehe ich mich genötigt, Sie wieder dem Gefängniswagen zu überstellen, der", er ließ eine Taschenuhr aufschnappen, "in genau zwei Stunden und 38 Minuten nach Dachau zurückfährt."

14 "Nein", sagte Regitz. "Ich meine, Ja. Ich habe mit meinen früheren Anschauungen unwiderruflich gebrochen." Die Hände der Sekretärin stießen auf die Triumph Adler hinab.

Musik, Pärt, Fratres 1'50 – 2'20

Autorin: Wie hat man sich ein Verhör im Hauptquartier der Gestapo in Berlin im Jahr 1938 vorzustellen? Wer führte diese Verhöre? Sind die Gefangenen gefoltert worden? Die Szene ist eine Schlüsselszene, und ich wollte so genau wie möglich vorgehen. Hilfe wurde mir zuteil, als ich im Bundesarchiv in Berlin die Handakte des Kriminalsekretärs Kling einsehen konnte, der das Verhör des Gustav Regitz unterzeichnet hat, vielleicht auch abgenommen hat. Ich bekam den Eindruck, dass hier kein Folterknecht, sondern ein preußischer Bürokrat am Werke war.

Sprecher, S. 51 f Die Verhöre wurden protokolliert, diese mit der internen Signatur II A 2 versehen. Sie sind abgezeichnet mit dem Kürzel des Kriminalsekretärs Kling, der einige sorgfältig geführte Handakten hinterlassen hat, die sich heute in der Verwahrung des Bundesarchivs in Berlin befinden. Darunter auch folgende Dienstanweisung, eine Anleitung zum gelungenen dienstlichen Verhör.

Sprecherin (ebda): Vernehmung des Beschuldigten Die Kunst des Kriminalisten ist es, mit dem Betreffenden in Kontakt zu kommen, sein Vertrauen zu gewinnen. Daher niemals sofort nach den Tatumständen fragen, sondern ihn von seiner Jugend erzählen lassen, freundliche Fragen stellen und allmählich auf das Ziel hinsteuern. Man kann dem Beschuldigten auch Wünsche, die nicht ungesetzlich und erfüllbar, gestatten. (...).

15

Zur leichteren Orientierung anlegen: 1) Hauptakte, die alle Hauptspuren enthält 2) Nebenakte, die alle Nebenspuren, Verdachtsrichtungen enthält, darunter 2a) erledigte Verdachtsrichtungen 2b)unerledigte Verdachtsrichtungen. /

Musik: Pärt, 1'19 – 1'45

Autorin Vor die Alternative gestellt, ins KZ Dachau zurückzukehren oder für die Gestapo zu spionieren, entscheidet sich Regitz für Letzteres. Sein Name wird mit dem Kürzel S. 19 in eine Liste eingetragen, auch sein Sold am unteren Rand vermerkt, der war nicht sehr hoch. Die Spitzel der Gestapo hießen in der internen Sprache "Vertrauensmann" und wurden nach Methoden geführt, die schon sehr an das erinnern, was später die verrichten würde. Auf dem Weg der Recherche haben sich mir verblüffende Kontinuitäten zwischen den beiden Geheimdiensten offenbart. Unter anderem war es schon bei der Gestapo üblich, Menschen, die man zum Spitzeldienst erpressen wollte, damit zu drohen, dass ihre Angehörigen Schaden nehmen würden. Im Falle des Gustav Regitz stand das Wohl seiner Mutter, seiner Geschwister und das seiner zukünftigen Frau auf dem Spiel.

Sprecher, S. 56 f Die von der Gestapo geführte Handakte S. 19 lagert im Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten. Das ehemalige Archiv der Stasi dient heute als Außenstelle ("Abteilung Reich") des Berliner Bundesarchivs. Dahlwitz- Hoppegarten, einst Schaltzentrale einer Geheimpolizei, verbirgt sich hinter einem hohen Zaun. Das Pförtnerhaus steht leer, nur noch wenige Mitarbeiter kreuzen die Flure, deren Linoleum trotzig auf Hochglanz poliert

16 ist. Es riecht so, wie es in Deutschland nach der Wende gerochen hat, nach Aktenstaub und Desinfektionsmitteln. Es riecht nach einer untergehenden Bürokratie. Zwei Diktaturen sind in Deutschland vergangen, seit diese Akte angelegt wurde. Die Zeichen, das Gekritzel, die Anmerkungen und Häkchen kommen von verschiedenen Machthabern, sind die Codes verschiedener Systeme. Jenes elegant geschwungene "S19" mag Kriminalsekretär Kling auf den Aktendeckel gemalt haben. Das Papier, auf dem die Verhöre protokolliert wurden, ist vergilbt, die Maschinenschrift gut leserlich, es finden sich kaum Tippfehler: Die Gestapo arbeitete mit den besten Schreibkräften des Landes. In den roten und blauen Strichen und Zeichnen dieser einen Akte begegnen sich zwei Systeme, es sind die Hieroglyphen ihrer versunken Macht (...) Selbstreferentialität ist von jeher ein integrierter Bestandteil geschlossener Zeichensysteme.

Musik, Pärt Fratres 4'40 – 5'20

Autorin: Regitz wird auf seine ehemaligen Weggefährten angesetzt, zunächst in Forbach und Saarbrücken, dann in Paris. Bevor er im Sommer 1939 seine Tätigkeit im Hotel Printania in der Rue de l'Ouest antritt, stellt er der Gestapo eine ungewöhnliche Bedingung: er würde nur nach Paris fahren, wenn seine junge Verlobte ihn begleiten würde. Das wollte die Gestapo überprüfen.

Sprecherin S. 64 Der Fall war den Berliner Bürokraten eine Reise wert. Ein hochrangiger Beamter stellte sich in Neunkirchen ein. Man traf sich in einer Konditorei in Neunkirchen. Der Beamte nahm Margarete den Mantel ab. Er schob ihr den Stuhl hin, nannte sie wertes Fräulein und legte dem jungen Paar nahe, sein Verhältnis zu legalisieren, sich im Namen des Führers das Jawort zu geben. Er sagte, Gustav müsse den Einsatzbefehl abwarten,

17 vorerst werde er noch im Saarland gebraucht und einer Kontaktperson der Staatspolizei Saarbrücken überstellt. Die gesamte Unterredung dauerte kaum eine Stunde. Margarete war beeindruckt.

O-Ton 7 Tape 3 Track 009 0'30 Er hat sie informiert über die Lage in Frankreich. Das, was heute ein Journalist macht. Der Mann, dem er das weiter gegeben hat, hat nicht mehr an den Endsieg geglaubt. Er hat mit Gustav darüber geredet und gesagt, dass er Verbindungen nach Amerika hat.

Autorin Der Name des Kontaktmanns der Gestapo war Margarete entfallen. Lange, eigentlich bis kurz vor der Veröffentlichung, ist er als der Große Unbekannte durch mein Buch gegeistert, einer, der den Mummenschanz selbst nicht glaubte, der sich nach Südamerika absetzen wollte. Dann stieß ich durch Zufall auf den Namen des Kriminalrats BrUNO Sattler, Leiter des Referats Sozialdemokratie und Gewerkschaften bei der Berliner . Kein kleiner Helfershelfer war dieser BrUNO Sattler, sondern eine rechte Hand Heinrich Himmlers, ein Mann, der furchtbare Kriegsverbrechen zu verantworten hatte. Was immer Regitz 1939 und 1940 in Paris getrieben haben mochte – mit Belanglosigkeiten war einer wie Sattler nicht zufrieden zu stellen. Sollte Regitz sich vorgenommen haben, die Gestapo an der Nase herumzuführen, dann musste er auf der Hut sein.

Musik: Pärt 4'40 – 5'20

Autorin: Im Hotel in der Rue de l'Ouest waren Emigranten angekommen. Die wirklich prominenten, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller verkehrten im Hotel Lutetia, für sie wäre das kleine Hotel im Montparnasse zu schäbig gewesen. Dort lebten vor allem Kommunisten,

18 ein alter Haudegen namens Karl Firl, KP-Funktionär und Redakteur der Roten Fahne samt seiner Frau. Lore Wolf war auch dort, eine Kommunistin aus Frankfurt, die im Auftrag der Roten Hilfe Flüchtlingen und Emigranten half. Sie war auch Sekretärin der Schriftstellerin Anna Seghers, die sich gelegentlich im Hotel Printania blicken ließ. Die Emigranten halfen einander, wo sie konnten. Margarete unterrichte Lore Wolfs Tochter im Dreisatz, diese revanchierte sich mit einfachen Mahlzeiten. Man war arm, aber zum Jahresanfang 1939 noch voller Hoffnung, dass es gelingen könnte, Hitler das Handwerk zu legen.

Musik: Musette Flambée

Sprecher S. 82 In den letzten Monaten vor dem zweiten Weltkrieg vibrierte das Rive Gauche. Die années folles neigten sich dem Ende zu. Die Menschen waren aufgescheucht wie Vögel, die das nahende Erdbeben spüren. Die Frauen schminkten sich stärker und lachten lauter. Aus den Cafés drangen Chansons und Jazzmusik auf die Straße, ungewohnte, elektrisierende Klänge für Gustav und Margarete. Sie waren glücklich. Sie hatten nur dieses Leben und würden es auskosten bis zur Neige. In Regitz war die Leidenschaft des Spielers erwacht. Trotz seiner dürftigen Bedingungen, trotz des knurrenden Magens. Er war jünger als die übrigen Emigranten. Er war klug, sogar gerissen; er fühlte sich keinem politischen Programm verpflichtet sondern nur Margarete; die Gestapo war weit weg, sein politischer Status war ungeklärt; er war in gewisser Hinsicht vogelfrei. Im Sommer 1939 mischte sich Regitz erst als Flaneur, dann als Spieler ins Geschehen. Paris glich einem Marktplatz.

Autorin: In jener Zeit war Gustav Regitz mit der Phiosophie des Existentalismus in Kontakt gekommen. In seinem Besitz befand sich eine Erstausgabe von Jean Paul Sartres Buch: der Ekel. Die Figur des Einzelgängers, der alle

19 Ideologien leugnet und selbst für sein Schicksal sorgen muss, wurde zu seinem inneren Leitbild. Er hat Sarte sehr verehrt, und seine Gedanken waren eine Stütze, weit über die Kriegsjahre hinaus. Er hat über sich selbst wenig gesprochen, doch fand sich eine aufschlussreiche Niederschrift in seinem Nachlass, von Einsamkeit ist darin die Rede, von Ideologien, auch von Verrat. Die Autorenschaft dieses Manuskripts ist nicht klar, und es wurde nie veröffentlicht.

Sprecher: Es kann sein, dass jeder Verräter sein Verlangen nach Verfemung in sich trägt, und dass die Auswahl, die er unter den Möglichkeiten des Verrats trifft, von dem Ausmaß an Einsamkeit abhängt, zu dem er hin will.

Autorin: Als der Krieg beginnt, ändert sich die Lage der deutschen Emigranten. Die Männer werden interniert, die Frauen bleiben im Hotel zurück. Der folgende Winter ist sehr kalt, sie kämpfen ums nackte Überleben. Man strickt Pullover, hilft sich, so gut es geht. Immer öfter gibt es Razzien der Polizei.

O-Ton 8, Tape 2, Track 018 0'38 Es gab verschiedene Razzien im Hotel. Die Franzosen waren auch nicht so kommunistenfreundlich. Lore Wolf war bekannt, die hatte einen Mann in der Schweiz und Verbindungen gehabt. Sie haben ihr Material bei mir im Zimmer versteckt. Wäre das aufgeflogen, ich wäre da gestanden wie ein dummer Esel. Ich hätte nicht gewusst, was das ist, es hat mich auch nicht interessiert. Sie haben es bei mir versteckt.

Musik: Pärt, Fratres, Trio 2'30 – 3'15

Autorin :

20 Mit Margarete über ihr Leben zu sprechen, war für mich eine große Bereicherung. Sie ist durch schwierige Zeiten gegangen, macht darum nicht viel aufhebens. Sie sei sehr jung gewesen, sagt sie, vielleicht naiv, sie habe einfach nicht nachgedacht, sie habe sich ihren Lebensmut nicht nehmen lassen. In dem Gespräch mit ihr erfuhr ich auch, was mir noch keiner so deutlich gesagt hatte – meine Großeltern führten ab 1935 ein offenes Haus in Südfrankreich. Jüdische Flüchtlinge auf dem Weg ans Mittelmeer konnten dort unterkommen, auch Interbrigaden auf dem Weg nach Spanien und zurück. Warum darüber nicht gesprochen wurde? Ich kann nur mutmaßen. Ein Exil hat immer auch mit Heimatverlust zu tun, mit einer Niederlage, mit Schande. In der Heimat waren die Emigranten Verräter, im Ausland verhasste Deutsche.

Sprecher, S. 39 Louise und Johann Burgard zogen weiter mit ihrem Sohn in ein Haus mit großem Garten außerhalb der nördlichen Stadtgrenze von Montauban. Das Haus liegt im Tal des Tarn, welches sich zu den Pyrenäen hin öffnet. Johann Burgard, der charmante Friseur, fasste in diesem Tal schnell Fuß: Oui Madame und Voilà Madame sagte er in akzentschwerem Französisch, wenn er den Damen das Haar ondulierte, ihnen mit einer formvollendeten Verbeugung die scharrende Küchentür öffnete – sie müssen ihn gemocht haben, den Boche. Das Haus, in dem er wohnte, war von Efeu und Wein bewachsen; es war groß genug, um später jüdische Flüchtlinge zu beherbergen, die Rast machten auf dem Weg nach Marseille oder Casablanca. Es kamen auch Spanienkämpfer, solche auf der Hinreise nach Spanien, und solche, denen es gelungen war, den Rückweg anzutreten. Seine Frau Louise Burgard tat das, was sie am besten konnte, sie kochte, wusch, ordnete. Das Haus, in dem sie nun lebte, war von der Sonne beschienen, ganzjährig und ganztägig, einer Sonne, die zu stark war für Louise Burgard; sie hatte Heimweh und Tuberkulose, und ahnte bereits, dass das eine oder das andere sie hinwegraffen würde.

21 Autorin: Als die Männer interniert wurden, lebten Margarete, Louise und drei Kinder allein in dem Haus in dem Haus in Montauban. Die Mütter nähen Schlafsäcke für das französische Militär, werden ums Haar ebenfalls interniert. Sie schlagen sich durch. Aus jener Zeit hat eine weitere Anekdote überlebt, den Weg zurück an Margaretes Tisch gefunden. Sie ist komisch, ein wenig traurig, auch poetisch, genau wie die Zeit.

O-Ton 9, Tape 3, Track 018 0'26 In Montauban wollten wir mal ein Huhn schlachten und keiner hat's fertig gebracht. Ich habe natürlich groß den Mund aufgemacht, aber als ich das Huhn und das Beilchen hatte, konnte ich es nicht. Der Nachbar hat es uns geschlachtet. (überblenden)

Sprecherin, S. 106 Die beiden Frauen brachten es nicht übers Herz, dem Tier, dem Leckerbissen, der aufgeregt gackerte und in seiner Todesangst mit den Flügeln schlug, den Kopf abzuhauen. Sie wussten nicht, wie man das Huhn bei den Beinen packte, es schleudert, damit es still wird, den Kopf auf den Block legt und mit den Fingern die zarte Stelle unterhalb des winzigen Schädels sucht, an der die Axt treffen muss: Selbst Margarete, die Sentimentalitäten nicht zugeneigt ist, war dieser Aufgabe nicht gewachsen. Sie baten eine Nachbarin um Hilfe, und die tat es mürrisch, wortlos.

Musik, Trio, 2'30 – 3'15

O-Ton 10, Tape 3, Track 015 0'25 Was hätte sie machen sollen in einem besetzten Land? Da war der Hass groß auf die Deutschen. Die Nachbarn fangen an und verkaufen keine Eier mehr, obwohl sie vorher lange da gelebt haben.

22 Autorin: Als die Deutschen Frankreich besetzen, später auch nach Süden vorrücken, ändert sich die politische Landkarte erneut, auch die Situation für die Emigranten. Hans und Louise Burgard werden das Haus in Montauban verlassen, zurückkehren an die Saar. Gustav Regitz wird aus dem Internierungslager entlassen. Nicht alle Emigranten hatten so viel Glück – waren sie Kommunisten oder gar Juden, so brachte man sie unter dem dienstfertigen Regime des Maréchal Pétain weiter in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Regitz versucht zu fliehen, wird aber von einer Einheit der Feldjäger aufgegriffen, muss erneut in Dienst der Gestapo in Paris treten. Dies hat nun eine neue Qualität, denn sein Verbindungsmann BrUNO Sattler ist vor Ort. Regitz findet sich wieder in dem alten Hotel ein. Margarete schlägt sich mit ihrem neugeborenen Kind durch nach Norden:

Sprecherin, S. 124: Der erstbeste Zug fuhr nach Bordeaux. Sie hatte keinen Proviant dabei. Sie stillte ihr Kind und merkte, wie ihre Lippen aufplatzten, ihre Fingerkuppen Falten bekamen. Sie hatte Durst, doch das Wasser im Zug wollte sie nicht zu sich nehmen. Sie wechselte Stoffwindeln im Abteil und ließ die schmutzigen im Abfalleimer verschwinden. In Bordeaux wartete sie auf den nächstbesten Zug. Der brachte sie nach Orléans, wo sie am nächsten Tag ankam. Endlich bekam sie etwas zu trinken. Der Schaffner in Paris wollte ihre Fahrkarte sehen, sie tat so, als könne sie weder Koffer noch Kind loslassen. Sie ignorierte ihn, ging durch die Schranke durch. Als sie an Gustavs Zimmertür klopfte, schien es ihr, als pochte ihr Herz noch lauter. Er machte auf und stand eine Weile regungslos. Dann lächelte er. Und wer ist das da, sagte er und deutete auf das Kind. Das ist deins. Vermute ich jedenfalls. Du bist eine Teufelsbraut. Stimmt genau, sagte sie. Ich bin die Braut. Der Teufel du.

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Musik, Pärt, Fratres 3 – 3'45, Akkorde noch mitnehmen

Autorin: Auch Lore Wolf ist noch in dem Hotel. Die Gestapo bereitet ihre Festnahme vor. Ob Gustav Regitz davon gewusst hat, ob er es nur ahnt - er versucht, Lore Wolf zu warnen. Sie ignoriert diese Warnung aus unbekannten Gründen. Vielleicht haben dringende Aufgaben sie in Paris festgehalten, es fehlt ein Marschbefehl der Kommunistischen Partei, oder sie hat die Warnung nicht verstanden, denn diese kommt daher wie ein schlechter Scherz. Sehr deutlich kann Regitz allerdings nicht werden, denn ein Spion, der Emigranten warnt, hätte sein Leben verwirkt.

Sprecher, S. 120 Lore Wolf steht vor dem Schaufenster eines Juweliers ihre halbwüchsige Tochter steht neben ihr. Sie betrachten Auslagen, Waren, die sie schon lange nicht mehr kaufen können. Gustav Regitz nähert sich der Mutter von hinten. Er legt ihr die Hände auf die Schultern, flüstert in ihr Ohr: "Frau Wolf, Sie sind verhaftet." Lore Wolf erkennt im Schaufenster die Züge ihres Mitbewohners, und während der Schreck sie durchfährt, dreht sie sich um, sie will schlagen, treten, schreien. Regitz hält sie fest und lässt sie nicht zu Wort kommen. Lore, sagt er, und wechselt zum vertraulichen Du, Lore, denk mal nach. Die Deutschen sind in der Stadt. Du bist bekannt, sie wissen wo du wohnst. Du bringst dich und dein Kind in Gefahr. Du musst weggehen aus Paris. Jetzt endlich fängt Lore Wolf an zu schreien.

Sprecherin, S. 120 f Ein Bild zu dieser Erzählung, kommt ohne Spiegelungen nicht aus. Die Blätter der Straßenbäume spiegeln sich in den Fensterscheiben, sie zeichnen ein Muster aus Licht und Schatten, sodass die Züge des Gustav Regitz nicht sofort zu erkennen sind, sodass die Wirkung der

24 vermeintlichen Verhaftung perfekt war; es war großes Theater und zeitigte den von Regitz gewünschten Effekt. Die Worte, in denen Gustav Regitz später von dieser Begegnung erzählte, in denen Margarete sie jetzt erzählt, sind identisch mit allen früheren Erzählungen, mit allen späteren Aussagen. Fraglich ist, wie oft man eine Sache erzählen muss, bis sie wahr wird. Oder wie oft man die Wahrheit erzählen muss, bis sie geglaubt wird.

Sprecher, S. 121 Als Gustav Regitz nach dem Krieg merkte, dass man ihm nicht glaubte, wurde er bitter. Er konnte sich stundenlang in seinem Arbeitszimmer vergraben. Er studierte die ausländische Presse, Le Point, The Times Magazine. Fußnoten las er mit der Lupe. Er war bestens informiert über außen- und innenpolitische Vorgänge. Er war immer mit dem letzten Argument bewaffnet. Er würde nicht noch einmal die falschen Worte sagen. Er behielt allzeit das letzte Wort. Er provozierte Diskussionen und bewegte sich durch sie hindurch mit der tänzelnden Eleganz eines Boxers, der sich seines Sieges schon gewiss ist. Ständig übte er für den Ernstfall. Es war die Gabe seiner Rede, die ihn gerettet hatte; und er hatte die Fähigkeit, sich selbst zu retten, in den Stand einer Tugend erhoben.

Musik 4'45 – 5'20

Autorin Fünf Jahre lang hat Lore Wolf in den Gefängnissen des Hitlerregimes verbracht. Nach dem Krieg führt sie deswegen zwei Prozesse gegen Gustav Regitz, beide verliert sie. Trotzdem klebt an ihm der Makel des Verrats. Er nahm die Form des Gerüchts an, der Halbwahrheit, der Unterstellung. Er mäanderte durch die Familien der zurückgekehrten Saaremigranten und prägte die Lokalpolitik meiner Heimatstadt Neunkirchen / Saar bis weit in die Siebziger Jahre hinein. An den entsprechenden politischen Fronten wurde erbittert gekämpft. Gustav

25 Regitz, der ein großes politisches Talent war, der vielleicht sogar eine bedeutende Funktion in der Sozialdemokratie hätte annehmen können, zog sich ins Privatleben zurück. Sein Spiel war ausgespielt. Er verteidigte sich nicht, er entschuldigte sich nicht. Stolz mag mit im Spiel gewesen sein, auch der einsame Triumph desjenigen, der die Tyrannei überlebt hat.

Sprecherin, S. 158 Von allen Spielarten der menschlichen Schuld habe ich die Vorliegende, die Seine, immer für die perfideste gehalten. Nicht umsonst wird ein vergleichbares Schicksal in der griechischen Tragödie über denjenigen verhängt, dem die Götter zürnen. Viele Male habe ich die Antigone studiert, die von Sophokles und die von Anouilh, um genau jenen Punkt ausfindig zu machen, an dem aus Freiheit Schicksal wird. Doch immer wenn ich mich nähere, wird es dunkel, es ziehen Wolken auf am Horizont, es ist windstill und kein Blatt regt sich, und dann, wenn ich denke, ich bin angekommen, schlägt der Blitz ein, jetzt sind die Götter am Werk, und ich war wieder zu spät. Unsinn, würde Gustav sagen. Was du dir immer so denkst. Es war wie es war, und ich habe meinen Kopf aus der Schlinge gezogen, nicht mehr. Und nicht weniger. Es war gar nicht so übel.

Musik, Pärt, 8'30 -9'15

Autorin: Manchmal fragen mich Leser, ob es statthaft ist, einem Gestapo-Spion so nahe zu kommen, ihn in seiner Gedankenwelt darzustellen. Ich meine, ja, denn Literatur soll uns dorthin führen, wohin wir selbst in unserem Leben nicht gelangen. Ich habe die Nähe zum Verhängnis des Gustav Regitz gesucht. Dabei ist es wichtig, die letzten Gründe für alle Schuld zu benennen: Sie liegen in der Zeit, im Ungeist eines totalitären Regimes.

Musik, 2'30- 4'00 (Flambée)

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Autorin: Kurz vor ihrem 90. Geburtstag ist Margarete mit mir nach Paris gefahren, und sie hat mir die Stadt ihres Exils gezeigt. Das Hotel in der Rue de L'Ouest steht noch, Buchsbäume verzieren den Eingang die winzige Lobby wurde mit dunklem Holz getäfelt. Touristen gehen ein und aus, die nicht wissen, was sich hier abgespielt hat, und das ist vielleicht gut so. Margarete hat das Rauchen aufgegeben, aber sie sitzt noch am Kopfende ihres Tisches. Manchmal kommt es vor, dass sie einen Koffer packen will. Für ihre Geschichte bin ich ihr dankbar. Alle Geheimnisse habe ich nicht lüften können. Doch sind die besten Geschichten dazu da, einfach erzählt zu werden.

Sprecherin: S. 149 Ich erwarte sie am Gare de L'Est. Sie zieht ein Köfferchen hinter sich her und schwingt einen selbst gehäkelten Brotbeutel. Sie füttert die Spatzen. Sie trägt eine Sonnenbrille, mit der sie aussieht wie 007. Sie überprüft diverse Motorräder auf ihre Tauglichkeit für neunzigjährige Benutzerinnen. All diese Menschen in ihren Häusern, sagt sie. All ihre Gedanken und Träume. Ein einzelner Mensch ist nicht viel. Was willst du machen? frage ich. Was willst du machen? gibt sie zurück. Ich war schon öfter in Paris als du. Es könnte sein, dass du das letzte Mal in Paris bist, sage ich vorsichtig. Wenn ich das letzte Mal in Paris wäre, würde ich durch die Stadt streichen. Gut. Streichen wir durch die Stadt.

O-Ton 11, Tape 5 Track 008 0'50 Track 008 (Fade out) Du hast das ja gelesen – stimmt alles? Ja vom Inhalt her stimmt's – es ist ja doch ein verrücktes Leben, das wir gehabt haben, nicht wie bei normalen Leuten – mit Sprüngen drin. Es kommt mir manchmal grotesk vor, wir waren trotz allem ziemlich wendig,

27 wir haben uns durch gewurschelt, wir hatten viel Glück bei allem Unglück ... zumal in der Zeit, in der man in Deutschland nicht mehr normal leben konnte – viele Situationen waren am Rande ... sonst wäre die Sache schlecht ausgegangen.

Musik, Absage

Tanya Lieske: "Spion wider Willen" (Droste Verlag), 175 S., 14,95 Euro

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