Manfred Kittel Rote und schwarze „68er“? Wirkungen der Protestbewegung von 1968 auf die Volksparteien CDU und SPD

I.

Die Frage, was die „68er“-Bewegung für die beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD bedeutet hat, ist ebenso spannend wie schwer zu beantworten. Spannend ist die Frage natürlich vor allem deshalb, weil die ältere und bis dahin größere der beiden Volksparteien, die CDU, in den Jahren nach 1968 von der SPD überholt wurde. Der SPD, zwar schon im 19. Jahrhundert gegründet, Volkspartei ihrem eigenen Selbst- verständnis nach aber erst seit dem Godesberger Parteitag 1959, gelang es durch die Koalition mit der FDP im „Machtwechsel“ von 1969 zunächst, die CDU politisch- strategisch zu überholen. Bald darauf, bei den „Willy-Wahlen“ 1972, überholte die SPD ihre christdemokratische Konkurrentin dann auch in der Gunst der Wähler, wenn auch nur denkbar knapp mit 45,8 zu 44,9 Prozent der Stimmen. So spek- takulär diese Entwicklung war, weil damit die führende Staatsgründungspartei der Bundesrepublik erstmals nicht mehr den Kanzler stellen konnte, so schwierig ist es, dies alles auf den einfachen Nenner einer bloßen Wirkungsgeschichte der „68er“- Bewegung zu bringen. Schließlich gab es in der „68er“-Zeit eine ganze Reihe weiterer wesentlicher, viel- leicht sogar wesentlicherer Faktoren für die Entwicklung der beiden großen deut- schen Volksparteien: Zum einen war auf der politisch-inhaltlichen Ebene das „Mega- Thema“ der sogenannten „neuen Ostpolitik“ für die Annäherung von SPD und FDP von ganz erheblicher Bedeutung; auf der rechtlichen und organisatorisch-prakti- schen Ebene zu berücksichtigen ist vor allem das neue Parteiengesetz von 1967. Die- ses neue Parteiengesetz war aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- gerichts infolge diverser Finanzaffären notwendig geworden und es hatte – ganz unabhängig von der „68er“-Bewegung – weitreichende Folgen. Das Parteiengesetz begrenzte etwa die Zahl der ex offizio einem Parteivorstand angehörenden Mitglie- der auf höchstens ein Fünftel, verlangte den Parteien Satzungen und Programme ab und trug so insgesamt zur weiteren innerparteilichen Demokratisierung bei. Von Parteiengesetz und neuer Ostpolitik waren die Volksparteien ebenso gemein- sam betroffen wie von der Großen Koalition in Bonn, die beide seit Dezember 1966 bildeten. Für die CDU bedeutete diese Regierungsform allerdings insofern eine grö- ßere Zäsur, als sie bislang weitgehend vom Kabinett aus gesteuert worden war. Unter den großkoalitionären Umständen war das jetzt nicht mehr möglich. Bundeskanz- ler Kiesinger, der im Mai 1967 den CDU-Vorsitz übernahm, grenzte sich denn auch explizit von dem obsolet gewordenen Parteiführungsstil à la Adenauer ab. Adenau- er, so Kiesingers Kritik, hätte die CDU nur zu Wahlzeiten benutzt1.UndLudwig 1 Frank Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945– 1969, Stuttgart 2001, S. 411. 98 Manfred Kittel Erhard, der ohnehin nur ein Jahr lang 1966/67 im Interim als CDU-Vorsitzender agierte, soll ja nicht einmal Mitglied der CDU gewesen sein2 ! Jedenfalls war Ade- nauers Ableben im April 1967 ein Signal des Wandels. Erst jetzt gewannen der CDU- Bundesvorstand und die Fraktion an Gewicht – nicht zuletzt deshalb, weil bislang für die CDU identitätsstiftende Ressorts wie das Außen- und Wirtschaftsministeri- um 1966 in sozialdemokratische Hand geraten waren. Auf diesen Feldern musste die CDU nun erstmals auch als Partei eigene Akzente setzen. Der wachsenden Be- deutung des Parteiapparates entsprechend wurde unter Kiesinger unverzüglich auch das neue Amt eines CDU-Generalsekretärs geschaffen. Während der Abschied von Adenauer eine eher CDU-spezifische Zäsur markier- te, waren von der „68er“-Bewegung selbst aber wieder beide Volksparteien gemein- sam betroffen, wenngleich die Folgen von „68“ für die CDU nach landläufiger Mei- nung zumindest in einer wesentlichen Hinsicht viel negativer ausfielen – und zwar hinsichtlich des immer problematischer werdenden Verhältnisses der CDU zu den teilweise weit nach links driftenden Bildungs- und Kultureliten. Noch bis 1960 – man kann sich das heute kaum mehr vorstellen – sympathisierten 45% der Studen- ten mit CDU und CSU, nur 13% dagegen mit der SPD. In der Folgezeit aber nahm die CDU-Führung die Debatten um die „Bildungskatastrophe“ wohl nicht ernst ge- nug. Die Forderungen nach sozialer Öffnung der Gymnasien und der Universitä- ten überließ sie SPD und FDP, sie selbst trug statt dessen anachronistisch wirkende Diskussionen um die christliche Bekenntnisschule aus. Dass die jungen Akademiker zur CDU auf Distanz gingen, und dann auch Teile der Professorenschaft, war für die CDU umso fataler, als der ganze Bildungsbereich in diesen Jahren so stark expan- dierte3. Nur partiell ausgeglichen wurde dieser Trend dadurch, dass die Radikalisie- rung der Proteste um 1968 den bürgerlichen Wählern die sozialistische Bedrohung im eigenen Land drastisch vor Augen führte. Und dies ermöglichte der Union ein- mal mehr das, was schon immer zu ihren Wahlkampfklassikern gezählt hatte: den Appell an die antikommunistischen Grundgefühle der Westdeutschen. Die SPD geriet nicht nur dadurch unter Druck, sondern bald auch durch eine massenhaft in die Partei eintretende, oft weit links stehende Akademikerschaft, vor allem junge Lehrer. Deren Marsch durch die Institutionen der SPD war zeitweilig so erfolgreich und der innerparteiliche Kampf um den richtigen Weg zum Sozialismus wurde fortan so unerbittlich ausgetragen, „dass nicht immer klar war, ob der poli- tische Gegner nicht doch eher in den eigenen Reihen als in den Reihen der Union stand“4. Zentrale Bedeutung für den Marsch der „68er“ durch die Institutionen der SPD gewann deren Jugendorganisation, die Jungsozialisten, im Parteijargon „Jusos“ genannt. Bis Mitte der 1960er Jahre waren die Jusos noch ein „weitgehend partei- konformer, vielfach sogar lebloser Verein ohne innerparteilichen Einfluss und ge- sellschaftliche Ausstrahlungskraft“5. Doch schon im März 1966, also noch vor Be- ginn der Großen Koalition in Bonn, konstatierte ein SPD-internes Memorandum eine „zunehmende Radikalisierung“ der Parteijugend vor allem an der Basis in den

2 So Rainer Blasius in der FAZ vom 26. 4. 2007, S. 3. 3 Ebd., S. 404f. 4 Dietmar Süß, Die Enkel auf den Barrikaden. Jungsozialisten in der SPD in den Siebziger- jahren, in: AfS 44 (2004), 67–104, hier S. 68. 5 Ebd., S. 67. Rote und schwarze „68er“? 99 Bezirken und Unterbezirken, allen voran Hessen-Süd, Schleswig-Holstein, Westber- lin, aber auch Bayern6. Die Gründe für den wachsenden Unmut der Juso-Basis über ihren lange par- teiloyalen Bundesvorstand lagen zunächst im außenpolitischen Westkurs der SPD- Opposition seit der berühmten Wehner-Rede im Bundestag 1960, der mit der wachsenden Empörung über den Vietnam-Krieg der USA einer Belastungsprobe ausgesetzt wurde. Zum anderen wuchs die Unzufriedenheit mit einer, wie man wähnte, „in starren Bahnen verlaufenden Deutschland- und Ostpolitik“7. Die Betei- ligung der SPD an der Großen Koalition, vor allem aber an der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Bundestag, brachte das Fass der jungsozialistischen Kritik dann zum Überlaufen. In den Jahren zwischen 1966 und 1968 veränderten sich Sprache und Personal des SPD-Jugendverbandes „in atemberaubendem Tempo“8.Jüngere, oft sozialwissenschaftlich ausgebildete Akademiker traten an die Spitze. Der Geist der APO begann, „durch den Verband zu wehen“ und ein schon länger bestehen- des Unbehagen zu katalysieren. Wie weit sich etwa in Bayern – selbst in Bayern – die Gewichte nach links verschoben, zeigte die Wahl Rudolf Schöfbergers zum Juso- Landesvorsitzenden 1967 bzw. das „Haushamer Manifest“ der Bayern-Jusos, das im Mai 1968 bundesweit Aufmerksamkeit erregte. In der streng nach APO riechenden Analyse des SPD-Nachwuchses hatte sich die Bundesrepublik zu einem „restaurativen Besitzverteidigungsstaat spätkapitalis- tischer Prägung“ entwickelt9. Autoritäre Strukturen in Familie und Schule, Parla- menten und Parteien, so hieß es, hätten das demokratische Leben erstarren lassen. Und die Mutterpartei SPD hätte dies alles durch ihren Eintritt in die Große Koali- tion auch noch sanktioniert. Schlimmer noch: Die eigene Partei schien in puncto innerverbandlicher Demokratie selbst ein Teil des Problems zu sein. Der Juso Nor- bert Gansel z. B., 1967 zum ersten Mal Delegierter auf einem Landesparteitag, erleb- te seine Partei als „unheimlich verkrustet“: „Da sind vier Referate gehalten worden und eine Dampferfahrt auf der Kieler Förde. Kein einziger Diskussionsbeitrag…“10 Nicht nur in Schleswig-Holstein entwickelte sich die politische Willensbildung in der SPD noch „von oben nach unten“11; auch darüber hinaus stand im Zentrum der sozialdemokratischen Veranstaltungskultur bis dahin nur zu oft der „Monolog mit bisweilen autoritär-patriarchalischem Einschlag“. Offene Kritik an den Vorsitzenden galt in den Ortsvereinen als verpönt. Die Ortsvereine waren stattdessen Stätten der Geselligkeit, kaum der politisch-inhaltlichen Debatte gewesen. Erst die Jusos sorg- ten nun für eine „kommunikative Revolution“. Sie attackierten die straffe Versamm- lungsregie der Parteiführungen mit ihrer sog. „Abstimmungsguillotine“12 als „Mani- pulation“ – ganz im herrschaftskritischen APO-Duktus. In den Parteiveranstaltun- gen kam somit das Element einer neuen, selbstbewussten Debattenkultur mit immer

6 Ebd., S. 72. 7 Ebd., S. 71. 8 Ebd., S. 75. 9 Ebd., S. 73. 10 Ebd., S. 95. 11 So Klaus Schütz, der den Bundestagswahlkampf seiner Partei 1961 maßgeblich beeinflusst hatte. Ulrich Lohmar, Innerparteiliche Demokratie. Eine Untersuchung der Verfassungs- wirklichkeit politischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1963, S. 42. 12 Süß, Enkel, S. 97. 100 Manfred Kittel zahlreicheren Wortmeldungen zum Tragen. Besonders im Streit um Satzungsände- rungen zur Bekämpfung manipulativer Methoden des Parteiestablishments artiku- lierte sich fortan eine bald schier „obsessive Diskussionslust“13 . Anders als die roten „68er“ waren ihre Generationsgenossen in der CDU-Jugend natürlich alles andere als Teil eines neomarxistisch inspirierten Marschs durch die Institutionen des Kapitalismus. Dennoch ist es frappierend, wie sehr auch die CDU, zeitgleich mit der SPD, von einer Art Partizipationskrise erfasst wurde, die mit ei- nem Schub innerparteilicher Demokratisierung einherging. Die von der Studenten- bewegung kultivierte Respektlosigkeit gegenüber der älteren Generation, so hat es Frank Bösch beschrieben, „fand hier ihr moderateres Pendant“14. Der generationel- le Umbruch hatte indessen die CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon früher erreicht als die SPD; der Anteil der neuen Abgeordneten stieg bei der CDU 1965 mit Abstand am stärksten. Es war die legendäre Generation der Flakhelfer, um 1930 geboren, die jetzt nach vorne drängte. Schon im Sinne der eigenen Aufstiegschancen trat sie ent- schieden für transparente Führungsstrukturen in der Partei ein. Denken wir nur an , Jahrgang 1930, der gleich in seiner ersten Bundesvorstandssitzung 1964 Adenauer während dessen einleitendem Lagebericht mit einem Zwischenruf unterbrach. Er, Kohl, wolle das „uralte CDU-Rezept“ nicht akzeptieren, „durch eine Fülle von Referaten die Zeit so auszudehnen, dass nachher für die Diskussion kein Raum mehr da ist“15. Kohls Demokratisierungsforderungen waren natürlich auch eigennützig, um an den bislang eher undurchsichtigen oder halbwegs einsamen Entscheidungen der Par- teispitze selbst beteiligt zu werden. Und das neue Parteiengesetz von 1967 kam die- sem Drängen der jungen schwarzen Wilden sehr entgegen: Nach der revidierten Sat- zung konnten Vorstände auch in der CDU nicht länger per informeller Absprache und Proporz vor allem mit etablierten Mandatsträgern besetzt werden. Was dieser Abschied von der alten Honoratiorenpartei bedeutete, bekam in Schleswig-Holstein ein renommierter Geschichtsprofessor mit als erster zu spüren: Karl-Dietrich Erd- mann kandidierte auf dem Landesparteitag 1969 gleich dreimal vergeblich für den stellvertretenden Parteivorsitz; schließlich unterlag er dem erst 25-jährigen Uwe Bar- schel16. Die Delegierten des CDU-Bundesparteitags hatten bis dahin lediglich das Hamburger Programm von 1953, eine Art knapper Wahlaufruf für Adenauer, oh- ne Aussprache absegnen dürfen. Jetzt, 1968, konnten sie am Berliner Programm erstmals breit mitwirken. Nach 30 000 Stellungnahmen und 400 Änderungsanträgen wurde das Programm schließlich verabschiedet. CDU-Generalsekretär Heck räumte im Juni 1968 offen ein: „das ist das erste Mal, dass wir einen Parteitag in der Weise durchführen, dass eine Willensbildung von unten nach oben erfolgen soll“17. Die CDU wurde also in den Jahren um 1968, wenn auch aus teils anderen Grün- den, nicht viel weniger durcheinander geschüttelt als die SPD. Auf welche Weise rote und schwarze „68er“ ihre Parteien veränderten, soll im folgenden an einem regiona- len Exempel näher untersucht werden: Am Beispiel von am Main, einer

13 Ebd. 14 Bösch, Adenauer, S. 411. 15 Ebd., S. 410. 16 Ebd., S. 412f. 17 Ebd., S. 413. Rote und schwarze „68er“? 101 der Hochburgen der bundesdeutschen „68er“-Bewegung. Denn hier nahm nicht nur der Marsch der roten „68er“ durch die Institutionen der SPD einen besonders dra- matischen Verlauf, sondern auch die Gegenreaktion schwarzer „68er“ in der CDU.

II.

Wenn mit ausgerechnet ein Frankfurter Jungsozialist den Linksruck des Juso-Bundesverbandes 1969 personifizierte, so verwies dies auf den politischen Standort des ganzen Unterbezirks, der innerhalb der Parteijugend als Bastion der so- genannten „Reformsozialisten“ galt. Im Juso-Bezirk Hessen-Süd war auch der Ein- fluss des Anfang der 1960er Jahre aus der Sozialdemokratie verstoßenen Sozialisti- schen Deutschen Studentenbundes (SDS) besonders spürbar18, und die Delegierten von dort trugen maßgeblich dazu bei, dass SDS-Vorsitzende „wohl nirgendwo inner- halb der SPD […] mit derart demonstrativem Beifall begrüßt“ wurden „wie auf den Kongressen der hessischen Jungsozialisten 1967 und 1968“19. Die enge „Zusammen- arbeit mit der APO“ ebenso wie ein Konfliktkurs „innerhalb der Partei“20 waren Teil einer von den Reformsozialisten verfolgten systemüberwindenden Doppelstrategie, die indes als mit dem Godesberger Programm der SPD vereinbar deklariert wurde. Danach sollten die eigenen Vorstellungen einerseits durch die Mobilisierung der Be- völkerung, andererseits mit Hilfe der Mutterpartei in den Parlamenten durchgesetzt werden. Dies setzte voraus, „dass die SPD in einem langen Marsch durch die Insti- tutionen in eine konsequent sozialistische Partei umgewandelt werden musste“21. Die zeitweilig „ungebrochene Einigkeit zwischen Jungsozialisten und APO“ be- kam zwar Risse, seit mit den Osterunruhen 1968 die Militanz der SDS-Aktionen stieg. Der dadurch bewirkte Distanzierungsprozess zwischen beiden Seiten „ver- stärkte die gesellschaftliche Isolierung der einen und trieb die anderen in die Nachbarschaft der ,bekämpften SPD-Bürokraten, die es schon immer gewusst hat- ten“‘22.Wirklich brav aber wurden die Frankfurter Jusos jetzt keineswegs wieder. Den SPD-Oberbürgermeister Willi Brundert forderten die Jungsozialisten – ein hal- bes Jahr vor den Kommunalwahlen! – wegen seiner Verantwortung für umstritte- ne Polizeieinsätze gegen radikale „68er“ zum Rücktritt auf; gegen die Kandidaturen von SPD-Notstandsbefürwortern für den neuen Bundestag organisierte Jungsozia- list Fred Zander im Mai 1968 eine Unterschriftensammlung. Karsten Voigt setz- te diesen Kurs dann auch durch seine spektakuläre Kampfkandidatur gegen SPD-

18 AdsD, SPD-PV 04805, Die gegenwärtige Situation der Jungsozialisten, 1966. 19 Gert Börnsen, Innerparteiliche Opposition. Jungsozialisten und SPD, Hamburg 1969, S. 73f. 20 Ebd., S. 73. 21 Wolfgang R. Krabbe, Parteijugend in Deutschland. Junge Union, Jungsozialisten und Jung- demokraten 1945–1980, Wiesbaden 2002, S. 206. Das Konzept der Doppelstrategie spielte vor allem bei der Hinwendung der Jusos zur Kommunalpolitik eine Rolle und wurde in seinen Grundzügen vom kommunalpolitischen Ausschuss des Juso-Bundesverbandes ent- worfen. 22 So hieß es 1969 in einem internen Arbeitspapier der südhessischen Jusos; Börnsen, Oppo- sition, S. 84. 102 Manfred Kittel Verkehrsminister Georg Leber23 um das Bundestagsmandat in einem Frankfurter Wahlkreis fort 24. Der bundesweite Trend eines merklichen Anwachsens der Alterskohorte im Juso- Alter innerhalb der SPD-Mitgliederschaft und einer damit verbundenen apertura a sinistra schlug in Frankfurt besonders durch, weil der Unterbezirk (UB) den mit Bad Godesberg vollzogenen Kurswechsel von der Klassen- zur Volkspartei „nie so richtig mitgemacht hatte“25. Walter Möller etwa, der 1968 als Unterbezirksvorsitzender fun- gierte, hatte zusammen mit den Frankfurter Delegierten in Bad Godesberg zu der kleinen Minderheit von 16 Sozialdemokraten gezählt, die dem neuen Grundsatz- programm der SPD ihre Zustimmung verweigerten26. Neben Möller rechneten vor allem Rudi Arndt (seit 1964 hessischer Wirtschafts- und Verkehrsminister) und der frühere südhessische Juso-Chef und spätere Pressesprecher der IG Metall Olaf Rad- ke, MdL, zur sogenannten Alten Linken. Die Südhessen, so auch der Eindruck eines von dort stammenden Sozialdemokraten auf dem Bundesparteitag von 1966, seien „so die ,Chinesen‘ der Partei und die Frankfurter im besonderen die ,Albanier“‘27. Der überdurchschnittlich große Einfluss der Jusos auf dem altlinken Wurzelbo- den der Frankfurter SPD schlug sich seit 1966 immer wieder in der Einstellung des Unterbezirks zur Bonner Großen Koalition mit den „Schwarzen“ nieder, die sei- tens der „progressiven“ Genossen am Main mit größtem Missvergnügen begleitet wurde28. Wenn dagegen zwei der drei Frankfurter SPD-Bundestagsabgeordneten – Brigitte Freyh und Hans Matthöfer – bei der dritten Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag im Frühjahr 1968 mit Nein stimmten29, so fand dies die ausdrück- liche Anerkennung des UB-Vorstandes. Das Unbehagen an der Großen Koalition

23 Der 1920 geborene Leber gehörte (nach einer Karriere bei der IG Bau-Steine-Erden) seit 1957 dem Bundestag, seit 1966 auch dem Kabinett (als Verkehrsminister) an. Später über- nahm er unter Kanzler Brandt 1969 zusätzlich das Postministerium, anschließend das Ver- teidigungsministerium. 24 Seitens der sogenannten „Alt-Linken“ wurde Voigt jedoch einstweilen nur von Walter Möl- ler unterstützt und verlor die Abstimmung gegen Leber. Börnsen, Opposition, S. 75, 78 u. 84; Karlheinz Schonauer, Die ungeliebten Kinder der Mutter SPD. Die Geschichte der Ju- sos von der braven Parteijugend zur innerparteilichen Opposition, Bonn 1982, S. 164. Vor diesem Hintergrund zu lesen sind auch die auf einer SPD-Versammlung geäußerten Vor- würfe Lebers vom März 1969 gegen Professoren der Soziologie, die „jahrelang eine radikale Saat gesät“ hätten; er aber sei bereit, so Leber, „einigen Studenten der Soziologie und Po- litologie den Hintern zu verhauen“; Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995. Bd. 1: Chro- nik, Hamburg 1998, S. 410. 25 Schonauer, Kinder, S. 129. 26 Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter, S. 155; Sylvia Streeck/Wolfgang Streeck, Parteiensystem und Status quo. Drei Studien zum innerparteilichen Konflikt, Frankfurt am Main 1972, S. 109. 27 Börnsen, Opposition, S. 66. 28 Die Zahl der Frankfurter SPD-Mitglieder ging von 1966 bis 1968 von ca. 12 000 auf 11 000 zurück; AdsD, SPD-UB Frankfurt (Nr. 115), Mitgliederbewegung 1946–1973, hier die Skiz- ze „Mitgliederzahlen am Ende des Jahres“. 29 Die 1924 geborene Politikerin Freyh gehörte seit 1961 für den Wahlkreis Frankfurt II dem Deutschen Bundestag an (bis 1972); Matthöfer (Jahrgang 1925) vertrat, ebenfalls seit 1961, den Wahlkreis Frankfurt III. Er avancierte 1978 zum Bundesfinanzminister. In der De- batte um die Notstandsgesetze engagierte sich Matthöfer, der damals auch die Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IG Metall leitete, in einer Gruppe von etwa 70 SPD- Rote und schwarze „68er“? 103 im allgemeinen, an ihrer Distanz zu den demonstrierenden Studenten und an dem schleppenden Tempo ihrer Entspannungspolitik mit dem Osten im besonderen, leg- te sich 1968 wie Mehltau auf die lokale SPD. Es wirkte „vom Vorstand bis zum letz- ten Genossen“ lähmend auf den Wahlkampf zur Stadtverordnetenversammlung im Oktober30 – zumal die kommunalpolitische Galionsfigur der SPD, Oberbürgermeis- ter Brundert, wegen der städtischen Polizeipolitik aus den eigenen Reihen desavou- iert wurde. Erstmals seit 1952 büßte die SPD im Römer infolgedessen ihre absolute Stim- menmehrheit wieder ein und fiel im Vergleich zu den vorherigen Kommunalwahlen (1964) um vier Prozentpunkte auf allerdings immer noch stattliche 49,5% zurück31. In der SPD-internen Wahlanalyse wurde dabei besonders aufmerksam registriert, dass die „Beteiligung der jungen Wähler zwischen 21 und 30 Jahren katastrophal“ niedrig gewesen war32. Bereits bei der Nominierung der SPD-Stadtverordnetenkan- didaten waren heftige Spannungen zwischen älterer und jüngerer Generation zutage getreten. Auch im folgenden Jahr stand – neben der Einschätzung der Großen Koalition in Bonn und ihrer Ostpolitik – die Frage der angemessenen Reaktion auf die Stu- dentenrevolte im Mittelpunkt der Gegensätze. Bereits Ende September 1968, kurz vor der Kommunalwahl, war es darüber noch einmal zum Eklat gekommen, als die Jusos dem Polizeipräsidenten und seinem Oberbürgermeister in einem Flug- blatt vorwarfen, mit „faschistischen Methoden“ gegen Demonstranten vorzugehen. Der SPD-Unterbezirksvorstand hatte daraufhin von seinem im Parteistatut veran- kerten Recht Gebrauch gemacht und den Juso-Vorstand abgesetzt33. Zudem hatte er Brundert sein „volles Vertrauen“ ausgesprochen und eine aufschlussreiche Inter- pretationshilfe für den Vorgang geliefert: „Nachdem der SDS die Parole ausgab, vor allem die SPD als politisch fortschrittliche Kraft zu zerschlagen, müsse mit bewuss- ten Versuchen gerechnet werden, die Partei von innen zu bekämpfen und zu unter- wandern“; außerdem wurde „einzelne[n] Jungsozialisten“ vorgeworfen, sich „als Teil der außerparlamentarischen Opposition“34 zu betrachten. Nach der Kommunalwahl war es Oberbürgermeister Brundert, der bei einer De- legiertenversammlung im Februar 1969 versuchte, die wegen der Polizeieinsätze er- neut hochgehenden Wogen zu glätten. Diese hatten sich infolge eines wenige Ta- ge alten, „ziemlich undurchsichtigen“ Stadtverordnetenbeschlusses aufgetürmt, in dem es um die Beschaffung oder Nichtbeschaffung von Elektrostöcken für die Po- lizei ging. Brundert schob die Verantwortung für diese noch nicht entschiedene Fraktionsmitgliedern, die u.a.˙ die Sicherung des Streikrechts durchsetzten; Internationales Biographisches Archiv 01/1997, 23. 12. 1996. 30 So formulierte es UB-Vorsitzender Möller; AdsD, SPD-UB Frankfurt 01, Protokolle. 1968, 1969 (UB Frankfurt 167), Protokoll der Delegiertenversammlung vom 25. Oktober 1968. 31 Frolinde Balser, Aus Trümmern zu einem europäischen Zentrum. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main 1945–1989, Sigmaringen 1995, S. 481. 32 AdsD, SPD-UB Frankfurt 01, Protokolle. 1968, 1969 (UB Frankfurt 167), Protokoll der UB- Vorstandssitzung vom 21. Oktober 1968. 33 Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 114. Weitere Materialien hierzu, u. a. die „Erklärung einer Gruppe Frankfurter Jungsozialisten“ gegen die „Funktionsenthebung“ des Juso- Vorstandes, in AdsD, SPD-UB Frankfurt 01, Protokolle. 1968, 1969 (UB Frankfurt 167). 34 AdsD, SPD-UB Frankfurt 01, Protokolle. 1968, 1969 (UB Frankfurt 167), Telefonisch durchgegebene Presseerklärung der SPD vom 1. Oktober [1968], 17.30 Uhr. 104 Manfred Kittel Frage ganz auf die Konferenz der Innenminister bzw. den hessischen Innenminis- ter: „Wir haben nicht die Absicht, die Polizeibeamten mit Elektrostöcken auszustat- ten“35. Dennoch warfen die Jungsozialisten dem Rathauschef vor, es einfach nicht zu schaffen, „antidemokratische Tendenzen in der Polizei abzubauen“36. Trotz hochmögender Bekundungen des Anfang 1969 auf einem stürmischen Par- teitag im Amt bestätigten Unterbezirksvorsitzenden Möller, den gegensätzlichen Gruppen in der Partei künftig mehr „Bewegungsspielraum“ als bisher einzuräu- men, und seines Dementis, von einer Bildung unüberwindbarer Lager könne nicht die Rede sein37, schwappte nach den UB-Vorstandswahlen bald „eine Welle der ,Revolution‘ […] an den Römer“: Denn der linke, von den „68ern“ unterstützte Flü- gel eroberte die Mehrheit und sicherte sich damit auch mehr Einwirkungspotential auf die Kommunalpolitik, nachdem er die Stadtverordnetenfraktion erst einmal als Brutstätte der Opposition gegen eine wirklich linke Kommunalpolitik entlarvt hatte. Das erste Exempel wurde am Polizeipräsidenten Gerhart Littmann statuiert, der seit den bewegten Ostertagen 1968 vermehrt in der Kritik stand38.Infolgedeszu- rückhaltenden Agierens der Frankfurter Polizei bei einer NPD-Wahlkundgebung im Juli 1969, als uniformierte NDP-„Saalordner“ brutal auf „antifaschistische“ Gegen- demonstranten eingeprügelt hatten, war der Unmut über das SPD-Mitglied Litt- mann vor allem auch in jungsozialistischen Kreisen weiter gewachsen. Karsten Voigt, „aufsteigendes Element in der Frankfurter Sozialdemokratie“, der im Club Voltaire auch schon einmal mit Krahl vom SDS und Vertretern der DKP gemeinsam Skepsis gegenüber der neuen SPD-FDP Koalition in Bonn artikulierte39,demons- trierte im Fall Littmann mit seinen Truppen „die einschlägigen Methoden“ der „am Neo-Marxismus geübten Ideologen“. „Man sammelt Material, heizt ein, beschuldigt den Delinquenten, vom richtigen sozialistischen Kurs abzuweichen, lädt ihn zu ei- ner angeblich großzügigen Rechtfertigungsszene vor, kanzelt ihn ab und wirft dann das Los über ihn“40. Auf einem SPD-Parteitag Ende Januar 1970 gelang es den gemäßigten Kräften im Vorstand mit knapper Not41 noch einmal, eine Abstimmung über die Forderung zu vertagen, Littmann wegen Unfähigkeit in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Es bedürfe, so wurde den Delegierten auch von Möller klargemacht, noch eingehen- derer Untersuchungen, um der Öffentlichkeit einen so gravierenden Schritt erklä- ren zu können. Darauf folgten indes lautstarke Ankündigungen der Jungsozialisten, Möller bei den wenige Wochen später – gemäß dem üblichen Jahresturnus – schon wieder anstehenden parteiinternen Wahlen „die Quittung für seine zögernde Hal- tung“ zu geben. Welche Folgen das hatte, war wenige Tage vor dem Unterbezirks- parteitag der Presse zu entnehmen: Im Frankfurter SPD-Vorstand bahne sich ein „Stimmungsumschwung“ im Sachen Littmann an; Möller werde sich einem Antrag

35 Frankfurter Rundschau, 24. 2. 1969. 36 Frankfurter Neue Presse, 24. 2. 1969. 37 Ebd. 38 Vgl. etwa den Duktus eines Spiegel-Artikels bzw. eines Interviews mit Littmann; Der Spie- gel 1968, Nr. 51, 16. 12. 1968, S. 62–65. Der promovierte Jurist Littmann war seit 1952 Po- lizeipräsident in Frankfurt. 39 Zu der Veranstaltung vom Oktober 1969 Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter, S. 466. 40 So kommentierte die Frankfurter Neue Presse am 2. Februar 1970. 41 Das Ergebnis der Abstimmung lautete 159 zu 130 Stimmen. Rote und schwarze „68er“? 105 gegen Littmann nicht länger widersetzen und habe bereits Kontakte mit möglichen Nachfolgekandidaten aufgenommen42. Dem vor allem auch vom Juso-Funktionär Wolfgang Rudzio auf der SPD-Ver- sammlung lautstark vertretenen Antrag, die sozialdemokratischen Mitglieder des Magistrats aufzufordern, Littmann in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen, stimmte dann tatsächlich eine breite Mehrheit des Frankfurter SPD-Parteitags zu43. Die derart votierenden Genossen meinten, auf diese Weise „Mehr Demokratie (zu) wagen“, wie eine Broschüre des SPD-Unterbezirkvorstandes mit scharfer Kritik an Littmann im März 1970 überschrieben war44. Nicht nur der liberale Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg warnte aber in einem Zeit-Artikel (mit dem Titel „Frankfurter Hexenprozeß“) vor einer „Ver- fassungswandlung der Kommunalverwaltung“45, die durch den Beschluss gegen die Unabhängigkeit der Stadtverordneten und Magistratsmitglieder eingeleitet zu wer- den drohe. Auch andere Medien berichteten überwiegend sehr kritisch über den Vorfall. In der Frankfurter SPD, so hieß es in einer bemerkenswerten Analyse der Frankfurter Neuen Presse, „vollzieht sich offenbar von unten her ein durchgreifen- der Wandel“. Radikale Gruppen seien dabei, „andere Mehrheitsverhältnisse zustan- de zu bringen und auf der Delegiertenebene neue Fakten zu schaffen.“ Fairness und Verständnis für den andersdenkenden Parteifreund, so fürchtete der Kommentator, würden durch eine „kalte Kadertechnik“ ersetzt, mit der eine Minderheit „an der Machtergreifung“ arbeite, um der traditionellen Frankfurter Sozialdemokratie „bis- her ungewohnte Perspektiven“ aufzuzwingen46. Jedenfalls war aus den Ortsvereinsversammlungen immer wieder zu hören, wie konsequent die Jungsozialisten dort Geschäftsordnungsdebatten entfachten, die sich bis nach Mitternacht hinzogen, um erst dann, „wenn die Nichtstudenten nach Hause gegangen sind, weil sie am nächsten Morgen arbeiten müssen“47, die Wahlen durch- führen und in ihrem Sinne gestalten zu können. „Es gibt“, so resümierte die Neue Presse, „bereits viele unter Frankfurts Sozialdemokraten, die gegenüber den jungen Radikalitäten den Kopf einziehen und schweigen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie die nächsten sein könnten, die zur Hexenverbrennung geführt werden […] Da wird heute Littmann gestürzt, morgen ist dann der Oberbürgermeister – was schon viele befürchten – an der Reihe. Übermorgen wird dann aus seinem

42 Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 118f. Allerdings hatte Möller einen Wechsel auf dem Stuhl des Polizeipräsidenten schon länger für nötig gehalten, sodass der jungsozialistische Druck in der Sache für ihn nur noch den letzten Anstoß bedeutete; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 5. 1970. 43 Das Ergebnis lautete 258 zu 105 Stimmen. SPD-Unterbezirk Frankfurt am Main, Mehr De- mokratie wagen, Bl. 41; Frankfurter Rundschau, 16. 2. 1970. 44 SPD-Unterbezirk Frankfurt am Main, Mehr Demokratie wagen. Vgl. hierzu auch die spä- teren Attacken der CDU: Institut für Stadtgeschichte (IfSG): „Die Selbstherrlichkeit der Frankfurter SPD schlug unserer Stadt tiefe Wunden!“ Dokumentation der Stadtverordne- tenfraktion der CDU Frankfurt am Main im September 1972. Stichwort: Imperatives Man- dat. 45 Ebd. 46 Frankfurter Neue Presse, 2. 2. 1970. 47 So berichtete Stadtverordneter Adalbert Sigulla auf einer Sitzung des „rechten“ Arbeitskrei- ses „Godesberger Programm“. Frankfurter Rundschau, 8. 7. 1970. 106 Manfred Kittel Wahlkreis verdrängt und eines Tages ist dann den neuen Herren der innerparteili- chen Macht selbst Walter Möller nicht mehr links genug“48. Oberbürgermeister Brundert, der sich damals schon um seine Wiederwahl Ge- danken machen musste, war Ende November 1969 in der Stadtverordnetenver- sammlung sichtlich auf Distanz zu seinem Polizeipräsidenten gegangen. Auf die Frage eines NPD-Politikers, ob er Littmanns Auffassung teile, bei der Vietnam- Demonstration am 15. November habe es sich um einen „Aufstand der Unterwelt“ gehandelt, antwortete Brundert, dies sei einheitlich nicht die Meinung des Magis- trats49. Zum Vorgehen des SPD-Parteitags vom Februar 1970 gegen Littmann äußer- te der Oberbürgermeister „auf Befragen“ durch den neuen, noch weiter nach links gerückten UB-Vorstand am 21. Februar: Die „Willensentscheidung“ des Parteitages gegen Littmann müsse die SPD-Magistratsgruppe „als Verpflichtung zur Durchfüh- rung übernehmen“50: „Nach dieser Erklärung“, so vermerkt das Protokoll, schlug „der Genosse Möller den Genossen Brundert zur Wiederwahl vor“. Obwohl Brundert, um seine Haut zu retten, also auch bereit gewesen wäre, Litt- mann noch vor seiner eigenen Wiedernominierung für das Amt des Oberbürger- meisters durch die Partei zu entlassen, kam es dazu nicht. Denn nicht nur die Me- dien hatten bundesweit mit Empörung auf die Vorgänge in der Frankfurter SPD rea- giert, auch die „Baracke“ in Bonn war alarmiert. Wenige Tage nach dem Beschluss des Unterbezirks sprach der SPD-Bundesvorsitzende mit Brundert, dann zitierte er auch Möller nach Bonn, um zu klären, „ob zwischen der Entschei- dung im ,Fall Littmann‘ und der Wiederwahl Professor Brunderts ein Junktim be- stehe.“ Was die SPD-Spitze von den Frankfurter Genossen erwartete, machte vor allem so deutlich, wie es seiner Art entsprach: Wenn eine Partei- gliederung einer Fraktion etwas „gegen ihr Gewissen“ befehlen würde, so sei dies „verfassungswidrig und würde die Bundesrepublik in eine Lage bringen, die von ei- ner Diktatur nicht weit entfernt sei“51. Angesichts des massiven Gegenwindes aus Bonn setzte der SPD-geführte Magis- trat den Fall Littmann von seiner Tagesordnung wieder ab. Der Unterbezirksvor- stand hatte bereits vorher, am 21. Februar 1970, Brundert bei sechs Enthaltungen zur erneuten Nominierung vorgeschlagen. Am 27. Februar schloss sich der Parteitag dem Votum des Vorstands mit breiter Mehrheit an52. Den Oberbürgermeister aber, der sich einst in den Kerkern der DDR ein schweres Leberleiden zugezogen hatte, warfen die Kämpfe um Littmann und um seine eigene Wiederwahl aufs Krankenla- ger. Obwohl die Stadtverordnetenversammlung am 19. März 1970 den in der Klinik

48 Frankfurter Neue Presse, 2. 2. 1970. 49 Auszug aus dem Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 27. November 1969, Frage 152. Zit. nach: SPD-Unterbezirk Frankfurt am Main, Mehr Demokratie wagen, Bl. 24. 50 AdsD, SPD-UB Frankfurt (Nr. 167), Protokolle 1968, 1969, darin gelber Umschlag „Möl- ler“ mit Vorstandsprotokollen von 1970, hier: Protokoll der Unterbezirksvorstandssitzung vom 21. Februar 1970. Der Bruch zwischen einem politischen Beamten und der Mehrheits- partei, so Brundert, sei ein „relevanter Sachgesichtspunkt“,den der Magistrat, natürlich im Einklang „mit rechtsstaatlichen Prinzipien“, berücksichtigen müsse; ebd., S. 20. 51 Ebd., S. 140f. 52 Das Ergebnis lautete: 246 zu 61 Stimmen, bei 27 Enthaltungen; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23., 27. u. 28. 2. 1970. Rote und schwarze „68er“? 107 liegenden Oberbürgermeister mit einer Dreiviertel-Mehrheit für weitere sechs Jahre im Amt bestätigte53, fragte sich jetzt mancher: „Wer entscheidet im Römer?“54 Das imperative Mandat griff in der Frankfurter SPD nach dem Tod Brunderts am 7. Mai 1970 weiter um sich55. Walter Möller, am 26. Mai von einem Parteitag ein- drucksvoll als neuer Oberbürgermeister nominiert56 und am 9. Juli von einer ganz großen Koalition aus SPD, CDU und FDP in der Stadtverordnetenversammlung ge- wählt57, sorgte nämlich gleich in einer seiner ersten Amtshandlungen im Magis- tratsrat dafür, dass der Wille des SPD-Unterbezirks exekutiert und Polizeipräsident Littmann in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde58. Die Kritiker, die in Möller quasi den Kandidaten der Jusos erblickten und sich die bange Frage stellten, ob einer, der die deutsche Gesellschaft „zu einem größe- ren Sozialismus hin verändern will, unverkrampft für eine Stadt einstehen“ kön- ne, die mit Banken, Industrie und Handel von dem reibungslosen Funktionieren des gegenwärtigen Wirtschaftssystems abhänge59, fühlten sich durch Möllers Ver- halten zunächst bestätigt. Sie wurden aber bald widerlegt, weil Möller im Amt, vor allem auch aufgrund seiner Erfahrungen mit anarchistischen Hausbesetzern, zuse- hends pragmatischer wurde. Je mehr der starke Mann der SPD aus der Erfahrung des Oberbürgermeisteramtes heraus in die (linke) Mitte rückte60, desto deutlicher schien sich bald auch der Linkskurs des Unterbezirks insgesamt abzuschwächen. Dies zeigte sich bei der Wahl von Möllers Nachfolger an der Spitze der Frankfurter SPD, die der Rathauschef aufgrund der Fülle seiner kommunalpolitischen Aufga- ben künftig nicht mehr selbst führen mochte. Denn es setzte sich Mitte September 1970 der 35-jährige Bundestagsabgeordnete Fred Zander mit knapper Mehrheit ge- gen den weiter links stehenden Juso-Intimus Herbert Faller durch. Zander wurde zwar auch „zum linken Parteiflügel“ gezählt, spätestens seit ihm seine Aktivitäten

53 Balser, Aus, S. 297; Margot Felsch, Aus der Chef-Etage des Römers. Begegnungen mit Wal- ter Kolb, Werner Bockelmann, Willi Brundert, Walter Möller, Rudi Arndt und Walter Wall- mann, Frankfurt am Main 1981, S. 80. 54 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 3. 1970. 55 Zur theoretischen Diskussion um den Anfang der 1970er Jahre nicht nur in Frankfurt um- kämpften Begriff vgl. zum Beispiel: Bernd Guggenberger, Utopische Freiheit. Rätedemo- kratie und imperatives Mandat, Köln 1974; Udo Bermbach, Repräsentation, imperatives Mandat und Recall. Zur Frage der Demokratisierung im Parteienstaat, in: Klaus von Bey- me/Carl Joachim Friedrich (Hrsg.), Theorie und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Carl Joachim Friedrich, Haag 1971, S. 497–525; oder Karl-Heinz Harbeck, Das „Imperative Mandat“ – eine falsche Antwort auf eine richtige Frage, Kiel 1974. 56 276 Delegierte votierten für Möller, gegen ihn 43. Ähnlich war die Zustimmung vorher im Beirat des SPD-Unterbezirks ausgefallen. AdsD, SPD-UB Frankfurt (Nr. 153), Fraktions- vorstand [etc.], hier: Protokoll der Sitzung des Beirates vom 20. Mai 1970. 57 64 Stadtverordnete stimmten für, 13 gegen Möller. 58 Einige Tage vorher hatte Möller bereits im SPD-Vorstand angekündigt, diesen Schritt im Magistrat beschließen lassen zu wollen; AdsD, SPD-UB Frankfurt (Nr. 167), Protokolle 1968, 1969, darin gelber Umschlag „Möller“ mit Vorstandsprotokollen von 1970, hier: Pro- tokoll der Unterbezirksvorstandssitzung vom 6. Juli 1970, Top 2.3. Vgl. auch Balser, Aus, S. 302. Littmann trat daraufhin aus der SPD aus und empfahl, bei den Landtagswahlen CDU zu wählen. 59 Frankfurter Neue Presse, 15. 5. 1970. 60 Vgl. auch die Einschätzung bei Börnsen, Opposition, S. 73, bezüglich des „Anpassungs- prozesses, der sehr schnell zwischen der regierenden Alt-Linken und den Bonner SPD- Ministerien“ stattfand. 108 Manfred Kittel gegen die Genossen Leber und Schmitt-Vockenhausen im Streit um die Notstands- gesetze 1968 ein Parteiordnungsverfahren eingebracht hatten. Doch andererseits war der gelernte KfZ-Mechaniker mit Volksschulabschluss schon aufgrund seines beruf- lichen Werdegangs „frei von intellektueller Realitätsferne“61. Kein Zweifel also, die Wucht der öffentlichen Kritik am imperativen Mandat, gerade auch dann, wenn sie aus dem linken Lager selbst kam, hatte bei allen ideolo- gisch nicht völlig fixierten Genossen am Main Spuren hinterlassen. Der Politikwis- senschaftler Udo Bermbach wies treffend darauf hin, dass die Vorstände der demo- kratischen Parteien selbstverständlich auf allen Ebenen über Chefärzte, Amtsleiter oder Sparkassendirektoren berieten und beschlössen; doch es müssten die Vorstan- de sein und es dürfe nicht öffentlich geschehen. Gegen dieses Prinzip habe die linke Mehrheit des Frankfurter SPD-Unterbezirks verstoßen, dessen Littmann-Beschluss vor allem wegen der antiautoritären Komponente seines Zustandekommens proble- matisch sei62. Den zentralen Kritikpunkt formulierte wohl der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, damals selbst (noch) Mitglied der SPD, auf einer Podiumsdiskus- sion in Frankfurt. In der dortigen SPD, so sagte er, gebe es schon länger einen bei der Notstandsdebatte besonders deutlich gewordenen „illiberalen Grundzug“. Geß- lerhüte aufzustellen und „die Wiederwahl von Mandatsträgern von der Erfüllung bestimmter Parteiforderungen abhängig zu machen“, sei zwar nicht illegal, aber „il- legitim“63. Da sich diese Überzeugung sowohl in der öffentlichen Meinung wie in der SPD letztlich durchsetzte, zogen einige der am imperativen Mandat orientierten Frank- furter Jungsozialisten ein resignatives Fazit: Sylvia und Wolfgang Streeck, Jahrgang 1947 bzw. 1946, beide Soziologen64, handelten den Fall Littmann in einem zwei Jahre nach den Ereignissen bei Suhrkamp erscheinenden Büchlein unter dem Titel „Über die Folgenlosigkeit politischer Beteiligung“ ab65. In der Untersuchung zur „Funkti- onsweise der formaldemokratischen Institutionen politischer Willensbildung im or- ganisierten Kapitalismus“66 kamen sie zu dem Schluss, der Fall Littmann sei gar kein Einbruch „in die Stabilität des Status quo“; die gesamtgesellschaftlichen Abwehr- mechanismen seien stärker gewesen, der „Herrschaftsanspruch der Repräsentanten über die Repräsentierten“ stehe immer noch auf sicherem Boden67.

61 Frankfurter Neue Presse, 11. 9. 1970. Zur Vita Zanders vgl. auch die Unterlagen in IfSG: S 2/6637. 62 Udo Bermbach, Probleme des Parteienstaates – Der Fall Littmann, in: Zeitschrift für Par- lamentsfragen 1970, H. 3, S. 342–363, hier S. 353ff., sowie Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 129f. 63 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. 3. 1970. Zum Verhältnis zwischen Hennis und der „68er“-Bewegung vgl. auch das fünfte Kapitel der Arbeit von Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008, S. 146ff. 64 Wolfgang Streeck war auch Mitglied im Vorstand der südhessischen Jungsozialisten. 65 Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 108–144. Für die aufschlussreiche Untersuchung hatten die Autoren auch Interviews mit Walter Möller, Wolfgang Rudzio, Dorothee Vorbeck und Fred Zander geführt. 66 So hieß es im Vorspann auf (der nicht paginierten) S. 2. 67 Ebd., S. 19 u. 108. Rote und schwarze „68er“? 109 Dieser Einschätzung lag zwar eine allzu kritische Sicht auf den eigenen „Teil- erfolg“ zugrunde68, ganz falsch war sie aber nicht. Die selbsterklärten Systemverän- derer von links waren auf dem Marsch durch die Frankfurter Institutionen in einem äußerst schwierigen Gelände angekommen und traten erst einmal auf der Stelle. Die politische Kultur innerhalb der Sozialdemokratie hatten sie aber bereits gehörig ver- ändert, wie ein sozialliberaler Beobachter Ende Februar 1970 festhielt. Im Umgang mit Andersdenkenden seien die Jusos nicht gerade liberal. „Ihr Dogmatismus, ih- re Intoleranz, ihre teilweise intellektuelle Arroganz, aber auch ihre Humorlosigkeit (Mangel an Abstand zu sich selbst)“ würden viele Genossen „verprellen“69.

III.

Bei der SPD schien mit Beginn der Amtszeit Möllers im Sommer 1970 das Schlimms- te an innerparteilichen Auseinandersetzungen überstanden. In der Frankfurter CDU dagegen ging es vor dem Kreisparteitag Anfang 1971 „mit den Methoden des SDS“70 erst richtig los. Bei den Herren (und den einstweilen wenigen Damen) der Unions- partei herrschte in der Spätfolge von 1968 zeitweilig fast noch bunteres Treiben als bei den Genossen. Der „Politisierungsprozess“, den Möller für die SPD schon im Februar 1969 als Reaktion auf Unruhen in der Jugend außerhalb und dann auch in- nerhalb der Partei konstatiert hatte71, erfasste das konservativere Spektrum nur we- nig zeitverzögert. Rumort hatte es in der jüngeren Generation der CDU indes schon länger, wobei das „innerparteiliche Demokratiedefizit“ mitsamt der ihm zugeschrie- benen Folgen auch in Frankfurt die Diskussion stark beeinflusste72.„ImRömerfehlt der Schwung“73, kritisierte die Junge Union im April 1967 das Mitspielen der CDU als Juniorpartner der herrschenden SPD in der Frankfurter Allparteienregierung. Die kommunale Dauerliaison wurde zum einen dadurch befördert, dass die CDU am Main nach dem Krieg von katholischen und evangelischen Honoratioren, von ehemaligen Mitgliedern der katholischen Jugendbewegung und der Arbeiter- und Gesellenvereine gegründet worden war. Viele in der von den Sozialausschüssen ge- prägten Lokalpartei hingen noch lange dem Ahlener Programm von 1947 mit sei-

68 So bedauerten es die Autoren, dass Littmann kurz nach der Wahl Möllers zum Oberbür- germeister von sich aus erklärt hatte, zu Möller kein politisches Vertrauen zu haben; denn damit habe der Polizeipräsident dem Oberbürgermeister „eine Begründung geliefert, mit der er ohne großes Aufsehen […] am 13. Juli vom Magistrat in den einstweiligen Ruhe- stand versetzt werden konnte“. Dem sachlichen Konflikt um die „Demokratisierung oli- garchischer Führungsstrukturen“ sei so die Spitze gebrochen worden; ebd., S. 144. Aller- dings übersieht diese Argumentation, dass Littmann mit seiner Erklärung nur der von ihm ohnehin sicher erwarteten Entlassung zuvorkommen wollte. 69 So die Einschätzung des FDP-Politikers Karl Hermann Flach, zit. nach ebd., S. 130. 70 So lautete die Überschrift eines Artikels über die Querelen in der CDU in der Frankfurter Neuen Presse, 19. 2. 1971. 71 Frankfurter Neue Presse, 24. 2. 1969. 72 Wie sehr dies bundesweit galt, hat etwa auch der damalige niedersächsische JU- Landesvorsitzende hervorgehoben; Krabbe, Parteijugend, S. 171. 73 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 4. 1967. 110 Manfred Kittel nem Bekenntnis zum christlichen Sozialismus an74. Hinzu kam die Praxis der hes- sischen Magistratsverfassung mit ihrem Kollegialprinzip in der Stadtregierung, in deren Folge von den sachlichen Auseinandersetzungen zwischen CDU und SPD oft wenig an die Öffentlichkeit drang. Wegen der Vertraulichkeit der Magistratssit- zungen erfuhr die Presse prinzipiell auch nicht, wer wie gestimmt hatte75.Soman- chem Jungunionisten fehlte deshalb einfach das „prickelnde Gefühl parteipolitischer Auseinandersetzungen“76 – ein Empfinden, das durch die ansonsten besonders be- wegten Zeitläufte ebenso verstärkt werden mochte wie durch die Offensiven der seit Alfred Dreggers Wahl zum Vorsitzenden 1968 ausgesprochen kämpferischen Hessen-CDU77. Dass es der unruhigen jüngeren CDU-Generation indes um mehr Demokratie und um weniger linke Ideologie, kaum aber um den Versuch ging, die CDU ein- fach nach rechts zu rücken, zeigten nicht nur die differenzierten Perspektiven der Parteijugend auf die Studentenbewegung, deren weiterem Kreis einige selbst ange- hörten78. In diese Richtung deuteten auch Mahnworte des CDU-Kreisvorstandes, die JU solle in ihrem Bemühen, den in Frankfurt besonders starken „linksradikalen Schülerorganisationen“ entgegenzutreten, „nicht nachmachen, was SDS und andere vorher gemacht“ hätten79; und ebenso bemerkenswert waren Argumentationsmus- ter „schwarzer ,68er“‘, die nach der verlorenen Bundestagswahl im Herbst 1969 zu hören waren: Die Personalisierung des Kiesinger-Wahlkampfs der CDU mit der Pa- role „Auf den Kanzler kommt es an“ müsse als „faschistoid“ charakterisiert werden; die SPD sei heutzutage um so gefährlicher, als die „Zeiten der Ballonmütze und der roten Nelke im Knopfloch“ vorbei seien und sich führende SPD-Leute „in Maßanzü- gen aus London und Hemden aus Paris“ präsentierten. Das mache Eindruck, wäh- rend der CDU immer noch das „Image einer Partei der Bauern und der Frommen“ anhafte80. Für die wachsenden Kräfte der Modernisierung in der Frankfurter CDU, die sich meist „eher nicht auf Dregger-Kurs“ bewegten, sondern „etwas links davon“81,war der Rubikon endgültig überschritten, als die CDU-Stadtverordneten bei der Wahl ei- nes Brundert-Nachfolgers im Sommer 1970 mehrheitlich sogar die „Kröte“ Möller 74 Zu den Anfängen der Frankfurter CDU vgl. vorzüglich Joachim Rotberg, Zwischen Links- katholizismus und bürgerlicher Sammlung. Die Anfänge der CDU in Frankfurt am Main 1945–1946, Frankfurt am Main 1999. Zur Einordnung in den Rahmen der hessischen CDU-Entwicklung: Heinrich Rüschenschmidt, Gründung und Anfänge der CDU in Hes- sen, Darmstadt 1981. 75 Vgl. IfSG, Chroniken S 5/294, Unveröffentlichtes Manuskript des CDU-Stadtverordneten Gerhard Ambrosius, 12 Jahre Rathaus, Frankfurt am Main 1972, S. 33f. 76 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 4. 1967. 77 Werner Wolf, Neubeginn und Kampf um die Mehrheit. Die CDU Hessen unter 1967–1982, in: ders. (Hrsg.), CDU Hessen 1945–1985. Politische Mitgestaltung und Kampf um die Mehrheit, Köln 1985, S. 59–97, hier v. a. S. 65ff. 78 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 2. 1971. 79 ACDP, KV Frankfurt II-045-109, Niederschrift der Sitzung des Kreisvorstandes vom 22. März 1969. Allerdings waren damals auch führende CDU-Kommunalpolitiker wie Bür- germeister Fay der Überzeugung: „Die alten Zeiten des Rohrstockes sind vorbei. Es ist die Zeit des Gesprächs, der Partnerschaften gekommen“; ACDP: KV Frankfurt II 045-184, Mainkurier (CDU-Wahlkampfblatt), September 1968. 80 Frankfurter Rundschau, 13. 10. 1969. 81 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 2. 1971. Rote und schwarze „68er“? 111 schluckten und den „harten Linken“ mit zum Oberbürgermeister wählten. Der Frak- tionsvorsitzende der CDU im Römer, Hans-Jürgen Moog, hielt den Kritikern indes entgegen, „tiefe Unkenntnis über kommunalpolitische Zusammenhänge“ zu verra- ten. Nicht zu einem Kuhhandel habe die CDU sich in Frankfurt verstanden, sondern einen konstruktiven Beitrag habe sie geleistet, um das Leben in der Stadt und die Dienstleistungen der Stadt auch künftig an christlich-demokratischen Grundsätzen zu orientieren. Kommunalpolitische Arbeit sei „nicht Regierungstätigkeit, sondern […] Ausübung von Verwaltungsmacht“ mit unmittelbarer Auswirkung auf die Bür- gerschaft. Deshalb müssten auch CDU-Wähler daran interessiert sein, dass ihre Par- tei hauptamtlich im Magistrat mitwirke; ein Ende der Zusammenarbeit würde nur die SPD stärken82. Da nach der hessischen Kommunalverfassung der Oberbürger- meister im Unterschied zu einem Regierungschef „keine Befugnis der Richtlinien im sachlichen Bereich der einzelnen Dezernate besitze“, würden „seit vielen Jahren erfolgreich wichtige Dezernate, wie z. B. das gesamte Sozial- und Gesundheitswesen, der Wirtschaftsbereich und zahlreiche kommunale Einrichtungen, von Magistrats- mitgliedern der CDU gestaltet“83. Die Jüngeren in der CDU, von diesen Argumenten nicht zu überzeugen, versuch- ten künftig, ihren eigenen Positionen endlich auch machtpolitisch mehr Nachdruck zu verleihen. Bisher war der “Aufstand der Jungen“ ergebnislos geblieben, weil sie auf Kreisparteitagen „nur mit einem schwachen Häuflein“84 an Delegierten vertreten waren und auch in den Bezirksgruppen kaum einflussreiche Positionen bekleideten. Jetzt begannen sie – das Vorbild der beim Marsch durch die Institutionen der SPD so erfolgreichen Jusos unmittelbar vor Augen –, gleichgesinnte Mitglieder zu wer- ben und Fäden innerhalb der CDU zu ziehen: „Wir wollen nicht mehr länger nur Briefe an die Vorstände schreiben, sondern […] uns endlich Einfluss verschaffen“85. Zu Drahtziehern einer „Gruppe 70“, die sich seit dem Frühjahr 1970 unter kon- spirativen Umständen zu sammeln begann, avancierten Hans-Detlev von Garnier, Klaus Döll und Alexander Riesenkampff86 . Riesenkampff und Döll waren Mitte 30, Syndikus der Mineralölfirma Chevron Erdöl der eine, Assessor bei einer Tochter- gesellschaft der Deutschen Bank der andere; der Student von Garnier hatte bereits hochschulpolitische Erfahrungen gesammelt. Hauptantriebskraft der von diesem Triumvirat per Schneeballsystem im Freun- deskreis gesammelten Truppen, die bis auf wenige Ausnahmen der Alterskohorte zwischen 18 und 35 Jahren angehörten (ein Drittel waren Studenten, ansonsten lag der Schwerpunkt auf den Endzwanzigern)87, bildete das Unbehagen an der Kom- munalpolitik der Frankfurter CDU. Diese würde im Magistrat zwar viele Posten be- kleiden, es aber versäumen, eine „echte politische Alternative gegenüber der SPD“

82 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, CDU-Pressedienst, hg. von der CDU-Fraktion, 8. Juni 1970. 83 Ebd., CDU-Pressedienst, hg. von der CDU-Fraktion, 11. Juni 1970. 84 Frankfurter Rundschau, 29. 4. 1969. 85 Frankfurter Neue Presse, 19. 2. 1971. 86 An den späteren Ausgleichsbemühungen mit den etablierten Kräften war neben den drei genannten zudem der 1940 geborene promovierte Rechtsanwalt Hans-Jürgen Hellwig be- teiligt; Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, „Vereinbarung“ (maschinenschriftliches Protokoll einer „Zusammenkunft in der Landesgeschäftsstelle“ am 22. Februar 1971). 87 Frankfurter Rundschau, 20. 2. 1971; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 2. 1971. 112 Manfred Kittel in der Stadt zu bieten, was den „schwarzen 68ern“ gerade „angesichts der extremen Linkstendenzen in der Frankfurter SPD“ unabdingbar schien88. Innerhalb eines Dreivierteljahres gelang es der „Gruppe 70“, ca. 250 neue Mit- glieder zu werben89. Dabei konnten sie sich den Umstand zunutze machen, dass die CDU-Satzung die Mitgliedschaft auch in einem anderen Basisverband als dem des eigenen Wohnsitzes ermöglichte. So traten auch viele Freunde der CDU-Reformer „im Taunus und in den Mainniederungen“ Frankfurter CDU-Bezirksgruppen bei90. Mit diesen 250 Anhängern ließ sich in einem Kreisverband wie der Frankfurter CDU mit seinen vordem nicht einmal 1700 Mitgliedern (davon geschätzte „80 Pro- zent Karteileichen“91) schon einiges bewegen92. Im Universitäts- und Wohnviertel Bockenheim, in Sachsenhausen, im Westend, in Niederrad und im Bahnhofsvier- tel übernahm die junge Riege im Januar und Februar 1971 tatsächlich fünf wich- tige Bezirke, die insgesamt 35% der Delegiertenstimmen für den Kreisparteitag in Gesamt-Frankfurt stellten. Einer der dabei abgewählten „Parteifreunde“, ausgerechnet ein Mitglied der Jun- gen Union, lieferte den politischen Gegnern der CDU das entscheidende Schlagwort zur negativen Bewertung des Vorgangs: Die Aufständischen wollten aus der Frank- furter CDU „eine Klassenpartei des Adels und der Banken“ machen93.Fürdiese„fast tödliche Klassifizierung“94 schien zu sprechen, dass in der „Gruppe 70“ neben eher wenigen Taxifahrern und Fleischermeistern die Adeligen und Bankangestellten stark vertreten waren und 22,4 bzw. 17,6% der Gruppenmitglieder stellten. Wenn man be- rücksichtigte, dass einige Adelige und Banker in einer Person waren, ergab sich ein Anteil von fast einem Drittel. Obwohl unter den nicht selten aus dem alten deut- schen Osten vertriebenen Adeligen „viele mausearm“ und unter den Bankern nur ein leitender Angestellter und fünf Prokuristen waren, erwies sich der Begriff „Adel und Banken“ im linkeren Teil der Medien als ausgesprochen imaginationsfördernd. Doch zur Dämonisierung der „Gruppe 70“ trugen nicht nur die „linke Journaille“ und ein enttäuschter JU-Mann bei, sondern auch das Frankfurter CDU-Establish- ment. Kein geringerer als der schwer in Bedrängnis geratende CDU-Kreisvorsitzen- de und Sozialdezernent Ernst Gerhardt sagte in einem Interview mit der SPD-nahen Neuen Ruhrzeitung: „Da sitzt in einer großen Frankfurter Industriefirma ein Kapi- talistenknecht, der den ganzen Tag nichts anderes macht, als neue Mitglieder in die

88 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, „Erklärung der Gruppe 70“. 89 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 2. 1971. 90 Stuttgarter Zeitung, 26. 1. 1972, zit. nach Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, Presseausschnitt-Sammlung. 91 So behauptete zumindest einer der Parteirebellen gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 25. Februar 1971. Die sozialdemokratische Konkurrenz, die damals in Frankfurt schon ca. 10 000 Mitglieder zählte, schloss aus den Zahlen der „Karteileichen“, dass sich die aktive Mitgliedschaft der CDU auf 300 bis 400 Personen beschränke, „also die Funktionäre mit ihren Familien“; Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 150. 92 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 2. 1971. Nach einer auf das Jahr 1968 bezogenen Sta- tistik waren 83,5 Prozent der CDU-Mitglieder Männer, 83,9% älter als 48 Jahre und 71,9% katholisch; Günter Rinsche, Die CDU in den Großstädten, in: Dietrich Rollmann (Hrsg.), Die Zukunft der CDU. Christlich-demokratische Konzeption für die Zukunft, Hamburg 1968, S. 192–210, hier S. 205. 93 Frankfurter Neue Presse, 17. 2. 1971. 94 Frankfurter Neue Presse, 6. 3. 1971. Rote und schwarze „68er“? 113 CDU einzuschleusen. Das sind Leute, die von ihrem Auftraggeber her eindeutig auf Rechtskurs in wirtschafts- und gesellschaftspolitischem Gebiet festgelegt sind“95. Auch der CDU-Landesverband Hessen hatte allen Grund, über die Frankfur- ter Vorgänge alarmiert zu sein, wurden diese doch von der SPD und von ihr na- hestehenden Journalisten als Teil eines nicht auf die Mainmetropole beschränk- ten „Rechtsschwenks“ der hessischen CDU kommentiert. Deren Vorsitzender Dreg- ger hatte auf dem zurückliegenden Programmparteitag der Bundes-CDU im Januar 1971 mit einer kämpferischen Rede die Forderung nach einer Reform der paritäti- schen Mitbestimmung durchgesetzt96. Er galt spätestens seit dem auch in den hes- sischen CDU-Sozialausschüssen manchen als Lakai der Wirtschaft und des Mittel- stands, ja schlimmer noch als jemand, der jenen Kräften in der CDU, die „schon lange gegen alles ,Linksverdächtige‘ in der eigenen Partei auf der Lauer liegen“, höchstpersönlich grünes Licht gegeben habe: „Und weil Frankfurts CDU-Teppich besonders stark von den Mustern der Sozialausschüsse durchwebt ist, haben die Rechten ihren Reißwolf zuerst hier angesetzt. Man braucht nur die Namen und Neigungen der über Nacht abgewählten CDU-Bezirksgruppenvorsitzenden zu über- fliegen, um festzustellen, wie konsequent diese Dolchstoßmethode durchgehalten wird“97. Mit der Realität hatte diese Verschwörungstheorie wenig zu tun. Denn schon die Unterschiedlichkeit der Opfer der „Gruppe 70“ sprach eine klare Sprache: Nicht nur zwei stellvertretende Landesvorsitzende der CDU-Sozialausschüsse und eine „Viel- zahl von Betriebs- und Personalräten“ sowie zahlreiche einfache Sozialausschuss- Mitglieder wurden in den fünf umkämpften Bezirksgruppen aus dem Vorstand her- ausgewählt98, sondern etwa auch der stellvertretende JU-Bundesvorsitzende Heinz Riesenhuber99 , die eben erst gegen den ultralinken Juso-Häuptling Voigt direkt in den Landtag gewählte Abgeordnete Ruth Beckmann oder der stellvertretende Lan- desvorsitzende der CDU-Mittelstandsvereinigung, Ernst Bernauer100.Wieaberwar das zu erklären, wo doch angeblich der Wirtschaftsflügel der CDU mittels der „Gruppe 70“ das Ziel verfolgte, „auch die Frankfurter Union, bisher zu den Sozi-

95 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, Helmut Achterath an Ernst Gerhardt, 5. 3. 1971. Darin bittet Achterath den Angeschriebenen „höflich um Mitteilung“,ob dieses Zitat stim- me. Vgl. auch Der Sozialdemokrat, März 1971, S. 1, der Gerhardts Bemerkungen gerne zitierte, sowie den Bayernkurier vom 27. 2. 1971, der Gerhardts Äußerung „recht seltsam“ fand: „Man merkt, an diesem CDU-Mann ist durch die lange Zusammenarbeit mit der Links-SPD das Vokabular der Jusos nicht spurlos vorübergegangen.“ 96 Vgl. Frank von Auer, Alfred Dregger. Ein kritisches politisches Porträt, Berlin 1974, S. 116–121. 97 So die Frankfurter Rundschau, zit. nach einer Presseauswahl des SPD-Blatts Der Sozial- demokrat, März 1971, S. 2. 98 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, , MdB, an Walter Wallmann, 1. 3. 1971. 99 Dieser bemerkte zu seiner Abwahl, er müsse damit eine Rechnung begleichen, „die er gar nicht verursacht habe“; ACDP, Nachlass Dregger I-347-184/1 CDU Frankfurt/„Gruppe 70“, Interner Vermerk für den CDU-Landesvorsitzenden Dregger „Vertraulich. Mutma- ßungen über Frankfurt“, 17. 2. 1971 (gez. Georg). 100 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, Kreissozialausschuss Frankfurt. Christl.- Demokr.-Arbeitnehmerschaft. Vorstand (H. Link) an „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Parteifreunde“, o. D., S. 3. 114 Manfred Kittel alausschüssen tendierend, auf den Kurs des Landesvorsitzenden Dregger zu brin- gen“101? Nichtsdestotrotz hatte die Art und Weise des Vorgehens der „Gruppe 70“ kei- neswegs bloß auf der politischen Linken Anstoß erregt. Wenn ausgerechnet die SED-hörige DKP forderte, die „Verfassungsmäßigkeit der CDU“ zu überprüfen, weil Frankfurter CDU-Mitglieder mit ihrem „Putsch“ gegen das Parteiengesetz versto- ßen hätten, so war das eher amüsant102. Doch auch in der bürgerlichen Presse fand die „kalte Kader-Taktik der Eroberung von Macht-Positionen“ Kritik103,jader „Gruppe 70“ wurde vorgeworfen, bei aller ideologischen Distanzierung von den Ju- sos „auf der anderen – rechten? – Seite im gleichen Fahrwasser“ zu schwimmen und mit allenfalls formal unanfechtbaren Methoden zahlreiche verdiente (Kommunal- )Politiker der eigenen Partei aus dem Sessel gehoben und beschädigt zu haben104. Außerdem hatte die „Gruppe 70“ es im Zuge ihrer Geheimpolitik verabsäumt bzw. versäumen müssen, „in offener Feldschlacht zu sagen, was ihr missfalle“; und sie war darob zeitweilig in den Verdacht geraten, „ohne ein politisches Programm“ nur im Ziel der radikalen personellen Veränderung vereint zu sein105. Als sich der Pulverdampf über den Schlachtfeldern allmählich lichtete und das ganze Ausmaß der partiellen „Machtergreifung“106 durch die „Gruppe 70“ sichtbar wurde, schickte der alarmierte CDU-Landesverband seinen stellvertretenden Vor- sitzenden Walter Wallmann als Vermittler an den Main. Denn der hessische CDU- Vorstand attackierte die „Gruppe 70“ zwar heftig wegen ihrer Methoden, wollte sie aber, anders als manch alter CDA-Mann, keineswegs wieder aus der Partei hinaus- werfen. In einem Brief an alle Kreis- und Ortsvorsitzenden der hessischen CDU be- zeichnete Wallmann Anfang März 1971 das Agieren der „neuen Gruppe“ als „zu missbilligen“. Die Anhänger der „Gruppe 70“ hätten auch „besonders erfolgreiche Parteifreunde abgewählt, die sie gar nicht kannten“. „Genauso entschieden“ wandte sich Wallmann aber gegen jene Kritiker der „Gruppe 70“, die den falschen Eindruck noch verstärkt hätten, es gehe um einen „Kurswechsel“ der Hessen-CDU zu Lasten der Sozialausschüsse107. Dregger hatte in diesem Sinne bereits den besorgten Generalsekretär der Bundes- CDU Heck informiert: In der Frankfurter CDU gebe es einen „massiven Hausstreit“, aber von einer „ideologischen Auseinandersetzung“ könne keine Rede sein; schließ- lich hätte die „Gruppe 70“ gar ausgelotet, an Stelle von Gerhardt einen CDA-Poli- tiker zum Kreisvorsitzenden zu wählen. Auch wenn Dregger die soziale Schichtung

101 Die Zeit, 26. 2. 1971. 102 Unsere Zeit, 27. 2. 1971. 103 So in einer rückblickenden Betrachtung die Frankfurter Neue Presse, 27. 9. 1971. 104 „FAZ: Recht suspekte Methoden“. Pressespiegel, in: Der Sozialdemokrat, März 1971, S. 2. 105 Frankfurter Neue Presse, 19. 2. 1971. Zu ihren kommunalpolitischen Inhalten vgl. Privat- archiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, „Erklärung der Gruppe 70“, S. 5. Darin wurde be- sonders das Entstehen der Bürgerinitiative im Westend thematisiert: „Wo die Bürger zur Selbsthilfe greifen, haben die politischen Parteien versagt.“ 106 So titelte die Frankfurter Neue Presse am 6. März 1971: „Anatomie einer Machtergrei- fung“. 107 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, Walter Wallmann an alle Kreis- und Ortsvor- sitzenden der CDU in Hessen, 3. 3. 1971. Rote und schwarze „68er“? 115 der innerparteilichen Protestbewegung für „ganz zweifellos einseitig“ hielt108,lud der CDU-Landesvorstand Vertreter der „Gruppe 70“ zu einem Treffen nach Gie- ßen, hörte sie an und erklärte anschließend, in der Frankfurter CDU gebe es „keine Meinungsverschiedenheiten über den Grundkurs der Partei“. Die unterschiedlichen Ansichten beträfen nur „die Methode, nach der kommunalpolitisch die Auseinan- dersetzung mit der Frankfurter SPD zu führen“ sei. Den Verantwortungsträgern im Frankfurter CDU-Vorstand schrieb der Landesverband ins Stammbuch, „alles in seinen Kräften stehende“ zu unternehmen, um „die Zusammenarbeit zwischen alten und neuen Mitgliedern“ zu befördern109. Wenige Tage später kam es am 18. März 1971 zu einem für die CDU am Main his- torischen Kompromiss zwischen beiden Lagern, der „eine der Grundlagen für den späteren Aufstieg der Frankfurter CDU“ (mit der Eroberung des Rathauses durch Wallmann 1977) bildete110. In einer nächtlichen Marathonsitzung einigte man sich im Wesentlichen darauf, den Besitzstand beider Lager in den alten und neuen Be- zirksgruppen zu respektieren und der „Gruppe 70“ vier Positionen im künftig zwölf- sitzigen Vorstand einzuräumen111. Der Erfolg der parteiinternen Einigung hatte viele Väter. Ohne den bewähr- ten CDU-Fahrensmann Gerhardt, dessen bemerkenswerte Kompromissfähigkeit112 wie dessen Einsicht, dass sich gerade die organisationsschwache Frankfurter CDU „kaum leichten Herzens von mehr als 200 engagierten Mitgliedern trennen“113 durf- te, wäre er kaum zustande gekommen, aber erst recht nicht ohne die erstaunliche Kompromissbereitschaft der politisch unerfahrenen neuen Kräfte, bei denen es sich nicht um bloß streitsüchtige Spinner handelte, sondern um Pragmatiker, die später keine große Parteikarriere machten, aber mit beiden Beinen im Leben standen und anderweitig beruflich reüssierten. Offensichtlich dämmerte ihnen, dass sie mit ihren Methoden doch ein Stück zu weit gegangen waren, etwa wenn sie als Modernisierer der CDU ausgerechnet die Landtagsabgeordnete Ruth Beckmann abgestraft hatten, mit der bei den Landtagswahlen im November 1970 „erstmals eine Frau […] eine weithin beachtete politische Position“ in der Frankfurter CDU einnahm – noch dazu eine Frau, die als „Mutter mit Minirock nicht mehr dem klassischen ,Fräulein-Typ‘ in der Politik entsprach“114.

108 ACDP, Nachlass Dregger I-347-184/1. CDU Frankfurt/“Gruppe 70“, Dregger an , 5. 3. 1971. 109 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, „Erklärung“ überschriebenes, eine halbe Seite umfassendes Papier in fünf Punkten. 110 Thomas Ruf (Hrsg.), Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Bd. 12: Karl Becker: Auf- zeichnungen und Erinnerungen, Boppard am Rhein 1993, S. 70. 111 Privatarchiv Gerhardt, Fasz. „Gruppe 70“, Ergebnisprotokoll des Gesprächs zwischen den beiden Frankfurter Gruppen am 18. 3. 1971 in Frankfurt (Main), Frankfurter Hof, 2. Teil, S. 2. 112 Man bedenke stets, dass in der noch nicht lange zurückliegenden Zeit des CDU- Vorsitzenden Adenauer sich die Vorstände meist über informelle Absprachen in Form einer Art Selbstrekrutierung erneuert hatten; Bösch, Adenauer, S. 412. 113 Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 161. 114 Joachim Rotberg/Matthias Zimmer, Aus Liebe zu Frankfurt. Erinnerungen und Streiflich- ter aus 60 Jahren CDU, Frankfurt am Main 2005, S. 52. Zudem war Beckmann nicht „nur Hausfrau“, sondern hatte eine Berufsausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin absolviert. Vgl. ebd., S. 109. 116 Manfred Kittel Neben den führenden Köpfen beider Lager in der Frankfurter CDU war es aber nicht zuletzt dem umsichtig moderierenden Wallmann „als ehrlichem Makler“115 zu verdanken, wenn sich die Gemüter vor dem anstehenden Kreisparteitag Ende März 1971 so weit beruhigten, dass „der Kurs der CDU“ in der Außenwahrnehmung „in erster Linie Einheit“ hieß116. Der gesamte Vorstand wurde so gewählt, wie es ein Wahlvorbereitungsausschuss vorgeschlagen hatte – von beiden Lagern der Frank- furter CDU mit einer „imponierenden Disziplin“, die selbst kritischen Journalisten Respekt abnötigte. Gerhardt, über den ein Anführer der „Gruppe 70“ noch Mitte Fe- bruar den bitteren Satz gesagt hatte: „Wir können den Kommunalwahlkampf nicht gewinnen, wenn der Feldherr, der uns anführt, Hauptmann im feindlichen Lager ist“117, wurde mit 177 von 222 abgegebenen Stimmen als Kreisvorsitzender bestätigt.

IV.

Bei den Frankfurter Jungsozialisten wertete man den Kompromiss zwischen jun- ger Gruppe und alter Riege in der CDU als „Kapitulation“118 der „Gruppe 70“. Die „kurzfristige Zerschlagung der demokratischen Beteiligungschancen, die kaltblüti- ge Androhung einer Parteispaltung von oben und das perfekt funktionierende in- nerparteiliche Verhandlungssystem“ hätten den „beginnenden Prozess konservativer Mobilisierung schon in seinen ersten Ansätzen“ aufgefangen und die „freigeworde- nen politischen Energien in eine Organisationsstruktur“ kanalisiert, die „nicht nach der Logik von Diskussion, Überzeugung und programmatischer Mehrheitsbildung, sondern nach der Logik der Konservierung eines Status quo“ funktioniere, „dessen einziges Programm seine eigene Bestandserhaltung“ sei.119 Das Soziologendeutsch abgezogen sollte dies im Klartext heißen: Die „Gruppe 70“ hatte es einfacher als die Jusos, weil sie den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern mehr oder weniger kon- servieren wollte. Tatsächlich hatten es die „schwarzen 68er“ leichter als die „roten“, weil sie mit dem Establishment der CDU im Kern nur um den richtigen Weg, nicht aber um das richtige Ziel stritten – anders als die Jusos auf ihrem Marsch durch die Institutionen der Frankfurter SPD. Der Gegenmarsch der „Gruppe 70“ war dabei nicht bloß eine Reaktion auf die überschießenden linken Energien der „68er“-Bewegung und die mangelhaften Ant- worten, die das alte CDU-Establishment darauf fand, vielmehr nahm dieser Ge- genmarsch seinen Ausgangspunkt paradoxerweise ebenfalls von dem gebieterischen Demokratisierungspostulat der 1960er Jahre. Es war bezeichnend, dass sich auf dem Düsseldorfer Programmparteitag der CDU 1971 gegen einen von Generalsekretär Heck und dem Parteivorstand verfolgten Antragsentwurf ein weniger restriktiver Standpunkt zur „Demokratisierung“ durchzusetzen begann, der maßgeblich auch

115 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 2. 1971. 116 So titelte nach dem Kreisparteitag auch die Frankfurter Rundschau, 29. 3. 1971. 117 Frankfurter Neue Presse, 19. 2. 1971. Zu dem Diktum des neuen Vorsitzenden der CDU Sachsenhausen, Klaus Döll, vgl. auch Rotberg/Zimmer, Liebe, S. 49. Gerhardt konterte mit den Worten, er sei stets „Bannerträger“ seiner Partei gewesen; ebd., S. 50. 118 Streeck/Streeck, Parteiensystem, S. 163. 119 Ebd., S. 164. Rote und schwarze „68er“? 117 von der Jungen Union unterstützt wurde. Die „schematische Übertragung der Struk- turprinzipien parlamentarischer Demokratie auf den gesellschaftlichen Bereich“, für welche die SPD stehe, lehnte die CDU zwar nach wie vor ab; doch sie erklärte jetzt auch klipp und klar, dass die „Grundwerte der Demokratie […] nicht nur für den staatlichen Bereich“ gelten würden: „Wir fordern mehr Öffentlichkeit, Durchsichtig- keit, Mitwirkung und Information in Staat und Gesellschaft“120. So also sahen auch in der CDU die Folgen der – beide Volksparteien gleicherma- ßen erfassenden – innerparteilichen Demokratisierung und kommunikativen Re- volution nach 1968 aus. Allerdings wird man resümieren müssen, dass der Sturm der „68er“-Bewegung in der Bundesrepublik auf eine Parteienlandschaft traf, die schon vorher von der Flut des Wandels überspült war. So positiv dieser Wandel hin zu mehr innerparteilicher Demokratie zu bewerten ist, so wenig leisteten die stärker aus dem Geist von 1968 geborenen „Methoden des SDS“, die nicht nur der Frankfurter SPD in den nächsten Jahren noch mehr zu schaffen machen sollten als der CDU, einen Beitrag zur Fundamentalliberalisierung der Bonner Republik. Eher schon waren sie Krisensymptome einer neuen Fundamentalideologisierung in den Zeiten nach „68“.

120 Krabbe, Parteijugend, S. 181f.