CARL HEINRICH BECKER (1876-1933), ORIENTALIST UND KULTURPOLITIKER

VON

CORNELIA ESSNER UND GERD WINKELHANE

Berlin

Zur Biographie

,,Die orientalischen Studien", schrieb 1946 Beckers Schuler Hans Heinrich Schaeder, ,,(k6nnen) leicht so angelegt werden (...), dafl sie sich mit lauter Dingen befassen, die dem taglichen Le- ben und seinem Anliegen so fern liegen wie moglich. Man betreibt sie fur gewohnlich allein oder im kleinsten Kreise, mit einem Min- destmafi von Gemeinsamkeit und Austausch. Grund genug dafur, dai3 die Hingabe an diese Studien einer Flucht aus der Wirklichkeit nahe kommen kann und jedenfalls dazu angetan ist, Sonderlinge zu zuchten."' 1 Betrachtet man die markantesten Punkte in der Berufslaufbahn von C. H. Becker, so fallt sofort die mangelnde Ubereinstimmung mit dem eben geschilderten Orientalisten-Image ins Auge: 1876 in als Sohn eines vermogenden Kaufmanns geboren, 1899 in promoviert, danach zwei Reisen nach Sudeuro- pa, Agypten und Kleinasien, 1908 bis 1913 Professor in am neugegrundeten Seminar far Geschichte und Kultur des Orients, 1916 Personalreferent im Preuflischen Kultusministerium und Honorarprofessor an der Berliner Universitat, 1919 sowie 1921 bis 1925 Staatssekretdr, 1921 und 1925 bis 1930 Preuflischer Minister fur Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 1930 Direktor des Instituts fur Semitistik und Islamkunde dcr Universitat , 1931/1932 Reise nach Ostasien im Auftrag des Volkerbundes. Im Februar 1933 starb Becker, kurz nach der nationalsozialisti- schen "Machtergreifung" . Uberblickt man nun die Nachrufe, so

' In: Die Sammlung1 (1946), H. 8, 452. 155 uberwiegen die, die den Politiker wurdigen, der der Weimarer Re- publik von ihrer Entstehung bis zu ihrem Ende diente. Bereits an- l£fllich seines Rucktritts als Kultusminister 1930 veroffentlichten die Zeitungen eine Vielzahl solcher 'Nachrufe' zu Lebzeiten. Die Fachwissenschaft blieb hingegen angesichts des Todes eines namhaften Zunftgenossen auffallig stumm. In keiner der renom- mierten orientalistischen Zeitschriften erschien ein Nachruf.1 Vier- zehn Jahre im Rampenlicht der Politik scheinen den Orientalisten Becker seiner "scientific community" entfremdet zu haben. Erst vier Jahre nach seinem Tod erschien ein Nachruf von sei- nem Schuler im Islam, der von Becker gegründeten Zeitschrift.3 Die gro?e Rezeptionswelle Beckers setzte dann nach 1945 ein, als im Nachkriegs-Deutschland nach humanen Traditio- nen in der Vergangenheit gefahndet wurde. Aber auch diese Wur- digungen bezogen sich weitgehend auf den liberalen Kulturpoliti- ker der Weimarer Republik, den "Siegelbewahrer des Humanen" .4 1959 erschien eine Biographie, verfaflt von einem en- gen Mitarbeiter aus dem Kultusministerium, die dann wiederum Ritter Anlai3 gab, sich kritisch mit Person und Werk seines Lehrers auseinanderzusetzen.5 I Und doch hat der Orientalist Becker in der Geschichte seiner Disziplin einen unangefochtenen Platz als ,Begr3nder der Islam- kunde in Deutschland"6 eingenommen. Hier allerdings wird die

2 Inwieweit dies als Symptom der Anpassung an die neue politische Lage inter- pretiert werden kann, kann hier nicht weiter er6rtert werden, zumal eine diszi- plinhistorische Aufarbeitung des deutschen Faschismus erst kurzlich begonnen hat. Vgl. z.B. Wolf Lepenies (Hg.), Wissenschaftenim Nationalsozialismus,in: Ge- schichteund Gesellschaft12 (1986), H. 3; Heinrich Becker et al. (Hg.): Die Uni'versi'tdi Göttingenunter dem Nationalsozialismus. Das verdrdngteKapitel ihrer250jahrigen Geschich- te, Munchen usw. 1987, 5 ff. 3 Carl Heinrich Beckerals Orientalist, in: Der Islam 24 (1937), 175-185. 4 So der Titel eines Aufsatzes von (1931), wiederabgedruckt in: Hans Heinrich Schaeder (Hg.), Carl HeinrichBecker. Ein Gedenkbuch,Göttingen 1950. 5 Erich Wende, C. H. Becker.Mensch und Politiker. Ein biographischerBeitrag zur Kulturgeschichteder WeimarerRepublik, Stuttgart 1959; und Hellmut Ritter, DemAn- denkenan C. H. Becker,den Begründerdieser Zeitschrift, in: Der Islam 38 (1963), 272-82. Zum 100. Geburtstag verfal3te Beckers Sohn Hellmut den Artikel Portrait einesKul- tusministers,in: Merkur, 30.Jg., H. 4 (1976), 365-376. 6 Vgl. z.B. Fritz Steppat, Der Beitrag der deutschenOrientalistik zum Verständnisdes Islam, in: Zeitschrift furKulturaustausch 35, H. 3 (1985), 387.