Zur Lage der Soziologie 103

Max Weber in München Rede anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel

M. Rainer Lepsius Universität Mannheim, Lehrstuhl für Soziologie

Max Weber in Munich Address on the Occasion of the Unveiling of a Memorial Plaque

Abstract: A historical and biographical sketch of the last year of MAX WEBER in Munich is followed by a discussion of the reception of WEBER’s work and an outlook on future tasks for research on WEBER.

Inhalt: An eine zeitgeschichtliche und biographische Skizze des letzten Lebensjahres von MAX WEBER in München schließt sich eine Diskussion der Rezeptionsgeschichte des Werkes und ein Ausblick auf zukünftige Aufgaben der WE- BER-Forschung an.

Am 5. Juli 1976 wurde durch die Stadt München bis zu ihrem Tod 1953 seine Witwe, MARIANNE am Haus Seestraße 16 eine Gedenktafel für Max WEBER. Dort hatte sich sonntäglich ein weithin Weber enthüllt. Sie wurde von dem Graphiker wirkender intellektueller Zirkel um MAX WEBER Eugen Weiß gestaltet und trägt folgende Inschrift: versammelt, dort war er zum „Mythos von Hei­ „In diesem Hause der Dichterin Helene ßöhlau delberg“ geworden (HONIGSHEIM 1963: 161L). wohnte der bedeutende Jurist, Nationalökonom, Demgegenüber ist das Haus in der Münchener See- Politikwissenschaftler und Soziologe, Professor straße, in dem WEBER unter den Bedingungen an der Universität München, Max Weber, geboren der Wohnungsknappheit im Nachkriegs-München am 21. April 1864 in Erfurt, vom Juni 1919 bis — übrigens erst im Herbst 1919 — eine provisori­ zu seinem Tode am 14. Juni 1920“. sche Wohnung bezog, weniger bedeutungsvoll2. Doch die Stadt München liegt mit ihrer Gedenk­ Angesichts des großen Ansehens, das MAX WE­ tafel auch nach 56 Jahren noch vorn! BER international genießt, und der vielfältigen Bedeutung, die seinem Werk zugeschrieben wird, Gewiß kann man die Bedeutung und Wirkung von könnte man sich wundern, daß erst 56 Jahre nach Gelehrten nicht an der Zahl ihrer Gedenktafeln seinem Tod die Stadt München sein Gedenken abschätzen, und doch kommt auch in ihnen die durch die Anbringung einer Tafel bekräftigt1. Rezeptionsgeschichte des Werkes und das öffent­ Doch auch in Heidelberg, wo WEBER studiert, liche Bewußtsein seiner Bedeutung zum Ausdruck. von 1897 bis zu seiner Übersiedlung nach Mün­ Vielleicht ist die heutige Enthüllung einer Ge­ chen 22 Jahre gelebt und seine wichtigsten Ar­ denktafel nicht der Ausdruck einer Verspätung, beiten geschrieben hat, findet sich am Haus in der sondern vielmehr ein Zeichen der erneuten Aktu­ Ziegelhäuser Landstraße 17 kein erinnernder Hin­ alität, die WEBERS Werk in der Tat in den letzten weis. Das Heidelberger Haus war von WEBERS Jahren wieder gewonnen hat3. Man darf wohl sa­ Großvater FALLENSTEIN gebaut worden, in ihm war seine Mutter aufgewachsen, dort hatte 2 Das Vorlesungsverzeichnis der Universität München für das Winterhalbjahr 1919/20 weist als Anschrift er von 1906 bis 1919 gelebt, dort wohnte auch MAX WEBERS aus: Ludwigstr. 22a, Gratenheim. ERNST TROELTSCH von 1910 bis 1915 und Diese Pesnion war wohl die Wohnung WEBERS wäh­ rend des Sommersemesters 1919. Das Vorlesungsver­ zeichnis für das Sommer-Halbjahr 1920 gibt als An­ 1 Den Anstoß für die Anbringung der Gedenktafel gab schrift an: Konradstj. 166/4. Die war die Wohnung der dänische WEBER-Forscher HANS HENRIK von EDGAR JAFFE. MARIANNE WEBER berich­ BRUUN vor fünf Jahren. Der langjährige Stadtschul­ tet: ,, Die Gefährten wohnten erst provisorisch in rat von München, Professor ANTON FINGERLE, den schon vertrauten Räumen der Freunde und griff diese Anregung auf und setzte sie in der Stadt­ ziehen dann in das dicht am englischen Garten gele­ verwaltung durch. Ihm gebührt für diese Initiative gene Häuschen von Helene Böhlau“ (MARIANNE Dank. - Übrigens hat der Max-Weber-Platz in Mün­ WEBER 1926: 680). Der Einzug in das Haus an der chen mit dem Soziologen MAX WEBER nichts zu Seestraße, das damals die Hausnummer 3 trug, dürfte tun. Er trägt den Namen des Magistratsrats MAX nicht vor Oktober 1919 erfolgt sein. WEBER (7.6.1823 bis 26.4.1893). 3 Ein wesentliches Hemmnis für eine systematische 104 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8

gen, daß die systematische und umfassende Re­ bindet heute noch persönliche Erinnerung mit zeption des intellektuellen Erbes dieses Mannes MAX WEBER, und nur diesen kann seine Person noch keineswegs abgeschlossen ist und die WE- noch direkt erfahrenes, moralisches und intellek­ BER-Forschung noch viele Aufgaben vor sich tuelles Beispiel sein. Für uns, die Jüngeren, besteht hat. zu MAX WEBER keine zeitgenossenschaftliche Vertrautheit mehr; wir müssen die Brücke über WEBERS Ansehen bei seinen Zeitgenossen, sein die 56 Jahre erst schlagen, die uns von seinem Le­ schon zu Lebzeiten erworbener Ruhm beruhten bensjahr in München trennen. weitgehend auf der Faszination durch seine Per­ sönlichkeit. Seine Erscheinung, seine Sprache, die Die Annahme des Münchener Rufes — etwa im Breite des Wissens und die Entschiedenheit der März 1919 — bedeutete für WEBER im Alter von Urteile, seine kämpferische Bereitschaft zu per­ 55 Jahren den Wiederbeginn einer akademischen sönlichem Einsatz haben alle, die ihm begegneten, Tätigkeit, aus der er praktisch 1899 und förmlich tief beeindruckt4. Manchmal scheint es, als ob mit seinem Rücktritt von der Heidelberger Profes­ die ihm zuteil gewordene Verehrung sich weit sur 1903 ausgeschieden war. Nach einer Unter­ mehr auf die bei ihm wahrgenommene oder ihm brechung von rund 20 Jahren hatte er wieder die zugeschriebene moralische Haltung, ein Ethos volle Tätigkeit eines Universitätslehrers auszu­ des politischen Handelns und wissenschaftlichen üben: Vorlesungen und Seminare abzuhalten, Forschens bezieht als auf die Ergebnisse seiner Doktoranden zu betreuen, an Prüfungen und an Arbeit, seine materialen Aussagen, die Anwend­ der Selbstverwaltung teilzunehmen. Seine gesund­ barkeit seiner Kategorien5. Nur wenige aber ver­ heitliche Labilität hatte ihn vor diesen Pflichten bisher zurückschrecken lassen, doch jetzt hatte er sich zu diesem Wagnis und Neuanfang entschlos­ und umfassende Rekonstruktion und Rezeption des Werkes von MAX WEBER ist das Fehlen einer histo­ sen. Schon im Jahre 1918 hatte sich WEBER wie­ risch-kritischen Gesamtausgabe. In diesem Sinne hat der für eine hauptamtliche Stellung an einer Uni­ jüngstens FRIEDRICH H. TENBRUCK auf den Zu­ versität interessiert. Es war ihm klar, daß er nach sammenhang zwischen Textedition, Werkinterpreta­ dem Krieg keine Rentnerexistenz mehr führen tion und theoretischer Rezeption hingewiesen (TEN­ BRUCK 1975 a). Die dort geforderte historisch-kri­ konnte. Zunächst hatte er ein Angebot nach Göt­ tische Textprüfung wird bereits durch die Initiierung tingen abgelehnt, dann im Sommer 1918 gewis­ einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke sermaßen „probeweise“ ein Semester in Wien und Briefe MAX WEBERS begonnen. In Zusammen­ gelesen und im Winter 1918/19 stand er vor der arbeit mit dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Entscheidung zwischen Angeboten aus München, Tübingen und der Bayerischen Akademie der Wissen­ schaften hat ein Herausgabekreis die Arbeit aufge­ Bonn, Berlin und Frankfurt a.M. In Berlin stand nommen. Auch dies scheint mir ein Zeichen für das neu einsetzende Interesse am Werk MAX WEBERS zu sein. Im übrigen ist die Polemik TENBRUCKS ge­ JASPERS 1958 (zuerst 1932). JASPERS schreibt: gen die langjährigen Bemühungen um das Werk WE­ „Max Weber war der größte Deutsche unseres Zeit­ BERS von JOHANNES WINCKELMANN unange­ alters“ (S. 71). „Er war der moderne Mensch, messen, da WINCKELMANN nie vorgegeben hat, hi­ der sich keine Verschleierung gestattet, in dieser storisch-kritische Ausgaben vorzulegen, sein Bestre­ Wahrhaftigkeit den Schwung seines Lebens findet, ben vielmehr dahin ging, durch Textbereinigungen kein Ausweichen in Verzweiflung zuläßt. Er war, wie und die Herausgabe von Studienausgaben und Text­ die Vernunft selber, erfüllt und wiedergewonnen aus kommentaren die Verbreitung und Lesbarkeit des der großen Unruhe vor den an drängenden Fluten der WEBERschen Werkes zu fördern und dies in Jahren, Geschichte und den Erschütterungen des eigenen Le­ in denen das systematische Interesse an WEBER in bens“ (S. 9). „Wir haben keinen großen Mann mehr, Deutschland noch sehr begrenzt war. Seinen Editio­ der in dieser Weise uns zu uns selbst brächte. Er war nen und seiner Arbeit für das Max Weber Archiv in der letzte. Daher unser Leben im Hinblick auf ihn München ist es mit zu verdanken, wenn heute ein sich auch jetzt noch orientiert, wo er schon langsam breiteres Interesse besteht. in die Geschichte zurückgleitet, Gegenwart nur für die, die ihn kannten, als er lebte“ (S. 88). Was JAS­ 4 Die Faszination, die von seiner Person ausging, spie­ PERS zwischen diesen einleitenden und abschließen­ gelt sich in den Erinnerungen und Nekrologen, die den Sätzen über WEBER schildert, ist immer wieder KÖNIG und WINCKELMANN 1963 gesammelt ha­ die moralische Haltung WEBERS, sein Ethos als Po­ ben. Vgl. auch SALIN 1964 und LOEWENSTEIN litiker, als Forscher, als Philosoph, wogegen nur bei­ 1966. spielsweise und oberflächlich auf den Inhalt seiner wissenschaftlichen Arbeit eingegangen wird. Der 5 Ein gutes Beispiel dafür bietet die Würdigung von Mann wird gepriesen, das Werk bleibt verhüllt. Zur Lage der Soziologie 105 eine Professur an der Handelshochschule zur De­ 1918/19 war erfüllt von vielfältigen politischen batte, an der auch HUGO PREUSS, der Vater Aktivitäten: Reden und Aufsätze über die Ver­ der späteren Weimarer Reichsverfassung, lehrte. fassungsprobleme, die Kriegsschuldfrage und den Das Amt in Berlin hätte für WEBER die Rück­ Friedensvertrag. Vor den Wahlen zur National­ kehr in seine Vaterstadt und zugleich die örtliche versammlung am 19. Januar 1919 hatte WEBER Nähe zu den Einflußzentren der Reichspolitik aktiv am Wahlkampf für die Deutsche Demokra­ bedeutet. In Frankfurt bestand die Möglichkeit, tische Partei teilgenommen; Versuche, ihn auf die eine Hochschultätigkeit zu verbinden mit der Lei­ Liste der Partei zu bringen, scheiterten jedoch. tung des Instituts für Gemeinwohl und der Betei­ Unmittelbar vor Beginn seiner Lehrtätigkeit in ligung an der Redaktion der Frankfurter Zeitung, München hatte er im Mai 1919 die deutsche De­ dem Blatt, das WEBER seit Jahren die Plattform legation nach Versailles begleitet und dort an ei­ für seine öffentliche Wirksamkeit geboten hatte. ner Denkschrift über die Kriegsschuld mitgearbei­ Hier waren seine Kritiken am Kaiserreich, an der tet. Auf der Rückreise von Versailles versuchte er, Kriegspolitik, seine Vorschläge für die Neuord­ in Berlin LUDENDORFF zu überreden, sich frei­ nung Deutschlands nach dem Kriege und die Ge­ willig den Alliierten zu stellen, um dadurch so­ staltung der neuen Verfassung erschienen. In wohl das Auslieferungsverlangen wie die globale Bonn schließlich wurde ihm eine Professur ange- und einseitige Kriegsschuldthese abzuwenden6. boten, die besonders auf seine Interessen zuge­ Es ist charakteristisch für WEBERS eigene Ethik schnitten war: eine Professur für Staats- und Ge­ radikaler Selbstverantwortung, daß er sich von sellschaftswissenschaften mit einer nur zwei­ einem solchen Schritt LUDENDORFFS und an­ stündigen Lehrverpflichtung. derer Führer im Kriege eine politische und mora­ lische Wende in der Friedensvertragslage ver­ WEBER entschied sich schließlich für München sprach. LUDENDORFF wies jedoch ein derarti­ aus persönlichen Gründen. Mit LUJO BRENTA­ ges Ansinnen schroff zurück, und auch WEBER NO — dessen Nachfolger er werden sollte — und kam nach dieser Begegnung zu der Einsicht: mit dem Inhaber des zweiten Lehrstuhles für Na­ „Vielleicht ist es für Deutschland doch besser, tionalökonomie der Staatswirtschaftlichen Fa­ daß er sich nicht ausliefert. Sein persönlicher Ein­ kultät, WALTER LOTZ, war er seit langem be­ druck würde ungünstig wirken. Noch einmal wür­ freundet. Vor allem zog ihn die Freundschaft zu den die Feinde finden: ,Die Opfer eines Krieges, ELSE JAFFE nach München. Freilich: Schon in der diesen Typus kaltstellt, haben sich gelohnt!4 der Annahme des Rufes nach München kommt Ich verstehe jetzt, wenn die Welt sich dagegen seine Resignation gegenüber einer primär politi­ wehrt, daß Menschen wie er ihr den Stiefel auf schen Tätigkeit zum Ausdruck, ein Rückzug ins den Nacken setzen. Mischt er sich aufs neue in die Private und Akademische, eine Abkehr vom Politik, so muß man ihn rücksichtslos bekämp­ aktiven politischen Leben, sei es über ein politi­ fen44 (MARIANNE WEBER 1926: 665). sches Mandat oder über indirekte Einflußchancen auf das politische Tagesgeschehen. Diese Abkehr Das war der Erlebniszusammenhang, aus dem steht in scharfem Kontrast zu dem politischen WEBER nach kurzen Erholungstagen im Isartal Engagement in den vorausgegangenen Jahren. Mitte Juni 1919 in München seine Lehrtätigkeit begann. Ein schroffer Wechsel: von politischer Seit 1917 hatte WEBER versucht, politischen Aktivität und öffentlicher Rhetorik zu wissen­ Einfluß zu gewinnen: durch Zeitungsartikel, schaftlicher Arbeit an den zur Veröffentlichung Reden und die Mitarbeit an politischen Denk­ anstehenden Manuskripten der Gesammelten schriften. In Zusammenarbeit mit FRIEDRICH Aufsätze zur Religionssoziologie und von „Wirt­ NAUMANN, liberalen Kreisen und aus eigener schaft und Gesellschaft44 und zur pünktlichen Initiative versuchte er, auf die politische Führung Konzentration auf die Lehraufgaben; aus dem des Krieges einzuwirken und einen Friedens­ altvertrauten Heidelberg und dem geräumigen schluß vorzubereiten. Durch Verzicht auf Anne­ Haus am Neckar in eine provisorische Wohnung xionen sollte eine Verständigung mit den West­ mächten, durch eine konstruktive Polenpolitik eine Befriedung Mitteleuropas und durch De­ 6 Zu WEBERS politischen Aktivitäten und Einstellun­ mokratisierung eine innenpolitische Neuordnung gen in den Jahren 1918-1920 vgl. MOMMSEN Deutschlands herbeigeführt werden. Der Winter 1974a insbesondere Kapitel VIII. 106 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8

im nachrevolutionären München mit großstädti­ dort aus die Niederwerfung des Münchner Räte- schen Versorgungsproblemen. Regimes7 *.

In München waren erst wenige Wochen vergangen, Der Zusammenbruch der literarisch-idealistischen seit am l.und 2. Mai 1919 Militär und Freikorps­ Pazifisten und revolutionären Erneuerer, die verbände die kommunistische Räteregierung nach Machtergreifung der kommunistischen Revolu­ blutigen Kämpfen und Gewalttaten auf beiden tionskader, die militante Reaktion des Bürger­ Seiten gestürzt hatten. Bis zum 7. Mai wüteten tums und der Sieg der konservativen Rechten be­ die eingerückten Verbände, Gefangene wurden stimmten die Atmosphäre in München in diesen geprügelt und umgebracht, insgesamt kamen 600 Monaten. WEBER selbst schilderte die Situation: Menschen ums Leben. Von den Führern der „Das Stadtbild ist noch recht kriegerisch, man Räteregierung waren GUSTAV LANDAUER und vertieft die .Schützengräben, verstärkt die Draht­ der Kommandant der Roten Armee, der 26-jähri­ verhaue usw., wohl weil die Regierung wieder ge Matrose EGELHOFER, ermordet, der Führer hierher übersiedeln will. Fortwährend finden Ver­ der Kommunisten, EUGEN LEVINE, nach einem haftungen statt . . “ (MARIANNE WEBER Hochverratsprozeß am 5. Juni 1919 hingerichtet 1926: 673). Auch in der Universität herrschte worden, NIEKISCH, TOLLER und MÜHSAM eine politisierte Stimmung bei den Studenten und viele andere befanden sich in Haft. Dies war und den Professoren. Verhaftungen und Durch­ das Ende einer Reihe von revolutionären und ge­ suchungen fanden statt, Hochverratsprozesse walttätigen politischen Ereignissen der ersten reihten sich aneinander, die Unterdrückung der Jahreshälfte. Seit der Landtagswahl vom 12. Ja­ linken Basis in der Arbeiterschaft wurde massiv nuar 1919, die der EISNER-Regierung keine par­ durchgeführt. WEBER war bald in die unruhigen lamentarische Basis ermöglichte, bestand in Mün­ und emotional politisierten Verhältnisse einbe­ chen politische Unsicherheit und beständige zogen. Im Hochverratsprozeß gegen OTTO NEU­ Putschgefahr. Die Arbeitslosigkeit war stark ge­ RATH, den österreichischen Nationalökonomen, stiegen durch die Demobilisierung des Kriegs­ der als Sozialisierungskommissar tätig gewesen heeres und die Stillegung der Rüstungsproduk­ war, setzte er sich für dessen Lauterkeit ein. Im tion. Die Versorung mit Kohlen und Nahrungs­ Prozeß gegen TOLLER bestätigte er als Zeuge die mitteln verschlechterte sich und die Preise stie­ idealistische Gesinnungspolitik des jungen Lite­ gen. Am 21. Februar sollte der neugewählte Land­ raten bei aller Ablehnung der Politik der Räte­ tag zusammentreten, EISNER wollte den Rück­ regierung. tritt der Regierung erklären. Doch auf dem Wege zum Landtag wurde er von einem jungen Offizier, WEBER war mit dem politischen und intellektuel­ dem Grafen ARCO-VALLEY, erschossen. Dies len Milieu in München vertraut. Er hatte schon löste wenig später im Landtag das Attentat auf während des Winters mehrmals öffentliche Reden den Führer der Sozialdemokratischen Partei, ER­ gehalten. Am 4. November 1918 sprach er auf HARD AUER, aus, bei dem zwei weitere Men­ Veranlassung der Fortschrittlichen Volkspartei schen erschossen wurde. Der Landtag lief ausein­ über Deutschlands politische Neuordnung. Im ander, und der Kampf zwischen den Befürwortern Saal saßen ERICH MÜHSAM und MAX LEVIEN einer parlamentarischen Regierungsform und einer und unterbrachen ihn mit Zwischenrufen, eine Räterepublik lebte wieder auf. Erst am 18. März feindselige und demagogische Stimmung schlug konnte der Landtag zusammentreten;er bestätigte ihm entgegen. Noch war die Nachricht von der die sozialdemokratische Regierung von JOHAN­ Meuterei der Matrosen in Kiel in München nicht NES HOFFMAN, verabschiedete ein Ermächti­ bekannt, und WEBER meinte, keiner der Anwe­ gungsgesetz und vertagte sich. Die Regierung senden sei zur Revolution entschlossen (MARIAN­ konnte sich gegen die neuorganisierten Anhänger NE WEBER 1926: 638f.). Doch schon drei Tage einer Rätediktatur nicht durchsetzen, die aus später, am 7. November, proklamierte KURT Anarchisten um ERICH MÜHSAM und GUSTAV EISNER, zusammen mit WEBERS altvertrautem LANDAUER und aus Kommunisten unter der Kollegen EDGAR JAFFIi, die Republik, und E. Führung von LE VIEN und des aus Berlin beor­ KATZENSTEIN, in dessen Wohnung WEBER derten LEVINE sich formiert hatten. Am 7. April wurde die Räterepublik ausgerufen. Die Regierung 7 Vgl. zu den Ereignissen in München MITCHELL wich nach Bamberg aus und organisierte von 1967 und BOSL 1969. Zur Lage der Soziologie 107 nach dem Vortrag mit einigen Zuhörern disku­ von MAX STIRNER, sowie die sexualrevolutio­ tiert hatte, leitete die Besetzung des Polizeiprä­ nären Ideen von OTTO GROSS, einem radikalen sidiums in der Innenstadt. Schon am 5. Dezem­ Freudianer, vertraut. Auch Frau GROSS kannten ber 1918 sprach WEBER wieder auf einer öffent­ MAX und MARIANNE WEBER seit den Freibur­ lichen Versammlung der Demokratischen Partei ger Jahren; ihr und der Gräfin FRANZISKA RE- im Wagnersaal für die Wahl der Nationalversamm­ VENTLOW, beide zentrale Figuren der anarchi­ lung. Er wurde wiederholt unterbrochen, bis er stischen und „kosmischen“ Zirkel der Münchner nicht mehr weiterreden konnte. Anhänger der Boheme, stellte MAX WEBER seinen juristischen Räteregierung agitierten gegen den Parlamenta­ Rat in Scheidungs-, Alimenten- und Erbangele­ rismus (vgl. MITCHELL 1967: 150). Ende genheiten zur Verfügung, als beide unter extre­ Januar 1919 schließlich hielt er vor der Freien men Lebenssituationen in der „Kommune“ in Studentenschaft den berühmten Vortrag „Politik Ascona lebten9. Durch FRIEDRICH GUNDOLF als Beruf** Mitte März ist er zu Berufungsver­ war WEBER 1910 mit STEFAN GEORGE be­ handlungen in München und hält zwei Vorträge kannt geworden und auch über die Münchner Diese häufigen Besuche und die persönliche Be­ Georgianer informiert. Der junge expressionisti­ kanntschaft mit vielen der politischen Akteure sche Dichter ERNST TOLLER war als Student hatten ihm eine genaue Kenntnis der Ereignisse in Heidelberg im Winter 1917/18 mehrfach bei vermittelt. WEBER, und als TOLLER wegen der Propagie­ rung des Generalstreiks in Heidelberg verhaftet Die Münchner Kulturboheme der Vorkriegszeit, worden war, hatte sich WEBER schon einmal für deren politisierter anarchistischer und radikal ihn eingesetzt. Auch OTTO NEURATH kannte pazifistischer Flügel nach dem November 1918 WEBER schon aus Heidelberg, er war dort 1918 eine einflußreiche Rolle spielte, war WEBER seit Privatdozent geworden. 1907 durch EDGAR und E^SE JAFFE bekannt geworden. EDGAR JAFFE hatte 1904 das Ar­ Auf dem Hintergrund dieser vielfältigen persön­ chiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik lichen Beziehungen und langjährigen Auseinan­ gekauft und MAX WEBER die Redaktion angebo- dersetzungen mit revolutionären Zeitströmungen, ten. WEBER hatte zusammen mit SOMBART dem radikalen Pazifismus, dem anarchistischen und JAFf £ daraus die damals führende sozial­ Zivilisationsprotest, der vitalistischen Jugendkul­ wissenschaftliche Zeitschrift gemacht. 1910 war tur, dem elitären Ästhetizismus und dem dyonisi- JAFFE, seit 1905 Privatdozent in Heidelberg, Professor an der Handelshochschule in München 9 Eine gute Darstellung und soziologische wie geistes­ und ein intellektuell führendes Mitglied der geschichtliche Analyse der Münchner Boheme um die Jahrhundertwende fehlt noch. Die Dissertation Münchner Kulturboheme geworden. Als radika­ von GERDI HUBER 1973 kommt über eine Mate­ ler Pazifist war er in die USPD eingetreten und rialsammlung nicht hinaus. SCHNEIDER 1975 ver­ in der Regierung EISNER Finanzminister gewor­ sucht, aus dem Strukturwandel Münchens zur Groß­ den. Nach EISNERS Ermordung brach er psy­ stadt und den veränderten Lebensverhältnissen der unteren Schichten um die Jahrhundertwende die chisch zusammen und starb 1921 in einem Sa­ Entstehung einer volkstümlichen Kulturkritik heraus­ natorium. Mit ELSE^on RICHTHOFEN, der Frau zuarbeiten. Die in den Texten der Volkssänger sich von EDGAR JAFFE, waren MAX und MARIAN­ ausdrückende Protesthaltung wird gegenüber der so­ NE WEBER seit den Freiburger Jahren eng be­ zialen und politischen Organisation der Arbeiter­ freundet, und über sie waren ihnen auch die anar­ schaft überbetont. GREEN 1974 gibt interessante Hinweise insbesondere auf OTTO GROSS, den frü­ chistischen Gedanken von MÜHSAM, einem An­ hen Propagandisten eines psycho-analytisch begrün­ hänger der Lehren des Fürsten KROPOTKIN und deten sexualpolitischen Anarchismus. Atmosphärisch aufschlußreich sind die literarischen Zeugnisse von FRANK 1952, der über OTTO GROSS unter dem 8 IMMANUEL BIRNBAUM, der Vorsitzende dieser Pseudonym Otto Kreuz berichtet, und die Milieu­ studentischen Vereinigung, berichtet, WEBER habe skizzen von MÜHSAM 1949. Gräfin REVENTLOW erst zugesagt, als er ihm geschrieben habe, radikale 1976 schildert in ihrem Roman „Herrn Dames Auf­ Kommilitonen würden KURT EISNER einladen, zeichnungen“ den „kosmischen Zirkel“ um LUD­ wenn er nicht käme. Diese „Drohung“ hätte gehol­ WIG KLAGES und ALFRED SCHULER sowie den fen, denn „in Eisner sah Weber den Typ eines Münchner Georgekreis um KARL WOLFSKEHL. Gesinnungspolitikers ohne Augenmaß für die Folgen Vgl. auch die von ELSE REVENTLOW herausgege­ seiner Handlungen“ (in: KÖNIG und WINCKEL- benen Tagebücher 1895-1910 und Briefe 1890- MANN 1963: 21). 1917. 108 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8 sehen Rauschmythos gewinnt WEBERS berühmte Die Wirkung des Mannes und des Lehrers scheint Rede ,,Politik als Beruf“ einen persönlichen Be­ mir gerade in der Offenheit und Leidenschaftlich­ kenntnischarakter. Mit Absicht und Schärfe be­ keit gelegen zu haben, mit der sich MAX WEBER stimmt er seine Distanz von diesen intellektuellen selbst der Irrationalität der Lebenserfahrung aus­ Brechungen der Wirklichkeit und begründet die setzte und sie immer wieder persönlich zu gestal­ von ihm gewählte Position politischen und intel­ ten versuchte. Trotz der beständigen Reflexion lektuellen Verhaltens. ,,Wir müssen uns klar ma­ der Wechselwirkungen zwischen Ideen und Inte­ chen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter ressen war er nicht handlungsunfähig geworden. zwei voneinander grundverschiedenen, unaustrag- Dies ist vielleicht seine persönlichste Lebenslei­ bar gegensätzlichen Maximen stehen kann, es stung, die ihm anstrengender und zuweilen quälen­ kann ,gesinnungsethisch4 oder ,verantwortungs­ der wurde als demjenigen, der sich die subjektive ethisch4 orientiert sein. Nicht, daß Gesinnungs­ Gewißheit unreflektierter moralischer Postulate ethik mit Verantwortungslosigkeit und Verant­ als Handlungsbasis erhält oder demjenigen, der wortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch in bewußter oder unbewußter Schließung der wäre. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob eigenen Wahrnehmung sich der Unschuld der Nai­ man unter der gesinnungsethischen Maxime han­ vität oder der Immunität der Routine als Lebens- delt — religiös geredet —: ,der Christ tut recht hÜfe bedient. und stellt den Erfolg Gott anheim4, oder unter der verantwortungethischen: daß man für die (voraus­ WEBERS Selbstbewußtsein ruhte auf der für sich sehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen selbst in Anspruch genommenen „geschulte(n) hat44 (MAX WEBER 1971: 551f.). Aus dieser Po­ Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten sition heraus wandte er sich gegen die „sterile des Lebens und die Fähigkeit, sie zu ertragen und Aufgeregtheit44 der Intellektuellen: „eine ins Lee­ ihnen innerlich gewachsen zu sein44 (MAX WE­ re verlaufende Romantik des intellektuell Inter­ BER 1971: 558). Er bekannte sich zu den Prin­ essanten44, gegen „frivole intellektuelle Spiele44 zipien einer rationalen Lebensführung, obgleich politischer Dilettanten „ohne Distanz zu den ihm die eigenen physischen und psychischen Dingen und Menschen44 und vor allem: „ohne Di­ Grenzen einer rationalen Lebensführung bewußt stanz sich selbst gegenüber44. Denn: „Politik wird waren. Er plädierte für eine balancierende Institu­ mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen tionalisierung verschiedener Rationalitätskrite­ des Körpers oder der Seele44. rien in der Staats- und Gesellschaftsverfassung, obgleich gerade er die Widersprüche zwischen for­ Bei allen Verdikten gegen die Gesinnungsethi- maler und materialer Rationalität hervorgehoben ker, die die „Irrationalität der Welt nicht ertra­ hatte. Sein Pessimismus gründete auf dem Zwei­ gen können44 und aus den Antagonismen konfli- fel, inwieweit er sich „auf sich selbst verlassen gierender Werte entfliehen wollen durch roman­ konnte4,4 und auf dem Zweifel an den Realisie­ tische Verhüllung oder monistische Sprengung rungschancen einer stets prekären Institutionali­ des Wertpluralismus: WEBER hatte die Konflik­ sierung gegensätzlicher Rationalitätsprinzipien. te, die aus der Irrationalität der Welt fließen, In dieser selbstgewählten Lebensdefinition hat selbst erfahren. So konnte er gleichzeitig die per­ man wohl auch seine Reaktionen auf die indi­ sönliche Lauterkeit der Gesinnung (etwa des viduell biographischen wie die strukturell gene­ Pazifisten F.W. FOERSTER) anerkennen und die rationsspezifischen Lebenskonstellationen zu se­ politischen Handlungen ablehnen, die aus dieser hen, die bei allen Veränderungen im Verlauf sei­ Gesinnung fließen. Freilich: der Mehrheit der nes Lebens eine Konstanz der WEBERschen Per­ Gesinnungspolitiker vermochte er auch die Lau­ sönlichkeit erkennen lassen. Darauf ausdrücklich terkeit der Gesinnung nicht zuzuerkennen: „Zu­ hinzu weisen, empfiehlt sich gerade heute, nach­ nächst einmal44 — so schrieb er — „frage ich nach dem ein neues Interesse an der Biographie und dem Maße des inneren Schwergewichts, was hin­ der Persönlichkeitsentwicklung MAX WEBERS ter dieser Gesinnungsethik steht und (habe) den entstanden ist, das Gefahr läuft, einzelne Lebens­ Eindruck: daß ich es in neun von zehn Fällen mit situationen aus der Proportion des Generations­ Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, kontextes, des Lebenslaufes und der Persönlich­ was sie auf sich nehmen, sondern sich an roman­ keitsstruktur WEBERS zu rücken10. 10 tischen Sensationen berauschen44 (MAX WEBER 1971: 559). 10 Noch immer bietet MARIANNE WEBER die umfas- Zur Lage der Soziologie 109

WEBERS Lehrtätigkeit in München begann mit Seminar angekündigt. Den abstrakten und sprö­ dem Sommersemester 1919. Er hielt eine Vorle­ den Begrifflichkeiten der Vorlesung vermochten sung über „Die allgemeinsten Kategorien der Ge­ nur wenige Studenten zu folgen. HELMUTH sellschaftswissenschaft“, die inhaltlich der Kate­ PLESSNER erinnert sich: „Pure Definitionen gorienlehre im 1. Teil von Wirtschaft und Gesell­ und Erläuterungen: Trockenbeerenauslese, Kel­ schaft entsprach. Dazu hatte er vierzehntägig ein lerabzug“ (KÖNIG und WINCKELMANN 1963: 34). Die Vorlesungen ermüdeten ihn. „Massen sendste Lebensbeschreibung. Angesichts der heroi­ von Anmeldungen für das Seminar, das ich sehr sierenden Züge in ihrer Darstellung, der Selektivität langsam angehen lasse“, berichtete er seiner und Ungenauigkeit in der Ereignisbehandlung be­ steht großes Interesse an einer neuerlichen Rekon­ Frau, aber auch: „ Ich glaube doch, man könnte struktion und Interpretation der Biographie WEBERS hier heimisch werden. Es ist alles so heiter: Stadt Dafür wäre es wünschenswert, wenn sorgfältig unter­ und Menschen - nur das Klima ist scheußlich“ schieden würde zwischen verschiedenen Analyseebe­ (MARIANNE WEBER 1926: 676). MARIANNE nen und ihren jeweiligen Kontextbedingungen: der individual-psychischen, der generationstypischen und WEBER war noch nicht nach München übersie­ der intellektuellen, das Werk betreffenden Ebene. delt. Sie hatte im Winter 1918/19 — wie ihr Mann Eine Vermischung dieser Ebenen liegt vor bei MITZ- am Wahlkampf für die Nationalversammlung teil­ MAN 1969 mit der Folge, daß eine psychologische genommen und war von Januar bis zum Sommer Persönlichkeitsdeutung sich einzelner Werkstellen als „Belege“ bedient, ohne den systematischen Werk­ 1919 Abgeordnete der Demokratischen Partei kontext zu analysieren. Die strukturellen Antino­ in der Badischen Nationalversammlung in Karls­ mien, auf deren Herausarbeitung WEBER so großen ruhe. Erst zum Herbst kam auch sie nach Mün­ Nachdruck bei der Analyse der Kultur- und Gesell­ chen, war jedoch viel auf Vortragsreisen, da sie schaftsentwicklung legte, können nicht einfach als zur Vorsitzenden des Bundes deutscher Frauen­ psychisch begründete Ambivalenzen in der Persön­ lichkeit WEBERS interpretiert werden. Der Zusam­ vereine gewählt worden war (vgl. MARIANNE menhang von Werk und Persönlichkeit wird sehr viel WEBER 1948: 79-112). Nach dem Ende des differenzierter und behutsamer, im Ergebnis offener Sommersemesters kehrte auch MAX WEBER darzustellen versucht von BAUMGARTEN 1964, nochmals nach Heidelberg zurück. Am 22. Sep­ insbes. S. 605 ff. GÜNTHER ROTH hat versucht, den generationsspezifischen Kontext von WEBERS tember fand dort eine von den Heidelberger Entwicklung zu skizzieren in seinem Beitrag Max Freunden veranstaltete Abschiedsfeier statt, und Weber’s Generational Rebellion and Maturation, in: dann erst erfolgte der Umzug. BENDIX und ROTH 1971. Doch bleibt es zunächst noch schwierig, WEBERS Wertpräferenzen und Im Wintersemester 1919/20 hielt WEBER eine Handlungsoptionen klar herauszuarbeiten, solange der sozio-politische und kulturelle Kontext seiner Vorlesung „Abriß der universalen Sozial- und Generation noch nicht exakt aufgearbeitet ist. Vgl. “, über die uns die überar­ dazu auch MOMMSEN 1974a und 1974b. - Schließ­ beitete Kollegnachschrift unterrichtet, die 1923 lich ist auf das Buch von GREEN 1974 hinzuweisen, unter dem Titel „Wirtschaftsgeschichte“ von S. das über die Biographien von ELSE und FRIEDA von RICHTHOFEN eine Kulturgeschichte des intel­ HELLMANN und M. PALYI veröffentlicht wur­ lektuellen Bürgertums um die Jahrhundertwende in de. WEBER hatte diese Vorlesung auf Drängen Deutschland und England zu entwerfen versucht. der Studenten übernommen, denen die „Grund­ Die Darstellungsform ist eine biographisch eingeklei­ begriffe“ zu abstrakt und zu schwer verständlich dete, psychoanalytisch interpretierende Ideenge­ gewesen waren. Nun hörten ihm 600 Studenten schichte. WEBER selbst kommt in diesem Buch gewis­ sermaßen als „Idealtyp“ vor; er steht für das Prinzip im Auditorium maximum zu. Daneben hielt er der patriarchalischen Vernunft und der psychisch ge­ eine Übung zur Besprechung wissenschaftlicher hemmten „tragischen“ Liebe. MAX WEBERS Werk Arbeiten der Schüler und ein Dozenten-Kolloqui- wird überhaupt nicht ernsthaft in Betracht gezogen. um11. Trotz des großen Zulaufes war WEBER Er hat die Rolle des „apollinischen Geistes“ im Gegen­ part zu D. H. LAWRENCE, dem Repräsentanten des Durchsetzung des dichotomen Darstellungsprinzips „Geistes der Demeter“, zu spielen. Das Buch ist ein als der Erfassung der auftretenden Persönlichkeiten. anregender kulturhistorischer Essay, schematisch Die Unschärfe der grundlegenden Typologie, die auf konstruiert durch das Gegensatzpaar „apollinisch“ sie bezogene selektive Interpretation der Biographien und „patriarchalisch“ einerseits, „dionysisch“ und und Austauschbarkeit der Personen und der zeit­ „matriarchalisch“ andererseits. Die Methode ist mehr geschichtlich ungenaue Kontextbezug bestimmen die nachempfindendes „Verstehen“ kraft „imaginativem Problematik dieser kulturhistorischen „Gruppenbio­ Wissen“ als historische bzw. systematische Analyse graphie“. ( vgl. insbesondere S. 379, 380). Die Stilisierung der benützten biographischen Daten dient mehr der 11 Das Vorlesungsverzeichnis der Universität München 110 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8 mit der akademischen Rolle nicht zufrieden. Er ben noch etwas vorenthalten“ (MARIANNE WE­ hatte Bedenken, den vollen Amtspflichten auf BER 1926: 683). — Welche Alternativen aber gab die Dauer doch nicht genügen zu können; es be­ es? Doch noch ein politisches Amt? Oder eine an­ drückte ihn, seinem überbürdeten Kollegen W. dere ökonomische Basis für die Lebensführung? LOTZ nichts abnehmen zu können* 12. Zum Kol­ „Ich hätte nichts dagegen, hier in eine Zeitung leg fehlte ihm die Lust, das Reden vor dem gro­ oder einen Verlag einzutreten, statt Professor zu ßen Auditorium war ihm eine physische Anstren­ spielen. Solche Verwaltungsarbeit kann ich ja gung, die Distanz zu dem Interessenhorizont der besser leisten, als diese Kolleg-Schwätzerei, die Studenten empfand er als lastend. Er erwog die mich seelisch nie befriedigt“ (M ARIANNE WE­ Vertauschung seines Ordinariats mit einer außeror­ BER 1926: 706)14. dentlichen Professur, die neu geschaffen werden sollte, und machte eine entsprechende Eingabe13. WEBERS Arbeitstag wurde bestimmt durch die Neue Zweifel erfaßten ihn: Sollte das akademi­ Korrekturen für den ersten Teil von „Wirtschaft sche Lehramt für ihn die endgültige Lebensform und Gesellschaft“ und den ersten Band der Reli­ sein? „Ich habe das Gefühl, als habe mir das Le­ gionssoziologie. Die parallel geführte Arbeit an seinen beiden Hauptwerken beschäftigte ihn mit fiir das Winterhalbjahr 1919/1920 enthält die folgen­ größter Intensität. In die Texte, an denen er die den Ankündigungen WEBERS: Abriß der universalen letzten zehn Jahre gearbeitet hatte, fügte er im­ Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4-stündig, Montag mer neue Zusätze und Veränderungen ein, zum und Mittwoch 6 bis 8 Uhr; Soziologische Arbeiten und Besprechungen, nach Vereinbarung, voraussicht­ Teil mit aktuellem Bezug auf jüngste politische lich zwei je 2-stündige Kurse, Samstag vormittag. Ereignisse.

12 WEBER hatte bei den Berufungsverhandlungen nicht Politische Ereignisse unterbrachen die Arbeit. Zu­ durchsetzen können, daß seine Lehrverpflichtung auf Soziologie beschränkt wurde. Er hätte also an dem nächst erlebte er eine Störung seiner Vorlesung normalen nationalökonomischen Lehrprogramm teil­ im Januar 1920 als Folge seines Auftretens gegen nehmen müssen. Das bestand zur damaligen Zeit aus rechtsgerichtete Studenten anläßlich einer Kund­ vier jeweils 5-stündigen Grundvorlesungen, die jedes gebung gegen das Urteil im Attentatsverfahren Semester gehalten wurden: Allgemeine Volkswirt­ ARCO. schaftslehre, Spezielle Volkswirtschaftslehre I (Agrar- gegen den Grafen Für den Rest des und Gewerbepolitik), Spezielle Volkswirtschaftslehre Wintersemesters konnte die Vorlesung nur nach II (Geld, Banken, Börsen, Handels- und Verkehrspo­ Passieren einer Ausweiskontrolle an der Tür be­ litik) und Finanzwissenschaft. Hinzu traten: Sozial­ sucht werden15. Im April erregten ihn die separa­ politik, Wirtschaftsgeschichte und Statistik in jeweils tistischen Strömungen in Bayern und zweifelhaf­ 4-stündigen Vorlesungen. Von den in den drei Münch­ ner Semestern von WEBER angebotenen Veranstal­ te Äußerungen des neuen bayerischen Minister­ tungen entsprach nur die Wirtschaftsgeschichte dem präsidenten VON KAHR in dieser Richtung. Er „Studienplan“. überlegte, wie er durch ein gerichtliches Beleidi­ Der Lehrkörper umfaßte drei Ordinarien, nämlich gungsverfahren diese Angelegenheit öffentlich neben WEBER, WALTHER LOTZ und GEORG von MAYR, den Honorarprofessor FRIEDRICH I und prozessual klären könnte. Seine alte kämpfe­ ZAHN, Präsident des Bayerischen Statistischen Lan­ rische Einstellung und unbedingte Einsatzbereit­ desamtes, drei nicht etatmäßige außerordentliche schaft brach wieder auf. Am 20. April 1920 Professoren, MORITZ JULIUS BONN, Direktor der schrieb er seiner Frau: „Diese blödsinnige poli- Handelshochschule München, EDGAR JAFFE, Pro­ fessor an der Handelshochschule, der nicht las, und LUDWIG SINZHEIMER, sowie den Privatdozenten 14 Die gleiche skeptisch-distanzierte Einstellung zur SEBASTIAN HAUSMANN für Zeitungswesen, Poli­ akademischen Lehrtätigkeit äußerte WEBER auch tik und Wirtschaftsgeschichte. während seines so erfolgreichen Semesters in Wien, Die Lehr- und Prüfungslasten waren primär von LOTZ vgl. MOMMSEN 1974a: 303f. Die gerade damals be­ wahrzunehmen: er las in der Regel 12 Wochenstun­ stehende Ambivalenz gegenüber einer hauptberufli­ den. G. von MAYR stand im 79. Lebensjahr und chen politischen Tätigkeit kommt andererseits in wartete schon seit längerem auf seinen Nachfolger seinem Austritt aus der Demokratischen Partei (April und las 16 Stunden. Ferner ist zu berücksichtigen, 1920) zum Ausdruck und seiner wiederholt geäußer­ daß die Zahl der Studierenden der Nationalökono­ ten Selbstdefinition: „ich bin von Beruf: Gelehrter“ mie nach dem Kriege sprunghaft anstieg. (MOMMSEN 1974a: 334).

13 Ein Extraordinariat für Wirtschaftsgeschichte und 15 Vgl. dazu die Berichte von FRIEDRICH J. BERBER Wirtschaftsgeographie wurde 1921 eingerichtet und und MAX REHM in KÖNIG und WINCKELMANN mit JAKOB STRIEDER besetzt. 1964: 23-26. Zur Lage der Soziologie 111 tische Lage macht mich halt jedesmal effektiv Am 4. Mai begann das Sommersemester, in dem krank, wenn ich daran denke oder daran erinnert WEBER zwei Vorlesungen über Sozialismus und werde“. Staatslehre sowie ein Seminar angekündigt hat­ te17. Anfang Juni mußte er wegen Grippe die Stärker noch als die politischen Ereignisse be­ Vorlesungen einstellen, und nach Tagen fiebriger stimmten persönliche und familiäre Umstände Unruhe starb er am 14. Juni 1920 an einer Lun­ WEBERSLeben im Winter 1919/20. Am 14. Ok­ genentzündung. tober 1919 starb seine Mutter 75-jährig in Berlin. Sie hatte das Leben des Sohnes stark geprägt. Sie WEBERS letztes Lebensjahr in München war be­ hatte die Heirat mit MARIANNE begünstigt, sie stimmt durch einen offenen Lebenshorizont, un­ war der Anlaß für die schwere Auseinanderset­ gelöste persönliche und familiäre Probleme und zung mit dem Vater, die im Zusammenhang mit den Versuch, die in zehnjähriger Anstrengung ent­ WEBERS Zusammenbruch und mehrjähriger Ar­ standenen Arbeiten zur Religionssoziologie und beitsunfähigkeit in den Jahren 1898 bis 1903 für „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu einem Ab­ steht. Ihre asketische und sozial karitative Reli­ schluß zu bringen. Er hatte wohl gehofft, sich giosität hatte WEBERS Lebensorientierung beein­ von dieser Last im Jahre 1921 befreien zu kön­ flußt, auch wenn er ihre religiösen Überzeugun­ nen, um auch in der wissenschaftlichen Arbeit gen nicht teilte. Das Engagement für FRIED­ an einen neuen Anfang denken zu können, des­ RICH NAUMANN verband Mutter und Sohn, sen Richtung wir freilich nicht kennen. Es ist sei­ wenngleich dieses Engagement bei der Mutter auf ner Frau, ihrem Engagement und ihrer Sorge zu religiösen, bei dem Sohn auf politischen Motiven verdanken, daß WEBERS Werk posthum im we­ beruhte. Sie hatte den Sohn noch im Sommer in sentlichen gesammelt und veröffentlicht wurde. München besucht, und ihr plötzlicher Tod been­ Auch wenn heute vielfach ein Ungenügen dieser dete eine tiefe Verbundenheit. Im April 1920 Ausgaben festgestellt werden muß, so ist es doch schied WEBERS Schwester Lili durch Selbstmord sehr zweifelhaft, was ohne ihre Tatkraft aus die­ aus dem Leben. Sie war Kriegerwitwe, und es sem Werk geworden wäre. stellte sich sofort das Problem der Fürsorge für ihre vier Kinder. MAX und MARIANNE WEBER WEBER meinte zum 1. Teil von „Wirtschaft und waren spontan bereit, die Kinder zu adoptieren, Gesellschaft“, den er noch selbst redigiert hatte: doch eröffneten sich damit ganz neue und unge­ „Die Leute werden den Kopf schütteln und vor­ wohnte Perspektiven für die zukünftige Lebens­ erst nichts damit anfangen können“ (MARIANNE gestaltung des kinderlosen Ehepaares. MAX WE­ WEBER 1926: 709). Und in der Tat, nach 56 BER war seit Jahren an ein Leben gewöhnt, das Jahren stehen wir noch in weiten Teüen vor der frei war von familiären und beruflichen Alltags­ systematischen Rekonstruktion der WEBER- pflichten, und übte sich erst langsam wieder ein in schen Soziologie. Galt WEBER einst in Heidel­ das Dasein eines Professors. MARIANNE WE­ berg wegen der Unsichtbarkeit in der Universität BER hatte ihre Energie in den letzten Jahren auf und dem allgemeinen Raunen über seine unge­ die intellektuelle und politische Führung der bür­ wöhnlichen Fähigkeiten als „der Mythos von gerlichen Frauenbewegung gerichtet. Die Begrün­ Heidelberg“, so könnte man ihn heute als den dung eines Familienhaushaltes und die Erziehung „Mythos der deutschen Soziologie“ bezeichnen: der beiden jüngeren Kinder hätte für beide in vor­ als denjenigen, der ein spezifisches Paradigma gerücktem Alter eine völlig neue Lebenssituation soziologischer Forschung entwickelte, dessen sy­ bedeutet. WEBERS persönliche Lebenssituation stematischer Gehalt aber weniger bekannt ist, als wurde noch weiter kompliziert durch die leiden­ es der diffuse Konsensus über dessen Bedeutung schaftliche Bindung an ELSE JAFFE, die ihrer­ erwarten lassen würde. WEBER gilt als der we­ seits eine enge Freundschaft mit MARIANNE sentliche Vertreter dessen, was man — interna­ WEBER wie mit verband16. tional — die „Deutsche Soziologie“ nennt: die

16 Vgl. zum Tod der Mutter, der Schwester und der 17 Das Münchner Vorlesungsverzeichnis Für das Sommer­ Problematik der Adoption BAUMGARTEN 1964: semester 1920 weist aus: Allgemeine Staatslehre und 630-635, MARIANNE WEBER 192£: 681f. und Politik (Staatssoziologie) Mo.Di.Do.Fr. 4 -5 ; 700f.;zur Beziehung zu ELSE JAFFE: MITZMAN Sozialismus (Einführungsvorlesung) Mo.Mi.6-7; So­ 1970: 282ff. und MARTIN GREEN 1974: 161 — ziologisches Seminar (voraussichtlich 2 je einstündige 173. Kurse), nach Vereinbarung. 112 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8

Verbindung von systematischer Gegenwartskri­ Unter diesen Lehrstücken steht an erster Stelle die tik mit universalhistorisch vergleichender Gesell­ seit etwa siebzig Jahren andauernde Debatte um schaftsanalyse, die Erforschung von Kulturord­ WEBERS Methodologie: die verstehende Methode, nungen und sozialökonomischen Interessenkon- der Idealtypus, das Postulat der Werturteilsfrei­ flikten in komplexen Handlungskonstellationen, heit. Alle diese Probleme stehen im Kontext von das Bemühen, in methodologischer „Wertfreiheit“ WEBERS Angriffen auf die Wissenschaftsgestalt den subjektiv gemeinten Sinn der jeweils Han­ seiner Zeit: Sein Kampf gegen den Essentialismus delnden zu verstehen. und die Substanzzuschreibung bei Kollektivbe­ griffen und sein Eintreten für den methodologi­ Dieses Programm einer „Deutschen Soziologie“ schen Individualismus und den Begriffsnomina­ hat seit 1933 in den USA größere Beachtung ge­ lismus21 , sein Kampf gegen den Historismus und funden18 , und man kann sagen, daß WEBERS sein Eintreten für eine systematische und empi­ Geltung heute selbst in Japan größer ist als in risch vergleichende Sozial Wissenschaft, sein Kampf Deutschland. Der Wiederaufbau der Soziologie gegen den Kathedersozialismus und sein Eintre­ nach 1948 hat sich nicht an WEBER orientiert, ten für die analytische Unterscheidung zwischen und erst amerikanische Soziologen, insbesonde­ Wertbegründung und Zielbestimmung einerseits re und REINHARD BEN­ und der empirischen Tatsachenforschung zur Er­ DIX haben den Soziologen WEBER wieder nach klärung des Verhältnisses von Interessenlagen, so­ Deutschland zurückgebracht19. Im letzten Jahr­ zialen Institutionen und der Verhaltensbedeutung zehnt kann man nun ein zunehmendes Interesse von Ideen andererseits. WEBERS Methodologie an umfassenden Interpretationen und systema­ ist zeitgenössische Wissenschaftskritik in der Ab­ tischen Rekonstruktionen von WEBERS Gesamt­ sicht, sein eigenes Forschungsprogramm zu recht- werk auch in Deutschland feststellen, wobei fertigen und den Sozialwissenschaften wissen­ langsam die Grenzen zwischen den durch die Re­ schaftspolitisch größere Autonomie zu verschaf­ zeptionsgeschichte geformten Teilen des WEBER- fen22 . Seine methodologischen Schriften sind in­ schen Werkes überwunden werden. Schon zu Lebzeiten MAX WEBERS ist ja die Auseinander­ gewidmete 15. Deutsche Soziologentag 1964 in Hei­ setzung mit seinem Werk auf eine Reihe ausge­ delberg organisiert: Neben dem Einleitungsreferat von ERNST TOPITSCH wurden drei Hauptreferate wählter Probleme fixiert worden, die auch die gehalten zu den Themen: Wertfreiheit und Objektivi­ seither erfolgte Rezeption in einzelne Lehrstücke tät (TALCOTT PARSONS), Max Weber und die fragmentiert hat20. Machtpolitik (RAYMOND ARON) und Industriali­ sierung und Kapitalismus (HERBERT MARCUSE). Ein viertes Thema war geplant, ist aber nicht aus­ 18 Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Werkes geführt worden: Max Webers Religionssoziologie von MAX WEBER in Amerika unter Berücksichtigung und Kulturtheorie. Auch wenn PARSONS und eini­ neuerer deutscher Veröffentlichungen vgl. insbeson­ ge Diskussionsredner versuchten, die substantielle dere ROTH und BENDIX 1959;GÜNTHER ROTH, soziologische Forschung WEBERS zu thematisieren, „Value-Neutrality“ in and the United States, verharrte die Diskussion doch bei den traditionellen in: BENDIX und ROTH 1971. Eine Rezeptions­ voneinander isolierten Themen: der Methodologie, und Wirkungsgeschichte MAX WEBERS für die deut­ der politischen Wirkung und Einstellung WEBERS sche Nachkriegssoziologie ist noch nicht erarbeitet und dem Verhältnis von WEBER zu MARX. Demge­ worden. genüber traten die soziologischen Forschungen WE­ BERS und vor allem die Frage nach ihrer Bedeutung 19 Aus der Fülle ihrer relevanten Veröffentlichungen sei für die Soziologie heute völlig in den Hintergrund, jeweils nur auf ein Buch hingewiesen. TALCOTT vgl. STAMMER 1965. PARSONS hat in The Structure of Social Action schon 1937 eine systematische Analyse der WEBER- 21 In den Worten MAX WEBERs (in einem Brief an schen Soziologie vorgelegt und den Versuch unter­ ROBERT LIEFMANN vom 9. März 1920): „Wenn nommen, sie in eine moderne Verhaltenswissen­ ich jetzt einmal Soziologe bin (laut meiner Anstel­ schaft zu integrieren. REINHARD BENDIX hat in lungsurkunde), dann wesentlich deshalb, um dem Max Weber, An Intellectual Portrait im Jahre 1960 immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektiv­ erstmals eine zusammenhängende Gesamtdarstellung begriffen arbeitet, ein Ende zu machen.“ Zitiert des empirisch-soziologischen Werkes von MAX WE­ nach MOMMSENS Diskussionsbemerkung in: STAM­ BER vorgelegt und dabei die übliche Trennung zwi­ MER 1965: 137. schen den religionssoziologischen und den herr­ schaftssoziologischen Schriften überwunden. 22 In diesem Sinne betont auch WOLFGANG SCHLUCHTER (1971: 20f.) den wissenschaftspoliti­ 20 In diesem Sinne wurde auch noch der MAX WEBER schen und sozio-kulturellen Kontext des Wertfrei- Zur Lage der Soziologie 113 sofern Prolegomena für seine Soziologie. Die Fi­ sein Problem bezeichnete) und andererseits zur xierung der WEBER-Rezeption auf die Kritik sei­ Überbetonung des Aspekts der individuellen ner Methodologie war daher geeignet, die Auf­ Motivation gegenüber der von WEBER umfas­ merksamkeit von der systematischen Rekonstruk­ sender gestellten Frage nach der Institutionali­ tion seiner historisch-empirischen Analysen abzu­ sierung von spezifisch neuen Verhaltensweisen ziehen, ja, durch die immer wiederholten Vorwür­ und von Beurteilungskriterien für ihre soziale fe einer angeblich positivistischen oder dezisioni- Kontrolle. Der ungeheuere „Erfolg“ der Prote­ stischen Wertneutralität wurde von vornherein ver­ stantismusthese24 hat dazu geführt, daß die Ana­ sucht, über vermeintliche politische Konsequen­ lysen des Konfuzianismus, des Hinduismus und zen der Methodologie die materiale Soziologie zu des antiken Judentums als bloße zusätzliche entwerten oder als irrelevant auszuklammern23. „Kontrastforschungen“ (F. TENBRUCK) beiseite­ geschoben wurden und in die typische „Lehrge­ Das zweite Feld der Rezeption und Kritik von stalt“ der Soziologie nur eine zumeist stark trivia- WEBE RS Werk wird durch die Protestantismus­ lisierte Protestantismusthese eingegangen ist. Erst these von der Entwicklung des Kapitalismus ab­ REINHARD BENDIX hat 1960 versucht, diese gesteckt. Auch dieses Problem ist schon von den Isolierung der Protestantismusthese zu durchbre­ Zeitgenossen fixiert worden im Anschluß an die chen und die Religionssoziologie WEBERSals zen­ Veröffentlichung von WEBERS Aufsätzen über tralen Teil der WEBERschen Soziologie zu rekon­ die protestantische Ethik und den ,,Geist“ des struieren. Er hat damit ein Interesse geweckt, das Kapitalismus und die protestantischen Sekten. in den letzten Jahren zunehmend die Religions­ Diese bis heute andauernde Debatte leidet darun­ soziologie systematisch zu rekonstruieren und zu ter, daß sie in der Regel auf die Protestantismus­ erweitern versucht25. aufsätze beschränkt blieb und weder die syste­ matische Religionssoziologie in „Wirtschaft und Das dritte Teilgebiet, das schon die Zeitgenossen Gesellschaft“ noch die Aufsätze zur Wirtschafts­ thematisierten und das auch heute noch in der ethik der Weltreligionen systematisch mit einbezo­ WEBER-Debatte Aktualität besitzt, umfaßt WE­ gen hat. So kam es einerseits zu einer Überbeto­ BERS politische Schriften und seine eigenen poli­ nung der weltanschaulich dramatisierten Frage: tischen Stellungnahmen. Auch hier ist die Beur­ idealistische oder materialistische Erklärung des Kapitalismus (was WEBER ausdrücklich als nicht 24 Die Kritiken und Antikritiken aus den Jahren 1907- heitspostulats: „Die Forderung nach einer wertfreien 1910 hat JOHANNES WINCKELMANN erstmals Erfahrungswissenschaft bezieht sich zum einen dar­ 1968 zusammengestellt und veröffentlicht unter auf, unter den Bedingungen einer antagonistischen dem Titel Max Weber, Die protestantische Ethik II. Wertwelt erfolgreiche1 erfahrenswissenschaftliche Durch die englische Übersetzung und die Einleitung Erkenntnis zu ermöglichen; sie bezieht sich zum an­ von PARSONS ist die Protestantismusthese seit 1930 deren aber auch darauf, erfolgreiche4 erfahrenswis­ in Amerika allgemein verbreitet. 1959 erschien be­ senschaftliche Erkenntnis zu wollen. Die Erfahrungs­ reits ein von W. GREEN 1959 herausgegebener Aus­ wissenschaft soll gegen den unlösbaren Kampf der wahlband, der die Debatte in den dreißiger und Wertordnungen abgeschirmt werden, weil eine in die­ vierziger Jahren dokumentiert; eine zweite erweiter­ sem Sinne selbständige Wissenschaft erst einen Wert te Auflage erschien 1973 und stellt neuere Beiträge besitzt.“ zusammen. Ein Sammelband von S.N. EISENSTADT, 1968, zeigt die große Bedeutung der Weber-These für 23 Damit ist natürlich keine Abwertung einer ernsthaf­ die Modernisierungsforschung der fünfziger und ten Diskussion der WEBERschen Wissenschaftslehre sechziger Jahre. SEYFARTH und SPRONDEL 1973 gemeint, wie sie insbesondere von von SCHELTING haben in ihren Aufsätzen und den von ihnen zusam­ 1934, HENRICH 1952, BRUUN 1972 und von mengestellten Beiträgen die Protestantismusthese in RUNCIMAN 1972 vorgenommen wurde, sondern die den Zusammenhang der Theorie des sozialen Wan­ immer erneut vorgetragenen trivialisierten Argumen­ dels gestellt. te gegen das Wertfreiheitspostulat, die eine vermeint­ liche Überwindung MAX WEBERS prätendieren, tat­ 25 Es sei in diesem Zusammenhang nur hingewiesen auf sächlich aber - wie HANS ALBERT schon vor zwölf die jüngsten Äußerungen von TENBRUCK, der eine Jahren auf dem Weberkongreß in Heidelberg sagte - neue systematische Interpretation der Religionssozio­ „nicht so sehr die kritische Aneignung und Weiterent­ logie als Theorie der Kulturentwicklung im Rationa­ wicklung seiner Ergebnisse als vielmehr einen Rück­ lisierungsprozeß fordert. SCHLUCHTER 1976 hat die fall in von ihm selbst bereits überwundene Auffas­ WEBERsche Theorie der religiös-ethischen Rationa­ sungen involvieren“ (STAMMER 1965: 71). Vgl. lisierung innerhalb der WEBERschen Kulturtheorie auch ALBERT und TOPITSCH 1971. systematisch rekonstruiert. 114 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -118 teilung relativ isoliert auf einzelne Schriften und fällt zu leicht der Versuchung, seine Wertbekennt­ z.T. auf polemische Tagesäußerungen bezogen nisse aus dem Kontext seiner vergleichenden In­ worden: auf seine Antrittsrede in Freiburg 1895 stitutionenanalyse zu isolieren und die von ihm und seine aktuellen Beiträge zur Neuordnung immer wieder herausgearbeiteten Antinomien Deutschlands nach dem Kriege 1918. Erst zwischen formaler und materialer Rationalität, WOLFGANG MOMMSEN hat den Versuch von Wert- und Zweckrationalität zu vernachläs­ unternommen, WEBERS politische Einstellun­ sigen. WEBER aber kam es gerade darauf an, die­ gen und Analysen systematisch herauszuarbei­ se Antinomien zu dramatisieren, und im Zuge sei­ ten (MOMMSEN 1974a und 1974b). Die Debatte ner historisch vergleichenden Forschung hat er die sich an WEBERS politische Rolle knüpfte, ist immer wieder darauf hingewiesen: Es gibt keine in einem eigentümlichen Sinne ambivalent. Einer­ konfliktlose Strukturhomogenität zwischen Legi­ seits wird er gepriesen als der große Liberale und timationswerten, Herrschaftsinstitutionalisierung „bedeutendste politische Denker unseres Jahrhun­ und differenzierten sozio-ökonomischen Interes­ derts“ 26, der geborene politische Führer im Über­ senlagen. Der Beitrag WEBERS zur Debatte um gang vom pseudoparlamentarischen und autori­ die politische Ordnung von Gesellschaften ist ge­ tären Wilhelminismus zum demokratischen Ver­ rade der Nachweis der immer eingebauten Kon­ fassungsstaat, und andererseits wirft man ihm Na­ flikte, des potentiellen Legitimationsverfalls und tionalismus, politischen Dezisionismus und eine der dauernd drohenden Stereotypisierung von so­ Neigung zur ,,plebiszitären Führerdemokratie“ zialen und politischen Machtverhältnissen zum vor. Hier zeigt sich erneut der Mangel an einer sy­ Nachteil der individuellen Freiheit und der Inno­ stematischen Analyse sowohl des zeitgenössischen vationsfähigkeit und Anpassungselastizität der Kontextes von WEBERS Lebensspanne wie seiner Gesellschaft. Freilich, schon WEBERS Zeitgenos­ materialen Soziologie. Gewiß war WEBER ein sen war diese Betonung der Antinomien, die instrumentaler Demokrat, d.h. jemand, der De­ Forderung, sie anzunehmen, nicht sie zu verdrän­ mokratie nicht um ihrer selbst willen und der po­ gen, für die Konfliktaustragung immer wieder stulierten Werte wegen unbedingt bejaht, kein — neue Lösungen zu suchen, ohne differenzierte in seiner Sprache - „Gesinnungsdemokrat“, der Konfliktparteien, Kompetenzautonomien, öko­ schon zufrieden ist, wenn die Flamme reiner de­ nomische Verfügungsrechte zu zerstören, teilwei­ mokratischer Gesinnung leuchtet. Er war ein se unverständlich, teilweise unwillkommen. „Verfahrensdemokrat“, der die voraussichtlichen Folgen unterschiedlicher Verfahren demokrati­ So beruhte auch WEBERS Einfluß auf die Jugend scher Institutionen zu bestimmen und unter einer seiner Zeit weit weniger auf dem Verständnis Pluralität von Funktionszusammenhängen zu be­ für seine analytischen Kategorien als auf der Be­ urteilen empfahl. Seine komparative Sozialfor­ wunderung für seine rigoros moralische Haltung. schung verschiedener Herrschaftssysteme brachte Wir haben dafür das Zeugnis eines Studenten, ihm die Einsicht, daß es keine idealen und daher der WEBERS Vortrag am 4. November 1918 in keine dauerhaft zu institutionalisierenden Ord­ München (kurz vor dem Zusammenbruch des nungen für wechselnde Interessenlagen und keine Kaiserreiches) mit folgenden Worten kommen­ deduzierbare Hierarchie von letzen Wertzielen tierte: „Was mich schlechthin begeisterte, war gibt, daß relativ geringe Änderungen der Verfah­ die Haltung und die ungeheure Lebendigkeit, mit ren von größter politischer, sozialer und kulturel­ der Sie sprachen . . . Sie waren Ihrer ganzen Hal­ ler Bedeutung sein können, ohne daß sich gleich­ tung nach Repräsentant des Niveaus und redeten zeitig die Legitimationsprinzipien ändern müs­ zu Zuhörern, die nichts anderes wollten als etwas sen27. Die Debatte über WEBERS Soziologie ver­ Freude, und denen der Gedanke an nur ein Opfer mehr für irgendein ihnen hypothetisches Niveau 26 Das Zitat stammt von MOMMSEN 1974a: 22, der ein Greuel ist. Die Zuhörerschaft verstand Sie zugleich WEBERS verfassungspolitischen Vorstellun­ einfach nicht und hatte wahrscheinlich zum gro­ gen „unverkennbar autoritäre Züge“ attestiert (1974a: ßen Teil das Gefühl, als kämen Sie von einem an­ 441).

27 Vgl. als Beispiel dafür etwa die Analyse von Venedig ermöglichen, wogegen der Zerfall der Selbstverwal­ im Vergleich zu den übrigen italienischen Städten, wo tung in den anderen Städten zur Ausbildung des fach­ gezeigt wird, wie spezifische Organisationsverfahren qualifizierten Berufsbeamtentums führt (WEBER die dauerhafte Honoratiorenverwaltung in Venedig 1972: 758ff.). Zur Lage der Soziologie 115 deren Planeten“ (MARIANNE WEBER 1926: dem WEBERschen Kontext herausgelöst wor­ 640E). den, so daß ihre in der Herrschaftssoziologie be­ gründete Aussagekraft schwindet und sie zu Ver­ Auch heute begegnet WEBERS Analyse der ge­ satzstücken in nahezu beliebigen Kontexten zu genseitigen Beeinflussung und dennoch jeweiligen werden drohen. Die Antinomie von Bürokratie eigengesetzlichen Folgen von Form und Inhalt, und Charisma ist ja nicht nur die Entgegenset­ von politischen Verfahren und Legitimationswer­ zung der regelhaftigen Versteinerung und der hel­ ten, einer großen Resistenz, die aus dem Alltags­ denhaften persönlichen Bewähmng, der Routini- denken und den Wertüberzeugungen stammt. sierung und Stereotypisierung einerseits und der Hier steht — so scheint es mir — die Rekonstruk­ Außeralltäglichkeit und direkten Sinnerfüllung tion der WEBERschen politischen Analyse vor politischen Handelns andererseits, der apparat­ wichtigen Aufgaben, damit über Akklamation mäßigen Entfremdung und der persönlichen oder Ablehnung einzelner Äußerungen hinaus Identifizierung und Individuation. Das Verhält­ der Beitrag WEBERSfür eine gegenwartsbezogene nis ist sowohl wechselseitig ambivalent wie auch und anwendungsfähige Strukturanalyse der poli­ prinzipiell antinomisch. WEBER typisiert hier tischen Ordnung und der in ihr notwendig beste­ Prinzipien sozialer Ordnung und in ihnen zu­ henden Widersprüchlichkeiten und alternativen gleich die beständige Dualität zwischen sozia­ Gestaltungsmöglichkeiten deutlich und fruchtbar ler Regelhaftigkeit, rechtlich definiertem Amt gemacht wird. Die Fixierung der Diskussion auf und sozial stereotypisierter Position und der die politische Rolle WEBERS im Übergang vom immer wieder auftretenden Durchbrechung der Wilhelminismus zur parlamentarischen Demokra­ Regelhaftigkeit, den Spielräumen für die Will­ tie ersetzt nicht die systematische Analyse seiner kür des Amtsinhabers, dem ,abweichenden Ver­ politischen Soziologie28. halten“ eines Positionsinhabers. Er betont stärker als sonst üblich die zentrale Ambivalenz soziolo­ Angesichts der fragmentarischen Rezeptionsge­ gischer Analyse zwischen strukturellem Determi­ schichte ist es nicht verwunderlich, daß auch die nismus und individuellem Voluntarismus. Diese Idealtypen WEBERS nur selektiv aufgegriffen Ambivalenz der soziologischen Analyse ergibt wurden. Dies gilt insbesondere für die Begriffe sich aus ihrem Bestreben, die Regelhaftigkeit, der Bürokratie und des Charisma, die größte Be­ die Struktur und die Bewegungsgesetze der Ge­ achtung gefunden haben. Sie sind heute inter­ sellschaft zu erklären, wobei sie immer wieder national in die Sozial Wissenschaften eingegangen, auf Konstellationen trifft, deren Folgen durch ja selbst das Wort Charisma ist in die Alltagsspra­ die Interessenlagen der Konstellationselemente che mit fast völliger Begriffsentleerung eingedrun­ nicht ausreichend determiniert werden. An dieser gen. Man kann in der Übernahme dieser Begriffe Analyseschwelle tritt dann nur zu oft der Um­ vielleicht die breiteste Wirkung des WEBERschen schlag ein: von der empirischen soziologischen Werkes feststellen29 **. Freilich sind auch sie aus Analyse zur geschichtsphilosophischen Interpre­ tation, zur Konstatierung des historischen „Zu­ falls“, zum Regreß auf die Persönlichkeiten der 28 Hierzu neuerdings BEETHAM 1974. Handelnden. Doch sowohl mit Verschwörertheo­ rien wie mit Annahmen über das Wirken laten­ 29 Der Einfluß der WEBERschen Bürokratietheorie ist ter Interessenlagen wird die empirische in den USA insbesondere in der Organisationssozio­ logie festzustellen. Der Begriff der Bürokratie ist da­ Forschung zugunsten von Hypostasierungen ver­ bei völlig aus dem Kontext der Herrschaftssoziologie lassen. WEBERS Leistung scheint mir gerade und der dortigen Behandlung von Formen der ,,Ver­ darin zu bestehen, daß er die aus dem Fragean­ waltungsstäbe“ unterschiedlich strukturierter Herr­ satz der Soziologie sich ergebende Analyse­ schaftssysteme herausgelöst worden. Der Satz WE­ schwelle in soziologischer Perspektive zu über- BERS, die Bürokratie sei die rationalste Form der Verwaltung, stößt dann natürlich auf Unverständnis und Kritik, wenn vergessen wird, worauf sich dieses fahrensordnungen im einzelnen herausgearbeitet wer­ Urteil bezieht, nämlich auf die alternativen Formen den und in ihrer Wirkung sowohl für die Interessen­ von Verwaltungsstäben: des Patriarchalismus, Patri- formierung wie für die Machtausübung und die monialismus, Feudalismus und der Jünger (Gefolg­ Allokation von Machtmitteln analysiert werden. Auf schaft) charismatischer Führer. Die Bedeutung der die Bedeutung der Verfahren hat sich aber die Sozio­ WEBERschen Analyse der Verwaltungsstäbe von logie bis in die jüngste Zeit hinein noch kaum syste­ Herrschaftssystemen liegt gerade darin, daß die Ver- matisch eingelassen. 116 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8 winden versucht und nicht den Bezugsrahmen Soziologie weiterzuentwickeln und sie anwen­ wechselt. Die Legitimierung der Regelwidrigkeit dungsfähig zu machen auf Probleme der Gegen­ durch den Glauben an die Chancen eines Indivi­ wartsgesellschaft32 . duums, materiale Werte zu verwirklichen, ist der Kern des charismatischen Prozesses. Für WEBER Im Vergleich zu dem Schrifttum über die ritua­ war „Charisma“ nicht der soziologisch unvermit­ lisierten Themen der WEBER-Exegese gibt es nur telte Einbruch „außeralltäglicher Gnadengaben“ wenige Versuche, die WEBERsche Soziologie der „großen Persönlichkeit“, der strukturell nicht auf Gegenwartsprobleme anzuwenden33. Diese mehr auflösbare „historische Zufall“, aber auch Anwendungshemmung scheint mir dadurch be­ nicht die „idealistische“ Camouflage von Verrat, gründet zu sein, daß die Rezeption so segmentär, Verschwörung und Charaktermasken. „Charisma“ auf einzelne Begriffe fixiert, verlaufen ist, und ist die strukturell immer mögliche und affektuell dadurch die Analysekraft der WEBERschen So­ plötzlich realisierbare Erosion institutionalisier­ ziologie für die moderne Soziologie nicht verfüg­ ten Verhaltens durch spezifisch soziale Prozesse bar geworden ist. Diese Art der Rezeption, die der Entlegitimierung von Regeln zugunsten der sich einzelne Definitionen, etwa des sozialen personifizierten Wertdramatisierung. Die Ursa­ Handelns, der Macht, der Herrschaft, der Büro­ chen für charismatische Durchbrüche liegen nicht kratie und der Legitimitätsformen, isolierend in den Persönlichkeiten von charismatischen Füh­ aneignet, führt zu einem taxonomischen und rern, sondern in der systematischen Spannung undynamischen Verständnis des WEBERschen zwischen formaler und materialer Rationalität Erbes und hemmt Versuche der Weiterführung und dem darauf gerichteten Handeln30. und Neubildung. Gerade dies aber wäre notwen­ dig für eine Anwendungsfähigkeit der WEBER­ WEBERS Soziologie ist offen, entwicklungsfähig schen Soziologie auf die Gegenwart. und entwicklungsbedürftig. Wenn wir in WEBERS Soziologie historische Modelle und Entwicklungs­ Unter der Fülle der sich hier stellenden Aufga­ theorien unterscheiden, wie dies GÜNTHER ben möchte ich nur zwei beispielsweise andeu- ROTH vorschlägt31, so kann man sagen, daß ten. Angesichts des völligen Mangels an einer so­ die von WEBER geschaffenen sozialhistorischen ziologischen und systematischen Analyse der Modelle, wie etwa diejenigen des Patrimonialis- Gegenwartskultur und ihrer Bedeutung für die mus, der charismatischen Gemeinschaft, der Bü­ soziale und politische Entwicklung bedarf WE­ rokratie, keine systematische Geschlossenheit BERS vergleichende Religionssoziologie der Wei­ aufweisen und daher ergänzungsbedürftig sind, und daß andererseits die von WEBER entworfe­ 32 Vgl. in diesem Sinne auch BENDIX 1960 und 1972. nen Entwicklungstheorien, wie die der Rationa­ Dazu auch neuestens WEISS 1975, der die weitere lisierung und des Kapitalismus, prinzipiell multi­ Entwicklungsfähigkeit und Entwicklungsbedürftig­ dimensionaler Art und daher in der Entwicklungs­ keit der WEBERschen Soziologie herausarbeitet. richtung offen sind. Die oft betonte „Unfertig­ 33 Unter den Arbeiten, die WEBERsche Analyseansätze keit“ der WEBERschen Soziologie, die „Torso- und nicht nur einzelne Kategorien für Gegenwartspro­ haftigkeit“ seines Werkes sind daher nicht nur bleme anwenden, seien nur einige herausgestellt: TAL- auf seinen frühen Tod zurückzuführen, sie sind COTT PARSONS, Max Weber and Contemporary Political Crisis (zuerst 1942), in: PARSONS 1969, systematischer Natur, ergeben sich aus seinem gibt mit Hilfe WEBERscher Kategorien eine vorzüg­ Analyseansatz. Das neuerliche Interesse an liche Analyse des sich konsolidierenden nationalso­ MAX WEBER hätte sich daher nicht nur auf die zialistischen Herrschaftssystems. REINHARD BEN­ Rekonstruktion seines Werkes zu richten, so not­ DIX versucht, das Regime von PRINZ SIHANUK, wendig dies auch immer noch ist, es hätte auch NEHRU, KIM IL SUNG und MAO zu analysieren in seinem Aufsatz Charismatic Leadership. GÜNTHER den Versuch zu unternehmen, die WEBERsche ROTH verwendet das Modell des Patrimonialismus in seinem Aufsatz Personal Rulership, Patrimonia- lism, and Empire-Building, in: BENDIX und ROTH 30 Vgl. dazu ROTH 1975. 1971. JOSEPH NYOMARKAY 1967 gibt unter An­ wendung des Modells des Charisma eine vorzügliche 31 Vgl. den in Anmerkung 30 zitierten Aufsatz und den Analyse der Konfliktformierung und Konfliktlösung vorausgehenden Beitrag Sociological Typology and in der NSDAP unter Herausarbeitung der Wechsel­ Historical Explanation in: REINHARD BENDIX wirkungen zwischen Organisation, Ideologie und und GÜNTHER ROTH, 1971: 109ff. charismatischer Rolle HITLERS. Zur Lage der Soziologie 117 terführung und Ausdehnung auch auf säkularisier­ sammenhänge“ (HONIGSHEIM 1924: 287). te Wertvorstellungen. Mir scheint in WEBERS Re­ ligionssoziologie noch immer die differenzierte­ ste Analyse des Verhältnisses von Ideen und In­ teressen und ihrer gegenseitigen sozialen Vermitt­ Literatur lung vorzuliegen. Die Verkümmerung der Reli­ ALBERT, H., E. TOPITSCH, 1971: Werturteilsstreit. gionssoziologie bedeutet ja die Vernachlässigung Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. einer der Hauptdimensionen soziologischer BAUMGARTEN, E., 1964: Max Weber. Werk und Per­ Analyse überhaupt, der Erforschung institutiona­ son. Tübingen: Mohr. lisierter Sinndeutungen und individueller Wertbe­ BEETHAM, D., 1974: Max Weber and the Theory of Modern Politics. London. ziehungen. Die zweite Aufgabe bezieht sich auf BENDIX, R., 1960: Max Weber. Das Werk. München die systematische Analyse von Verfahrensweisen 1964: Piper. im Zuge der beständig fortschreitenden Reform BENDIX, R., G. ROTH, 1971: Scholarship and Partisan­ und Neubüdung von Institutionen in der Gegen­ ship. Essays on Max Weber. Berkeley: University of California Press. wartsgesellschaft. WEBER selbst hat die Bedeu­ BENDIX, R., 1972: Max Webers Soziologie heute. In: tung von Verfahren stets herausgestellt bei der Max Weber. Sein Werk und seine Wirkung, hersg. von Analyse von Machtverhältnissen und Interessen­ D. Käsler. München: Nymphenburger Verlagshand­ formierungen, bei der Beurteilung von Innova­ lung. tionsfähigkeit und rationaler Steuerungsfähigkeit BOSL, K., 1969: Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und sozialer Prozesse. Die von ihm beschworenen ihre Folgen. München und Wien: Oldenburg. Gefahren der „Ägyptisierung“, des bürokratisch BRUUN, H.H., 1972: Science, Values and Politics in verwalteten „Gehäuses der Hörigkeit“ können Max Weber’s Methodology. Copenhagen: Munks- nur durch die bewußte Aufrechterhaltung der gaard. EISENSTADT, S.N., 1968: The Protestant Ethic and prekären Balance zwischen formaler und mate­ Modernization. New York: Basic Books. rialer Rationalität in strukturell differenzierten FRANK, L., 1952: Links wo das Herz ist. München: Institutionen abgewendet werden. Dies aber er­ Nymphenburger Verlagshandlung. fordert eine systematische und empirische Un­ GREEN, M., 1974: The von Richthofen Sisters. The tersuchung des beständig fortschreitenden Pro­ Triumphant and the Tragic Modes of Love. New York: Basic Books. zesses der institutioneilen Neubildungen im Zuge GREEN, R.W., 1959: Protestantism and Capitalism. des andauernden Modernisierungsprozesses gera­ Boston: Heath. de der fortgeschrittenen Industriegesellschaften GREEN, R.W., 1973: Protestantism, Capitalism, and demokratischen Typs. Notwendig ist daher auch Social Science. Lexington: Heath. eine Belebung der Rechtssoziologie, wie sie von HENRICH, D., 1952: Die Einheit der Wissenschaftsleh­ re Max Webers. Tübingen: Mohr. WEBER entfaltet wurde, nicht als einer Soziolo­ HONIGSHEIM, P., 1926: Der Max-Weber-Kreis in Hei­ gie der Rechtsberufe und der Resozialisierung delberg. Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie von Strafgefangenen — so wichtig auch dies ist —, 5. Jg. sondern als einer Soziologie von Verfahrensord­ HONIGSHEIM, P., 1963: Max Weber in Heidelberg. In: Max Weber zum Gedächtnis, hersg. von R Kö­ nungen und ihren Folgen. nig und J. Winckelmann. Kölner Zeitschrift für So­ ziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7. Nicht der „Mythos der deutschen Soziologie“ HUBER, G., 1973: Das klassische Schwabing. München: würde es verdienen, Gegenstand dieser Gedenk­ Schriftenreihe des Stadtarchivs München. JASPERS, K., 1958: Max Weber. Politiker, Forscher, feier zu sein, nur der Mann, dessen Erbe wir Philosoph, (zuerst 193 2). München: Piper. uns noch nicht so angeeignet haben, daß wir es KÖNIG, R., J. WINCKELMANN, 1963: Max Weber in das Arsenal unserer intellektuellen Werkzeuge zum Gedächtnis. Kölner Zeitschrift für Soziologie zur Bewältigung unserer Tage und der zukünfti­ und Sozialpolitik, Sonderheft 7. gen Gestaltung des menschlichen Zusammen­ LOEWENSTEIN, K., 1966: Persönliche Erinnerungen an Max Weber. In: Gedächtnisschrift der Universität lebens voll eingefügt und anwendungsfähig ge­ München, hersg. von K. Engisch, B. Pfister, J. Winckel­ macht haben. Durch die Zuwendung zu dieser mann. Berlin: Duncker und Humblot. Aufgabe gedenken wir MAX WEBERS weit MITCHELL, A., 1967: Revolution in Bayern 1918/19. angemessener als durch Personenkult oder Ver­ Die Eisner-Regierung und die Räterrepublik. München Beck. suche zu einer nachträglichen Schulbildung. MITZMAN, A., 1971: The Iron Cage. An Historical In­ „Denn Personenkult war ihm ein Greuel, und terpretation of Max Weber. New York: Universal als Antidogmatiker perhorreszierte er Schulzu­ Library. 118 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 1, Januar 1977, S. 9 1 -1 1 8

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