Die Morde im Bullenhuser Damm vor dem Bezirksgericht 1967

Dr. Kurt Heißmeyer war seit 1934 im Auguste-Viktoria- Sanatorium der „Heilanstalten vom Roten Kreuz“ in Hohenlychen (Uckermark, 10 km entfernt vom KZ Ravens- brück) tätig. 1942 übernahm die SS das Gelände und die Gebäude teilweise als Lazarett und Sanatorium. Experimen- te an KZ-Häftlingen sollten Heißmeyer ab 1944 als Grundla- ge für seine geplante Habilitation über die Entstehung und Bekämpfung der Tuberkulose dienen. Heißmeyer leitete zu diesem Zweck im KZ Neuengamme medizinische Versuche an über 100 erwachsenen Häftlingen, zumeist sowjetischen Kriegsgefangenen, und an zwanzig jüdischen Kindern, die er hierfür im KZ Auschwitz auswählen ließ. Nach Kriegsen- de wurde er auf internationalen Fahndungslisten gesucht, konnte aber untertauchen. 1946 ließ er sich in Magdeburg als Lungenfacharzt nieder. Unter Arztkollegen war bekannt, dass Heißmeyer der Arzt war, der im KZ Neuengamme Men-schenversuche unternommen hatte. Die Akten des Staats-sicherheitsdienstes der DDR belegen eine Überwa- chung Heißmeyers seit den 1950er-Jahren – jedoch nicht wegen seiner Verbrechen, sondern weil er zu viele Grund- stücke erworben hatte, um eine Lungenfachklinik aufzubau- en und sich zudem auf Ärztezusammenkünften für Visafrei- heit zum Besuch von Kongressen im Westen ausgesprochen hatte. Aufgrund des Ärztemangels in der DDR – viele Ärz- tinnen und Ärzte waren in den Westen gegangen – konnte Heißmeyer 19 Jahre lang unbehelligt als Arzt praktizieren.

KZ-Gedenkstätte Neuengamme | Reproduktion nicht gestattet 2 Die Morde im Bullenhuser Damm vor dem Bezirksgericht Magdeburg 1967 Die Morde im Bullenhuser Damm vor dem Bezirksgericht Magdeburg 1967 3

Erst im Dezember 1963 wurde er wegen seiner Beteiligung an den Menschenversuchen im KZ Neuengamme verhaftet. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte sich bis dahin vergeblich bemüht, die Protokolle des Hauptprozesses zu den Verbrechen in Neuengamme in und London zu erhalten. Mitten im Kalten Krieg, ohne Rechtshilfeabkom- men zwischen den beiden deutschen Staaten, scheiterten – nicht nur im Fall Heißmeyer – sämtliche Bemühungen einer Kooperation sowohl von west- als auch von ostdeutschen Ermittlern. Beweismittel wurden nach Heißmeyers Verhaf- tung in einer Kiste sichergestellt, die er bei Kriegsende auf dem Gelände des Sanatoriums in Hohenlychen vergraben hatte. Darin befanden sich private Fotoalben, Geschenke, Bestecke und auch die Krankenakten der Versuchsopfer. Das zeitgleich von der Hamburger Staatsanwaltschaft ein- geleitete Ermittlungsverfahren gegen fand keinen Eingang in das Magdeburger Ermittlungsverfahren, da die Zusammenhänge noch nicht bekannt waren. Prozess­­ ablauf und Strafmaß wurden von den Ermittlern des Staats­ sicherheitsdienstes schon im Vorherein festgelegt, die Ver- teidiger gaben dem Verfahren eine rechtsstaatliche Fassade. Allerdings recherchierten die Untersuchungsrichter noch in Polen und der Sowjetunion und erhielten weitere Belege und Zeugenaussagen für Heißmeyers Beteiligung an den Verbrechen. Am 30. Juni 1966 verurteilte das Bezirksgericht Magdeburg Kurt Heißmeyer wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ zu lebenslangem Zuchthaus. 4 Die Morde im Bullenhuser Damm vor dem Bezirksgericht Magdeburg 1967

Oberarzt Dr. Heißmeyer, Chefarzt in Lychen Tbc.-Sanatorium. H. war der Bruder eines hohen SS-Führers. (SS-Brigadeführer?)

Personalbeschreibung: ca. 170–172 cm groß, korpulent, kam nur in Zivil in das K. L. Neuengamme. Haare schwarz, glattrasiert. Keine besonderen Kennzeichen.

H. hatte die Aufgabe, zunächst im Jahre 1944 ab August Versuche (Tbc.-) bei erwachsenen russischen und polni- schen Häftlingen, die a priori zum Tode verurteilt waren, vorzunehmen. Die Verbindungen des erwähnten H. zu der SS höheren Führung (Bruder war wie erwähnt Brigadefüh- rer) ferner zu SS-Standartenführer Dr. Lolling – Letz- terer war Leiter des Sanitätswesens im SS-Wirtschaftsver- waltungshaupt- amt und Chef des Amtes D III , Berlin Ora- nienburg-Stabsgebäude – ermöglichten H., daß er jede nur erdenkliche Hilfe bekam. So z. B. einen großen Röntgenap- parat, mit dem man horizontale und vertikale, insbesondere Magenaufnahmen machte und sonstige Medikamente und Röntgenfilme.

H. ging bei den Versuchen wie folgt vor:

H. kam alle 14 Tage und brachte den Häftlingen Injektionen Die ehemaligen Häftlinge Eduard von Tuberkelbakterien subkutan in der Mamilargegend Zuleger und Günther Wackerna- gel verfassten am 9. Juni 1945 bei. Die Folgen waren zunächst übermäßige Schwellungen, zur Vorlage bei den britischen bis dieselben erbsengroße bis kirschkerngroße Drüsen Ermittlern eine Personenbe- erzeugten. Diese so gewonnenen Drüsen wurden operativ schreibung der SS-Ärzte des KZ mit leichter Lokalanästhesie entfernt. (Axilar wie Mamilar) Neuengamme, darunter auch von Dr. Kurt Heißmeyer Nach der Entfernung wurden die Drüsen in [...] Formalinlö- sung gelegt und mittels Kurier nach L y c h e n zu Oberarzt (SAPMO-BArch, BY 5 V279/70) Dr. Heißmeyer gebracht. Zu diesen Versuchszwecken wur- Die Morde im Bullenhuser Damm vor dem Bezirksgericht Magdeburg 1967 5

den im Verlaufe von 4 Monaten rd. 40 Häftlinge verschiede- ner Nationalitäten (keine Juden) herangezogen. 30 Häftlinge sind infolge dieser Versuche verstorben. Die Aufzeich- nungen und wissenschaftlichen Ergebnisse wurden nach Abschluß dieser Versuche ebenfalls an Dr. H. weitergeleitet.

Am 15. Dezember 1944 wurden dem K. L. Neuengamme vom K. L. Auschwitz 20 Kinder (10 männlichen und 10 weib- lichen Geschlechts) im Alter von 5 bis 13 Jahren zugeführt. Es handelte sich nur um jüdische Kinder polnischer, jugosla- wischer, holländischer, französischer und belgischer Natio- nalität. Die vorgenommenen Röntgenaufnahmen bei der Einlieferung zeigten, daß es sich bei den Kindern um eine leichte lagerbedingte Tbc. – infolge Unterernährung handel- te.

Am 3. Januar 1945 fing Oberarzt Dr. Heißmeyer mit den Versuchen an. Injektionen wie bereits o. a. erfolgten. Auch diese Injektionen erzeugten bei den Kindern zunächst eine erhöhte Temperatur, Schwellungen sowie Bildung von erb- sen- bis kirschkerngroßen Drüsen. Diese Drüsen wurden wie oben angezogen operativ entfernt.

Die gemachten Aufzeichnungen über Auszählung von Blut- bildern, Blutsenkungen, die von Häftlingsärzten geführt wer- den mußten, ergaben, daß diese Versuche den Allgemeinzu- stand sehr stark beeinträchtigten.

Die Aktion mußte infolge der sich überstürzenden Ereignisse plötzlich abgebrochen werden. Die 20 Kinder wurden am 18.4.1945 gegen 23.00 Uhr mittels Autobus der Hamburger nach dem K. L. Theresienstadt/Prag überführt. Über den weiteren Verbleib dieser Kinder konnte bis heute noch nichts eruiert werden. 6 Die Morde im Bullenhuser Damm vor dem Bezirksgericht Magdeburg 1967

Nach ersten Gerüchten um Kurt Heißmeyers Vergangenheit wurde am 4. Dezember 1948 dieser Brief geschrieben. 1963 erfolgte die Verhaftung Kurt Heißmeyers, nachdem das Mini- sterium für Staatssicherheit die Unterlagen des britischen Militär- gerichts im Curio-Haus-Prozess aus dem Jahr 1946 geprüft hatte. Der Brief von 1948 ging in die Ermittlungsakten des Staats- sicherheitsdienstes ein und lag 1966 bei Gericht vor.

(BStU, HA IX/11 ZUV Nr. 46, Band 165)

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Anonymer Brief vom 23. Juli 1959 an den Staatssicherheits- dienst, Bezirk Magdeburg. Der Verfasser schrieb an die „Geheime Staatspolizei“ und berief sich auf die Lektüre der 1955 in der DDR erschienenen Erinnerungen des britischen juri- stischen Beraters Lord Russell of Liverpool, in denen über die medizinischen Experimente an Kindern und Erwachsenen im KZ Neuengamme berichtet wurde.

(BStU, 8935/66, Band 2, Bl. 86)

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Bericht der Hauptabteilung IX/2 des Staatssicherheitsdienstes vom 14. Dezember 1963 mit einer Zusammenfassung aller Erkenntnisse über die medizini- schen Experimente, die unter der Leitung von Kurt Heißmeyer im KZ Neuengamme durchgeführt wurden.

(BStU, HA IX/11 ZUV Nr. 46, Band 138)

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Hausmitteilung der Bezirksleitung Magdeburg des Staatssicherheits- dienstes vom 21. Dezember 1963 über Reaktionen in der Bevölke- rung nach der Verhaftung Kurt Heißmeyers.

(BStU, HA IX/11 ZUV Nr. 46, Band 138)

„Magdeburger Volksstimme“ vom 3. Juli 1966.