BUCHENWALD AUSGRENZUNG UND GEWALT 1937 BIS 1945

Themenband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald Herausgegeben im Auftrag des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, Dr. Andreas Jantowski und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von Volkhard Knigge in Zusammenarbeit mit Michael Löffelsender, Rikola-Gunnar Lüttgenau und Harry Stein Diese Reihe wird vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien verlegt, sie stellt jedoch keine verbindliche, amtliche Verlautbarung dar. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich auf Personen beiderlei Geschlechts. Dem Freistaat Thüringen, vertreten durch das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, sind alle Rechte der Veröffentlichung, Verbreitung, Übersetzung und auch die Einspeicherung und Ausgabe in Datenbanken vorbehalten. Die Herstellung von Kopien und Auszügen zur Verwendung an Thüringer Bildungseinrichtungen, insbesondere für Unterrichtszwecke, ist gestattet. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung.

ISSN 0944-8691 ISBN 978-3-9816900-3-3

Bad Berka 2016

1. Auflage

BUCHENWALD AUSGRENZUNG UND GEWALT 1937 BIS 1945

Themenband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald Herausgegeben im Auftrag des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, Dr. Andreas Jantowski und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von Volkhard Knigge in Zusammenarbeit mit Michael Löffelsender, Rikola-Gunnar Lüttgenau und Harry Stein

Lektorat: Katharina Brand, Stefanie Dellemann Mitarbeit Biografien: René Bienert

Ausstellungsfotografien: Claus Bach

Objektfotografien: Claus Bach, Katharina Brand, Peter Hansen

Gestaltung: werkraum.media, , Frieder Kraft unter Mitarbeit von Christian Brüheim und Ralf Jehnert

Typographie: 0445 (2xGoldstein, Rheinstetten)

Titelabbildung: Lagertor (Fotos: Gedenkstätte Buchenwald / The International Court of Justice, The Hague; Montage: Frieder Kraft)

Druck: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar

Die Publikation wird gegen eine Schutzgebühr von 4 Euro abgegeben.

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Thüringer Staatskanzlei.

Vorworte

Volkhard Knigge 6

Andreas Jantowski 10 Buchenwald Menschlicher Leidensort – verstörender Lernort Ausstellung

Nationalsozialismus und Gewalt 14 Weimar – Kulturstadt des Nationalsozialismus 16 Ein Konzentrationslager wird gebaut 23 Novemberpogrom 30 Lebensgeschichten 34

Krieg und Verbrechen 40 Antisemitische Feindbilder und Massenmord 42 Die Mörder 46 Die Zwangsordnung des Lagers 52 Verbrechen und Kooperation 62 Lebensgeschichten 72

Dinge – Geschichten 78 Einkleidung 82 Unterernährung 88 Selbstbehauptung 92

„Totaler Krieg“ 96 Ein Lager für die Kriegswirtschaft 98 Zwangsarbeiter für den „Endsieg“ 104 Selektion und Zwangsarbeit 110 Solidarität und Widerstand 122 Lebensgeschichten 130

Die letzten Monate 140 Der 24. August 1944 142 Die Räumungstransporte 146 Massensterben im Kleinen Lager 148 Todesmärsche 154 Lebensgeschichten 162 April 1945 – die Tage bis zur Befreiung 172

2 | 3 Nach der Befreiung 184

Ivan Ivanji 200 Statt eines Nachwortes – Mein Weimar Honig und Galle

Chronologie 206 Aufsätze

Christian Geulen 224 Rassismus und Nationalsozialismus: Eine kurze Ideologiegeschichte

Tim B. Müller 230 Völkisches und antidemokratisches Denken vor 1933

Johannes Tuchel 240 Nationalsozialistische Herrschaftssicherung und Verfolgungspraxis 1933 bis 1937

Ulrich Herbert 248 Die deutsche Gesellschaft im „Dritten Reich“

Nachwort

Norbert Frei Nach der Zeitgenossenschaft 258

Anhang

Quellenverzeichnis 260 Impressum 262 Dank 266

Bildungsarbeit am außerschulischen Lernort Buchenwald 269

INHALT

Jedem das Seine Volkhard Knigge

Jedem das Seine – gibt es ein schöneres und vor wenigen Jahren gehörten Besucherinnen menschlicheres Versprechen als das, jeder und und Besucher von KZ-Gedenkstätten in be- jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, trächtlichem Ausmaß der Beteiligtengeneration persönliche Interessen, Neigungen und Bedürf- an oder zählten zu deren Kindern. Ihnen war die nisse zu respektieren, niemanden zu benachtei- Vergangenheit – wie ausschnitthaft, zurecht- ligen, herabzusetzen, keinem zu schaden, keinen gerückt und eingefärbt auch immer – als Erfah- zu verletzen, Menschen in ihrer Gleichheit und rung und Erinnerung mittel- oder unmittelbar Unterschiedlichkeit, in ihrer Individualität und gegenwärtig. Erkaltete und gegenwartsferne Besonderheit zu würdigen und zu achten, jeder Geschichte war diesen Besuchern die Geschich- und jedem Stimme und Platz in der Gesellschaft te des nationalsozialistischen Deutschland, zu verbürgen? „Die Gebote des Rechts sind des Zweiten Weltkrieges und der begangenen folgende: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, Menschheitsverbrechen nicht. Noch im Sträuben jedem das Seine gewähren“ – so formuliert der gegen die Auseinandersetzung damit zeigte sich römische Corpus Iuris Civilis aus der Mitte des deren Lebendigkeit und Relevanz. 6. Jahrhunderts vollständig den Rechtsgrund- satz, auf den die Kurzform Jedem das Seine zu- Dass dies heute, Jahrzehnte nach Ende des rückgeht. Im Frühjahr 1938, wenige Monate nach Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der Beginn der Errichtung des Konzentrationslagers Lager, dass dies heute infolge von Migration Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar, und Einwanderung anders geworden ist, ist ist diese Formel auf Veranlassung des Lager- eine banale, aber ernstzunehmende Fest- kommandanten Karl Otto Koch in geschmiede- stellung. Denn man kann – und ein Blick in die ten Buchstaben als Motto der SS in das Tor des Erinnerungskultur und die neuen und neuesten Konzentrationslagers eingelassen worden. Auf Ausstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhun- die Sicht von innen, auf den Appellplatz, auf die derts, des Holocaust und anderer Staats- und Häftlinge dort ausgerichtet, demonstrierte die Gesellschaftsverbrechen erweist das – auf die Inschrift gebieterisch das angebliche Recht der zeitliche oder herkunftsgeschichtliche Entfer- SS und des nationalsozialistischen Deutschland nung der Vergangenheit von der Gegenwart auf auf die brutale Ausgrenzung von Menschen aus drei Weisen reagieren: Man kann die normative der Gesellschaft – aus politischen, sozialen und Rhetorik und das Pathos der Erinnerung steigern. rassistischen Gründen. Man kann so tun, als ließe sich Vergangenheit medial authentisch verlebendigen und unmit- Ausstellungen an den Orten ehemaliger natio- telbar, so als sei man selbst mitten darin, nach- nalsozialistischer Konzentrationslager in der oder miterleben. Man kann aber auch danach Bundesrepublik Deutschland hatten und haben fragen und erfahrbar zu machen versuchen, was die Aufgabe, die dort geschehenen Verbrechen an Geschichte und historischer Erfahrung für gegen deren Verharmlosung oder Verleugnung Gegenwart und Zukunft virulent und relevant unwiderlegbar zu dokumentieren und darzustel- bleibt. len sowie den Verfolgten Gesicht und Stimme zu geben. Sie sind Foren, in denen transnational Die Ausstellung Buchenwald. Ausgrenzung und interkulturell über die Bedeutung der Ver- und Gewalt 1937 bis 1945 geht letzteren Weg. gangenheit für die Gegenwart nachgedacht und Denn moralisierendes Pathos erzeugt auf Dauer diskutiert wird. In der Vergangenheit wendeten Widerwillen und bewirkt kein historisches Be- sie sich dabei in erheblichem Maße an Zeitge- greifen. Unmittelbar verlebendigen und erleben nossen, die den Nationalsozialismus erlebt, wenn lässt sich Vergangenheit nicht. Denn Geschichte nicht mitgestaltet hatten, die von ihm geprägt als Darstellung der Vergangenheit ist – selbst in worden waren und die sich nach 1945 mit diesem der Form einer Ausstellung – nicht Spiegelung, Teil ihres Lebens arrangiert oder kritisch auf- sondern Konstruktion und Interpretation. Eine arbeitend auseinandergesetzt hatten. Noch bis Konstruktion allerdings, die nicht beliebig oder

6 | 7 rein fiktional ist, wenn sie die überlieferten his- lagen einer friedlichen Ordnung zerstört worden torischen Zeugnisse methodisch sorgfältig er- waren – demokratische Gewaltenteilung, Gleich- schließt und entsprechend präsentiert. Deshalb heit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und alle kann mittels Ausstellungen historische Erfah- anderen Bürgerrechte – und Medien, Justiz und rung annähernd begreifbar werden und – das ist staatliche Verwaltungen nur noch im Sinne der ein elementares Ziel der neuen Dauerausstel- Nationalsozialisten funktionierten. Zum anderen, lung –, es lässt sich mit ihrer Hilfe erschließen, weil die Einstufung der Menschen in angeblich was man besser nicht tun sollte, damit Staat Höher- und Minderwertige, weil das Bestreiten und Gesellschaft nicht inhuman umkippen; was unteilbarer Menschenwürde die Gewalt befeuer- man nicht tun sollte sowohl im Alltag unmittel- ten und als zwingend erklärten. bar zwischen Menschen als auch in den Berei- chen von Politik und staatlicher Verfassung, des Angesichts dessen gilt es, die Fassungslosig- Sozialen, des Kulturellen oder des Rechts. keit zu bewahren und zivilisatorisch fruchtbar zu machen, die sich einstellt, wenn man be- Allerdings kommt hier eine weitere Vorausset- greift, wie schnell und widerstandslos sich der zung hinzu, der die Ausstellung in ausdrücklicher Umbruch und die Etablierung der nationalsozi- Absetzung von einem Trend der Erinnerungs- alistischen Herrschaft vollzog: „Wieder ist es kultur Rechnung trägt: Die Auseinandersetzung erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht“, mit dem Nationalsozialismus darf sich nicht notierte der Romanist und Philologe Victor entkontextualisierend auf das Grauen der Lager Klemperer am 10. März 1933 in seinem Tagebuch. einengen. Die Lager waren keine isolierten Inseln Zur gleichen Zeit resümierte der Schriftsteller des namenlos Bösen. Die Verbrechen geschahen Robert Musil: „Freiheit der Presse, der Äuße- nicht irgendwo abseits, sondern – wie es der rung überhaupt, Gewissensfreiheit, persönliche Auschwitz- und Mittelbau-Dora-Überlebende Würde – Geistesfreiheit – usw., alle die liberalen Jean Améry aus bitterer Erfahrung formulierte – Grundrechte sind jetzt beseitigt, ohne daß es „mitten im deutschen Volke“. Deshalb ver- nur einen einzigen zum äußersten empörte, ja schränkt die Ausstellung den Blick in die Lager im ganzen, ohne daß es die Leute überhaupt mit dem Blick in die deutsche Gesellschaft; eine stark berührt.“ Diese beiden Beispiele für eine Gesellschaft, die Lager und Ausgrenzung über- im damaligen Deutschland, angesichts der wiegend akzeptierte, für gerechtfertigt und reibungslosen Machtübergabe an Hitler und die notwendig hielt, die kaum Anstoß nahm, die sich Nationalsozialisten, außergewöhnliche Fas- der Lager und Häftlinge dort vielfach bediente sungslosigkeit können für die Brüchigkeit unse- und die schließlich mit dem „totalen Krieg“ von rer Gegenwart sensibilisieren; einer Gegenwart, Lagern flächendeckend durchsetzt war. Die in der völkischer Nationalismus, rassistische reibungslose Nachbarschaft von Weimar und Bu- Ungleichwertigkeitsideologien, kulturelle Illibera- chenwald ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. lität und antidemokratisches Denken keineswegs überwunden sind. Vor diesem Hintergrund liegt die fortdauernde Relevanz von Geschichte und Erfahrung des Na- Auch deshalb haben Überlebende in der Aus- tionalsozialismus nicht zuletzt in der Erkenntnis, stellung das letzte Wort. Nicht aber, um sich an wie vergiftet das propagierte Ziel der Schaffung ihnen zu erbauen oder sich mit ihrem Überleben einer ethnisch homogenen, „rassereinen“, har- voreilig zu trösten. Vielmehr will die Ausstellung monischen „Volksgemeinschaft“ frei von sozi- bewusst machen und im Bewusstsein halten, alen und politischen Konflikten war. Jedem das dass es Überlebende waren, die von Anfang an – Seine nationalsozialistisch gewendet bedeutete man denke z. B. an Eugen Kogon, Bruno Bettel- nichts anderes, als die Schaffung von Verhält- heim, Benedikt Kautsky oder Robert Antelme – nissen, die auf Gewalt fußten und die unablässig nicht nur von den Lagern und dem, was dort Gewalt erzeugten. Zum einen, weil die Grund- geschehen war, berichteten, sondern dass

VORWORT sie die Lagererfahrung auf ihre Bedeutung für und Verfolgungsgeschichten von Häftlingen. Gegenwart und Zukunft befragen und durch- Exemplarisch verdeutlichen sie die Zusammen- dringen wollten: in politischer, in moralischer, setzung der Häftlingsgesellschaft im KZ Buchen- in sozio-kultureller, in anthropologischer oder wald. Drittens thematisieren Sachzeugnisse aus ästhetischer Perspektive. Die bloße Darstellung dem Lager bzw. aus dem Besitz von Häftlingen der Schrecken erschien ihnen unangemessen, („Dinge – Geschichten“) wesentliche Aspekte eine erkenntnisarme Widerspiegelung von Leid des Lageralltags: Einkleidung, Unterernährung und Gewalt keineswegs geeignet, Ähnliches in und Selbstbehauptung. Wie in der Ausstellung Zukunft unmöglich zu machen. Mit Buchenwald spricht am Ende einer, der das KZ Buchenwald verbinden sich trotz aller Leiden und national- am eigenen Leib erfahren musste. Der ehemalige sozialistisch praktizierter Gegenmenschlichkeit Diplomat und Schriftsteller Ivan Ivanji rekapitu- auch elementare Impulse für eine gerechtere liert seine Erfahrung mit Weimar – Weimar als und mitmenschlichere Welt. historischen Ort, als Symbol, als janusköpfige Erfahrung und Orientierung. Die Dauerausstellung Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945 ist die letzte große Die eigens für diesen Band geschriebenen Ausstellung, die in der Bundesrepublik Deutsch- Aufsätze ordnen die engere Geschichte des land gemeinsam von Überlebenden, Historikern, Konzentrationslagers in für ein umfassenderes Museologen und Geschichtsdidaktikern auf den Verständnis relevante Vor- und Nachgeschichten Weg gebracht worden ist. In ihr verbinden sich ein: von der Geschichte des modernen Rassis- Abschied und Zukunft. mus und des völkisch-antidemokratischen Den- kens bis hin zur Geschichte der Zeugenschaft Abschied von der Vergangenheit in Gestalt Überlebender nach 1945. Gleichzeitig vertiefen lebendiger Erinnerung, aber nicht in Gestalt sie den Blick auf die deutsche Gesellschaft im absoluter Historisierung. Die mit der Aufar- Nationalsozialismus und auf die Entstehung und beitung des Nationalsozialismus verbundenen Funktion der Konzentrationslager vor und im von politischen und moralischen Impulse sind ebenso Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg. wenig historisierbar wie die oben angesproche- ne Fassungslosigkeit. Volkhard Knigge Zukunft, weil sich mit ihrer Entstehung die feste Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Absicht aller Beteiligten verbindet, der staatlich Buchenwald und Mittelbau-Dora legitimierten, gesellschaftlich mitgetragenen oder hingenommenen Gegenmenschlichkeit nicht das letzte Wort zu lassen.

Der Begleitband dokumentiert die Dauerausstel- lung in ihren wesentlichen Zügen. Er folgt ihrem thematischen Aufbau und spiegelt ihre drei zen- tralen, auf je besondere Weise gestalteten Zu- gänge wider. In vier Kapiteln wird die Geschichte des KZ Buchenwald und seiner Einbindung in die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus anhand zentraler Zeugnisse, Objekte, Fotos und Dokumente dargestellt. Der ergänzende Epilog („Nach der Befreiung“) wirft den Blick schlag- lichtartig auf die Nachgeschichte des Lagers. Einen zweiten Zugang bilden die über 80 Lebens-

Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Herausgegeben von Walter Nowojski, 1995 Robert Musil, Tagebücher. Herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek 1983

8 | 9 „Wieder ist es erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht.“

VICTOR KLEMPERER, 10. MÄRZ 1933

„Freiheit der Presse, der Äußerung überhaupt, Gewissensfreiheit, persönliche Würde – Geistesfreiheit – usw., alle die liberalen Grundrechte sind jetzt beseitigt, ohne daß es nur einen einzigen zum äußersten empörte, ja im ganzen, ohne daß es die Leute überhaupt stark berührt.“

ROBERT MUSIL, MÄRZ 1933

VORWORT Buchenwald Menschlicher Leidensort – verstörender Lernort Andreas Jantowski

Am Lagertor stehen fünfundzwanzig Schülerin- Korrektur. Muss man daher aus pädagogischen nen und Schüler der „Neunten“ mit ihrer Leh- Erwägungen „dankbar“ sein für jede, noch so rerin. Sie befinden sich auf einer Klassenfahrt platte, Äußerung jugendlicher Provokationslust? nach Weimar und heute steht der Besuch der Gedenkstätte Buchenwald auf dem Programm. Um auch die „stille“ Werteausprägung päda- Im Geschichtslehrplan ist der Zweite Weltkrieg gogisch in den Blick zu nehmen, muss man sich zwar erst in der zehnten Klassenstufe Lernge- auch dem aktuellen Geflecht von Einflüssen, genstand und die Lehrerin fragt sich jedes Jahr Abhängigkeiten und Konflikten stellen, die unsere bei dieser Fahrt mit den „Neunten“ wieder, ob die Gesellschaft kennzeichnen. In Analogie zum Schülerinnen und Schüler vielleicht noch zu jung sprachlichen Bild des „Hin- und Herwandern des sind für diesen speziellen „außerschulischen Blicks“, wie ihn der Jurist Josef Esser verwendet, Lernort“, so der exakte Begriff in der Sprache bedarf es einer Brücke zu der Generation, von der Lehrpläne. Aber in der „Zehnten“ sind Prü- der man nicht automatisch erwarten kann, dass fungen, die Abschlussfahrt und andere schul- sie sich intensiv mit der Vergangenheit verbun- organisatorische Schwerpunkte in ihrer Schule den fühlt, eine Generation mit ihren eigenen Er- vorgesehen. Auf den Besuch dieses Lernortes zu fahrungswelten, weit entfernt von den Gescheh- verzichten, kommt für die Lehrerin nicht in Frage. nissen damals – eine Brücke zu den Menschen Sie ist der Meinung, dass jede Schülerin und dieser Generation, mit all ihren Wahrnehmungen, jeder Schüler während der Schulzeit in Thüringen Positionen und Distanzierungsbedürfnissen, eine diese Gedenkstätte besucht haben sollte und sie reflektierende Selbstvergewisserung über das weiß, dass das wieder nicht leicht sein wird. Da Erinnern. Dabei werden individuelle und kollek- ist dieser Schüler, der auch in der Schule immer tive Voreingenommenheiten offengelegt, die dif- wieder auffällt und der sich zur Inschrift „Jedem fuse Gefühlslagen auslösen können. Im Prozess das Seine“ am Lagertor lautstark äußert, dass des Ringens um eine Wertebildung, die sich am er die Inschrift, trotz des ganzen „Betroffen- Maßstab der Menschenwürde orientiert, gilt es, heitsgetues“, richtig finde. Der Lehrerin ist diese pädagogisch gefühlvoll zunächst auf Gelungenes Äußerung peinlich und sie fragt sich, warum sie einzugehen und nicht vordergründig Defizite und sich das jedes Mal „antut“. Verunsicherungen zu thematisieren. Auf diese Weise wird, nach und nach, das Verhältnis von So oder ähnlich könnte das Ausgangsszenario Individuum und Gesellschaft sichtbar, damals aussehen, wenn mit dem Gang durch das ehe- wie heute, und unterstreicht die Handlungs- malige Lagertor des KZ Buchenwald auch das macht des Einzelnen sowie der gesellschaft- Tor zu einer Form der Bildungsarbeit aufgesto- lichen Institutionen in Bezug auf Grundsätze, ßen wird, die darauf aus ist, Einstellungen und Haltungen und Maßnahmen zur Abwertung der Werthaltungen zu beeinflussen. Das ist eine Anderen. An diesem Bezugspunkt bleibt dann pädagogische Aufgabe, die höchste Sensibilität auch kein Platz, das „Dritte Reich“ zu einem erfordert, denn die Schülerinnen und Schüler sozialen Wohlfahrtsstaat zu stilisieren, in dem bringen ihre Konstruktionen der Welt bereits Solidarität und Fürsorglichkeit herrschten. In so in die Schule mit. Deshalb wird es auch darum einer Atmosphäre wird langsam spürbar, dass gehen, diese erst einmal zu hinterfragen, um man eben nicht bequemerweise vergessen oder den Prozess der eigenen Positionierung anzu- verdrängen sollte, weil in jeder Gesellschaft vor- stoßen. Dass es durchaus mit gewissen Risiken urteilsbehaftete Einstellungen handlungssteu- verbunden ist, laut Stellung zu beziehen, lernen ernd sein können. So ist auch eine Annäherung die Schülerinnen und Schüler schnell. Die Mei- an die Angst derer möglich, die ausgegrenzt, nungsbildung und Wertorientierung vollzieht sich entrechtet, täglich mit dem Tod damals rech- aus diesem Grund nicht selten eher geräuschlos neten und in einigen Teilen der Erde auch heute und entzieht sich daher mancher notwendigen unsägliches Leid erdulden müssen.

10 | 11 Dieses Hin- und Herwandern des Blicks erhellt sierungs- und Liberalisierungsprozessen moder- auch die Bedeutung der Inschrift des Lagerto- ner Gesellschaften werde es keine verbindlichen res und richtet den Blick auf Gelungenes in der Wert- und Sinnvorstellungen geben, hat sich als Aussage des „auffälligen Schülers“ im konstru- offenkundig falsch erwiesen. Die wertgebende ierten Ausgangsszenario. Auf gerade auch für Ordnung des Grundgesetzes, die den Pluralismus junge Menschen leicht nachvollziehbare Weise ermöglicht und Toleranz voraussetzt, hat sich verdeutlicht das der Prolog der neuen Daueraus- bewährt.“ (Oberreuther in Zitation von Huwen- stellung „Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt diek, Mäder, Pfennings 2009, S. 1) 1937 bis 1945“. In Gestalt einer audio-visuellen Animation vermittelt er, auf das Wesentliche Es wäre zudem nicht sachgerecht, sich nur kri- konzentriert, ereignisgeschichtliche Etappen der tisch mit der bestehenden Werteordnung ausei- politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen nanderzusetzen und Strategien zur Wertefindung Transformation in Deutschland von der Macht- zu entwickeln, ohne die Fundamente des gegen- übergabe an Hitler und die NSDAP 1933 bis zum wärtigen Wertesystems zu kennen. Anerkennt Bau des KZ Buchenwald 1937. Anschaulich wird man die Wertvorstellungen hinter dem Grundge- die – beinahe widerstandslos hingenommene, setz und geht davon aus, dass die Werte der be- von vielen begrüßte und mitgestaltete – Trans- stehenden Rechtsordnung in großer historischer formation Deutschlands von der Demokratie zur Tradition stehen, die in unserem Recht als eine rassistischen Diktatur und „Volksgemeinschaft“ fundamentale Errungenschaft des Menschen mit in Gestalt der Verkürzung und rassistischen Um- hohem kulturellen Wert (Schneider 1987, S. 696) deutung eines ursprünglich auf Gleichheit ange- niedergelegt ist, dann ist man bei einem Ansatz, legten römischen Rechtsgrundsatzes zu „Jedem der von Gegnern als „affirmativ“ bezeichnet wird das Seine“. Hier knüpft die Animation symbolisch wegen der akzeptierenden Grundhaltung. Auch an. Parallel umreißt sie ereignisbezogen die sollte die Kritikfähigkeit des Schülers nicht zu nationalsozialistische Zerschlagung der demo- früh strapaziert werden, wie Geißler (1979/80, kratischen Grund- und Bürgerrechte, wie sie von S. 74) sagt, denn Schüler brauchen zunächst zur der Verfassung der Weimarer Republik formuliert persönlichen Orientierung stabile Bezüge. und bis 1933 garantiert waren. Skizziert wird auch die Entwicklung der rassistischen Gesetz- In der Schule und im Unterricht wird den Schü- gebung des „Dritten Reiches“ zur Legalisierung lern klar, dass das Wertesystem nicht vollkom- der Entrechtung, Beraubung und Ausgrenzung men ist, grundlegende Werte für die menschliche angeblich „Gemeinschaftsfremder“, die 1935 in Gesellschaft jedoch von zentraler Bedeutung den „Nürnberger Rassengesetzen“ eskalierten. sind. Sie sind sich der Konsequenzen bewusst, wenn sie gegen diese Werte verstoßen und ent- Unsere heutigen Bildungsstandards verpflichten wickeln die Bereitschaft, Rechte und Anschau- auch deshalb die Lehrenden aus gutem Grund ungen anderer zu achten. Selbstkompetenz auf demokratische Werte und Normen. Insbe- entwickelt sich in diesem Ansatz so, dass sie in sondere die Grundrechte schützen den Bürger, kritischer Auseinandersetzung an der Verbes- auch als Schüler, gegen den Allmachtsanspruch serung und Ausgestaltung dieses grundlegend des Staates und vor Anhäufung übergroßer akzeptierten Wertesystems mitarbeiten. Macht gesellschaftlicher Gruppen. Anliegen der Entwicklung von Selbstkompetenz und Eman- Im Hinblick auf diese Schaffung von Akzeptanz zipation muss es demnach sein, die den Grund- der Grundrechte ist die pädagogische Arbeit in rechten innewohnenden Wertvorstellungen als den Gedenkstätten von großer Bedeutung. In Maßstab, der zu vermitteln ist, zugrunde zu einer Zeit, die auf das Ende der Zeitzeugenschaft legen. In dieser Hinsicht argumentieret auch und die wachsende zeitliche Distanz zu den Oberreuther: „Erfreulich ist der allgemein gesell- historischen Ereignissen pädagogisch reagieren schaftliche Befund: Die These, in den Individuali- und entsprechende Bildungsangebote entwickeln

VORWORT muss, ist die Auseinandersetzung mit den histo- Die weiterentwickelten Lehrpläne in Thüringen rischen Fakten und Relikten am authentischen nehmen deshalb dezidiert Bezug auf den Besuch Ort besonders wichtig. Wie an einem Lernort der von Gedenkstätten im Kontext von Wissensver- Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittel- mittlung und Erinnerungskultur zur Geschichte bau-Dora Werteerziehung, historisches Lernen, des Nationalsozialismus und ermöglichen so Demokratiepädagogik und kritische Ausein- eine breite und tiefgehende Auseinandersetzung andersetzung mit dem Geschehenen erfolgen mit der Thematik in allen Kompetenzbereichen. kann, beschreibt ein Schüler einer 10. Klasse so: Schulen und Gedenkstätten sind wichtige Part- „Jeden von uns durchfuhr ein eiskalter Schauer, ner für den historischen Bildungsprozess unserer als wir den Tunnel betraten. Aber im Gegensatz Schüler. Dies findet seinen institutionalisierten zu den damaligen Häftlingen waren wir in warme Ausdruck auch in der Kooperationsvereinbarung Jacken gepackt. Unsere Schritte hallten und zwischen dem Thillm und der Stiftung Gedenk- wir bildeten uns ein, die Arbeitsgeräusche der stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Gefangenen und die Kommandos der Aufseher zu erfährt seine Untersetzung mit vielen gemein- hören. Wir liefen diesen schier unendlich wir- samen Fortbildungsveranstaltungen, die ins- kenden Tunnel entlang und schauten sprachlos besondere auf die neue Dauerausstellung zur und mit leerem Gesicht auf die Trümmerteile der Geschichte des KZ Buchenwald fokussieren. Vor Raketenproduktion im Stollen des ehemaligen diesem Hintergrund hat das Thillm gemeinsam Konzentrationslagers Mittelbau-Dora in Nord- mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und hausen. Wenn man sich umsah, schaute man Mittelbau-Dora eine eigens für Thüringer Schulen in fassungslose Gesichter, die man sonst nur bestimmte Version des Begleitbandes realisiert. fröhlich kannte. Jeder von uns sehnte sich nach Sie soll auch und gerade der Vor- und Nachberei- einem Licht am Ende des Tunnels, ein Licht, das tung des Gedenkstättenbesuchs dienen. viele Häftlinge nie wieder zu sehen bekamen.“

Andreas Jantowski Direktor des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm)

12 | 13 VORWORT DIE ERSTEN 149 HÄFTLINGE TREFFEN AM 15. JULI 1937 AUS DEM KZ SACHSENHAUSEN AUF DER BAUSTELLE FÜR DAS NEUE KZ BUCHENWALD AUF DEM ETTERSBERG EIN. FOTO: KRIMINALPOLIZEISTELLE WEIMAR

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD 1937-1938 1937 1938

NEU EINGEWIESENE HÄFTLINGE 2.912 20.122

IN ANDERE LAGER ”ÜBERSTELLTE“ ODER ENTLASSENE HÄFTLINGE 303 10.884

DURCHSCHNITTLICHE BELEGUNG DES LAGERS 2.200 7.420

BELEGUNG DES LAGERS AM JAHRESENDE 2.561 11.028

TOTE HÄFTLINGE 53 802 Nationalsozialismus und Gewalt

Deutschland 1937 – Hitlers Partei, die NSDAP, ist unangefochten an der Macht. Die Mehrheit der Bevölkerung identifiziert sich mit der neuen Ord- nung oder hat sich arrangiert. Viele profitieren vom wirtschaftlichen Aufschwung, der mit der Aufrüstung einhergeht.

Die Nationalsozialisten propagieren das Ziel einer „rassereinen“, har- monischen „Volksgemeinschaft“ – frei von sozialen und politischen Kon- flikten. In Wirklichkeit haben sie Verhältnisse geschaffen, die auf Gewalt fußen und fortwährend Gewalt erzeugen. Grundlagen einer friedlichen Ordnung sind zerstört: demokratische Gewaltenteilung, Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und alle anderen Bürgerrechte. Medien, Justiz und staatliche Verwaltungen funktionieren nur noch im Sinne der Nationalsozialisten. Mit der Regierungsübernahme 1933 hat das Regi- me Konzentrationslager eingerichtet. Ihr Zweck, die Verfolgung und Ein- schüchterung von politischen Gegnern, ist erfüllt. Trotzdem werden neue Konzentrationslager gebaut. Jetzt geht es nicht mehr allein um Terror, sondern vor allem um die rassistische Umgestaltung der Gesellschaft.

Die nationalsozialistische Einstufung der Menschen in angeblich Höher- und Minderwertige führt zu permanenter Gewalt. Schon vor dem Krieg werden mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer von Verfolgung und Ausgrenzung: neben den politischen Gefangenen in erster Linie Juden, aber auch als „Zigeuner“ verfolgte Sinti und Roma und andere stigmatisierte Menschen wie Homosexuelle, Vorbestrafte und „Arbeitsscheue“.

14 | 15 WEIMARER BÜRGER VOR DEM MIT HAKENKREUZFAHNEN GESCHMÜCKTEN DEUTSCHEN NATIONALTHEATER, UM 1938.

Weimar – Kulturstadt des Nationalsozialismus

Weimar ist Hauptstadt des NSDAP-Gaus Thüringen und hat als Wirkungs- stätte Goethes und Schillers einen festen Platz im kulturellen Selbstverständ- nis der Deutschen. Das städtische Bürgertum wie auch die Beamtenschaft sind mehrheitlich nationalistisch und antidemokratisch eingestellt. Hier kann die NSDAP schon in den 1920er Jahren ungestört aufmarschieren und 1926 ihren Reichsparteitag im Deutschen Nationaltheater abhalten.

Der Ettersberg, auf dem das neue Konzentrationslager entsteht, ist ein be- kanntes Symbol der Goethe-Zeit. Das KZ wird problemlos zum Bestandteil der Stadt: das Krankenhaus und das Krematorium stehen der SS für ihre Zwecke zur Verfügung. Für Firmen und Geschäfte ist sie ein Kunde wie jeder andere. Nur die anfängliche Bezeichnung „K.L. Ettersberg“ lehnt das Kulturbürgertum wegen des Goethe-Bezugs ab. Die SS-Führung reagiert schnell und ändert den Namen in „K.L. Buchenwald / Post Weimar“.

16 | 17 NS-Kulturgemeinde.

Die Nationalsozialisten benennen Straßen nach ihren Parteigrößen um. Selbst Namen, die für die bekannte Kulturtradition stehen, verschwinden widerstandslos. Die Bezeichnung des neuen Konzentrations- lagers stößt bei der NS-Kulturgemeinde hingegen auf Widerspruch.

DIE WEIMARER NS-KULTURGEMEINDE ERHEBT EINSPRUCH GEGEN DIE BEZEICHNUNG „K.L. ETTERSBERG“, WEIL DER ORTSNAME MIT GOETHE IN ZUSAMMENHANG STEHT. DIE SS LENKT SCHNELL EIN. THEODOR EICKE AN , 24.7.1937

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT SS in Weimar.

Bereits ein Jahr vor Gründung des Konzen- trationslagers werden Mitglieder des Wachver- bandes des KZ Lichtenburg als Stabswache des NSDAP-Gauleiters in Weimar feierlich begrüßt.

MITGLIEDER DES WACHVERBANDES DES KZ LICHTENBURG ALS STABSWACHE DES NSDAP-GAULEITERS IN WEIMAR.

18 | 19 Zwangssterilisation.

Ärzte des städtischen Krankenhauses beteiligen sich am nationalsozia- listischen Programm zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Willig voll- strecken sie die Urteile der „Erbgesundheitsgerichte“. Hunderte, darunter Häftlinge aus dem KZ Buchenwald, werden zwangssterilisiert.

DAS „LANDESAMT FÜR RASSEWESEN“ WEIMAR ERFASST IN KARTEIEN UND AHNENTAFELN DIE „RASSISCHE“ HERKUNFT DER BEVÖLKERUNG. GLEICHZEITIG ERSTELLT ES GUTACHTEN ZUR AUSSONDERUNG UND ZWANGSSTERILISIERUNG DER ANGEBLICH MINDERWERTIGEN.

DIE SS KANN AUF DIE MITARBEIT DES STÄDTISCHEN KRANKENHAUSES WEIMAR UND DER UNIVERSITÄTSKLINIK JENA BEI DER UNFRUCHTBARMACHUNG VON HÄFTLINGEN ZÄHLEN. SS-STANDORTARZT AN DEN LEITENDEN ARZT BEI DER INSPEKTION DER KZ, 25.8.1937

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT Ziegel für die Gauhauptstadt.

Mit der Produktion von Ziegelsteinen für die nationalsozialistische Um- gestaltung Weimars will die SS Einnahmen aus der Häftlingszwangsarbeit erzielen. Eigens dafür errichtet sie eine Ziegelei und ein Außenlager des KZ Buchenwald in Berlstedt.

DER VERKEHRSVEREIN WEIMAR WIRBT MIT DEM IM BAU BEFINDLICHEN NS-GAUFORUM ALS NEUE ATTRAKTION WEIMARS, 1938.

ZIEGELEI BERLSTEDT, DAS ERSTE AUSSENLAGER DES KZ BUCHENWALD, 1939. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

20 | 21 Häftlinge in Weimar.

Schon ab 1938 sind Häftlinge im Stadtbild zu sehen. Selbst bei der Vorbereitung von NS-Großveranstaltungen werden sie eingesetzt.

HÄFTLINGE MÜSSEN QUARTIERE FÜR DEN NSDAP-PARTEITAG VORBEREITEN. IN KLEINEN, VON DER SS BEWACHTEN KOMMANDOS SIND SIE AUCH SPÄTER STÄNDIG IN DER STADT BESCHÄFTIGT. ANFORDERUNG VON HÄFTLINGEN DURCH DEN SS-ABSCHNITT XXVIII, 1.11.1938

EINE HÄFTLINGSKOLONNE, HEIMLICH FOTOGRAFIERT VON EINEM EINWOHNER GABERNDORFS BEI WEIMAR, UM 1940. FOTO: ARMIN MEISEL

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT Reichsführerlager.

Die Hitlerjugend nutzt Weimar als Ort für ihre Führertagungen. Rassis- tische Reden bestimmen das Programm ebenso wie eine Besichtigung des KZ Buchenwald und ein Besuch des Deutschen Nationaltheaters.

DIE FÜHRUNG DER HITLERJUGEND BESICHTIGT DAS KZ BUCHENWALD, ENDE MAI 1938. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

„Des Lebens Licht und Schatten gers bloßlegt. Es ist nicht leicht, in Hunderte und aber Hunderte menschlicher Gesichter zu schau- Es ist eine Jugend, die bei all dem Schönen, das en, die von Laster und Leidenschaft gezeichnet, man ihr bietet, hart, wahr und klar erzogen wird, zum Teil nichts Menschliches mehr haben. Und es die man das Leben rechtzeitig auch in seiner gan- ist doppelt schwer, unter der Überfülle zum Teil zen Tiefe und Tragik erkennen läßt. Und so führte grauenhafter Verbrecherphysiognomien auch das man diese Jungen heute Nachmittag noch durch Antlitz des einen oder anderen Mannes zu erbli- das Konzentrationslager Buchenwald. Selbst für cken, den man lieber in den eigenen Reihen sähe, einen reifen, gesetzten Mann ist es nicht ganz den verbohrter Fanatismus in das gegnerische leicht, in die Abgründe der menschlichen Seele zu Lager geführt, und den unschädlich zu machen, blicken, die der Besuch eines Konzentrationsla- harte politische Notwendigkeit zwingt.“

DER SCHRIFTSTELLER COLIN ROSS BERICHTET ÜBER DEN BESUCH DER FÜHRER DER HITLERJUGEND IN BUCHENWALD. HAMBURGER ANZEIGER, 31.5.1938. STAATS- UND UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK HAMBURG

22 | 23 HÄFTLINGE BEFESTIGEN DEN CARACHOWEG. IM HINTERGRUND RECHTS DAS LAGERTOR, FRÜHSOMMER 1938. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

Ein Konzentrationslager wird gebaut

Im Sommer 1937 schließt die SS die mitteldeutschen Konzentrationslager Lichtenburg (Preußen), Sachsenburg (Sachsen) und Bad Sulza (Thüringen) und verlegt 2.000 Häftlinge von dort auf den Ettersberg. Es sind langjährige politische Gefangene, Zeugen Jehovas und ehemalige Strafgefangene, die ihre Gefängnishaft bereits abgesessen haben. Im Sommer 1938 verdreifacht sich die Zahl der Häftlinge durch Aktionen der Polizei gegen „Asoziale“. Unter diesem Deckmantel werden auch viele Juden und Sinti und Roma verhaftet. Sie müssen das Lager aufbauen. Flucht oder offenen Widerstand bestraft die SS mit dem Tod.

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT Baubeginn.

Am 15. Juli 1937 treffen die ersten Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen auf dem Ettersberg ein. Bis August folgen ihnen die Gefangenen der aufgelös- ten mitteldeutschen Konzentrationslager.

DIE POLIZEI WEIMAR ARBEITET MIT DER SS BEI DER VORBEREITUNG HÄFTLINGSAPPELL IM KZ BUCHENWALD, AUGUST 1937. DIE DES LAGERS ENG ZUSAMMEN. SIE DOKUMENTIERT AUCH DAS EIN- ANGETRETENEN 2.000 HÄFTLINGE TRAGEN NOCH DIE KLEIDUNG DER TREFFEN DER ERSTEN 149 HÄFTLINGE AUS DEM KZ SACHSENHAUSEN KONZENTRATIONSLAGER SACHSENBURG, LICHTENBURG, BAD SULZA AM 15. JULI 1937. FOTO: KRIMINALPOLIZEISTELLE WEIMAR UND SACHSENHAUSEN. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

OBEN, LINKS UND NÄCHSTE SEITE: BILDER AUS DEM FOTOALBUM, DAS LAGERKOMMANDANT KOCH ANLEGEN LÄSST, UM SEINE LEISTUNG BEIM BAU DES LAGERS HERAUSZUSTREICHEN, 1937/38. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

24 | 25 Lageraufbau.

Die SS ist stolz auf ihre Aufgabe. Sie lässt den Aufbau des Konzentrations- lagers, die Zwangsarbeit und Appelle fotografieren. Folter und Mord kommen nicht ins Bild.

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT Ausgeliefert. „Da in den letzten Tagen wieder ein Gerücht durch unser Dorf geht, daß unser Herr Pfarrer Nach der Verhaftung des widerständigen Pfarrers Schneider von hier versetzt werde [...], fühlen Paul Schneider lässt ihn die evangelische Kirchen- wir uns veranlasst, dieser Sache einmal näher leitung im Stich. Als er sich im KZ Buchenwald auf den Grund zu gehen, denn wir wissen nicht, weigert, die Hakenkreuzfahne zu grüßen, quält ihn welche Gründe vorliegen sollten. [...] Wir Unter- die SS zu Tode. zeichneten bitten und verlangen, daß unser Herr Pfarrer hier auf seinem Posten tätig bleiben und weiter wirken und arbeiten soll wie bisher.“

DIE GEMEINDEMITGLIEDER VON HOCHELHEIM UND DORNHOLZHAUSEN AN DAS EVANGELISCHE KONSISTORIUM IN KOBLENZ, 13.1.1934. PFARRER-PAUL-SCHNEIDER-GESELLSCHAFT E.V., WEIMAR

„Betrifft: Durchführung Ihrer Versetzung in den Wartestand Seit längerer Zeit sind wir von Seiten der Partei und der Staatspolizei wiederholt und nachdrück- lich auf Ihr staatsfeindliches Verhalten hingewie- sen worden. […] Eine solche zutreffende Beurtei- lung Ihrer ablehnenden Stellung zum Dritten Reich findet durch die Tatsache Ihres seit November 1937 ununterbrochen andauernden Aufenthaltes im Konzentrationslager eine weitere Bestätigung. Wenn in dieser Zeit keine Änderung Ihrer Gesin- nung hinsichtlich einer positiven und vorbehalt- losen Bejahung des heutigen Staates eingetreten ist, sondern nach Ihrer bisherigen Haltung auch nicht einmal die Aussicht besteht, daß sie in absehbarer Zeit aus dem Konzentrationslager entlassen werden können, sehen wir uns damit vor die unabweisbare Notwendigkeit gestellt, […] gegen Sie zwecks Versetzung in den Wartestand vorzugehen.„

DAS EVANGELISCHE KONSISTORIUM DER RHEINPROVINZ AN HERRN PFARRER PAUL SCHNEIDER, ZUR ZEIT IN BUCHENWALD, KONZENTRA- BEERDIGUNG VON PAUL SCHNEIDER IN DICKENSCHIED UNTER TIONSLAGER, 15.7.1939. PFARRER-PAUL-SCHNEIDER-GESELLSCHAFT GROSSER BETEILIGUNG SEINER GEMEINDE, DER KATHOLISCHEN E.V., WEIMAR GEMEINDE UND VON MITGLIEDERN DER BEKENNENDEN KIRCHE AUS GANZ DEUTSCHLAND, 21.7.1939. „Morgens gegen 6.30 Uhr, bei der morgendlichen Meldung der Stärke des Schutzhaftlagers an mich, öffnete Schneider plötzlich sein Zellenfens- ter, kletterte in seiner Zelle hoch, bis er Blickfeld zu den angetretenen Häftlingen bekam. Mit lauter Stimme predigte Schneider etwa 2 Minuten zu den angetretenen Häftlingen. Meinen Befehl, sofort seine Predigt abzubrechen und sich vom Fens- ter zu entfernen, beachtete er in keinster Weise. Darauf gab ich dem Arrestverwalter den Befehl, Schneider mit Gewalt von dem Fenster wegzu- bringen.„

MELDUNG DES 2. SCHUTZHAFTLAGERFÜHRERS HERMANN HACKMANN AN DEN KOMMANDANTEN VON BUCHENWALD, 2.9.1938. PFARRER-PAUL-SCHNEIDER-GESELLSCHAFT E.V., WEIMAR

26 | 27 Lüge und Wahrheit.

Die Flucht der beiden Häftlinge Emil Bargatzky und Peter Forster von einem Arbeitskommando wird zum Ausgangspunkt einer diffamierenden Pressekampagne der SS. Nur die sozialdemo- kratische Presse im tschechischen Exil berichtet über die wahren Hintergründe.

FÜR DIE ERHÄNGUNG EMIL BARGATZKYS AM 4. JUNI 1938 ERRICHTET DIE SS EINEN GALGEN AUF DEM APPELLPLATZ UND NUTZT IHN AUCH ZUR ERHÄNGUNG PETER FORSTERS. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

DIE BEERDIGUNG EINES BEI DER FLUCHT VON ”DIE HINRICHTUNG VON WEIMAR. PETER FORSTERS TOD – PETER FORSTER UND EMIL BARGATZKY GETÖTETEN DIE SCHANDE VON EUROPA“. ARTIKEL AUS DER SOZIAL- SS-MANNES WIRD ZUM HELDENBEGRÄBNIS DEMOKRATISCHEN EXILZEITUNG „NEUER VORWÄRTS“, AUFGEBAUSCHT. DIE STADT WEIMAR ERÖFFNET PRAG, 1.1.1939 AUF DEM HAUPTFRIEDHOF EINEN EHRENHAIN FÜR DIE SS. THÜRINGER GAUZEITUNG, 18.5.1938

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT „Rassenforscher“.

Hunderte Sinti werden 1938 verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Die SS ermöglicht dem „Zigeunerforscher“ Robert Ritter, im Lager an ihnen Untersuchungen vorzunehmen.

ROBERT RITTER (LINKS) UND SEINE STELLVERTRETERIN (MITTE) ERFASSEN IM AUFTRAG EINER VOM DEUTSCHEN REICH FINANZIERTEN FORSCHUNGSSTELLE DIE IN „ZIGEUNERLAGERN“ ZUSAMMENGEPFERCHTEN SINTI NACH RASSISTISCHEN KRITERIEN, APRIL 1938.

„DR. RITTER IST NOCH CA. 8 TAGE UNTERWEGS, AUGENBLICKLICH IM KONZENTRATIONSLAGER BUCHENWALD.“ JUSTIN AN MANFRED BETZ, LEITER DER TÜBINGER ZWEIGSTELLE DER „RASSENHYGIENISCHEN FORSCHUNGSSTELLE“, 6.2.1939

28 | 29 IM KZ SACHSENHAUSEN VERMISST UND FOTOGRAFIERT RITTER DEN SINTO STEFAN PETERMANN. NACH HAFT IN MEHREREN KONZENTRATIONSLAGERN WIRD ER 1941 AUS BUCHENWALD IN DIE TÖTUNGSANSTALT SONNENSTEIN GEBRACHT UND ERMORDET. KARTEIKARTE DER RASSENHYGIENISCHEN FORSCHUNGSSTELLE, 1939

Otto Schmidt 15.2.1918, Luckenwalde 20.11.1942, KZ Buchenwald

Er ist Musiker. Als 18-Jähriger muss er mit seiner Familie in das „Zigeunerlager Holzweg“ am Stadtrand von Magdeburg ziehen. Von der Kriminalpolizei wird er dort unter rassistischen Gesichtspunkten erfasst, im Juni 1938 als „Zigeuner“ verhaftet und im Rahmen der Polizeiaktion gegen „Arbeitsscheue“ in Buchenwald eingewiesen. Dort stellt ihn die SS im Februar 1939 dem „Zigeunerforscher“ Ritter vor. 1942 stirbt er während eines Menschenversuchs mit Fleck- fieber. Seine Frau und seine Tochter werden in Auschwitz ermordet.

DIE MAGDEBURGER POLIZEI LIEFERT DIE VERHAFTETEN AUS DEM LAGER „HOLZWEG“ ALS „ZIGEUNER“ IN BUCHENWALD EIN. KARTEIKARTE DER HÄFTLINGSSCHREIBSTUBE, 1938

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT ZUSCHAUER VOR DER AUSGEBRANNTEN GROSSEN SYNAGOGE IN , 10.11.1938

Novemberpogrom

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Wie der , soll auch die Einlieferung die zerstören Mitglieder der NSDAP, der SA und SS Angst steigern und die Juden zur Auswande- fast alle Synagogen in Deutschland, plündern und rung zwingen. Nur wenn sie der Enteignung ihres ermorden Juden. Obwohl das erst halbfertige Besitzes zustimmen und nachweisen, Deutsch- Konzentrationslager Buchenwald bereits überfüllt land umgehend zu verlassen, entkommen sie dem ist, weist die annähernd 10.000 jüdi- Lager. Aufgrund der katastrophalen hygienischen sche Männer in das Lager ein. Die Gesamtzahl Verhältnisse und des Wassermangels bricht der Häftlinge steigt auf 19.676 an. Typhus aus. Erst als die Epidemie auch die umlie- genden Dörfer erreicht, leitet die SS Gegenmaß- nahmen ein.

30 | 31 Pogrom.

Die antijüdischen Pogrome vom 9./10. November 1938 hinterlassen in den jüdischen Gemeinden Verwüstung und Angst. Der 13-jährige Rolf Kralovitz berichtet davon.

„Ich kam also in die Schule mit meinem Fahrrad hen, wo die Scherben auf dem Fußweg lagen, wo und wollte es in den Fahrradkeller tragen. Und da die Waren aus den Schaufenstern gerissen wor- kam mir schon einer entgegen und sagte: Heute den waren. Am Augustusplatz sah ich das große ist keine Schule, die Synagogen brennen. Und ich Konfektionshaus Bamberger & Herz brennen. fuhr dann los mit meinem Fahrrad in die Gott- Also es war furchtbar. Die ganze Stadt war voller schedstraße. Und da sah ich die große Gemein- Scherben. Auch am Brühl zum Beispiel. Am Brühl desynagoge brennen, lichterloh. Ein paar hundert war ja berühmt der internationale Pelzhandel, der Meter weiter die orthodoxe große Synagoge … sehr stark in jüdischen Händen war. Und da war Dann fuhr ich durch die Stadt. Und da habe ich auch sehr viel kaputt und sehr viel von der SA dann alle möglichen jüdischen Geschäfte gese- kaputt gemacht worden.“

ROLF KRALOVITZ ERINNERT SICH AN DEN NOVEMBERPOGROM 1938 IN LEIPZIG. INTERVIEW 2008, GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD

ROLF KRALOVITZ (ZWEITER VON LINKS) MIT FREUNDEN AUF DEM SCHULHOF DER EPHRAIM-CARLEBACH-SCHULE IN LEIPZIG, MAI 1939

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT Jüdisches Sonderlager.

In der Woche nach den Pogromen liefert die Gestapo 10.000 Juden in Buchenwald ein. Die SS pfercht sie in fünf hastig errichtete Behelfsbaracken.

SCHEINWERFER DES LAGERTORES. FUNDORT: STEINBRUCH 1

IM LICHT DER SCHEINWERFER FINDET DER ABENDAPPELL DER NACH DEM NOVEMBERPOGROM EINGELIEFERTEN JUDEN STATT, MITTE NOVEMBER 1938. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

32 | 33 Typhusepidemie.

Im jüdischen Sonderlager führt die SS Verhält- nisse herbei, die zahlreiche Todesopfer fordern. Durch den akuten Wassermangel bricht eine Typhusepidemie aus und greift auf die Umgebung des Konzentrationslagers über.

IN DEN ERSTEN ZWEI JAHREN DES LAGERS MÜSSEN HÄFTLINGE DAS TRINKWASSER IN KÜBELN UND KANNEN AUS WASSERTANKS HOLEN, DIE VON DER SS AUS WEIMAR HERAN- GESCHAFFT WERDEN. FUNDORT: NÖRDLICHES LAGERGELÄNDE

MIT SKIZZE UND FOTOANHANG DOKUMENTIERT EIN SS-HYGIENIKER DIE AUSBREITUNG DES TYPHUS VOM KZ BUCHENWALD IN DIE ORTSCHAFTEN. ABSCHLUSSBERICHT JOACHIM MRUGOWSKYS VOM SS-SANITÄTSAMT, 21.2.1939

„In Buchenwald selbst waren die besten Bedingungen für die Ausbreitung der Epidemie gegeben. Es herrschte die größte Wassernot, so daß auf jeden SS-Mann täglich nur ½ Liter Wasser, auf jeden Häftling nur ¼ Liter kam. An Waschen, Körperpflege und Reinlichkeit [...] konnte also überhaupt nicht gedacht werden. [...] Man muß sich wundern, daß die Epidemie unter Berück- sichtigung dieser überprimitiven Umstände nicht noch größere Ausmaße angenommen hat.“

ABSCHLUSSBERICHT JOACHIM MRUGOWSKYS VOM SS-SANITÄTSAMT, 21.2.1939. THÜRINGISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WEIMAR

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT Lebensgeschichten

Zum „Volksfeind“ erklärt

Schon vor dem Krieg werden mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer von Verfolgung und Ausgrenzung: neben den politischen Gefangenen und Zeugen Jehovas in erster Linie Juden, aber auch als „Zigeuner“ verfolgte Sinti und Roma und andere stigmatisierte Menschen wie Homosexuelle, Vorbestrafte und „Arbeitsscheue“.

KURT ANSIN, UM 1940

ROLF GRASHEY, 1936

THEODOR DRESCHNER, UM 1948

Ein Sinto aus Frankfurt am Main Ein Sinto aus dem Lager Magdeburg Holzweg Theodor Dreschner Kurt Ansin 3.10.1900, Enzberg 2.10.1921, Bretleben 15.11.1974, Karlstadt 22.3.1984, Berlin

Als einfacher Arbeiter schlägt Theodor Dreschner sich und Das Farbfoto von Kurt Ansin nehmen selbsternannte die Familie durch. Ein Umzug nach Frankfurt am Main 1937 „Zigeunerforscher“ im Magdeburger Zwangslager für Sinti soll die Situation verbessern. Doch der Einzug in die Wohnung auf. Schon vorher hat die Magdeburger Polizei alle Sinti wie wird ihnen verwehrt, alle Sinti werden als „Zigeuner“ in Kriminelle erfasst. Er ist 16, hat sieben Geschwister und einem Lager zusammengedrängt. Im Juni 1938 erscheinen arbeitet in der Landwirtschaft, als er 1938 willkürlich dort Kriminalbeamte, alle Männer sollen sich melden. Tags verhaftet und nach Buchenwald verschleppt wird. Knapp darauf ist er im KZ Buchenwald, wo er beim Lageraufbau ein Jahr darauf entlassen, folgt 1943 die Deportation mit arbeiten muss. Ein Fluchtversuch misslingt, er überlebt seiner Familie nach Auschwitz. Später schickt ihn die SS Stockhiebe, Strafkompanie und Steinbruch, passt sich an, als Arbeitssklaven erneut nach Buchenwald. Er überlebt kann schließlich von einem Todesmarsch fliehen. Nach 1945 die schwere Arbeit im Außenlager Ellrich. Als er heimkehrt, kämpft er als ehemaliger Häftling mit „schwarzem Winkel“ sind fast alle Angehörigen tot. Er heiratet, gründet eine neue erneut mit Vorurteilen. Entschädigung erhält er nie. Familie, hat schließlich acht Kinder und 21 Enkel.

34 | 35 , SELBSTPORTRÄT, 1934. ICH 1934 IN DER ZELLE, AQUARELL ÜBER BLEISTIFT

„Auf der Flucht erschossen“ Rolf Grashey 14.11.1903, München 4.9.1937, KZ Buchenwald

Der begabte und sensible Literaturwissenschaftler, Slawist, Übersetzer und Autor stammt aus einer renommierten Medi- zinerfamilie und führt in München ein unbeschwertes Leben. Er veröffentlicht in der Satirezeitschrift „Simplicissimus“ und ist kein Freund der Nationalsozialisten. Mitte der 1930er MARTIN HAMBURGER AUF DER FAHRT VON Jahre wird Rolf Grashey Opfer der verschärften Verfolgung HAMBURG NACH SHANGHAI, MAI 1939 von Homosexuellen. Die Gestapo erzwingt Geständnisse von ihm, er wird 1937 nach Weimar gebracht und im KZ Buchen- wald als möglicher Zeuge in einem laufenden Schauprozess inhaftiert. Verzweifelt – auch, weil er den Ruf seiner Familie nicht beschädigen will – wählt er zwei Tage nach der Einwei- sung den Freitod und läuft in die SS-Postenkette.

Journalist, „ASR-Häftling“, jüdischer Emigrant Ein -Schüler Martin Hamburger Franz Ehrlich 21.1.1876, Berlin 28.12.1907, Leipzig 12.2.1962, Berlin 28.11.1984, Bernburg/Saale

Seit 1933 hat der Journalist und Sozialdemokrat Martin Ham- Der Schlosser Franz Ehrlich studiert von 1927 bis 1930 burger Berufsverbot. Als Vertreter sucht er ein Auskommen, am Bauhaus und arbeitet dann als Gestalter und ist als Jude aber an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Typograph in Berlin und Leipzig. Als aktiver Kommunist im Propagandistisch verknüpfen die Nationalsozialisten Mitte Widerstand verhaftet, weist die Gestapo ihn nach der Zucht- 1938 die gegen Nichtsesshafte und sozial Auffällige durchge- haushaft 1937 in das KZ Buchenwald ein. Seine Fähigkeiten führte „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (ASR) mit der Verhaftung bringen ihn hier ins SS-Baubüro. Er muss Möbel, Gebäude und von Hunderten ins soziale Abseits gedrängten Juden und auch das eiserne Lagertor entwerfen. Die Gestaltung der Sinti. Martin Hamburger wird mit etwa 500 Berliner Juden Inschrift „Jedem das Seine“ lehnt er, von der SS unerkannt, nach Buchenwald eingewiesen, muss unter elenden Lebens- an Schriften seiner Bauhaus-Lehrer an. 1939 entlassen, bedingungen Zwangsarbeit leisten und kann sich nur durch muss er weiter für die SS-Bauleitung arbeiten, wird 1943 zum ein Visum retten. Im August 1938 entlassen, wandert er „Bewährungsbataillon“ 999 eingezogen und gerät schließlich nach Shanghai aus, überlebt auch die schwere Zeit dort und in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr arbeitet er kehrt 1947 nach Deutschland zurück. als Architekt und Gestalter.

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT OTTO LEISCHNIG (2. VON LINKS) NACH DER BEFREIUNG IN BUCHENWALD, 1945

HANS LITTEN (LINKS) VERTRITT DEN ANGEKLAGTEN ERNST FRIEDRICH, RECHTS DER SCHRIFTSTELLER ERICH MÜHSAM, OKTOBER 1930

„... daß er zu Schaden kommen mußte, war unvermeidlich.“ Hans Litten 19.6.1903, Halle/Saale 5.2.1938, KZ Dachau

Als ältestes Kind eines Jura-Professors studiert Hans Litten ebenfalls Rechtswissenschaft, engagiert sich für die Jugend- bewegung, ist ein Suchender, der sich zum Judentum seiner Großväter hingezogen fühlt. Als Anwalt vor Gericht, in politi- schen Prozessen, ist er ein unbequemer Gegner. Er vertei- digt Arbeiter und Kommunisten, die mit Nationalsozialisten aneinander geraten sind, lässt Hitler vorladen und gerät so selbst ins Visier der braunen Totschläger. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933 verhaften sie ihn. Die KZ Sonnenburg, Esterwegen, Lichtenburg, Buchen- CARL MIERENDORFF IN SEINEM wald und Dachau sind Stationen seines weiteren Weges. ARBEITSZIMMER, 1931 Entkräftet und verzweifelt wählt er schließlich im KZ Dachau den Freitod.

„… ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher“ „Freunde, greift ein!“ Otto Leischnig Carl Mierendorff 3.8.1907, Pockau 24.3.1897, Großenhain 30.5.1973, Waldenburg 4.12.1943, Leipzig

Otto Leischnig und seine Frau, Eltern einer Tochter, sind Als Sohn eines Textilgroßhändlers steht Carl Mierendorff Zeugen Jehovas. Wie alle Angehörigen dieser Religions- früh der Zugang zur Bildung offen. Er ist Kriegsfreiwilliger gemeinschaft verweigern sie sich staatlichen Zwangsaufla- im Ersten Weltkrieg, gründet in Darmstadt eine literarische gen, insbesondere dem militärischen Dienst. Beide werden Zeitschrift, studiert Volkswirtschaft und geht in die Politik. deshalb verhaftet und, ohne Aussicht auf Entlassung, in 1930 ist er der jüngste Reichstagsabgeordnete der SPD und Konzentrationslagern inhaftiert; sie dürfen sich einander einer ihrer mutigsten NS-Gegner. 1931 fordert er öffentlich nicht einmal schreiben. Otto Leischnig gilt, als er 1938 in heraus. Im Juni 1933 wird er verhaftet und Buchenwald eingewiesen wird, schon als „Rückfälliger“. misshandelt. Es folgen die Konzentrationslager Osthofen, Durch seinen Beruf als Schneidermeister kann er dem Börgermoor, Lichtenburg, Esterwegen, Buchenwald. 1938 Steinbruch entkommen und muss in der SS-Schneiderei entlassen, schließt er sich später der Widerstandsgruppe arbeiten. Die von der SS angebotene Möglichkeit, seiner „Kreisauer Kreis“ an und entwirft Papiere zum gemeinsamen Religionsgemeinschaft abzuschwören und freizukommen, Handeln der NS-Gegner. Bei einem Luftangriff auf Leipzig lehnt er ab. Erst 1945 sieht die Familie einander wieder. kommt er ums Leben.

36 | 37 KARL PLÄTTNER, ERKENNUNGSDIENSTLICHE AUFNAHME, 1917

PETER WILHELM POLLMANNS, ERKENNUNGSDIENSTLICHE AUFNAHME, 1938

„Bei ihm erscheint ein besonderer Zwang zur Arbeit angebracht!“ Peter Wilhelm Pollmanns 1.4.1899, Düsseldorf 2.8.1942, KZ Buchenwald

Keine 20 Jahre alt, ist Peter Pollmanns durch eine Kriegs- verwundung dauerhaft geschädigt und kann nicht schwer körperlich arbeiten. Der gelernte Anstreicher hat bald Schwierigkeiten, für Frau und Tochter zu sorgen. Die Ehe scheitert. Sein Leiden verschlimmert sich. Dass er nicht jede Arbeit annehmen kann, akzeptiert das zuständige Wohlfahrtsamt nicht, streicht Bezüge und hält Zwang für angebracht. Er ist einer von mehr als 4.000 Männern, die ab April 1938 in das KZ Buchenwald eingewiesen werden. Sie müssen den schwarzen Winkel tragen, das Kennzeichen der „Arbeitsscheuen“ oder „Asozialen“. 1940 entlassen, bringt ihn eine Beschwerde 1942 erneut nach Buchenwald. Als PAUL MORGAN, AUTOGRAMMKARTE, 1926 „Rückfälliger“ überlebt er nur wenige Monate.

Revolutionär und Räuberhauptmann Der König des Kabaretts Karl Plättner Paul Morgan 3.1.1893, Opperode 1.10.1886, Wien (Österreich) 4.6.1945, Freising 10.12.1938, KZ Buchenwald

In einer Eisenhütte erlernt Karl Plättner den Beruf des For- Ginge es nach dem Vater, sollte Paul Morgan ebenfalls Jurist mers. Nach der Wanderschaft lässt er sich in Hamburg nieder, werden. Doch dieser besucht die Schauspielschule. In Berlin muss in den Krieg und kehrt als Invalide heim. Er schließt gründet er ein Kabarett, das 1924 mit „Quo vadis?“ die erste sich antimilitaristischen Kräften an, später den Kommunis- Parodie auf Hitler aufführt. Bald ist er ein Star, auch im Film, ten. Nach der Niederschlagung der mitteldeutschen Arbeiter- später geht er ein Jahr nach Hollywood. Wieder in Deutsch- aufstände 1921 überfällt seine Gruppe Banken. „Enteignung land, wird er nach 1933 kaum noch engagiert und kehrt nach der Enteigner“ ist die Devise – zehn Jahre Haft die Folge. Er Wien zurück. Die Nationalsozialisten hassen seinen Witz und schreibt darüber, distanziert sich von der Gewalt und vom seine Klugheit, und sie hassen ihn als Juden. So gehört er, Stalinismus zieht er sich zurück. Für die Nationalsozialisten nach dem „Anschluss“ Österreichs, zu den ersten Verhaf- gilt er trotzdem als gefährlich. Sie verhaften ihn im Herbst teten, wird in das KZ Dachau und 1938 nach Buchenwald 1939. Es folgen die KZ Buchenwald, Majdanek, Auschwitz, verschleppt. Bei einem Strafexerzieren auf dem Appellplatz Mauthausen. Endlich frei, stirbt er an den Folgen der Haft. bricht er im Dezember zusammen und stirbt im Krankenbau.

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT CARL SCHRADE, UM 1930

„Welche Farbe hatte Ihr Winkel am Häftlingsanzug?“ Carl Schrade 17.4.1896, Zürich (Schweiz) 1974, Frankreich

Als Carl Schrade in den 1920er Jahren wegen kleinerer Delikte wiederholt vor Gericht steht, ist er für niemanden eine Bedrohung. Doch mehrfach Straffällige nennen manche schon jetzt „Berufsverbrecher“. Nach 1933 gelten diese nur noch als „minderwertige“ Menschen, werden vorbeugend in Konzentrationslagern inhaftiert und müssen dort den grünen Winkel tragen. Carl Schrade bleibt von 1934 an in verschie- denen Lagern inhaftiert und erwirbt sich im KZ Flossenbürg als Häftlingssanitäter unter Mithäftlingen einen guten FAMILIE SCHNEIDER, APRIL 1934 Ruf. Die Farbe seines Winkels verfolgt ihn jedoch bis in die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Erst in Frankreich, wo ihm Mithäftlinge helfen, findet er ein neues Leben.

Der „Prediger von Buchenwald“ Ein Bibelforscher verweigert den Wehrpass Paul Schneider Johannes Steyer 29.8.1897, Pferdsfeld 28.9.1908, Röhrsdorf 18.7.1939, KZ Buchenwald 1.3.1998, Röhrsdorf

Nach dem Theologiestudium arbeitet der Pfarrerssohn am Johannes Steyer tritt 1931 der Religionsgemeinschaft Hochofen und bei der Stadtmission Berlin, heiratet und wird der Zeugen Jehovas bei, die man zu dieser Zeit auch Bibel- Pfarrer in Hochelheim. Anfangs imponieren ihm die sozialen forscher nennt. Als sie verboten werden, missioniert er Versprechungen der Nationalsozialisten. 1933 gerät er in weiter, verweigert den Hitlergruß und den Wehrdienst. Auf Konflikt mit örtlichen Parteifunktionären. Die Kirchenleitung seine Verhaftung 1935 folgen mehrere Konzentrationslager, versetzt ihn nach Dickenschied, wo er trotzdem offen für die wo Bibelforscher, die auf der Kleidung den lila Winkel tragen oppositionelle „Bekennende Kirche“ eintritt. Viermal holt ihn müssen, gebrochen werden sollen. Die SS lässt sie hart die Gestapo ab, er wird aus dem Gebiet der Rheinländischen arbeiten und isolieren – meist erfolglos. Auch Johannes Kirche ausgewiesen. Dem Kirchen-Konsistorium ist er unbe- Steyer verweigert sich weiterhin. Er bleibt bis 1945 im Kon- quem, es duldet die Übergriffe der Gestapo und lässt ihn im zentrationslager. Später malt er Aquarelle mit Motiven seiner Stich. Seit 1937 in Buchenwald, weigert sich Paul Schneider Haft, für ihn auch Symbole der Hoffnung. Im Jahr nach der während des Appells zum Hitlergeburtstag 1938 die Mütze ersten öffentlichen Ausstellung stirbt er. vor der Hakenkreuzfahne zu ziehen. Über ein Jahr foltert die SS ihn im Arrestzellenbau. Mutig predigt er aus der Zelle. Der Lagerarzt tötet ihn mit einer Überdosis Strophanthin.

38 | 39 1939 IM KZ BUCHENWALD. JOHANNES STEYER VERWEIGERT DIE ANNAHME DES WEHRPASSES, AQUARELL, UM 1970

THEODOR NEUBAUER BESUCHT CLARA ZETKIN IN BIRKENWERDER BEI BERLIN, SEPTEMBER 1932

ERNST WIECHERT, 1937

Historiker, Parteijournalist, Ein Schriftsteller wird Reichstagsabgeordneter der KPD „gewaltsam zur Besinnung gebracht“ Theodor Neubauer Ernst Wiechert 12.12.1890, Ermschwerd 18.5.1870, Kleinort in Ostpreußen 5.2.1945, Zuchthaus Brandenburg-Görden 24.8.1950, Uerikon (Schweiz)

Der Sohn eines Gutsinspektors geht einen geraden Weg: Der Lehrer Ernst Wiechert ist einer der meistgelesenen Schule, Jugendbewegung, Studium der Sprachen und der deutschen Autoren. Den Nationalsozialisten scheint er Geschichte, Promotion mit großem Erfolg, Militärdienst, zunächst nicht verdächtig. Spielen doch einige seiner Texte Lehrer und jüngstes Mitglied einer wissenschaftlichen mit national-völkischem Denken und liegen ihrer Weltan- Akademie. Doch mit 30 Jahren, nach dem Kriegserlebnis, schauung nicht fern. Doch er lässt sich nicht vereinnahmen. ändert er radikal sein Leben. Er ist Landtagsabgeordneter 1933 quittiert er den Schuldienst, lebt auf einem Bauernhof der KPD, Parteijournalist, Reichstagsabgeordneter, promi- bei München. Mehrfach kritisiert er öffentlich den NS-Staat nenter Redner und NS-Gegner. 1933 wird er im Widerstand und steht unter Beobachtung. Seinem Protest gegen die Ver- verhaftet und sechs Jahre ohne Prozess in verschiedenen haftung Martin Niemöllers, eines Theologen der „Bekennen- Gestapo-Gefängnissen und Konzentrationslagern gefangen den Kirche“, folgt die Verhaftung. Von Anfang Juli bis Ende gehalten. 1939 aus Buchenwald entlassen, baut er erneut August 1938 ist er im KZ Buchenwald. Die Gestapo bemerkt eine Widerstandsgruppe auf. Der Volksgerichtshof verurteilt zu seinem Fall: „Der seit 1933 ständig opponierende Ernst ihn im Januar 1945 zum Tode. Wiechert wurde gewaltsam zur Besinnung gebracht.“

NATIONALSOZIALISMUS UND GEWALT OKTOBER 1939: NACH IHRER ANKUNFT WERDEN POLNISCHE UND JÜDISCHE HÄFTLINGE IM SONDERLAGER AUF DEM APPELLPLATZ GESCHOREN UND „DESINFIZIERT“. DAS VOM RESTLICHEN KZ ABGERIEGELTE SONDERLAGER WIRD ZUM ORT DES ERSTEN MASSENSTERBENS IN EINEM DEUTSCHEN KONZENTRATIONSLAGER. INNERHALB VON DREI MONATEN STERBEN 800 SEINER INSASSEN. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD 1939-1942 1939 1940 1941 1942

NEU EINGEWIESENE HÄFTLINGE 9.553 2.525 5.890 14.111

IN ANDERE LAGER ”ÜBERSTELLTE“ ODER ENTLASSENE HÄFTLINGE 7.539 5.120 3.897 9.607

DURCHSCHNITTLICHE BELEGUNG DES LAGERS 8.390 8.290 7.730 8.784

BELEGUNG DES LAGERS AM JAHRESENDE 11.807 7.440 7.911 9.517

TOTE HÄFTLINGE 1.378 1.838 1.746 3.049

SOWJETISCHE KRIEGSGEFANGENE ERMORDET DURCH GENICKSCHUSS 8.000 Krieg und Verbrechen

September 1939 – Deutschland überfällt Polen und beginnt damit den Zweiten Weltkrieg, der Europa verwüsten wird. Ziel ist die Beherrschung und „rassische“ Neuordnung des Kontinents. Das zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilte Polen wird dafür zum Experimentierfeld: In ihrem Gebiet ermorden die Deutschen die politische und kulturelle Führungsschicht oder verschleppen sie in Lager. Sie entrechten die Bevöl- kerung und vertreiben sie von dort, wo Deutsche leben sollen. Polnische Juden werden in Ghettos zusammengepfercht.

Wehrmacht, SS und deutsche Besatzungsbehörden arbeiten bei der Un- terwerfung und Ausbeutung der osteuropäischen Länder eng zusammen. Nach dem Sieg über Frankreich soll die Unterwerfung der Sowjetunion die gewaltsame Kolonialisierung des Ostens vollenden.

Massaker an der Zivilbevölkerung, wie schon nach dem deutschen Ein- marsch in Polen, prägen den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. SS und stellen „“ zusammen, die gezielt Millionen Juden, aber auch Roma erschießen. Die lässt über drei Millionen Angehörige der Roten Armee in Kriegsgefangenenlagern verhungern. In Ostpolen richtet die SS 1942 eigens Stätten zur systemati- schen Vernichtung der europäischen Juden ein. Jüdische Häftlinge depor- tiert sie aus den Konzentrationslagern im Reich nach Auschwitz.

Seit Beginn des Krieges werden auch Menschen aus den besetzten Län- dern in die Konzentrationslager verschleppt, die mehr und mehr zu Stätten des Massenmordes werden. Zudem verschärft das Regime in Deutschland den Terror gegen seine Gegner.

40 | 41 Antisemitische Feindbilder und Massenmord

Eine der ersten Verhaftungswellen nach dem Überfall auf Polen richtet sich in Deutschland und dem seit 1938 dazugehörenden Österreich gegen staaten- lose Juden polnischer Herkunft. In Wien setzt die Gestapo 1.000 von ihnen im Praterstadion fest. Das Klischee vom „Ostjuden“ gehört zum Kern anti- semitischer Feindbilder. „Rassenforscher“ des Naturhistorischen Museums Wien verschaffen sich Zugang zum Stadion, um das Klischee wissenschaftlich zu untermauern. Nachdem sie ihre Arbeit abgeschlossen haben, deportiert die Gestapo die Inhaftierten in das KZ Buchenwald. Weniger als 50 dieser Menschen überleben.

AUFLISTUNG DER KOPFMAßE DER IM PRATERSTADION INHAFTIERTEN JUDEN DURCH DEN AM WIENER NATUR- HISTORISCHEN MUSEUM ANGESTELLTEN „RASSENFORSCHER“ JOSEF WASTL (AUSSCHNITT), SEPTEMBER 1939.

42 | 43 Rassistische Untersuchungen.

Da die „rassenkundlichen“ Erfassungen nicht zum gewünschten Befund führen, verschwinden die Ergebnisse im Depot des Naturhistorischen Museums Wien.

VON „RASSENFORSCHERN“ ANGEFERTIGTE GIPSBÜSTE DES IM PRATERSTADION INHAF- TIERTEN LUDWIG ALFRED POST. ALS SIE ANGEFERTIGT WIRD, IST LUDWIG ALFRED POST NICHT MEHR AM LEBEN. ER KOMMT AM 21. OKTOBER 1939 IN BUCHENWALD UM.

STEREOSKOPISCHE AUFNAHMEN VON LUDWIG ALFRED POST, SEPTEMBER 1939. AUF IHRER GRUNDLAGE WIRD DIE KOPFBÜSTE VON IHM ANGEFERTIGT.

Leiter der rassistischen Untersuchungen im Praterstadion Josef Wastl (1892–1968)

Bereits in seiner Doktorarbeit Mitte der 1920er Jahre beschäftigt er sich mit „Rassenkunde“. 1932 tritt er in die NSDAP ein und gründet im Naturhistorischen Museum Wien eine illegale NSDAP-Betriebszelle. Seit 1939 Kustos der anthropologischen Sammlung, wird er 1942 Direktor der anthropologischen Abteilung des Museums. Nach 1945 wird Wastl als minder- belastet eingestuft und ist weiterhin als gericht- licher Sachverständiger tätig, vor allem in Vater- schaftsprozessen. JOSEF WASTL (LINKS) BEI DER ERFASSUNG POLNISCHER SOLDATEN IM KRIEGSGEFANGENENLAGER KAISERSTEINBRUCH, 1940. STANDBILD: RASSENKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN AN KRIEGS- GEFANGENEN. EIN FARBFILM, 1940

KRIEG UND VERBRECHEN Massenmord.

Keiner der eingelieferten Juden soll aus Buchen- wald zurückkehren. Entsprechend handelt die SS: Sie bringt die Wiener Juden nur provisorisch in einem Sonderlager unter, verweigert ihnen jede medizinische Versorgung und lässt sie verhungern.

DIE SS FOTOGRAFIERT DIE ANKUNFT DER WIENER JUDEN IN BUCHENWALD, 2.10.1939. VORGEFÜHRT WERDEN AUCH MÄNNER AUS JÜDISCHEN ALTERSHEIMEN WIENS, DIE DIE GESTAPO IN DAS KZ BUCHENWALD EINWEIST. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

44 | 45 GESICHTSMASKE VON ABRAHAM MERKER, ANGEFER- TIGT VOM NATURHISTORISCHEN MUSEUM WIEN NACH DEN „RASSENUNTERSUCHUNGEN“ IM PRATERSTADION, ENDE SEPTEMBER 1939.

RABBINER ABRAHAM MERKER NACH DEM EINTREFFEN IN BUCHENWALD, 2.10.1939. NEUN WOCHEN SPÄTER KOMMT ER IM SONDERLAGER AUF DEM APPELLPLATZ UM. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

„Dieses Lager [bestand] aus vier Zelten und einer Holzbaracke, welche vom übrigen Lager durch eine Stacheldrahtumzäunung streng isoliert war. Wir wurden 500 Mann in ein Zelt gepfercht und bekamen am Abend die erste Verpflegung. Die Einrichtung der Zelte bestand aus nackten Holzpritschen, welche in drei Etagen übereinandergeschichtet waren. Strohsäcke als Unterlage oder Decken gab es keine. Waschgelegenheit war ebenfalls nicht vorhanden, zur Verrichtung der Notdurft diente eine rasch ausgehobene Grube. […]

Die Hungersnot war sehr groß. Eine besondere Bestialität hatte sich Hauptscharf.[ührer] Hinkelmann ausgedacht. Nach den vielen Hungertagen war der einzige Gedanke der Häftlinge ‚Essen‘. Es ist unmöglich, zu schildern, mit welcher Sehnsucht die vom Hunger gequälten kranken und ausgemergelten Menschen auf das Erscheinen der Essenkübel warteten. Als die Kessel eintrafen, ließ Hinkelmann sie wieder fortschaffen. Der psycho- logische Eindruck, die Verzweiflung waren furchtbar. Es kam vor, daß Hinkelmann die eingetroffenen Essenkübel vor den Augen der Häftlinge ausschütten ließ. Als die vom Hunger Gequälten sich darauf stürzten, wurden sie von der SS mit Reitpeitschen und Knüppeln bearbeitet. Das war eine der Sondervorstellungen, die Hinkelmann seinen SS-Kameraden gab.“

JAKOB IHR, ÜBERLEBENDER DES SONDERLAGERS AUF DEM APPELLPLATZ 1939/40. BERICHT 1945, GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD

KRIEG UND VERBRECHEN Die Mörder

Die Angehörigen der SS-Lagerkommandantur verdanken ihre Karrieren der Entwicklung der Konzentrationslager. In den Jahren der Macht- eroberung gehörten sie zu den Schlägertrupps der SS und bewährten sich als Führungskräfte oder Wachleute der frühen Konzentrationslager. Rassebiologisch begutachtet, sehen sie sich und ihre Ehefrauen als Elite des deutschen Volkes. Nach ihrem Selbstverständnis haben sie das Recht, Gewalt gegen „Minderwertige“ auszuüben. Als Aufsteiger, die ihr Privatleben am bürgerlichen Lebensstil ausrichten, foto- grafieren und präsentieren diese SS-Männer sich ebenso stolz wie ihren Arbeitsplatz: das Konzentrationslager. DIE DEUTSCHE SCHUTZPOLIZEI ÜBERGIBT TSCHECHISCHE POLITISCHE GEFANGENE AN DIE SS, LAGERKOMMANDANTUR, CARACHOWEG, 7.7.1939. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

OBEN UND NÄCHSTE SEITE: IM PRIVATEN ALBUM PRÄSENTIERT EIN ANGEHÖRIGER DER SS SEINEN DIENST IN WEIMAR-BUCHENWALD STOLZ ALS TEIL SEINER MILITÄRISCHEN LAUFBAHN.

46 | 47 Selbstbild.

Die SS sieht sich als neue Elite des deutschen Volkes. Entsprechend fotografieren und dokumentieren die SS-Männer ihre Karriere und ihr Leben am Lager.

„Man darf die sadistische Note im Bild des Lagers pause zu versäumen. Dieser zweite Typ war der nicht übersehen, verkleinern oder verwischen: überaus häufigere; auf ihm baute sich das sata- aber man muss sie richtig einschätzen. Nichts nisch ausgeklügelte System auf, das eine Reihe wäre falscher, als zu glauben, die SS wäre eine von Leuten in allerhöchsten Stellen zu durchaus Horde von Sadisten, die aus eigenem Antrieb, aus rationalen Zwecken erdacht hatte. Alles war dem Leidenschaft und Gier nach Lustbefriedigung Ziel der Macht, ihrer Ergreifung, Behauptung und Tausende von Menschen gequält und misshandelt Erweiterung untergeordnet. Diesem Ziel hatte der haben. Die Einzelnen, die so handelten, waren Schrecken, hatte die Zerbrechung jeglichen physi- durchaus in der Minderheit; ihr Bild prägt sich schen und moralischen Widerstandes zu dienen. nur deutlicher ein, weil es schärfer profiliert ist Die Konzentrationslager waren die Mühle, in der als das des farbloseren Rohlings, der sein Pen- der Wille und der Körper der als Gegner oder als sum an Brutalitäten vorschriftsmäßig, sozusagen überflüssige Glieder des Volksganzen erkannten bürokratisch, erledigt, ohne je seine Mittags- Elemente zermahlen werden sollten.“

BENEDIKT KAUTSKY WAR VON 1938 BIS 1945 HÄFTLING IN DEN KZ BUCHENWALD UND AUSCHWITZ. TEUFEL UND VERDAMMTE, WIEN 1961 [ZÜRICH 1946]

KRIEG UND VERBRECHEN Privatleben.

Die SS-Männer erhalten ein gutes Gehalt und richten sich in der Nähe des Lagers bequem ein. In ihren Wohnungen umgeben sie sich mit Dingen, in denen Germanenkult und bürgerliche Biederkeit verschmelzen.

SS-HAUPTSCHARFÜHRER WERNER FRICKE, DER LEITER DES SS-SONDERSTANDESAMTES BUCHENWALD, MIT FAMILIE AUF DER TERRASSE SEINES HAUSES IN DER SS-SIEDLUNG, UM 1941/42.

SIPPENBETTEN ODER -WIEGEN GEHÖREN ZUM MOBILIAR DER SS-FAMILIEN. HERGESTELLT WERDEN SIE VON HÄFTLINGEN DER LAGERWERKSTÄTTEN. DIE RUNENZEICHEN AM KOPFENDE STEHEN FÜR DEN RASSISTISCHEN AHNENKULT DER SS.

1941/42 MÜSSEN HÄFTLINGE IN DER PATHOLOGIE TROPHÄEN FÜR DIE SS HERSTELLEN: GESCHRUMPFTE MENSCHENKÖPFE. ZWEI DAVON WERDEN NACH DER BEFREIUNG NOCH AUFGEFUNDEN, EINER DIENTE IM BUCHENWALD-PROZESS 1947 VOR DEM AMERIKANISCHEN MILITÄRGERICHT IN DACHAU ALS BEWEISSTÜCK.

48 | 49 Im Dienst.

Lagerkommandant Karl Koch stellt sich einen Stab aus SS-Männern zusammen, die ihm bedingungslos folgen. Im Konzentrationslager haben sie uneingeschränkte Gewalt und zahlreiche Möglichkeiten zur persön- lichen Bereicherung.

Kommandant des KZ Buchenwald 1937–1941 Karl Otto Koch (1897–1945)

Nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg und wech- selnden Arbeitsstellen als kaufmännischer An- gestellter findet Koch im Alter von 36 Jahren bei der SS eine berufliche Basis. Als KZ-Kommandant macht er schnell Karriere: in den KZ Sachsen- burg, Esterwegen, Lichtenburg, Columbia-Haus, Sachsenhausen. Die SS-Führung schätzt ihn als zuverlässigen Mann für grobe Aufgaben und dul- det seine Herrscherallüren und Unterschlagungen. Das ändert sich mit der Umstellung der Konzen- trationslager auf wirtschaftliche Aufgaben. Nun stürzt er. Um die grenzenlose Korruption inner- halb der SS zu unterbinden, verurteilt ihn ein SS-Gericht zum Tode. Am 5.4.1945 erschießt ihn die SS in Buchenwald.

KARL KOCH IM HÄFTLINGSLAGER, APRIL 1940. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

Ehefrau des Kommandanten Karl Koch (1906–1967)

Sie ist eine 28-jährige Stenotypistin bei Reemtsma in , als sie den eben zum SS-Offizier be- förderten Karl Koch kennenlernt. Sie teilt seine rassistische Weltsicht und begleitet seine weitere Konzentrationslager-Karriere. Als sie 1937 heira- ten, ist er Kommandant des neuen KZ Sachsen- hausen. In Buchenwald richtet sich das Ehepaar ein, führt ein großspuriges Leben und verschafft sich die Mittel dafür durch Unterschlagung, Er- pressung und Raub. Ilse Koch begibt sich häufig in unmittelbare Nähe von Häftlingen und animiert SS-Posten zur Gewalt. Sie wird 1947 durch ein amerikanisches Militärgericht und 1951 durch ein ILSE KOCH MIT EHEMANN UND SOHN VOR DER deutsches Gericht verurteilt. Ihre lebenslange LAGERKOMMANDANTUR, APRIL 1940. Haftstrafe endet mit ihrem Selbstmord im Gefäng- nis Aichach.

KRIEG UND VERBRECHEN HANS HÜTTIG (RECHTS) MIT DEM KOMMAN- HERMANN HACKMANN ALS ARTHUR RÖDL (RECHTS) BEI EINEM BESUCH VON DEUR DER 3. SS-TOTENKOPFSTANDARTE SCHUTZHAFTLAGERFÜHRER SS-CHEF HIMMLER IN BUCHENWALD, 1939. „THÜRINGEN“ BEI DEN SS-KASERNEN IN DES KZ MAJDANEK, MAI 1942. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS BUCHENWALD, 1938/39.

2. Schutzhaftlagerführer 1. Schutzhaftlagerführer Hans Hüttig (1894–1980) Arthur Rödl (1898–1945)

Durch den Eintritt in die SS 1932 will Hüttig seine Er gehört zu den „alten Kämpfern“ der NSDAP und im Ersten Weltkrieg nicht gelungene militärische wird deshalb von Himmler protegiert. Obwohl Vor- Karriere nachholen. Nach Dienst in verschie- gesetzte ihn wiederholt als unfähig bezeichnen, denen Konzentrationslagern kommt er 1938 erhält Rödl seit 1933 mittlere Führungspositionen nach Buchenwald. Als Schutzhaftlagerführer ist in verschiedenen Konzentrationslagern. Häftlinge er verantwortlich für die täglichen Abläufe im beschreiben ihn als unberechenbar, brutal und Häftlingslager und setzt das Lagerregime Kochs alkoholabhängig. In der Aufbauzeit von Buchen- brutal durch. Später wird er Kommandant der wald befehligt er die Block- und Kommandoführer, KZ Natzweiler und Herzogenbusch. Noch 1945 zu bestimmt Tagesablauf und Zwangsarbeit der lebenslanger Haft verurteilt, wird er bereits 1956 Häftlinge. Später wird er Kommandant des KZ entlassen und lebt fortan unbehelligt. Groß-Rosen und zur Waffen-SS in die Ukraine ver- setzt. Bei Kriegsende begeht er Selbstmord.

Adjutant des Lagerkommandanten Hermann Hackmann (1913–1994) Angehöriger des „Kommando 99“ Wilhelm Schäfer (1911–1961) Nach seinem Eintritt in die SS 1933 macht der gelernte Maurer Karriere in den KZ Esterwegen Schäfer geht einen für viele SS-Männer typischen und Sachsenhausen. Von dort kommt er mit Koch Weg: Anfang der 1930er Jahre ist er an Straßen- 1937 nach Buchenwald. Hier steigt er schnell auf kämpfen mit politischen Gegnern beteiligt. Nach und ist als Adjutant verantwortlich für die Leitung der Machtübernahme der Nationalsozialisten des Kommandanturstabs. Er wird der engste wechselt der gelernte Maurer in den KZ-Dienst. Vertraute Kochs. Gemeinsam bereichern sie sich Im KZ Lichtenburg gehört er seit 1933 zur Stamm- an Häftlingsgeldern. Beide werden daraufhin zum mannschaft, 1937 kommt er nach Buchenwald. Aufbau des KZ Majdanek nach Lublin versetzt. Als Angehöriger des „Kommando 99“ ist er hier Nach 1945 wird er zweimal verurteilt. Vorzeitig an der massenhaften Erschießung sowjetischer aus der Haft entlassen, arbeitet er bis zur Rente Kriegsgefangener beteiligt. Zur „Partisanen- bei einer Möbelfirma. bekämpfung“ versetzt man ihn später an die Ostfront. 1961 wird Schäfer in der DDR zum Tode verurteilt und hingerichtet.

50 | 51 WILHELM SCHÄFER (RECHTS) IN EINEM GARTEN DER BUCHENWALDER HERBERT ABRAHAM (3. VON RECHTS) ALS ANGEHÖRIGER DES SS-SIEDLUNG II IN KLEINOBRINGEN, UM 1940. KOMMANDANTURSTABES IM KZ MAJDANEK, 1942.

Block- und Kommandoführer Herbert Abraham (1914)

Mit 14 Jahren muss er die Schule verlassen, ar- beitet als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und geht als Jugendlicher zur SA. 1935 meldet er sich freiwillig zu den KZ-Wachverbänden, dient zwei Jahre in der Wehrmacht und wird im November 1938 bei der SS-Totenkopfstandarte Buchenwald eingestellt. Ab Sommer 1939 ist er Block- und Kommandoführer beim Kommandanturstab. Wegen seines Familiennamens von anderen SS-Männern verhöhnt, legt er sehr großen Wert KÜNFTIGE EHEFRAUEN EINES SS-MANNES WERDEN RASSEBIOLOGISCH auf seine „Rassenbegutachtung“ und geht im BEGUTACHTET. NUR BEI EINEM POSITIVEN URTEIL WIRD DIE HEIRAT GENEHMIGT. ANTRAG AUF EHESCHLIESSUNG DES BLOCK- UND KOM- Lager besonders brutal gegen Juden vor. Im April MANDOFÜHRERS ABRAHAM UND SEINER VERLOBTEN MARIA MAURER 1942 wird er in das KZ Majdanek versetzt, wo er AN DAS RASSE- UND SIEDLUNGSHAUPTAMT DER SS, MAI 1940 zum Schutzhaftlagerführer aufsteigt. Seit Kriegs- ende ist er verschwunden.

„DER MENSCH, DER GEWALT ÜBER SICH SELBST HAT, LEISTET DAS SCHWERSTE UND GRÖSSTE.“ DIE TRUHE STEHT IM DIENSTZIMMER BEIDER LAGERKOMMANDANTEN. DER SPRUCH IST DIE VERKÜRZTE DIENSTZIMMER DES LAGERKOMMANDANTEN, RECHTS UNTEN IST DIE FASSUNG EINES AUF NAPOLEON BEZOGENEN GOETHE-AUSSPRUCHS TRUHE ZU SEHEN. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS AUS DEM JAHR 1815.

KRIEG UND VERBRECHEN UNTER DEN AUGEN DER SS BEAUFSICHTIGT EIN KAPO (MIT ARMBINDE) BAUARBEITEN VON HÄFTLINGEN, TRUPPENGARAGEN, UM 1939. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

Die Zwangsordnung des Lagers

Die Häftlinge – elend untergebracht, bekleidet und ernährt – sind einer Zwangsordnung unterworfen, die die SS schon für die frühen Konzentrations- lager entwickelt hat. Sie müssen marschieren, während des Appells stunden- lang reglos stehen und einen langen, zermürbenden Arbeitstag bewältigen. Allgegenwärtig ist die Angst vor willkürlicher Gewalt und vor Strafen, die auf dem Prügelbock oder im Lagergefängnis, dem „Bunker“, vollstreckt werden. In den Baracken und Arbeitskommandos setzt die SS Häftlinge zur Organi- sation ein: Blockälteste für die Baracken, Kapos und Vorarbeiter für die ver- schiedenen Arbeitsstellen. Sie können, wie die Kapos des gefürchteten Stein- bruchs, die Übrigen drangsalieren, um sich der SS anzubiedern. Sie können aber auch, wie viele Pfleger im Häftlingskrankenbau, für Mithäftlinge eintreten. Die Angst, krank zu werden, bleibt trotzdem. Kranke sind für die SS nutzlose Menschen und schweben in ständiger Lebensgefahr.

52 | 53 Appell.

Zweimal täglich müssen die Häftlinge zum Zählappell aufmarschieren. Die SS lässt sie willkürlich lange stehen und prügelt Einzelne vor aller Augen.

ROMA AUS DEM ÖSTERREICHISCHEN BURGENLAND AUF DEM APPELLPLATZ, HERBST 1939. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

VON DER BALUSTRADE DES LAGERTORS PRÄSENTIERT LAGERKOMMANDANT KOCH (LINKS) EINEM HOCHRAN- GIGEN BESUCHER DEN APPELL, 1939. FOTO: ERKENNUNGS- DIENST DER SS

„Die täglich stattfindenden Zählappelle waren […] gefürch- tet. Denn oft musste man stundenlang nach harter Arbeit in eisiger Kälte und bei stürmischem Wetter stehen. Aber die SS wollte jeden Tag genau ihre Arbeitssklaven zählen, weil natürlich viele sich mit Fluchtgedanken trugen. […] Der Appellplatz hat viele schreckliche Tragödien gesehen. Wie oft musste das ganze Lager stehen bleiben, wenn ein Häft- ling geflohen war. […] Alle Exekutionen wurden bis Ende 1942 NACH FESTGELEGTEM SCHEMA DER BARACKEN- auf dem Appellplatz vollzogen, insbesondere der ’Bock‘ war NUMMERN ERFOLGT DIE AUFSTELLUNG DER HÄFT- LINGE ZUM APPELL. KLADDE DES HÄFTLINGS bei fast jedem Appell in Tätigkeit.“ UND APPELLSCHREIBERS MAX MAYR

MAX MAYR ÜBER DEN APPELL IN BUCHENWALD. DER BUCHENWALD-REPORT, MÜNCHEN 1996 [1945]

KRIEG UND VERBRECHEN Arbeitskommandos.

Die SS setzt Häftlinge ein, um die Arbeitskommandos zu beaufsichtigen: die Kapos. Einige Kapos werden zum verlängerten Arm der SS, andere gehen Risiken ein, um die Situation von Häftlingen zu erleichtern.

DER EHEMALIGE FREMDENLEGIONÄR JOHANN HERZOG IST HÄFTLINGSKAPO IM STEINBRUCH. HIER VERRÄT ER ZWEI TSCHECHISCHE HÄFTLINGE, DIE SICH EINANDER BEIM NICHT ERLAUBTEN WECHSEL DES ARBEITSPLATZES GEHOLFEN HABEN. SS-RAPPORTFÜHRER STRIPPEL ÜBERPRÜFT: „STIMMT“. DER SCHUTZHAFTLAGERFÜHRER NOTIERT DIE STRAFE: JE 10 STOCKHIEBE UND 3 MONATE STRAFKOMPANIE. STRAFMELDUNG, 2.2.1941

54 | 55 DER STEINBRUCH IST ARBEITSSTÄTTE DER STRAFKOMPANIEN UND NEU EINGELIEFERTER HÄFTLINGE. DIE SS NUTZT IHN, UM MENSCHEN „AUF DER FLUCHT“ ZU ERSCHIESSEN. GEWALT- TÄTIGE KAPOS VERSCHÄRFEN DIE LAGE IN DIESEM SCHWERSTEN ARBEITSKOMMANDO ZUSÄTZLICH.

STEINBRUCH, 1943. VORN LINKS ARBEITENDE HÄFTLINGE. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

„Dieser Walter Krämer [ist] in der Nacht, ganz geheim, geheim, zu uns ins Lager gekommen und hat die nötigsten Fälle behandelt. Er hat durchge- setzt – wie er es gemacht hat, weiß ich nicht – […], dass ein Teil der Todesbaracke verwandelt wurde in eine, wie soll ich es benennen, eine Art Kran- kenstube […]. Mit dem Argument, […] dass er als Leiter des Häftlingskrankenbaus es nicht ver- antworten kann, dass sich die Seuchen von den Häftlingen an die SS verbreiten können. Nicht nur an die SS, aber auch ins Große Lager und mit dem Abwasser, das vom Ettersberg […] runter floss ins Tal, dort waren doch mehr Menschen, und wenn BARACKE 4 (TUBERKULOSESTATION) DES HÄFTLINGSKRANKENBAUS, sich eine Epidemie verbreitete, das wäre eine 1943. INFOLGE VON UNTERERNÄHRUNG, HARTER ZWANGSARBEIT Katastrophe. Das war so ein Argument, das die UND DER ANSTECKUNG IN DEN ENGEN BARACKEN BREITET SICH TUBERKULOSE IM KONZENTRATIONSLAGER AUS. MIT DEM ARGUMENT Lagerleitung nicht ablehnen konnte.“ EINER GEFÄHRDUNG AUCH FÜR DIE SS TREIBT DER HÄFTLINGSKAPO DES KRANKENBAUS, DER KOMMUNIST WALTER KRÄMER, DEN AUSBAU DER KRANKENSTATIONEN VORAN. ER WIRD IM NOVEMBER 1941 VON ARTUR RADVANSKÝ ÜBER DIE ILLEGALE BEHANDLUNG KRANKER DER SS ERSCHOSSEN. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS DURCH WALTER KRÄMER. TROTZDEM HABE ICH ÜBERLEBT, DRESDEN 2006

KRIEG UND VERBRECHEN Barackenleben.

Die tägliche Routine in den Baracken lässt die SS „Nicht nur im Vermeiden von Unannehmlichkeiten von Häftlingen organisieren: den Blockältesten. und Gefahren, auch bei der Erreichung positiver Sie verteilen die knappe Nahrung und die Schlaf- Ziele waren die Häftlinge aufeinander angewie- plätze, sie kontrollieren, bevorzugen oder benach- sen. Das galt vor allem für die Arbeit. […] Genau teiligen Mithäftlinge. dasselbe galt vom Benehmen im Block. Kam man von der Arbeit, so war Ruhe mindestens so wichtig wie Wärme und Essen. Lärm und sonstige Störungen waren streng verpönt, und man konnte den guten vom schlechten Kameraden am deut- lichsten an seinem Benehmen im Block unter- scheiden.“

DER ÖSTERREICHER BENEDIKT KAUTSKY BERICHTET ÜBER DAS LEBEN IN DER BARACKE. TEUFEL UND VERDAMMTE, WIEN 1961 [ZÜRICH 1946]

BROT IST ÜBERLEBENSWICHTIG. SEINE GERECHTE VERTEILUNG ENT- SCHEIDET ÜBER DIE STIMMUNG IN DER BARACKE. DESHALB ZERLEGT DER BLOCKÄLTESTE DIE ZUGETEILTEN BROTE IN PORTIONEN UND WIEGT SIE AB.

HENRI PIECK, DAS INNERE EINER BARACKE IM GROSSEN LAGER, KURT DITTMAR, ORGANISIEREN WAR TRUMPF, 1945. 1943/45. KOHLEZEICHNUNG, 52 X 43 CM BUNTSTIFTZEICHNUNG, 21 X 15 CM

56 | 57 LAGERSPRACHE

4711 _ ARBEITSKOMMANDO DER LATRINENREINIGER ABGANG _ HÄFTLINGE, DIE AUS DER LAGERSTATISTIK GESTRICHEN SIND: TOTE, VERSCHICKTE, ENTLASSENE ABHÄNGEN _ AUSSTOSSEN EINER PERSON AUS EINER GRUPPE ABKOCHEN _ ILLEGALE BESCHAFFUNG VON DINGEN DURCH GESCHICKTES AUSNUTZEN EINER SITUATION, AUSSER DER REIHE ESSEN VERSCHAFFEN ABSPRITZEN _ ERMORDEN DURCH INJEKTIONEN ACHTZEHN! _ WARNRUF BEI ANNÄHERUNG EINES KAPOS ODER EINES SS-POSTENS ALM _ TUBERKULOSE-ISOLIERSTATION BUCHENWALDER ANANAS _ STECKRÜBEN MIT RÜBENBLÄTTERN GEKOCHT ERDKUNDE _ BEZEICHNUNG FÜR DAS ROBBEN ÜBER DEN BODEN DES APPELLPLATZES ALS STRAFE GRÜNER _ HÄFTLING MIT DEM GRÜNEN WINKEL HIMMELFAHRTSKOMMANDO _ DEPORTATION MIT TÖDLICHEM AUSGANG KRETINER _ PSYCHISCH GESTÖRTE UND KÖRPERLICH VERFALLENE HÄFTLINGE LAMPENBAUER _ EINER, DER UNGEWOLLT ODER ABSICHTLICH ÜBER EINE SACHE REDET, DIE GEHEIM BLEIBEN SOLLTE LATRINEN-PAROLEN _ UNGLAUBHAFTE GERÜCHTE _ HÄFTLING, DER DEN LEBENSWILLEN AUFGEGEBEN HAT ORGANISIEREN _ BESCHAFFEN WICHTIGER DINGE IM LAGERSCHWARZHANDEL, AUCH STEHLEN PROMINENZ _ BESSER GEKLEIDETE UND VERSORGTE HÄFTLINGSFUNKTIONÄRE ROTER _ HÄFTLING MIT DEM ROTEN WINKEL DER POLITISCHEN HÄFTLINGE SCHWARZER _ ALS „ARBEITSSCHEUER“ GEKENNZEICHNETER HÄFTLING SINGENDE PFERDE _ KOLONNE JÜDISCHER HÄFTLINGE, DIE BEIM ZIEHEN VON LASTKARREN SINGEN MUSSTEN SINGENDER WALD _ WALD NÖRDLICH DER BARACKEN, WO DAS „BAUMHÄNGEN“ STATTFAND ÜBER DEN ROST GEHEN _ INS KREMATORIUM KOMMEN, STERBEN UMLEGEN _ TÖTEN VOGEL SUCHEN _ SS-AUSDRUCK FÜR DAS SUCHEN EINES GEFLÜCHTETEN ODER BEIM APPELL ABWESENDEN HÄFTLINGS WIKINGERSALAT _ SALAT AUS GEKOCHTEN STECKRÜBEN UND MÖHREN MIT WALFISCHÖL-MAYONNAISE ZAUNKÖNIG _ SELBSTMÖRDER AM ELEKTRISCHEN STACHELDRAHT ZINKER _ VERRÄTER, SPION ZUGANG _ IM LAGER NEU REGISTRIERTER HÄFTLING TONNENADLER _ ABWERTEND FÜR HÄFTLINGE, DIE AUS HUNGER ABFÄLLE AßEN LAGERJUSTIZ _ DURCHSETZUNG DER UNGESCHRIEBENEN REGELN DES LAGERS DURCH DIE LAGEROBERSCHICHT

KRIEG UND VERBRECHEN Strafen.

Die SS hat einen Katalog von Strafen: Stockhiebe, Bunkerhaft, Essensentzug, Strafexerzieren, Strafarbeiten. Unberechenbar für die Häftlinge entscheidet sie, was und wie bestraft wird.

DER ARRESTZELLENBAU IM TORGEBÄUDE – DER „BUNKER“ – STEHT DEN HÄFTLINGEN BEIM APPELL TÄGLICH VOR AUGEN. DIE MIT HOLZPLANKEN VERBLENDETEN FENSTER GEHÖREN ZU DUNKELZELLEN, EINER GEFÜRCHTETEN FORM DER FOLTER. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

ES GIBT VERSUCHE, AUS DEM „BUNKER“ ZU FLIEHEN. EINEN MISSGLÜCKTEN VERSUCH LÄSST DIE SS FÜR DIE BEWEISAUFNAHME NACHSTELLEN, VOR 1942. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

58 | 59 DIE SS VERTUSCHT WILLKÜRLICHE MORDE AN HÄFTLINGEN. EIN BEISPIEL IST DIE ERMORDUNG VON PHILIPP HAMBER DURCH DEN SS-MANN HERBERT ABRAHAM AUF EINER BAUSTELLE BEI DEN TRUPPENGARAGEN. BEI DER BEFRAGUNG DER HÄFTLINGE DES ARBEITSKOMMANDOS HAT SEIN BRUDER EDMUND HAMBER DEN MUT, DEN WAHREN TATHERGANG ZU SCHILDERN. ALS ZEUGEN DES VERBRECHENS WERDEN DARAUFHIN ALLE HÄFTLINGE ERMORDET.

DER „BOCK“, EINE VORRICHTUNG ZUR AUSFÜHRUNG DER PRÜGELSTRAFE. ER WIRD BIS 1944 REGELMÄSSIG BENUTZT UND DANN ABGESCHAFFT. REKONSTRUKTION, 1954

BIS ZUM APRIL 1941 WERDEN ALLE 34 JÜDISCHEN HÄFTLINGE IM ARRESTZELLEN- BAU ERMORDET. SS-LISTE DER AUGENZEUGEN DES MORDES, 1940

Leiter des Arrestzellenbaus Martin Sommer (1915–1988)

Als 16-jähriger Gehilfe auf dem elterlichen Bauernhof schließt Sommer sich rechtsradikalen Organisationen an. Mit 18 tritt er in die SS ein und bindet seine weitere Laufbahn an die Entwicklung der KZ-Wachmannschaften. Der spätere KZ-Kommandant Karl Koch wird sein Mentor, er formt ihn zu seinem Handlanger. Sommer ist bis 1943 Chef des „Bunkers“ in Buchenwald, nach der Korruptions- affäre Koch wird er an die Front versetzt und taucht nach 1945 als Kriegsversehrter unter. 1958 verurteilt ihn ein Gericht zu lebenslanger MARTIN SOMMER, UNDATIERT Haft. Elf Jahre später wird er in ein bayerisches Pflegeheim verlegt.

KRIEG UND VERBRECHEN Krematorium.

Die Erfurter Firma Topf & Söhne baut im Auftrag der SS Leichen-Verbrennungsöfen für den Dauer- betrieb. Sie liefert Urnen und Kennmarken, mit denen die SS Angehörigen einen würdigen Umgang mit den Toten vortäuscht.

IN STÄDTISCHEN KREMATORIEN WERDEN BEI DER EIN- ÄSCHERUNG FEUERFESTE MARKEN ZU DEN TOTEN GELEGT. IN BUCHENWALD WIRD DIESE IDENTIFIZIERUNG BEIM VERSAND VON ASCHE NUR VORGETÄUSCHT. FUNDORT: DACHSTUHL DES KREMATORIUMS

DIE VON TOPF & SÖHNE HERGESTELLTEN ASCHEKAPSELN WERDEN GEGEN GEBÜHR AN DIE ANGEHÖRIGEN VERSTORBENER HÄFTLINGE GESCHICKT. ANSTELLE DER ASCHE IHRES VERWANDTEN ERHALTEN SIE NUR WAHLLOS ABGEFÜLLTE ASCHE. FUNDORT: DACHSTUHL DES KREMATORIUMS

60 | 61 IM BÜRO DER PATHOLOGIE (BLOCK 2) STEHEN MEDIZINISCHE PRÄPARATE AUS DEN KÖRPERN TOTER HÄFTLINGE, 1943. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

TOPF & SÖHNE ENTWICKELT FÜR DAS KZ AUSCHWITZ SPEZIELLE LEICHEN-VERBRENNUNGSÖFEN. SIE VERÄNDERT IHRE ABFALL- VERBRENNUNGSÖFEN SO, DASS MÖGLICHST VIELE LEICHEN IN KURZER ZEIT VERBRANNT WERDEN KÖNNEN. EINE TRENNUNG DER ASCHE IST NICHT MÖGLICH. DIE ERSTEN ZWEI ÖFEN BAUT DIE FIRMA 1942 IM KZ BUCHENWALD. KURZ NACH DER FERTIGSTELLUNG LÄSST DER KOMMANDANT DEN VERBRENNUNGSRAUM FOTOGRAFIEREN UND PRÄSENTIERT IHN IN SEINEM DIENSTALBUM. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

KRIEG UND VERBRECHEN IM JUNI 1943 INFORMIERT DIE SS IHREN AUFTRAGGEBER, DIE HOECHST AG DER IG FARBEN, DETAILLIERT ÜBER DEN VERLAUF EINES MENSCHENVERSUCHS. DIE SS HAT HÄFT- LINGE KÜNSTLICH MIT FLECKFIEBER INFIZIERT UND IN EINE UNBEHANDELTE UND EINE MIT FLECKFIEBER-THERAPIE- MITTEL BEHANDELTE GRUPPE GETEILT. DIE ANWENDUNG DES BEREITS BEI MENSCHENVERSUCHEN IM KZ AUSCHWITZ VERWENDETEN MITTELS BLEIBT WIRKUNGSLOS.

DIE TODESRATEN DER GEIMPFTEN UND DER UNBEHANDELTEN HÄFTLINGE SIND ANNÄHERND GLEICH. AUFLISTUNG DER NEBENWIRKUNGEN EINES MEDIZINISCHEN VERSUCHS, JUNI 1943

Verbrechen und Kooperation

Die Macht der SS ist schrankenlos. Sie kann Gestapo in den Kriegsgefangenenlagern der über die Menschen verfügen. Das eröffnet ihr die Wehrmacht sowjetische Kommissare und Juden Zusammenarbeit mit Institutionen und Unterneh- zur Tötung aussondert, richtet die SS im KZ men außerhalb der Lager: Polnische Häftlinge Buchenwald eine Erschießungsanlage ein. Eine werden an die Gestapo für öffentlich inszenierte enge Zusammenarbeit entwickelt sich auch mit Schauexekutionen abgegeben; in Kooperation mit den Heil- und Pflegeanstalten Sonnenstein und dem Robert-Koch-Institut, der IG Farben AG und Bernburg. Dort werden im Rahmen der „Euthana- der Wehrmacht entsteht eigens eine Station sie“ behinderte Häftlinge und jüdische Häftlinge für medizinische Menschenversuche. Als die als „unproduktiv“ in Gaskammern erstickt.

62 | 63 Menschenversuche.

Der rechtsfreie Raum des Konzentrationslagers bietet Pharmafirmen und medizinischen Instituten neue Möglichkeiten für ihre Forschungen. Gemein- sam mit der SS führen sie im KZ Buchenwald Menschenversuche durch.

SS-ARZT ERWIN DING (1912–1945) LEITET DIE VERSUCHSSTATION UND DIE LABORE IN BLOCK 50. ER IST IN ÄRZTEKREISEN ANERKANNT UND PFLEGT GUTE BEZIEHUNGEN ZUR PHARMAINDUSTRIE. AUSWEIS ZUR BEFÖRDERUNG HOCHINFEKTIÖSEN MATERIALS, UM 1943

DIE BEHRINGWERKE MARBURG WEITEN SCHON VOR KRIEGSBEGINN DAS ROBERT KOCH-INSTITUT IN BERLIN UND DIE BEHRING- DIE PRODUKTIONSKAPAZITÄTEN FÜR KRIEGSWICHTIGE IMPFSTOFFE WERKE HABEN BIS ANFANG 1943 DIE ALLEINIGE ERLAUBNIS ZUR AUS. AUF BESETZTEM UKRAINISCHEN TERRITORIUM GRÜNDEN SIE EIN HERSTELLUNG VON FLECKFIEBERIMPFSTOFF. DIESE STELLUNG INSTITUT UND LASSEN DESSEN VERSUCHSIMPFSTOFF IN MENSCHEN- WOLLEN SIE DURCH EINEN NEUEN MASSENIMPFSTOFF FESTIGEN VERSUCHEN ERPROBEN. UND KOOPERIEREN MIT DER SS.

NACH DEM FEHLSCHLAG DER ERSTEN ZWEI VERSUCHSREIHEN IN 1943 WIRD IN BLOCK 50 EINE EIGENSTÄNDIGE FILIALE DES BUCHENWALD BESUCHT ERWIN DING DIE LABORATORIEN DER HYGIENE-INSTITUTS DER WAFFEN-SS EINGERICHTET. DAS HOECHST AG IN FRANKFURT A. M. UND MACHT VERSPRECHUNGEN. LABOR WIRD AUCH VON AUSWÄRTIGEN ÄRZTEN GENUTZT. BEIM ANSCHLIESSENDEN DRITTEN VERSUCH STERBEN 21 HÄFTLINGE FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS EINEN QUALVOLLEN TOD.

KRIEG UND VERBRECHEN „Euthanasie“ – „Aktion 14f13“.

Im ersten Kriegsjahr werden in Pflegeanstalten des Deutschen Reichs Tausende Patienten planmäßig ermordet. Die daran beteiligten Ärzte sondern auch im KZ Buchenwald Häftlinge aus, die in den Gaskammern mitteldeutscher Pflegeanstalten erstickt werden.

FRIEDRICH MENNECKE (3. VON RECHTS) MIT ANDEREN ÄRZTEN, DIE ALS GUTACHTER HÄFTLINGE IN DEN KONZENTRATIONSLAGERN SELEKTIEREN, 1941. EINIGE SIND DIREKTOREN VON PFLEGEANSTALTEN, IN DENEN SICH GASKAMMERN BEFINDEN.

„19.50 h: Der erste Arbeitstag in Buchenwald werden, sondern bei denen es genügt, die Verhaf- ist beendet. Wir waren um 8.30 h heute früh tungsgründe (oft sehr umfangreich!) aus der Akte draußen. […] Zunächst gab es noch ca 40 Bögen zu entnehmen u. auf die Bögen zu übertragen. auszufüllen von einer 1. Portion Arier. […] Es ist also eine rein theoretische Arbeit […]. Ich Um 12.00 h machten wir erst Mittagspause will mich nun lesenderweise noch etwas nach u. aßen im Führer-Kasino (1 a! Suppe, gekochtes unten in die Halle [des Hotel Elephant] setzen […] Rindfleisch, Rotkohl, Salzkartoffeln, Apfelkompott und dort bei Radiomusik etwas lesen; vielleicht […]). […] Als 2. Portion folgten nun insgesamt spielt auch das Orchester.“ 1200 Juden, die sämtlich nicht erst ‚untersucht‘ FRIEDRICH MENNECKE SCHREIBT REGELMÄSSIG BRIEFE AN SEINE FRAU. AM 26. NOVEMBER 1941 BERICHTET ER ÜBER SEINE ARBEIT IN BUCHENWALD. HESSISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WIESBADEN

64 | 65 571 HÄFTLINGE DES KONZENTRATIONSLAGERS BUCHENWALD WERDEN IN DEN GASKAMMERN DER TÖTUNGSANSTALTEN PIRNA-SONNENSTEIN UND BERNBURG ERMORDET.

DER JÜDISCHE KAUFMANN RUDOLF SILBERSTEIN AUS DER 1900 GEBORENE RECHTSANWALT OTTO STROSS BERLIN (FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS, KZ DACHAU) AUS PRAG (FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS, IST SEIT 1937 IN HAFT, WEIL ER MIT EINER NICHT- KZ DACHAU) IST DER LETZTE VORSITZENDE DES JÜDISCHEN FRAU ZUSAMMENLEBT. AUS BUCHENWALD BUNDES DER JUDEN IN DER TSCHECHOSLOWAKEI. WIRD ER IM MÄRZ 1942 NACH BERNBURG GEBRACHT BEI KRIEGSBEGINN WIRD ER VERHAFTET UND IM UND DORT IM ALTER VON 42 JAHREN ERMORDET. MÄRZ 1942 IN BERNBURG ERMORDET. AUF DER RÜCK- AUF DER RÜCKSEITE DES FOTOS NOTIERT MENNECKE: SEITE DES FOTOS VERMERKT MENNECKE: „SCHWERER „“. DEUTSCHENHASSER, HETZER“.

DIE AUSSONDERUNGSUNTER- SUCHUNG MENNECKES FÜR DIE „SONDERBEHANDLUNG 14f13“ DIENT DER VORBEREITUNG ZUR DEPORTATION. IM OKTOBER 1942 VERLEGT DIE SS DIE MEISTEN JÜDISCHEN HÄFTLINGE IN DAS KZ AUSCHWITZ-MONOWITZ. NACH ANWEISUNG DER SS- FÜHRUNG SOLLEN ALLE KONZENTRATIONSLAGER IN DEUTSCHLAND „JUDENFREI“ SEIN. ÜBERSTELLUNGSBEFEHL SS-WIRTSCHAFTSVERWALTUNGS- HAUPTAMT AN LAGERKOMMAN- DANTEN, 12.10.1942

KRIEG UND VERBRECHEN Systematische Erschießungen.

Auf Befehl der Wehrmachtführung werden an der sowjetischen Front in Gefangen- schaft geratene politische Kommissare, Staatsfunktionäre und Juden sofort er- schossen. Trotzdem fahndet die Gestapo auch in Kriegsgefangenenlagern weiter. Verdächtigte werden im nächstgelegenen Konzentrationslager durch Genickschuss ermordet: allein in Buchenwald 8.000 sowjetische Kriegsgefangene.

PERSONALKARTEN VON KRIEGSGEFANGENEN AUS DEN STALAGS ZEITHAIN (IV H) UND MÜHLBERG (IV B). SIE WERDEN „AUS DER KRIEGSGEFANGENSCHAFT ENTLASSEN“ UND IN BUCHENWALD ERSCHOSSEN. AUF DIE GRÜNDE FÜR DIE AUSSONDERUNG VERWEISEN ROTE AUFKLEBER.

”Es besteht somit keinerlei Veranlassung, den Russen gegenüber sentimentale oder sonstige Gefühle walten zu lassen. […] Die Exekution darf nicht im [Kriegsgefangenen]Lager und auch nicht in dessen unmittelbarer Nähe durchgeführt werden, ferner darf sie nicht öffentlich sein und es dürfen grundsätzlich keinerlei Zuschauer zugelassen werden. Nach den vom Inspekteur in Dresden getroffenen Anordnungen werden die als unzuverlässig ermittelten Sowjetrussen auf dem schnellsten Wege einem KL. zugeführt, wo dann die Exekution erfolgt.“

GESTAPOANGEHÖRIGE BERICHTEN 1942 VOR PARTEI- UND STAATSFUNKTIONÄREN IN WEIMAR ÜBER DIE AUSSONDERUNG SOWJETISCHER KRIEGSGEFANGENER IM STALAG IV E ALTENBURG. DER VORTRAG IST „GEHEIME REICHSSACHE“. GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD

66 | 67 ”Nachdem Sie das erste Mal in dem Untersuchungs- zimmer waren, was geschah da?“

„Der russische Kriegsgefangene wurde dann hier in diesem Raum mit dem Rücken zur Wand gestellt. Diese Wand war ungefähr 2 m hoch, und links und rechts war sie mit Zahlen versehen, man konnte den Eindruck haben, dass es eine Messwand war. In der Mitte war die Wand geschlitzt, ungefähr 8-10 cm weit. Hinter der Wand stand ein Mann mit der Pistole. Der Mann, der den Gefangenen an die Wand stellte, gab mit dem Fuß ein Klopfzeichen für den dahinterstehenden Mann, dass dieser die Pistole abschießen solle.“

”Standen Sie das erste Mal in diesem Raum und haben geschossen?“

”Das erste Mal, ja. Zum Schluss habe ich 8 Schuss abgegeben.“ FÜR DEN TRANSPORT DER LEICHEN DER ERSCHOSSENEN KRIEGSGEFANGENEN LÄSST DIE SS SPEZIELLE BEHÄLTER ”Sie meinen damit, Sie gaben 8 Schüsse ab, auf 8 ANFERTIGEN UND MIT ZINKBLECH AUSSCHLAGEN. MIT IHNEN WERDEN DIE TOTEN SCHNELL UND OHNE SPUREN verschiedene russische Kriegsgefangene?“ INS KREMATORIUM GEBRACHT. ”Jawohl.“

”Wohin haben Sie geschossen?“

”Auf den Hinterkopf.“

DER SS-MANN HORST DITTRICH, ANGEHÖRIGER DES ERSCHIESSUNGSKOM- MANDOS „99“, SCHILDERT BEI EINER VERNEHMUNG VOR DEM U.S.-MILITÄR- GERICHT IN DACHAU DEN ABLAUF DER ERSCHIESSUNGEN, 5.11.1947. NATIONAL ARCHIVES AT COLLEGE PARK, MARYLAND

IN EINEM PFERDESTALL AUSSERHALB DES HÄFTLINGSLAGERS RICHTET DIE SS EINE ERSCHIESSUNGSANLAGE EIN. SIE TÄUSCHT DORT EINE MEDIZINISCHE UNTERSUCHUNG VOR. DIE GEFANGENEN WERDEN AN DER MESSLATTE HINTERRÜCKS ERSCHOSSEN. KARL FEUERER, POLITISCHER HÄFTLING, SKIZZE 1945

KRIEG UND VERBRECHEN Mord zur Abschreckung.

Aufgrund des Rassismus werden Kontakte zwischen deutschen Frauen und polnischen Zwangsarbeitern brutal unterdrückt. Mit Hilfe der SS führt die Gestapo zur Abschreckung öffentliche Erhängungen von polnischen KZ-Häftlingen durch.

HOHENLEUBEN, MITTE JULI 1941: ORTSANSÄSSIGE DENUNZIEREN FÜNF FRAUEN BEI DER GESTAPO, WEIL SIE SICH ÖFFENTLICH MIT POLNISCHEN ZWANGSARBEITERN ZEIGEN. VOR DEM RATHAUS WERDEN DIE FRAUEN GESCHOREN UND ZUR SCHAU GESTELLT. UNTER BETEILIGUNG DER BEVÖLKERUNG FÜHRT MAN SIE DURCH DEN ORT. VIER DER FRAUEN WERDEN ANSCHLIESSEND VON DER GESTAPO VERHAFTET UND IN DAS ARBEITSERZIEHUNGSLAGER BREITENAU GEBRACHT, ZWEI VON IHNEN SPÄTER WEITER IN DAS FRAUEN-KZ RAVENSBRÜCK. ZWEI DER IN DIESEM ZUSAMMENHANG VERHAFTETEN POLEN WERDEN SPÄTER BEI POPPENHAUSEN GEHENKT.

„Es war immer und immer wieder betont worden, gesetze verstößt. Alle Aufklärungsarbeit war daß jeder Verkehr mit diesen Kriegsgefangenen, umsonst. Diese Weiber verletzten die deutsche die letzthin freigelassen und arbeitsverpflichtet Frauenehre und mussten dafür auch büßen. Als waren, verboten ist, weil es der deutschen Ehre Polenliebchen sollen sie ihren Willen haben, aber widerspricht, diesem Gesindel nur die Hand zu mit einer deutschen Frau haben sie nichts mehr reichen und vor allen Dingen, weil eine Blutsver- gemein. Daher wurde ihnen auch der Stolz der mischung mit diesen Horden gegen alle Rassen- deutschen Frau, ihre Haare, genommen.“

IN EINEM „HEIMATBRIEF“ AN DIE FRONTSOLDATEN DES ORTES BERICHTET DER BÜRGERMEISTER VON HOHENLEUBEN STOLZ ÜBER DIE ÖFFENTLICHE DEMÜTIGUNG DER FRAUEN, 28.8.1941. SAMMLUNG ERNST WOLL

68 | 69 DIE ÖFFENTLICHE ERHÄNGUNG EINES POLNISCHEN ZWANGSARBEITERS UND VON 19 POLNISCHEN HÄFTLINGEN DES KZ BUCHENWALD IN DER NÄHE DES SÜDTHÜRINGISCHEN POPPENHAUSEN WIRD SOWOHL VOM ERKENNUNGSDIENST DER SS ALS AUCH VON BEOBACHTERN FOTOGRAFIERT.

„Ich fuhr hin, um zu sehen, ob nicht irgendein 11 Uhr. Von Einöd ist auf der Straße nach Poppen- priesterlicher Beistand möglich ist. Ununterbro- hausen bis zum Tatort etwa 1 km. Die reinste Wall- chen fahren von 9-11 Uhr Autos durch Lindenau fahrt […]. Ich eile! Frauen, die sich durch den Wald […]. In Einöd ein großer Autopark, eine Unmenge neugierig vorgedrängt hatten und zurückgewiesen von Fahrrädern […]. Am Wege lagern neugierige worden waren, kommen uns entgegen. ’Es hat Frauen und Mädchen, die nicht weiter vorgelassen schon begonnen!‘, ’Die ersten hängen schon!‘ werden. Ein Gendarm regelt den Verkehr. Ich trage rufen sie uns roh und gefühllos zu. […] Schon ihm meine Bitte vor. Es bestünde wenig Aussicht, sehen wir die Menschenmenge, 500, 700 Mann! daß sie genehmigt werde. Aber ich könnte ja die Auch einige Frauen und Mädchen!“ Gestapo von Weimar einmal fragen. Es geht auf PFARRER JOHANN KRAUSS AUF DEM WEG ZUM ORT DER ERHÄNGUNG. PFARRCHRONIK MAI 1942, ARCHIV DES ERZBISTUMS BAMBERG

KRIEG UND VERBRECHEN Schillers Möbel.

Schon vor 1933 ist Weimar ein Zentrum des deutschen Kulturnationalismus, der sich gegen alles „Undeutsche“ wendet. Deshalb fügen sich die Museen und Gedächtnisstätten der Klassik reibungslos in den Nationalsozialismus ein. Als der Bombenkrieg auch Weimar und die Häuser von Goethe und Schiller bedroht, haben die Verantwortlichen keine Skrupel, KZ-Häftlinge zur Sicherung ihrer Kulturgüter arbeiten zu lassen. Die Möbel aus dem Besitz Friedrich Schillers werden für Monate ins KZ Buchenwald gebracht. Häftlinge müssen sie dort für den Austausch mit DIE HOLZWERKSTÄTTEN DER SS-EIGENEN DEUTSCHEN AUSRÜSTUNGS- den Originalen nachbauen. WERKE IM KONZENTRATIONSLAGER BUCHENWALD, IN DENEN HÄFT- LINGE DIE DUPLIKATE DER SCHILLERMÖBEL ANFERTIGEN MÜSSEN. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

BLICK INS SCHILLERHAUS. ZEITGENÖSSISCHE POSTKARTE

DUPLIKATE DER MÖBEL FRIEDRICH SCHILLERS UND TRANSPORTKISTEN ZUR AUFBEWAHRUNG VON KULTURGÜTERN.

70 | 71 OTTO KOCH (RECHTS), PAUL HENNICKE (ZWEITER VON RECHTS) MIT KARL AUGUST LEHRMANN, EDUARD SCHEIDEMANTEL, 1941 KOCH, THEODOR EICKE UND ANDEREN VOR DER 1933 UM 1935 KOMMANDANTUR DES KZ BUCHENWALD, 1939. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

Oberbürgermeister von Weimar Stadtbaurat in Weimar Otto Koch (1902–1948) August Lehrmann (1878–1945)

Koch dringt darauf, die Kulturstätten in Weimar Der langjährige Stadtbaurat organisiert die Her- auch im Krieg offenzuhalten, um keinen Gedan- stellung der Möbelkopien im KZ Buchenwald. In ken an eine Niederlage aufkommen zu lassen. ständigem Kontakt mit der SS und den Deutschen Der Rechtsanwalt ist bereits 1922 der NSDAP Ausrüstungswerken drängt er auf Termineinhal- beigetreten. Als Oberbürgermeister von Weimar tung und kontrolliert die Qualität der abgeliefer- organisiert er auch die Erfassung, Enteignung und ten Möbel und Kisten. Mehrfach äußert er sich Ghettoisierung der Weimarer Juden. Nach Kriegs- zufrieden über die Zusammenarbeit mit der SS. ende wird er durch die sowjetische Besatzungs- Inzwischen aus gesundheitlichen Gründen pensi- macht verhaftet und stirbt im Speziallager Nr. 2 oniert, wird er 1944 noch einmal reaktiviert und Buchenwald. mit der Organisation des gesamten städtischen Luft- und Brandschutzes beauftragt. Er stirbt im Februar 1945. Polizeipräsident von Weimar Paul Hennicke (1883–1967) Kustos des Schillerhauses Von ihm stammt der Vorschlag, Kopien bedeuten- Eduard Scheidemantel (1862–1945) der Möbel preiswert im KZ Buchenwald anfertigen zu lassen. Zum Konzentrationslager hat er ausge- Um jeden Preis will Scheidemantel das Schiller- zeichnete Beziehungen. Der Maschinenschlosser haus vor kriegsbedingten Schäden schützen. Des- und spätere Reichsbahnbeamte sitzt schon seit halb stimmt er dem Auftrag an das KZ Buchen- 1925 für die NSDAP im thüringischen Landtag. wald zu. Als Literaturhistoriker, Oberregierungsrat Anfang 1934 erreicht er SS-Generalsrang. 1942 und langjähriger Vorsitzender des Schillerbundes wird er SS- und Polizeiführer in der besetzten zählt er zu den angesehensten Weimarer Persön- Sowjetunion und gegen Kriegsende Inspekteur des lichkeiten – auch wegen seiner Verdienste um Volkssturms. Hennicke wird 1945 von der ameri- den Erhalt der Stätten der Klassik. Als die Kisten kanischen Besatzungsmacht interniert, aber nicht Anfang Mai 1942 aus Buchenwald im Schillerhaus verurteilt. Als Rentner lebt er bis zu seinem Tod eintreffen, beginnt er unverzüglich, diese mit den unbehelligt in Braunschweig. zu schützenden Originalen zu füllen.

KRIEG UND VERBRECHEN Lebensgeschichten

Krieg und Besatzung

Die Ausweitung von Verfolgung und Gewalt, auch in Deutschland, begleitet den Krieg von Beginn an. Lange geplante Verhaftungen bringen Menschen, die als Sicherheitsrisiko gelten, in die Konzentrationslager: Politiker und Funktionäre früherer Parteien, polnische Juden aus deutschen und öster- reichischen Städten, Tausende polnische Bürger, angesehene Vertreter der tschechischen und später auch der niederländischen Oberschicht.

MICHAEL HORVATH, 1952

WŁADYSŁAW KOŻDOŃ (RECHTS) MIT FREUNDEN IN WARSCHAU, 1946

Deportation einer Roma-Familie Ein polnischer Pfadfinder Michael Horvath Władysław Kożdoń 3.6.1922, Oberwart im Burgenland (Österreich) 1.9.1922, Chwałowice (Polen)

Ohne Vorankündigung umstellen Polizei und SS am 26. Juni Am Tag des deutschen Überfalls auf Polen feiert Władysław 1939 die Roma-Siedlung in Oberwart. Es ist der Beginn Kożdoń seinen 17. Geburtstag. Der Sohn eines Bergwerk- der ersten Massendeportation im Burgenland. Die Männer arbeiters ist aktiver Pfadfinder. Drei Wochen später werden werden über das KZ Dachau nach Buchenwald verschleppt. er und sein Vater auf offener Straße verhaftet. Man wirft Unter ihnen ist der 17-jährige Michael Horvath. Seine Familie ihm vor, verbotene Pfadfinderbücher zu besitzen. Mit einem lebt seit Generationen in der Region; trotz aller Diskriminie- der ersten Transporte aus Polen werden beide im Oktober rungen erinnert er sich an eine glückliche Kindheit. Als 1939 in das KZ Buchenwald deportiert, wo die SS sie in Zelte „Zigeuner“ leiden er und die übrigen Männer im KZ Buchen- pfercht. Mithäftlinge sorgen dafür, dass Jugendliche wie wald und später im KZ Mauthausen unter schwersten er nur zu leichteren Arbeiten eingesetzt werden. Über fünf Arbeitsbedingungen. Als einer von nur wenigen kehrt er Jahre bleibt er in Buchenwald. Seine Eltern werden von der in die Heimat zurück und gründet eine Familie. Die Diskrimi- SS ermordet. Als Elektroingenieur und Familienvater lebt er nierungen haben jedoch kein Ende. Ein Bombenanschlag später wieder in Polen und berichtet erst spät über seine tötet 1995 zwei seiner Enkel. Jugend im KZ.

72 | 73 JINDŘICH WALDES (LINKS) UND FRANTIŠEK KUPKA, UM 1930

RUDOLF BRAZDA (LINKS) NACH DER BEFREIUNG IN BUCHENWALD, Ein tschechischer Unternehmer - APRIL 1945 erpresst und enteignet Jindřich Waldes 29.6.1876, Nemyšl, Böhmen 1.7.1941, Havanna (Kuba)

Seit der Jahrhundertwende ist Jind ich Waldes ein erfolg- reicher Industrieller. Seine Druckknöpfe werden in Prag, Dresden, Paris, London und New York produziert. Er ist Jude und erkennt früh die Gefahr für seine Familie. 1938 bringt er sie in die USA, er selbst bleibt in Prag. Nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei beginnen die Deutschen, die dortigen Betriebe zu enteignen. Der Unternehmer selbst wird nach Kriegsbeginn in das KZ Buchenwald verschleppt. Hier erlei- det er einen Diabetes-Kollaps. Dies hindert die SS nicht, ihn zu erpressen. Nachdem er auf sein Vermögen, seine Patente WERNER HILPERT (LINKS) UND , 1948 und Fabriken verzichtet hat, wird er 1941 entlassen und darf in die USA ausreisen. Er stirbt kurz vor der Ankunft auf Kuba.

Anwalt jüdischer Bürger Wegen der ersten Liebe ins KZ Werner Hilpert Rudolf Brazda 17.1.1897, Leipzig 26.6.1913, Brossen 24.2.1957, Oberursel 3.8.2011, Bantzenheim (Frankreich)

Bereits vor 1933 warnt der Jurist und Zentrumspolitiker Wer- Offen zeigen Rudolf Brazda und sein Freund im Sommer 1933 ner Hilpert öffentlich vor den Nationalsozialisten. Als Steuer- ihre Liebe zueinander. Sie gehen Hand in Hand durch die und Wirtschafsberater setzt er sich später für Juden ein, die thüringische Kleinstadt Meuselwitz und küssen sich vor aller enteignet werden sollen. Bei Kriegsbeginn zählt er deshalb zu Augen – trotz der Verbote und Strafandrohungen. Zwei Jahre jenen Personen, die das Regime präventiv inhaftieren lässt. später wird der Sohn tschechischer Einwanderer erstmals Im KZ Buchenwald kommt er zunächst in die schwersten verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach deren Arbeitskommandos, später dann in die Schneiderei. Von dort Verbüßung geht er ins tschechische Karlsbad. 1942 wird er organisiert er in den Wintermonaten Kleidung für andere hier erneut inhaftiert und in das KZ Buchenwald verschleppt. Häftlinge. Als Mitglied des Internationalen Lagerkomitees Als Homosexueller muss er zunächst in die Strafkompanie. kümmert er sich nach der Befreiung um die Versorgung des Doch Mithäftlinge verschaffen ihm eine leichtere Arbeit, was Lagers. Nach dem Krieg ist er Mitbegründer der CDU, Minis- ihm das Leben rettet. Nach dem Krieg lebt er im Elsass und ter in Hessen und Präsident der Deutschen Bundesbahn. erlebt im hohen Alter seine späte Rehabilitierung.

KRIEG UND VERBRECHEN WILLEM DREES, 1958 JÓZEF HUWER (VORN, DRITTER VON LINKS), UM 1922

In der „Goldenen Ecke“ von Buchenwald Willem Drees 5.7.1886, Amsterdam (Niederlande) 14.5.1988, Den Haag (Niederlande)

Als die deutschen Truppen die Niederlande besetzen, ist Willem Drees Fraktionsvorsitzender der sozialdemokra- tischen Arbeiterpartei. Mit anderen führenden Politikern verhaften die Besatzer den vierfachen Familienvater im Juli 1940. Als Druckmittel gegen die Internierung von Deut- schen in Niederländisch-Indien werden die 350 Geiseln im KZ Buchenwald interniert. Hier sind sie getrennt von den anderen Häftlingen untergebracht, von Zwangsarbeit befreit und auch sonst bessergestellt als die übrigen Häftlinge. Ende 1941 wird Willem Drees in die Niederlande verlegt, wo er weitere drei Jahre in Haft bleibt. Nach dem Krieg wird er FRANZ SCHUSTER, 1934. Ministerpräsident. Bis heute ist er wegen seiner Verdienste FOTO: POLIZEI WIEN um den niederländischen Sozialstaat bekannt.

Direktor des Missionshauses in Bruczków Arbeitersohn und Kommunist aus Österreich Józef Huwer Franz Schuster 14.3.1895, Rogów (Oberschlesien) 18.7.1904, Wien (Österreich) 9.1.1941, KZ Buchenwald 23.9.1943, KZ Buchenwald

Sofort nach dem Überfall auf Polen gehen die Deutschen im Eine Woche nach Kriegsbeginn registriert die SS Franz Herbst 1939 brutal gegen die dortigen Eliten vor. Tausende Schuster im KZ Buchenwald als „Neuzugang“. Seit Monaten Professoren, Künstler oder Lehrer werden als potentielle hat der Wiener mit Hunderten anderen auf einer Liste mit „Widerständler“ erschossen oder inhaftiert. Auf einer der Personen gestanden, die im Kriegsfall als „Gefahr für die Verhaftungslisten steht auch der katholische Priester Józef innere Sicherheit“ verhaftet werden sollen. Aufgewachsen in Huwer. Seit 1932 arbeitet er im katholischen Missionshaus in einer Arbeiterfamilie, engagiert sich der Techniker früh für Bruczków, zuerst als Verwalter und Lehrer und nun als Direk- die politische Linke und wird Kommunist. Weil er sich 1934 tor. Die Besatzer richten in dem Kloster ein Internierungs- gegen das neue autoritäre Regime in Österreich stellt, wird er lager ein und verhaften Józef Huwer. Mit weiteren polnischen für vier Jahre inhaftiert. Nach dem „Anschluss“ an Deutsch- Geistlichen wird er im Sommer 1940 nach Deutschland ver- land gilt er deshalb als „wehrunwürdig“ und darf nicht zum schleppt. Im KZ Buchenwald muss er über Wochen im Stein- Militär. In Buchenwald vertritt er Österreich im Internationa- bruch arbeiten. Die Strapazen überlebt er nur wenige Monate. len Lagerkomitee. Er stirbt unter ungeklärten Umständen.

74 | 75 Lebensgeschichten

Gezielt ermordet

Mit der Aussonderung der Kranken und Behinderten bereitet die SS einen Massenmord vor, dem vor allem Juden zum Opfer fallen. Gezielt tötet die SS auch die meisten der von der Wehrmacht ausgelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen. Im Oktober 1942 verlegt sie die jüdischen Häftlinge nach Auschwitz.

MARTIN GOTTHARD GAUGER, 1936

PAUL BARANYAI (VORDERE REIHE, 3. VON RECHTS) MIT ROMA AUS DEM BURGENLAND AUF DEM APPELLPLATZ, HERBST 1939. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

Christ und Pazifist Burgenländer Roma Martin Gotthard Gauger Paul Baranyai 4.8.1905, Elberfeld 28.10.1917, Steingraben im Burgenland (Österreich) 14.7.1941, Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 24.2.1940, KZ Buchenwald

Martin Gaugers juristische Karriere im Staatsdienst findet Nach nicht einmal drei Monaten im KZ Buchenwald ist 1934 ein abruptes Ende. Er verweigert den Treueeid auf Paul Baranyai tot. Ende Juni 1939 ist er in einer der ersten Hitler, wird entlassen und arbeitet fortan als Jurist für die Massendeportationen mit Hunderten burgenländischen evangelische Kirche. Er stammt aus einer Pfarrersfamilie. Roma zuerst in das KZ Dachau und dann auf den Ettersberg Sein Vater wird im gleichen Jahr wegen eines kritischen Arti- verschleppt worden. Wie die anderen registriert die SS den kels verhaftet. Auch er selbst engagiert sich für die inner- 22-jährigen Landarbeiter nach der Ankunft als „Zigeuner“. kirchliche Opposition. Als er 1940 seine Einberufung erhält, Im Lager sind die Männer schwersten Schikanen ausgesetzt. versucht sich der überzeugte Pazifist das Leben zu nehmen. In Schnee und Eis lässt die SS sie in dünner Häftlingskleidung Bei der folgenden Flucht ins Ausland wird er angeschossen. auf Baustellen im Freien arbeiten. Viele überleben den Winter Es folgen Krankenhaus und Gestapohaft. Nach einem Monat nicht. Wer die Strapazen übersteht, wird im Frühjahr 1940 in im KZ Buchenwald schickt die SS ihn 1941 zur Ermordung mit das KZ Mauthausen transportiert. Paul Baranyai schafft es einem „Invalidentransport“ nach Pirna-Sonnenstein. nicht. „Lungenentzündung“ notiert die SS als Todesursache.

KRIEG UND VERBRECHEN MARTIN WOLFF, UM 1939

ROBERT DANNEBERG, 1927

Haftgrund: Besitz eines Fahrrades Martin Wolff 24.9.1894, Aurich 14.3.1942, Tötungsanstalt Bernburg

In Aurich betreibt Familie Wolff ein Ferienheim für jüdische Großstadtkinder. 1940 werden sie aus Ostfriesland vertrie- ben und gehen nach Weimar. Der gelernte Viehhändler wird zur Zwangsarbeit bei einem Kartoffelhändler verpflichtet. Da Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen dürfen, FRITZ LÖHNER-BEDA (RECHTS) MIT LUDWIG HERZER UND fährt der seit dem Ersten Weltkrieg gehbehinderte Familien- FRANZ LEHÁR, UM 1930 vater mit dem Fahrrad zur Arbeit. Auf offener Straße verhaf- tet ihn die Gestapo Anfang 1942 unter dem Vorwand, unwahre Angaben über den Besitz seines Fahrrads gemacht zu haben. Nach wenigen Wochen im KZ Buchenwald lässt die SS ihn in der Tötungsanstalt Bernburg ermorden. Auch seine Frau und zwei seiner fünf Kinder überleben den Holocaust nicht.

„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen …“ Einer der Väter des Roten Wien Fritz Löhner-Beda Robert Danneberg 24.6.1883, Wildenschwert (Böhmen) 23.7.1885, Wien (Österreich) 4.12.1942, KZ Auschwitz um den 12.12.1942, KZ Auschwitz

Seit den 1920er Jahren ist der promovierte Jurist Fritz Errungenschaften wie sozialer Wohnungsbau oder Fortbil- Löhner-Beda als Schriftsteller und Liedertexter weit über dungen für Arbeiter tragen im sozialdemokratisch regier- Wien hinaus bekannt. Seine, zusammen mit Franz Lehár ten „roten“ Wien der 1920er Jahre die Handschrift Robert entstandenen Operetten sind weltberühmt. Offen positio- Dannebergs. Bis zuletzt kämpft der Sozialdemokrat für die niert er sich gegen das NS-Regime. Nach dem „Anschluss“ Unabhängigkeit Österreichs. Nach dem „Anschluss“ versucht Österreichs wird er deshalb mit anderen, zumeist jüdischen er, das Land zu verlassen. Die Flucht misslingt und er wird im prominenten Österreichern über das KZ Dachau in das KZ Oktober 1938 in das KZ Buchenwald gebracht. Seine Familie Buchenwald deportiert. Im Dezember 1938 schreibt er hier und Freunde kämpfen für seine Freilassung. Mithäftlingen den Text des offiziellen Buchenwaldliedes, der vielen seiner gelingt es zumindest, ihm leichtere Arbeit in der „Strumpf- Mithäftlingen Mut macht. Im Herbst 1942 deportiert die SS stopferei“ zu beschaffen. Als die SS das Lager im Oktober den dreifachen Vater mit den meisten jüdischen Häftlingen 1942 „judenfrei“ machen will, steht auch sein Name auf einer in das KZ Auschwitz, wo er Wochen später nach schweren Transportliste nach Auschwitz. Wie und wann genau er dort Misshandlungen stirbt. stirbt, ist bis heute unklar.

76 | 77 LUDWIG JOHANN FREIHERR BECHINIE VON LAZAN, UNDATIERT

FAYBUSCH ITZKEWITSCH, UM 1935 Sicherheitsdirektor von Salzburg Ludwig Johann Freiherr Bechinie von Lazan 7.2.1879, Wien (Österreich) 22.7.1941, Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

Seit 1933 existiert in Österreich ein autoritäres Regime nach Vorbild des faschistischen Italien. Als Sicherheitsdirektor von Salzburg soll Ludwig Bechinie es gegen jede Bedrohung schützen. Ohne Unterschied geht er gegen Sozialdemokraten, Kommunisten und auch gegen österreichische National- sozialisten vor. 1938 wird er verhaftet und im Jahr darauf in das KZ Buchenwald deportiert. Hier trifft er auf Häftlinge, die er selbst verfolgen ließ. Wer sich an ihm rächt, sind jedoch österreichische SS-Männer. Er wird gezielt zu Schwerst- arbeiten eingesetzt und misshandelt. Im Sommer 1941 schickt die SS den 62-Jährigen mit geschwächten und kranken Häft- lingen nach Pirna-Sonnenstein, wo sie ermordet werden. ALEKSANDR MAKEJEW (LINKS) MIT EINEM FREUND, 1937

Verbotene Liebe Vom Rotarmisten zum „Arbeitsrussen“ Faybusch (Ferdinand) Itzkewitsch Aleksandr Makejew 15.8.1891, Lipsko (Russland) 21.11.1919, Obwal (Sowjetunion) 24.7.1941, Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 3.1.1942, KZ Buchenwald

Im Ersten Weltkrieg gerät Faybusch Itzkewitsch in deutsche Aleksandr Makejew ist künstlerisch begabt, vielseitig inte- Gefangenschaft. Danach bleibt er in Deutschland. Im nie- ressiert und hat bereits mit 20 Jahren ein Lehrerdiplom. Er dersächsischen Ehmen gründet er eine Schusterwerkstatt verliebt sich in eine Kollegin. Sie wollen heiraten, haben und verliebt sich in eine Einheimische. 1923 wird ein Sohn Pläne. Vorher muss er jedoch zur Armee und wird in Weiß- geboren. Seine jüdische Herkunft spielt keine Rolle. Doch russland stationiert. Nach dem deutschen Überfall auf die seit den Nürnberger Rassengesetzen ist Liebe zwischen Sowjetunion gerät er mit Zehntausenden Rotarmisten in Juden und Deutschen strafbar. Von Nachbarn denunziert, Gefangenschaft. Die Bedingungen sind verheerend. Unzählige wird er als „Rassenschänder“ verurteilt. Nach Monaten im sterben oder werden ermordet. Mit 2.000 Kriegsgefangenen Gefängnis bringt man ihn 1938 in das KZ Buchenwald. Seine wird Aleksandr Makejew im Herbst 1941 in das KZ Buchen- Lebensgefährtin und er bemühen sich vergeblich um die wald transportiert. Die SS hat jedoch keine Verwendung Entlassung. 1941 setzt die SS ihn auf die Liste der arbeits- für die Männer. Binnen eines Jahres stirbt jeder Dritte an unfähigen jüdischen Häftlinge. In Pirna-Sonnenstein lässt gezielter Vernachlässigung. Auch der junge Lehrer überlebt sie ihn ermorden. nur kurze Zeit.

KRIEG UND VERBRECHEN

Dinge - Geschichten

Jeder der hier gezeigten Gegenstände hat mehrere Geschichten. Die Dinge stammen aus dem Lager und sind dort benutzt worden. Manche haben Überlebende nach der Befreiung zur Erinnerung an besondere Situationen im Lager, an nahe stehende Menschen oder ermordete Freunde und Verwandte aufbewahrt. Es dauert in der Bundesrepublik Jahrzehnte, bis von Museen und in Gedenkstätten solche Zeugnisse der Verbrechen systematisch gesammelt und die damit verbundenen Geschichten erschlossen und dargestellt werden.

Einkleidung.

Die SS teilt den Häftlingen bei der Ankunft im Lager minderwertige Kleidung zu, die sie tagtäglich tragen müssen: bei der Arbeit und bei jeder Witterung, bis sie zerschlissen ist. Anfangs sind dies gestreifte Häftlingsuniformen, später, im Laufe des Krieges, Kleidungsstücke von Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden, oft Lumpen. Für Handwerker, Sanitäter oder für die Lagerkapelle gibt es Arbeitsbekleidung. Neben den Funktionshäftlingen haben nur wenige die Möglichkeit, sich bessere und wärmere Sachen zu beschaffen. Die aufgenäh- ten Häftlingsnummern machen jeden für die SS sofort identifizierbar; farbige Winkel markieren, welcher Kategorie jeder Häftling angehört.

LÉON DELARBRE, A L’ARRIVÉE, APRÈS DÉSINFECTION: DÉPOUILLÉS DE LEURS VÊTEMENTS (BEI DER ANKUNFT, NACH DER DESINFEKTION: IHRER KLEIDUNG BERAUBT), BUCHENWALD 1944. BLEISTIFTZEICHNUNG.

„Der Anblick der Häftlingskolonnen in diesen verschiedenartigen Anzügen – von wirklich gutsitzenden Maßanzügen bis zu abgetragenen Lumpen – war schlechthin grotesk; auch der letzte Eindruck einer Einheitlichkeit ging verloren, und es mußte dem Blindesten klar werden, daß jedes dieser Lager eine ganze Welt mit klaffenden sozialen Unterschieden darstellte.“

BENEDIKT KAUTSKY, TEUFEL UND VERDAMMTE, ZÜRICH 1946

82 | 83 HÄFTLINGSJACKE VON RICHARD KAHN-STARRÉ (1921–1948), DEUT- HÄFTLINGSMANTEL VON SIMONE LOUYOT (1911). DIE 33-JÄHRIGE SCHER POLITISCHER HÄFTLING (NR. 20176), UM 1943. AB 1944 LÄSST FRANZÖSIN TRÄGT DEN MANTEL IM WINTER 1944/45 BEI DER DIE SS AUCH ZIVILE KLEIDUNGSSTÜCKE VON IN AUSCHWITZ ERMOR- ZWANGSARBEIT IM FRAUENAUSSENLAGER TORGAU. DETEN JUDEN AN DIE HÄFTLINGE DES KZ BUCHENWALD AUSGEBEN.

HINTEN LINKS: HÄFTLINGSJACKE VON PAUL HIRSCHBERGER (1894– 1958), INHAFTIERT ALS ZEUGE JEHOVAS (NR. 1528). „RÜCKFÄLLIGE“ SIND ZUM WIEDERHOLTEN MALE IN EIN KONZENTRATIONSLAGER EINGEWIESENE GEFANGENE. SIE MÜSSEN OBERHALB IHRES WINKELS EINEN BALKEN TRAGEN.

ARMBINDEN BEZEICHNEN DIE AUFGABEN DER FUNKTIONSHÄFTLINGE MARGIT FÜRST WIRD AUS AUSCHWITZ-BIRKENAU ZUR ZWANGSARBEIT IM LAGER. HIER EINE ARMBINDE MIT DER AUFSCHRIFT „KAPO“ EINES IN DAS AUSSENLAGER LIPPSTADT GEBRACHT. DIE HÄFTLINGSMARKE NAMENTLICH NICHT BEKANNTEN HÄFTLINGS. MUSS SIE UM DEN HALS TRAGEN. DIE MARKE ENTHÄLT DIE LETZTEN DREI ZIFFERN IHRER HÄFTLINGSNUMMER 25730.

DINGE – GESCHICHTEN UNIFORMBLUSEN ZWEIER NAMENTLICH NICHT BEKANNTER ANGEHÖ- HÄFTLINGSKLEIDUNG VON ZDEN K SYROVÁTKA (1907–1974), RIGER DER ROTEN ARMEE. DIE IN DEN BLOCKS 1, 7 UND 13 INHAF- TSCHECHISCHER POLITISCHER HÄFTLING. DER 37-JÄHRIGE TIERTEN SOWJETISCHEN KRIEGSGEFANGENEN BEKOMMEN KEINE ARBEITET AUF DEM HOLZHOF UND WIRD IM JUNI 1944 INS HÄFTLINGSKLEIDUNG, SONDERN TRAGEN IHRE MILITÄRUNIFORM AUSSENLAGER WANSLEBEN GESCHICKT. OHNE RANG- UND HOHEITSZEICHEN. IM HINTERGRUND LINKS: HÄFTLINGSKLEIDUNG VON JEAN FONTEYNE (1899–1974), BELGISCHER POLITISCHER HÄFTLING. ER WIRD IM MAI 1944 INS LAGER EINGELIEFERT UND ARBEITET ALS PFLEGER IM HÄFTLINGSKRANKENBAU.

SCHUHE EINES NAMENTLICH NICHT BEKANNTEN HÄFTLINGS. IN DER HÄFTLINGSMÜTZE VON KLAUS TROSTORFF. DER 24-JÄHRIGE MUSS HÄFTLINGSTISCHLEREI WERDEN AUCH HOLZSCHUHE MIT EINEM ZUNÄCHST IM ARBEITSKOMMANDO ENTWÄSSERUNG UND SPÄTER AUF LEDEROBERTEIL HERGESTELLT. DIE HALTBARKEITSDAUER DIESER DEM BAUHOF ARBEITEN. SCHUHE BETRÄGT ETWA 16 MONATE.

84 | 85 OBEN LINKS: DIE ANGEHÖRIGEN DER LAGERKAPELLE ERHALTEN AB 1940 UNIFORMEN DER EHEMALIGEN KÖNIGLICH-JUGOSLAWISCHEN GARDE, DIE NACH DER BESETZUNG DURCH DEUTSCHE TRUPPEN REQUIRIERT WORDEN WAREN. ARBEITSKLEIDUNG VON JAROSLAV JIŘIK (1905–1971), TSCHECHISCHER POLITISCHER HÄFTLING.

OBEN RECHTS: IM GRÖSSTEN FRAUENAUSSENLAGER BEI DER HASAG LEIPZIG ARBEITEN 5.000 FRAUEN, UNTER IHNEN DIE 42-JÄHRIGE FRANZÖSIN SUZANNE PIC MIT IHRER TOCHTER. HÄFTLINGSJACKE VON SUZANNE PIC.

OBEN GELEGT: ARBEITSKLEIDUNG VON KURT LEONHARDT (1903–1980), DEUTSCHER POLITISCHER HÄFTLING IM HÄFTLINGSKRANKENBAU.

ALS ER 1943 AUS AUSCHWITZ IN BUCHENWALD EINTRIFFT, ERHÄLT DER TSCHECHISCHE POLITISCHE HÄFTLING ANTONÍN SEMERÁK (1924-1945) DIESE NUMMER. ER BEHÄLT SIE AUCH IM AUSSENLAGER DORA, WO ER VIER WOCHEN VOR DER BEFREIUNG STIRBT.

NACH DEM LUFTANGRIFF IM AUGUST 1944 STELLT DER HÄFTLINGS- KRANKENBAU EINEN MOBILEN SANITÄTSTRUPP AUF, ERKENNBAR AN SELBSTGEFERTIGTEN ROT-KREUZ-ARMBINDEN. ARMBINDE VON PAUL BÖHME (1907–1991), DEUTSCHER POLITISCHER HÄFTLING. AUCH IM GUSTLOFF-WERK II TRAGEN DIE FUNKTIONSHÄFTLINGE ARMBINDEN. HIER EINE ARMBINDE EINES NAMENTLICH NICHT BEKANNTEN HÄFTLINGS.

DINGE – GESCHICHTEN

Unterernährung.

Hunger bestimmt den Alltag der meisten Häftlinge. Ihre Nahrung besteht aus Brot und Suppe. Wer weder Löffel noch Schüssel hat, ist verloren. Wie viel der Einzelne zu essen bekommt, bestimmt die SS. Häftlinge der Sonderlager oder des 1942 errichteten Kleinen Lagers erhalten nur halbe Portionen, weil sie keinem Arbeitskommando zu- geteilt werden. Essensentzug gehört zu den schwersten Lagerstrafen. Gezielt setzt die SS auf Hunger, um die Konkurrenz unter den Häftlingen zu schüren und das Lager zu beherrschen. Mangelkrankheiten und Tuberkulose, unter der Tausende leiden, breiten sich aus.

„Im Lager herrscht das Gesetz des Dschungels. Bei der Verpflegungsverteilung stürzen sich manche Häftlinge auf die Essenkübel und die Brote, und immer bleibt für die letzten nichts übrig. Manchmal hält der Verteiler inne, nimmt einen Knüppel oder auch die volle Suppenkelle und schlägt zu, um die wilde Horde in Schach zu halten. Die Decken, die Strohsäcke, die Kochgeschirre, während des Schlafs auch die Schuhe: alles verschwindet, alles wird gestohlen. Man muss sich schlagen, um die Dinge zu verteidigen oder wieder- zubekommen, die das Leben bedeuten, denn wenn man kein Kochgeschirr hat, gibt es keine Suppe …“

AIMÉ BONIFAS, HÄFTLING 20801, BERLIN 2015 [PARIS 1946]

HENRI PIECK, SO MUSSTEN SIE NEBEN TOTEN LEBEN, BUCHENWALD 1944. KOHLEZEICHNUNG, 21 X 31 CM. „BUCHENWALD“. REPRODUKTIONEN NACH SEINEN ZEICHNUNGEN AUS DEM KONZENTRATIONSLAGER, BERLIN/ 1949

88 | 89 ALUMINIUMBECHER, DEN HÄFTLINGE NACH DER REGISTRIERUNG DER LÖFFEL TRÄGT DIE INITIALEN „JH“, DIE HAFTNUMMER 86973, AUSGEHÄNDIGT BEKOMMEN. FUNDORT: GELÄNDE DER GEDENKSTÄTTE EINEN HÄFTLINGSWINKEL UND DAS DATUM „7.11.44“. ER GEHÖRT DEM DÄNISCHEN POLIZISTEN HENDRIK JENSEN, DER IM HERBST 1944 INS LAGER EINGELIEFERT WIRD. IM DEZEMBER 1944 VERLEGT IHN DIE SS IN EIN KRIEGSGEFANGENENLAGER. SCHENKUNG HENDRIK JENSEN

OTTOMAR ROTHMANN (1921), DEUTSCHER POLITISCHER HÄFTLING, BRINGT MIT DEM KOCHGESCHIRR EINE ZEITLANG TÄGLICH ZUSÄTZ- LICHES ESSEN ZU SEINEM KRANKEN MITHÄFTLING HEINRICH BLUM AUS DER HÄFTLINGSKANTINE INS HÄFTLINGSREVIER. SCHENKUNG OTTOMAR ROTHMANN

ESSENKÜBEL, KELLEN, WASSERKANNE. DIE TÄGLICHE SUPPENRATION WIRD MIT KELLEN AN DIE HÄFTLINGE AUSGETEILT. DIE GROSSE KELLE FASST EINEN HALBEN LITER, DIES ENTSPRICHT EINER GANZEN RATION. NICHT ARBEITENDE HÄFTLINGE ERHALTEN LEDIGLICH EINEN VIERTEL LITER SUPPE. FUNDORT: DAW-GELÄNDE

IM HINTERGRUND: ESSENTRÄGER HOLEN DIE VERPFLEGUNG FÜR DIE BLOCKS MIT KÜBELN AUS DER HÄFTLINGSKÜCHE. FUNDORT: STEINBRUCH

DINGE – GESCHICHTEN

Selbstbehauptung.

Die Zwangsordnung des Lagers zielt auf die Zerstörung der Persönlichkeit der Häftlinge. Daher ist es für das Überleben wichtig, Lebensgewohnheiten und Überzeugungen zu bewahren und den religiösen Glauben sowie die eigene Kultur im Kern aufrechtzuerhalten und mit anderen zu teilen.

„In Magdeburg, im Lager, sind wir auf der Pritsche gesessen, am Abend, und sie hat uns gesagt: ‚Madln, ziehts euch ordentlich an! Versuchts euch herzu- richten, damit ihr net so gedrückt seid. Das deprimiert ja die andern, wenn eine so elend daherkommt.‘ – Sogar die Kittel haben wir uns gekürzt, stell dir das vor! Völlig wahllos hast ja Fetzen gekriegt, die dir überhaupt nicht gepasst haben. Und die Anni hat immer gesagt zu uns: ‚Laßts euch ja net moralisch unterkriegn! Ihr werdets sehen, es wird alles gut gehn, der Krieg wird bald aus sein. Durchhalten!‘“

DIE ÖSTERREICHISCHE DEPORTIERTE CILLI MUCHITSCH ÜBER ANNA PECZENIK UND DIE FRAUEN DES AUSSENLAGERS MAGDEBURG. KARIN BERGER, ICH GEB DIR EINEN MANTEL, DASS DU IHN NOCH IN FREIHEIT TRAGEN KANNST, WIEN 1987

DEN KLEINEN ALTAR AUS GIPS SCHMUGGELT MAURICE HEWITT AUS DEM DURCHGANGSLAGER COMPIÈGNE BEI PARIS NACH BUCHENWALD UND BRINGT IHN NACH DER BEFREIUNG MIT NACH HAUSE. DIE INSCHRIFT LAUTET: „WEIHNACHTEN 1943“.

KARL SCHULZ ILLUSTRIERT EINIGE SEINER BRIEFE, DIE ER AUS BUCHENWALD AN DIE FAMILIE SCHREIBEN DARF, MIT KLEINEN AQUARELLIERTEN ZEICHNUNGEN. SIE SOLLEN SEINEN LEBENSWILLEN ZEIGEN UND DIE ANGEHÖRIGEN ERFREUEN.

92 | 93 GRETEL UND OTTO ROTH BEFINDEN SICH BEIDE IM KONZENTRATIONS- DAS SCHACHSPIEL WIRD IM LAGER AUS HOLZRESTEN GEFERTIGT LAGER, DER SOHN BEI DEN GROSSELTERN. FÜR IHN LÄSST OTTO ROTH UND NACH DER BEFREIUNG VON MAURICE HEWITT NACH HAUSE VON MITHÄFTLINGEN EINEN BAUERNHOF ANFERTIGEN. EIN SS-MANN, MITGEBRACHT. DEN ER AUS FRANKFURT KENNT, SCHMUGGELT DIE TEILE AUS DEM LAGER. BIS DER BAUERNHOF KOMPLETT IST, VERGEHT SOVIEL ZEIT, DASS ARTUR ROTH NICHT MEHR MIT IHM SPIELT, SONDERN IHN NUR SORGSAM AUFHEBT, ZULETZT IN ZWEI SCHUHKARTONS.

LINKS: SUZANNE PIC (VERHEIRATET ORTS) FERTIGT DIE KLEINEN SCHMUCKSTÜCKE IM AUSSENLAGER HASAG LEIPZIG AUS ABFALL- MATERIALIEN, UNTER ANDEREM AUS SCHIESSDRAHT. DAS AUS STROH, WOLLE, STOFF- UND PAPIERRESTEN HERGESTELLTE ADRESSBÜCHLEIN ERHÄLT SIE ALS WEIHNACHTSGESCHENK VON MITHÄFTLINGEN.

UNTEN: „ALS WIR IN WEIMAR TRÜMMER RÄUMTEN, HAT EIN FREUND EINE KLEINE BÜCHSE GEFUNDEN. ER NAHM NUR EINIGE STIFTE HER- AUS UND SCHMISS DANN DIE BÜCHSE WEG. ICH HABE SIE GENOMMEN UND WÄHREND DER RÄUMUNGSARBEITEN IN WEIMAR WEITER FÜR ‚PERSÖNLICHE SACHEN‘ VERWENDET. SIE HAT DANN AUCH DIE REISE VON BUCHENWALD NACH TEREZÍN ÜBERSTANDEN UND ICH HABE SIE WEITER ALS ANDENKEN BEHALTEN. DIE INLIEGENDEN STÜCKE HABEN ALLE EINE GESCHICHTE, WIE ICH SIE BEKOMMEN HABE, WARUM ICH SIE BEHIELT USW.“ BERICHT CHARLES BRUSSELAIRS, 6.9.1999. GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD

DINGE – GESCHICHTEN DIE MANDOLINE BEGLEITET HERBERT THIELE ZWISCHEN 1933 UND 1945 AUF SEINEN VERSCHIEDENEN HAFTSTATIONEN. SIE TRÄGT DIE INSCHRIFTEN „HERBERT THIELE, TAUCHA-LEIPZIG, VERHAFTET 1933, GRÜSST DIE FREIHEIT!“, „WIR HOFFTEN AUF FREIHEIT, WIR GINGEN IN DEN TOD! WIR WURDEN HEUTE VERSCHLEPPT!“ UND „APRIL 1945“.

FISHEL MEDRZYZECKI FERTIGT DEN DAVIDSTERN IM ARBEITS- LAGER BLECHHAMMER AUS EINER UNGARISCHEN MÜNZE. ER ÜBER- STEHT DEN TODESMARSCH VON AUSCHWITZ, STIRBT ABER AM 22. FEBRUAR 1945 IM KLEINEN LAGER. DORT WIRD DER DAVID- STERN 2014 BEI AUSGRABUNGEN GEBORGEN. FUNDORT: HALDE II

DER PROGRAMMZETTEL EINES KONZERTES STAMMT AUS EINEM VOM POLNISCHEN HÄFTLING KAZIMIERZ TYMIŃSKI 1944/45 IN BUCHENWALD ANGELEGTEN ALBUM. IN IHM SAMMELT ER NEBEN ZEICHNUNGEN UND LIEDTEXTEN AUCH VON ANDEREN HÄFTLINGEN ENTWORFENE ZETTEL FÜR KETTE UND BRILLE TRÄGT BRUNO APITZ BEI DER AUFFÜHRUNG VON DIE SEIT SOMMER 1943 IM KINOSAAL STATTFINDENDEN SHAKESPEARES „WAS IHR WOLLT“ IN EINER BARACKE DER POLITISCHEN HÄFTLINGSKONZERTE. HÄFTLINGE.

94 | 95 MESSER MIT FESTSTEHENDEN KLINGEN SIND IM LAGER VERBOTEN UND MÜSSEN HEIMLICH HERGESTELLT WERDEN. SIE KÖNNEN ALS BESTECK, ABER AUCH ALS WAFFE DIENEN. DIE MESSER WERDEN BEI AUSGRABUNGEN AUF DEM GELÄNDE BUCHENWALDS GEBORGEN.

UM DER STÄNDIGEN PLAGE DURCH KLEIDERLÄUSE HERR ZU WERDEN, BAUEN SICH HÄFTLINGE EIN BÜGELEISEN, DAS SIE ERHITZEN, UM MIT IHM DIE NÄHTE IHRER KLEIDUNG ENTLANG ZU FAHREN. DAS BÜGEL- EISEN WIRD 2004 BEI AUSGRABUNGEN AUF DEM GELÄNDE BUCHEN- WALDS GEBORGEN. FUNDORT: HALDE II

HYGIENEARTIKEL JEGLICHER ART SIND VOR ALLEM IM KLEINEN LAGER ABSOLUTE MANGELWARE. ZAHNBÜRSTEN WERDEN GENUTZT, BIS SIE VÖLLIG VERSCHLISSEN SIND. ABGEBROCHENE STIELE WERDEN DURCH IMPROVISIERTE NEUE GRIFFE ERSETZT.

DER KLEINE GRABSTEIN WIRD VOM JUGOSLAWISCHEN HÄFTLING DIE BEIDEN FISCHE WERDEN VON GEORGI LOIK AUS RINDERKNOCHEN BERNARD SMRTNIK (1924) IM GEDENKEN AN SEINE BEIDEN GESCHNITZT, DIE ER SICH AUS DER HÄFTLINGSKÜCHE BESORGT. GESTORBENEN BRÜDER LOJZE UND LOVRENC IM KZ RENICCI BEI ER REIBT DIE FISCHE IN JEDER FREIEN MINUTE AN DER HÄFTLINGS- AREZZO HERGESTELLT. ER BRINGT IHN 1943 MIT NACH BUCHENWALD, KLEIDUNG BLANK, BIS SIE GLÄNZEN. WO ER BEI AUSGRABUNGEN GEBORGEN WIRD. FUNDORT: HALDE II

DINGE – GESCHICHTEN HÄFTLINGE DES KZ BUCHENWALD BEI AUFRÄUMARBEITEN IN DER KÖLNER ALTSTADT NACH EINEM BOMBENANGRIFF, JULI 1943.

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD 1943-1944 1943 1944 MÄNNER FRAUEN NEU EINGEWIESENE HÄFTLINGE 42.177 97.867 26.298

IN ANDERE LAGER ”ÜBERSTELLTE“ ODER ENTLASSENE HÄFTLINGE 10.859 63.494 1.841

DURCHSCHNITTLICHE BELEGUNG DES LAGERS 20.414 58.334 --

BELEGUNG DES LAGERS AM JAHRESENDE 37.319 63.048 24.210

TOTE HÄFTLINGE 3.862 9.468 247 „Totaler Krieg“

1943 – die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad straft die Propaganda vom baldigen „Endsieg“ Lügen. Als Antwort darauf ruft das Regime den „totalen Krieg“ aus. Doch im vierten Kriegsjahr ist es nur noch mit Millio- nen von ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern mög- lich, die Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten.

Diesen Menschen droht die Einweisung in Konzentrationslager, wenn sie verbotene Kontakte zu Deutschen unterhalten oder sich der Arbeit entziehen. Tausende von sowjetischen und polnischen Zwangsarbeiter- innen und Zwangsarbeitern liefert die Gestapo deshalb in Konzentrations- lager ein. Auch die Konzentrationslager werden auf die Rüstungsproduk- tion ausgerichtet. Damit steigt der Bedarf an Häftlingen weiter.

Aus den besetzten Ländern lassen Gestapo und SS Hunderttausende in die Konzentrationslager deportieren; ab Mitte 1944 sogar Juden – aber auch Roma – aus Auschwitz, die vor ihrer Vernichtung noch Zwangsarbeit leisten sollen. Die SS vermietet die Häftlinge an die Rüstungsindustrie und errichtet in ganz Deutschland, gemeinsam mit den Firmenleitungen, Außenlager. Sie sind unübersehbar.

96 | 97 Ein Lager für die Kriegs- wirtschaft

Das KZ Buchenwald wird zum Rüstungsstandort. Die SS baut eine Gewehrfabrik und arbeitet eng mit der Rüstungsindustrie zusammen. Die Firmenleitungen interessiert nichts anderes als die Leistung der Häftlinge. Um die Produktivität zu steigern, setzt die SS nun nicht mehr ausschließlich auf Strafen, sondern führt zusätzlich Prämien als Anreiz ein. Gleichzeitig müssen Häftlinge in mörderischem Tempo eine Bahnstrecke bauen, die Fabrik und Lager mit dem Bahnhof in Weimar verbindet. Über sie erreichen ab 1944 auch immer größere Häftlings- transporte das KZ Buchenwald. Die Ankommenden schleust die SS nach wenigen Wochen zur Zwangsarbeit in die entstehenden Außen- lager. Das Hauptlager ist für die meisten Häftlinge jetzt nur noch Durchgangsstation.

„Die Arbeitszeit ist an keine Grenzen gebunden.“ WEISUNG DES CHEFS DES SS-WIRTSCHAFTSVERWALTUNGSHAUPTAMTES POHL AN DIE KZ-KOMMANDANTEN, RUNDSCHREIBEN, 30.4.1942. BUNDESARCHIV BERLIN

NEBENUHR EINER ZENTRAL GESCHALTETEN UHRENANLAGE DER FIRMA SIEMENS & HALSKE, DIE IM RÜSTUNGSWERK UND IM BAHNHOF BUCHENWALD ZUM EINSATZ KAM, 1943.

98 | 99 LAGERKOMMANDANT PISTER (MITTE), SEIN ADJUTANT SCHMIDT (LINKS) UND BETRIEBSLEITER DES RÜSTUNGSWERKS, 1943. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

KZ-Rüstungsbetrieb.

Die Weimarer Wilhelm-Gustloff-Werke mieten in Buchenwald Produktionshallen samt Häft- lingen von der SS. Angetrieben von Wachleuten und Werksangestellten müssen Häftlinge in elf- stündigen Tag- und Nachtschichten Gewehre und Geschützteile montieren.

„Der leitende Ingenieur Herr Lohfink ordnete an: ‚Schlagt den Häftlingen ins Gesicht und tretet ihnen in den Hintern.‘ Zudem verlangte er, dass man meldete, falls die Häftlinge die Arbeit nicht vorschriftsmäßig machten […]. Ich folgte die- sen Anweisungen wohl oder übel. Ich schlug den Häftlingen ins Gesicht, ich schlug einem Häftling in seine Genitalien und in die Nieren. Ich beschimpf- te die Häftlinge, ich drohte ihnen, dass sie nach mehrfacher Meldung nach Buchenwald kommen und dort gehängt würden.“

AUSSAGE DES VORARBEITERS ALFRED REGENHARDT ÜBER DIE DIE BETRIEBSLEITUNG FORDERT VON DER SS, DEN BELGISCHEN ARBEITSVERHÄLTNISSE IM GUSTLOFF-WERK IN WEIMAR, HÄFTLING HENRI CHARLIER WEGEN „DISZIPLINLOSIGKEIT“ IN DEM EBENFALLS HÄFTLINGE ARBEITEN MÜSSEN, 12.5.1945. ABZUZIEHEN, 8.11.1944. ER KOMMT IN DAS STRAFKOMMANDO NATIONAL ARCHIVES AT COLLEGE PARK, MARYLAND „GÄRTNEREI“ UND VON DORT IN DAS AUSSENLAGER ELLRICH, WO ER ANFANG FEBRUAR 1945 STIRBT.

”TOTALER KRIEG“ Produktionssteigerung.

Gewalt bleibt das erste Mittel der SS, um von den Häftlingen Leistungen zu erzwingen. Prämien – einschließlich der Erlaubnis zum Besuch des Häftlings- bordells – ändern daran nichts.

PRÄMIENSCHEINE, DAS SOGENANNTE LAGERGELD. HIERMIT KÖNNEN DIE HÄFTLINGE IN DER LAGERKANTINE MINDERWERTIGE NAHRUNGSMITTEL KAUFEN ODER BORDELLBESUCHE BEZAHLEN.

100 | 101 SEIT 1939 IST MARGARETHE W. (1918-1990) IM FRAUEN-KZ RAVENSBRÜCK INHAFTIERT. MIT 15 MITGEFANGENEN BRINGT DIE SS SIE IM JULI 1943 NACH BUCHENWALD, WO SIE ZUR PROSTITUTION GEZWUNGEN WERDEN. ERST JAHRZEHNTE SPÄTER SPRICHT SIE ERSTMALS ÜBER DIESE ZEIT.

„Wir mussten nun jeden Abend acht Männer wenn wir kommen, wir wollen unseren Teil. Die über uns rübersteigen lassen innerhalb von zwei beiden haben natürlich ihr Recht verlangt, und Stunden. Das hieß, die konnten rein, mussten ins damit war ich auch einverstanden, denn das Ärztezimmer, sich eine Spritze abholen, konnten war mir lieber als die ewigen acht Männer jeden zu der Nummer, also dem Häftling, konnten ihre Abend. Die beiden kamen abwechselnd, der eine Sache da verrichten, rein, rauf, runter, raus, kam den einen Tag, der andere den nächsten. wieder zurück, kriegten nochmals eine Spritze Aber trotzdem bin ich nicht mit heiler Haut davon- und gingen wieder. [...] Meine Rettung waren zwei gekommen. Da ist mancher gewesen, der auch politische Häftlinge. Durch diese beiden habe ich Geld hatte, der gesagt hat, ich will auch mein viele Vergünstigungen bekommen. [...] Vergnügen, dem konnte man sich nicht wider- setzen. […] Man wird abgestumpft, das Leben Von Anfang an wurde da beschlossen, wir zählt einfach nicht mehr, denn sie hatten einem schicken die Häftlinge, die tun dir nichts, aber als Mensch alles kaputt gemacht.“

MARGARETHE W. ÜBER DAS LAGERBORDELL. INTERVIEW 1990 CHRISTA PAUL, ZWANGSPROSTITUTION, BERLIN 1994

IM FOTOALBUM DES LAGERKOMMANDANTEN PISTER WIRD DAS ALS „HÄFTLINGS-SONDERBAU“ BEZEICHNETE HÄFTLINGSBORDELL ALS EIN BESONDERS FREUNDLICH EINGERICHTETER ORT PRÄSENTIERT, 1943. WAS DIE ZUR PROSTITUTION GEZWUNGENEN FRAUEN HIER ERLEBEN MÜSSEN, ZEIGEN DIE FOTOS NICHT. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

”TOTALER KRIEG“ Bahnanschluss.

Mit dem Bauprojekt will die SS beweisen, dass mit brutalen Mitteln alles erreicht werden kann. Doch trotz äußerster Rücksichtslosigkeit ist die Bahnstrecke Weimar – Buchenwald zur feierlich inszenierten Einweihung nur provisorisch fertig gestellt. Trotzdem profitiert die Bachstein GmbH davon.

DIE SS DOKUMENTIERT DIE BAUARBEITEN, FRÜHJAHR 1943. ES SIND GESTELLTE FOTOS, DIE SPÄTER AN DIE GÄSTE DER ERÖFFNUNGSFEIER VERTEILT WERDEN. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

„Das Kommando Bahnbau galt als das Schlechteste im Lager. Die Häftlinge wurden mit Knüppeln und Schaufelstielen zur Arbeit angetrieben; Rücksicht auf Witterungsverhältnisse wurde nicht genommen. Erschöpft erreichten die Kolonnen abends das Lager, häufig zusammengebrochene Häftlinge tragend mit sich führend. Eine zusätzliche Ernährung wurde ihnen nicht gewährt. Die Kapos klagten über die Dezimierung der Stärke ihrer Arbeitsgruppen und mussten sie ständig durch neue Häftlinge auffüllen lassen.“

DER EHEMALIGE DEUTSCHE HÄFTLING HANS MUCHE, 1960. HESSISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WIESBADEN

102 | 103 DIE BACHSTEIN GMBH AUS BERLIN BETREIBT DIE NEUE STRECKE. SIE ARBEITET ENG MIT DER SS ZUSAMMEN UND VERDIENT AN ALLEN GÜTERN UND HÄFTLINGEN, DIE ÜBER DIE STRECKE TRANSPORTIERT WERDEN.

VERTRETER DER SS, DER BACHSTEIN GMBH, DER REICHSBAHN UND DER STADT WEIMAR FEIERN DIE ERÖFFNUNG DER STRECKE MIT EINER SONDER- FAHRT UND EINEM „KAMERADSCHAFTSABEND“ IN BUCHENWALD, 21.6.1943. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

„Es ist uns ohne Gestellung der Häftlinge nicht „Der tägliche durchschnittliche Güterverkehr möglich, noch weiter die betriebssichere Unter- beträgt etwa 50 Ladungen. Dazu kommen die haltung der Bahn aufrechtzuerhalten. Wir bitten stoßweise einsetzenden Häftlingstransporte. [...] nochmals alles daranzusetzen, daß uns sofort Er [Abteilungspräsident Geier] gab aber seiner Häftlinge zur Verfügung gestellt werden, damit Befürchtung Ausdruck, ob wir auch in der kom- die Unterhaltungsarbeiten auf der Anschlußbahn menden Zeit den Verkehr werden bewältigen von Schöndorf nach Buchenwald sofort wieder können, denn es soll angeblich eine Häftlingsmen- aufgenommen werden können.“ ge von etwa 40 000 Menschen hierhergebracht, aussortiert, das Brauchbare oben eingeteilt, das BACHSTEIN GMBH AN ZENTRALBAULEITUNG DER SS, 29.7.1944. Unbrauchbare wieder abgeschoben werden. Es THÜRINGISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WEIMAR wird also noch heiße Arbeitstage geben.“

INTERNER SCHRIFTVERKEHR DER BACHSTEIN GMBH, 17.8.1944. THÜRINGISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WEIMAR

”TOTALER KRIEG“ BEWACHT VON DEUTSCHEN SOLDATEN MÜSSEN MÄNNER, FRAUEN UND KINDER WARSCHAU VERLASSEN, AUGUST 1944. FOTO: PROPAGANDAKOMPANIE DER WEHRMACHT

Zwangsarbeiter für den „Endsieg“

Mit der Nutzung der Lager für die Rüstungsproduktion steigt der Bedarf an Arbeitskräften massiv. Um die Lager zu füllen, verhaften SS und Gestapo in den besetzten Ländern zahllose Menschen. Diese Aktionen sollen zudem den Widerstand in der Bevölkerung brechen. Im Herbst 1944 sind im KZ Buchenwald und seinen Außenlagern 90.000 Häftlinge aus dem besetzten Europa inhaftiert, darunter erstmals in großer Zahl Frauen.

Bereits der Weg ins Lager wird für die Gefangenen zur Tortur. Zusammen- gepfercht in Viehwaggons sind sie oft tagelang unterwegs: Durst, Hunger und Ungewissheit quälen sie. Gedemütigt und verstört erreichen sie das KZ Buchenwald.

104 | 105 Warschauer Aufstand.

Im August 1944 schlagen Wehrmacht und SS den Aufstand der polnischen Hei- matarmee (Armia Krajowa) nieder. Sie töten 150.000 Warschauer und depor- tieren 200.000 zur Zwangsarbeit nach Deutschland, darunter ganze Familien. Jeder Dritte wird in ein Konzentrationslager verschleppt.

Familie Brzęcka

1944 lebt Stanisława Brzęcka mit ihren Töchtern Halina (18 Jahre), Krystyna (16) und Maria (14) im War- schauer Stadtteil Ochota. Ihr Mann ist seit Kriegsbeginn verschollen. Die älteste Tochter Scholastyka lebt in Frankreich. Kurz nach Ausbruch des Aufstandes wird die Mutter mit ihren Töchtern in einem Luftschutzraum verhaftet und nach Auschwitz de- portiert. Nach drei Monaten kommen sie in das Buchenwalder Frauenau- ßenlager in Meuselwitz. Sie müssen in einem Rüstungsbetrieb arbeiten. Alle vier überleben und kehren nach Warschau zurück.

STANISŁAWA UND WINCENTY BRZ CKI BEI WEIHNACHTEN 1943 IN WARSCHAU. VON IHRER HOCHZEIT, 1920 LINKS NACH RECHTS: HALINA (1926-2004), KRYSTYNA (1927-2009) UND MARIA (1930- 2013)

„4. August 6./7. August Es ist früh am Morgen. Alle schlafen. […] Plötz- Die Gestapo-Leute haben uns gesagt, dass alle lich wird die Tür aufgerissen, und mit dem Schrei Einwohner Warschaus ihre Stadt verlassen ‚raus!‘ dringt eine große Gruppe Deutscher mit auf müssen. […] In einer Menschenmenge von aus uns gerichteten Karabinern ein. […] Die Deutschen den umliegenden Häusern Vertriebenen gehen wir schreien, wir seien Banditen und aus diesem Haus Richtung Opaczewska-Straße. Auf dem Naruto- sei auf sie geschossen worden. Dann wird das Tor wicz-Platz werden wir von ukrainischen Söldnern geöffnet und Frauen und Kindern befohlen, auf aufgehalten. […] Auf der Erde, auf Bündeln und die Straße hinaus zu gehen. Behängt mit unserem Koffern sitzen dort schon sehr viele Leute. Mutter Gepäck, gestoßen und geschlagen finden wir uns hat auf einem freien Flecken Erde eine Decke aus- auf der Straße wieder, die mit irgendwelchen gebreitet und Essen herausgelegt. […] Aneinander Papieren übersät sind, mit aufgegebenen Koffern, gedrängt, zusammengekrümmt und unglücklich und über allem hing eine gelbe Staubwolke. […] verbringen wir die ganze Nacht auf dem ‚Grünen Markt‘.“ MARIA KOSK (BRZ CKA) ÜBER IHRE VERHAFTUNG. BERICHT 1996, GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD

”TOTALER KRIEG“ HILDEBRAND MORO, LA RAFLE DU 9 AVRIL 1944 (DIE RAZZIA VOM 9. APRIL 1944), 1989. MORO (1926-2015) IST EINER DER ÜBER 300 VERHAFTETEN. GEMÄLDE, 130 X 110 CM (AUSSCHNITT)

Razzia am Ostersonntag.

Am 9. April 1944 führen deutsche Polizisten und Sie verhaften verdächtige und arbeits- Soldaten in der Kleinstadt Saint-Claude eine fähige Männer. Aus Buchenwald, wohin sie geplante Aktion gegen den französischen Wider- deportiert werden, kehrt über die Hälfte stand durch. nicht zurück.

„Am Ostersonntag um 9 Uhr verkündet ein Trom- meln in den Straßen, dass die gesamte männliche Bevölkerung sich um 10 Uhr auf dem Platz zu versammeln hat: Wen man noch in den Häusern antreffe, werde auf der Stelle erschossen. […] Um 10 Uhr beginnen die Hausdurchsuchungen. Zu sechst verschaffen sich die Soldaten Zugang und richten ihre Maschinenpistolen auf Frauen und Kinder. Der Nachmittag verläuft zum unheilvollen Lärm von Gewehrschüssen […]. Um 19 Uhr werden vom Schulplatz her 307 Männer zu den Rufen ‚Es lebe Frankreich‘, ‚Es leben die Alliierten‘ wegge- führt.“

IN EINEM FLUGBLATT BERICHTEN GEISTLICHE AUS DEM WIDERSTAND DEN FRANZÖSISCHEN KARDINÄLEN UND BISCHÖFEN ÜBER DIE VORGÄNGE IN SAINT-CLAUDE UND FORDERN EINE ÖFFENTLICHE STELLUNGNAHME, 14.5.1944.

106 | 107 „Ostarbeiter“.

Die aus der Sowjetunion nach Deutschland depor- tierten Zwangsarbeiter sind in bewachten Lagern untergebracht. Wegen kleinster Vergehen weist die Gestapo sie in Konzentrationslager ein. 4.500 sind Anfang 1943 in Buchenwald inhaftiert.

UM SIE ÖFFENTLICH KENNTLICH ZU MACHEN, MÜSSEN „OSTARBEITER“ IN BRUSTHÖHE DAS „OST“-ZEICHEN AUF DER KLEIDUNG TRAGEN. FUNDORT: ARRESTZELLENBAU

Leonid Iljitsch Ulenko 30.5.1927, Berdjansk (Ukraine)

Mit 15 Jahren wird Leonid Ulenko zwangsweise nach Deutschland geschickt. Er muss in einer Fabrik für Kunst- seide in Köln arbeiten. Nach einem Streit mit einem Vorar- beiter bleibt er aus Angst der Arbeit fern. Die Firmenleitung zeigt ihn bei der Gestapo an, die ihn verhaftet. Im Januar 1944 kommt er in das KZ Buchenwald und später in das Außenlager Hadmersleben. Nach der Befreiung muss Leonid Ulenko zunächst sechs Jahre in der Roten Armee dienen, bevor er in seine Heimat zurückkehrt.

LEONID ULENKO (LINKS) MIT EINEM UKRAINISCHEN FREUND VOR DEM KÖLNER DOM, 1943. SEIT 1943 DÜRFEN „OSTARBEITER“ IHR LAGER SONNTAGS VERLASSEN. TROTZ VERBOTS ENTFERNEN VIELE DAS „OST“-ZEICHEN. DAS FOTO WIRD VERMUTLICH VON EINEM DEUTSCHEN FOTOGRAFEN GEGEN BEZAHLUNG GEMACHT.

”TOTALER KRIEG“ Vom Namen zur Nummer.

Auf die Ankunft im Lager folgt die immer gleiche Aufnahmeprozedur: Abnahme der Habe, Kahl- scheren, Desinfektion, Erhalt der Lagerkleidung und karteimäßige Erfassung.

KAROL KONIECZNY (1919-1981), TRYPTYK BUCHENWALDZKI. Z CYCLU O, BUCHENWALD (BUCHENWALDER TRIPTYCHON. AUS DEM ZYKLUS „OH BUCHENWALD“), 1945. WASSERFARBEN UND BLEISTIFT, 20 X 29 CM

108 | 109 HÄFTLINGSANZUG DES FRANZOSEN HUBERT ANESETTI (1923-2008) AUS SAINT-CLAUDE.

HÄFTLINGSPERSONALKARTE DES TSCHECHISCHEN HÄFTLINGS FRANTIŠEK KŘIVÝ, DIE NACH SEINER ANKUNFT IM KZ BUCHENWALD IM MÄRZ 1944 ANGELEGT WIRD.

”TOTALER KRIEG“ BARACKENWAND AUS DEM AUSSENLAGER BAD LANGENSALZA, SCHILDER UND EIN METALLSCHIRM FÜR EINE BELEUCHTETE BARACKENNUMMER AUS DEM AUSSENLAGER ELLRICH-JULIUSHÜTTE.

Selektion und Zwangsarbeit

Ende 1943 befindet sich fast die Hälfte der Häftlinge in Außenlagern des KZ Buchenwald. Unternehmen, Städte, staatliche und militärische Dienst- stellen beuten ihre Arbeitskraft aus. Insgesamt errichten SS und Firmen mehr als 130 Außenlager. Häftlinge gehören in Deutschland nun zum Alltagsbild.

Wohin die Häftlinge kommen, ist oft entscheidend für ihre Überlebenschan- cen. In der Rüstungsproduktion sind die Chancen größer als auf unterirdi- schen Baustellen wie im Außenlager Dora. Die meisten Häftlinge gelten als austauschbare Hilfsarbeiter; ihr massenhafter Tod ist einkalkuliert. Wer nicht mehr kann, wird zum Sterben in die Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek und Auschwitz, später in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Häft- linge leben in ständiger Angst vor Selektionen, bei denen SS-Ärzte über ihre „Arbeitsfähigkeit“ entscheiden.

110 | 111 Komplizen.

Leiter großer Industriebetriebe fordern bedenkenlos bei der SS KZ-Häftlinge – Frauen und Männer – als Arbeitskräfte an. Die Firmen zahlen pro Häftling Tagessätze, die von der SS festgelegt werden. Zur effizienteren Organisation der Zwangsarbeit hat die SS-Führung das Personal der Lagerkommandantur von Buchenwald ausgetauscht.

LAGERKOMMANDANT PISTER, DER SS-VERWALTUNGSLEITER BARNEWALD UND SS-ARBEITSEINSATZFÜHRER SCHWARTZ VERHANDELN MIT DIREKTOR RINGLEB VON DER RÜSTUNGSFABRIK IN ALLENDORF. ES GEHT UM 12-STUNDEN-SCHICHTEN, AUFSEHERINNEN, BARACKEN, ELEKTRISCH GELADENE ZÄUNE, WACHTÜRME UND TAGESSÄTZE PRO HÄFTLING. AKTENVERMERK ARBEITSEINSATZFÜHRER SCHWARTZ, 7.6.1944

”TOTALER KRIEG“ HERMANN PISTER, 1941 OTTO BARNEWALD, 1943 ARTHUR RINGLEB, NACH 1945 ADOLF WUTTKE, 1945

Lagerkommandant 1942–1945 Direktor der Sprengstofffabrik Hermann Pister (1885–1948) Arthur Ringleb (1895–1980)

Als 16-Jähriger geht er ohne Beruf zur preußi- Ringleb ist bereits vor 1933 ein begeisterter Na- schen Armee, die ihn lebenslang prägt. Seine tionalsozialist. Als Chemiker wird er 1943 Direktor militärische Laufbahn endet mit der Niederlage der Fabrik Allendorf GmbH (einer Zweigstelle der im Ersten Weltkrieg; er verkauft Autos und geht Dynamit Nobel AG), die Sprengstoff und Munition schließlich zur motorisierten SS, wo seine Solda- für die Wehrmacht herstellt. In dieser Position tenbiografie zählt. Dort erhält er mit 55 Jahren – verhandelt er 1944 mit Buchenwald über ein nun Lagerkommandant des SS-Lagers Hinzert – Frauenaußenlager in Allendorf. Für die Firmen sind den begehrten Offiziersrang. Als Kommandant des KZ-Häftlinge eine günstige Möglichkeit, dringend KZ Buchenwald ist er ehrgeizig darauf bedacht, benötigte Arbeitskräfte zu bekommen. Zu Kriegs- sich zu beweisen. Vom amerikanischen Militärge- ende wird Arthur Ringleb verhaftet. Ein Verfahren richt in Dachau wird er 1947 zum Tode verurteilt. endet mit der Einstufung als Mitläufer.

Leiter der Verwaltung 1942–1945 Kommandierender des Außenlagers Allendorf Otto Barnewald (1896–1973) Adolf Wuttke (1890–1970er Jahre)

Nach einer kaufmännischen Lehre ist er Soldat Wuttke ist seit 1939 im Wachbataillon von im Ersten Weltkrieg, danach lange arbeitslos oder Buchenwald eingesetzt. Nach einer Ausbildungs- mit Gelegenheitsarbeiten beschäftigt. Die SS, in phase im Außenlager Schönebeck wird er ab Juli die er 1931 eintritt, gibt ihm Halt. In der Verwal- 1944 Kommandoführer des Frauenaußenlagers tung der Konzentrationslager macht er Karriere Allendorf. Hier bestimmt er über das Vorgehen und steigt zum Offizier auf. Ab 1942 trägt er die der 46 Wachmänner und 47 Aufseherinnen, hält Verantwortung für die gesamte Versorgung des Kontakt zur Firma und ist verantwortlich für das KZ Buchenwald. Das amerikanische Militärgericht Barackenlager, in dem die weiblichen Häftlinge in Dachau verurteilt ihn dafür 1947 zum Tode. leben. Das amerikanische Militärgericht in Dachau Das Urteil wird in 15 Jahre Haft umgewandelt, verurteilt ihn 1947 wegen Misshandlung von Häft- aber schon 1954 wird er entlassen. lingen zu 4 Jahren und 6 Monaten Gefängnis.

112 | 113 WALTER NÜSKE, UM 1944 FOTOALBUM „MEINE DIENSTZEIT. 1944“ VON GERTRUD LIEBETRAU

SS-Wachmann SS-Aufseherin Walter Nüske (1893) Gertrud Liebetrau (1922)

Der kaufmännische Angestellte wird mit 51 Jah- Wegen schwieriger Familienverhältnisse wächst ren zur Wehrmacht eingezogen und im September sie bei ihrer Großmutter auf und startet spät eine 1944 von dort zur SS-Wachmannschaft des KZ Berufsausbildung. Mit 21 Jahren bekommt sie eine Buchenwald versetzt. Im Außenlager Langensalza Stelle als Bürohilfskraft bei der Rheinmetall Borsig ist er Posten und bewacht Häftlinge auf dem AG. Als die Firma Aufseherinnen für das KZ- Weg zur Fabrik. Über seinen späteren Verbleib ist Außenlager benötigt, geht sie im September 1944 nichts bekannt. zur Ausbildung in das Frauen-KZ Ravensbrück. Anschließend ist sie Aufseherin im Außenlager Sömmerda. Stolz dokumentiert sie diese Karriere in einem Fotoalbum.

Organisator der Zwangsarbeit Albert Schwartz (1905–1984)

Früh schließt sich der Sohn eines Gutsbesitzers rechten Jugendgruppen an. Er wird Mitglied der NSDAP, der SA und der SS, deren Konten er in Danzig (Gdańsk) führt. Vom Sparkassenangestell- ten steigt er mühsam zum Finanzbeamten auf. Seit Kriegsbeginn verwaltet er Gefangenenlager in Danzig, ab 1942 die Zwangsarbeit in Buchen- wald. 1947 verurteilt ihn das amerikanische Militärgericht in Dachau zum Tode. Die amerika- nischen Behörden wandeln das Urteil später in lebenslange Haft um, aus der er bereits Anfang der 1950erJahre entlassen wird. ALBERT SCHWARTZ (ZWEITER VON RECHTS), UM 1943

”TOTALER KRIEG“ Frauenlager.

Das Außenlager Allendorf liegt 4,5 km entfernt von der dortigen Munitions- fabrik. Die jüdischen Zwangsarbeiterinnen müssen dorthin täglich marschieren und in 12-Stunden-Schichten Granaten mit giftigem Sprengstoff füllen. Zum KZ Buchenwald gehört ein Dutzend solcher Außenlager mit insgesamt 29.000 Frauen.

UNGARISCHE JÜDINNEN NACH DER SELEKTION IM KZ AUSCHWITZ-BIRKENAU: 1.000 VON IHNEN BRINGT DIE SS IM AUGUST 1944 IN DAS NEUE FRAUENAUSSENLAGER IM HESSISCHEN ALLENDORF, MAI/JUNI 1944. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS, KZ AUSCHWITZ

„Tausend Frauen wurden ausgewählt, tausend Frauen, die nach Allendorf verschleppt werden sollten. Erzsébet Brodt [...] war die letzte, die ausgewählt wurde. ’Tausend!‘, rief Mengele und trennte nach ihr die Reihe ab. Die dahinter standen, blieben in Auschwitz-Birkenau.“

ÉVA FAHIDI (PUSZTAI) ERINNERT SICH AN DIE SELEKTION FÜR DEN TRANSPORT NACH ALLENDORF. DIE SEELE DER DINGE, BERLIN 2011 [BUDAPEST 2005]

114 | 115 ”Wir gingen also mit schweren, giftigen Rohstof- fen um, nahmen alles ohne Schutzhandschuhe in die Hand, für uns waren keine Schutzmasken und Schürzen erforderlich, wir atmeten alle Gifte ein und wateten bis zu den Knien in Salpeter. Die Einheimischen nannten uns ’Zitronen‘, weil unsere Haut so gelb verfärbt war. Unser Haar, das gera- de begonnen hatte, wieder nachzuwachsen, changierte in kräftigeren oder schwächeren Vio- letttönen, je nachdem, ob man von Natur aus blond oder dunkelhaarig war. Auf unseren Lippen und unserer Haut spürten wir ununterbrochen den bitteren Geschmack des Giftes, das wir nicht aus- oder abwaschen konnten, unsere gesamte Umgebung war ja verseucht.“

ÉVA FAHIDI (PUSZTAI) ÜBER DAS BEFÜLLEN DER GRANATEN IN ALLENDORF. DIE SEELE DER DINGE, BERLIN 2011 [BUDAPEST 2005]

GEFÜLLT WIEGEN DIE GRANATEN BIS ZU 50 KILOGRAMM. DAS ÜBERTRIFFT ZUMEIST DAS KÖRPERGEWICHT DER UNTER- ERNÄHRTEN FRAUEN, DIE SIE IMMER WIEDER ANHEBEN UND TRAGEN MÜSSEN.

Éva Fahidi (verheiratet Pusztai) 22.10.1925, Debrecen (Ungarn)

Éva Fahidi wächst in großbürgerlichen Verhältnissen auf.

ÉVA FAHIDI (2. VON LINKS) MIT IHREN ELTERN UND IHRER 1936 konvertiert die jüdische Familie zum Katholizismus. SCHWESTER GILIKE, 1930ER JAHRE Nach einigen Monaten in einem Ghetto, wird sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester im Juni 1944 aus ihrer unga- rischen Heimatstadt in das KZ Auschwitz deportiert. Die Mutter und die kleine Schwester ermordet die SS in der Gaskammer, der Vater stirbt an Entkräftung. Éva Fahidi wird zur Zwangsarbeit nach Allendorf verschleppt. Bei der Räumung des Lagers flieht sie. Sie kehrt nach Ungarn zurück, arbeitet im Außenhandel und engagiert sich für die Aufarbeitung des Holocaust.

”TOTALER KRIEG“ Außenlager Dora.

Seit Spätsommer 1943 müssen Häftlinge im Südharz eine unterirdische Raketenfabrik bauen. Das bei ihnen gefürchtete Außenlager mit dem Deck- namen „Dora“ wird für die SS zum Ausgangspunkt weiterer Projekte der Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion. Je näher die Niederlage kommt, desto irrationaler werden die Pläne der SS.

HÄFTLINGE BEIM STOLLENAUSBAU IM KOHNSTEIN, SOMMER 1944. DER FOTOGRAF WALTER FRENTZ MACHT DIE AUFNAHME IM AUFTRAG DES RÜSTUNGSMINISTERIUMS.

„Es herrscht höllischer Krach: Die Chefs der in den Boxen, um geklaute Decken und ver- ‚Boxen‘ rufen mit Gebrüll zur Versammlung für die schwundene Pantinenpaare. Und über all diesem Essensausgabe, die Kapos schreien sich heiser noch das ohrenbetäubende Geräusch der Dyna- mit ihrem ‚Aufstehen‘ oder ‚stavaitsch‘ (erhebt mitexplosionen, mit denen neue Stollen angelegt euch), je nach Nationalität; auf dem Boden wird werden, das blecherne Scheppern der Press- zügellos auf Brotdiebe Jagd gemacht; die entsetz- lufthämmer, die lauten Zusammenstöße der lichen Schreie der Kerle, die 25 Stockhiebe be- Loren im Tunnel – denn nur einige Planen am kommen; ein und dieselbe Strafe für alle kleinen Eingang zum Block trennen uns vom Tunnel –, oder großen Vergehen; die Streitereien um Platz und das geht so vierundzwanzig Stunden lang.“

MICHEL FLIECX, FRANZOSE, ÜBER DIE ERSTEN MONATE IN DORA, IN DENEN DIE HÄFTLINGE IN DEN STOLLEN ARBEITEN UND SCHLAFEN MÜSSEN. 3.000 VON IHNEN STERBEN IN DIESER ZEIT. VOM VERGEHEN DER HOFFNUNG, GÖTTINGEN 2013 [ÉVREUX 1946]

116 | 117 DER POLE EDMUND POLAK MUSS DORA NICHT SELBST KENNENLERNEN. BERICHTE VON MITHÄFTLINGEN VERARBEITET ER 1944 IN BUCHENWALD IN EINER FALTARBEIT AUS PAPIER. ER NENNT SIE „TUNEL“ (DER TUNNEL).

”TOTALER KRIEG“ Häftlinge in den Städten.

Mehrere Städte fordern bei der SS Häftlinge für die Bomben- und Trümmerräumung an und wälzen die damit verbundene Gefahr auf sie ab.

WEIBLICHE KZ-HÄFTLINGE AUS DEM AUSSENLAGER MEUSELWITZ MÜSSEN BEI DER GEFÄHRLICHEN RÄUMUNG EINES BLINDGÄNGERS HELFEN, OKTOBER 1944. KRIEGSTAGEBUCH DER STADT MEUSELWITZ, EINTRAG ZUM 13.10.1944

„BLICK AUS UNSEREM KÜCHENFENSTER.“ JOSEF FISCHER FOTOGRAFIERT AUS SEINER WOHNUNG HERAUS HÄFTLINGE BEI AUFRÄUMARBEITEN IN KÖLN, OKTOBER 1943.

118 | 119 KÖLN, JULI 1943. JOSEF FISCHER KÖLN, 23.10.1943. PETER FISCHER

DUISBURG, 1943. WILLY VAN HEEKERN DUISBURG, 1943. WILLY VAN HEEKERN WEIMAR, FEB./MÄRZ 1945. GÜNTHER BEYER

WEIMAR, FEB./MÄRZ 1945. GÜNTHER BEYER WEIMAR, FEB./MÄRZ 1945. GÜNTHER BEYER KÖLN, FEB. 1943. JULIUS RADERMACHER

KÖLN, ENDE 1943. JULIUS RADERMACHER KÖLN, ENDE 1943. JULIUS RADERMACHER

”TOTALER KRIEG“ Auschwitz.

Seit April 1944 verlegt die SS Juden, Sinti und Roma aus Auschwitz nach Buchenwald, meist in die härtesten Arbeitskommandos. Nach kurzer Zeit sortieren SS-Ärzte die „nicht Arbeitsfähigen“ aus. Zu Tausenden werden sie zurück nach Auschwitz in den Tod geschickt.

„Inzwischen saß ich in der ersten Reihe und hatte ein kalter Schauer. [...] Mein Bewusstsein wollte einen Orchesterlogenblick auf das, was auf der ihm mitteilen, dass ich Tuberkulose hatte, aber Bühne geschah. Der SS-Arzt fragte jeden Mann, in Wirklichkeit beantwortete ich ihm seine Frage, was ihm fehlte, dann faltete er den Zettel mit der indem ich sagte, ich hätte Blasenentzündung. Gefangenennummer zusammen und legte ihn auf Mechanisch wiederholte er: ‚Blasenentzündung‘. einen von drei Haufen. [...] ‚Jawohl, Herr Doktor.‘ Seine Hand streckte sich nach meinem Zettel und legte ihn auf den kleinen Bis jetzt hatte der SS-Mann mit dem Rücken zu Haufen. ‚Abtreten‘.“ mir gesessen und ich hatte sein Gesicht nicht sehen können. Aber als ich dran war, vor ihn hin- EUGENE (JEN ) HEIMLER ÜBER DIE SELEKTION IN DER KINOBARACKE. trat und ihm ins Gesicht blickte, durchrann mich BEI , BERLIN 1993 [NEW YORK 1959]

INNENRAUM DER KINOBARACKE IM KZ BUCHENWALD, 1943. ENDE SEPTEMBER 1944 FÜHRT DIE SS HIER EINE SELEKTION JÜDISCHER HÄFTLINGE DURCH. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

120 | 121 DER LAGERARZT LEGT DAS ERGEBNIS DER SELEKTION VON ÜBER 1.500 JÜDISCHEN HÄFTLINGEN AUS DEN AUSSENLAGERN MAGDEBURG („MAGDA“) UND REHMSDORF („WILLE“) VOR. DIE MEISTEN AUS DEN GRUPPEN I UND II ERMORDET DIE SS IN AUSCHWITZ. SELEKTIONSBERICHT, 1.10.1944

„Alle wußten, auch die Betroffenen, daß das ein Todestransport ist. Aber das Schwere für unsere Kinder war, daß unter diesen Tausenden, die vorbeimarschierten, sie bei manchen ihren Vater, ihren Bruder oder ihren Onkel erkannten und nichts machen konnten, nur wußten, daß sie diese Menschen nicht mehr sehen werden.“

DER ÖSTERREICHER FRANZ LEITNER, BLOCKÄLTESTER IM KINDERBLOCK 8, ÜBER DIE REAKTIONEN DER KINDER AUF DEN ABTRANSPORT DER JÜDISCHEN HÄFTLINGE NACH AUSCHWITZ AM 3. OKTOBER 1944. BERICHT, 1980ER JAHRE, GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD

”TOTALER KRIEG“ Solidarität und Widerstand

Solidarität, die alle Häftlinge einschließt, ist in den Konzentrationslagern unmöglich. Angst und Fremdheit blockieren Vertrauen. Der ständige Mangel an Nahrung und anderen lebensnotwendigen Dingen erzeugt unablässig Konkurrenz.

Solidarität entsteht in Gruppen, die sich aufgrund gemeinsamer Überzeugungen, des Glaubens oder der Herkunft finden. Es braucht Zeit, um Vertrauen zu fassen, die Verhältnisse richtig einzuschätzen und geheime Strukturen aufzubauen. Deshalb bleibt organisierter Widerstand im Wesentlichen auf das Hauptlager beschränkt. Trotzdem entstehen auch in Außenlagern Gruppen, in denen man sich hilft.

Häftlinge unterlaufen im KZ Buchenwald die Verhältnisse: Sie bauen nationale Hilfs- komitees auf, dokumentieren heimlich Verbrechen, beschaffen Nachrichten zum Kriegsverlauf, sabotieren im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten die Rüstungs- produktion und verstecken Todgeweihte.

DAS FRANZÖSISCHE HILFSKOMITEE RUFT ZUR SPENDE VON ROT-KREUZ- PAKETEN AUF. PAUL GOYARD, AFIN QUE TOUS PUISSENT VIVRE ET REVOIR LA FRANCE ET LA BELGIQUE. DONNE TON COLIS – LA SOLIDARIT – (DAMIT ALLE LEBEN KÖNNEN UND FRANKREICH UND BELGIEN WIEDERSEHEN. SPENDE DEIN PAKET – FÜR DIE SOLIDARITÄT –), 1944/45. TUSCHE AUF PAPIER, 51 X 38 CM

122 | 123 Hilfskomitees.

Politische Häftlinge bilden seit 1943 innerhalb nationaler Häftlingsgruppen Hilfskomitees, oft über politische und konfessionelle Grenzen hinaus. Für Landsleute führen sie Spenden- und Sammelaktionen durch.

SAMMELLISTE DER ITALIENISCHEN SOLIDARITÄT, MÄRZ 1945. DAS ITALIENISCHE SOLIDARITÄTSKOMITEE ORGANISIERT IN DEN BARACKEN DES GROSSEN LAGERS SAMMLUNGEN FÜR ITALIENISCHE HÄFTLINGE IM KLEINEN LAGER. GESAMMELT UND VERTEILT WERDEN GELD (MARCHI), ZIGARETTEN (SIGARETTE) UND TABAK (TABACCO).

Fausto Pecorari 18.12.1902, Triest (Italien) 17.10.1966, Triest (Italien)

FAUSTO PECORARI (RECHTS), EINER DER INITIATOREN DES Fausto Pecorari ist Schatzmeister der christlich-demokra- SOLIDARITÄTSKOMITEES, NACH SEINER RÜCKKEHR AUS tischen Partei in Triest und engagiert sich im Widerstand. BUCHENWALD, 1945. Im September 1944 wird er verhaftet und in das KZ Buchen- wald gebracht. Pecorari initiiert eine Spendenaktion unter den italienischen Häftlingen und ist der Kassenführer des Hilfskomitees Italienische Solidarität. Er überlebt die Haft und arbeitet von 1946 bis 1948 als Vizepräsident der verfas- sungsgebenden Versammlung Italiens.

”TOTALER KRIEG“ Beweissicherung.

Der Franzose Georges Angéli riskiert sein Leben: Er verschafft sich eine Kamera aus der Fotoabteilung der SS und macht heimlich Bilder im Lager. Er kann den Film bis zur Befreiung verstecken.

DIE FOTOS ENTSTEHEN AN EINEM ARBEITSFREIEN SONNTAG IM EIN ERSCHOSSENER HÄFTLING, VERMUTLICH EIN SOWJETISCHER JUNI 1944. DIE KAMERA HÄLT ANGÉLI VOR DEM BAUCH ODER KRIEGSGEFANGENER, UM 1944. DAS SS-FOTO WIRD VON UNTER DEM ARM. EINES DER ELF FOTOS ZEIGT DIE „GOETHEEICHE“ ANGÉLI HEIMLICH DOPPELT ABGEZOGEN UND VERSTECKT. MIT DER WÄSCHEREI UND DEM KAMMERGEBÄUDE. FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

Georges Angéli 12.1.1920, Bordeaux (Frankreich) 14.9.2010, Châtellerault (Frankreich)

Beim Versuch, die Grenze nach Spanien zu übertreten, wird Georges Angéli Anfang 1943 verhaftet. Ab Juni 1943 ist er im KZ Buchenwald. Als gelernter Fotograf arbeitet er in der Fotoabteilung der SS, dem Erkennungsdienst. Somit hat er Zugang zu Fotoausrüstungen. Seine Aufgabe ist es, Abzüge von Negativen zu erstellen. Dies nutzt er auch, um doppelte Abzüge von SS-Fotos zu machen, die er mit seinen Aufnahmen als Beweise versteckt. Zurück in Frank- reich, zeigt er sie in Ausstellungen.

GEORGES ANGÉLI IN HÄFTLINGSKLEIDUNG, 22.2.1945. DAS FOTO WIRD VOM LEITER DER FOTOABTEILUNG GEMACHT, UM EINE KAMERA AUSZUPROBIEREN. FOTO: HUBERT PEITZ (ERKENNUNGSDIENST DER SS)

124 | 125 Rettung durch Namenstausch.

Für Menschen, die die Gestapo in Konzentrationslagern exekutieren lassen will, gibt es kaum Rettung. Die einzige Möglichkeit ist der Namenstausch mit Toten. Im Herbst 1944 retten so Funktionshäftlinge 3 von 37 Angehörigen des britischen Geheimdienstes.

MIT HILFE VON FUNKTIONSHÄFTLINGEN WERDEN DREI GEHEIMDIENST-ANGEHÖRIGE ALS „TYPHUSKRANK“ IN DIE FLECKFIEBERVERSUCHSSTATION IN BLOCK 46 EINGELIEFERT. DORT BEKOMMEN SIE DIE NAMEN DREIER KURZ ZUVOR VERSTORBENER FRANZOSEN, DEREN TOD NOCH NICHT GEMELDET WURDE. MIT NEUER IDENTITÄT WERDEN SIE IN AUSSENLAGER VERLEGT UND ÜBERLEBEN.

DER AGENT STÉPHANE HESSEL ERHÄLT DIE IDENTITÄT DES FRANZÖSISCHEN STUDENTEN MICHEL BOITEL. AUF EINEM ZETTEL ERHÄLT ER DIE WICHTIGSTEN INFORMATIONEN ZU SEINER NEUEN IDENTITÄT, 1944.

STÉPHANE HESSEL (SITZEND, 2. VON LINKS) MIT ANDEREN ANGEHÖRIGEN DES BRITISCHEN GEHEIMDIENSTES, 1941.

”TOTALER KRIEG“ „Feindsender“.

Häftlinge der Elektrowerkstatt bauen aus Ersatzteilen heimlich Radios, um Nachrichten über den Kriegsverlauf zu erhalten.

IN DER ELEKTROWERKSTATT BAUEN HÄFTLINGE 1943 HEIM- LICH KURZWELLENEMPFÄNGER. IN DEN 1970ER JAHREN WERDEN SIE NACH ORIGINALZEICHNUNGEN UND AUS ORIGINALTEILEN RE- KONSTRUIERT.

KOMMUNISTISCHE FUNKTIONSHÄFTLINGE IM KZ BUCHENWALD

In allen Konzentrationslagern setzt die SS Häft- scheiden, ob sie ihre Position zum eigenen Vorteil linge zur Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs nutzen oder – unter Risiken – sich auch für andere ein. Zwischen der SS und der Mehrheit der Häft- Häftlinge einsetzen. Nur im Konzentrationslager linge entsteht so die von ihr abhängige Schicht Buchenwald besetzen deutsche kommunistische der Funktionshäftlinge. Wenige, wie Lagerälteste, Häftlinge – unter eiserner Führung ihrer illegalen Blockälteste und Kapos, bekommen Weisungs- Parteiorganisation – ab 1943 alle entscheidenden und Strafbefugnisse. Eine größere Gruppe ist Posten. Sie sichern in erster Linie das Überleben verantwortlich für den Betrieb der Magazine, der eigenen Gruppe und schützen Kommunisten Schreibstuben, Baubüros und des Häftlingskran- aus anderen Ländern: Sie bringen sie in besseren kenbaus. Zu den Funktionshäftlingen gehören Arbeitskommandos unter, schreiben Transport- auch die Angehörigen des Lagerschutzes, die listen um und bevorzugen sie bei der Kranken- Lagerhandwerker und Dolmetscher. Sie sind versorgung. Dies auch auf Kosten anderer Häft- besser versorgt und stehen über ihren Mithäft- linge. Ihr Einsatz zum Schutz der eigenen Gruppe lingen. Die SS verlangt von den Funktionshäft- verändert aber auch die Situation des gesamten lingen unbedingten Gehorsam. Sie müssen Häft- Lagers: Seuchengefahr wird bekämpft, Nahrung linge überwachen, Transporte zusammenstellen, gerechter verteilt, Gewalt eingedämmt. Es ent- sich an der Organisation der Zwangsarbeit und stehen begrenzte Räume zur Schonung von an der Aussonderung von Arbeitsunfähigen Schwachen und zur Rettung von Kindern und beteiligen. Funktionshäftlinge müssen sich ent- Jugendlichen.

126 | 127 „Arbeitsstatistik“.

Funktionshäftlinge des Kommandos „Arbeitsstatistik“ stellen auf Befehl der SS die Transportlisten für Außenkommandos zusammen. Auf Intervention von Vertretern nationaler Gruppen tauschen sie auf den Listen verzeichnete Menschen zum Schutz anderer, insbesondere politischer Häftlinge aus.

DIE FUNKTIONSHÄFTLINGE DER ARBEITSSTATISTIK HALTEN ÜBER EINEN NUMMERNCODE FEST, WER VERÄNDERUNGEN DER LISTE FORDERT. ARBEITSSTATISTIK AN HÄFTLINGSSCHREIBSTUBE, 19.12.1944

”TOTALER KRIEG“ Häftlingskrankenbau.

Die Möglichkeiten der Häftlingspfleger zu helfen sind begrenzt, den SS-Ärzten können sie nicht offen entgegentreten. Als Mittel bleiben ihnen vor allem der Erwerb von Fachkenntnissen und strenge Disziplin.

VIELE PFLEGER SIND OHNE MEDIZINISCHE VORKENNTNISSE. IN ARBEITSGEMEINSCHAFTEN WERDEN SIE DESHALB DURCH ANDERE HÄFTLINGE UNTERRICHTET. TÜRSCHILD AUS DEM HÄFTLINGSKRANKENBAU, UM 1944

HÄFTLINGSKAPO ERNST BUSSE VERLIEST ANORDNUNGEN FÜR DIE PFLEGER BEIM SAMSTAG-APPELL IM HÄFTLINGS- KRANKENBAU. HENRI PIECK, DER SAMSTAG-APPELL, 24.11.1943. BLEISTIFT UND AQUARELL AUF KARTON, 30 X 84 CM

128 | 129 MIT PROTOKOLLEN, RICHTLINIEN UND SCHULUNGSPLÄNEN ORGANISIERT DER HÄFTLINGSKAPO DIE ABLÄUFE UND WEITERBILDUNGEN IM HÄFTLINGSKRANKENBAU, 1943/44. DER SCHREIBER DES HÄFTLINGSKRANKENBAUS JOHANNES BRUMME VERFASST VIELE VON IHNEN UND HEBT SIE AUF.

”TOTALER KRIEG“ Lebensgeschichten

Widerstand in Europa

1943 trägt die große Mehrheit der Häftlinge im KZ Buchenwald den roten Winkel der politischen Häftlinge. Es sind vielfach Männer und Frauen, die sich in den deutsch besetzten Gebieten gegen das NS-Regime gestellt haben. Sie haben sich verweigert, Verfolgte unterstützt oder aktiv gegen die Besatzer gekämpft – in Widerstandsgruppen oder in Eigenregie. Ihre Motive sind so unterschiedlich wie ihre Taten.

PIO BIGO (LINKS) MIT EINEM FREUND, UM 1946

FLORÉAL BARRIER, NACH 1945

ROBERT MAISTRIAU, NACH 1945

„Wir waren etwa fünfzig Partisanen …“ Überfall auf einen Deportationszug Pio Bigo Robert Maistriau 28.3.1924, Druento (Italien) 13.3.1921, Ixelles (Belgien) 28.9.2013, Piossasco (Italien) 26.9.2008, Woluwe-Saint-Lambert (Belgien)

Weil er nicht für den italienischen Diktator Mussolini an der Was der organisierte Widerstand als zu riskant ablehnt, Seite der Deutschen kämpfen will, folgt Pio Bigo seiner Ein- wagt der Medizinstudent Robert Maistriau mit zwei Freun- berufung zum Militär im Herbst 1943 nicht. Der junge Mecha- den: Sie stoppen im April 1943 nahe einen Deporta- niker will sich für ein freies Italien einsetzen. Erfahrungen tionszug nach Auschwitz. Mehr als ein Dutzend Deportierte mit Waffen hat er nicht. Dennoch schließt er sich den Parti- befreien sie – eine bis heute beispiellose Tat. Erst danach sanen an, die in den Alpen nördlich von Turin leben. Nach schließt er sich einer Widerstandsgruppe im Großraum Brüs- wenigen Wochen in den Bergen werden sie jedoch verhaftet. sel an, mit der er Sabotageakte durchführt. Im Frühjahr 1944 Für Pio Bigo beginnt eine Odyssee durch verschiedene Lager: wird er verhaftet. Über das KZ Buchenwald verschleppt die Bergamo, Mauthausen, Linz, Gusen, Auschwitz-Monowitz SS ihn zur Zwangsarbeit in die Außenlager Harzungen und und ab Januar 1945 das KZ Buchenwald. Zurück in Italien, Ellrich. Bei der Befreiung wiegt er nur noch 39 Kilogramm. arbeitet er wieder als Mechaniker. Seine Geschichte will In Afrika engagiert er sich später für Entwicklungsprojekte. niemand hören, erst Jahrzehnte später erzählt er sie. 1994 wird er als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

130 | 131 OREST W. DWORNIKOW MIT FRAU UND SOHN, 1939

ANNA PECZENIK (LINKS), VERMUTLICH ENDE DER 1930ER JAHRE MAURICE PERTSCHUK, UM 1941

„Da ich im Druckergewerbe arbeitete, Krankenschwester in den Internationalen habe ich Flugblätter erstellt.“ Brigaden Floréal Barrier Anna Peczenik 3.1.1922, Trélazé (Frankreich) 9.2.1911, Sofia (Bulgarien) 25.10.2015, Cagnes-sur-Mer (Frankreich) 12.1944, KZ Buchenwald

Als die Wehrmacht im Sommer 1940 Frankreich besetzt, ar- Aufgewachsen in einer jüdischen Familie, engagiert sich Anna beitet der 18-jährige Floréal Barrier in einer Druckerei. Er Peczenik früh für die kommunistische Partei Österreichs. kommt aus einer Arbeiterfamilie, setzt sich für die Gewerk- 1934 wird die Mutter einer Tochter deswegen aus Österreich schaft und die kommunistische Partei ein. Mit Freunden ausgewiesen. Ihr Weg führt die Krankenschwester über Prag protestiert er gegen die Verbote der deutschen Besatzer: und Paris nach Spanien, wo sie ab 1937 im Bürgerkrieg bei Sie drucken und verteilen Flugblätter. Als er zur Arbeit nach den Internationalen Brigaden kämpft. Nach deren Niederlage Deutschland soll, weigert er sich und versucht zu fliehen. schließt sie sich der französischen Résistance an. Als Kurie- Die Gestapo fasst ihn und deportiert ihn im Herbst 1943 in rin riskiert sie über Jahre hinweg ihr Leben. 1944 verhaftet, das KZ Buchenwald. Hier engagiert er sich bis zur Befreiung wird sie in das Buchenwalder Frauenaußenlager in Magde- im illegalen Lagerwiderstand. Nach der Rückkehr arbeitet burg deportiert. Ihre dortigen Mitgefangenen beeindruckt sie er in seinem alten Beruf, gründet eine Familie und ist bis zu durch ihren ungebrochenen Lebensmut. Die Umstände ihrer seinem Tod in verschiedenen Häftlingsverbänden aktiv. Ermordung durch die SS sind bis heute ungeklärt.

Britischer Agent im französischen Untergrund Ein Arzt hilft ukrainischen Partisanen Maurice Pertschuk Orest W. Dwornikow 31.7.1921, Paris (Frankreich) 26.12.1916, Odessa (Ukraine) 29.3.1945, KZ Buchenwald 2000, Cherson (Ukraine)

Nach Kriegsausbruch meldet sich Maurice Pertschuk frei- Todkrank erreicht Orest Dwornikow Ende 1941 das besetzte willig zum britischen Militär. Er kommt aus einer russisch- Kirowograd. Seine Einheit der Roten Armee ist zerschlagen. jüdischen Familie, die lange in Frankreich gelebt hat. Da er Verwandte nehmen ihn auf und verschaffen ihm Arbeit in Französisch spricht, wirbt ihn der Geheimdienst für eine Spe- einem Krankenhaus. Er schließt sich der „patriotischen zialeinheit an. Ab 1942 ist er in Frankreich eingesetzt. Trotz Gruppe“ an, einem Freundeskreis, der ukrainische Partisanen seiner jungen Jahre gelingt es ihm, in Toulouse ein Wider- unterstützt. Ein Spitzel denunziert die Gruppe jedoch. Nach standsnetzwerk aufzubauen. Er wird verraten und Anfang Monaten in Haft deportiert die SS ihn 1943 in das KZ Buchen- 1944 in das KZ Buchenwald deportiert. Seine wahre Identität wald. Im Außenlager Wansleben kümmert er sich aufopfernd kann er über ein Jahr verheimlichen. Er gilt als britischer um kranke Mithäftlinge. Zurück in der Heimat, wird er wegen Student. Erst kurz vor der Befreiung enttarnt die SS den 23- angeblichen Verrats am Vaterland zu zehn Jahren Zwangs- jährigen Agenten und ermordet ihn im Krematorium. Posthum arbeit verurteilt. Erst Mitte der 1960er Jahre wird er rehabi- erscheinen 1946 seine im Lager verfassten Gedichte. litiert und arbeitet fortan als angesehener Arzt in Cherson.

”TOTALER KRIEG“ JORGE SEMPRÚN, 1939/40

ELLING KVAMME ALS STUDENT, 1939

FARIDA SALIKSJANOWA, 1941/1942

Soldatin hinter feindlichen Linien Farida Saliksjanowa 23.5.1920, Moskau (Sowjetunion)

Farida Saliksjanowa stammt aus einer Großfamilie, die zur Minderheit der Tataren gehört. Als Mitglied der Jugendorgani- sation der Kommunistischen Partei meldet sie sich nach dem deutschen Angriff freiwillig zur Roten Armee. Nach kurzer Ausbildung wird die Architekturstudentin als Aufklärerin hin- ter den deutschen Linien eingesetzt. 1943 wird sie verraten. Da sie sich weigert, als Agentin für die Deutschen zu arbeiten, wird sie deportiert. Im Frauenaußenlager Meuselwitz wird sie ab Oktober 1944 ausschließlich schweren und gefährlichen Arbeitskommandos zugeteilt. Nach der Flucht vom Todes- marsch findet sie Unterschlupf auf einem Bauernhof. In ihrer

ALENA DIVIŠOVÁ, 1942 Heimat arbeitet sie später als Innenarchitektin.

Eine Jungkommunistin hilft jüdischen Freunden Ein Spanier in der französischen Résistance Alena Divišová (verheiratet Hájková) Jorge Semprún 11.10.1924, Prag (Tschechoslowakei) 10.12.1923, Madrid (Spanien) 2.8.2012, Prag (Tschechische Republik) 7.6.2011, Paris (Frankreich)

Alena Divišová stammt aus einer Arbeiterfamilie. Als die Unter dem Pseudonym „Gerard“ schließt sich der 18-jährige Deutschen Prag besetzen, hat sie gerade eine Ausbildung Jorge Semprún 1941 einer kommunistischen Partisanengrup- zur Schneiderin begonnen. Eine jüdische Kollegin bringt sie pe an. Der Philosophiestudent kommt aus einer großbürger- in Kontakt zu einer kommunistischen Widerstandsgruppe. lichen, linksliberalen Familie, die Spanien nach Ausbruch Empört über die Verfolgung der Juden, hilft sie untergetauch- des Bürgerkrieges verlassen musste. Zwei Jahre kämpft er ten jüdischen Freunden und schmuggelt Lebensmittel in das im französischen Untergrund, bevor ihn die Gestapo 1943 Ghetto Theresienstadt. Doch die Gestapo kommt ihr auf die verhaftet und wochenlang foltert. Im KZ Buchenwald, wohin Spur. Nach Monaten in Haft wird die 19-Jährige 1944 über er später deportiert wird, ist er Teil des illegalen Lagerwi- das KZ Ravensbrück in die Frauenaußenlager Schlieben und derstandes. Nach der Befreiung kehrt er nach Paris zurück, Altenburg verschleppt. Auf einem Todesmarsch gelingt ihr die arbeitet als Publizist und engagiert sich im Widerstand Flucht. Nach einem Studium arbeitet sie später in Prag als gegen das Franco-Regime, später ist er Kulturminister in Historikerin und wird als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Spanien. Seine Erfahrungen verarbeitet er in vielen literari- schen Werken.

132 | 133 DANUTA BRZOSKO, EINIGE TAGE VOR DER ZWEITEN VERHAFTUNG 1942

CORNELIUS ANTONIDES, 1935 SVEND-AAGE SCHALDEMOSE-NIELSEN IN POLIZEIUNIFORM, UM 1943

De Meppelaars Studentischer Widerstand Cornelius Antonides Elling Kvamme 24.2.1911, Meppel (Niederlande) 23.8.1918, Hafslo (Norwegen) 6.9.1970, Meppel (Niederlande) 3.4.2016, Oslo (Norwegen)

Meppel – eine Kleinstadt in den Niederlanden: Mitarbeiter Den Brand der Universitätsaula in Oslo nehmen die Deut- eines Pharmaunternehmens bilden einen Widerstandskreis schen im November 1943 zum Anlass, die Universität zu gegen die Besatzer. Sie verstecken Verfolgte, verteilen schließen und über 1.000 Studenten zu verhaften. Sie gelten Flugblätter und illegale Zeitungen. Der Buchhalter Cornelius als eine Zelle des Widerstandes. Unter ihnen ist der Medi- Antonides ist einer von ihnen. Im Mai 1944 wird er vor den zinstudent Elling Kvamme. Anfang 1944 wird er mit über 300 Augen seiner Frau und seiner zwei Kinder verhaftet. Über Kommilitonen in das KZ Buchenwald transportiert. Die SS das Lager Amersfoort verschleppt ihn die Gestapo mit 19 will die Norweger hier für den Nationalsozialismus gewinnen. seiner Kollegen in das KZ Buchenwald. Hier werden sie in den Doch die Studenten weigern sich und solidarisieren sich mit schwersten Arbeitskommandos eingesetzt. Bei der Räumung ihren Mithäftlingen: Sie teilen Rot-Kreuz-Pakete und leisten des Lagers flieht er. Als einer von nur fünf Überlebenden der medizinische Hilfe. Im Frühjahr 1945 kehrt Elling Kvamme in sogenannten Meppelars kehrt er schwer krank in die Heimat die Heimat zurück. Wie sein Vater wird er Arzt und arbeitet zurück. Bis zu seinem Tod leidet er an den Folgen der KZ-Haft. später als Professor an der Universitätsklinik in Oslo.

Abiturprüfung auf dem Gefängnishof Polizisten gegen die Besatzer Danuta Brzosko (verheiratet Mędryk) Svend-Aage Schaldemose-Nielsen 4.8.1921, Pułtusk (Polen) 16.5.1900, Frederiksborg (Dänemark) 1.9.2015, Warschau (Polen) 26.11.1944, KZ Buchenwald

Nach dem Einmarsch schließen die deutschen Besatzer in 1943 wird Svend-Aage Schaldemose-Nielsen Polizeipräsident Polen die Gymnasien und Universitäten. Eine höhere Schul- in Odense. Er ist promovierter Jurist, Familienvater und steht bildung der Bevölkerung soll verhindert werden. Danuta in Kontakt zum dänischen Widerstand. Ein Jahr später häu- Brzosko nimmt dies nicht hin. Sie will Ärztin werden, wofür fen sich antideutsche Demonstrationen und Übergriffe auf sie das Abitur benötigt. Sie besucht den Unterricht, der die Besatzer. Da die dänischen Polizisten sich weigern, den nun versteckt in Wohnungen stattfindet. Doch die Gestapo Widerstand zu bekämpfen, gelten auch sie nun als Gefahr. Im verhaftet Lehrer und Schüler. Noch im Gefängnis besteht sie September 1944 werden in einer Aktion Tausende von ihnen heimlich die Abiturprüfung. Wieder in Freiheit, schließt sie verhaftet. Svend-Aage Schaldemose-Nielsen wird mit über sich dem Widerstand an. 1942 wird sie erneut verhaftet und 1.900 Polizisten in das Kleine Lager des KZ Buchenwald ver- nun in das KZ Majdanek und Mitte 1944 in das Frauenaußen- schleppt, wo eine Scharlachepidemie ausbricht. Die Überstel- lager in Leipzig deportiert. Nach der Rückkehr wird ihr Abitur lung der Gruppe in ein Kriegsgefangenenlager erlebt er nicht anerkannt. Sie studiert, wird Zahnärztin und Schriftstellerin. mehr. Er stirbt kurz zuvor an den Folgen der Epidemie.

”TOTALER KRIEG“ Lebensgeschichten

Verfolgung und Widerstand im Deutschen Reich

Im Krieg weitet das Regime die Verfolgung im Deutschen Reich nochmals aus. Jede Form von Opposition oder Abweichung soll im Keim erstickt werden – auch durch die Einweisung in ein Konzentrationslager. Gleichzeitig verschärft sich das Vorgehen gegenüber langjährigen Strafgefangenen. Über 2.000 über- gibt die Justiz an das KZ Buchenwald. Für viele kommt dies einem Todesurteil gleich.

LOUIS N. GYMNICH ALS STRAFGEFANGENER, 1940ER JAHRE

HERMANN DA FONSECA-WOLLHEIM MIT DEM ÄLTEREN SOHN HERMANN, UM 1938

JOSEPH ROTH MIT EINER SCHULKLASSE, UM 1937

Haftgrund: „Ausländerfreundlichkeit“ Volksschullehrer und überzeugter Katholik Hermann da Fonseca-Wollheim Joseph Roth 22.8.1893, Hamburg 30.1.1896, Köln 13.5.1944, KZ Buchenwald 22.1.1945, Bad Godesberg

Im August 1943 verhaftet die Gestapo den Arzt Hermann da Ende August 1944 führt die Gestapo unter dem Tarnnamen Fonseca-Wollheim in seiner Praxis in Hamburg-Bahrenfeld. „Gitter“ eine deutschlandweite Aktion durch. Potentielle Wi- Sie beschuldigt ihn, ein zu gutes Verhältnis zu den ukraini- derständler sollen vorbeugend verhaftet werden. Der Bonner schen Zwangsarbeiterinnen zu haben, die er als Arzt betreut. Volksschullehrer Joseph Roth wird vor den Augen seiner Frau Dass der kulturell interessierte und vielgereiste Familienvater und der drei Kinder abgeführt. Er ist ein ehemaliger Funktio- Russisch lernt, wirft die Gestapo ihm ebenfalls vor. Mona- när der Zentrumspartei. Trotz beruflicher Nachteile bekennt telang hält sie ihn fest, bevor sie ihn im März 1944 in das KZ er sich offen zur katholischen Kirche. Für die Gestapo ist dies Buchenwald einweist. Wegen seines jüdischen Großvaters Grund genug. Über ein Lager in Köln wird er mit anderen in gilt er als „ zweiten Grades“. Als Haftgrund führen das KZ Buchenwald deportiert. Zwar kommt er wie die meis- die Akten „Ausländerfreundlichkeit“ an. Ein Brief im April ten „Gitterhäftlinge“ nach einigen Wochen unter Auflagen 1944 ist das letzte Lebenszeichen an seine Familie. Als seine wieder frei. Für ihn kommt die Entlassung jedoch zu spät. Todesursache notiert die SS Ruhr und Herzschwäche. Einige Monate später stirbt er an den Folgen der Haft.

134 | 135 GÜNTER PAPPENHEIM, NACH DEM OSKAR NAGENGAST (2. VON LINKS) IN WEHRMACHTUNIFORM, UM 1940 11.4.1945

RUDOLF SCHLEIF, UM 1933

Aus der Pflegeanstalt ins Konzentrationslager Die Marseillaise – eine „staatsfeindliche Rudolf Schleif Einstellung“ 7.10.1918, Leipzig Günter Pappenheim 18.4.1944, KZ Bergen-Belsen 3.8.1925, Schmalkalden

Im KZ Buchenwald erhält Rudolf Schleif 1943 einen schwar- Günter Pappenheim stammt aus einer sozialdemokratisch zen Winkel. Der SS gilt er als „asozial“. Den größten Teil geprägten Familie. Nach der NS-Machtübernahme wird sein seines Lebens hat er in Heimen oder Anstalten verbracht. Vater in einem Konzentrationslager ermordet. Seine Mutter Er kommt aus schwierigen Verhältnissen und leidet seit der und die vier Kinder sind auf sich gestellt und ständigen Kindheit an den Folgen einer Hirnhautentzündung. Mit acht Schikanen ausgesetzt. 1940 beginnt er eine Ausbildung zum Jahren kommt er in ein Erziehungsheim, später in eine Anstalt Schlosser. In der Fabrik hat er Kontakt zu französischen für Gehirnkranke. Hier geht er zur Schule, beginnt eine Lehre, Zwangsarbeitern. Er versteht sich gut mit ihnen und spielt für doch er gilt weiter als unheilbar. Er wird zwangssterilisiert. sie am französischen Nationalfeiertag auf seinem Akkordeon Als die Ärzte der Pflegeanstalt Waldheim 1943 arbeitsfähige die Marseillaise. Kollegen denunzieren ihn. Im Oktober 1943 Patienten an die SS ausliefern, steht auch er auf der Liste. wird er in das KZ Buchenwald eingewiesen. Hier erhält er An- Nach wenigen Wochen im Außenlager Dora transportiert die schluss an Bekannte seines Vaters. Er überlebt das Lager und SS ihn zum Sterben in das KZ Bergen-Belsen. ist nach der Befreiung selbst viele Jahre politisch aktiv.

Als Kommunist vom Zuchthaus ins KZ Als Homosexueller verurteilt und ermordet Louis Napoleon Gymnich Oskar Nagengast 8.8.1903, Opladen 23.3.1910, Castrop 12.4.1981, Köln 4.1.1944, KZ-Außenlager Dora

Seine Zuchthausstrafe hat Louis Napoleon Gymnich fast Im November 1943 registriert die SS Oskar Nagengast im KZ verbüßt, als er im Juni 1943 in das KZ Buchenwald überstellt Buchenwald als homosexuellen Häftling. Er hat soeben eine wird. Verurteilt worden ist er wegen „Vorbereitung zum Hoch- 18-monatige Gefängnisstrafe wegen homosexueller Kontakte verrat“. Bereits im Studium ist er in kommunistischen Kreisen verbüßt. Nach Jahren der sozialen Unsicherheit ist er 1933 aktiv. Nach Jahren in Hamburg, Paris und Berlin übernimmt der SA und der NSDAP beigetreten. Seine Situation stabilisiert der promovierte Germanist in Köln einige Drogerien seines Va- sich in den Jahren danach: Der Stahlarbeiter gründet eine ters. Eine wird zum geheimen Anlaufpunkt der Kommunisten. Familie und dient später in der Wehrmacht. Er knüpft jedoch Im Zuchthaus gilt er als „politisch unverbesserlich“, weshalb auch homosexuelle Beziehungen, die ihm zum Verhängnis die Justiz ihn an die SS ausliefert. In Buchenwald wird er als werden. Als ehemaliges SA-Mitglied trifft ihn die Verfolgung Blockältester im Seuchenblock 61 eingesetzt – eine schwieri- besonders hart. Die Buchenwalder SS schiebt ihn nach kurzer ge und konfliktreiche Funktion. Nach dem Krieg lebt er kurz in Zeit in das Außenlager Dora ab. Hier überlebt er nur 19 Tage. der DDR und später als Redakteur in Köln. Seine Familie erhält später keinerlei Entschädigung.

”TOTALER KRIEG“ RUDOLF UND WOLFGANG SCHIEWEG (RECHTS) ZEUGEN JEHOVAS NACH DER BEFREIUNG. ALOIS KASPERKOWITZ IN KLEIDUNG DER LEIPZIGER MEUTEN, 1938 (1. REIHE MITTE), 25.4.1945

„Schlagt die HJ, wo ihr sie trefft.“ Wolfgang Schieweg 1.9.1919, Leipzig 4.2.1974, Leipzig

Unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus weist die Gestapo Wolfgang Schieweg Ende 1942 in das KZ Buchenwald ein. In einem Leipziger Arbeiterviertel ist er ei- ner der führenden Köpfe der Meute „Reeperbahn“ gewesen, einer Jugendclique, die sich gegen die Vereinnahmung durch die Hitlerjugend stellt. Sie tragen eine eigene Kluft, machen Ausflüge, hören verbotene Musik und scheuen den Konflikt mit der HJ nicht. Für das Regime sind sie Staatsfeinde, die zu hohen Strafen verurteilt werden. In Buchenwald setzt die SS den gelernten Schlosser im Gustloff-Werk und im Außenlager Schönebeck ein. Nach dem Krieg lebt er wieder in Leipzig. Die späte Würdigung der Leipziger Meuten erlebt er nicht mehr. WILHELM BILLOTIN, 1939

„Wer das Schwert nimmt, wird durch das Von der Justiz ausgeliefert zur „Vernichtung Schwert umkommen.“ durch Arbeit“ Alois Kasperkowitz Wilhelm Billotin 15.4.1904, Wien (Österreich) 22.4.1890, Bergheim/Erft 20.1.1984, Wien (Österreich) 22.7.1943, KZ Buchenwald

In Wien schlägt sich Alois Kasperkowitz als Zeitungsausträ- Wilhelm Billotin gehört zu den ersten Sicherungsverwahr- ger und Gelegenheitsarbeiter durch. Zudem setzt sich der ten, die nach einer Vereinbarung von Justiz und SS ab Ende Vater einer Tochter unablässig für die Religionsgemeinschaft 1942 in das KZ Buchenwald eingewiesen werden. Nach vier der Zeugen Jehovas ein. Als er Broschüren verteilt, in denen Jahren als Soldat kann der ungelernte Arbeiter nach dem der Krieg verurteilt wird, verhaftet ihn die Gestapo. Wegen Ersten Weltkrieg keinen Fuß fassen: Er ist arbeitslos, seine Antikriegspropaganda wird er im Herbst 1941 zu 10 Jahren Ehe scheitert, er begeht Diebstähle. Im Krieg geht die Justiz Zuchthaus verurteilt. Vor Gericht verteidigt er entschlossen gegen Männer wie ihn besonders hart vor. Wegen seiner Vor- seine Überzeugungen. Nach zwei Jahren in Strafanstalten strafen gilt er nun als „Volksschädling“ und „Gewohnheits- liefert die Justiz ihn 1943 an die SS aus. Er ist fast taub, sieht verbrecher“. 1941 wird er zur dauerhaften Unterbringung sehr schlecht und ist extrem geschwächt. Nur durch die in einer Justizanstalt verurteilt. Die Auslieferung an die SS Hilfe anderer Zeugen Jehovas überlebt er im KZ Buchenwald. gleicht einem nachträglichen Todesurteil. Wie sehr viele Si- Nach der Befreiung kehrt er in seine Heimat zurück. cherungsverwahrte überlebt er in Buchenwald nur kurze Zeit.

136 | 137 Lebensgeschichten

Frauen im Konzentrationslager

Rüstungsunternehmen in ganz Deutschland mieten Frauen aus den Konzen- trationslagern Ravensbrück, Auschwitz und Bergen-Belsen als Arbeitskräfte. Allein im Verwaltungsbereich des KZ Buchenwald errichtet die SS 27 Frauen- Außenlager. Ungarische und polnische Jüdinnen, Polinnen, Frauen aus der Sowjetunion, aus Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern müs- sen dort für die deutsche Kriegsindustrie arbeiten.

NINA ANDREJEWSKAJAS ARBEITSKARTE FÜR ZWANGSARBEITER, 1943

HILDEGARD REINHARDT, 1946

„Ich kam ohne Kinder und ohne alles wieder …“ Als „Ostarbeiterin“ verschleppt Hildegard Reinhardt (verheiratet Franz) Nina Andrejewskaja (verheiratet Schalagina) 26.2.1921, Tübingen 13.10.1928, Surasch (Sowjetunion) 7.5.2013, Deißlingen 15.10.2002, Moskau (Russland)

Hildegard Reinhardt ist 22 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie Nina Andrejewskaja muss im Herbst 1943 zusehen, wie die aus Ravensburg in das „Zigeuner-Familienlager“ in Ausch- deutschen Besatzer ihre Heimatstadt niederbrennen. Gemein- witz-Birkenau deportiert wird. Die Zustände dort sind sam mit ihrer Mutter und Schwester wird sie zur Zwangsar- katastrophal. Ihre drei kleinen Töchter sterben innerhalb beit nach Sachsen verschleppt, wo die Familie getrennt wird. kurzer Zeit an Krankheiten und Hunger, sie selbst erkrankt an Die 15-Jährige versucht zu fliehen, doch die Gestapo ergreift Typhus. Nach der Auflösung des Lagers verlegt die SS sie in sie. Nach Verhören und Misshandlungen wird sie im Herbst das KZ Ravensbrück und von dort in die Rüstungsfabriken in 1944 in das KZ Ravensbrück eingewiesen. Im Buchenwalder den Außenlagern Schlieben und Altenburg. Nach ihrer Befrei- Außenlager Taucha muss sie Granaten produzieren. Bei der ung kehrt sie in ihre württembergische Heimat zurück. Hier Räumung des Lagers gelingt ihr die Flucht. In der Nähe von erfährt sie vom Tod ihres Mannes. Sie beantragt eine Ent- Chemnitz findet sie ihre Mutter und Schwester wieder. Mit schädigung, erhält aber lediglich 4.200 Mark: davon jeweils ihnen kehrt sie in die Heimat zurück. Sie lernt Deutsch und 150 Mark für jedes ihrer in Auschwitz gestorbenen Kinder. arbeitet später in Moskau für einen deutschen Diplomaten.

”TOTALER KRIEG“ JACQUELINE MARIÉ (RECHTS) MIT IHRER FAMILIE, NOVEMBER 1942

„… sonst nehmen sie entweder das Kind oder jemand von meinen Eltern.“ Aleksandra Pawlowna Lawrik 18.7.1918, Dnipropetrowsk (Ukraine) 20.6.2009, Dnipropetrowsk (Ukraine)

Alexandra Pawlowna Lawrik stammt aus einer armen Fami- lie. Sie heiratet früh und bekommt einen Sohn. Als Mitglieder der kommunistischen Partei verhaftet die Gestapo sie und ihren Vater im Sommer 1943. Sie wird in das KZ Ravens- brück verschleppt. Im Außenlager Wolfen muss sie in einer Zellwollfabrik arbeiten. Giftige Dämpfe verätzen ihre Lunge dauerhaft. Als die SS das Lager im April 1945 räumt, gelingt ihr die Flucht. Sie schlägt sich bis in ihre Heimat durch. Weil sie in Deutschland war, gilt sie jedoch als Verräterin. Für eini- ge Zeit muss sie in ein Arbeitslager und eine Anstellung wird ROSA DEUTSCH (RECHTS) NACH DER BEFREIUNG IN PENIG, 1945 ihr lange Zeit verwehrt. Nach dem frühen Tod ihres Mannes muss sie allein für ihre nunmehr drei Kinder sorgen.

„… nach langer Fahrt ins Außenlager Penig“ Eine Familie in der Résistance Rosa Deutsch Jacqueline Marié (verheiratet Fleury) 9.4.1926, Budapest (Ungarn) 12.12.1923, Wiesbaden

Im November 1944 muss sich die Abiturientin Rosa Deutsch in Als die Wehrmacht Frankreich besetzt, lebt Jacqueline Marié einer Ziegelfabrik am Rande Budapests melden. Mit Tausen- mit ihrer Familie in Versailles. Wie ihr Vater, ein Berufsoffi- den Jüdinnen und Juden treibt die SS sie von dort zu Fuß zur zier, ihre Mutter und ihr Bruder engagiert auch sie sich im deutschen Grenze. Über das KZ Ravensbrück bringt man sie Widerstand. Die 17-Jährige verteilt Untergrundzeitungen und Anfang 1945 in das Außenlager Penig. Hier muss sie Flugzeug- beschafft Informationen. Doch die Gestapo kommt ihnen teile montieren. Die Frauen leiden unter Kälte, Hunger und auf die Spur. Im Juni 1944 wird sie mit ihren Eltern verhaftet. Krankheiten. Rosa Deutsch erkrankt lebensgefährlich. Bei Alle drei werden nach Deutschland verschleppt. Sie und ihre der Räumung lässt die SS sie mit anderen Kranken zurück. Die Mutter bringt die SS über das KZ Ravensbrück in die Außen- ankommenden amerikanischen Soldaten retten ihr das Leben. lager Torgau, Abterode und Markkleeberg, wo sie für BMW Sie kehrt in ihre Heimat zurück. Nach über zwanzig Jahren und Junkers arbeiten müssen. Auf dem Todesmarsch gelingt erhält sie die Fotos, die ein amerikanischer Berichterstatter ihnen die Flucht. Nach der Rückkehr gründet sie eine Familie von ihr und den übrigen Frauen von Penig gemacht hat. und ist in Überlebendenverbänden aktiv.

138 | 139 FELICJA SCHÄCHTER, 1948

ALEXANDRA PAWLOWNA LAWRIK MIT IHREM SOHN ANATOLIJ, 1936

KLARA LÖWY MIT IHRER MUTTER ZSOFIA FRIED, VOR 1944

„... zwischen Granaten und Gedichten“ Schwanger in Auschwitz Felicja Schächter (verheiratet Karay) Klara Löwy 26.1.1927, Kraków (Polen) 22.12.1914, Csenyéte (Ungarn) 9.3.2014, Rishon Leziyon (Israel) 1944, KZ Auschwitz

Nach der Besetzung Krakaus muss Felicja Schächter mit Klara Löwy lebt 1944 mit ihrem Mann, einem Rechtsanwalt, ihrer Familie die Stadt verlassen. Vorübergehend findet die im ungarischen Miskolc. Sie erwarten ein Kind. Die junge Frau jüdische Familie Schutz bei einem Bauern. Aus Angst vor der stammt aus einer religiösen jüdischen Familie. Ihr Vater be- Deportation flieht die 15-Jährige. Da sie keinen Unterschlupf treibt auf dem Land ein Geschäft und eine Landwirtschaft. findet, kehrt sie schließlich zurück in das Ghetto nach Im Juni 1944 wird das Paar nach Auschwitz deportiert. Dass Krakau. Im März 1943 bringt die SS sie in das KZ Płaszów sie schwanger ist, kann sie hier noch verbergen. Zur Zwangs- und später in das Zwangsarbeitslager Skarz´ysko-Kamienna. arbeit bringt die SS sie in das Außenlager Allendorf. Nach Im August 1944 wird sie von dort in das Außenlager Leipzig einiger Zeit ist die Schwangerschaft jedoch unübersehbar. transportiert, wo sie Granaten fertigen muss. In ihrer arbeits- Nun gilt sie als nicht mehr arbeitsfähig. Zusammen mit ande- freien Zeit verfasst sie Gedichte. Sie überlebt und emigriert ren Schwangeren transportiert die SS sie im Oktober zurück 1950 mit ihrem Mann nach Israel. Sie arbeitet als Lehrerin nach Auschwitz, wo die Frauen ermordet werden. Auch ihr und berichtet in zwei Büchern über ihre Verfolgung. Mann und ihre Eltern überleben die Deportation nicht.

”TOTALER KRIEG“ BEFREITE HÄFTLINGE IN DEN SCHLAFBOXEN VON BLOCK 56 IM KLEINEN LAGER DES KZ BUCHENWALD, 16.4.1945. FOTO: HARRY MILLER (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD 1945 1.1. BIS 31.3.1945 1.4. BIS 11.4.1945 MÄNNER FRAUEN NEU EINGEWIESENE HÄFTLINGE 43.823 1.932 --

IN ANDERE LAGER ”ÜBERSTELLTE“ ODER ENTLASSENE HÄFTLINGE 13.379 -- --

DURCHSCHNITTLICHE BELEGUNG DES LAGERS 82.322 24.840 --

BELEGUNG DES LAGERS AM JAHRESENDE 80.436 23.289 --

TOTE HÄFTLINGE 13.910 84 856

TOTE HÄFTLINGE EVAKUIERUNGSMÄRSCHE GESCHÄTZT 9.000 Die letzten Monate

Herbst 1944 – die alliierten Truppen rücken von Westen und Osten auf das Deutsche Reich vor. Die Wehrmacht ist auf dem Rückzug. Obwohl der Krieg längst verloren ist, setzt das Regime ihn mit allen Mitteln fort. In der Bevölkerung mischen sich Fanatismus, Kriegsmüdigkeit, Illusionen über den „Endsieg“ und Angst vor Vergeltung durch die Alliierten. Ein breites Aufbegehren gibt es nicht.

Die SS räumt die Lager und Haftstätten in Frontnähe. Die Häftlinge wer- den in die Konzentrationslager im Reichsinneren transportiert. Im Osten vertuscht die SS die Spuren der Vernichtung, ermordet für den Transport zu schwache Häftlinge oder lässt sie sterbend zurück. Viele überleben die Transporte nicht oder kommen zu Tode geschwächt in den überfüllten Lagern an. Um die Zwangsarbeit aufrechtzuerhalten, richtet die SS Zonen für die Sterbenden ein, die nirgendwohin mehr abgeschoben werden kön- nen. Die Zahl der Toten steigt um ein Vielfaches.

Als sich die Alliierten den Konzentrationslagern im Reichsinneren nähern, räumt die SS auch diese. Während der Märsche ermordet sie erschöpfte Häftlinge – teils unter den Augen und mit Beteiligung der Bevölkerung. Erst die Soldaten der Alliierten stoppen die Verbrechen.

140 | 141 Der 24. August 1944

Am 24. August 1944 greifen amerikanische Bom- ber das Rüstungswerk und den SS-Bereich des KZ Buchenwald an. Zu Recht vermuten die Ameri- kaner hier Produktionsstätten für Steuerungsteile der A4-Rakete – eine der „Wunderwaffen“, mit denen das NS-Regime den „Endsieg“ zu erzwingen hofft.

Die Bombardierung dauert nur 30 Minuten. Aber sie ist ein sichtbares Indiz für den tiefen Ein- schnitt, der die Endphase des Lagers einleitet. Die SS verliert über 100 Männer, erstmals ist sie nicht mehr Herr der Lage. In Buchenwald werden nicht nur Produktionsanlagen zerstört, sondern auch das Gebäude der Gestapo. Weil sie das Werk beim Angriff nicht verlassen dürfen, sterben fast 400 Häftlinge, über 2.000 werden verletzt.

DER ANGRIFF FINDET MITTAGS STATT: 129 FLUGZEUGE, ÜBER TAUSEND SPRENG- UND BRANDBOMBEN. AUFNAHMEN DER ALLIIERTEN LUFTAUFKLÄRUNG, 24.8.1944

142 | 143 HELDENBEGRÄBNIS FÜR DIE BEIM LUFTANGRIFF GESTORBENEN SS-ANGEHÖRIGEN AUF DEM HAUPTFRIEDHOF WEIMAR, 28.8.1944. ES SOLL GESCHLOSSENHEIT UND DURCHHALTEWILLEN DEMONSTRIEREN. FOTOS: ERKENNUNGSDIENST DER SS

DIE LEICHNAME DER BEIM LUFTANGRIFF GETÖTETEN HÄFTLINGE WERDEN IM LAGERKREMATORIUM VERBRANNT, IHRE ASCHE WEGGEWORFEN. MELDUNG VON SS-OBERSCHARFÜHRER WALTER WARNSTÄDT, 30.8.1944

DIE LETZTEN MONATE DAS FORT , 1945. AB MAI 1944 WIRD DIE ZENTRALE HAFT- UND HINRICHTUNGSSTÄTTE DER GESTAPO IN BELGIEN GERÄUMT. MEHRERE HUNDERT GEFANGENE WERDEN IN DAS KZ BUCHENWALD TRANSPORTIERT.

Die Räumungstransporte

Häftlinge und jüdische Zwangsarbeiter der auf- häufig zu Tode erschöpft das KZ Buchenwald. gelösten Lager sollen in die KZ im Reichsinneren Infolge der überstürzten Räumung des Vernich- gebracht werden. Dafür fehlen jedoch nicht tungslagers Auschwitz und des Konzentrations- nur die Transportmittel, die verbliebenen Lager lagers Groß-Rosen wird Buchenwald drei Monate sind auch bereits überfüllt. Nach oft tagelangen vor Kriegsende zum größten Konzentrationslager Elendsmärschen oder Irrfahrten in offenen Güter- innerhalb des Deutschen Reiches. waggons erreichen die Menschen entkräftet und

144 | 145 Gefangenentransporte aus Westeuropa.

Wegen des Rückzugs der Wehrmacht verlegen Sicherheitspolizei und Militärverwaltungen planmäßig politische Gefangene und Juden in die Konzentrationslager des Reiches. Tausende aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien gelangen so nach Buchenwald.

„PLÖTZLICH MUSSTEN WIR MIT VIELEN FREUNDEN IN EINE UNBEKANNTE RICHTUNG ABFAHREN (VERMUTLICH DEUTSCHLAND). BEHALTE MUT, ALLES WIRD EIN ENDE HABEN […].“

DER BELGIER PROSPER ROELS WIRFT FÜR SEINE FRAU UND KINDER EINE NACHRICHT AUS DEM ZUG, MIT DEM ER IM MAI 1944 AUS DEM GEFÄNGNIS VON GENT IN DAS KZ BUCHENWALD GEBRACHT WIRD. (VORDER- UND RÜCKSEITE)

DIE LETZTEN MONATE Räumung von Auschwitz.

Als sich die Rote Armee Auschwitz nähert, räumt die SS das Lager. Sie treibt fast 60.000 Häftlinge auf Fußmärsche westwärts oder transportiert sie in offenen Güterwaggons. Unter den im KZ Buchenwald Ankommenden sind Hunderte von Toten.

146 | 147 Transport aus Hirschberg.

Hirschberg wird als eines der letzten Außenlager des KZ Groß-Rosen geräumt. Jeder vierte Häft- ling kommt unterwegs um, 905 jüdische Männer treffen am 7. März 1945 in Buchenwald ein. Ihre persönlichen Gegenstände lässt die SS auf den Müll werfen.

BEI DER EINWEISUNG IM MÄRZ 1945 ERSTELLTE „NUMMERNKARTE“ FÜR MARIAN RYŃSKI: VERZEICHNET SIND PERSONENDATEN, DIE HAFTNUMMER DES KZ GROSS-ROSEN UND DIE NEUE BUCHENWALDER HAFTNUMMER. DIE VOM TRANSPORT GESCHWÄCHTEN NEUANKÖMM- LINGE MÜSSEN AUF DER KARTE UNTERSCHREIBEN.

KETTENANHÄNGER, INSCHRIFT VORDERSEITE: HIRSCHBERG RSGB, TEXTILAUFNÄHER, 20268: MARIAN RYŃSKI, GEB. 6.9.1918 IN CHEMIA GOTTLIEB, 1940/45. DER POLNISCHE JUDE CHEMIA SOSNOWIEC, POLEN. DIE AUF DIE KLEIDUNG AUFGENÄHTEN GOTTLIEB WIRD AM 16.3.1945 IN DAS AUSSENLAGER OHRDRUF HÄFTLINGSNUMMERN AUS HIRSCHBERG WERDEN IM KZ BUCHENWALD GEBRACHT. ER WIRD IN BUCHENWALD BEFREIT UND WANDERT ABGETRENNT UND WEGGEWORFEN. FUNDORT: HALDE II SPÄTER IN DIE USA AUS. FUNDORT: HALDE II

LINKS: AUCH UNBEKANNTE, TOT EINGELIEFERTE HÄFTLINGE BEKOM- ARMBANDPLAKETTE, INSCHRIFT: MAX NOWYTARGER, 20169, GEB. MEN IN BUCHENWALD EINE NEUE NUMMER, SPÄTER VERZICHTET DIE 5.IX.1923 IN SOSNOWITZ. ER WIRD AM 22.3.1945 INS AUSSENLAGER SS DARAUF. NUMMERNKARTEN KZ BUCHENWALD, JANUAR 1945 OHRDRUF GEBRACHT. ER ÜBERLEBT, HEIRATET IN MÜNCHEN, WIRD VATER UND WANDERT NACH ISRAEL AUS. FUNDORT: HALDE II

DIE LETZTEN MONATE Massensterben im Kleinen Lager

Die SS isoliert die Überlebenden der Räumungs- Die SS nimmt das Massensterben nicht nur transporte im Kleinen Lager. Es liegt unterhalb in Kauf, sondern tötet regelmäßig Kranke und des Hauptlagers. Ende 1942 als Quarantänezone Schwache. Inmitten des Grauens schaffen poli- errichtet, fehlt es dort an allem. In den letzten tische und jüdische Häftlinge im Block 66 einen drei Monaten vor der Befreiung kommen im Klei- geschützten Raum für Jugendliche und Kinder. nen Lager über 6.000 Menschen um. Mehr als 900 von ihnen werden gerettet.

HEIMLICH ZEICHNEN HÄFTLINGE DIE ZUSTÄNDE IM KLEINEN LAGER. DIE BILDER BEZEUGEN, WAS DOKUMENTE UND FOTOS DER SS NICHT WIEDERGEBEN.

AUGUSTE FAVIER, CROQUIS DANS LE BLOK 61, LE BLOK DE „L’ENFER“ AUGUSTE FAVIER, CROQUIS DU PETIT CAMP. BLOKS DE QUARANTAINE (SKIZZE IM BLOCK 61, DER BLOCK DER „HÖLLE“), 1945. DRUCK EINER (SKIZZE VOM KLEINEN LAGER. QUARANTÄNEBLOCKS), 1945. FEDER-, TUSCHEZEICHNUNG, 25 X 18 CM DRUCK EINER FEDER-, TUSCHEZEICHNUNG, 18 X 25 CM

148 | 149 Massensterben.

In dem vom Hauptlager abgetrennten Kleinen Lager fehlt es an allem: an Schlafplätzen, Wasser, Nahrung, Schuhwerk, warmer Kleidung, Schüsseln und Löffeln. Allein in den ersten hundert Tagen des Jahres 1945 sterben dort 6.000 Häftlinge an den Folgen des Hungers.

DIE AUSGABE DES ESSENS ERFOLGT IN DER KINOBARACKE, WEIL DIE ÜBERFÜLLUNG EINE VERTEILUNG IN DEN BLOCKS NICHT MEHR ZU- LÄSST. NUR WER EINE BLECHMARKE VORWEISEN KANN, ERHÄLT EINE SCHÜSSEL MIT ESSEN. ESSSCHÜSSEL, FUNDORT: HALDE 2

„Ich sah Karol in der Schlange stehen und es Schnur abgeschnitten hatte, mit dem sie an einem beunruhigte mich, wie zermürbt er aussah. […] Knopf festgebunden gewesen war. Man befahl Am meisten beunruhigte mich sein aschfahles ihm, aus der Reihe zu treten. Es lässt sich nicht Gesicht, dessen Züge ganz verändert waren. Ich mit Worten sagen, wie elend ich mich bei diesem sah, wie der Türsteher Karol nach seiner numme- entsetzlichen Vorfall fühlte. Ich flehte den Türste- rierten Metallmarke fragte und wurde Zeuge von her an, Karol hineinzulassen, aber es half nichts; Karols Bestürzung, als er in seine Tasche griff, sie er bestand darauf, dass es so viele Rationen gab leer fand und verstand, dass man ihm die Marke wie nummerierte Marken.“ gestohlen hatte, dass man sie von dem Stück DER POLNISCH-JÜDISCHE HÄFTLING LEON FRIM ÜBER SEINEN SOHN KAROL, DER KURZ DARAUF IM KLEINEN LAGER STIRBT. SEASONS IN THE DARK, JERUSALEM 2011 [1963]

FAMILIE FRIM, UM 1934: DR. LEON FRIM (HINTEN RECHTS), VOR IHM SOHN KAROL. NUR SECHS DER ABGEBILDETEN FAMILIENANGEHÖRIGEN ÜBERLEBEN DEN HOLOCAUST.

DIE LETZTEN MONATE Todesblock.

Im Block 61 des Kleinen Lagers tötet die SS von Januar bis März 1945 gezielt kranke, schwa- che oder sterbende Häftlinge. Der leitende SS- Sanitäter Wilhelm gibt die Giftinjektionen, Häftlingspfleger werden gezwungen, ihm zu assistieren und Sterbemeldungen mit falschen Angaben auszufüllen.

„Ich wurde am 21. Februar 1945 in der Baracke 61 […] angestellt und hatte die Sonderaufgabe, die Meldungen für Häftlinge zu schreiben, die in der Baracke 61 starben. […] Vor der Tür schrieb ein Häftling die Nummern und Namen der Häftlinge auf, die hineinkamen. Die Liste bekam ich später, um die Totenmeldungen zu schreiben. Ich musste am Ende nach meiner eigenen Meinung die diver- sen Krankheiten, wie Lungenentzündung, Ruhr, Blutvergiftung als Todesursache eintragen.“

DER ÖSTERREICHISCHE HÄFTLING FELIX RAUSCH BERICHTET ÜBER TOTENMELDUNG FÜR IZAK REICH VOM 1. MÄRZ 1945: AN DIESEM DAS SCHREIBEN DER TOTENMELDUNGEN. ZEUGENAUSSAGE, 9.5.1945, TAG STERBEN IM KZ BUCHENWALD UND SEINEN AUSSENLAGERN NATIONAL ARCHIVES AT COLLEGE PARK, MARYLAND 229 MENSCHEN, 165 DAVON IM KLEINEN LAGER. BLOCK 61 MELDET 135 TOTE.

BLOCK 61. DIE HÄFTLINGE NENNEN IHN „BLOCK DES TODES“. FOTO: GÉRARD RAPHAËL ALGOET, NACH DEM 11.4.1945

150 | 151 Kinderblock 66.

Mit den Räumungstransporten aus dem Osten kommen zahlreiche Jugend- liche und auch Kinder ins Kleine Lager. Politische und jüdische Häftlinge richten eine Baracke für Minderjährige ein, schützen sie vor willkürlicher Gewalt und sichern für sie Nahrung zum Überleben.

KALMAN LANDAU, QUARANTÄNE LAGER / WIR SHLAFEN, 1945. DER POLNISCH-JÜDISCHE JUGENDLICHE KOMMT IM FEBRUAR 1945 AUS DEM KZ GROSS-ROSEN NACH BUCHENWALD. ZUNÄCHST IN BLOCK 58 DES KLEINEN LAGERS EINGEWIESEN, WECHSELT ER SPÄTER IN DEN „KINDERBLOCK“. DIE ZEICHNUNG ENTSTEHT NACH DER BEFREIUNG IN EINEM HEIM IN DER SCHWEIZ. FARBSTIFT, 23 X 18 CM

Antonín Kalina 17.2.1902, Trebitsch/T ebič (Mähren) 1.1.1990, Prag (Tschechoslowakei)

Der Blockälteste ist ab Ende 1944 in einer Schlüsselposition für Block 66 zuständig. Um die Lebensbedingungen der Jugendlichen zu bessern, nutzt er seine Kontakte zum Lager- widerstand. Kalina, in einfachen Verhältnissen aufgewach- sen, ist kinderlos verheiratet. Nach der deutschen Besetzung Tschechiens wird der Kommunist verhaftet und ab Septem- ber 1939 in Buchenwald inhaftiert. Nach 1945 lebt er in Prag. Über seine Rolle im Block 66 spricht er selten, öffentliche Anerkennung gibt es erst nach seinem Tod: Im Block 66 Gerettete erwirken 2012 seine Auszeichnung als „Gerechter unter den Völkern“ durch die Gedenkstätte Yad Vashem.

ANTONÍN KALINA (VORNE RECHTS) VOR BLOCK 66 IM KLEINEN LAGER, NACH DEM 11. APRIL 1945. STANDBILD: U.S. ARMY SIGNAL CORPS

DIE LETZTEN MONATE BEFREITE JUGENDLICHE VOR BLOCK 66 IM KLEINEN LAGER, NACH DEM 11.4.1945. FOTO: GÉRARD RAPHAËL ALGOET

EINE GRUPPE BEFREITER KINDER, 21.4.1945. DIE MEISTEN VON IHNEN HABEN IN BLOCK 66 ÜBERLEBT. FOTO: BYRON H. ROLLINS

152 | 153 IM JUNI 1945 BERICHTET EINE IN PALÄSTINA ERSCHEINENDE DEUTSCH- SPRACHIGE ZEITUNG ÜBER DIE RETTUNG VON JANEK SZLAIFSZTAJN. JEDIOT CHADASCHOT (NEUESTE NACHRICHTEN), 5.6.1945

JANEK SZLAIFSZTAJN (MITTE) ÜBERLEBT VERSTECKT IM HÄFTLINGSKRANKENBAU. BEI DER BEFREIUNG IST ER VIER JAHRE ALT. FOTO: U.S. ARMY SIGNAL CORPS, NACH DEM 11.4.1945

DIE LETZTEN MONATE Todesmärsche

Im März 1945 erreichen amerikanische Truppen Mitteldeutschland. Die SS treibt die Häftlinge der Außenlager Buchenwalds zum Hauptlager zurück. Seit dem 7. April verlassen Evakuierungs- märsche auch das KZ Buchenwald; Tausende sterben unterwegs an Entkräftung, Begleitmann- schaften erschießen diejenigen, die nicht mehr mithalten können.

Lange Häftlingskolonnen passieren in den letz- ten Kriegswochen Straßen, Dörfer und Städte. Die Bevölkerung wird Zeuge. Kaum jemand hilft. Oft beteiligen sich Volkssturmmänner und Hit- lerjungen daran, geflohene Häftlinge zu jagen und zu ermorden.

154 | 155 Celle, 8. April.

SS-Männer, Soldaten, Polizisten, aber auch Zivilis- ten machen Jagd auf KZ-Häftlinge, die aus einem durch einen Luftangriff beschädigten Zug fliehen konnten. Fast 200 von ihnen töten sie.

DER AMERIKANISCHE LUFTANGRIFF GILT DEM GÜTERBAHNHOF VON CELLE, DOCH AUCH MEHRERE HUNDERT HÄFTLINGE WERDEN VERLETZT ODER GETÖTET. LUFTAUFNAHME DER U.S. AIR FORCE, 8.4.1945

DIE LETZTEN MONATE IM TUMULT AUF DEM BAHNHOF IN CELLE VERLIERT DER FRANZÖSISCHE HÄFTLING CAMILLE DELÉTANG EINE MAPPE MIT ÜBER 150 ZEICHNUNGEN, DIE ER IM AUSSENLAGER HOLZEN ANGEFERTIGT HAT. ANWOHNER FINDEN DIE MAPPE UND ÜBERGEBEN SIE 67 JAHRE SPÄTER DER KZ-GEDENKSTÄTTE MITTELBAU-DORA.

DER FRANZOSE ARMAND ROUX ÜBERLEBT RÄU- DER FRANZÖSISCHE HÄFTLING GUY KERGOUSTIN STIRBT NACH MUNG, LUFTANGRIFF UND MASSAKER IN CELLE; DER BEFREIUNG IN BERGEN-BELSEN. WIDMUNG: „DEM GUTEN ER WIRD AM 15.4.1945 IN BERGEN-BELSEN BEFREIT. KAMERADEN DER GEFANGENSCHAFT – HOLZEN 28-3-45 – CAM. ZEICHNUNG VON CAMILLE DELÉTANG, 17.1.1945 DELÉTANG“. ZEICHNUNG VON CAMILLE DELÉTANG, 28.3.1945

156 | 157 ARNO WAGNER, 1931 PAUL MÜLLER, UM 1934 WILLI GRIEBEL, DEZ. 1947

Großlöbichau, 12. April.

30 von einem Todesmarsch geflüchtete Häftlinge werden von Dorfbewohnern ergriffen oder an die örtlichen NSDAP-Funktionäre verraten. Volkssturm- männer erschießen die Häftlinge im Steinbruch des Ortes. Die SS ist längst weitergezogen.

Arno Wagner Willi Griebel (1904–1948) (1899–1963)

Vier Häftlinge werden zunächst verschont – Zu Beginn schaut er zu, später schießt der stell- Studienrat Wagner setzt durch, dass diese vertretende Stabsleiter des Volkssturms selbst ebenfalls erschossen werden. Er ist Stabsfüh- auf Häftlinge. SA-Standartenführer Griebel, seit rer des Volkssturms im Kreis Jena. Wagner, seit 1925 in der NSDAP, ist gelernter Kaufmann, ab 1930 Mitglied der NSDAP, promoviert 1933 und 1930 arbeitslos. Später wird er Ausbilder für unterrichtet am Gymnasium in Jena. Bei Kriegs- Wehrertüchtigung in einer Geländesportschule. ende in amerikanische Gefangenschaft geraten, Bei Kriegsende gerät Griebel in amerikanische flieht Wagner aus einem Internierungslager in Gefangenschaft. 1947 verurteilt ihn das Landge- Darmstadt. Wenig später begeht er vermutlich richt Weimar zu lebenslanger Haft, 1956 wird er Selbstmord. amnestiert.

Paul Müller (1896–1945)

Er befiehlt und beaufsichtigt die Erschießungen im Steinbruch. Als NSDAP-Kreisleiter führt er die lokalen Volkssturmeinheiten. Der Veteran des Ersten Weltkrieges ist altgedientes NSDAP-Mit- glied: Bereits 1927 kandidiert der Volksschullehrer für den Landtag; 1935 bis 1937 ist er Bürgermeis- ter in Saalfeld. Aus Großlöbichau rückt Müller mit dem Volkssturm ab; er stirbt einige Tage später beim Vormarsch amerikanischer Truppen.

DIE LETZTEN MONATE Niederschmiedeberg, 16. April.

Der Heizer Arno Bach, ein Sozialdemokrat, trifft zufällig auf zwei geflohene Häftlinge. Die Brüder Michael und Jurek Rozenek sind aus dem offenen Güterwaggon eines Transportzuges gesprungen. Drei Wochen lang versteckt er zusammen mit seiner Frau und anderen Hausbewohnern die beiden polnischen Juden.

„Noch immer waren wir misstrauisch, da wir es mit etwas Stroh und Wolldecken vorbereitet. [...] kaum für möglich hielten, dass es noch deutsche Abends brachte uns Arno das Essen selber und Menschen gab, die uns wirklich helfen wollten. erläuterte uns zugleich die neuesten Nachrichten […] über einen hinteren Eingang gelangten wir in über den Stand des Krieges. Für uns war das ein einen Holzschuppen. Zwischen dem gestapelten Trost, denn es ging dem Ende zu, und wir waren Holz wurde sehr schnell eine Öffnung hergestellt. sicher untergebracht.“ Dahinter hatte man bereits für uns ein Lager MICHAEL ROZENEK ERINNERT SICH AN DAS VERSTECK. ”WIE WIRD ES EINMAL ENDEN?“, WEIMAR 1991 [1989]

JUREK (L.) UND MICHAEL ROZENEK (R.) MIT IHREN RETTERN, MAI 1945. NEBEN ARNO UND SEINER FRAU MARGARETE BACH (2.U.3.V.R.) BETEILIGEN SICH WEITERE HAUSBEWOHNER AN DER HILFE: BACHS SCHWESTER LUISE GRIESMANN UND IHR MANN ALFRED (3.U.4.V.L.) SOWIE FRIEDA LISSAK (2.V.L.). SIE ALLE EHRT DIE GEDENKSTÄTTE YAD VASHEM 1990 ALS „GERECHTE UNTER DEN VÖLKERN“.

158 | 159 Nammering, 19. bis 24. April.

Am Bahnhof des niederbayerischen Dorfes muss ein Zug aus Buchenwald mehrere Tage halten. Als er weiterfahren kann, bleiben 800 Leichen von Häftlingen zurück, die auf der bis dahin zwölftägigen Fahrt verhungert oder vor Ort ermordet worden sind. Die SS lässt sie provisorisch verscharren oder im nahe gelegenen Steinbruch verbrennen.

„Am 19. April wurde ein ganzer Waggon von 45 dem Waggon geworfen; die nur Verwundeten Häftlingen erschossen. Am nächsten Tage floß das mit Genickschuß getötet und mit dem Gewehr- Blut noch durch den Boden des Waggons. Die Lei- kolben erschlagen. Tag und Nacht ging das chen wurden am nächsten Tage 6 Uhr früh aus Morden weiter.“

HEINRICH KLÖSSINGER, BAHNHOFSVORSTEHER IN NAMMERING, IST AUGENZEUGE DES GESCHEHENS. BERICHT VOM 23.12.1945, FRIEDENSFORUM FÜRSTENSTEIN

DIE US-ARMEE LÄSST DIE TOTEN DES MASSAKERS BERGEN UND KONFRONTIERT DIE EINWOHNER NAHER DÖRFER MIT DEN VERBRECHEN, 15.–17.5.1945.

FARBFOTOS: SEYMOUR SCHENKMAN

S/W-FOTOS: HOWARD E. JAMES UND EDWARD BELFER (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

DIE LETZTEN MONATE HEIMLICH FOTOGRAFIERT: DIE KOLONNE IST WENIGE KILOMETER VOM MARSCHZIEL KZ DACHAU ENTFERNT. EIN TEIL DER HÄFTLINGE AUS DEN KZ BUCHENWALD UND FLOSSENBÜRG IST SEIT ÜBER ZWEI WOCHEN UNTERWEGS, 26.4.1945. Hebertshausen, 26. April.

Als sich eine Häftlingskolonne an ihrem Haus vorbeischleppt, fotografiert die 18-jährige Foto- laborantin Maria Seidenberger den Elendszug. Anders als sie ignorieren die meisten Deutschen die Todesmärsche: Seidenbergers Fotos sind seltene Ausnahmen.

MARIA SEIDENBERGER RISKIERT BEREITS 1944 VIEL, SIE SCHICKT AUS DEM KZ DACHAU GESCHMUGGELTE BRIEFE AN ANGEHÖRIGE VON HÄFTLINGEN, UM 1945.

160 | 161 Theresienstadt, 6. Mai.

Seit vier Wochen sind die ursprünglich 4.640 Häft- linge eines Buchenwalder Zuges in 52 Waggons, darunter 42 offene Kohlewaggons, eingepfercht. Auf der Irrfahrt von Weimar nach Theresienstadt haben sie kaum Verpflegung erhalten, nur etwa die Hälfte von ihnen erlebt die Befreiung.

ALS DER ZUG EINTRIFFT, IST DIE SS BEREITS AUS THERESIENSTADT ABGERÜCKT. DAS LAGER UNTERSTEHT DEM ROTEN KREUZ. ZWEI TAGE SPÄTER IST DIE ROTE ARMEE DA. AUCH NACH DER BEFREIUNG STERBEN NOCH VIELE DER „EVAKUIERTEN“. FOTOS: KAREL ŠANDA, 6.5.1945

„Die absolute Des- oder vielmehr gar keine Orga- […] Abends: Kapitulation unterschrieben, keiner nisation hat heute den Höhepunkt erreicht. Alles, jubelt. Es ist immer noch eine Stille in mir. Die was läuft, ist Leerlauf. Es gibt keine Instanz, an lebendigen Gedanken, die auf Ausklang hofften, die man sich wenden kann. […] verlassen das öde Schiff. Ich bin müde, die Welt hat mich müde gemacht, für ewig?“

DIE 18-JÄHRIGE ALICE EHRMANN, SEIT 1943 IM GHETTO THERESIENSTADT, BEOBACHTET TAGS ZUVOR DIE ANKUNFT DES ZUGES; SIE BEKLAGT DIE AUSBLEIBENDE HILFE FÜR DIE KRANKEN UND STERBENDEN. TAGEBUCHEINTRAG VOM 7.5.1945, YAD VASHEM, JERUSALEM

DIE LETZTEN MONATE Lebensgeschichten

Räumungstransporte

Seit Sommer 1944 verlegt die SS Zehntausende Häftlinge nach Buchenwald: Aus Lagern und Gefängnissen in Westeuropa, aus aufgelösten jüdischen Zwangsarbeitslagern im besetzten Polen, aus Warschau, aus Auschwitz und dem KZ Groß-Rosen. Mitte Februar 1945 sind im KZ Buchenwald und seinen Außenlagern 88.000 Männer und 26.000 Frauen inhaftiert.

DIE BRÜDER SHMUEL UND NAFTALI FÜRST (RECHTS), 1941

NAPHTALI UND ISRAEL LAU IN FRANKREICH, 1945

Eine Familie aus Bratislava Kindheit im Ghetto Piotrków Naftali (Jurai) Fürst Israel Meir Lau 18.12.1932, Bratislava (Slowakei) 1.6.1937, Piotrków (Polen) Shmuel (Peter) Fürst Naphtali Lau-Lavie 20.2.1931, Bratislava (Slowakei) 23.6.1926, Kraków (Polen) 12.3.2003, Kibbuz Lehavot Haviva (Israel) 6.12.2014, Ramat Gan (Israel)

Im Januar 1945 räumt die SS das KZ Auschwitz. Naftali Fürst Ein Leben in Freiheit hat der 7-jährige Israel Lau nicht ken- ist 13 Jahre alt, sein Bruder Shmuel nur ein Jahr älter. Tage- nengelernt, als er im Januar 1945 mit seinem Bruder Naphtali lang sind die beiden bei Minusgraden unterwegs, zunächst in das KZ Buchenwald verschleppt wird. Bereits 1939 muss zu Fuß, dann in einem offenen Güterwaggon. Die Brüder die jüdisch-orthodoxe Familie in ein Ghetto umziehen. Ihren stammen aus einer jüdischen Familie, die seit 1942 in einem Vater und ihren Bruder ermordet die SS 1942. Israel lebt mit Arbeitslager leben muss. Anfang November 1944 werden sie der Mutter in einem Versteck, während Naphtali in einer Fa- mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert, wo die Familie brik arbeiten muss. Bei der Räumung vertraut die Mutter, die getrennt wird. In Buchenwald kommen die Brüder in den Kin- später im KZ Ravensbrück stirbt, den Jungen ihrem älteren derblock. Schwer krank erlebt Naftali im April die Befreiung Sohn an, der sich aufopfernd um ihn kümmert. In Buchenwald des Lagers. Shmuel treibt die SS auf einen wochenlangen bringen Mithäftlinge Israel im Kinderblock unter. Naphtali Todesmarsch. Erst Anfang Mai wird er befreit. Im Sommer ringt schwer krank monatelang mit dem Tod. 1945 wandern 1945 finden sich die Brüder und Eltern in Bratislava wieder. beide über Frankreich nach Palästina aus, wo Israel als Rab- Später emigrieren sie nach Israel. biner die Familientradition fortsetzt.

162 | 163 GILBERTO SALMONI (L.) MIT MUTTER VITTORINA UND BRUDER RENATO, DEZEMBER 1938

MAURICE HALBWACHS, 1944

Der letzte Transport aus Fossoli Gilberto Salmoni 15.6.1928, Genua (Italien)

Im August 1944 wird Familie Salmoni für immer getrennt. Seit Monaten ist sie im Polizeihaftlager Fossoli bei Modena interniert. Gilbertos Vater ist italienischer Jude, seine Mutter griechischer Herkunft. Er gilt als „Mischling ersten Grades“. Seit 1938 leidet die Familie unter den italienischen Rassengesetzen. Als die Deutschen Italien besetzen, droht die Deportation. Nach einem Fluchtversuch in die Schweiz kommt die Familie nach Fossoli. Von hier schickt die SS den 16-Jährigen mit seinem Bruder Renato zur Zwangsarbeit in das KZ Buchenwald, die Eltern und seine Schwester werden in CHARLES BRUSSELAIRS IN HÄFTLINGSKLEIDUNG Auschwitz ermordet. Die Brüder überleben. In seiner Heimat NACH DER BEFREIUNG, UM 1945/46 ist Gilberto später als Ingenieur und Psychologe tätig.

„Nacht-und-Nebel“-Häftling „… im letzten Moment deportiert“ Charles Brusselairs Maurice Halbwachs 18.1.1925, Antwerpen (Belgien) 11.3.1877, Reims (Frankreich) 22.3.2000, Wuustwezel (Belgien) 15.3.1945, KZ Buchenwald

Im oberschlesischen Gleiwitz kann Charles Brusselairs im Die amerikanischen Truppen stehen vor Paris, als die Besat- Januar 1945 die herannahende Rote Armee bereits hören, zer im August 1944 mit einem letzten Transport Gefangene als die SS das Lager hektisch räumt. Zu Fuß treibt sie die aus Gefängnissen der Stadt in das KZ Buchenwald schaffen Gefangenen durch Schnee und Eis gen Westen. In offenen lassen. Der renommierte Soziologe Maurice Halbwachs ist Waggons erreichen sie im Februar den Ettersberg. Weil er einer der Verschleppten. Er ist Mitglied der Sozialistischen für den Widerstand Schriften verteilt und bei Fluchten Partei und verheiratet mit einer Jüdin. Seine beiden Söhne geholfen hat, ist der junge Belgier 1943 nach Deutschland sind im Widerstand aktiv. Im Monat zuvor ist er verhaftet verschleppt worden. Er gilt als „Nacht-und-Nebel“-Häftling: worden. Mit seinem Sohn Pierre kommt er in Buchenwald Seine Eltern erhalten keine Informationen über sein Schick- in das Kleine Lager. Der 67-jährige Professor erkrankt hier sal. Buchenwald muss er Anfang April 1945 mit einem an der Ruhr, an deren Folgen er Monate später vor den Todesmarsch wieder verlassen. Erst vier Wochen später Augen des Sohnes schließlich elendig stirbt. Seine wissen- wird er befreit. Nach Monaten in Sanatorien kehrt er 1946 schaftlichen Arbeiten zur Gedächtnistheorie gelten bis heute nach Belgien zurück. als Klassiker.

DIE LETZTEN MONATE MAX WINDMÜLLER AUF EINEM BAUERNHOF BEI ASSEN (NIEDER- LANDE), UM 1940

RUDOLF BÖHMER (2. REIHE, 2. V.L.) BEI DER ERSTKOMMUNION IM RAPHAELSHEIM, 1941

„Hoffen kann man nur auf den eigenen Willen und die Stärke des Körpers …“ Piotr Stefanowitsch Korschunkow 12.7.1919, Aleksandrowskoje bei Stawropol (Sowjetunion) 5.4.2002, Ust-Bargusin am Baikalsee (Russland)

Ende Februar 1945 erreicht Piotr Korschunkow mit Hunder- ten Häftlingen das Außenlager Leipzig-Thekla. Sie kommen aus einem Lager des KZ Groß-Rosen, zehn Tage sind sie unterwegs gewesen. Als Rotarmist ist der junge Russe 1942 in Kriegsgefangenschaft geraten. Weil er versucht hat zu flie- hen, ist er in das Konzentrationslager eingewiesen worden. Arbeiten kann er in Leipzig nicht mehr, er ist völlig entkräftet. Als die SS auch dieses Lager räumt, sperrt sie ihn mit über 300 Kranken in eine Baracke und zündet sie an. Mit letzter Kraft rettet er sich; über 200 Mithäftlinge sterben in den Flammen. Nach einem weiteren Jahr als Soldat arbeitet er in

PIOTR KORSCHUNKOW ALS SOLDAT der Heimat als Fotograf und Künstler. DER ROTEN ARMEE, 9.1.1946

Vom katholischen Kinderheim nach Auschwitz „… bis zum Schluss zu kämpfen.“ Rudolf Böhmer Max Windmüller 24.10.1928, Wesermünde 7.2.1920, Emden 21.11.1968, Braunschweig 21.4.1945, bei Cham in der Oberpfalz

1943 wird Rudolf Böhmers Familie aus Quedlinburg in das 1939 hat Max Windmüller bereits ein Schiff bestiegen, das „Zigeunerlager“ nach Auschwitz deportiert. Er selbst bleibt ihn nach Palästina bringen soll. Doch er entscheidet sich zunächst verschont. Erst ein Jahr später entdeckt die Polizei anders. Er bleibt in Europa und schließt sich einer jüdischen den 15-Jährigen, der seit 1940 in einem Erziehungsheim in Widerstandsgruppe in den Niederlanden an, die Juden bei Heiligenstadt lebt. Als er nach Auschwitz gebracht wird, ist der Flucht nach Spanien hilft. Er selbst ist 1933 mit seiner seine Familie bereits tot. Nach der Räumung des „Zigeuner- Familie aus Ostfriesland in das Nachbarland geflohen. lagers“ wird er im August 1944 in das KZ Buchenwald trans- Von einem Doppelagenten verraten, wird er im Juli 1944 in portiert. Die SS hat keine Verwendung für ihn. Mit anderen Frankreich verhaftet. Einen Monat später wird er mit einem jugendlichen Sinti schickt sie ihn zurück nach Auschwitz, letzten Transport aus dem Lager Drancy bei Paris in das wo die meisten ermordet werden. Rudolf Böhmer überlebt KZ Buchenwald deportiert. Auf einem Todesmarsch bricht als einer von wenigen. Nach dem Krieg macht es ihm die er krank und entkräftet zusammen. Die SS erschießt ihn, fortwährende Diskriminierung der Sinti und Roma schwer, kurz bevor die Häftlingskolonne von amerikanischen Truppen sich ein geregeltes Leben aufzubauen. befreit wird.

164 | 165 Lebensgeschichten

Sonderhäftlinge

Sie stehen in keiner Lagerkartei. Die Geheime Staatspolizei bringt Menschen nach Buchenwald, nur um sie hier sofort umzubringen. Oder sie sperrt sie nahe des Konzentrationslagers, im Garnisonsbereich der SS ein: als Geiseln, stellvertretend für ihre zu Staatsfeinden erklärten Familienangehörigen oder als mögliche Angeklagte für spätere Schauprozesse.

LÉON BLUM IN BUCHENWALD, 1944 FRIEDRICH VON RABENAU, APRIL 1937

„… weniger ein Gefängnis als eine Gruft Offizier der Wehrmacht und Theologe oder ein Grab.“ im Widerstand Léon Blum Friedrich von Rabenau 9.4.1872, Paris (Frankreich) 10.10.1884, Berlin 30.3.1950, Jouy-en-Josas (Frankreich) 9.-14.4.1945, KZ Flossenbürg

Léon Blum stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Fami- Friedrich von Rabenau dient im Ersten Weltkrieg, in der lie, wächst in Paris auf und studiert Jura. Er wird Anwalt und Weimarer Republik und in der nationalsozialistischen Wehr- Literaturkritiker und schließt sich den Sozialisten an. Nach macht. Nebenbei verfolgt er militärgeschichtliche Interessen: dem Ersten Weltkrieg steigt er zum Vordenker und führenden die Universität Breslau verleiht ihm 1935 den Ehrendoktor. Ab Kopf der Partei auf. 1936/37 erstmals Ministerpräsident, 1936 baut er das Heeresarchiv auf. Zugleich kritisiert er die setzt er soziale Reformen durch. Nach der Besetzung antikirchliche Politik des Regimes und geht auf Distanz zur Frankreichs lässt das Vichy-Regime Blum verhaften und menschenverachtenden Kriegsführung. Mitte 1942 wird er an Deutschland ausliefern. Ab April 1943 hält ihn die SS als als Chef der Heeresarchive abgelöst und studiert Theologie. Sonderhäftling im Falknerhaus des KZ Buchenwald gefangen. Verschwörer gegen Hitler gehören zu seinem Freundeskreis. Er überlebt, kehrt nach Paris zurück und wird erster Sonder- Ende Februar 1945 wird er als Sonderhäftling nach Buchen- botschafter Frankreichs in Washington. Als Essayist tritt wald gebracht, in eine Zelle mit . Beide er für einen humanistischen Sozialismus mit europäischer schafft die SS Anfang April 1945 in das KZ Flossenbürg. Dort Perspektive ein. wird Friedrich von Rabenau ohne Verfahren ermordet.

DIE LETZTEN MONATE MAFALDA VON HESSEN, UM 1940

ALEXANDER SCHENK GRAF VON STAUFFENBERG (RECHTS) MIT SEINEM VATER ALFRED SCHENK GRAF VON STAUFFENBERG (GEST. 1936) UND SEINEN BEIDEN SPÄTER HINGERICHTETEN BRÜDERN ERTHOLD (LINKS) UND CLAUS (MITTE), STUTTGART UM 1925

„Sippenhaft“ Familie von Stauffenberg

Nach dem Attentat auf Hitler kündigt Himmler an, man werde „eine absolute Sippenhaftung einführen“. Die Familie Stauffenberg solle „ausgelöscht werden bis ins letzte Glied“. Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist eine der zentralen Persönlichkeiten der Verschwörung: Er platziert am 20. Juli 1944 die Sprengladung, die Hitler töten soll. Der Staatsstreich scheitert; das Regime schlägt erbarmungslos zurück. Mitver- schwörer werden eingekerkert, gefoltert, in Schauprozessen verurteilt, hingerichtet. Die NS-Führung geht gegen die Fami- lien vor, besonders gegen die Familie Stauffenberg: Ihr Besitz wird beschlagnahmt, Angehörige interniert, die Kinder in ein Heim gebracht. Mit anderen Sippenhäftlingen werden sie ab Februar 1945 in eine Isolierbaracke nach Buchenwald verlegt. Anfang April 1945 befiehlt die SS die Evakuierung. Erst am 4. Mai 1945 werden sie in Südtirol von US-Truppen befreit. RUDOLF BREITSCHEID, UM 1929

„Die Abwehr des Faschismus ist jetzt die Parole.“ „Bomben fielen in unmittelbarer Nähe …“ Rudolf Breitscheid Mafalda von Hessen, Prinzessin von Savoyen 2.11.1874, Köln 19.11.1902, Rom (Italien) 24.8.1944, KZ Buchenwald 27.8.1944, KZ Buchenwald

In jungen Jahren betätigt sich der promovierte National- Mafaldas Ehemann, Philipp Prinz von Hessen, unterstützt die ökonom Rudolf Breitscheid im bürgerlich-liberalen Spektrum. Nationalsozialisten. Er ist seit 1930 Parteimitglied und wird Erst mit 38 Jahren schließt er sich der SPD an. 1920 zieht nach der Machtübernahme Oberpräsident der Provinz er in den Reichstag ein, ist der führende Außenpolitiker der Hessen-Nassau. Als Schwiegersohn des italienischen Königs SPD. Eindringlich warnt er in der Reichstagssitzung am ist Philipp Verbindungsmann zwischen Hitler und Mussolini. 24. Februar 1932 vor dem Nationalsozialismus. Ein Jahr 1943 besetzen alliierte Truppen Sizilien. Mussolini wird ge- später muss Breitscheid nach Paris fliehen, arbeitet mit stürzt, Philipp von Hessen verdächtigt, mit der italienischen daran, das linke Exil zu vereinen und zieht sich, als dies Königsfamilie am Sturz beteiligt zu sein. Er und seine Frau scheitert, aus der politischen Arbeit fast ganz zurück. werden verhaftet. Getrennt von Mann und Kindern kommt Französische Behörden liefern ihn im Februar 1941 an die Mafalda im Oktober 1943 nach Buchenwald. Sie muss in einer Gestapo aus. Ihm soll der Prozess gemacht werden: Hoch- Sonderbaracke leben, wird beim amerikanischen Luftangriff verrat. Ab September 1943 ist er Sonderhäftling in einer schwer verletzt und stirbt an den Folgen. „Drei Bomben fielen Isolierbaracke in Buchenwald. Er stirbt beim Bombenangriff in unmittelbarer Nähe“, erinnert sich die Ehefrau Rudolf auf das Rüstungswerk im August 1944. Breitscheids.

166 | 167 DIETRICH BONHOEFFER MIT KONFIRMANDEN IM HARZ, 1932

FRANK PICKERSGILL, 1938 Im Krematorium erschossen Ernst Thälmann 16.4.1886, Hamburg 18.8.1944, KZ Buchenwald

Die Gestapo nutzt Buchenwald als Hinrichtungsort. Die Zahl der so Ermordeten liegt nach Schätzungen bei über 1.000 Männern und Frauen. Das bekannteste dieser Opfer ist Ernst Thälmann. Sein Aufstieg vom Gelegenheitsarbeiter zum prominenten Politiker der Weimarer Republik beginnt nach dem Ersten Weltkrieg. Von der SPD wechselt er über die USPD 1920 zur Kommunistischen Partei, für die er 1924 in den Reichstag einzieht. Ein Jahr später übernimmt er den Vorsitz der KPD und kandidiert als Reichspräsident. Als Parteivor- sitzender folgt er Vorgaben aus der Sowjetunion. Nach der „Machtübernahme“ wird die KPD zerschlagen, ihre Mitglieder verfolgt, ihr Vorsitzender im März 1933 verhaftet. Moabit, Hannover, Bautzen: nach elf Jahren Einzelhaft wird Ernst Thälmann nach Buchenwald gebracht und im Krematorium ERNST THÄLMANN, JANUAR 1932 erschossen.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen …“ „Nach Kanada zurückzukehren wäre nur ein Dietrich Bonhoeffer allerletzter Ausweg.“ 4.2.1906, Breslau Frank Pickersgill 9.4.1945, KZ Flossenbürg 28.5.1915, Winnipeg (Kanada) 14.9.1944, KZ Buchenwald Seine bekanntesten Verse schreibt der evangelische Theo- loge Ende 1944 in einer Zelle der Berliner Gestapozentrale. Auf einer Farm aufgewachsen, studiert Frank Pickersgill in Dietrich Bonhoeffer wächst in Berlin-Grunewald auf. Behütet, Kanada Sprachen. 1938 geht er nach Europa, nach Paris. gefördert, hochbegabt, scheint ihm eine glänzende Karri- Im besetzten Frankreich wird er als feindlicher Ausländer ere vorgezeichnet. Doch dann kommt Hitler an die Macht. verhaftet und interniert. Doch ihm gelingt die Flucht. In Bonhoeffer ist ein entschiedener NS-Gegner und einer der London meldet er sich Ende 1942 zum Geheimdienst, zur führenden Köpfe der „Bekennenden Kirche“. Lehrverbot, Special Operations Executive, kurz: SOE. Ein halbes Jahr Redeverbot, Veröffentlichungsverbot folgen. Er ist in Staats- später springt er mit dem Fallschirm hinter feindlichen Linien streichpläne der Widerstandsgruppe seines Schwagers Hans ab. Er soll helfen, ein Widerstandsnetzwerk auszubauen. von Dohnanyi eingeweiht, deren Attentatsversuche misslin- Doch die Deutschen rollen das Netzwerk auf: Hunderte gen. Die Gestapo verhaftet ihn im April 1943, verlegt ihn im von Festnahmen, ein schwerer Schlag für die SOE und die Februar 1945 in den SS-Arrest des KZ Buchenwald und zwei Résistance. Pickersgill wird verhaftet und gefoltert. Kurz Monate später in das KZ Flossenbürg. Dort verurteilt ihn ein vor der Befreiung von Paris bringt man ihn mit anderen SS-Standgericht zum Tode. SOE-Agenten zur Ermordung nach Buchenwald.

DIE LETZTEN MONATE Lebensgeschichten

Widerstand in Buchenwald

Sie kommen aus ganz Europa und wollen sich mit ihrer Situation nicht abfinden. Doch das allein reicht im Konzentrationslager nicht aus. Nur wer sich auf andere oder eine starke Gruppe stützen kann und deshalb Mangel, Gewalt und Konkurrenz nicht so erleiden muss wie die Mehrheit, kann im Konzentrationslager Widerstand leisten, ohne selbst unterzugehen.

OTTO HERRMANN, 1948 MARCEL PAUL AM REDNERPULT BEI EINER KUNDGEBUNG ZUM 1. MAI 1945

HERMANN BRILL, 1930/40ER JAHRE „Dem deutschen Volke sagen, „Los geht’s! Der Marsch zur Freiheit beginnt!“ welche Maßnahmen notwendig sind“ Otto Herrmann Hermann Brill 29.5.1903, Halle/Saale 9.2.1895, Gräfenroda 29.7.1969, Halle/Saale 22.6.1959, Wiesbaden

Wo er kann, setzt sich Otto Herrmann als Lagerältester im Hermann Brill wird 1943 aus dem Zuchthaus in das KZ Bu- Außenlager Niederorschel für seine Mithäftlinge ein. Er ist ein chenwald überstellt. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ Mann der Tat: In den 1920er Jahren beteiligt er sich als frü- ist der Sozialdemokrat und promovierte Jurist 1938 verurteilt hes KPD-Mitglied an Straßenkämpfen gegen Rechtsextreme. worden. Seine politische Karriere als Landtagsabgeordneter Bei Kriegsbeginn weist die Gestapo den gelernten Elektriker in Thüringen und Reichstagsmitglied endet mit der NS-Macht- in das KZ Buchenwald ein. Unter den dortigen Kommunisten übernahme. Aus Thüringen geht er nach Berlin und ist bis zur ist er eher ein Außenseiter. In Niederorschel scheut er selbst Verhaftung im Widerstand aktiv. In Buchenwald bildet er das den Konflikt mit der SS nicht. Als diese das Lager im April Volksfrontkomitee, einen geheimen, parteiübergreifenden 1945 räumt, macht er den Häftlingen Mut. Nach der Befreiung Kreis politischer Häftlinge. Ihre Diskussionen fließen in sein ist er politisch aktiv. 1948 tritt er jedoch aus der SED aus Manifest „Für Freiheit, Frieden und Sozialismus“ ein, das er und arbeitet fortan als Hausmeister. Posthum wird er als nach der Befreiung vorstellt. 1945 ist er kurz Regierungspräsi- „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. dent in Thüringen, bevor er nach Hessen geht. Er arbeitet am Grundgesetz mit und ist Abgeordneter im .

168 | 169 HENRI MANHÈS (L.) BEI DER ANKUNFT EINER GRUPPE PROMINENTER FRANZOSEN AUS DEM BEFREITEN KZ BUCHENWALD AUF EINEM PARISER FLUGHAFEN, 18.4.1945

„Fondateurs du collectif français“ „Fondateurs du collectif français“ Marcel Paul Henri Manhès, genannt Frédéric 12.7.1900, Paris (Frankreich) 9.6.1889, Étampes (Frankreich) 11.11.1982, L‚Île-Saint-Denis (Frankreich) 25.6.1959, Nizza (Frankreich)

Aus einfachen Verhältnissen stammend, findet Marcel Paul Eine steile Karriere bringt Henri Manhès in die Chefetagen früh über die sozialistische Jugend seinen Weg zu den französischer Verlagshäuser, bevor er 1933 aussteigt und Kommunisten und steigt zum Spitzenfunktionär der fran- fortan als Journalist arbeitet. Er stammt aus dem bürger- zösischen Gewerkschaftsbewegung auf. Als Mitglied einer lich-konservativen Milieu und steigt ab 1940 zu einem der Widerstandsgruppe wird er 1941 verhaftet und drei Jahre wichtigsten Vertreter General de Gaulles im besetzten später in das KZ Buchenwald deportiert. Mit dem Gaullisten Frankreich auf. Als solcher kämpft er für die Einigung des Manhès gelingt es ihm hier, die zersplitterten französischen französischen Widerstandes. 1943 verhaftet, wird er in das Häftlingsgruppen zu einen. Neben einem Komitee für gegen- KZ Buchenwald deportiert. Mit Marcel Paul gelingt es ihm seitige Hilfe entsteht die militärisch organisierte franzö- hier, die Gegensätze unter den französischen Häftlingen zu sische Befreiungsbrigade. Als Kommunist vertritt er die überbrücken. Sie gründen ein Hilfskomitee und bauen eine Franzosen auch im Internationalen Lagerkomitee. Nach dem französische Befreiungsbrigade auf. Auch später arbeiten Krieg wird er französischer Industrieminister und engagiert sie zusammen: Unter Industrieminister Paul wird Manhès sich in Häftlingsverbänden. Staatssekretär.

DIE LETZTEN MONATE WALTER BARTEL BEIM INTERNATIONALEN BEFREIUNGSTAG 1948 IN WEIMAR

PAWEL LYSENKO ALS SOLDAT DER ROTEN ARMEE, 1945

FELIKS GRES´KOWIAK, UM 1946

„Netzwerker des kommunistischen Untergrunds“ „Illegale Anschlüsse“ Walter Bartel Feliks Gres´kowiak 15.9.1904, Fürstenberg/Havel 14.5.1921, Wolsztyn (Polen) 16.1.1992, Berlin 31.1.2012, Nowy Tomys´l (Polen)

Walter Bartel stammt aus einer sozialistischen Arbeiterfa- Das selbst gebaute Radio wird Feliks Gres´kowiak im Mai milie. Früh engagiert sich der kaufmännische Lehrling für 1940 zum Verhängnis. Der 19-jährige Pole wird verhaftet die KPD, die ihn fördert und 1929 zum Studium nach Moskau und Monate später in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach schickt. Von dort zurück, geht er in den Untergrund, wird Schwerstarbeit im Kommando „Gärtnerei“ wird er den Deut- verhaftet und verbringt zwei Jahre im Zuchthaus. Die KPD schen Ausrüstungswerken zugeteilt. Deutschen Mithäftlingen lässt ihn fallen. Auf sich gestellt, wird er 1939 in Prag verhaf- fällt hier sein technisches Geschick auf. Der Lagerwiderstand tet und ins KZ Buchenwald gebracht. Die Kommunisten hier beauftragt ihn deshalb, das Häftlingslager mit geheimen vertrauen ihm. Er knüpft Kontakte zwischen den verschie- Telefonanschlüssen zu vernetzen. Die Zentrale entsteht in der denen Nationen und bildet so die Basis für das Internationale TBC-Isolierbaracke. Der junge Elektriker erfüllt den riskanten Lagerkomitee, in dem er bis zur Befreiung aktiv ist. Die Partei Auftrag. Bis zur Befreiung betreibt er die Anlage. Zurück in nimmt ihn später wieder auf. In der DDR wird er Professor für der Heimat, bleibt er seiner Leidenschaft treu: Er gründet eine Zeitgeschichte und ist einer der Köpfe des Internationalen Familie und eröffnet ein kleines Elektrogeschäft. Buchenwaldkomitees.

170 | 171 FRANZ LEITNER (6. VON LINKS IN DER HINTEREN REIHE) IN EINER GRUPPE BEFREITER ÖSTERREICHER, 21.4.1945

„Für die Kinder war die Solidarität besonders groß.“ Franz Leitner 12.2.1918, Wiener Neustadt (Österreich) 20.10.2005, Höf-Präbach (Österreich)

Weil er Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes ist, wird Franz Leitner 1939 in das KZ Buchenwald eingewiesen. Mit 25 Jahren wird er hier Blockältester in Block 8. In diesem hat der Lagerwiderstand eine Art Schutzraum für Minderjäh- rige eingerichtet, von denen ab 1943 immer mehr ins Lager RUDI SUPEK IN WEIMAR, 1945 kommen. Um die Situation der jungen Häftlinge zu verbessern, beschafft er zusätzliche Nahrung, Kleidung, Medikamente und erteilt Unterricht. Nach einer Gestapo-Razzia kommt er für einige Monate in Einzelhaft. Dennoch erleben allein in Block 8 über 370 Kinder und Jugendliche die Befreiung. In seiner Heimat ist Franz Leitner weiter politisch aktiv. 1999 wird er für seinen Einsatz als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

„Handgranaten für den Widerstand“ „Naš glas“ – Unsere Stimme Pawel Lysenko, alias Alek Mironow Rudi Supek 28.2.1919, Prokopjewsk/Kemerowo (Sowjetunion) 8.4.1913, Zagreb (Kroatien) 28.6.1984, Sysran/Samara (Sowjetunion) 2.1.1993, Zagreb (Kroatien)

Eigentlich sollen Zahnpasta und Seife hergestellt werden. Der Kroate Rudi Supek ist einer der intellektuellen Köpfe des Doch der Keller der Häftlingskantine scheint der perfekte Internationalen Lagerkomitees. Er vertritt Jugoslawien, eine Ort, um Sprengstoff herzustellen. Hierfür wählt der Lager- Gruppe mit ganz unterschiedlichen Ethnien und Interessen. widerstand Pawel Lysenko aus. Der Leutnant der Roten Der Sohn eines Schornsteinfegers ist 1939 aus seiner Heimat Armee hat die Medizinische Fakultät in Tomsk besucht und ist nach Paris gegangen, um Philosophie zu studieren. Als Mit- wegen seines chemischen Fachwissens der geeignete Mann glied der kommunistischen Partei mobilisiert er dort jugosla- für die Aufgabe. Als Kriegsgefangener wird er 1943 in das wische Migranten für den französischen Widerstand. Er wird KZ Buchenwald eingewiesen, wo er einen falschen Namen 1942 verhaftet und zwei Jahre später in das KZ Buchenwald angibt. Bei den Sprengstoffexperimenten verletzt er sich zu- deportiert, wo er sich im Lagerwiderstand engagiert. Nach nächst schwer. Schließlich gelingt es jedoch, einige Granaten der Befreiung arbeitet er an der Lagerzeitung „Naš glas“ mit. zu bauen. Nach der Flucht von einem Todesmarsch schließt Er beendet sein Studium in Frankreich und ist später in seiner er sich der Roten Armee an, mit der er Prag befreit. Später Heimat an verschiedenen Universitäten tätig. arbeitet er als Dozent für Chemie.

DIE LETZTEN MONATE April 1945 – die Tage bis zur Befreiung

Höchste Anspannung kennzeichnet die letzten saker, für eine selbstständige Befreiung reichen zehn Tage im KZ Buchenwald. Einerseits beschleu- ihre Kräfte nicht. nigt die SS die Evakuierung und steigert damit die Angst der Häftlinge. Andererseits verzögern In der Nacht zum 11. April geht der letzte Evakuie- Funktionshäftlinge und das Internationale Lager- rungsmarsch ab. Um 14:30 Uhr erreichen amerika- komitee die Zusammenstellung der Marschko- nische Panzer den SS-Bereich und schlagen die SS lonnen und tragen damit zur Rettung bei; außer- in die Flucht. Eine Viertelstunde später beginnen dem versuchen sie, Kontakt zu den Amerikanern bewaffnete Mitglieder des Häftlingswiderstandes herzustellen. Offen ist, was am Tag der Befreiung damit, verbliebene SS-Männer zu stellen und zu geschehen wird. Häftlinge befürchten ein Mas- entwaffnen. Buchenwald ist befreit.

UM FÜR EINEN RÄUMUNGSTRANSPORT VORBEREITET ZU SEIN, PACKT DER AUS MAGDEBURG STAMMENDE MAX GÖHRMANN EINEN KARTON MIT PERSÖNLICHEN GEGENSTÄNDEN.

AUFSCHRIFT KARTONBODEN (INNEN): „WIR GEHEN IN DEN TOD. WIR WERDEN UNS ZU WEHREN WISSEN. MAX GÖHRMANN MAGDEBURG 10.4.45“.

172 | 173 DIE LETZTEN MONATE 5. April 1945

AM 5. APRIL ERREICHEN AMERIKANISCHE TRUPPEN SÜDLICH VON GOTHA DAS AUSSENLAGER OHRDRUF. KURZ ZUVOR SIND DIE WACHMANNSCHAFTEN ABGEZOGEN. SIE HABEN ZAHLREICHE KRANKE UND SCHWACHE HÄFTLINGE ERMORDET UND VERSUCHT, DEREN LEICHEN ZU BESEITIGEN. FOTO: BYRON H. ROLLINS, 8.4.1945

„Wir haben in den letzten Wochen viele tausend Fußmärschen, zum großen Teil nur noch für den Häftlinge durch das Tor wanken sehen, die nach Totenkarren sich herschleppten. Wir wussten, wochenlanger Reise, zugebracht im Winter im Evakuierung bedeutet für jeden zweiten Mann von offenen Eisenbahnwagen oder auf tagelangen uns den Tod.“

ERNST THAPE: BUCHENWALDER TAGEBUCH, EINTRAG VOM 3.4.1945 (AUSZUG). ARCHIV DER SOZIALEN DEMOKRATIE / FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG, BONN

174 | 175 BLOCK 8 AM 5. APRIL 1945: 417 JUGENDLICHE UND KINDER. TASCHENKLADDE DES RAPPORTFÜHRERS HERMANN HOFSCHULTE, EINTRAG VOM 5.4.1945

IM KINDERBLOCK 8 BEFIEHLT DER BLOCKÄLTESTE WILHELM HAMMANN, DIE GELBEN WINKEL VON DER HÄFTLINGSKLEIDUNG ZU ENTFERNEN. ALS DIE SS RÄUMEN WILL, LEUGNET HAMMANN, DASS FAST 150 JÜDISCHE KINDER IN SEINEM BLOCK SIND.

„Die SS kam zu unserem Block, um einen Appell mit ja. Dann wandte sich der SS-Mann zurück abzuhalten [...]. Sie schrien: ‚Alle Juden raus!‘ zu Hammann: ‚Und ihr sagt, hier gibt es keine Wilhelm Hammann, unser Blockältester, antwor- Juden?‘ Hammann eilte sofort zu dem Kind, tete: ‚Hier sind junge Leute, aber keine Juden!‘ schob es zu den anderen in die Reihe und sagte Daraufhin näherte sich einer der SS-Leute einem zu ihm: ‚Aber du hast mir doch gesagt, daß du sehr kleinen Jungen. Er packte ihn am Kragen kein Jude bist!‘ In diesem Moment meinte der seiner Jacke, schüttelte ihn mit unglaublicher andere SS-Mann zu seinem Komplizen, er solle Kraft und brüllte: ‚Du bist Jude oder nicht?‘ Der sich beruhigen. Und sie gingen fort. Der Block- Kleine war völlig durcheinander und antwortete älteste hat sein Leben für uns riskiert!“

DER DAMALS 16-JÄHRIGE ELIEZER BUZYN ERINNERT SICH AN DIE RETTUNG DER KINDER IN BLOCK 8. MIRIAM ROUVEYRE, ENFANTS DE BUCHENWALD, PARIS 1995

DIE LETZTEN MONATE 6. April 1945

DIE WEIMARER GESTAPO BEREITET IHREN ABZUG VOR: SIE LÄSST GEFÄNGNISINSASSEN ERSCHIESSEN UND FORDERT AUSGEWÄHLTE KZ-HÄFTLINGE AUS BUCHENWALD AN – VERMUTLICH SOLLEN AUCH SIE NOCH BESEITIGT WERDEN.

Hans-Helmut Wolff (1910–1969)

Der Weimarer Gestapo-Chef lässt am 5. April in einem Waldstück 149 Gefängnisinsassen erschie- ßen. Wolff – schon vor 1933 in der NS-Bewegung engagiert – geht als Jurist 1937 zur Gestapo, bekleidet Leitungsposten unter anderem in Den Haag (1941–44) und kommt erst im März 1945 als SS-Obersturmbannführer nach Weimar. 1947 flieht er aus amerikanischer Haft und lebt danach, zeitweilig unter falschem Namen, als Geschäfts- mann in der Bundesrepublik. Ein laufendes Ermitt- HANS-HELMUT WOLFF, LETZTER CHEF lungsverfahren wird mit seinem Tod eingestellt. DER GESTAPO IN WEIMAR. FOTO: AKTE DES RASSE- UND SIED- LUNGSHAUPTAMTES DER SS, CA. 1937

DIE GESTAPO HÄLT DIE 46 ANGEFORDERTEN HÄFTLINGE FÜR DIE FÜHRENDEN KÖPFE DES LAGERWIDERSTANDS. DA ZU BEFÜRCHTEN IST, DASS SIE ERMORDET WERDEN, TAUCHEN SIE IM LAGER UNTER. LISTE DER 46 POLITISCHEN HÄFTLINGE, 6.4.1945 (ABSCHRIFT)

176 | 177 8. April 1945

In den letzten Tagen vor der Befreiung stellt die SS Räumungstransporte zusammen. Insgesamt müssen über 28.000 Häftlinge das Lager zu Fuß oder per Bahn verlassen.

GEFÄLSCHTER BRIEF AN PISTER, 8.4.1945. VERSTECKT IN EINER KISTE, DIE ANGEBLICH MEDIZINISCHE INSTRUMENTE ENTHÄLT, GELANGT EUGEN KOGON NACH WEIMAR. DER ANGEBLICH VON EINEM BRITISCHEN FALLSCHIRMSPRINGER STAMMENDE BRIEF SOLL KZ-KOMMANDANT PISTER DAZU BEWEGEN, DIE RÄUMUNG ZU STOPPEN.

Eugen Kogon 2.2.1903, München 24.12.1987, Königstein/Taunus ”An die Alliierten! Der katholische Publizist wird als NS-Gegner An die Armee in den 1930er Jahren mehrfach verhaftet. des Generals Patton! Seit 1939 ist er politischer Häftling in S.O.S.! Buchenwald und Häftlingsschreiber des SS-Arztes Ding-Schuler. Im befreiten Lager Wir bitten um Hilfe. stellt er für die Amerikaner einen Bericht Man will uns evakuieren. über Buchenwald zusammen; sein Buch Die SS will uns vernichten.“ „Der SS-Staat“ gilt bis heute als Standard- werk. Er bleibt Publizist und ist später Professor für Politikwissenschaft. HILFERUF MIT EINEM SELBSTGEBAUTEN SENDER: ZWÖLF MAL WIEDERHOLEN HÄFTLINGE DEN HEIMLICH GESENDE- EUGEN KOGON IN BLOCK 50, TEN APPELL AN DIE 3. US-ARMEE DEM HYGIENE-INSTITUT DER UNTER GEORGE S. PATTON. WAFFEN-SS, KZ BUCHENWALD, GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD UM 1944 (AUSSCHNITT).

DIE LETZTEN MONATE DAS INTERNATIONALE LAGERKOMITEE

Im Juli 1943 organisieren deutsche Kommunis- Das Komitee verhindert offene Konflikte zwischen ten erstmals eine heimliche Beratung mit gleich- den nationalen Gruppen und schützt Mitglieder gesinnten Häftlingen aus anderen Ländern. von kommunistischen Parteien sowie andere Danach finden regelmäßig Treffen statt. Dem Widerstandskämpfer. Es koordiniert Hilfe und Lagerkomitee gehören Kommunisten aus bringt ausländische politische Häftlinge auf Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Jugos- Funktionsposten. Mitglieder des Lagerkomitees lawien, den Niederlanden, Österreich, Polen, der beschaffen Informationen über den Kriegsverlauf Sowjetunion und der Tschechoslowakei an. Die und stellen eigens Gruppen auf, um ein befürch- Gründung des Lagerkomitees sichert die Vorrang- tetes Massaker der SS kurz vor der Befreiung stellung der deutschen Kommunisten, obwohl abzuwehren. Es gelingt, dafür Verbandszeug und Deutsche im Lager nur noch eine verschwindend mehrere Dutzend Waffen zu verstecken. kleine Minderheit sind.

DER PLAN: DIE VERSCHIEDENEN GRUPPEN DER MILITÄRISCHEN UNTERGRUNDORGANISATION SOLLEN EINZELNE BEREICHE DES GELÄNDES BESETZEN. SKIZZE VON WILLI SALDEN, 1945

178 | 179 FAHNE DER „BRIGADE FRANÇAISE D’ACTION LIBÉRATRICE“. FÜR IHRE BEFREIUNGSBRIGADE NÄHEN FRANZÖSISCHE HÄFTLINGE HEIMLICH AUS GESTOHLENEN STOFFRESTEN EINE FAHNE. SIE BLEIBT VON SEPTEMBER 1944 BIS ZUM 11. APRIL 1945 UNTER EINEM BLOCK IM KLEINEN LAGER VERSTECKT. MIT SEINEM ILLEGAL BESCHAFFTEN PERISKOP AUS SOWJETISCHER PRODUKTION (LINKS) HÄLT DER FRANZÖSISCHE HÄFTLING LOUIS GROS EINEN DER WACHTÜRME IM BLICK.

IM FALLE DES AUFSTANDS GEGEN DIE SS RECHNET DIE WIDERSTANDSORGANISATION MIT VERLETZTEN. IM KRANKENBAU LEGEN HÄFTLINGE EINEN VORRAT VERBANDMATERIAL AN.

DIE LETZTEN MONATE Chronologie des 11. April 1945 in Buchenwald

MORGENS Einheiten der 4. und 6. Panzerdivision der 3. US-Armee setzen ihren Vormarsch aus der Gegend von Gotha über Richtung Osten fort. GEGEN 10:00 UHR Der Lagerälteste Hans Eiden und Franz Eichhorn werden ans Lagertor befohlen. KZ-Kommandant Pister kündigt den Abzug der SS an. 10:00 UHR Die Sirene „Feindalarm“ ertönt. Über Lautsprecher kommt der Befehl: „Sämtliche SS-Angehörige sofort aus dem Lager!“ 10:30 UHR Das Internationale Lagerkomitee mobilisiert die Widerstandsgruppen und gibt illegal beschaffte Waffen aus. 11:00 UHR Infanteriefeuer amerikanischer Truppen nordwestlich des Lagers. GEGEN MITTAG Die Angehörigen der SS-Kommandantur fliehen. Die Besatzungen der Wachtürme setzen sich ab. 13:00 UHR Die ersten zwei Panzer der 4. US-Panzerdivision nähern sich aus Richtung Hottelstedt. 14:00 UHR Zwölf amerikanische Panzer werden in der Nähe des Wirtschaftshofes gesichtet, vier umfahren das Lager am nördlichen Rand. Schwere Gefechte zwischen amerikanischen Truppen und der SS westlich des Lagers. 14:30 UHR Panzer des 37. Panzerbataillons der 4. Panzerdivision überrollen den SS-Bereich ohne zu stoppen: Die SS ist militärisch besiegt. 14:45 UHR Die bewaffneten Widerstandsgruppen sammeln sich unterhalb des Appellplatzes. 15:00 UHR Otto Roth und zwei Elektriker steigen in das Torgebäude ein. Der Lagerälteste Hans Eiden folgt, hisst die weiße Fahne und unterrichtet das Lager in einer Lautsprecherdurchsage über die Situation. 16:00 UHR Die Widerstandsgruppen haben die Kontrolle über das Lager übernommen und 76 Gefangene gemacht. 16:45 UHR Vertreter von zehn Nationen kommen zusammen. Sie setzen einen Lagerrat und verschiedene Kommissionen ein, die das Überleben sicherstellen sollen. GEGEN 17:00 UHR Im Jeep treffen zwei Aufklärer der 4. Panzerdivision, die Franzosen Emmanuel Desard und Paul Bodot, am Lagertor ein. GEGEN 17:10 UHR Ein Aufklärungstrupp der 6. Panzerdivision betritt das Lager am nördlichen Ende. Captain Frederic Keffer, Sergeant Herbert Gottschalk, Sergeant Harry Ward und Private James Hoyt werden als Befreier begrüßt. Wie Desard und Bodot bleiben auch sie nur kurze Zeit.

180 | 181 IM JEEP TREFFEN LEUTNANT EMMANUEL DESARD UND SERGEANT PAUL BEFREITE HÄFTLINGE BEWACHEN IN DER UMGEBUNG BODOT (FOTO) GEGEN 17 UHR AM LAGERTOR EIN. DIE BEIDEN FRANZO- DES LAGERS GEFANGEN GENOMMENE SS-MÄNNER, 11.4.1945. SEN SIND AUFKLÄRER DER 4. PANZERDIVISION DER 3. US-ARMEE. FOTO: PAUL BODOT

LEUTNANT EMMANUEL DESARD STELLT DEM LAGERÄLTESTEN HANS EIDEN EINEN PROVISORI- SCHEN AUSWEIS AUS, 11.4.1945.

IN WEIMAR WIRD OFFENBAR VON DER SS DIE LIQUIDIE- RUNG ALLER HÄFTLINGE ERWARTET. NOTIZ DES BE- FREITEN HÄFTLINGS HERBERT MORGENSTERN, 11.4.1945

„Bei dem Versuch der Herstellung einer telefonischen Fernverbindung antwortete die Weimarer Telefonistin: ’Wie siehts in Buchenwald aus?‘ Antwort: ’Na, so halb und halb‘ Telefonistin: ’Habt Ihr denn die Häftlinge alle getötet? Laßt ja keinen raus‘“

DIE LETZTEN MONATE EXTREM UNTERERNÄHRTE ÜBERLEBENDE ERHALTEN BLUTPLASMA KONDENSMILCH MIT ZUCKER SPIELT BEI DER ERSTVERSORGUNG UND NÄHRLÖSUNGEN; SIE SIND NICHT IN DER LAGE, GEWÖHNLICHE DER HUNGERNDEN EINE WICHTIGE ROLLE. DOSE AUS BESTÄNDEN NAHRUNG ZU SICH ZU NEHMEN. FUNDORT: STEINBRUCH I DER US-ARMEE. FUNDORT: DACHBODEN, TORGEBÄUDE

US-SOLDATEN ÜBERGEBEN DRINGEND BENÖTIGTE DECKEN AN HÄFTLINGE.

182 | 183 IM BEFREITEN LAGER, 18.4.1945. FOTOS: ARDEAN R. MILLER (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

DIE LETZTEN MONATE

Nach der Befreiung

Die befreiten Konzentrations- und Vernichtungslager sind Beweise für die nationalsozialistischen Verbrechen. Die Amerikaner öffnen Buchenwald deshalb für internationale Delegationen und konfrontieren die Einwohner Weimars mit dem Lager. Fotos und Filmaufnahmen gehen um die ganze Welt. In der Stadt bestreitet man jede Mitwisserschaft und Verantwor- tung.

Die erste Sorge des Internationalen Häftlingskomitees und der US-Armee gilt der Rettung Unterernährter und Kranker. Gleichzeitig beginnt die Dokumentation der Verbrechen. Noch im Lager werden Hunderte von Zeu- genaussagen aufgezeichnet. Bis Ende 1946 überprüfen amerikanische Ermittlungsbehörden mehr als 6.000 Verdächtige. In der Bundesrepublik und in der DDR wird später nur ein Bruchteil der Tatbeteiligten zur Rechen- schaft gezogen.

Es dauert Jahrzehnte, bis in der deutschen Gesellschaft das Ausmaß der Verbrechen anerkannt wird. Die Mehrheit der Überlebenden erfährt nie- mals öffentliche Anerkennung und wird nicht entschädigt. Sinti und Roma, Homosexuelle oder „Asoziale“ werden jahrzehntelang weiter diskriminiert und ihre Verfolgung wird ignoriert.

Bereits im befreiten Lager denken Überlebende darüber nach, wie die Er- fahrung der Häftlinge bewahrt und vermittelt werden kann. Viele von ihnen engagieren sich im Alltag, in der Politik, in der Wissenschaft und Kunst dafür, die Frage immer wieder neu zu stellen, was politisch und moralisch aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zu lernen ist.

EINWOHNER WEIMARS UND AMERIKANISCHE SOLDATEN IM HOF DES KREMATORIUMS, 16.4.1945. FOTO: WALTER CHICHERSKY (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

184 | 185 Konfrontation mit den Verbrechen.

Als die Alliierten Deutschland erreichen, stoßen sie vielerorts auf Lager und ausgemergelte oder tote Häftlinge. Die von der Bevölkerung vorgebrachte Behauptung, von den Lagern in ihrer Nachbarschaft nichts gewusst zu haben, erscheint deshalb unglaubwürdig. Auf alliierte Anordnung werden Deutsche mit den Zuständen in den Lagern konfrontiert. Manche müssen sich an der Beisetzung von Ermordeten beteiligen.

EINWOHNER WEIMARS VOR DEM GALGEN IM HOF DES KREMATORIUMS. IM HINTERGRUND AMERIKANISCHE SOLDATEN UND BEFREITE HÄFTLINGE, 16.4.1945. 1.000 EINWOHNER WEIMARS MÜSSEN AN DIESEM TAG DAS LAGER BESICHTIGEN. FOTO: WALTER CHICHERSKY (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

„Als die Zivilisten immer wieder riefen: ‚Wir haben nichts gewußt! Wir haben nichts gewußt!‘ gerieten die Ex-Häftlinge außer sich vor Wut. ‚Ihr habt es gewußt‘, schrien sie. ‚Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts getan.‘“

DIE AMERIKANISCHE FOTOGRAFIN MARGARET BOURKE-WHITE ÜBER DEN 16. APRIL 1945 IN BUCHENWALD. DEUTSCHLAND, APRIL 1945, MÜNCHEN 1979 [NEW YORK 1946]

186 | 187 Auseinandersetzung in Deutschland.

In beiden deutschen Staaten ist die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit nicht bereit, sich mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ auseinanderzusetzen. Die alleinige Verantwortung für den National- sozialismus wird – unterschiedlich begründet – auf den „Führer“ oder auf hinter ihm stehende Gruppen geschoben. In der Bundesrepublik zeigt man dabei auf die Spitzen der NSDAP, Gestapo und SS. In der DDR gelten Großunternehmer und Finanzkapitalisten als Drahtzieher der NSDAP. Das staatlich verordnete Geschichtsbild der DDR bezeichnet die Großunternehmer und Bankiers als eigentliche Verantwortliche. In der Bundesrepublik stößt diese Form der Schuldabwehr erst Anfang der 1960er Jahre auf wachsende Kritik. In der DDR bleibt sie bis zum Fall der Mauer bestimmend.

„Aus Presse- und Rundfunknachrichten der alliierten Mächte geht hervor, daß die Auffassung vertreten wird, die Einwohnerschaft von Weimar und Umgebung habe von den Greueln in Buchenwald Kenntnis gehabt und dazu geschwiegen; sie sei daher als moralisch mitschuldig anzusehen. Dieser harte Vorwurf trifft die Einwohnerschaft der alten Kulturstadt Weimar auf das schwerste; um so schwerer, als er zu Unrecht erhoben erscheint und in einem Nichtvertrautsein mit den Verhältnissen im nationalsozialistischen Deutschland seine Ursache hat. [...] Der Oberbürgermeister und die unterzeichneten Stellen fühlen sich daher verpflichtet, den Gefühlen der Einwohnerschaft der Stadt und des Landkreises Weimar durch den obigen Bericht Ausdruck zu geben. Sie appellieren an das Gerechtigkeitsgefühl der Welt, wenn sie bitten, [...] die alte Kulturstadt Weimar nicht mit einem Makel zu behaften, den sie nicht verdient hat. gez. Dr. F. Behr, Der Oberbürgermeister der Stadt Weimar gez. Breitung, Der röm.-kath. Dechant Weimar gez. Kade, Der evangelische Propst und Superintendent Weimar gez. Prof. Wahl, Leiter der Weimarer Kulturstätten“

IN EINEM SCHREIBEN AN DIE AMERIKANISCHE MILITÄRREGIERUNG BESTREITEN DIE REPRÄSENTANTEN DER STADT WEIMAR JEDE SCHULD DER STADTBEVÖLKERUNG AN DEN VERBRECHEN, 1.5.1945. STADTARCHIV WEIMAR

DIE GEDENKFEIERN ZUR BEFREIUNG DES KZ BUCHENWALD STEHEN IN DER DDR GANZ IM ZEICHEN DES VERORDNETEN GESCHICHTSBILDES. SCHLAGZEILE IN DER PARTEIAMTLICHEN ZEITUNG DER SED „NEUES DEUTSCHLAND“, 11.4.1960

GEDENKFEIER ZUM 15. JAHRESTAG DER BEFREIUNG DES KZ BUCHENWALD, 10.4.1960.

NACH DER BEFREIUNG Verletztes Leben.

Das Lager hinterlässt bei Überlebenden schwere körperliche und seelische Verletzungen. Hunderte sterben noch in den Monaten nach der Befreiung.

AMERIKANISCHE MILITÄRÄRZTE UND SANITÄTER DES 120TH UND DES 45TH EVACUATION HOSPITAL RINGEN WOCHENLANG UM DAS LEBEN VON ANNÄHERND 5.000 KRANKEN. HUNDERTE WERDEN MIT IHREN RÖNTGENBILDERN IN DAS TUBERKULOSEKRANKENHAUS BLANKENHAIN BEI WEIMAR VERLEGT.

ANGEHÖRIGE DES 120TH EVACUATION HOSPITAL VERLEGEN KRANKE AUS DEM KLEINEN LAGER IN DIE SS-KASERNEN, 17.4.1945. FOTO: U.S. ARMY SIGNAL CORPS

188 | 189 RÖNTGENBILD VON SIEGFRIED SCHÜTT, 1945

Tuberkulosepatient Siegfried Schütt, 21 Jahre

Geboren in Leipzig. Als 16-jähriger Sinto wird er im Dezember 1940 verhaftet und in das Jugend-KZ Moringen eingeliefert. Von dort deportiert ihn die SS nach Auschwitz, im August 1944 kommt er in das KZ Buchenwald. Nach acht Wochen im Steinbruch liegt er schwer krank im Häftlingskrankenbau. Er lässt sich nach der Befreiung auf eigenen Wunsch aus Blankenhain entlassen, um in Leipzig seine Familie zu suchen. Wochen später kehrt er tod- krank zurück. Er stirbt am 4. Februar 1946 in Blankenhain.

Wiedergutmachung?

Opfergruppen müssen teils Jahrzehnte darauf warten, bis das ihnen Gesche- hene als Verbrechen anerkannt wird und sie zumindest eine symbolische Entschädigung erhalten. In der Bundesrepublik wird die Politik der Wiedergut- machung von außenpolitischen Interessen wie auch innergesellschaftlicher Kritik beeinflusst. In der DDR setzt die Entschädigung von KZ-Häftlingen deren Loyalität zum Staat voraus und bleibt auf Staatsangehörige beschränkt.

NACH DER BEFREIUNG Überlebende als Zeugen.

Für die ermittelnden alliierten Stellen, später auch für die Justiz, sind die Überlebenden als Augenzeugen von besonderer Bedeutung und unentbehrlich. Erstmals können sie als selbstbewusste Persönlichkeiten ihre Erfahrungen darstellen.

ZWEI WOCHEN NACH DER BEFREIUNG DES KZ BUCHENWALD MELDEN SICH AUF ANFRAGE DER AMERIKANISCHEN ERMITTLER 179 ÜBERLEBENDE ALS ZEUGEN. IHRE AUSSAGEN BILDEN DIE GRUNDLAGE FÜR DIE FAHNDUNG NACH SS-TÄTERN UND DEN GRUNDSTOCK DER SPÄTER VOR DEM AMERIKANISCHEN MILITÄRGERICHT IN DACHAU DURCHGEFÜHRTEN BUCHENWALDPROZESSE.

Dimitri Michailow, Student, Russe Peter Lorang, Tischler, Luxemburger Buchenwald Februar 1944 bis April 1945 Buchenwald 1945

„Obersturmführer Gust hatte die Gewohnheit, „In Gleiwitz wurden wir, zusammen 110 Gefährten, uns mit einer Peitsche zu ’begleiten‘, oft hetzte bei etwa –15 bis –17 °C in offene Eisenbahnwag- er seinen Hund auf uns. Wenn er ins Mikrofon gons gestopft. Auf dem Weg nach Buchenwald sprach, redete er von uns immer als ’Tiere‘, sind allein in meinen Wagen 34 Gefährten verhun- ’Schweine‘ usw. [...] Nicht weniger schreck- gert oder erfroren.“ lich war das Verhalten des Hauptscharführers Taufratshofer, Spitzname ’Bambus‘. Als Mitglied des Kommandos 99 gab er oft selbst damit an, dass er an der Ermordung der ’russischen Schweine‘ teilgenommen hatte.“

190 | 191 Juliusz Jan Orkisz, Kunstmaler, Pole Buchenwald April 1941 bis April 1945

„Ich bin Zeuge der Misshandlungen in der Lager- gärtnerei geworden, wo Hunderte von Häftlingen ihr Leben verloren haben. Sie mussten in Dreck- wasser und Exkremente, Mist usw. springen. Einer der jungen polnischen Häftlinge wurde wahnsinnig und brachte sich selbst um. Er war erschöpft, unfähig zu arbeiten, der Krankenbau lehnte ihn ab und er verlor die Nerven.“

Mat j N mec, Brigadegeneral, Tscheche Buchenwald 1939 bis 1945

„Ich wurde als Aushilfe beim Bekleiden der Todes- transporte beschäftigt; das heißt der Transporte, die aus anderen Lagern nach Buchenwald evaku- iert worden sind. Hier habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, was das heißt: ‚zu Tode hungern‘.“

NACH DER BEFREIUNG Buchenwalds SS vor Gericht.

Von den mindestens 9.000 SS-Männern und Aufseherinnen, die von 1937 bis 1945 in Buchenwald und seinen Außenlagern Dienst taten, werden wegen Ver- brechen in Buchenwald vor deutschen und alliierten Gerichten 95 angeklagt und 79 verurteilt. Zwischen 1945 und 1987 finden 59 Verfahren statt.

AM 11. APRIL 1947 BEGINNT IN DACHAU DER BUCHENWALDPROZESS VOR EINEM US-MILITÄR- GERICHT. DIE MEISTEN DER 31 ANGEKLAGTEN SIND MITGLIEDER DES SS-KOMMANDANTUR- STABES. DANEBEN STEHEN VIER HÄFTLINGSKAPOS UND ILSE KOCH ALS EINZIGE FRAU VOR GERICHT. DER PROZESS ENDET MIT 22 TODESURTEILEN, VON DENEN 10 VOLLSTRECKT WERDEN.

DIE ANGEKLAGTEN IM BUCHENWALDPROZESS, 1947. FOTO: U.S. ARMY SIGNAL CORPS

DER EHEMALIGE LAGERKOMMAN- DANT PISTER BEI DER URTEILS- VERKÜNDUNG, 14.8.1947. FOTO: DEAN L. DENNIS (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

192 | 193 ILSE KOCH VOR GERICHT, 1950. IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND FINDEN 19 PROZESSE WEGEN VERBRECHEN IM KZ BUCHENWALD STATT. AUF ÖFFENTLICHES INTERESSE STOSSEN VOR ALLEM DIE PROZESSE GEGEN ILSE KOCH VOR DEM LANDGERICHT AUGSBURG UND GEGEN MARTIN SOMMER 1958 VOR DEM LANDGERICHT BAYREUTH.

WILHELM SCHÄFER (MITTE) VOR GERICHT, 10.4.1961. IN DER DEUTSCHEN DEMOKRA- TISCHEN REPUBLIK ERREGT VOR ALLEM DER PROZESS GEGEN DEN EHEMALIGEN SS-HAUPTSCHAR- FÜHRER SCHÄFER AUFMERK- SAMKEIT. DAS OBERSTE GERICHT VERURTEILT IHN WEGEN BETEI- LIGUNG AN DER ERSCHIESSUNG SOWJETISCHER KRIEGSGEFANGE- NER ZUM TODE.

NACH DER BEFREIUNG Schwur von Buchenwald – Ursprung und Versionen.

Im Auftrag des Lagerkomitees organisiert eine Gruppe aus österreichischen, niederländischen, tschechischen, polnischen und ungarischen Häftlingen, darunter auch jüdische Überlebende, am 19. April 1945 eine Gedenkfeier für die Toten des Lagers. Die Schlusssätze der dabei in mehreren Sprachen verlesenen Erklärung beto- nen angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen und des noch nicht beende- ten Krieges: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“ Bereits einige Tage später wird der „Schwur von Buchenwald“ entsprechend den Zielset- zungen kommunistischer Häftlinge umformuliert: „die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln“ steht für die klassenkämpferische Zerschlagung des Kapitalismus und die Durchsetzung kommunistischer Herrschaft.

„BUCHENWALDER NACHRICHTEN“, 20.4.1945. IN DER LAGERZEITUNG WIRD DER SCHWUR EINEN TAG NACH DER GEDENKFEIER IN DER ORIGINAL- FASSUNG ABGEDRUCKT.

194 | 195 Lebensentwürfe.

„Buchenwald den Rücken kehren“

ABREISE BEFREITER KINDER UND JUGENDLICHER VOM BAHNHOF WEIMAR NACH FRANKREICH, 1.6.1945. INSCHRIFT AUF DEM WAGGON: ”WO SIND UNSERE ELTERN? IHR MÖRDER.“

„Einen Neuanfang wagen“

BEFREITE ANGEHÖRIGE DES LAGERSCHUTZES VOR EINER HOLZBARACKE, NACH DEM 11.4.1945. BESCHRIFTUNG AN DER BARACKE: ”HEIM WOLLEN WIR ANTIFASCHISTEN. NAZIVERBRECHER VERNICHTEN.“ FOTO: ALFRED STÜBER

„Erinnern“

”KIBBUZ BUCHENWALD“: BEFREITE JÜDISCHE FRAUEN UND MÄNNER BEREITEN SICH IN HESSEN AUF DIE AUSWANDERUNG NACH PALÄSTINA VOR, 1945.

EINE FRANZÖSISCHE DELEGATION BESUCHT DAS EHEMALIGE KZ BUCHENWALD, AUGUST 1950. FOTO: GEORGES ANGÉLI

NACH DER BEFREIUNG Was bedeutet Buchenwald? Ehemalige Häftlinge sprechen

Floréal Barrier „Verlangen wir, zuallererst von uns und dann auch von den anderen, einen respektvollen Blick auf den, der anders ist als wir selbst. Verbieten wir jedes Hindernis für die Freiheit, das Leben und das Leben in Frieden.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2015

Léon Blum „… was auf Gewalt aufgebaut und durch Zwang beibehalten wird, was die Menschheit erniedrigt, und auf der Verachtung der menschlichen Person beruht, hat keine Dauer.“

BLICK AUF DIE MENSCHHEIT, 1947

Jacqueline Fleury „Europa ist etwas, das sich im Kleinen aufbaut. Durch Austausch.“

INTERVIEW, VERSAILLES 2011

Chava Ginsburg „Meine Botschaft ist: seid freundlich und tolerant gegenüber anderen Menschen. Hass auf eine Gruppe kann leicht auf die anderen übergehen. Wir haben auf die harte Tour gelernt – ’Es kann auch dir passieren‘. Wir müssen für eine Welt ohne Hass, religiöse Intoleranz und Grausamkeit arbeiten. Eine Welt, auf der Frieden herrscht.“

INTERVIEW, GEDENKSTÄTTE BUCHENWALD 2015

Bertrand Herz „Wir müssen uns der Bedrohung elementarer Menschenrechte widersetzen und dürfen keinesfalls den Verlockungen des Populismus oder von Ideologien erliegen, die die Ausgrenzung Einzelner zum Ziel haben.“

DANKESREDE ZUR VERLEIHUNG DER EHRENBÜRGERSCHAFT DER STADT WEIMAR, 2009

196 | 197 Stéphane Hessel „Es gibt kulturelle Unterschiede, aber keine zivilisatorischen. Wenn wir in Gesellschaften leben, dann bedeutet es, dass jedes Individuum dieselben fundamentalen Rechte hat. Sie bedeuten zugleich, dass man miteinander leben kann, dass man sich gegenseitig respektiert, dass man Verantwortung für den anderen hat – das ist Zivilisation.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2008

Ivan Ivanji „Keineswegs dürfen wir uns mit dem Zustand, in dem wir leben, zufrieden geben, keineswegs verzweifeln, wenn die Welt des Friedens und der Freiheit nur ansatzweise geschaffen wurde und neuerdings selbst da unerwartet wieder bedroht wird. Jetzt sind unsere Kinder und Enkelkinder gefragt, hoffentlich haben wir sie richtig aufgeklärt, tun das auch heute und hier, haben ihnen die richtigen Waffen, Werkzeuge und Ideen anvertraut.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2015

Benedikt Kautsky „Die menschliche Natur wird man nicht ändern, der Mensch trägt in sich die Ansätze zum Bösen wie zum Guten – es gilt, die Umstände zu schaffen, unter denen Achtung vor der fremden Persönlichkeit, Selbstverantwortung und Rücksicht auf die Rechte der anderen zur Selbstverständlichkeit werden.“

TEUFEL UND VERDAMMTE. ERFAHRUNGEN UND ERKENNTNISSE AUS SIEBEN JAHREN IN DEUTSCHEN KONZENTRATIONSLAGERN, 1946

Rolf Kralovitz „Hass ist eine schreckliche Sache, egal von wem und nach welcher Seite. Wir können nur versuchen, zu informieren und die Menschen zueinander zu bringen, statt auseinander.“

IM GESPRÄCH MIT SCHÜLERN, 1997

Sol Lurie „Die Schönheit der Welt ist der Regenbogen an Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen, und das muss gefeiert werden.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2015

NACH DER BEFREIUNG Charles Palant „Aber wir konnten doch nicht nur unser eigenes Haus wieder aufbauen. Wenn wir vom Frieden sprachen, meinten wir gleichzeitig auch den Aufbau eines friedlichen Europas.“

INTERVIEW, PARIS 2011

Éva Pusztai „… das Schicksal unserer Enkelkinder ist uns das Wichtigste. Das Beste, was ich ihnen wünschen kann – wenn es auch noch so utopisch klingen mag –, ist: dass sie sich ein angstloses Leben schaffen können. Dass sie sich eine demo- kratische Gesellschaft erbauen, in der institutioneller Hass unbekannt ist.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, 2012

Jack Unikowski „Nicht jeder kann ein Held, ein Politiker, ein Philosoph, ein Helfer sein. Aber jeder Einzelne kann die Würde von jedem anderen Individuum respektieren oder jemandem in Not eine helfende Hand reichen.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2015

Imre Kertész „Heimat? Zuhause? Land? ... Vielleicht wird den Menschen einmal aufgehen, dass dies alles abstrakte Begriffe sind und dass das, was sie zum Leben wirklich brauchen, nichts anderes ist als ein bewohnbarer Ort. Ein solcher Ort wäre wahrscheinlich jede Anstrengung wert.“

DAS EIGENE LAND, 1996

Eugen Kogon „Man muss den Terror in seinen Anfängen, in seinen Erscheinungsformen, in seinen Praktiken und in seinen Folgen entlarven. Denn wir wurden Zeugen davon, und werden es noch immer, wie er sich inmitten heutiger Demokratien entwickelt, wie er zur Macht kommt und sich als Demokratie selbst ausgibt, geradezu als eine Regierungsform von Freiheiten.“

TERROR ALS HERRSCHAFTSSYSTEM, REFERAT 1948

198 | 199 Jorge Semprún „Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas, einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit untereinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2005

Józef Szajna „Wir behalten aus der Zeitgeschichte doch nur die größten Mörder in Erinnerung - Hitler vergisst niemand in Deutschland und auch nicht anderswo auf der Welt. Wer aber kennt die Opfer? Ich stehe auf der Seite der Menschen, nicht auf der Seite der Macht und ihrer Repräsentanten; die Führer dieser Welt gehen mich nichts an.“

INTERVIEW MIT I. SCHEURMANN, WARSCHAU 2000

Bruno Bettelheim „Unser Herz muss die Welt der Vernunft kennen, und die Vernunft muss sich von einem wissenden Herzen leiten lassen.“

AUFSTAND GEGEN DIE MASSE. DIE CHANCE DES INDIVIDUUMS IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT, 1960

Robert J. Büchler „Erste Lehre ist Toleranz. Zweite Lehre: Kein Krieg. Weil ohne Krieg wäre kein Holocaust geschehen. Frieden, Toleranz, gegenseitige Verständigung, Menschenrechte: Das sind meine Lehren aus dem Lager.“

IM GESPRÄCH MIT JUGENDLICHEN, DEUTSCHLANDRADIO KULTUR - ZEITREISEN, 2007

Pierre Durand „Unser langes Leben hat uns gelehrt, dass man nie aufgeben darf, dass man im Herzen die Flamme der Hoffnung und den Willen bewahren muss, eine bessere Welt aufzubauen, eine Welt, die der Menschheit würdig ist.“

REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2001

NACH DER BEFREIUNG Statt eines Nachwortes – Mein Weimar Honig und Galle Ivan Ivanji

Die neugestaltete Dauerausstellung über das des Dichters, gesagt hat, Goethes Eiche ist eine Konzentrationslager Buchenwald ist die letzte, Buche gewesen und die stand nicht auf dem an deren Entstehen ehemalige Häftlinge mitge- Gelände, auf dem das KZ errichtet wurde. Eine wirkt haben, an deren Eröffnung einige der aller- Eiche, die wichtige, ansonsten vertrauenswür- letzten von uns teilnehmen können. Ich wünschte dige Zeitgenossen, wie Joseph Roth oder Ernst mir trotzdem – oder gerade deshalb – dass es Wiechert, aber auch die Lager-SS und viele keine Totenmesse für die im SS-Staat ermorde- Häftlinge, für den Baum Goethes gehalten haben, ten Menschen wird, kein Kotau vor den letzten hat allerdings existiert, ein Baum, der den Be- Überlebenden, die angeschwankt gekommen stand Deutschlands garantiert haben soll, aber sind, sondern die Ermöglichung eines auf Ver- nicht in seine Rinde hat der junge, übermütige ständnis der Vergangenheit begründeten Blickes Goethe seinen Namen geritzt und sie als Greis nach vorn. Wir, die man Zeitzeugen genannt hat, Eckermann gezeigt. haben gesagt, was wir zu sagen hatten. Die Ar- beit der Gedenkstätten gilt nicht uns, wir wissen, Das Lager hieß Buchenwald, nicht Eichenwald. was geschehen ist. Ich glaube, sie sollte sich vor Ein alter Spruch warnt: Eichen sollst Du weichen, allem an junge Mädchen und Burschen wenden, Buchen sollst Du suchen. Allerdings, es klingt die man jedoch nicht per Schuldekret zwingen gut, wenn man behauptet und schreibt, dass die darf, Orte des Grauens zu besuchen, sondern stattliche Eiche im KZ bis zum Volltreffer einer neugierig machen soll auf die Möglichkeiten des Bombe im August 1944 standgehalten hat. Nach- Menschen, gut oder böse zu sein. dem sie von der Bombe zersplittert wurde, war es mit Hitlers Deutschland tatsächlich aus. In der kleinen Stadt Weimar besucht man Höhe- punkte deutscher Kultur. Das Konzentrationsla- Sicher ist eines, dieser Baum stand nicht im Lan- ger Buchenwald war nur wenige Kilometer vom de wo die Zitronen blühn. Zentrum Weimars entfernt. Wunderbares und Schlimmes gibt es vielerorts auf diesen Plane- Ich habe als Häftling in Buchenwald nichts von ten, aber nirgendwo befindet sich Schönstes und Goethes Eiche gehört, war zu unwichtig, ein Erhabenstes, was Menschen gelungen ist, so Nobody, solche Geschichten drangen nicht zu nahe am Bösesten und Schrecklichsten, das sie mir durch, alle meine Kraft war notwendig, den begangen haben. nächsten Tag, die nächste Stunde zu überle- ben. Allerdings hätte ich Gedichte von Goethe, Der Dichter und Fürstbischof von Montenegro, ganze Balladen, auswendig rezitieren können. Petar Petrovic´ Njegoš, schrieb: Mein Vater hatte sie mir noch im Vorschulalter „Nie noch trank man ein Glas voller Honig beigebracht. Vor dem Schlafengehen las er mir ohne es mit Galle zu verbittern. vor. Er hat in Deutschland Medizin studiert und Ein Glas Honig fordert ein Glas Galle, Mitte der 1930er Jahre waren die Deutschen für nur vermischt sind sie dann auszutrinken.“ ihn noch immer das Volk der Dichter und Denker. Prost! Wahrscheinlich sind wir deshalb nicht rechtzei- tig geflohen, sind er und meine Mutter ums Leben Legenden sind für mich Niemandsland zwischen und ich ins Lager gekommen. historischer Wahrheit und phantasiereicher Erfindung. Sie sind nicht wahr, werden jedoch Goetheplatz, Weimar. Ein Stück Stadt wie überall wahrhaftig, wenn viele an sie glauben. Goethes auf der Welt. Busse halten und rasen weiter, Eiche auf dem Gelände des Konzentrationsla- eilige oder müßig sich umsehende Passanten gers Buchenwald zwischen Häftlingsküche und und Touristen. Für mich hat der Frauenplan Wäscherei ist ein Beispiel. Ich glaube, dass wahr mit Goethe zu tun, keineswegs dieser Ort mit ist, was Johann Peter Eckermann, der Vertraute seinen mir nichtssagenden Häusern, diesem

200 | 201 Menschengemenge. Wenn wir gerade zu Tau- Meine eigenen Erinnerungen sind von den vielen senden da stehen oder unser Bier trinken, bin schlechten und einigen wenigen guten Spielfil- ich wahrscheinlich der Einzige, der auch daran men über den Holocaust überlagert. Die Szenen denkt, dass vor 232 Jahren an diesem Ort der mit in die Viehwaggons gepferchten Menschen, vierundzwanzigjährigen Johanna Catharina das Fauchen der Lokomotive, die von links nach Höhn der Kopf abgeschlagen worden ist. Goethe rechts über den Bildschirm fährt, ist stärker, als hat der Enthauptung des Mädchens zugestimmt. was ich mir gemerkt habe über meine Transporte Er war damals vierunddreißig Jahre jung. Hat er von Baja in Ungarn nach Auschwitz, Auschwitz seine Einstellung je verändert? In Dichtung und nach Buchenwald, Buchenwald nach Magdeburg, Wahrheit erwähnt er das Problem überhaupt Magdeburg nach Buchenwald, Buchenwald nach nicht, obwohl das öffentlich vollstreckte Urteil Niederorschel, Niederorschel nach Langenstein. Wirklichkeit, das bedeutet, Wahrheit war, die im Besäße ich den Dokumentenauszug des Interna- Faust beschriebene, rührende Gretchenszene im tionalen Suchdienstes aus Arolsen nicht, würde Kerker Dichtung, Theater. Unter Gewissensbis- ich zweifeln, ob meine Wahrheit wahr ist. Sicher sen hat der Geheime Rat nicht gelitten. Gewalt ist nur, als ich 1944 im Stammlager Buchenwald schleicht sich bei ihm auch sonst immer wieder war, hatte ich keine Ahnung von der Nähe zu in seine Dichtung ein. Weimar. Zu Goethe.

Über Goethes energische Zustimmung zum Zum ersten Mal bewusst in Weimar war ich am Todesurteil ist viel geschrieben worden, denn 26. April 1968. Eine Fahrt auf den Ettersberg Großherzog Carl August hätte die Kindsmörderin zur Gedenkstätte Buchenwald, ein Bankett im am liebsten begnadigt, fragte seine Räte aber Elephantenkeller des Hotels Elephant und an- um ihre Meinung. Goethe hat seine Entschei- schließend ein heimlicher, nächtlicher Besuch in dung als Jurist und Staatsmann gefasst. Das ist Goethes Haus am Frauenplan. Noch wusste ich logisch, nicht der Dichter war gefragt. Es war nicht, wie tief sich meine Wurzeln in die thüringi- durchzusetzen, was er für Recht hielt. Recht und sche Erde bohren würden, auf welche makabre Ordnung. Der Goetheplatz zu Weimar als Richt- Weise ich hier eine Art von Heimat finden kann. stätte beweist einmal mehr die Nähe von über- Im Regierungsflugzeug der DDR zwischen Berlin irdischer Schönheit und höllischer Grausamkeit und Erfurt wurde ich von einem Stewart, geklei- auch in der Vergangenheit. Und eben in Weimar det wie ein Admiral, mit Säften und scharfen ist diese Nähe überall sichtbar. Getränken versorgt. Mein neugieriger Blick er- kannte unten auf der Erde nur Hügellandschaft, „Und der wilde Knabe brach das Röslein auf Dörfer, Wälder. Das KZ Buchenwald hatte ich der Heiden!“ Da hilft kein Seufzer vom Röslein, vor dreiundzwanzig Jahren im Viehwaggon mit Röslein, Röslein rot. etwa achtzig Leidensgenossen verlassen und jetzt kehrte ich im blauen Anzug mit sorgfältig „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“, gebundener, rot gesprenkelter Krawatte als sagt der Erlkönig. Dolmetscher des jugoslawischen Außenminis- ters zurück. Darf ich sagen: zum Tatort? Kann „Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / Und ward das Opfer zum Tatort zurückkehren, oder nur der nicht mehr gesehen …“ Mit schönen Worten Täter? über Sonne und Mond wird der Fischer ersäuft, ertränkt, ermordet. Später in einer schwarzen Autokolonne in Beglei- tung von uniformierten Motorradfahrern bergauf. „Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser: / Sollte ich jetzt etwas wiedererkennen? Nichts. Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es, Wie sollte ich? Das war doch ganz anders da- / Und wieder nieder / Zur Erde muss es / Ewig mals. wechselnd.“ Bei solchen Gelegenheiten war es üblich, dass Einmal Frauenplan – Ettersberg und zurück, bitte. der Dolmetscher des Gastgebers mehr Arbeit Ich komme von Goethe nicht los. Ich bin gerne übernimmt, als der des Gastes. Ich konnte etwas in Weimar. Und die Erinnerung an das Konzentra- zurückbleiben. Hinter unseren Rücken lustige tionslager kann mir längst nichts mehr anhaben. Rufe der Chauffeure und Polizisten. Auf Deutsch.

NACH DER BEFREIUNG Wie sonst? Aber die sehr lauten deutschen Wieder viele Jahre später zum fünfundsechzigs- Stimmen brachten die Erinnerung zurück. So hat ten Jahrestag der Befreiung von Buchenwald auch die SS gebrüllt. Als wir durch das Lagertor bekam ich mit meiner Frau die Suite 100 im Hotel gingen, das Gelände bergab vor mir lag, wusste Elephant. Natürlich neues Mobiliar, neue Bilder ich, wo ich war. an den Wänden, aber derselbe Blick zur Garten- seite hinaus. Hier hat Hitler geschlafen und aus Außenminister Marko Nikezic´ wurde von einem dem Fenster geschaut. Wieso hat man dieses ehemaligen Häftling begrüßt: Zimmer mir gegeben? „Weil Du mit den Dämonen fertig wirst!“, sagte man mir. „Mein Name ist Richard Kucharczyk oder, wie man sich vorschriftsmäßig vorzustellen hatte, Im Gasthof Elephant in Weimar hat Goethe oft Häftling Nummer 921.“ seinen Wein getrunken. Er war sehr trinkfest, hat sein Herzog Carl August geschrieben. Hitler Mein Minister drehte sich um: war Antialkoholiker. In meiner Phantasie könnten sich die Geister der beiden nach Mitternacht in „Wir haben doch auch so einen!“, rief er, von den Fluren des Hotels trotzdem begegnen und ... meinem Standpunkt aus ungeschickt. „Ivanji, wo Drei Punkte an dieser Stelle sollten genügen. Im stecken sie?“ Hotel Elephant ist mir doch auch der Aschen- mensch von Buchenwald erschienen, der bisher Ich musste also vortreten und sagte der Nummer in zwei meiner Romane spukt. Mindestens des- 921, ich sei Häftling Nummer 58.116. Weil er eine halb bilde ich mir ein, sagen zu dürfen: dreistellige Lagernummer hatte, wusste ich, dass er zu den ersten hier oben gehört hatte. „Mein Weimar!“

Den Radioreportern gefiel das, sie steckten uns Nietzsche-Archiv. Villa „Silberblick“. Nicht nur ihre Mikrofone unter unsere Nasen und baten, Ehrfurcht vor dem vernebelten Geist des wort- wir sollten das doch wiederholen. Ich knurrte sie gewaltigen Philosophen, sondern Bewunderung an, würgte an einem Knödel im Hals und hätte der Einrichtung von Henry van de Velde. Auch losgeheult, wenn ich versucht hätte, noch etwas hier war Hitler zu Besuch, um der Hausherrin, zu sagen. Das war aber nur damals so. Seither Nietzsches Schwester, die Hand zu küssen, lasse ich die Leute von den Medien mit mir wie es höfliche Österreicher nun einmal so gut machen, was sie wollen, das ist nun einmal die können. Honig und Galle auch hier beisammen, Lebensaufgabe von Zeitzeugen. schwer für mich zu sagen, welcher Geschmack im mir angebotenen Gläschen überwogen hat. Im Elephantenkeller übernahm wieder der freundliche deutsche Dolmetscher die Haupt- Im Arbeitskommando von Buchenwald in Nie- last. Ich wurde neben einen netten Menschen derorschel hat mir H. G. Adler Nietzsche aus der gesetzt, mit dem ich mich speziell über Goethes Bibliothek des Kapos Hermann zu lesen gegeben. Beziehung zu Corona Schröter unterhalten habe. Das passt nicht zur üblichen Aussage von Zeit- Bis heute verstehe ich nicht, warum alle deut- zeugen über ihr Leiden? Im schlimmsten Kriegs- sche Germanisten die Ménage-à-trois zwischen winter 1944/1945 hat mir le docteur Charles Goethe, Carl August und der schönen Schauspie- Odic, der Lagerarzt, Schonung gegeben, ich bin lerin leugnen. Aber der Mann hatte die Schlüssel oft bei ihm im Revier gesessen. Der Doktor hat für das Haus auf dem Frauenplan, und als sich mir im Raum, wo die Moribunden lagen, gezeigt, die anderen zurückzogen, durfte ich mitten in dass die Läuse sterbende Körper verlassen. der Nacht meinen ersten Antrittsbesuch beim Wenn über die graue Decke weiße Punkte nervös Geheimen Rat von Goethe machen. Wie vielen irgendwohin fliehen, ist es ein Zeichen, dass in Menschen ist das vergönnt worden? Was das spätestens einigen Stunden der Exitus eintritt. für mich bedeutet, kann nur verstehen, wer eine solche Beziehung zu ihm und seinem Werk hat „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, sagt wie ich. Und wenn man alles zusammenreimt, Goethe, aber Nietzsche antwortet „Das Unver- habe ich das Hitler zu verdanken. Ist das nicht gängliche ist nur dein Gleichnis ...“ verrückt?

202 | 203 Da habe ich wieder alle meine Gespenster bei- fangener und ich im Laufe des Winters 1945/46 sammen, Nietzsche, Hitler, Goethe: in derselben serbischen Kleinstadt Pančevo waren, zwar haben wir uns nicht kennengelernt, „Die Krähen schrein und ziehen schwirren Flugs aber mein Onkel, bei dem ich damals wohnte, zur Stadt. / Bald wird es schnei´n. – Wohl dem war als Chef der Baubehörde auch für die deut- der jetzt noch – Heimat hat.“ Auf Empfehlung von schen Kriegsgefangenen zuständig, und ich halte H.G. Adler im Arbeitskommando Niederorschel es für sicher, dass er mit „diesem deutschen von Buchenwald gelesen und auswendig gelernt. Architekten“ direkten Kontakt hatte, haben musste. Bauhaus. Reverenz. Ich habe im Leben nichts gebaut, kann aber Pläne lesen und habe deskrip- Auch über den Schöpfer des Lagertors, Mitglied tive Geometrie sogar gelehrt, aber wenn ich in von Bauhaus, bin ich mit dem KZ und Weimar Gedanken Bauhaus mit Weimar verbinde, taucht verbunden. nicht das Museum auf dem Theaterplatz auf, sondern sofort wieder das Hotel Elephant. Ich Es ist mein Weg, mein Spaziergang, ein jedes Mal, weiß, aus welchem Fenster der Herberge hinter wenn ich in Weimar bin. Vom Elephanten, Blick vorgezogenen Vorhängen Walter Gropius mit der über den Marktplatz, dann links, dann rechts unbeschreiblichen Geliebten der besten Künst- die Schillerstraße lang zum Theaterplatz, das ler des Jahrhunderts, der Alma Mahler-Werfel, Theater-Cafe, das Theater vor mir. Und Goethe erschrocken das Geschehen auf dem Marktplatz mit Schiller in dumme Pose geworfen. Ich finde beobachtet hat, als der Reichswehrkomman- das Theater nicht schön. Ich finde das Denkmal deur auf die protestierende Menge schießen schlecht. Und ich liebe diesen Anblick trotz- ließ. Ich weiß, wie entsetzt wenige Jahre später dem, er regt mich auf, er holt Gedanken, Verse, die braven Weimarer Bürger „das Treiben“ der Erinnerungen aus der Tiefe des Gedächtnisses. Bauhaus-Studenten beobachtet haben: „An gar Geschichte. Die Weimarer Republik. Hitler wohnt nicht verschwiegenen Seen und Saalestränden Theatervorstellungen bei. Semprún spricht im baden Männlein und Weiblein, wie Gott sie ge- Theatersaal. Und vorher, nicht auf denselben schaffen hat!“ Nackt in der Ilm gebadet haben Brettern, aber doch hier an diesem Ort, die ein gutes Jahrhundert früher Goethe und sein Uraufführungen von Goethe und Schiller in ihrer Freund, der Großherzog, und wahrscheinlich die eigenen Inszenierung. Ich glaube zu wissen, wo- schöne Corona auch, aber quod licet Iovi … rüber ich rede, wenn ich Bach sage und Goethe und Schiller und Wagner und Liszt und Heinrich Den Helden meiner Bücher, Gropius und Alma, Heine und Thomas Mann und Stéphane Hessel, Franz Ehrlich und Siegfried Wahrlich und ihren Jorge Semprún, Imre Kertész. Und Sauckel. Und Mädchen – historische Figuren, die ich mir Hitler. Und ich in ihrer Gesellschaft. lebhaft vorstellen kann, aber ebenso erfundene Personen, die für mich genau so oder mehr noch „Eine Melange, bitte! Sie wissen nicht, was das lebendig sind – begegne ich auf den Straßen ist? Honig und Galle. Und dann die Speisenkarte!“ und Plätzen und glaube zu wissen, wo sie wann gegessen, getrunken oder ihre Hemden gekauft Goethe und Schiller? Bronze. So stelle ich mir haben. Insofern bin ich ein Weimarer, wie sie. die beiden nicht vor. Schiller war, was die Statur Und den Unterschied zwischen einem Weimarer angeht, einen Kopf größer. Das Denkmal zeigt und einem Weimaraner kenne ich auch. Obwohl sie gleich groß. Ich halte nicht nur die Dichtung Hundeliebhaber, würde ich nicht ausgerechnet Goethes, sondern sein Hauptwerk, sein Leben ein Exemplar dieser Rasse halten. als Gesamtkunstwerk, für bedeutender als das Schillers. Das Denkmal zeigt sie gleich groß. Ich Hätte man mich nicht eingeladen, über den Autor besitze einen Tortenheber mit der Abbildung des der Inschrift „Jedem das Seine“ über dem Tor Denkmals, Salz- und Pfefferstreuer als Büsten des Konzentrationslagers Buchenwald eine Rede von Goethe und Schiller. Es ist unzählbar, wie zu halten, über Franz Ehrlich, hätte ich meinen viele Aschenbecher, Teller und Vasen es mit der Roman Buchstaben von Feuer nicht schreiben Abbildung dieses Denkmals gibt. Ich habe nichts können. Eine echte Trouvaille, als ich festgestellt dagegen. Aber ich denke jetzt an den Totenkopf, habe, dass Ehrlich als jugoslawischer Kriegsge- den Goethe für Schillers gehalten und auf seinem

NACH DER BEFREIUNG Schreibtisch platziert hat. Das ist für mich das Meine Botschaft an die Generation meiner Enkel Verhältnis der beiden zueinander. Goethe war und Urenkel wäre vor allem nicht, dass sie mei- ein Jahrzehnt älter, überlebte jedoch den kränk- ner Zeit mit Schrecken oder Nachsicht gedenken lichen Schiller um mehr als zwei Jahrzehnte. möge, sondern, dass sie überlegt, wie man jetzt und in der Zukunft jenen Menschen hilft, die in Der damalige Bürgermeister von Weimar versuch- Not sind, und ich fürchte, das wird noch sehr te, Schillers sterbliche Überreste in einem „Chaos lange notwendig sein. von Moder und Fäulnis“ zu finden, entschied sich für einen relativ gut erhaltenen Totenkopf. Goethe Ich liebe Weimar trotz der vielen Widersprüche, ließ sich dieses Utensil bringen und stellte es der Notwendigkeit, das Glas Honig der Kunst mit auf ein blaues Kissen unter einem Glassturz auf der Galle des SS-Staates vermischt zu trinken. seinen Tisch. Über ein Jahr lang behielt er den Oder liebe ich es nicht trotz, sondern wegen Schädel des toten, jüngeren Freundes privat bei dieser Nähe des Guten zum Bösen? Das himmel- sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man hoch Jauchzende in Umarmung mit dem zum mit modernen Methoden beweisen, dass es der Tode Betrübten? Schädel von Friedrich Schiller bestimmt nicht war. Ist das wichtig? So wenig wichtig, wie, ob Kulturstadt Weimar. Weimar, Adresse des Goethes Eiche auf dem Lagergelände Buchen- Konzentrationslagers Buchenwald. Heute der wald eine Buche war. Ist wichtig, was man Gedenkstätte und Stiftung. Mein Weimar! glaubt? Wichtig, wie sich der lebendige Goethe zum toten Schiller tatsächlich verhalten hat? Ivan Ivanji Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Schriftsteller und Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald. Er lebt und arbeitet in Belgrad. wurden zwei Schrumpfköpfe gefunden, gefertigt von den Köpfen zweier hingerichteter polnischer Häftlinge. Makaber. Sie sind nicht öffentlich aus- gestellt. Natürlich nicht, aber ist der vermeint- liche Schädel Schillers auf Goethes Schreibtisch nicht genau so fürchterlich?

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Chronologie KZ Buchenwald 1937 – 1945

206 | 207 DIE ERSTEN BARACKEN DES KZ WERDEN AUF DEM ETTERSBERG ERRICHTET. KRIMINALPOLIZEI WEIMAR, 9. JULI BIS 20. AUGUST 1937 1937

15. Juli Auf dem Ettersberg treffen die ersten 28. Juli Das neue Konzentrationslager 149 Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen ein. „K.L. Ettersberg“ wird nach einem Einspruch Die SS löst die Konzentrationslager Sachsenburg der Weimarer NS-Kulturgemeinde in und Lichtenburg auf und bringt die Insassen – „K.L. Buchenwald/Post Weimar“ umbenannt. Widerständler, Zeugen Jehovas, Vorbestrafte und vereinzelt auch Homosexuelle – in das 4. August Der Oberbürgermeister von Weimar neue Lager. Sie müssen es selbst erbauen. genehmigt die von der SS beantragte Nutzung Lagerkommandant ist Karl Koch. des städtischen Krematoriums zur „Einäscherung der in Frage kommenden Leichen“. „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ Im März 1937 führt die Kriminalpolizei die erste 5. September Im städtischen Krankenhaus Verhaftungsaktion zur „vorbeugenden Verbre- Weimar stirbt erstmals ein zur Behandlung chensbekämpfung“ durch. Ziel ist die rassistische eingewiesener Häftling. „Säuberung“ der Gesellschaft. Männer mit mehre- ren Vorstrafen werden in die Konzentrationslager 17. September Die Weimarer Stadträte erklären eingewiesen und bilden dort die Häftlingsgruppe „grundsätzliches Einverständnis“ mit der Einge- „BV“ („Berufsverbrecher“). meindung des KZ Buchenwald.

Jahresende Im Lager auf dem Ettersberg befinden sich 2.561 Gefangene. Seit Sommer sind 53 von ihnen gestorben. DIE 3. SS-TOTENKOPFSTANDARTE „THÜRINGEN“ MARSCHIERT NACH WEIMAR. THEODOR HOMMES, SS-ROTTENFÜHRER, 1938/39

1938

Februar Erste Belegung des „Bunkers“, wie „Arbeitsscheu Reich“ der Arrestzellenbau im Torgebäude von den Häft- Unter Mitarbeit örtlicher Arbeitsämter weist die lingen genannt wird. Unter dem SS-Aufseher Polizei von April bis Juni 1938 mehr als 4.000 Martin Sommer wird er zur Folter- und Mord- Männer allein in das KZ Buchenwald ein, wo sie stätte des Lagers. die SS als „ASR-Häftlinge“ registriert.

1. April Das Konzentrationslager gehört ab jetzt zum Stadtkreis Weimar. Ende Mai Die Teilnehmer des in Weimar tagenden Reichsführerlagers der Hitlerjugend besuchen das April Beginn der Massenverhaftung sogenannter Konzentrationslager. Arbeitsscheuer. Tausende, die eine zugewiesene Arbeit verweigert haben, obdachlos oder nicht 4. Juni Auf dem Appellplatz wird der Arbeiter sesshaft sind, werden in die Konzentrationslager Emil Bargatzky vor den angetretenen Häftlingen eingewiesen. am Galgen erhängt. Er hatte bei einem Flucht- versuch einen SS-Posten tödlich verletzt. Es ist die erste öffentliche Hinrichtung in einem deut- schen Konzentrationslager.

208 | 209 Mitte Juni Mehr als tausend Juden werden im 10. bis 14. November Nach den antijüdischen Schafstall und im Rohbau der Häftlingsküche ohne Pogromen werden 9.845 Juden in einen Stachel- Betten, Bänke und Tische untergebracht. Die SS drahtpferch gedrängt, misshandelt und ausge- richtet sich neben dem Stacheldrahtzaun einen raubt. Sie sollen zur Auswanderung gezwungen Zoo ein. werden. 250 Juden verlieren dabei ihr Leben.

September Mit Transporten aus Dachau kommen Dezember Infolge der Überfüllung und des akuten die ersten Österreicher in das Lager. Unter ihnen Wassermangels bricht im Lager Typhus aus. sind viele Prominente jüdischer Herkunft aus Kunst, Bildung und Wissenschaft. Jahresende Die Lagerstärke liegt bei 11.028 Gefangenen. Unter den 802 Toten des Lagers im Oktober Die Zahl der Insassen übersteigt erst- Jahre 1938 sind 408 Juden. mals 10.000 Häftlinge.

Novemberpogrom In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 orga- nisiert die NSDAP in ganz Deutschland die Zerstö- rung der Synagogen und Geschäfte der jüdischen Bevölkerung. Insgesamt 30.000 Juden werden verhaftet.

CHRONOLOGIE BURGENLÄNDER ROMA STEHEN APPELL BEIM BESUCH EINES HOHEN SS-FÜHRERS. ERKENNUNGSDIENST DER SS, HERBST 1939

Burgenländische Roma Im Sommer 1939 verhaftet die Polizei im öster- reichischen Burgenland dort ansässige Roma- Familien und deportiert sie in die Konzentrations- lager Dachau und Ravensbrück. Es ist die erste 1939 geplante Deportation von Teilen einer Bevölke- rungsgruppe. Eine Rückkehr in ihre Wohnorte ist nicht vorgesehen.

Anfang Februar Der „Rassenforscher“ Robert Oktober Die SS pfercht über 3.000 Polen und Ritter lässt sich von der SS die im Lager inhaftier- Juden in ein Sonderlager am Appellplatz in Zelten ten Sinti zur Begutachtung vorführen. zusammen. Der Umgang mit ihnen trägt Züge eines planmäßigen Massenmords. Februar Nachdem der Typhus auf die nördlich ge- legenen Dörfer übergreift, muss die SS Maßnah- November Ausbruch einer Ruhrepidemie. Das men zur besseren Wasserversorgung ergreifen. Auftreten der Seuche in den umliegenden Dörfern führt zum Konflikt mit staatlichen Gesundheitsbe- 1. April Im Bereich der Lagerkommandantur nimmt hörden. das Sonderstandesamt „Weimar II“ die Arbeit auf, die vorrangig in der Registrierung von Toten 9. November Nach dem am Vorabend begangenen besteht. Attentat auf Hitler in München erschießt die SS willkürlich 21 jüdische Häftlinge im Steinbruch. Für September Nach Kriegsbeginn werden 8.500 alle Juden des Lagers folgen drei Tage Essensentzug. Männer eingewiesen, darunter etwa 700 Tsche- chen, Hunderte burgenländische Roma, über Jahresende Im Lager befinden sich 11.807 Häft- 2.200 Polen und mehr als tausend Wiener Juden. linge. 1939 sind 1.378 Gefangene in Buchenwald gestorben.

210 | 211 PASSFOTOS DEUTSCHER HÄFTLINGE FÜR WEHRAUSSCHLIESSUNGSSCHEINE. ERKENNUNGSDIENST DER SS, 1940

3. April Ernst Heilmann, Mitglied des Deutschen Reichstages und Vorsitzender der sozialdemo- kratischen Fraktion im Preußischen Landtag, wird 1940 durch eine Giftinjektion ermordet. Mai Lagerkommandant Koch lässt für sich und seine Frau Ilse eine Reithalle bauen.

Jahresbeginn Hunderte Roma und Wiener Juden 30. Mai Der katholische Pfarrer werden im Winter Opfer der Kälte, des Hungers stirbt nach zweitägiger Folter im „Bunker“. Er hat- und der Zwangsarbeit. Die SS ermordet erstmals te einen Mithäftling auf dessen Wunsch getauft. entkräftete Häftlinge mittels Injektionen. Nach Plänen der Erfurter Firma Topf & Söhne lässt die Juli 232 Angehörige der niederländischen Intel- SS neben dem Appellplatz ein Krematorium bauen. ligenz und Beamtenschaft werden als Geiseln eingeliefert. Selektion Die SS sondert entkräftete Häftlinge aus, 22. August Über die Stapo-Leitstelle Posen ermordet sie oder verlegt sie in andere Konzen- werden 640 Polen eingeliefert. trationslager. Im Laufe des Krieges entwickelt sich diese Methode zur gängigen Praxis. September Es ergeht eine Anordnung, den Toten vor der Einäscherung die Goldzähne herauszu- Januar Die Direktion der Behring-Werke Mar- ziehen. Seit Sommer ist das Lagerkrematorium in burg/Lahn erkundigt sich bei der SS nach den Betrieb. Ergebnissen der Versuche mit einem neuen Ruhr-Impfstoff, der an Häftlingen auf Verträglich- Jahresende 7.440 Gefangene befinden sich im keit getestet wurde. Lager. Im Laufe des Jahres sind 1.883 gestorben.

CHRONOLOGIE DIE FAMILIE DES SS-HAUPTSCHARFÜHRERS WERNER FRICKE MIT FREUNDEN VOR IHREM NEUEN HAUS IN DER SS-SIEDLUNG II BEI KLEINOBRINGEN. VERSCHIEDENE FOTOGRAFEN, UM 1941

1941

20. Februar 389 niederländische Juden aus NS-Euthanasie Amsterdam und Rotterdam werden eingeliefert. Nach festgelegten Quoten selektiert das Personal der Heil- und Pflegeanstalten 1939/40 Anstalts- Mai/Juni Die SS verlegt die niederländischen insassen und lässt sie in eigens geschaffenen Juden sowie die Mehrzahl der Sinti und Roma des Gaskammern ermorden. Diese Tötungseinrichtun- Lagers in das KZ Mauthausen bei Linz, wo sie in gen nutzt die SS bei der 1941/42 durchgeführten den Steinbrüchen zugrunde gehen. „Sonderbehandlung 14f13“, die der planmäßigen Ermordung von entkräfteten oder behinderten 5./12. Juli Nach zwei Häftlingstransporten polni- Häftlingen dient. scher und jüdischer Häftlinge beginnt der sys- tematische Mord an Tuberkulosekranken durch 13./14 Juli Mit zwei Transporten unter dem Injektionen. Aktenzeichen „14f13“ werden 187 kranke oder invalide Häftlinge in die „Euthanasie“-Tötungs- anstalt Sonnenstein (Pirna) gebracht und in der Gaskammer erstickt.

212 | 213 „Kommissarbefehl“ November Eine Kommission von „Euthanasie“- Der Krieg gegen die Sowjetunion wird als Weltan- Gutachtern sondert jüdische Häftlinge zur Ver- schauungs- und Vernichtungskrieg geplant. Schon nichtung aus. vor dem Überfall erlässt das Oberkommando der Wehrmacht den Befehl, gefangen genommene Genozid an den europäischen Juden Kommissare der Roten Armee sofort zu erschie- Einsatzgruppen der SS, Einheiten der Polizei und ßen, ebenso frühere Staatsfunktionäre, Angehö- der Wehrmacht ermorden auf besetztem sow- rige der Intelligenz und Juden. jetischen Gebiet systematisch Angehörige der der Gestapo führen eine ausgedehnte Fahndung jüdischen Bevölkerung. Auf besetztem polnischen in den Kriegsgefangenenlagern durch und lassen Gebiet richtet die SS Vernichtungslager ein. Plan- alle Verdächtigen im nächstliegenden Konzentra- mäßig wird die jüdische Bevölkerung Polens und tionslager erschießen. der von Deutschland besetzten Länder dorthin deportiert und ermordet. Dem Genozid fallen September Im Schießstand der Deutschen Aus- sechs Millionen Menschen zum Opfer. rüstungswerke neben dem Lager ermordet die SS die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen. Später Jahresende Lagerkommandant Koch wird nach richtet sie in einem umgebauten Pferdestall west- Lublin versetzt. Im Lager befinden sich 7.911 lich des Lagers eine Erschießungsanlage ein. Vom Häftlinge und 1.903 sowjetische Kriegsgefangene. „SS-Kommando 99“ werden in den folgenden zwei 1.746 Männer sind 1941 im Lager gestorben. Die Jahren über 8.000 sowjetische Kriegsgefangene durch Genickschuss ermordeten sowjetischen durch Genickschuss ermordet. Kriegsgefangenen erscheinen in keiner Statistik.

18. Oktober Die Wehrmacht gibt 2.000 sowjeti- sche Kriegsgefangene aus dem Kriegsgefange- nenlager Wietzendorf als Zwangsarbeiter an die SS ab. Innerhalb des Konzentrationslagers ent- steht eine besondere Abteilung: das sowjetische Kriegsgefangenenlager.

CHRONOLOGIE 1942

Januar In den Baracken 44 und 49 beginnen August Das SS-Wirtschaftsverwaltungshaupt- Menschenversuche mit Testimpfstoffen der amt, dem die Verwaltung der Konzentrations- Behring-Werke Marburg/Lahn, des Robert lager untersteht, ordnet die Ablieferung der ab- Koch-Instituts Berlin und des Instituts für Fleck- geschnittenen Haare zur Herstellung von Filz und fieber- und Virusforschung des Oberkommandos Textilien an. In der Fleckfieberversuchsstation, des Heeres Krakau. 145 Häftlinge werden künst- die sich jetzt in Baracke 46 befindet, beginnt eine lich mit Fleckfieber infiziert, fünf sterben im neue Versuchsreihe an Häftlingen. Der Lagerarzt Verlauf des Versuches. Hermann Pister tritt den regt an, die Totenmeldungen bei sowjetischen Dienst als neuer Lagerkommandant an. Häftlingen auf ein Minimum zu reduzieren.

Februar In den Weimarer Gustloff-Werken Oktober 405 jüdische Häftlinge werden nach entsteht das erste Außenkommando bei einem Auschwitz gebracht. Im Krematorium, dessen Rüstungsbetrieb. Bevor im Herbst 1943 ein Außen- Ausbau abgeschlossen ist, geht der zweite neue lager in Weimar gebaut wird, kommen die Häft- Verbrennungsofen der Firma Topf & Söhne in linge täglich aus dem Lager zur Arbeit. Betrieb.

März Im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“ Auschwitz-Erlass lässt die SS in der Gaskammer der „Euthanasie“- Am 16. Dezember 1942 gibt Himmler den Befehl, Tötungsanstalt Bernburg 384 jüdische Häftlinge die in Deutschland und den besetzten Gebieten ermorden. lebenden Sinti und Roma „familienweise“ nach Auschwitz-Birkenau zu deportieren. „Verbotener Umgang“ Seit Mitte 1940 weist die Gestapo polnische 17. Dezember Aus dem Zuchthaus Waldheim trifft Zwangsarbeiter in Buchenwald ein, die nach der erste Transport mit 108 Sicherungsverwahr- Angaben von örtlichen NSDAP-Leuten oder ten ein. In den Folgemonaten übergibt die Justiz Denunzianten verbotene Beziehungen zu deut- der SS zur Zwangsarbeit mehr als 2.000 Siche- schen Frauen unterhalten haben. Die Frauen rungsverwahrte aus Zuchthäusern und Heil- und werden in nicht wenigen Fällen öffentlich ange- Pflegeanstalten. prangert und in das KZ Ravensbrück eingewie- sen, die Polen erhängt. Sicherungsverwahrte Gemäß einer Vereinbarung zwischen dem Reichs- 11. Mai Die Lager-SS erhängt öffentlich im Auf- justizminister und der SS geben Heilanstalten trag der Gestapo bei Poppenhausen 20 polnische und Zuchthäuser einen Teil der zur Sicherungs- Häftlinge. verwahrung verurteilten Strafgefangenen sowie politische Häftlinge mit langjährigen Zuchthaus- Mai Die Stadtverwaltung Weimar lässt Original- strafen an die Konzentrationslager ab. Die damit möbel aus dem Arbeits- und Sterbezimmer verbundene Absicht wird benannt: „Vernichtung Friedrich Schillers nach Buchenwald bringen. durch Arbeit“. Dort fertigen Häftlinge in den folgenden Monaten Kopien der Möbel an. Jahresende Die SS lässt ein Desinfektions- gebäude und ein Quarantänelager (Kleines Lager) Juli Gestapo-Stellen aus ganz Deutschland wei- bauen. Im Lager befinden sich 9.517 Häftlinge. sen sowjetische Zwangsarbeiter in die Konzen- 1942 sterben 3.049 Gefangene, das heißt jeder trationslager ein, bis Anfang 1943 allein nach dritte Insasse. Buchenwald 4.500. An der Straße nach Weimar bauen Häftlinge eine Gewehrfabrik der Weimarer Wilhelm-Gustloff-NS-Industriestiftung.

214 | 215 PRÄSENTATION EINES „SAUBEREN“ BILDES VON HÄFTLINGSUNTERKÜNFTEN IM SS-FOTOALBUM. ERKENNUNGSDIENST KZ BUCHENWALD, ENDE 1943 1943

Mai Französische Regierungsmitglieder, darun- ter die früheren Ministerpräsidenten Édouard März Der Rüstungsbetrieb neben dem Lager, das Daladier, Paul Reynaud und Léon Blum, werden sogenannte Gustloff-Werk II, nimmt mit Häft- im SS-Falkenhof interniert. Léon Blum bleibt dort lingsarbeitskräften die Produktion auf. Der Bau bis zum April 1945. einer Bahnstrecke nach Weimar beginnt. Häftlinge müssen sie in nur drei Monaten errichten. Bei der Juni Aus dem Durchgangslager Compiègne in Erla-Maschinenwerk GmbH in Leipzig, bei den Nordfrankreich trifft der erste große Transport Junkers Flugzeugwerken in Schönebeck und bei ein. den Rautalwerken Wernigerode entstehen große Außenlager, wo Buchenwaldhäftlinge zur Arbeit in August Bei Nordhausen entsteht das Außenlager der Rüstungsindustrie gezwungen werden. Große „Dora“ zur Vorbereitung der unterirdischen Rake- Transporte von polnischen Häftlingen treffen aus tenproduktion. In den ersten sechs Monaten des den KZ Auschwitz und Majdanek ein. Stollenbaus kommen 2.900 Häftlinge ums Leben. Die ersten großen Transporte aus der Ukraine April Im Block 46 findet die dreizehnte Versuchs- kommen in Buchenwald an. reihe an Häftlingen statt, diesmal mit Fleckfieber- therapeutika der Firma Hoechst. Über die Hälfte Jahresende Die Lagerstärke ist auf 37.319 Ge- der Versuchspersonen stirbt während des Experi- fangene angewachsen. Unter ihnen sind 14.500 ments qualvoll. Russen, 7.500 Polen, 4.700 Franzosen und 4.800 Deutsche und Österreicher. Fast die Hälfte von ih- nen befindet sich in Außenlagern. 3.862 Häftlinge sterben 1943 im Buchenwalder Lagerkomplex.

CHRONOLOGIE KÜCHE UND WÄSCHEREI IM ALBUM DES LAGERKOMMANDANTEN PISTER. ERKENNUNGSDIENST DER SS, ENDE 1943 1944

Januar Die deutsche Sicherheitspolizei deportiert Mai bis Juli 8.000 ungarische Juden – in Ausch- 348 norwegische Studenten der Universität Oslo witz aus dem Vernichtungsprozess herausgezo- nach Buchenwald. gen – werden nach Buchenwald gebracht und in Außenlagern schonungslos zugrunde gerichtet. Januar/Februar Im Außenlager „Dora“ sondern SS-Ärzte 1.888 entkräftete Häftlinge aus und las- 15. August Durch Evakuierungstrecks aus aufge- sen sie in das KZ Majdanek verlegen. lösten und frontnahen Lagern im Westen ist das Stammlager mit 31.491 Menschen überfüllt. Tau- März Jeder Zweite der insgesamt 42.000 Häft- sende bleiben unter freiem Himmel oder in Zelten. linge muss in einem der 22 Außenlager für die In den inzwischen 64 Außenlagern befinden sich Kriegswirtschaft arbeiten. weitere 43.500 Häftlinge.

April Ein Transport von Sinti und Roma, darunter Mitte August Im Rahmen der Verhaftungsaktion viele Jugendliche, kommt aus Auschwitz. Die SS „Gitter“/„Gewitter“, die dem Attentat auf Hitler verlegt 1.000 entkräftete Häftlinge des Außenla- folgt, bringt die Gestapo 742 frühere Mitglieder gers „Dora“ in das KZ Bergen-Belsen. von Parteien der Weimarer Republik in das Lager.

Mai Nach Erhebungen der SS sind 81 Prozent der 18. August Im Krematorium wird der Vorsitzende Häftlinge des Hauptlagers chronisch unterer- der KPD, Ernst Thälmann, erschossen. nährt, das heißt 18.990 von 21.500 Menschen. Jeder Zehnte leidet an offener Tuberkulose.

216 | 217 DIE SS DOKUMENTIERT DIE ZERSTÖRUNGEN NACH DEM LUFTANGRIFF VOM 24.8.1944. ERKENNUNGSDIENST DER SS, AUGUST 1944

20. August Mit einem Transport aus Paris kommen 6. Oktober Nach einer Selektion unter den ent- 169 alliierte Flieger, die über Frankreich abge- kräfteten jüdischen Häftlingen der Außenlager schossen wurden, in das Kleine Lager, wo sie bis der Braunkohle-Benzin AG in Rehmsdorf und Mag- Oktober bleiben. deburg schickt die SS 1.188 Juden zur Vernichtung nach Auschwitz. Bis Dezember folgen aus anderen 24. August Alliierte Bomber greifen die nahe am Außenlagern weitere Vernichtungstransporte, mit Stammlager befindlichen Rüstungsbetriebe und denen jüdische Männer, Frauen und Kinder sowie SS-Einrichtungen an und zerstören sie zu großen Sinti und Roma in den Tod geschickt werden. Teilen. Da die Häftlinge in der Nähe des Werkes bleiben müssen, gibt es 2.000 Verletzte und 388 9./10. Oktober Aus Gefängnissen der Wehrmacht Tote unter ihnen. werden die ersten verurteilten Soldaten zur Zwangsarbeit in das KZ Buchenwald verlegt. Die 28. August Ein Vernichtungstransport mit 74 jü- neue Häftlingsgruppe heißt „Zwischenhaft II“. dischen Frauen und Kindern verlässt das Außen- kommando Hugo-Schneider AG Leipzig in Richtung Ende Oktober Aus dem Außenlager „Dora“ und Auschwitz. seinen Kommandos wird das selbstständige Konzentrationslager Mittelbau. August/September Die SS-Verwaltung von Buchenwald übernimmt Außenlager des KZ Dezember Durch die Auflösung der Zwangsarbeits- Ravensbrück mit Tausenden von Frauen. lager in Tschenstochau (Częstochowa), Piotrków und des KZ Płaszów erhöht sich die Zahl der jüdi- 26. September Die SS schickt 200 jugendliche schen Häftlinge bis Jahresende auf 15.500. Sinti- und Roma zur Ermordung nach Auschwitz. Jahresende In Buchenwald und seinen Außenlagern Ende September/Anfang Oktober 1.953 dänische werden 63.048 Männer und 24.210 Frauen gefan- Polizeiangehörige werden nach Buchenwald ge- gen gehalten, mehr als ein Drittel von ihnen nicht bracht. 60 von ihnen sterben im Kleinen Lager. älter als 20 Jahre. 1944 starben 9.468 Häftlinge.

CHRONOLOGIE HÄFTLINGE DES KZ BUCHENWALD BERÄUMEN TRÜMMER NACH EINEM LUFTANGRIFF AUF WEIMAR. GÜNTHER BEYER, FEBRUAR 1945

1945

Januar Vor der heranrückenden Roten Armee löst Februar Buchenwald ist das größte unter den die SS die noch bestehenden Arbeits- und Kon- noch bestehenden Konzentrationslagern. Ende zentrationslager im besetzten Polen auf und treibt Februar befinden sich im Stammlager und seinen die Insassen auf mörderische Evakuierungsmär- 88 Außenlagern 112.000 Menschen, davon sche. Diejenigen, die in Buchenwald lebend an- 25.000 Frauen. Ein Drittel der inhaftierten Män- kommen, sind von Erschöpfung, Hunger und Kälte ner und Frauen sind Juden. Tausende werden in gezeichnet und oftmals todkrank. In den meist Außenlager weitergeschickt. Die Zahl der Ster- offenen Güterwaggons liegen Hunderte von Toten. benden, Kranken und Schwachen, die im Kleinen Lager zurückbleiben, steigt täglich. Mitte Januar Block 61 im Kleinen Lager, Teil des Häftlingskrankenbaus, wird auf Befehl der SS zum März/April Bis zuletzt hält die SS ihr Zwangs- Ort der Tötung entkräfteter Häftlinge durch Injek- arbeitssystem aufrecht. Erst bei unmittelbarer tionen. Bis Ende März 1945 ermordet die SS dort Frontnähe werden die Außenlager geräumt. Die SS mehrere Tausend Häftlinge. erschießt die Gehunfähigen und verübt Massaker in Leipzig-Thekla, Gardelegen und Ohrdruf.

218 | 219 5. April Die Weimarer Gestapo erschießt im Webicht 149 Insassen von Polizei- und Gerichts- gefängnissen der Stadt.

6. April Im Stammlager auf dem Ettersberg befinden sich 47.500 Häftlinge, davon 22.900 in den Baracken des Hauptlagers und 18.000 in den Pferdeställen des Kleinen Lagers. Lagerkomman- dant Pister befiehlt die Räumung des Lagers.

7. bis 10. April 28.000 Menschen aus dem Stamm- lager werden in Richtung der Konzentrationslager Dachau und Flossenbürg sowie zum Ghetto Theresienstadt per Bahn transportiert oder zu Fuß getrieben. Tausende kommen auf diesen Mär- schen um.

CHRONOLOGIE BEFREITE UNGARINNEN AUS DEM FRAUENAUSSENLAGER IN PENIG, 17.4.1945. SAMUEL GILBERT (U.S. ARMY SIGNAL CORPS)

1945 – nach der Befreiung

11. April Das 37. Panzerbataillon der 4. US-Panzer- 13. April Auf einer Versammlung deutscher und division erreicht das KZ Buchenwald. Nach der österreichischer Sozialdemokraten, an der auch Flucht der SS besetzen Häftlinge des Lagerwider- französische, polnische, belgische, tschechische, standes die Türme und übernehmen die Ordnung dänische und niederländische Sozialisten teil- und Verwaltung des Lagers. 21.000 Häftlinge nehmen, verliest Hermann L. Brill das „Manifest erleben ihre Befreiung und die Ankunft der US- der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Armee. Konzentrationslagers Buchenwald“. Es ist das bedeutendste programmatische Dokument, das Seit Jahresbeginn 1945 bis zum 11. April sind im nach der Befreiung im Lager entsteht, und enthält KZ Buchenwald 15.000 Menschen gestorben. Grundforderungen zum Aufbau eines freien, de- Hunderte gehen noch nach der Befreiung an den mokratischen Deutschlands. Folgen der Haft zugrunde. Über die Toten der Evakuierungsmärsche gibt es nur Schätzungen. 16. April Auf Befehl des amerikanischen Stadt- Sie liegen bei 12. bis 15.000 Opfern. kommandanten müssen 1.000 Weimarer Bürger das Lager besichtigen, in dem die Spuren des Massensterbens und der Gräuel noch für jeden sichtbar sind.

220 | 221 19. April Trauerfeier für die Toten des Lagers. Die Überlebenden geben sich ein Versprechen, das später als „Schwur von Buchenwald“ bekannt wird.

Ende April Täglich treffen Delegationen alliierter Politiker, Journalisten und Ermittler ein. Sie wollen sich vor Ort ein Bild des Lagers machen und be- richten.

Mai bis August Die Überlebenden verlassen in Gruppen das Lager. Vorübergehend ist Buchen- wald auch Sammelpunkt für „displaced persons“ aus anderen Lagern, die ihre Heimreise oder Aus- wanderung organisieren.

Juli/August Übergabe des Lagers an die sowjetische Militäradministration. Einrichtung des sogenannten Speziallagers Nr. 2.

CHRONOLOGIE

Aufsätze

218 | 223 Rassismus und Nationalsozialismus: Eine kurze Ideologiegeschichte Christian Geulen

Das System der nationalsozialistischen Konzen- Das lässt sich noch an heutigen Formen des trationslager im „Dritten Reich“ gehorchte einer Rassismus erkennen. Auch wenn seit der histo- rassistischen Logik. So unbestreitbar diese Aus- rischen Erfahrung der nationalsozialistischen sage ist, so wenig kann sie den Anspruch einer Vernichtungspolitik kaum jemand mehr die genügenden Erklärung erheben. Denn sie wirft „Ausmerzung“ eines Volkes offen zu propagieren unmittelbar zwei Fragen auf: Was genau ist eine wagt, erkennt man rassistisches Denken nicht rassistische Logik, was genau ist Rassismus? zuletzt an der impliziten oder expliziten Auffor- Und: In welchem Verhältnis steht die rassisti- derung, zu handeln, etwas gegen die vermeint- sche Logik im Nationalsozialismus zur langen liche Gefährdung des Eigenen durch das Fremde und übergreifenden Geschichte des Rassismus zu unternehmen, das angeblich „unnatürliche“ vor 1933 und nach 1945? Plausibel zu machen, Durcheinander von Menschen und Kulturen zu auf welche Weise der NS-Staat die Geschichte beseitigen und die Welt auf dem Wege dieser des Rassismus fortsetzte und ihr zugleich etwas Bekämpfung des Anderen zu verbessern. Das Neues hinzufügte, kann dazu beitragen, das unterscheidet den Rassismus von Vorurteilen Singuläre seiner Vernichtungspolitik zu verste- und Ungleichheitsannahmen, wie sie in den hen und zugleich die historische Herkunft ihrer Selbstverständigungsformen wohl jeder Parti- Begründungsformen zu erkennen, die ihrerseits kulargemeinschaft, von Nachbarschaften bis zu nach 1945 keineswegs ein Ende fanden.1 Nationalstaaten, auftreten und dabei Differenz, gerade in ihrer Betonung, prinzipiell anerkennen. Damit ist bereits eine erste wichtige Vorausset- Die simple Behauptung dieser Differenz: „wir zung der folgenden Überlegungen benannt: Der sind anders als die anderen“, kann schwerlich moderne Rassismus wird hier als eine Praxis bereits als Rassismus verstanden werden. Wo verstanden, die sich von anderen Formen der aber diese Differenz als Gefahr angesehen wird, gewalttätigen Ausgrenzung und Anfeindung die es zu beseitigen gilt, wo sie als unnatürlich nicht durch das Ausmaß oder die besondere gilt oder als Bedrohung des Eigenen, dort kann Form dieser Gewalt unterscheidet, sondern aus Vorurteilen und Annahmen über das Andere durch deren Begründung. In eben diesem Sinn rasch die Aufforderung und der Ruf werden, es ist der Rassismus eine Ideologie, basierend auf zum Wohle aller aus der Welt zu schaffen. angenommenen Regeln und Gesetzen der Natur, der Geschichte und des Daseins, an denen sich Diese Unterscheidung ist wichtig auch mit Blick das menschliche Handeln zu orientieren habe. auf die Geschichte des Rassismus vor 1933. Doch ist der Rassismus andererseits niemals nur Denn sie markiert den historischen Wandel Ideologie. Gegenüber der klassischen Funktion vormoderner Formen rassistisch begründeter moderner Ideologien, die bestehenden Verhält- Ausgrenzung und Unterdrückung hin zum moder- nisse zu legitimieren und zu festigen, knüpft der nen Rassismus als praxisorientierte Ideologie moderne Rassismus seine Begründung an eine einer Stärkung und Rettung des Eigenen durch erst noch zu schaffende Wirklichkeit, an eine Anfeindung des Fremden, wie sie zur unmittel- Welt, die vom rechten Weg, vom Ursprungsideal baren Vorgeschichte des Nationalsozialismus abgewichen ist, und geheilt, verbessert oder neu gehört. Denn auch wenn die frühneuzeitlichen entworfen werden muss. Eben das knüpft die Formen der Unterdrückung, Versklavung und rassistische Ideologie unmittelbar an die Praxis: langfristigen Vernichtung besonders außereu- Sie begründet keine angeblich natürlichen Zu- ropäischer Völker allemal Ausprägungen des stände, sondern verweist auf angeblich natürli- neuzeitlich-europäischen Rassismus waren und che Zustände, um deren praktische Herstellung entsprechend auch durch pseudowissenschaft- und damit rassistisches Handeln zu begründen. liche Theorien der Höher- und Minderwertigkeit Kurz: Der Rassismus „ruft immer erst noch zu der verschiedenen Völkerschaften begründet ganzer Arbeit auf“.2 wurden, war den Tätern und Akteuren dieser Zeit

224 | 225 die Vorstellung, jene fremden Völker könnten eine ser Dynamik von Kampf und Vermischung könne Gefahr für die europäische, „weiße“ Überlegen- nur diejenige Rasse längerfristig existieren, die heit darstellen, ebenso fremd wie die Idee, dass sich gegen ihre Vermischung mit anderen Rassen ihre Existenz etwas Unnatürliches und deshalb wehrt und ihre Lebensweise mit allen Mitteln zu Beseitigendes sei. Vielmehr überschlugen sich gegen Überfremdung verteidigt. In vier dicken die Gelehrten gerade des 18. Jahrhunderts darin, Bänden etablierte Gobineau damit ein Verständ- die eurozentrische Verteilung von Höher- und nis von Rasse nicht mehr als Ordnungsbegriff, Minderwertigkeit als eine gegebene, unverän- sondern als abstraktes Entwicklungsprinzip und derbare und anzuerkennende Weltordnung zu als Gesetz der kulturellen Reinhaltung. begründen. In diesem Bruch mit der älteren Tradition der Noch bis ins 19. Jahrhundert setzte sich dieser Rassensystematiken lag der entscheidende Anspruch in den vielen anthropologischen und Grund für den erstaunlichen Erfolg dieses, im ethnografischen Darstellungen der Weltvölker Einzelnen höchst wirren und widersprüchlichen und „Weltrassen“ fort. Doch mit der Herausbil- Buches in den folgenden Jahrzehnten. Denn dung des industriekapitalistischen Wirtschafts- Gobineau leistete für den Rassismus, was Charles systems, mit der Entstehung des nationalisti- Darwin nur wenig später für die Evolutionstheo- schen Konkurrenzdenkens, mit der allmählichen rie und was der Historismus schon längst für Wende vom neuzeitlichen Kolonialismus zum den Begriff der Geschichte geleistet hatte: die modernen Imperialismus, aber auch vor dem Überwindung jener spekulativen Annahmen einer Hintergrund des universalistischen Gedankens naturgeschichtlichen Entwicklungsmechanik, mit der einen Menschheit sowie im Horizont des denen die Aufklärung die Moderne eingeleitet, modernen Begriffs der Geschichte als einem lau- sie aber zwanghaft auf „Fortschritt“ festgelegt fenden Prozess des historischen Wandels, verlor hatte. An ihre Stelle trat nun die Einsicht, dass die Idee einer fixen „Weltrassenordnung“ an über Entwicklung, über die Zukunft und über die Selbstverständlichkeit und schließlich auch an Möglichkeit eines Fortschritts täglich entschie- Plausibilität. Das Eigene und das Fremde rückten den wird; sie also weder automatisch kommen, räumlich und zeitlich näher aneinander, es kam noch sich logisch aus dem Vergangenen her- vermehrt zu transkulturellen Lebensformen und leiten, sondern vom gegenwärtigen Handeln die geschichtliche Wandelbarkeit und histori- abhängen.4 sche Offenheit politischer, kultureller und sogar natürlicher Ordnungen rückte immer deutlicher Besonders der Darwinismus mit seinem Gesetz ins Bewusstsein. der täglich wirkenden natürlichen Selektion, in der Entwicklung und Fortschritt mit dem schlich- Eine der ersten Rassentheorien, die darauf ten „Überleben“ gleichgesetzt wurden, galt reagierte, war der Versuch über die Ungleichheit vielen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der Menschenrassen des französischen Diplo- als eine naturwissenschaftliche Grundlegung maten und Hobbyanthropologen Arthur Gobineau der populären Thesen Gobineaus über Rassen- von 1853.3 Er sah die Weltgeschichte nicht mehr kampf, Rassenmischung und Rassenreinhaltung. von den ewigen Rassenmerkmalen und den In dieser Theorieverknüpfung störte allerdings ewigen Rassenunterschieden bestimmt, sondern massiv der Umstand, dass Darwin, und in einem von ihrer ewigen Vermischung miteinander und gewissen Maße auch Gobineau, gerade indem von ihrem ewigen Kampf gegeneinander. In die- sie die Entwicklung der Arten und Rassen kausal

1 Als Überblick vgl. Georg M. Fredrickson, Rassismus. Ein historischer Abriss, Hamburg 2004; Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, 2. Aufl., München 2014. 2 In dieser Formulierung beschrieben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Funktionsweise des modernen rassistischen Antisemitismus, sie lässt sich aber ohne Weiteres auf den modernen Rassismus generell übertragen. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung [1947], Frankfurt am Main 1988, hier S. 181. 3 Joseph A. Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen [1853-55], 4 Bde., dt. v. L. Schemann, 5. Aufl., Stuttgart 1939-1940. 4 Vgl. hierzu übergreifend Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte: Verzeitlichung und Enthistorisierung in den Wissenschaften vom Leben im 18. und 19. Jahrhundert, München 1976; vgl. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten [1859], Stuttgart 1963. Schon früh auf die Verantwortungsethik im Darwinismus hingewiesen hat der amerikanische Philosoph John Dewey, The Influence of Darwinism on Philosophy [1909], in: ders., The Collected Works, Part II: The Middle Works 1899-1924, Bd. 4: 1907-1909, hg. v. J. A. Boydston, London 1977, S. 3-14.

AUFSÄTZE von den Effekten des alltäglichen Verhaltens einherginge, die sich noch Jahre später in der abhängig machten, vor allem die Zufälligkeit und physischen Erscheinung der mit einem anderen, Unberechenbarkeit dieser Entwicklung betont „gleichrassigen“ Mann gezeugten Nachkommen hatten. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die niederschlagen könnten.8 Vom Plantagensystem technischen Erfolge der Naturwissenschaften der amerikanischen Südstaaten bis zu den ras- den Historismus als bürgerliche Leitidee zurück- sischen Reinhaltungsgeboten des Nationalsozia- drängten, ihn durch Rationalisierungsansprüche lismus wurde dieses „Faktum“ den weißen bzw. verdrängten und die Idee einer technischen „arischen“ Frauen immer wieder als Warnung Naturbeherrschung wieder in den Vordergrund vor der „Rassenschande“ vermittelt. Daran zeigt rückte, gab man sich auch im rassentheoreti- sich, dass die Wiedereinführung eines noch heu- schen Denken mit solchen Zufälligkeiten nicht te oft als fortschrittlich geltenden, auf „Umwelt- mehr zufrieden.5 einflüsse“ statt auf reine „Vererbung“ setzenden Evolutionsmodells gerade in seiner impliziten Rasch wurden sie von der Suche nach solchen Verantwortungsethik durchaus eine Radikalisie- Mechanismen und Gesetzen ergänzt und über- rung rassistischen Denkens und Handelns zur formt, die dem Zufall des alltäglichen Kampfes Folge haben kann.9 um Reproduktionschancen doch wieder eine bestimmbare Richtung und Form geben könnten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls Neben Themen der Rassenmischung und des kam es zu einer immer engeren Verknüpfung la- Rassenkampfes trat nun die Idee einer im Prinzip marckistischer Vorstellungen von der Vererbung technischen Rassenerzeugung unter bewusster erworbener Eigenschaften, Gobineauscher Ideen Nutzung der bislang bekannten Entwicklungs- von den Folgen der Rassenmischung, Darwin- gesetze. So erfuhr etwa jene ältere, noch im 18. scher Konzepte des Rassenkampfes bzw. der Jahrhundert entwickelte Idee des französischen Selektion sowie immer populärerer Phantasmen Biologen Jean Baptiste Lamarck, dass auch im einer künstlichen Rassenherstellung. Dabei darf Laufe des individuellen Lebens erworbene Eigen- man sich diesen Diskurs keineswegs nur als eine schaften sich an die nächste Generation verer- rassenbiologische Debatte unter Spezialisten ben könnten, eine ungeahnte Renaissance.6 Die- vorstellen. Vielmehr lebte er insbesondere in ser auch noch bei Darwin als Ergänzung seiner Deutschland nicht zuletzt von der gleichzeitigen Selektionsthese mitgedachte Mechanismus bot Entstehung der Populärwissenschaft als einem die Möglichkeit, der Evolution auf eben der glei- eigenen literarischen Genre und mit einer sich chen individuell-alltäglichen Ebene eine gewisse rasant entwickelnden Publikationsindustrie. Richtung zu geben, auf der streng darwinistisch Entsprechend kursierten vereinfachte und von nur das zukunftsblinde trial-and-error-Spiel von der Naturwissenschaft im engeren Sinne längst Mutation, Reproduktion und Selektion stattfand. abgekoppelte Versionen aller rassebiologischen Thesen und Theorien innerhalb kürzester Zeit in Obgleich von dem deutschen Biologen August sozialwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen, Weismann durch den experimentellen Nachweis pädagogischen und kunsttheoretischen Texten der strikten Trennung von Keim- und Körper- der Zeit ebenso wie im Schrifttum der Reform- zellen schon in den 1880er Jahren widerlegt, bewegungen oder in den Organen des völkischen entfaltete der Lamarckismus gerade in der Nationalismus und Antisemitismus.10 massiven Kritik an Weismanns Arbeiten eine neue Popularität, die vom ausgehenden 19. Auch einzelne Naturwissenschaftler wie Rudolf Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Virchow oder Ernst Haeckel sahen ihre Aufgabe anhielt.7 Denn noch viel mehr als die Thesen zunehmend darin, die Gesetze, Prinzipien und Gobineaus oder Darwins belegte der Lamarckis- Theorien der Naturwissenschaft in ihrer prinzi- mus die Verantwortung des Einzelnen für die piellen Geltung auch für Gesellschaft, Kultur und Entwicklung der Rasse als Ganzes. Zu seinen Politik deutlich zu machen.11 Am erfolgreichsten prominenten ideologischen Stilblüten gehörte waren dabei durchweg solche Werke, die zwi- etwa der rassistische Mythos der Telegonie schen diesen Wirklichkeitsbereichen überhaupt (Fernzeugung), der besagte, dass der sexu- keinen Unterschied mehr machten und Natur, elle Kontakt von Frauen zu „fremdrassigen“ Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst Männern mit dem „Erwerb“ von Eigenschaften und Politik unter den Prämissen sämtlicher

226 | 227 verfügbarer evolutionstheoretischer Logiken überhaupt noch in Völker, Rassen und Kulturen und Thesen als den angeblich immer gleichen aufzuteilen. Stattdessen betrachtete man sie Rassengesetzen unterworfen darstellten. Zu jetzt in ihrem gewissermaßen flüssigen, biopo- ihnen gehörte etwa, an wichtiger Stelle und bis litischen Aggregatzustand: als lebende, biolo- ins „Dritte Reich“ hinein einflussreich, Houston gisch sich reproduzierende Bevölkerungen. In Stewart Chamberlains Buch über die Grundlagen diesem Denken gab es endgültig keine gegebene, des 19. Jahrhunderts.12 feststehende Hierarchie zwischen den Rassen mehr. Eine solche war vielmehr vollständig zu Ab 1900 verdichtete sich dieser Diskurs aber einem durch politisches Handeln erst zu errei- schon wieder zu einer ganz neuen wissenschaft- chenden Ziel geworden, während als sicher und lichen Disziplin, die in England bereits 1883 von wissenschaftlich vorgegeben allein die Mittel Francis Galton unter dem Namen „Eugenik“ galten, dieses Ziel zu erreichen: kontrollierte konzipiert worden war, in Deutschland aber Reproduktion der Bevölkerung und die Stärkung bevorzugt „Rassenhygiene“ genannt wurde.13 In des erwünschten Eigenen durch Beseitigung des ihr kam das jüngste der rassentheoretischen unerwünschten Anderen. Konzepte zur vollen Entfaltung: die Idee einer kontrollierten Rassenerzeugung. Die Grundidee Vor diesem Hintergrund wird zumindest ein dieser neuen, bis in die 1930er Jahre internati- kleines Stück die Tatsache erklärbar, warum im onal populären und kaum umstrittenen neuen ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ausgerech- Wissenschaft war so simpel wie menschen- net die deutschen Juden, eine im 19. Jahrhun- verachtend: Die biologische Reproduktion der dert überall in Deutschland so sichtbare wie Träger gewünschter Merkmale einer gegebenen überwiegend auch national integrierte Partiku- Bevölkerung sollte gefördert, die Reproduktion largemeinschaft, immer mehr zum Objekt einer der Träger unerwünschter Merkmale sollte ver- zunehmend aggressiven rassistischen Anfein- hindert werden. In diesem Konzept kulminierten dung wurden. Das Judentum markierte, aktuell die bis dahin immer noch primär beschreibenden wie historisch, die Existenzmöglichkeit einer Rassentheorien zu einer konkreten politischen nationalen Binnenpartikularität (heute würde Handlungsanweisung, die zugleich die biopoliti- man sagen: einer gesellschaftlich-kulturellen sche Kernlogik des modernen Rassismus auf den Vielfalt innerhalb der staatlichen Einheit). Eben Punkt brachte: Dass nämlich die Bekämpfung das aber widersprach fundamental der rassen- und Beseitigung des Anderen, Unerwünschten theoretischen Annahme, dass nur Homogenität zugleich die Stärkung des Eigenen, Erwünschten und „Reinheit“ das Überleben von Gemein- bedeutet. Die formale Aufteilung der Eugenik in schaften sichere. Entsprechend betonte gerade eine „positive“, fördernde und eine „negative“, der radikale Antisemitismus dieser Zeit immer ausschaltende Variante unterstrich dabei nur wieder, dass die Juden trotz ihrer vermeintlichen ihren fundamentalen Zusammenhang. Er wur- Assimilation eigentlich sogar die erfolgreichsten de vor allem dort plausibel gemacht, wo man Bewahrer von „Rassenreinheit“ seien, was eine zunehmend darauf verzichtete, die Menschheit umso größere Anstrengung und Rücksichtslosig-

5 Ausführlicher hierzu Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004. 6 Zu Lamarck vgl. Pietro Corsi, Jean Gayon, Gabriel Gohau (Hg.), Lamarck, philosophe de la nature, Paris 2006. 7 Vgl. August Weismann, Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung, Jena 1892; ders., Über Rückschritte in der Natur, Freiburg 1886. 8 Zur Telegonie vgl. Franz K. Stanzel, Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination, Wien 2008. 9 Heute kehrt der Lamarckismus in Gestalt der Epigenetik wieder, die aufgrund neuerer Forschungen davon ausgeht, dass Umwelt und Erfahrung auf dem indirekten Wege der Beeinflussung der Biochemie des molekulargenetischen Reproduktionsprozesses doch ein wichtiger Faktor in dieser Reproduktion und damit der Evolution seien. Angesichts der hier umrissenen ideologiegeschichtlichen Zusammenhänge erscheint es aber höchst problematisch, darin vorschnell den neuen Königsweg einer gemeinsamen Natur- und Kulturforschung zu sehen. Vgl. etwa Peter Spork, Der zweite Code. Epigenetik oder wie wir unser Erbgut steuern können, Reinbek 2011. 10 Ausführlicher hierzu Geulen, Wahlverwandte. 11 Vgl. etwa Rudolf Virchow, Glaubensbekenntniss eines modernen Naturforschers, Berlin 1873; Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie [1899], Neuausg. hg. v. H. Schmidt, Leipzig 1926. 12 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts [1899], Volksausgabe, 2 Bde., 4. Aufl., München 1906. 13 Zur Geschichte der Eugenik vgl. Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt 1998.

AUFSÄTZE keit im Kampf gegen sie erfordere.14 Auch aus serung durch gezielte Bevölkerungsmanipulation dem Nährboden dieser rassentheoretischen in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern „Ideologik“ speisten sich die bekannten antise- am Beginn des 20. Jahrhunderts ein fester mitischen Verrats- und Verschwörungstheorien Bestandteil der gesundheits-, bevölkerungs- und der Epoche, wie sie etwa in der Judenzählung kulturpolitischen Überlegungen und Diskussio- von 1916 oder im Geraune um die Protokolle der nen. Nicht zuletzt die Kosten, die Fürsorge und Weisen von Zion zum Ausdruck kamen.15 Betreuung von Bevölkerungsteilen verursachten, die eigentlich unerwünscht oder, wie es die Na- Auch wenn die Eugenik in der Weimarer Zeit alles tionalsozialisten dann ausdrückten, „lebensun- andere als einen Mainstream in der deutschen wert“ seien, waren in den ökonomischen Krisen- Wissenschaftslandschaft darstellte, war sie lagen der Zwischenkriegszeit ein zunehmend populär und einflussreich genug, um in der Zwi- populäres Argument.17 schenkriegszeit sogar jüdische Wissenschaftler dazu zu bringen, ihrerseits und in Abwehr gegen Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, dass den Antisemitismus eine eigene Rassenbiologie sehr viele Aspekte der rassenpolitischen Praxis in Stellung zu bringen, was noch kurz vor der in den nationalsozialistischen Lagern seit 1933 Machtübernahme Hitlers zu rückblickend seltsa- sich wie eine radikale Verwirklichung von Ideen men Dialogen und Diskussionen zwischen einer und Forderungen lesen lassen, die schon in den jüdischen und einer antijüdischen Rassentheorie vorangegangenen Jahrzehnten in denkbar expli- führte.16 Nach 1933 allerdings war es mit solchen ziter Weise formuliert worden waren. Und eben Versuchen der wissenschaftlichen Diskussion das ist zum historischen Begreifen dessen, was schlagartig und endgültig vorbei. in den Lagern passierte, auch wichtig zu beto- nen. Doch erschöpfte sich der nationalsozialis- Neben der besonderen Rolle, die das Judentum tische Rassismus darin, mit einer Rassenpolitik im eugenischen Rassismus des frühen 20. Jahr- schlicht bitteren Ernst gemacht zu haben, die bis hunderts spielte, zeichnete sich dieser auch dahin nur von manchen gefordert worden war? dadurch aus, dass er den Fokus von der Rassen- Oder erfuhr der Rassismus mit der Machtergrei- beschreibung, von Rassentypen und globaler fung von 1933 auch noch eine weitere, struktu- Rassenverteilung auf die praktisch-instrumen- rell neue Entwicklungsstufe? telle Frage verschob, wie sich eine Rasse erhal- ten, verbessern oder gar neu erzeugen lasse. Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, Ausgehend von der Bevölkerung als der Rasse daran zu erinnern, wie wenig sich das Nazi- im Rohzustand und Ansatzpunkt jeder Rassen- Regime um die wissenschaftlichen wie auch politik gerieten jetzt auch Gruppen in den Blick, populärwissenschaftlichen Theorien, Positionen die sich kaum als Rassen im engeren Sinne und Ansätze der Rassentheorie vor 1933 scher- beschreiben ließen: die geistig und körperlich te. Von Hitlers Mein Kampf über Rosenbergs Behinderten, die sozial Schwachen, die chro- Mythus des 20. Jahrhunderts bis zu Streichers nisch Kranken, die Homosexuellen, die Sträflinge Stürmer bedienten sich die Chef-Ideologen des und „geborenen“ Verbrecher oder die in anderer Reichs völlig willkürlich mal bei den Völkischen, Weise gesellschaftlich Marginalisierten. Eine der mal bei den Eugenikern und Bevölkerungstheo- ersten, international diskutierten und teilweise retikern, mal bei Chamberlain, Gobineau oder auch umgesetzten Maßnahmen einer solchen Darwin, mal bei den Antisemiten der Jahrhun- eugenischen Bevölkerungspolitik war etwa die dertwende, mal bei den Volkskulturtheorien der Zwangssterilisierung geistig Behinderter oder Romantik und oft auch bei den spontan entwor- als gefährlich eingestufter Straftäter. Flankiert fenen Theorien aus den eigenen Reihen. So gal- werden sollten diese „negativen“ Maßnahmen ten etwa die 1935 verabschiedeten Nürnberger durch „positive“ Projekte einer exklusiven Züch- Rassegesetze bei „echten“ Eugenikern im In- und tung rassisch hochwertiger Bevölkerungsteile Ausland (im Inland allerdings nur hinter vorge- in abgeschirmten Anstalten und durchaus unter haltener Hand) wissenschaftlich als ein Rückfall Missachtung der bürgerlichen Sexualnormen. hinter gleich mehrere Jahrzehnte moderner Auch wenn die Umsetzung solcher Maßnahmen Rassenforschung.18 und Projekte bis 1933 die Ausnahme blieb, war das eugenische Paradigma einer Rassenverbes-

228 | 229 Der Nationalsozialismus ließ also nicht das schaftlichkeit beanspruchende, aber immer geringste Bemühen erkennen, seine Rassenpo- schon auf praktische Weltgestaltung angelegte litik in den legitimierenden Horizont der damals Ideologie von sich aus dazu tendiert, aus Formen aktuellen Rassentheorie zu stellen – wurde aber der Begründung „rassischer Ordnungen“ Anwei- zugleich nicht müde zu behaupten, dass jede sungen ihrer praktischen Herstellung zu ma- seiner politischen Maßnahmen nur der Vollzug chen. Derzeit werden in Deutschland und Europa einer naturgesetzlichen Notwendigkeit sei. Und rassistische Annahmen und rassentheoretische genau darin lag das Neue. Das Regime verzich- Begründungen (auch wenn sie sich nicht mehr tete auf jede wissenschaftliche Legitimation so nennen) unverkennbar wieder salon- und seiner Politik, löste jeden Begründungszusam- politikfähig. Umso wichtiger erscheint es, ihnen menhang, der bis dahin noch zwischen Rassen- schon auf der ersten Ebene kritisch zu begegnen theorie und rassenpolitischer Praxis bestanden und nicht darauf zu warten, bis die Sorge vor hatte, auf, und schaffte es, einen unmittelbaren „Überfremdung“ in fremdenfeindliches Handeln Nexus, ja: eine Identität zwischen der eigenen umschlägt. Praxis und den angenommenen Naturgesetzen von Rassenentwicklung herzustellen. Jede Maßnahme galt ihm unmittelbar als ein Akt im Christian Geulen Rassenkampf. Dessen Vollzug – und nicht seine Professor für Neuere und Neueste Geschichte und deren Didaktik an der Universität Koblenz-Landau Ursache, seine Folgen und schon gar nicht seine theoretische Beschreibung – war das Entschei- dende und einzig Legitime. Eben das ist zu Recht die „Selbstermächtigung der Gewalt“ genannt worden, in deren Rahmen allein das aktive Mit- machen im Kampf und Terror gegen die Volks- fremden die Zugehörigkeit zur eigenen Volksge- meinschaft noch garantierte.19 Hannah Arendt nannte den gleichen Zusammenhang einmal eine Prozesslogik der vollständigen „Emanzipation des Handelns von jeglicher Erfahrung“ und sah darin ein Kernelement des Totalitären: Unter Ausschaltung von Erfahrung oder Begründung wird der Terror zur einzigen Form des Handelns, das dem angenommenen Naturgesetz vom Ras- senkampf Substanz und Geltung verleiht – durch schlichten Vollzug: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“20

Zu einer solchen Zuspitzung des Rassismus auf den Terror als Naturgesetz war es bis dahin und ist es seitdem nicht mehr gekommen. Die Ent- wicklungsgeschichte rassistischen Denkens vom 19. Jahrhundert bis in die frühen 1930er Jahre hinein aber zeigt, dass diese moderne, Wissen-

14 So argumentierte etwa Theodor Fritsch in seinem antisemitischen Handbuch zur Judenfrage, Berlin 1907. 15 Vgl. übergreifend hierzu Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000; Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus, Hamburg 2001. 16 Vgl. hierzu Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über ‚Rasse‘ und Vererbung 1900-1935, Göttingen 2008. 17 Vgl. Kühl, Internationale der Rassisten. 18 Hierzu ausführlicher Christian Geulen, Ideology’s Logic: The Evolution of Racial Thought in from the Volkish Movement to the Third Reich, in: Mark Roseman u.a. (Hg.), Beyond the Racial State. Rethinking , Cambridge 2016. 19 Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939, Hamburg 2007. 20 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1955], München 1993, S. 732.

AUFSÄTZE Völkisches und antidemokratisches Denken vor 1933 Tim B. Müller

„Der Wendepunkt ist da“, stellte die Frankfurter Antidemokraten rechnete kaum jemand. Im Zeitung, das führende liberal-demokratische Gegenteil, gerade die Reihe von Niederlagen, die Blatt der Weimarer Republik, in ihrem großen, die völkischen und antidemokratischen Kreise zweiseitigen Leitartikel zu Neujahr 1933 fest. immer wieder hinnehmen mussten, trug zur ihrer Der „Umschwung“ war „tiefgreifend und vor Radikalisierung in der Weimarer Republik bei.2 allem: er erstreckt sich auf alle dafür wesentli- Diese Deutung mutet nur auf den ersten Blick chen Gebiete“ – Wirtschaft, Innenpolitik, Außen- paradox an. Eine genauere Betrachtung der Welt politik, die „geistige Gesamtlage“. Überall waren der Antidemokraten vor 1933 lässt verstehen, deutliche Zeichen der „Entspannung“ zu erken- wie unwahrscheinlich ihr Erfolg damals vielen nen. Am wichtigsten war, dass „der gewaltige erschien. Zwar wurzelte der Nationalsozialis- nationalsozialistische Angriff auf den demo- mus ideologisch und kulturell in der „Unterwelt kratischen Staat“ nicht nur „abgeschlagen“, des politischen Extremismus, in exzentrischen sondern durch einen „mächtigen Gegenangriff“ politischen Mini-Sekten“.3 Aber eine direkte der Regierung beantwortet worden war, was zur Linie zwischen diesen radikal-nationalistischen, „Entzauberung der NSDAP“ geführt hatte. Gera- rassistischen und antisemitischen politischen de die Strategie des neuen Reichskanzlers Kurt Milieus und der Errichtung der nationalsozialis- von Schleicher hatte demnach dazu beigetragen, tischen Herrschaft lässt sich nicht so einfach „den Nationalsozialisten die Serie von Mißerfol- ziehen.4 gen und Verlusten beizubringen, die erstmals in großem Stil bei den Reichstagswahlen vom 6. Die Erwartungshorizonte der Zeitgenossen, ihre November (wo die NSDAP zwei Millionen Stim- Debatten und die Formen, in denen politische men verlor) festzustellen waren“. Für die klugen Konflikte in der Weimarer Republik ausgetragen Köpfe der „Frankfurter Zeitung“ war erwie- wurden, legen nahe, dass – ungeachtet ihrer sen, „daß nichts falscher ist, als den Geist der Fragilität – die Demokratie das Wahrscheinliche freiheitlichen Demokratie in Deutschland totzu- war, während ihre Zerstörung unwahrscheinlich sagen“. Zwar hatten die Parteien im Jahr 1932 erschien, selbst noch zu Beginn der 1930er Jah- gelitten, „aber die Demokratie hat nicht weiter re.5 Die junge Republik hatte, wie andere Demo- gelitten; sie hat während des letzten halben Jah- kratien in Europa auch, etliche Krisen gemeistert res geradezu einen Triumph erlebt“.1 und stand in den Augen vieler Menschen, ob gewollt oder nicht, als alternativlos da. 1928 Diese Perspektive erscheint heute, im Rückblick, hatten selbst intellektuelle Gegner ihren Frieden ungewohnt, sogar unbegreiflich. Stand nicht mit der Demokratie gemacht. Der Geschäftsfüh- der große Sieg der Nationalsozialisten, ihre rer des Deutschnationalen Handlungsgehilfen- Machtübernahme am 30. Januar 1933 direkt Verbandes, einer mit der Deutschnationalen bevor? Die Erwartungen vieler Zeitgenossen Volkspartei (DNVP) verbundenen rechten An- unmittelbar zuvor sahen jedoch anders aus: Ein gestelltengewerkschaft, verlangte von seiner weiteres Mal hatte die Demokratie erfolgreich Partei, sich nicht nur taktisch, sondern aus ihre Feinde abgewehrt, und auch der wirtschaft- Überzeugung der Demokratie zu öffnen und einen liche Aufschwung hatte bereits eingesetzt. Die republikanischen Konservatismus auszubilden. geschichtswissenschaftliche Forschung fragt Die DNVP hatte sich an Regierungen beteiligt danach, was diese Gegenwartserfahrungen und den noch sehr weiten Weg zur konservativ- und Zukunftserwartungen an der Jahreswende demokratischen Volkspartei eingeschlagen. 1932/33 für unser Verständnis des Untergangs Allerdings formierten sich gegen diese „stille der Demokratie bedeuten. Demokratisierung“ auch starke rechtsradikale Gegenkräfte in der Partei.6 Ein Punkt, auf den die internationale Wissen- schaft hinweist, wird auch im Zitat aus der Zwei Jahre später, nach dem Ausbruch der Welt- Frankfurter Zeitung deutlich: Mit dem Sieg der wirtschaftskrise, die alle zuvor dagewesenen

230 | 231 Krisen in den Schatten stellte, änderte sich alles. de. Dass schließlich Hitler im Januar 1933 zum Doch das Ende der Demokratie war kein Un- Reichskanzler ernannt wurde, war alles andere fall, sondern das Resultat von Entscheidungen. als zwangsläufig; es war das Ergebnis einer Konkurse und Unternehmenspleiten, Massen- Verkettung von politischen Fehlkalkulationen arbeitslosigkeit, Verelendung und Hunger be- und Intrigen in Elitenkreisen. Aber das Datum herrschten die Gesellschaft. Zwar erschütterte markierte einen Bruch in der politischen Ent- die wirtschaftliche Katastrophe die Demokratie wicklung. Die neue „Normalität“, die das natio- schwer. Auch verschärfte die „Austeritätspoli- nalsozialistische Regime seit Anfang 1933 durch tik“ der Regierung Heinrich Brünings mit ihrem Gewalt und Gewaltandrohung erzeugte und in strikten Sparkurs die Krise zwischen 1930 und der sich bald alles um Krieg und Rassismus dre- 1932. Aber zum Untergang der Demokratie von hen sollte, hatte kaum etwas mit der Normalität Weimar führte beides wohl nicht.7 Die Zuspitzung der Demokratie zu tun.8 der Krise ermöglichte es ab dem Sommer 1932 Vertretern der alten Eliten um Reichskanzler Massenpartizipation, öffentliche Inszenierungen Franz von Papen, einige Wirtschaftsführer und und Legitimation durch Akklamation waren für letztlich den Reichspräsidenten Paul von Hinden- den Nationalsozialismus aber schon in der Spät- burg, einen Umbau der parlamentarisch-demo- phase der Weimarer Republik Mittel der Politik. kratischen Republik zum autoritären Präsidial- Hitler saß der Demokratie, um eine Formulierung regime einzuleiten. Zu dieser Strategie gehörte, von Hans Mommsen abzuwandeln, wie ein „Pa- das erst wenige Monate zuvor ergangene Verbot rasit“ im Nacken.9 Er und seine Partei verstan- der SA aufzuheben, was einen Wirbel der Gewalt den besser als die seit 1930 Regierenden, wie entfesselte. Der „Preußenschlag“ vom 20. Juli in der Demokratie Politik gemacht wurde, wie 1932, mit dem die sozialdemokratische Minder- man Stimmungen aufnahm und Probleme für sich heitsregierung Preußens abgesetzt wurde, und ausbeutete: Mit der Demokratie besiegte er die Einschränkungen der Pressefreiheit schalteten Demokratie. Es gab nicht nur ein von Zeitgenos- wichtige demokratische Institutionen aus. Aber sen wahrgenommenes Demokratiedefizit, das eine Machtübernahme der Nationalsozialisten mit der Krisenbewältigungspolitik verbunden war in diesem antidemokratischen Plan nicht war. Zugleich präsentierte sich der Todfeind der vorgesehen – und Stimmen der Zeit wie das Zitat Demokratie, so durchschaubar seine Tarnung aus der Frankfurter Zeitung zeigen, dass man war, selbst als der bessere Demokrat. Denn die Demokratie für so stark hielt, dass sie diese Hitler versprach nicht nur bessere Lebensbedin- autoritären Machenschaften überleben wür- gungen, sondern auch soziale Anerkennung und

1 Ein Jahr deutscher Politik, in: Frankfurter Zeitung, 1.1.1933, S. 1 f. 2 Vgl. Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931, München 2015, S. 633-642. 3 Richard J. Evans, Das Dritte Reich, Bd. 1: Aufstieg, München 2004, S. 86. 4 Die politische Zäsur von 1933 betonen in der jüngsten Forschung etwa Geoff Eley, as Fascism. Violence, Ideology, and the Ground of Consent in Germany 1930-1945, London 2013; Richard J. Evans, The Third Reich in History and Memory, London 2015, S. 87-117. 5 Vgl. etwa Moritz Föllmer u. Rüdiger Graf (Hg.), Die Krise der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt 2005; Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008; Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005; ders. (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1918-1933, München 2007; Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2012; Tim B. Müller u. Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015; Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997. 6 Vgl. Michael Dreyer, Weimar als „wehrhafte Demokratie“ – ein unterschätztes Vorbild, in: Michael Schultheiß/Sebastian Lasch (Hg.), Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 161-189; Barry A. Jackisch, The Pan-German League and Radical Nationalist Politics in Interwar Germany, 1918-39, Farnham 2012, S. 154; Mergel, Kultur, S. 323-331 spricht von „stiller Republikanisierung“. 7 Brünings Deflationspolitik wird seit Jahrzehnten in der Forschung kontrovers diskutiert; vgl. einführend Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2008, S. 109-114, 128 f. 8 Vgl. neben der klassischen Darstellung von Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 2. Nachdr. d. 5. Aufl., Düsseldorf 1984, etwa Hermann Beck, The Fateful Alliance. German Conservatives and Nazis in 1933. The Machtergreifung in a New Light, New York 2008; Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Göttingen 2006; Dreyer, Weimar; Evans, Coercion; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 259-301, 305-324; Gotthart Jasper, Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung Hitlers 1930-1934, Frankfurt 1986. 9 Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, S. 13, 18; vgl. ders., Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, Stuttgart 1999, S. 136-174, 201-213; ders., Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010, S.67-84, zu den Wahlerfolgen der NSDAP etwa Jürgen Falter, Hitlers Wähler, München 1991; Oded Heilbronner, Catholicism, Political Culture, and the Countryside. A Social History of the Nazi Party in South Germany, Ann Arbor 1998.

AUFSÄTZE politische Teilhabe – als pervertierte Erfüllung beherrschten, antiegalitären Politik und der einer demokratischen Verheißung. Er musste Ablehnung der Demokratie einig wussten. sich, um Massen zu mobilisieren, auf die Demo- kratie einlassen, ihre Sprache sprechen. Der Neubestimmungen des Volksbegriffs, die Nationalsozialismus ist auch als die Simulation zwischen einer sprachlichen und kulturellen eines demokratischen Aufbruchs zu verstehen. Einheit einerseits und der politischen Nation andererseits oszillierten, und seine Komposita Das zeigt sich auch am Begriff der „Volksge- wie „Volksgemeinschaft“ und „Volksgenosse“ meinschaft“, der heute nahezu ausschließlich tauchten bereits um 1800 auf und spiegelten von mit dem Nationalsozialismus in Verbindung Anfang an die „schleichende Herausforderung gebracht wird. Mit den großen Wahlerfolgen zur Demokratisierung“ semantisch wider.12 Seit der NSDAP seit 1930 wurde in ihrer Propaganda dem späten 19. Jahrhundert artikulierte sich das die Parole der Volksgemeinschaft prominent. Verlangen nach Demokratie beinahe ubiquitär.13 Damit vermittelte die Partei eine parasitär-de- Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg wurde mokratische Botschaft, eine Vision von Zukunft in der deutschen politischen Sprache „Volk“ und Optimismus, von persönlichen Chancen und zum „Allgemeinbegriff, an dem alle politischen gesellschaftlichem Zusammenhalt. Denn „Volks- Lager partizipieren mussten“. Dessen „explosive gemeinschaft“ war ein Begriff, der auch eine Verwendung“ verwies auf einen „unumkehrba- bürgerlich-liberale und eine sozialdemokratische ren Trend zur ‚Demokratisierung‘, und zwar quer Vorgeschichte hatte, ein Wort von damals brei- durch die Regierungsformen“.14 Anfangs kaum ter Attraktivität. Gemeinschaftsbegriffe konnten mehr als eine Fußnote zu dieser Geschichte der und können liberal, sozialistisch oder totalitär politischen Sprache war die Wortneuschöpfung sein. In den 1920er Jahren waren sie Teil der „völkisch“, die um die Jahrhundertwende bereits demokratischen Diskussion. Alle Schichten und in manchen rechten Kreisen das als französisch Gruppen sollten ihren Platz in der Demokratie geltende Fremdwort „national“ ersetzt hatte. finden. Etwas Offenes und Optimistisches hafte- Dass sich diese sprachlichen Unterscheidungen te dem Versprechen der „Volksgemeinschaft“ an. auch im völkischen Milieu niemals völlig durch- Noch in der späten Republik, als Hitler und die halten ließen, lässt bereits der Name der Natio- Nationalsozialisten bereits den demokratischen nalsozialisten erkennen, die im Übrigen das Wort Volksgemeinschaftsgedanken umdeuteten und „völkisch“ zahlreich benutzten. Letztlich diente rassistisch aufluden, war es möglich, den Begriff das Adjektiv „völkisch“ vornehmlich der Selbst- zu verstehen, ohne an Ausgrenzung und Gewalt bezeichnung eines „entschieden antisemitischen zu denken.10 Siegmund Warburg etwa, der links- Nationalismus“.15 liberale jüdische Hamburger Bankier, konnte sich noch zum Jahreswechsel 1932/33 vorstellen, Wann betraten diese Völkischen die politische als demokratischer Wirtschaftsreformer in die Bühne? Eine emblematische Szene, in der sich Politik zu gehen. „Volksgemeinschaft“ war für die politische Konstellation am Anfang der ihn gleichbedeutend mit einer Ordnung demokra- Weimarer Republik, die ins Kaiserreich führen- tischer Partizipation. Oder Otto Wels, einer der den Genealogien und die künftige Radikalisie- Parteivorsitzenden der SPD: Er stellte in seiner rung abbilden, spielte sich am 25. Juli 1919 ab. heroischen Reichstagsrede am 23. März 1933 die Zwei Tage zuvor hatte der sozialdemokratische demokratische, „wirkliche Volksgemeinschaft“ Reichskanzler Gustav Bauer sein Regierungs- gegen die diktatorische Aufhebung der Grund- programm vorgestellt, das einen ambitionierten rechte durch ein nationalsozialistisches Ermäch- Demokratiebegriff in den Mittelpunkt stellte. tigungsgesetz.11 Darüber, was Demokratie war und sein sollte, herrschte bereits breiter Konsens, ungeach- Dieses Ringen um die „Volksgemeinschaft“ ist tet exzentrischer Umdeutungen des Begriffs ein Beispiel dafür, dass mit der Demokratie der durch Außenseiter, zu denen damals auch noch Volksbegriff so zentral für die politische Debatte Hitler gehörte, der von einer „germanischen geworden war, dass ihn auch die Gegner einer Demokratie“ sprach, wo er später das Prinzip demokratischen Entwicklung aufnahmen. Das der „unbedingten Führerautorität“ vertrat.16 galt sogar für die „Völkischen“ in ihren diver- Demokratie war die Realität geworden, die alle sen Schattierungen, die sich in einer von Eliten Politik organisierte.17 „Das deutsche Volk lechzt

232 | 233 nach Demokratie“, hieß es nur wenig später auf erreicht, aber auch die sozialen Grundlagen einem Parteitag der linksliberalen Deutschen der Gleichberechtigung sollten garantiert sein. Demokratischen Partei.18 Reichskanzler Bauer Besonderen Wert legte die Regierung Bauer auf zweifelte nicht an der Dauerhaftigkeit der neuen die Gleichberechtigung der Frauen als Staats- Regierungs- und Lebensform Demokratie: „Wir bürgerinnen. Kurz darauf begründete Bauers nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, Innenminister Eduard David im Parlament seine wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbar- bekannte Aussage: „Nirgends in der Welt ist keit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit die Demokratie konsequenter durchgeführt als zwischen den Volksgenossen, sondern auch die in der neuen deutschen Verfassung“ mit dem Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen Hinweis auf das Wahlrecht, auf die Möglich- den Völkern, den Völkerbund erschaffen muss.“19 keit zu Volksentscheiden und darauf, „daß die Die Vorstellung einer europäischen Konvergenz Frauen in Deutschland die volle staatsbürger- der Demokratie klingt in diesen Worten ebenso liche Gleichberechtigung errungen haben“. Er an wie eine optimistische Erwartung für die Zu- stellte fest: „Die deutsche Republik ist fortan kunft. Was die internationale Perspektive betraf, die demokratischste Demokratie der Welt.“21 sprach Bauer vom Verzicht der Staaten „auf Die Aussprache über dieses Programm vom 23. einen Teil ihrer Souveränität“ als dem „höchsten Juli 1919 und über die Erklärungen der Minister Ziel“ der Außenpolitik in einer künftig durch den erstreckte sich über mehrere Tage; am 25. Juli Völkerbund vereinten Völkergemeinschaft. De- stellte Finanzminister Matthias Erzberger seine mokratie entfaltete sich in vier Dimensionen, die Vorhaben vor. Der Zentrumspolitiker und christli- eine beeindruckende Bandbreite des zeitgenös- che Demokrat Erzberger galt als die Zentralfigur sischen Demokratieverständnisses bezeugten: des Kabinetts. Seine Unterschrift unter dem erstens Demokratie als Volkssouveränität und Waffenstillstandsabkommen 1918 hatte ihn un- Selbstherrschaft der Bürger; zweitens Demokra- ter radikalen Nationalisten besonders verhasst tie als Kultur, Alltag und Lebensweise; drittens gemacht. Mit seiner großen Steuerreform, die Demokratie als Institutionenordnung und Staats- eine nationale Einkommenssteuer einführte und verwaltung, als Gefüge des guten Regierens; und dem demokratischen Staat die finanzielle Grund- viertens die soziale, wirtschaftspolitisch aktive lage verschaffen sollte, machte er sich große Demokratie.20 Die politische Gleichberechti- Teile des Bürgertums zum Feind. Schon Anfang gung war mit der nun konstituierten Demokratie 1920 wurde er Opfer eines Attentatsversuchs,

10 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900-1938, Köln 2013, S. 227-253, mit Hinweisen auf die Forschungsdiskussion; zu Gemein- schaftsbegriffen vgl. Michael Freeden, Liberal Languages. Ideological Imaginations and Twentieth Century Progressive Thought, Princeton 2005, S. 38-59; Klaus Lichtblau, „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000), S. 423-443. 11 Vgl. Niall Ferguson, High Financier. The Lives and Time of Siegmund Warburg, London 2011, S. 49 f., 64-82; Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, Bd. 457, 2. Sitzung, 23.3.1933, Berlin 1934, S. 33. 12 Reinhart Koselleck u.a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 2004, Bd. 7, S. 141-431, hier S. 382. 13 Vgl. Adam Tooze, Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen, in: Müller u. Tooze (Hg.), Normalität, S. 37-69. 14 Koselleck, Volk, S. 390; zum Volksbegriff der frühen Weimarer Republik vgl. auch Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer National- versammlung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt 2007. 15 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 9 f., 27; vgl. ders., Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918, München 1996; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. 16 , Mein Kampf. Eine Abrechnung von Adolf Hitler, Bd. 1, München 1925, S. 364; vgl. Hermann Hammer, Die deutschen Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1956), S. 161-178, hier S. 171; Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922-1945, München 2006; der spätere SS-Vordenker Reinhard Höhn vertrat noch 1929 die Idee „wahrer germanischer Demokratie“; vgl. Michael Stolleis, Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt 1994, S. 111 f. 17 Vgl. etwa Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; ders. (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008; Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013; Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007. 18 Hardtwig, Volksgemeinschaft, S. 247. 19 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte (im Folgenden: Verhandlungen), Bd. 328, 64. Sitzung, 23.7.1919, Berlin 1920, S. 1852. 20 Vgl. ebd., S. 1843-1852. 21 Verhandlungen, Bd. 329, 71. Sitzung, 31.7.1919, Berlin 1920, S. 2194.

AUFSÄTZE am 26. August 1921 wurde er von rechtsextre- durch seinen Verweis auf Lagarde, einen der men Terroristen ermordet.22 Unmittelbar bevor Urväter und wichtigsten Stichwortgeber des Erzberger seine Rede hielt, entgegnete am 25. völkischen Denkens.24 Damit legte Graefe ein Juli 1919 der deutschnationale Abgeordnete und Bekenntnis zur völkischen Ideologie ab, wenn DNVP-Mitbegründer Albrecht von Graefe(-Gol- auch in seiner nationalistischen Reichstagsrede debee) auf die Regierungserklärung. Spott über sein radikaler Antisemitismus weniger deutlich Bauers „Illusionspolitik“ und scharfe Angriffe wurde als in anderen Äußerungen. Sozial gehörte gegen Erzberger durchzogen seine Rede. Auch Graefe zur Führungsschicht des Kaiserreichs, die die „Dolchstoß-Legende“ vertrat er bereits, wo- von Massengesellschaft, Sozialismus und Demo- nach der Krieg nicht „im Felde“ verloren worden kratie ihre privilegierte Stellung bedroht sah. Die sei, sondern durch die Revolution zu Hause. Die Kriegsniederlage hatte die Anhänger völkischen demokratische Regierung und die neue Verfas- Denkens radikalisiert. Der allen spektakulären sung waren Graefe zufolge „das größte Unheil Gewalttaten zum Trotz aussichtslos anmutende für unser deutsches Volk“. Das Werk Bismarcks Kampf gegen die 1918/19 etablierte Demokratie würde dadurch zerstört. Einerseits bediente verschärfte ihren Extremismus. Im Zentrum ihrer Graefe sich der neuen massenpartizipatorischen zum Teil widersprüchlichen und verworrenen Sprache: Das „Volk“ stand dabei im Mittelpunkt politischen Überzeugungen und Obsessionen, die seiner Argumentation; die Abschaffung der Mo- Anlass zu vielerlei Rivalitäten und Spaltungen narchie bedeutete „Vergewaltigung der Mehr- gaben, standen Sprache, Rasse und Religion. heit durch eine Minderheit – eigentlich ein recht Die Religion, ob in Gestalt eines entjudaisierten undemokratisches Vorgehen“. Was die Regierung „Deutschchristentums“, einer „Deutschgläu- betreibe, sei kein Ausdruck „ehrlicher Demokra- bigkeit“ oder neopaganer Germanenkulte, war tie“. Mit elitärer, gar nicht so auf die neue Zeit demnach „‚der archimedische Punkt‘ der völki- abgestimmter Überheblichkeit warf Graefe der schen Weltanschauung. Sie lieferte nicht nur die Regierung andererseits vor, noch nicht reif zu Rechtfertigung der apokalyptischen völkischen sein für Regierungsverantwortung und erst eine Erlösungslehre von der göttlichen Abstammung „Lehrzeit“ absolvieren zu müssen. Eine Aufzäh- und Bestimmung der Deutschen. Sie gab den lung der mit wenig Sozialprestige und Bildung Völkischen überhaupt erst die Begründung für verbundenen Berufe der Regierungsmitglieder ihr antiegalitäres, rassistisches Denkgebäu- folgte, aus der unverhohlener Standesdünkel de.“25 Ihr Eintreten für die „Reinheit“ der deut- sprach. Graefe behauptete, die Bevölkerung schen Sprache nahm in der Vorliebe für neue sehnte sich „zurück nach dem alten Regime“, Wortschöpfungen skurrile Züge an. Ihr Rassis- und machte sich zum Sprecher der Besitzenden mus beschränkte sich nicht auf einen rabiaten und Gebildeten: „Ordnungskraft“ und „Ordnungs- Antisemitismus, sondern entwarf Visionen eines sinn“ fehlten der Regierung; Graefe bestand auf rassisch reinen deutschen oder „arischen“ Men- einem Recht auf „Selbstverteidigung“ gegen schen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg schufen Bolschewisten; er verurteilte die Steuerpläne die Völkischen die Ideologeme ihrer rassisti- als „Vermögenskonfiskationen“ und erklärte zur schen Weltanschauung sowie ein reichsweites „heiligen Pflicht, diese Regierung zu bekämpfen“. Netzwerk von Organisationen, die sich bestens Seine Rede schloss er mit einem Zitat von Paul auf eine ebenso aggressive wie zielgerichte- de Lagarde.23 te Agitation verstanden. So bereiteten sie den ideologischen Nährboden, die institutionellen Was wie die politische Sprache eines Deutsch- Voraussetzungen und das propagandistische nationalen zu klingen scheint, dessen Traditionen Instrumentarium für die nationalsozialistische von Revolution und Demokratiegründung er- Bewegung und ihre Ideologie.26 Ob von sozialer schüttert waren, enthielt wesentliche Elemente Deklassierung bedroht oder nicht, die Mitglie- völkischen Denkens. Graefe war eine bedeutende der der esoterischen Zirkel und Organisationen, Figur im Zwischenreich von parlamentarischer die Abonnenten der völkischen Periodika und Politik und völkischem „Untergrund“. Er gehörte Teilnehmer an ihren Veranstaltungen lassen sich zu den führenden Mitgliedern des Alldeutschen weitgehend den wilhelminischen Eliten, insbe- Verbandes (ADV) und bildete mit anderen eine sondere dem Bildungsbürgertum zuordnen. In der „Völkische Arbeitsgemeinschaft“ in der DNVP. Weimarer Republik ist eine Ausbreitung von Anti- Offenkundig wurde seine politische Position semitismus und völkischem Denken und schließ-

234 | 235 lich eine Hinwendung zum Nationalsozialismus und der Wehrverein, die sehr breit aufgestellt besonders unter den Studenten zu beobachten. und eher locker organisiert waren und sich der Ihre Berufsaussichten verschlechterten sich Aufrüstung verschrieben hatten, die Deutsche rapide, bis sie mit der Wirtschaftskrise völlig Vaterlandspartei im Ersten Weltkrieg und vor wegbrachen. Das war das Rekrutierungsfeld für allem der Alldeutsche Verband.29 Letzterer gilt die spätere „Weltanschauungselite“ der SS, die in der Forschung heute wie schon unter den jedoch in ihrem Selbstverständnis einen härte- Zeitgenossen damals als Scharnier zwischen ren, „sachlicheren“ Rassismus ausbildete.27 Aber dem bürgerlichen Radikalnationalismus und dem nicht immer waren die Zusammenhänge so ein- völkischen Rassismus. Der Alldeutsche Verband deutig. Die Virulenz des völkischen Denkens, von richtete sich gegen die Demokratie und gegen dem der Nationalsozialismus seine Symbole und eine als Bedrohung verstandene Moderne und einige Elemente seiner Sprache übernahm, kann war doch selbst ein Produkt moderner Politik: Er ideologische Genealogien aufhellen, aber nicht war auf die Bedingungen einer modernen Mas- den Nationalsozialismus als Massenpartei und senkommunikationsgesellschaft angewiesen, Herrschaftsform erklären. Das würde allzu sehr und er verstand ihre Möglichkeiten geschickt zu auf eine „geistesgeschichtliche“ Engführung der nutzen. Insofern zählte er zu jenen Kräften, die Argumentation hinauslaufen.28 man der „dunklen“ Seite der Moderne zurechnen kann.30 Schon die frühe Analyse von Eckart Kehr Historisch viel relevanter als die völkischen sprach 1928 von einer „Art politisch-ideologi- Esoteriker wurden Netzwerke, gesellschaftliche scher Holding-Company“31, eine neuere Untersu- Kreise und Organisationen, das eigene Lager chung nennt den ADV eine „Koordinationsinstanz übergreifende Konstellationen, in denen sich völ- des gesamten rechten Spektrums.“32 Der ADV kisches Denken in politisch relevantere radikal- umfasste nie mehr als einige tausend, in seiner nationalistische Diskurse einspeiste. Bürgerliche Hochphase 1923/24 etwa 38.000 Mitglieder. Leidenschaften für die Größe des Vaterlands, Seine antisemitische und gewaltbereite Mas- bürgerliche Ressentiments gegen Sozialisten senorganisation „Deutschvölkischer Schutz- und andere „Reichsfeinde“ und bürgerliches und Trutzbund“, die 1919 gegründet und bereits Statusbewusstsein trafen dort auf radikalere 1922 wieder verboten war, mobilisierte beinahe Kräfte und Ideen, vereint im Engagement für 200.000 Mitglieder. Die Mörder Erzbergers und Deutschland. Hervorzuheben sind der Flotten- Walther Rathenaus unterhielten Verbindungen zu

22 Vgl. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt 1976. 23 Verhandlungen, Bd. 328, 66. Sitzung, 25.7.1919, Berlin 1920, S. 1912-1925. 24 Differenziert zu Lagarde, der dennoch einer der wichtigsten Referenzpunkte völkischen Denkens bleibt, vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. 25 Puschner, Bewegung, S. 17; von den klassischen Deutungen vgl. etwa George L. Mosse, Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des National- sozialismus, Königstein 1979. Ein anderes Feld, das im vorliegenden Beitrag nicht untersucht wird, ist der intellektuelle Rechtsradikalismus, der mitunter unter den Begriff der „Konservativen Revolution“ gefasst wird; vgl. dazu die Forschungen in der Nachfolge von Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962; zuletzt etwa Volker Weiß, Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn 2012. 26 Puschner, Bewegung, S. 25. 27 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996, S. 42-68; Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800-1970, Frankfurt 1984, S. 117-122; Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918-1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg 1975; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 72-142. 28 Geistesgeschichtliche Kontinuitäten des „gebildeten“ deutschen Rassismus untersucht Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charaktero- logisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940, Berlin 2013. 29 Vgl. etwa Roger Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League, 1886-1914, Boston 1984; Geoff Eley, Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, Ann Arbor 1991; Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997; Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003; Jackisch, League; Johannes Leicht, Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012; Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007. 30 Hering, Nation, S. 496 f.; vgl. etwa Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn 1999; klassische Forschungsbeiträge zu diesem Problemkomplex sind Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992; Detlev J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007. 31 Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1970, S. 144. 32 Hagenlücke, Vaterlandspartei, S. 402.

AUFSÄTZE dieser Organisation, aus der auch spätere Ganz anders bei den Völkischen, und der Na- NSDAP-Mitglieder kamen.33 Die „alldeutsche tionalsozialismus radikalisierte das völkische Nation“, die die Alldeutschen als politisches Ziel Denken über das Volk noch in zwei entscheiden- anstrebten, sollte von allen inneren Feinden – den begrifflichen Operationen: Zunächst mono- Juden, Sozialdemokraten, Katholiken, Polen und polisierte er das Nationale, führte es gegen den anderen kulturellen und nationalen Minderheiten Staat von Weimar und stellte das Volk auch über – gesäubert sein. Sie verfolgte Annexionspläne in den neuen, „polykratischen“, in vieler Hinsicht Europa und Kolonialvisionen in der Welt, räumte ungeregelten Staat. Doch was der Nationalsozia- einer Elite politischen Vorrang ein und wurde lismus als „Neuaufbau auf volklicher Grundlage“ von einem autoritären Führer gelenkt, der immer verkündete, hatte mit früheren Volksbegriffen mehr die Züge des ursprünglich als Realpolitiker nur wenig zu tun. „Obwohl in der Alltagsspra- verachteten Bismarck annahm. Die Massen- che der nationalsozialistischen Propaganda demokratie und das gleiche Wahlrecht wurden ‚Volk‘ seinen Vorrang behauptete, [...] war dieser abgelehnt, auch die Gleichstellung von Frauen.34 Begriff längst ausgehöhlt.“ Denn er hatte nicht nur jede staatsrechtliche Bedeutung verloren, Die Alldeutschen stellten eine Verbindung zwi- sondern – und das war die zweite Umdeutung – schen völkischem Denken und Bürgertum her. auch „seine ideologische, haltungs- und hand- Auch aus diesem Grund wurden in der bürgerli- lungsleitende Funktion abgetreten an den Begriff chen Gesellschaft rassistische, antisemitische ‚Rasse‘“. Wenn Nationalsozialisten an die „Volks- Ideen und Gewaltbereitschaft hoffähig. Aber gemeinschaft“ appellierten, war das ideologi- das heißt nicht, dass der traditionelle Konserva- sche Subjekt „Rasse“ gemeint.39 Der Gegensatz tismus von der völkischen Bewegung kontrolliert von Rasse und Staat, der keiner traditionellen wurde. Es blieben zahlreiche Spannungen, die Begrenzung und Rationalität mehr zugänglich sich bis zur Machtübernahme der Nationalso- war, und die Dynamik einer „kumulativen Radika- zialisten in offenen Konflikten entluden. Macht- lisierung“ verschärften und beschleunigten nicht fragen und Interessengegensätze lagen diesen nur die rassistische Vernichtungspolitik. Sie Konflikten oft zugrunde. Ideologisch aber lassen setzten einen Prozess in Gang, der letztlich auf sie sich im Kern auf den Gegensatz von Staat die „Zerstörung der Politik“ und auf die Selbst- und Volk zurückführen. Schon Lagarde hatte zerstörung des NS-Regimes hinauslief.40 gegenüber seinem rassistisch-antisemitisch definierten, durch eine „nationale Religion“ Die nationalsozialistische Fixierung auf den auch spirituell homogenen Volk den Staat als Begriff „Rasse“ und seine Radikalisierung macht bloßes „Supplement“ in den Hintergrund treten jedoch nicht nur eine Konstante des völkischen lassen.35 Für die Alldeutschen hatte das Volk als Denkens sichtbar.41 Unter dem Stichwort „Eu- exklusive und rassisch homogene Gemeinschaft genik“ vermengten sich Themenfelder, die in stets Vorrang vor dem Staat, der als „völki- die Mitte der Gesellschaft führten: Sie betrafen scher Staat“ neu geschaffen werden sollte.36 völkisch-rassistische, konventionelle sozialpo- Im Gegensatz dazu galt die Loyalität des tra- litische und „sozialhygienische“ Aspekte. Von ditionellen Konservatismus dem Staat. Dieser sozialpolitischen Maßnahmen zur Förderung Logik war nach 1918 der „gouvernementale“ der Volksgesundheit bis zu Zwangssterilisierun- Flügel der Deutschnationalen verpflichtet, der gen medizinisch selektierter „Minderwertiger“, sich gemeinsam mit konservativen Demokraten der Tötung Behinderter und der Aufzucht einer gegen die völkische Fundamentalopposition in neuen Superrasse reichte die Bandbreite dieser den eigenen Reihen stellte und zur Mitarbeit im Erörterungen. Vertreten waren dabei anfangs Weimarer Staat bereitfand.37 In der demokrati- eine Vielzahl politisch unterschiedlichster schen Diskussion fielen Volk und Staat zusam- Stimmen. Die moderne Medizin und ihre enorme men, „Volksstaat“ bezeichnete zumeist eine Bedeutung in der Gesellschaft, die Ausweitung deutsche Variante des Wortes Demokratie. Der der sozialen Hygiene auf alle Lebenszusammen- Volksbegriff war im demokratischen Kontext hänge und der Ausbau der Sozialarbeit und offen und inklusiv angelegt und transportierte Fürsorge schufen ein Handlungsfeld mit fließen- neben kulturellen Aspekten immer auch politi- den Übergängen: Medizinisch oder ökonomisch sche Selbstbestimmung.38 begründete Entscheidungen, scheinbar wohl- wollende, aber paternalistisch-bevormundende

236 | 237 Maßnahmen und rassistische, auf Ausgrenzung konservativen und bürgerlichen Eliten ankam. Sie und Vernichtung hinauslaufende Aktionen lagen stellten die Entscheidungsträger, als eine Regie- nahe beieinander. Das war nicht nur ein deut- rungsbeteiligung der NSDAP zunehmend denkbar sches Phänomen. In den Vereinigten Staaten, wurde. in Schweden oder Großbritannien fanden sich Parallelen, und auch internationale Kooperati- Aber im Rückblick richtete das völkische Denken onen auf diesem Gebiet kamen zustande. Erst den auf Dauer größten Schaden wahrscheinlich die Entwicklung in Deutschland führte zu einem bereits früher an. Die ideologische Unnachgie- grundsätzlichen Umdenken auf diesem Gebiet. bigkeit völkischer Radikalnationalisten und ihre Nachdem die tödlichen Konsequenzen eugeni- grundsätzliche Ablehnung des politischen und schen Denkens sichtbar geworden waren, verlor gesellschaftlichen Systems der Demokratie es weltweit seine wissenschaftliche und soziale verhinderten die Bildung einer konservativen Akzeptanz.42 Sammlungspartei. Möglicherweise hätte eine solche Partei aller Rechten auf Dauer auch All diese Entwicklungen blieben nicht ohne Aus- monarchistische und andere antidemokratische wirkungen auf die Grundlagen der bürgerlichen Kräfte in die Demokratie einbinden können, wie Gesellschaft, auf ihre Werte und Normen, ihre dies in anderen Ländern damals gelang. Doch die Vorstellungen und Verhaltensweisen. Die Paro- Radikalen störten und unterbrachen immer wie- len des Nationalsozialismus überraschten und der den ohnehin schwierigen, zögerlichen und erschreckten kaum mehr. Seine Worte und Sym- langsamen Prozess der Demokratisierung der bole waren durch die völkischen Bewegungen Rechten. Die Ansätze, die es dazu in der DNVP bereits vertraut geworden. Selbst wo völkisches gab, scheiterten wiederholt am unerbittlichen Denken und alldeutsche Politik nicht auf Zustim- Widerstand alldeutscher und anderer völki- mung stießen, fand eine Desensibilisierung ge- scher Akteure. Die andauernde Uneinigkeit und genüber Antisemitismus, Rassismus und Gewalt die vielen Spaltungen im rechtskonservativen statt. Die Aushöhlung der moralischen Funda- Spektrum begünstigten den Aufstieg des Natio- mente wurde politisch entscheidend, als es nach nalsozialismus.43 dem plötzlichen Aufstieg des Nationalsozialis- mus zur Massenbewegung und der Schwächung An diesem Punkt ist auf Albrecht von Graefe zu- des Parlaments nach 1930 wieder auf die alten rückzukommen. Obwohl der Antisemitismus als

33 Vgl. Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919-1923, Hamburg 1970; Jackisch, League, S. 3. 34 Vgl. Hering, Nation. 35 Koselleck, Volk, S. 374. 36 Vgl. Hering, Nation, S. 349-379. 37 Vgl. etwa Jackisch, League, S. 89-100; Larry Eugene Jones (Hg.), The German Right in the . Studies in the History of German Conservatism, Nationalism, and Antisemitism, New York 2014; Thomas Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechts- radikalen Partei 1928-1932, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 323-368; Stefanie Middendorf, Finanzpolitische Fundamente der Demokratie? Haushalts- ordnung. Ministerialbürokratie und Staatsdenken in der Weimarer Republik, in: Müller u. Tooze (Hg.), Normalität, S. 315-343; Philipp Nielsen, Verantwortung und Kompromiss. Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie, in: Müller u. Tooze (Hg.), Normalität, S. 294-314. 38 Vgl. etwa Koselleck, Volk; Llanque, Denken. 39 Koselleck, Volk, S. 398, 402, 411 f., 413; zur Diskussion um die Institutionenkonkurrenz in der nationalsozialistischen „Polykratie“ vgl. zuletzt Sven Reichardt u. Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt 2011; zur Diskussion um die allgegenwärtige, aber analytisch nur schwer zu fassende Funktion des Volksgemeinschaftsbegriffs im nationalsozialistischen Deutschland vgl. Martina Steber u. Bernhard Gotto (Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014; Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 433-468. 40 Mommsen, Geschichte, S. 117. 41 Vgl. Puschner, Bewegung, S. 49-201. 42 Vgl. etwa Evans, Third Reich, S. 59-84; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997; Jeremy Noakes, Nazism and Eugenics. The Background to the Nazi Sterilization Law of 14 July 1933, in: R. J. Bullen, H. Pogge von Strandmann u. A. Polonsky (Hg.), Ideas into Politics. Aspects of European History 1880-1950, London 1984, S. 75-94; Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; ders., Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986; Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890-1945, Göttingen 1987; Paul Weindling, Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge 1993; zur Kontinuität eugenischer Konzepte im deutschen Strafvollzug die ersten Kapitel von Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006; zur internationalen Dimension und der Ablehnung eugenischen Denkens nach 1945 Mazower, Kontinent, S. 117-156. 43 Vgl. Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – Die Deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001, S. 370-376; Eley, German Right; Jakisch, League; Larry Eugene Jones, The Limits of Collaboration. Edgar Jung, Herbert von Bose, and the Origins of the Conservative Resistance to Hitler, 1933-34, in: ders. u. James Retallack (Hg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence 1993, S. 465-501.

AUFSÄTZE ein „kultureller Code“44 der Verständigung unter terten Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch 1920 den zerstrittenen Deutschnationalen diente, ging über den Hitler-Putsch 1923 und die Farce eines Graefe und seinen Gesinnungsgenossen der tra- angeblichen „Claß-Putsches“ 192648 bis zur ditionelle Antisemitismus weiter Teile der Partei aufsehenerregenden, aber spektakulär erfolglo- nicht weit genug. Sie wollten eine rassistische sen Agitation gegen den Young-Plan 1929 reihte und radikal antisemitische Politik durchsetzen. sich eine Niederlage an die andere. Der Wei- Ende 1922 verließen sie die Partei und gründeten marer „Republikschutz“ griff härter durch als die Deutschvölkische Freiheitspartei (DVFP). Sie später kolportiert wurde, der „Deutschvölkische erzielte vor allem in Mecklenburg einige kleinere Schutz- und Trutzbund“ hatte es zu spüren be- Erfolge und wurde als norddeutsches Pendant kommen. Die Republik war eine wehrhafte Demo- zur NSDAP in Bayern betrachtet. 1924 kam es zur kratie. Nach der Überwindung der bürgerkriegs- formellen Zusammenarbeit der beiden Parteien. artigen Situation der ersten Jahre hatte auch die Am Ende ging die DVFP in der NSDAP auf. Die Ga- Gewalt in der politischen Auseinandersetzung lionsfigur beider rechtsextremer Splitterparteien weitgehend abgenommen. Und noch 1932 über- war in dieser Zeit der Weltkriegsgeneral Erich traf das republiktreue Reichsbanner Schwarz- Ludendorff, dessen unheilvolle Rolle in der deut- Rot-Gold, dem Sozialdemokraten, christliche schen Geschichte ein eigenes Thema wäre.45 Der Demokraten der Zentrumspartei und Linkslibe- Extremismus dieser offen völkisch-rassistischen rale angehörten, an Mitgliedern bei weitem die Parteien ging jedoch selbst den Alldeutschen zu SA, den kommunistischen Rotfrontkämpferbund weit, vor allem, weil sie deren politische Chan- und den deutschnationalen Stahlhelm zusam- cen für gering hielten. Damit richteten sich ihre mengenommen.49 In diese historische Relation Blicke wieder auf die DNVP, mit katastrophalen muss jede Betrachtung des völkischen Denkens Folgen. Spätestens nach dem Scheitern des ihren Gegenstand rücken. Weil nach 1933 so Hitler-Putschs 1923 lenkten der ADV und sein viel geschah, was an die Sprache und Ideen der Vorsitzender Heinrich Claß ihre Energien darauf, Völkischen erinnerte, wird ihre Bedeutung vor die DNVP, die sich gerade der Republik annä- 1933 leicht überschätzt. Radikalisierung, takti- herte, zu unterwandern und auf diesem Wege sche Anpassungen und Strategiewechsel waren ihre völkischen politischen Visionen zu verwirk- die Folge von Rückschlägen. Der Nationalsozia- lichen. Ein Erfolg ihrer Strategie war, dass 1928 lismus als eklektische Ideologie bediente sich bei mit Alfred Hugenberg ein weit rechts stehender den Völkischen. Aber er brachte eine völlig neue und schließlich zur Zusammenarbeit mit Hitler Qualität in die Politik. Er blieb nicht im völkischen bereiter Alldeutscher zum Parteiführer gewählt Sumpf stecken, sondern versuchte nach 1928 für wurde. Moderate Konservative verließen rei- breite Schichten der Gesellschaft attraktiv zu henweise die DNVP, aber auch die Alldeutschen werden, zu einer Art Volkspartei zu werden. Um verloren in diesen Jahren einen Großteil ihrer Hitler und der NSDAP schließlich die Gelegenheit Mitglieder.46 zu eröffnen, ihr Projekt einer neuen, „rassisch reinen“ und auf Exklusion angelegten „Volksge- Der politische Bedeutungsverlust des völkischen meinschaft“ zum Regierungsprogramm zu ma- Denkens war überall erkennbar, aber gleichzeitig chen, bedurfte es aber gewaltiger ökonomischer, konnte dessen alldeutsche bürgerliche Variante politischer und sozialer Schockwellen. Andern- die DNVP erobern. Dieser Widerspruch verdeut- falls wären die Nationalsozialisten wahrschein- licht die Tragik der deutschen Geschichte vor lich wieder im historischen Nichts versunken, 1933. Die Serie der politischen Niederlagen, die und die völkische Bewegung mit ihnen. das radikalnationalistisch-rassistische völki- sche politische Milieu hatte hinnehmen müssen, Das war die Erwartung kluger zeitgenössischer war auch in Zahlen ablesbar. Die DVFP hatte Beobachter. Zu ihnen gehörte der Soziologe sich nicht durchsetzen können, und die NSDAP Sigmund Neumann, der 1933 ins Exil gehen errang bei den Reichstagswahlen 1928 ganze musste. Im Jahr zuvor legte er seine Studie Die 2,6 Prozent der Stimmen. Ludendorff, der Held deutschen Parteien vor, die so gedankenreich des Ersten Weltkriegs, der mittlerweile einer und analytisch präzise ist, dass sie bis heute völkisch-esoterischen Ideologie anhing, hatte die Forschung zum Kaiserreich, zur Weimarer bei den Wahlen zum Reichspräsidenten 1925 lä- Republik und zum Nationalsozialismus inspiriert. cherliche 1,1 Prozent eingefahren.47 Vom geschei- Die NSDAP erfasste er als „Protestbewegung“,

238 | 239 die lager- und schichtenübergreifend gewählt wurde, soziologisch vor allem eine „Partei des Mittelstandes“, aber in ihrer Dynamik eine „Fort- setzung der Jugendbewegung“ war. Den Aufstieg des Nationalsozialismus seit 1930 beschrieb Neumann als „Schatten oder Ausdruck der seit 2 Jahren ansteigenden Krise“. Politik war für den Nationalsozialismus die „Rationalisierung des Irrationalen“. Die jugendliche Gefolgschaft, auch die vielen Studenten, trieb die „Liebe zum Unbe- dingten“ zur Hingabe an den Führer, sie wollten radikale Taten. Mit seiner 1930 abgegebenen „Legalitätserklärung gewann aber der National- sozialismus breite bürgerliche Schichten, die im Grunde nur eine radikale deutschnationale Par- tei wollten“. Doch das Bürgertum unterschätz- te die „echt revolutionären Elemente“ in der Hitler-Bewegung. Im Hinblick auf das Kommende erkannte Neumann, dass „die taktische Wen- dung der Nationalsozialisten, die Staatsmacht auch auf dem Koalitionswege zu erobern, in Zu- kunft von großer Bedeutung werden kann“. Aber er legte auch die inneren Spannungen im Nati- onalsozialismus dar. Für die Hitler-Partei tickte die Uhr. Eine Massenprotestbewegung, zu der die rechtsextreme Splitterpartei geworden war, ließ sich nicht auf Dauer mobilisieren. „Gewiß ist: der Nationalsozialismus muß zum baldigen Erfolg kommen oder in seiner politischen Bedeu- tung einbüßen. Mit Massen kann man schwerlich eine Revolution in Permanenz machen.“50 Bei den Novemberwahlen 1932 büßte die Partei, wie auch die Frankfurter Zeitung zum Jahreswechsel 1932/33 betont hatte, erstmals seit 1930 wieder in großem Umfang Stimmen ein. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt.

Tim B. Müller Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung

44 Zum Begriff vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000. 45 Vgl. Jakisch, League, S. 54-67; Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2011. 46 Vgl. Jakisch, League, S. 101-158. 47 Vgl. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 465. 48 Vgl. dazu Jakisch, S. 138-146. 49 Vgl. etwa Dreyer, Weimar; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2009; Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Benjamin Ziemann, Germany after the First World War – A Violent Society? Results and Implications of Recent Research on Weimar Germany, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 80-95; ders., Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918-1933, Bonn 2014; diese Beiträge zeigen ebenso wie Blasius, Ende, dass die Gewalt erst in der Schlussphase der Republik wieder entfesselt wurde. 50 Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932, S. 73 ff., 78, 82, 85 f. und S. 88.

AUFSÄTZE Nationalsozialistische Herrschaftssicherung und Verfolgungspraxis 1933 bis 1937 Johannes Tuchel

Die Übernahme der politischen Macht in SA, 30 Prozent SS und 20 Prozent Stahlhelm) Deutschland und die damit verbundene Etab- erreichte die Legalisierung der Gewalt eine lierung der Diktatur in Deutschland wäre dem neue Stufe. Massiv wurde der Wahlkampf der Nationalsozialismus allein auf legalem und demokratischen Parteien und der Kommunisten parlamentarischem Weg nicht möglich gewesen. behindert. Gewalt und Terror gehörten seit Gründung der NSDAP fest zur nationalsozialistischen Ideologie Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Die und Strategie. Sie waren grundlegende Bestand- Nationalsozialisten besaßen damit den willkom- teile der nationalsozialistischen Machtetablie- menen Anlass zu einer umfassenden gewaltsa- rung und wurden zum Eckpfeiler der Herrschaft. men Verfolgung des politischen Gegners. Am 28. Später ermöglichte die im Inneren gesicherte Februar 1933 erließ Reichspräsident Paul von Macht die Aggression nach außen. Daher sollen Hindenburg die vorher im Reichsinnenministeri- im Folgenden kurz die Etablierung der Diktatur um ausgearbeitete „Verordnung zum Schutz von und die Entwicklung der Konzentrationslager in Volk und Staat“, die den Nationalsozialisten in den ersten Jahren des NS-Regimes dargestellt den folgenden Jahren als pseudolegale Verfol- werden.1 gungsgrundlage diente. Sie war eine umfas- sende Möglichkeit zur Unterdrückung politisch Andersdenkender und sollte dies bis zum Ende I. Nach der „Machtergreifung“ des nationalsozialistischen Systems auch bleiben.2 Die Grundrechte der Weimarer Verfas- Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident sung waren außer Kraft gesetzt. Wurden zuerst Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichs- nur Kommunisten mit Hilfe dieser Verordnung kanzler, Franz von Papen wurde Vizekanzler. In inhaftiert, folgten Gewerkschafter, Sozialdemo- den ersten Tagen nach dieser „Machtergreifung“ kraten, Sozialisten, parteilose Intellektuelle und kam es – von regionalen Ausnahmen abgese- alle, die sich der nationalsozialistischen „Gleich- hen – noch nicht zu der großen „Säuberung“, die schaltung“ widersetzten. Zu ihnen gehörten SA und Partei erhofften. Die Gewalt musste nun auch sogenannte „Asoziale“ oder „Berufsver- nicht mehr zur Propaganda und zur Einschüchte- brecher“ ebenso wie die aus rassistisch-ideolo- rung dienen, sondern die übernommene Herr- gischen Gründen verfolgten Juden und Sinti und schaft möglichst schnell absichern. Dabei durfte Roma. der äußere Eindruck der offenen Gewalt nicht in Konflikt mit der von der NS-Führung verfolgten Bald nach den Reichstagswahlen vom März Politik der Instrumentalisierung des konservati- 1933 erreichten die Nationalsozialisten mit dem ven Lagers geraten. Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 und der folgenden „Gleichschaltung“ auf allen Gebieten Der Reichstag wurde aufgelöst, Neuwahlen für wesentliche Stationen der Herrschaftsetablie- den 5. März 1933 angesetzt. Doch dieser Wahl- rung. Die für das „Ermächtigungsgesetz“ not- kampf unterschied sich grundlegend von allen wendige Zweidrittelmehrheit im Reichstag kam vorherigen. Am 4. Februar 1933 gab Hermann nur zustande, weil alle 81 kommunistischen und Göring als kommissarischer preußischer Innen- auch 26 sozialdemokratische Abgeordnete fest- minister die mündliche Weisung zum härteren genommen worden oder geflohen waren und weil Vorgehen der Polizei „gegen Marxisten“, die am die Abgeordneten der Zentrumspartei und der 17. Februar 1933 im Erlass „zur Förderung der Deutschen Staatspartei Hitlers Versprechungen nationalen Bewegung“ ergänzt wurde. Die Polizei einer restriktiven Auslegung des Gesetzes Glau- konnte – und sollte – nun schießen. Mit der in ben schenkten. Nur die 94 sozialdemokratischen Preußen nach dem 22. Februar 1933 einberufe- Abgeordneten lehnten es nach einer beeindru- nen Hilfspolizei (50.000 Mann, davon 50 Prozent ckenden Rede ihres Vorsitzenden Otto Wels ab.

240 | 241 Kurze Zeit später zerstörten die „Gesetze zur tätigung war nicht mehr möglich. Zunehmend Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ die zersetzten Spitzel der Gestapo die Versuche des föderale Struktur der Weimarer Republik. In den Neuaufbaus illegaler oppositioneller Strukturen. folgenden Wochen wurden in allen deutschen Ländern statt gewählter Ministerpräsiden- ten nationalsozialistische „Reichsstatthalter“ II. Die frühen Konzentrationslager eingesetzt und die Landesparlamente aufgelöst. Damit geriet auch die Polizei überall in Deutsch- Am 8. März erklärte Reichsinnenminister Wil- land unter nationalsozialistische Kontrolle. helm Frick öffentlich: „Wenn am 21. März der neue Reichstag zusammentrete, würden die SA, SS und Polizei arbeiteten eng zusammen. Die Kommunisten durch dringende und nützlichere Polizei konnte mit Hilfe von Listen verhaften, die Arbeit verhindert sein, an der Sitzung teilzuneh- zum großen Teil schon in der Weimarer Zeit ent- men. Sie müssten an eine fruchtbringende Arbeit standen waren. Die SA-Stürme durchkämmten wieder gewöhnt werden; dazu würde ihnen in systematisch ihre Wohnquartiere nach politi- den Konzentrationslagern Gelegenheit gegeben schen Gegnern, die dann oft in SA-Heime oder werden.“4 SA-Sturmlokale verschleppt wurden. Auf der Nürnberger „Burg“ wurde dabei ebenso gefoltert Seit März 1933 entstanden fast 70 Konzentra- wie in der Dortmunder „Steinwache“ oder in den tionslager, etwa am 21./22. März 1933 das vielen SA-Lokalen . Unter dem Mantel der SS-Konzentrationslager Dachau bei München scheinbaren Legalität wurden viele „persönliche und das SA-Konzentrationslager Oranienburg Rechnungen“ aus der Weimarer Zeit beglichen. bei Berlin. Hinzu kamen über 30 „Schutzhaftab- Der Gastwirt, der die SA einmal vor die Tür teilungen“ in Justiz- und Polizeigefängnissen.5 gesetzt hatte, konnte davon ebenso betroffen Zwischen März und April 1933 waren an diesen sein wie der unter einem SA-Führer wohnende Orten mehr als 45.000 Menschen für kürzere Kommunist, dessen Wohnung man schon lange oder längere Zeit inhaftiert, für das gesamte haben wollte. Die Gesamtzahl dieser improvi- Jahr 1933 können wir von über 80.000 Gefan- sierten Hafträume, die ab Februar 1933 ent- genen ausgehen. In den ersten Monaten wurden standen und zumeist nur wenige Wochen oder vor allem Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemo- Monate zur Verwahrung von Häftlingen dienten, kraten, Gewerkschafter in „Schutzhaft“ genom- bleibt unbekannt. Allein in Berlin sollen es bis men und in Konzentrationslagern inhaftiert. zu 200 gewesen sein.3 Doch Gewalt und Terror sollten eine nachhaltige Wirkung erzielen. Daher Viele von ihnen wurden jedoch im Zuge der po- war auch eine längerfristige Unterbringung der litischen Stabilisierung des Nationalsozialismus Gefangenen notwendig. aus den Lagern entlassen. Im Juli 1933 etwa gab es nach einer Umfrage des Reichsinnenminis- Viele Kommunisten, Sozialdemokraten, Sozia- teriums rund 26.800 „Schutzhaftgefangene“, listen und demokratische Intellektuelle flohen davon 14.906 in Preußen, 4.152 in Bayern, 4.500 schon 1933 aus Deutschland ins Exil. Die Situ- in Sachsen und 971 in Württemberg.6 Die natio- ation der in Deutschland verbliebenen Opposi- nalsozialistische Herrschaft war so weit gefes- tionellen war verzweifelt. Die Parteien wurden tigt, dass die offen gewalttätigen Maßnahmen aufgelöst oder verboten, die Gewerkschafts- zurückgenommen werden konnten. Ende Oktober bewegung zerschlagen. Legale politische Be- 1933 waren noch rund 22.000 Gefangene in den

1 Als aktuellste Einführung zum Thema vgl. Nikolaus Wachsmann/Sybille Steinbacher (Hg.), Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933, Göttingen 2014 sowie Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), . Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005. 2 Vgl. Michael Hensle, Die Verrechtlichung des Unrechts. Der legalistische Rahmen der nationalsozialistischen Verfolgung, in: Benz, Ort, Bd. 1, S. 76 ff. 3 Irene Mayer-von Götz, Terror im Zentrum der Macht. Die frühen Konzentrationslager in Berlin 1933/34-1936, Berlin 2008, S. 56. 4 Kuno Horkenbach, Das deutsche Reich von 1918 bis heute. 1933. Berlin 1934, S. 106. 5 Klaus Drobisch/Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 1993, S. 12; vgl. ebenda, S. 73, Liste der berüchtigten Folterstätten, Konzentrationslager und Justizstrafanstalten 1933. 6 Bundesarchiv, R 43 II/398, fol. 91 f.; vgl. Drobisch/Wieland, System, S. 134 mit genauer Analyse der Zahlen.

AUFSÄTZE Konzentrationslagern inhaftiert, von denen – vor 1933 rechnete das preußische Innenministeri- allem mit Blick auf das Ausland – 2.000 Häftlin- um „für die nächsten Jahre mit einer Dauerzahl ge nach der „Reichstagswahl“ vom 12. November von 10.000 Häftlingen“ und formulierte in einem 1933 entlassen wurden. Die erste Phase der Schreiben an das Reichsinnenministerium expli- nationalsozialistischen Herrschaftskonsolidie- zit sein Konzept.9 Noch im Sommer 1933 sollten rung war damit abgeschlossen; objektiv wären die drei Standorte Börgermoor, Esterwegen und die Konzentrationslager zur Aufrechterhaltung Sustrum 4.000 Häftlinge aufnehmen. Für die der NS-Diktatur nicht mehr notwendig gewesen. östlichen Regierungsbezirke war vorgesehen, Ihre Aufgabe hätten die seit März 1933 tätigen die Lager Sonnenburg und Lichtenburg beizube- „Sondergerichte“, der im April 1935 errichtete halten, zusätzlich das Lager Brandenburg. Diese „Volksgerichtshof“ und die Strafvollstreckung Lager sollten die Häftlinge aufnehmen, bei denen der Justiz ohne Weiteres übernehmen können. nur eine kürzere „Schutzhaft“ zu erwarten war Dies war jedoch nicht der Fall, stattdessen ent- und sich daher ein Transport in das Emsland stand das genuin nationalsozialistische System nicht lohnte. der Konzentrationslager, dessen Genese bei einem Blick auf die Entwicklung in den beiden Ein Erlass des Staatssekretärs Ludwig Grauert größten deutschen Ländern, Bayern und Preu- vom 14. Oktober 1933 über die „Vollstreckung ßen, erkennbar wird. der Schutzhaft“ markierte den Höhepunkt der Zentralisierungsbestrebungen des preußischen Die Konzentrationslager waren 1933/1934 Innenministeriums. Danach durften Schutz- Orte des direkten Terrors gegenüber den politi- haftgefangene nur noch in den staatlichen schen Gegnern des Nationalsozialismus und der Konzentrationslagern Papenburg, Sonnenburg, indirekten Repression gegenüber der gesamten Lichtenburg und Brandenburg inhaftiert wer- Bevölkerung, die durchaus in der Presse über die den. „Sonstige Einrichtungen zur Unterbringung Konzentrationslager informiert wurde. politischer Schutzhäftlinge werden von mir als staatliche Konzentrationslager nicht anerkannt; Diese Lager entstanden in enger Zusammenar- soweit sie noch bestehen, werden sie in Kürze, beit zwischen den Parteiformationen der NSDAP jedenfalls noch vor Ende dieses Jahres, aufge- und staatlichen Dienststellen. Lokal, regio- löst.“10 Doch dieses Modell ließ sich nicht durch- nal und überregional kann nicht von „wilden“ setzen; die Differenzen zwischen der Verwaltung Lagern, d.h. von Haftstätten außerhalb staatli- und den zumeist der SS angehörenden Wach- cher Kontrolle oder ohne staatliche Beteiligung, mannschaften waren zu groß. Die Versuche, ein gesprochen werden, sondern eher von „frühen“ preußisches System der Konzentrationslager zu Konzentrationslagern. Insgesamt gab es eine errichten, waren Ende November 1933 abrupt regional sehr differenzierte Entwicklung. Kriteri- beendet.11 Konzeptionslosigkeit, Improvisation en wie Errichtung, Bewachung, Aufsicht über die und Chaos kennzeichneten die Entwicklung bis Lager, Dauer der Lagerexistenz und der Haft- Mitte 1934. Die Leidtragenden dieser Entwick- dauer helfen bei der Einordnung. Im Vordergrund lung waren die Häftlinge in den Konzentrations- steht dabei der Aufsichts- und Kontrollaspekt lagern. In Bayern dagegen war in dieser Zeit kon- über die „frühen“ Konzentrationslager, die grob sequent ein Modell für die weitere Entwicklung in fünf Typen eingeteilt werden können: die der Konzentrationslager geplant und umgesetzt Schutzhaft in Polizei- und Justizgefängnissen, worden. staatliche Konzentrationslager, regionale Lager unter staatlicher Kontrolle, Konzentrationslager von regionalen Herrschaftsträgern und Kon- III. Entwicklung der Konzentrationslager durch zentrationslager von Parteiformationen.7 die SS

Vor allem in den beiden großen Flächenländern In Bayern entstand nahe München am 21. März Preußen und Bayern waren bereits früh Zentra- 1933 das Konzentrationslager Dachau. Seine lisierungsbestrebungen für die „Schutzhaftvoll- Entwicklung war eng mit der SS verbunden. Die streckung“ erkennbar.8 In Preußen sollten die SS war 1925 als persönliche Leibwache Hitlers Häftlinge zentral in Lagern in den Moorgebieten gegründet worden und war damit Teil der Partei- des Emslandes untergebracht werden. Ende Juni organisation der NSDAP. Seit 1929 wurde sie von

242 | 243 Heinrich Himmler als „Reichsführer SS“ geleitet, Schon bald wurde der Unterschied zwischen der sie zu einer Eliteformation innerhalb der der Haft im Konzentrationslager und der Haft in NSDAP machen wollte. Himmler weitete Aufga- Gefängnissen und Zuchthäusern deutlich. Die benbereiche und Einfluss der SS konsequent aus. Justiz besaß in den Konzentrationslagern zuerst Er machte die SS über ihre ursprüngliche Aufga- in Bayern, später in ganz Deutschland, keinerlei be des Versammlungs- und Personenschutzes Eingriffsmöglichkeiten. Im Sommer 1933 ermor- hinaus zu einer „Parteipolizei“ der NSDAP und zu dete die SS in Dachau mehrere Häftlinge. Am 26. einer ideologisch besonders gefestigten Forma- Juni 1933 wurde der SS-Oberführer Theodor tion, die als Instrument des Terrors gegenüber Eicke neuer Kommandant des Konzentrations- den politischen Gegnern diente. Die SS wuchs lagers Dachau.14 Er etablierte in Dachau ein nor- seit 1929 von ca. 280 Mann auf über 209.000 miertes System der Gewalt, das ein Höchstmaß Mann Ende 1933 rapide an. an systematischer Brutalität gegenüber den Häftlingen sichern sollte. Theodor Eicke mach- Heinrich Himmler war bereits seit dem 9. März te die Gewaltausübung im Lager für Himmler 1933 kommissarischer Polizeipräsident von Mün- berechenbarer und unauffälliger. Er trennte die chen. Am 15. März 1933 ernannte der kommissa- Lagerverwaltung (Lagerkommandantur) von der rische Innenminister Adolf Wagner Himmler zum Lagerwachtruppe, die nur für den Postendienst „politischen Referenten beim Staatsministerium zuständig war und führte Lagerabteilungen des Innern“ und beauftragte ihn mit der Koor- ein. Dieses Organisationsmodell, mit dem das dinierung aller Aktionen der politischen Polizei. Konzentrationslager zugleich gegen alle Einflüs- Am 1. April 1933 verfügte Wagner die Ernennung se und Einsichtnahmen von außen abgegrenzt Himmlers zum „politischen Polizeikommandeur wurde, sollte sich rasch bewähren. Durch die Bayerns“ und unterstellte ihm die „bereitstehen- drei Säulen SS, Bayerische Politische Polizei und den und noch einzurichtenden Konzentrations- Kommandantur des Lagers Dachau wurde das lager“.12 Konzentrationslager Dachau bis Mitte 1934 voll- ständig gegen die Eingriffe sämtlicher staatli- Die Bayerische Politische Polizei schied aus dem cher Institutionen abgeschottet. Dienstbereich der Polizeidirektion München aus. Himmler konnte in seiner neuen Funktion Der Terror wurde systematisiert. Wichtigstes alle anderen Polizeieinheiten zu Exekutivmaß- Instrument der Gewalt gegenüber den Inhaf- nahmen anfordern. Sein Konzept lässt sich tierten war eine von Eicke bereits in Dachau im einfach beschreiben: Er übernahm mit staat- Oktober 1933 entworfene „Lagerordnung“, die licher Legitimität staatliche Aufgaben, die er mit geringfügigen, örtlich bedingten Abweichun- von der SS erledigen ließ. In seiner dreifachen gen im Sommer 1934 in allen noch bestehenden Funktion sah Heinrich Himmler das KZ Dachau Konzentrationslagern eingeführt wurde. Diese als ein auf lange Sicht nutzbares Instrument Lagerordnung sollte bis in die Kriegsjahre hinein zur Unterdrückung des politischen Gegners: Als mit leichten Veränderungen in sämtlichen Kon- Bayerischer Politischer Polizeikommandeur war zentrationslagern gelten. Himmler für die Einweisung und Entlassung der Schutzhäftlinge zuständig, als Kommandeur der In Bayern wurden jetzt aber nicht mehr nur die Bayerischen Politischen Hilfspolizei stellte er die aus der Weimarer Zeit bekannten politischen SS-Wachtruppe mit einem SS-Kommandanten.13 Gegner verfolgt, sondern zugleich sollte auch

7 Vgl. ausführlich dazu Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934-1938, Boppard 1991, S. 42 ff. 8 Ausführlich dazu: Tuchel, Konzentrationslager, S. 60 f. 9 Briefentwurf von Ende Juni 1933, in: Bundesarchiv, Sammlung Schumacher 271. 10 Bundesarchiv, R 58/264 fol. 1 ff. 11 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 80 ff. 12 Bundesarchiv, Sammlung Schumacher 464. 13 Vgl. ausführlich Tuchel, Konzentrationslager, S. 122 ff. 14 Vgl. zur Biografie ausführlich Tuchel, Konzentrationslager, S. 128 ff. sowie Niels Weise, Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, Paderborn 2013.

AUFSÄTZE jede Neubildung politischer Opposition ver- wurden, so etwa die zu dieser Zeit in Dachau hindert werden. Heinrich Himmler hatte so in inhaftierten knapp 350 „Arbeitsscheuen“. Der Bayern bis Mitte 1934 ein Modell der „inneren Kurs, den Himmler jetzt auch gegenüber Ver- Sicherheit“ des nationalsozialistischen Staates tretern anderer Instanzen des nationalsozia- errichtet, das ein Höchstmaß an systematisier- listischen Staates einschlug, wenn sie auf die tem Terror zu gewährleisten schien. Die SS war Einschränkung der „Schutzhaft“ drängten, war zudem zum Rekrutierungsbereich für die Politi- eindeutig: In den Konzentrationslagern waren sche Polizei geworden. Um die Politische Polizei nur noch Kommunisten untergebracht, die den schlagkräftig zu halten, konnten aber ältere und Staat gefährdeten. Diesem Argument sollte aus Himmlers Sicht befähigte Polizeibeamte, sich kein Nationalsozialist widersetzen können. auch wenn sie vor 1933 keine Nationalsozialisten Und als Kommunist konnte jetzt jeder definiert gewesen waren, zum großen Teil im Amt bleiben. werden, der in das bayerische Konzentrations- Zugleich war die Polizei in dieser Zeit aus der lager eingewiesen wurde. Doch grundsätzlich normalen inneren Verwaltung herausgelöst wor- änderte sich an Himmlers Anspruch, mit Hilfe der den, während das Konzentrationslager Dachau Konzentrationslager seine rassistisch moti- zu einem handhabbaren und wirksamen Instru- vierte gesellschaftsverändernde Politik durch- ment gegen jede von der nationalsozialistischen zusetzen, nichts. Ab 1935 sollte dies vielfach in Politik abweichende Regung geworden war. Verhaftungsaktionen gegen unterschiedlichste Nonkonformes Verhalten, politische Opposition, Gruppen, etwa gegen sogenannte Asoziale oder weltanschauliche Resistenz, aber auch soziale „Berufsverbrecher“ deutlich werden. Auffälligkeit, Armut und jede Form unerwünsch- ten Verhaltens konnten mit der Einweisung in das Konzentrationslager „geahndet“ werden. IV. Esterwegen, Lichtenburg, Dachau, Sachsenburg, Moringen Diese „sozialrassistische“ Komponente wird auch bei den Einweisungsgründen in das Kon- Ende Juni 1934 entmachtete Hitler die Führung zentrationslager Dachau im Frühjahr 1934 der SA und ermordete viele ihrer Führer, aber deutlich. Als der Reichsstatthalter Franz von auch politische Gegner und zwei Generale der Epp im März 1934 wieder einmal die Reduzie- . Die Aktion wurde vom Reichskabi- rung der Schutzhaftzahlen in Bayern verlangte, nett am 3. Juli 1934 nachträglich als „Staatsnot- ließ Himmler in der Bayerischen Politischen wehr“ für rechtens erklärt. Dies zeigt, wie stabil Polizei eine Statistik der Einweisungsgründe die nationalsozialistische Herrschaft zu dieser der 2.405 Schutzhäftlinge in Bayern nach dem Zeit bereits war. Mit dem Tod von Reichsprä- Stand vom 10. April 1934 erstellen. 38,5 Prozent sident Paul von Hindenburg am 2. August 1934 waren wegen „kommunistischer Betätigung“, fasste Hitler sofort die Ämter des Reichsprä- 24,5 Prozent als „KPD-Funktionäre“, 19,5 Pro- sidenten und des Reichskanzlers zusammen. zent wegen „Hochverrat, marxistischer Betäti- Noch am selben Tag ließ er die Reichswehr auf gung, staatsabträglicher Kritik, Landesverrat, seine Person vereidigen. Hitler war jetzt „Führer SPD-Funktionäre“, aber schon 12,8 Prozent als und Reichskanzler“, der nationalsozialistische „Volksschädlinge“ oder „Arbeitsscheue“, we- „Führerstaat“ hatte sich endgültig durchgesetzt. gen „Beleidigung“, „asozialem Verhalten“ oder Rassismus, Antisemitismus und Kriegsvorberei- „Trunksucht“ inhaftiert.15 tungen bestimmten die deutsche Politik in den nächsten Jahren. Ein halbes Jahr später betonte Himmler vor allem die präventiv-polizeiliche Bekämpfung der Schon davor hatte Heinrich Himmler am 20. April kommunistischen „Bedrohung“: „Zurzeit befinden 1934 die Leitung der preußischen Geheimen sich in Bayern noch 1396 Personen in Schutzhaft. Staatspolizei übernommen. Er holte sofort Eicke Davon sind 1269 Kommunisten, 75 Sozialdemo- nach Preußen, denn dieser sollte das in Dachau kraten und 52 sonstige Personen (Oppositionelle, entwickelte Modell auf weitere Konzentrations- Hetzer usw.).“16 Auffällig ist, dass sämtliche lager in ganz Deutschland übertragen. Im Mai andere Kriterien, die noch im April von Bedeu- 1934 erteilte Himmler Eicke den Auftrag, kleinere tung gewesen waren, nicht mehr erschienen SA-Konzentrationslager aufzulösen und einige oder hier in die Rubrik „Kommunisten“ integriert andere nach dem Muster Dachaus zu reorgani-

244 | 245 sieren. Dieser begann damit Ende Mai 1934 im Einrichtungen dar, in denen politische Staats- Konzentrationslager Lichtenburg.17 Nachdem feinde und Saboteure im Interesse der Volks- Eicke am 1. Juli 1934 in München an der Ermor- gemeinschaft untergebracht werden müssen. dung des Chefs der SA, Ernst Röhm, beteiligt [...] Bei aller Anerkennung, die man dem guten war, wurde er mit Wirkung vom 4. Juli 1934 Willen der Quäker zollen kann, darf die Wohl- zum „Inspekteur der Konzentrationslager“ und fahrt des gesamten Volkes nicht dadurch aufs „Führer der SS-Wachverbände“ ernannt.18 In den Spiel gesetzt werden, daß eine Einrichtung, die Sommermonaten 1934 organisierte Eicke dann gegenwärtig das wirksamste Mittel gegen alle die Konzentrationslager Esterwegen im Emsland Staatsfeinde bildet, aufgehoben oder durch ir- und Sachsenburg in der Nähe von Chemnitz neu gendwelche Auflockerungen unwirksam gemacht und löste das KZ Oranienburg auf. Dies war der wird.“22 eigentliche Beginn des nationalsozialistischen Systems der Konzentrationslager, das in den Im Frühsommer 1935 gab es in Deutschland folgenden Jahren von Himmler und Eicke aufge- schließlich die Konzentrationslager in Ester- baut wurde.19 wegen, Lichtenburg, Dachau und Sachsenburg sowie für Frauen das Konzentrationslager in Mo- Ein Blick auf die Gefangenenzahlen zeigt, dass ringen. In ihnen waren zu dieser Zeit rund 3.500 eine objektive Notwendigkeit für die Beibehal- Häftlinge inhaftiert. Von diesen Häftlingszahlen tung oder gar Weiterentwicklung des Lagersys- ausgehend, entstand in den Folgejahren ein tems für die NS-Führung nicht mehr gegeben System der Konzentrationslager. Diese dienten war. Am 1. August 1934 gab es nach den offiziel- weiterhin der Stabilisierung der Diktatur, aber len Zahlen des Reichsinnenministeriums in auch als Sanktionsinstrument gegenüber allen Preußen 2.267, in Bayern 2.156, in Sachsen 544 Formen abweichenden politischen und gesell- und in Württemberg 118 Schutzhäftlinge.20 Diese schaftlichen Verhaltens. hätten durchaus der Justiz übergeben werden können, die rechtsförmige Instrumente zur Un- terdrückung aller echten oder ideologisch defi- V. Das System der nationalsozialistischen nierten Gegner des Nationalsozialismus besaß.21 Konzentrationslager

Als im Dezember 1934 die Gesellschaft der Das System der Konzentrationslager war ein Freunde (Quäker) die Auflösung der Konzentra- zentrales Instrument im Denken und Handeln tionslager forderte, stellte Heinrich Himmler klar, Heinrich Himmlers und wurde von ihm in den dass die „Konzentrationslager nur aus unbeding- folgenden Jahren mit der Zustimmung Hitlers ter Notwendigkeit errichtet sind, um nicht nur ausgebaut.23 Zuerst gelang es Himmler, ei- das deutsche Volk, sondern letzten Endes die nen Vorstoß des Reichsinnenministeriums zur menschliche Gesellschaft vor zersetzenden und Auflösung der Lager abzuwehren. Im Juni 1935 asozialen Elementen zu schützen. [...] Die Kon- erreichte Himmler bei Hitler die Zustimmung zur zentrationslager stellen in ihrer heutigen Form Beibehaltung der Lager und einen Ausbau der

15 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 106299, Schreiben Himmlers vom 13. April 1934. 16 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 106299, Schreiben Himmlers vom 15. November 1934. Himmler bezieht sich auf den Stand vom 1. November 1934. 17 Vgl. Johannes Tuchel, Theodor Eicke im Konzentrationslager Lichtenburg. Die Etablierung der Inspektion der Konzentrationslager im Sommer 1934, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 59 ff. 18 Bundesarchiv, Bestand Berlin Document Center, Personalakte Theodor Eicke, Personalnachweis. 19 Vgl. Johannes Tuchel, Planung und Realität des Systems der Konzentrationslager, in: Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann (Hg.), Die national- sozialistischen Konzentrationslager. Göttingen 1998, S. 43 ff. 20 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 106299/1, Schreiben des Reichsministers des Innern vom 5. Oktober 1934. 21 Reichsgesetzblatt 1934 I, S. 341 ff. Zum Volksgerichtshof vgl. Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974 (Nachdruck 2011); Bernhard Jahntz und Volker Kähne, „Der Volksgerichtshof“. Darstellung der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof. Senatsverwaltung für Justiz (Hg.), Berlin, 3. Aufl., 1992; Klaus Marxen, Das Volk und sein Gerichtshof. Eine Studie zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof, Frankfurt am Main 1994; Holger Schlüter, Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs, Berlin 1995. 22 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, HA II, Rep. 90 P, Bl. 100 f. 23 Vgl. zum Gegnerbild Himmlers: Johannes Tuchel, Heinrich Himmler – Der Reichsführer SS, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hg.), Die SS. Elite unter dem Totenkopf. Paderborn 2000, S. 234 ff.

AUFSÄTZE Wachmannschaften, die zugleich als militärische Er hatte sich sorgfältig vorbereitet und seine Sondertruppe der SS dienen sollten. Himmler Themen notiert: „1. Behandlung der Kommunis- besaß zudem Hitlers Zusage, dass die Wachver- ten, 2. Abtreibungen, 3. Asoziale Elemente, bände und die Konzentrationslager durch den 4. Wachverbände, 5. Gestapa-Erlaß von Frick.“26 Reichshaushalt finanziert werden würden. Himmler konfrontierte Hitler so zuerst mit den An die Stelle der Verfolgung der politischen Geg- ideologischen Hauptgegnern des Nationalsozia- ner trat jetzt endgültig ein Präventionskonzept. lismus, danach mit den gesellschaftspolitischen Im Juli 1935 befahl Himmler, „daß die Zahl der Problemen, die vor dem Hintergrund der rassis- Schutzhäftlinge aus den Reihen der ehem. K.P.D. tischen Ideologie des Nationalsozialismus im Funktionäre in dem folgenden Monat um tausend Rahmen der sogenannten „Volksgemeinschaft“ vermehrt werden soll“.24 nicht gelöst worden waren und die jetzt durch Inhaftierungen in Konzentrationslagern „bewäl- ergänzte diese nüchterne tigt“ werden sollten. Frauen, die einen Schwan- Anordnung Himmlers, dass nicht nur die Perso- gerschaftsabbruch hinter sich hatten, waren nen in Haft genommen werden sollten, die im hinfort nicht nur der damals gesetzlichen Strafe, Verdacht illegaler Betätigung stünden, sondern sondern zusätzlich der Drohung durch das auch die, deren „Verhalten erkennen läßt, daß Konzentrationslager ausgesetzt. Zur Gruppe der sie nach wie vor staatsfeindlich eingestellt sind, „Asozialen“ gehörten all jene, die von der Norm und der Verdacht besteht, daß sie in versteckter der „Volksgemeinschaft“ auch nur ein wenig ab- Form gegen den Staat hetzen“. Zugleich sollten wichen. Kleinste Vergehen konnten ausreichen, alle „KPD Funktionäre“, die aus der Strafhaft um von der Polizei als „asozial“ abgestempelt entlassen würden, in Schutzhaft genommen und in ein KZ eingewiesen zu werden. Ende 1938 werden, „sofern es sich bei ihnen um gefähr- waren dann bereits in den Konzentrationslagern liche Staatsgegner handelt“.25 Diese Ausweitung 12.921 Menschen in „polizeilicher Vorbeugehaft“, durch Heydrich führte zu einer weit größeren davon 8.892 sogenannte „Asoziale“. Zahl von Verhaftungen, als sie von Himmler am 12. Juli 1935 gefordert worden war. Die Aktion Im November 1935 konnte Himmler mit Hitlers wurde auch auf alle außerpreußischen Politi- Hilfe dann die Konzentrationslager auch gegen- schen Polizeien ausgedehnt. Am 13. August 1935 über der Justiz endgültig abschotten. Häftlinge wurde sie in Bayern angeordnet, bereits Anfang durften nicht mehr von Rechtsanwälten ver- August in Sachsen. Nach Dachau wurden rund treten werden; die Todesfälle in den Konzentra- 800 Häftlinge neu eingeliefert, in Sachsenburg tionslagern durften nicht mehr von der Justiz erhöhte sich die Häftlingszahl von 820 am untersucht werden. Diese grundsätzlichen 10. September 1935 auf 1.537 am 20. Oktober Entscheidungen Hitlers ermöglichten es in den 1935. Es war die erste große Präventivaktion, folgenden Monaten Theodor Eicke, eine grund- der noch viele weitere folgen sollten. sätzliche Planung für den Ausbau der Kon- zentrationslager im Rahmen der nationalsozia- Doch nicht nur politische Gegner waren der listischen Kriegsvorbereitungen vorzulegen: Gewalt in den Konzentrationslagern ausgesetzt. Bereits 1933 wurden sogenannte „Arbeits- – Im Norden sollte ein Konzentrationslager in der zwangshäftlinge“ und „Berufsverbrecher“ in die Nähe von Hamburg entstehen. Da die Hamburger Lager eingewiesen. Auch die hohe Zahl von 325 Verwaltung den Bau nicht ermöglichen konnte, „homosexuellen“ Häftlingen in Lichtenburg 1935 musste Eicke den für dieses Lager vorgesehenen deutete auf die wachsende Bedeutung anderer Wachverband anderen Lagern zuordnen. Häftlingsgruppen hin. Ihnen sollten bald weitere Menschen folgen, die in der nationalsozialisti- – Im Nordwesten sollte das Konzentrationslager schen Gesellschaft an den Rand gedrängt und Esterwegen noch im Frühjahr 1936 ausgebaut ausgegrenzt wurden. werden. Diese Planungen wurden jedoch im Sommer 1936 aufgegeben, denn im Zentrum Am 18. Oktober 1935 schließlich ließ Himmler Deutschlands sollte ein großes Konzentrations- sich von Hitler die Übernahme der gesamten lager in der Nähe von Berlin entstehen: das Kon- deutschen Polizei und damit des wesentlichen zentrationslager Sachsenhausen. Teils des Verfolgungsapparates zusichern.

246 | 247 – In Mitteldeutschland sollte ein weiteres großes schaftliche Pläne zur Ausnutzung der Zwangsar- Konzentrationslager entstehen, da Sachsenburg beit der Häftlinge und wollte vor allem mit Stein- und die Lichtenburg für größere Häftlingszahlen brüchen und Ziegeleien eine ökonomische Nische längst nicht mehr geeignet waren. Die Realisie- in der Autarkiewirtschaft des „Dritten Reiches“ rung dieses Vorhabens sollte mit dem Bau von besetzen. Das System der Konzentrationslager Buchenwald erst 1937 möglich sein. war so ein zielbewusst eingesetztes Instrument der nationalsozialistischen Herrschaftssiche- – In Süddeutschland sollte das Konzentrations- rung, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug lager Dachau ausgebaut werden, um auch hier eingeschätzt werden kann. die Aufnahme größerer Häftlingszahlen zu er- möglichen. Dies erfolgte 1937/38. Johannes Tuchel Andere Veränderungen in der Entwicklung der Leiter der Arbeitsstelle Widerstandsgeschichte der Freien Universität Berlin und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Konzentrationslager sind nicht auf diese grund- sätzliche Planung Ende 1935 und Anfang 1936 zurückzuführen. Dazu gehörten etwa die Nut- zung der Lichtenburg als Frauenkonzentrations- lager, der Ende 1938 / Anfang 1939 einsetzende Aufbau des großen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück und die Errichtung der Lager Flos- senbürg und Mauthausen. Die Errichtung dieser Lager markierte bereits eine neue und teilweise veränderte Funktionszuweisung für die Lager, die verstärkte Ausbeutung der Häftlingszwangs- arbeit.

Gegenüber den 3.500 Häftlingen im Frühsommer 1935 gab es im November 1936 bereits 4.761 Häftlinge, im November 1938 sollten es noch vor den Novemberpogromen über 24.000 Häftlin- ge sein, deren Zahl durch die Verschleppungen nach den Pogromen auf über 60.000 anschwoll. Damit waren auch die neuen Lager in Buchen- wald und Sachsenhausen überfüllt. Nach Ent- lassungen und einer „Amnestie“ zu Hitlers 50. Geburtstag waren dann kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen etwa 21.000 Häftlinge in den Konzentrationslagern gefangen.

Die Konzentrationslager waren seit 1935 damit Haftstätten für politische Gegner, dienten der rassistisch definierten „Volksgemeinschaft“ ebenso wie der Prävention gegenüber der Op- position aus der Arbeiterbewegung und sollten Ende 1938 unmittelbar den Auswanderungs- druck auf die deutschen Juden erhöhen. Seit 1937/38 verfolgte die SS zudem eigene wirt-

24 Vgl. dazu Johannes Tuchel/Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8. Das Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987, S. 145. 25 Ebd. 26 Bundesarchiv, NS 19/1447, fol. 17. Ich folge hier meiner Darstellung in Tuchel, Konzentrationslager, S. 312 ff.

AUFSÄTZE Die deutsche Gesellschaft im „Dritten Reich“ Ulrich Herbert

Der Nationalsozialismus war eine Sammlungsbe- seit nunmehr zwanzig Jahren anhaltenden wirt- wegung ohne einheitliche, verpflichtende Dok- schaftlichen, politischen, sozialen Dauerkrise trin. Seine ideologische Bandbreite war enorm. erlöst werden. Er verband Antiliberalismus, Antisozialismus und Antisemitismus miteinander, die Forderung Der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am nach Lebensraum mit der nach bäuerlichem 5. März 1933 war schon vom Straßenterror der Leben, die Ablehnung der Kultur der Moderne mit NS-Milizen geprägt, der sich in erster Linie gegen Antiintellektualismus und völkischer Schwär- die Arbeiterparteien richtete. Gleichwohl war merei, militaristischen Geist mit sakralisiertem das Wahlergebnis aussagekräftig: Klare Wahl- Nationalismus, Rassismus mit den biologisti- siegerin war die NSDAP, die einen Regierungs- schen Konzepten der Eugenik, den Wunsch nach auftrag für eine rechtsautoritäre, nationalisti- Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg sche Regierung erhalten hatte. Allerdings hatten mit Weltmachtphantasien, völkische Sozialpo- 56,1 Prozent der Wähler nicht für die NSDAP litik mit der Ausschaltung von Gewerkschaf- gestimmt, die eine Mehrheit nur zusammen mit ten und Tarifverträgen, Antikatholizismus mit der DNVP erreichte. Eine Option für eine Allein- Deutschchristentum. Hier fanden sich nahezu herrschaft der Hitler-Partei ergab sich aus den alle ideologischen Versatzstücke der „Großen Wahlen also nicht. Zählte man aber die Stimmen Rechten“, wie sie sich seit der Jahrhundertwen- für die eindeutig verfassungsfeindlichen Par- de und dann verstärkt nach dem Ersten Welt- teien zusammen (NSDAP, DNVP, KPD), so hatten krieg herausgebildet hatten. mehr als 64 Prozent, fast zwei Drittel der Wähler, unmissverständlich gegen die Weimarer Republik Diese verschiedenen und zum Teil widersprüchli- gestimmt. Insofern war das Ergebnis eindeutig: chen Ideen und Interessen wurden auf zweierlei Die Wähler wollten das Ende dieser Republik. Weise integriert: zum einen durch die Orientie- Während der ersten zwei, drei Jahre der Diktatur rung auf den „Führer“, der diese Widersprüche war die Stimmung in der deutschen Bevölkerung in seiner Person auflöste und der dem Volk durch geteilt. Die Anhänger der Rechten triumphierten sein Charisma direkt verbunden zu sein schien, und begrüßten jeden Schritt ihrer Regierung und ohne auf Interessengruppen und Koalitionen jede Rede ihres Führers mit Jubel und Genugtu- Rücksicht nehmen zu müssen; zum anderen, und ung. Die Indifferenten, Abwartenden bildeten die damit eng verbunden, durch die Parole von der größte Gruppe. Angesichts der Entbehrungen „Volksgemeinschaft“: die Ausschaltung der plu- und Enttäuschungen der zurückliegenden Jahre ralen politischen, sozialen und kulturellen Kräfte, war ihnen Hitler einen Versuch wert; man würde um „Einheit“ im nationalen und im rassischen sehen, ob er Erfolg hatte oder nicht. Die Anhän- Sinne herzustellen. Dass mit der „Uneinigkeit“ ger der Republik, zumal der Arbeiterparteien, des deutschen Volkes die Ursachen des deut- litten hingegen unter dem Terror der NS-Milizen schen Niedergangs beseitigt würden, entsprach und der Häme der Sieger. Aber sie setzten dar- der Überzeugung vieler, weit über den Kreis der auf, dass sich diese Regierung als ebenso wenig Anhänger und Aktivisten des Nationalsozialis- stabil erweisen würde wie ihre Vorgängerinnen mus hinaus: Gegen die künstliche soziale und und der Spuk schnell beendet sei – vergebens, politische Zersplitterung im modernen Parteien- wie sich bald herausstellte. und Verbändestaat stand hier das Postulat der Gemeinsamkeit von Kopf- und Handarbeit, von Dass die Umwälzungen in den ersten Monaten Männern und Frauen, Arm und Reich, Süddeut- nach dem Machtantritt der Hitler-Regierung schen und Preußen, von Katholiken und Pro- so tiefgreifend waren, so schnell vor sich gin- testanten, Liberalen und Sozialisten. Auf diese gen und auf so wenig Widerstand stießen, lag Weise, so die hier geweckte Erwartung, würde vor allem an der Energie, der Brutalität und der auch die politische und militärische Stärke der jugendlichen Begeisterung der NS-Bewegung Nation wiederhergestellt und das Volk aus der – aber auch an der lähmenden Angst, die sich

248 | 249 unter den Gegnern und potenziellen Opfern der nicht mit allen Forderungen oder Ideen der Nazis Nazis verbreitete. Sie wurde durch die Berichte einverstanden sein, um seinen Platz im national- über die Vorkommnisse in den Lagern der SA und sozialistischen Staat zu finden. Es reichte völlig den Kellern der Polizeipräsidien noch gesteigert. aus, sich nicht dagegen zu stellen. Es gelang den Nationalsozialisten innerhalb weniger Monate, nicht nur die Organisationen Wichtiger waren jedoch die neuen sozialpoli- der Arbeiterbewegung aufzulösen, sondern auch tischen Leistungen – Familienunterstützung, den Zusammenhalt der Arbeiterschaft innerhalb Ehestandsdarlehen, vermehrte Konsummöglich- des proletarischen Sozialmilieus zu lockern und keiten, Einführung eines Mindestjahresurlaubs zu entpolitisieren. Bereits Anfang 1935 ging die und das Angebot von billigen Pauschalreisen. Gestapo davon aus, dass es einen organisierten Solche Maßnahmen brachten Hitler Respekt Widerstand gegen das Hitler-Regime nicht mehr und Zustimmung nun auch in solchen Kreisen gebe. ein, die dem NS-Regime innerlich fernstanden. Über die Stimmung in der Arbeiterschaft schrieb Das war nicht nur eine Folge des Terrors, son- ein Berichterstatter der Exil-SPD: „Man kann dern auch der wirtschaftlichen Entwicklung. gegen Hitler sagen was man will, er ist doch ein 1935 war die Arbeitslosigkeit weitgehend Kerl … So was macht Eindruck auf den Spießer überwunden, seit 1936 herrschte Arbeitskräf- und auch auf manchen Arbeiter und selbst auf temangel – für die Haltung des überwiegenden Sozialisten.“ Andererseits war vielen durchaus Teils der Bevölkerung erwies sich das als aus- klar, worauf das hinauslief. „Wer die Dinge auf- schlaggebend. Die Erfahrung eines langfristig merksam betrachtet“, hieß es in einer Meldung stabilen Arbeitsplatzes war vor allem für die aus Westfalen, „der sieht doch, daß die ganze meisten Arbeiter etwas Neuartiges, das sie seit sogenannte Arbeitsbeschaffung und die Ankur- Jahrzehnten nicht erlebt hatten. Das prägte die belung der Wirtschaft ein großer Schwindel ist. Wahrnehmung und Bewertung. Es sind Staatsaufträge, sonst nichts. Einmal hört das auf, wenn – kein Krieg kommt.“1 Trotz aller Volksgemeinschafts-Propaganda blieb die soziale Struktur der deutschen Gesell- Auch das Verhältnis des Bürgertums zum Na- schaft in den 1930er Jahren aber weitgehend tionalsozialismus war nicht widerspruchsfrei. stabil: Der Anteil der Arbeiterschaft lag weiter- Einerseits gaben sich die Nazis betont antibür- hin bei etwa 60 Prozent, und an ihrer sozialen gerlich. Die Postulate von Volksgemeinschaft und Benachteiligung gegenüber den anderen gesell- nationalem Sozialismus riefen bei Unternehmern schaftlichen Schichten, die von der Aufwärts- wie im Bildungsbürgertum Erschrecken hervor. entwicklung mehr und schneller profitierten, Mehr noch als die politischen Aspekte war es veränderte sich nichts. Das Regime versuchte der plebejische Habitus der braunen Milizen, der allerdings, die soziale Ungleichheit zu kompen- im Bürgertum auf indignierte Ablehnung stieß, sieren: durch die propagandistische Aufwertung weil die „grobe Ungeistigkeit“ und das laute des „ehrlichen Arbeiters“ und des „deutschen Gebaren der Nazis in schroffem Widerspruch Sozialismus“ sowie durch die Mobilisierung von zur Ordnungswelt des deutschen Bürgertums Ressentiments gegen „Reaktion“ und „Gewerk- stand. Zugleich waren die Nationalsozialisten schaftsbonzen“ und vor allem gegen die Juden. aber in vielem ja selbst ein Produkt jener bürger- Das blieb durchaus nicht ohne Resonanz. Die lichen Zivilisationskritik, die seit der Jahrhun- „Volksgemeinschaft“ konstituierte sich vor dertwende in den antiurbanen Phantasien der allem durch die Ausgrenzung der Missliebigen: bündischen Jugendbewegung ebenso gepflegt der politischen Gegner des NS-Regimes, der wurde wie im modernekritischen Radikalismus rassisch verfemten Juden, der sogenannten der Intellektuellen der „Konservativen Revoluti- Gemeinschaftsfremden. Wer nicht zu diesen on“. In der Opposition gegen Weimar und Ver- Gruppen gehörte, konnte von den Segnungen des sailles, dem Verlangen nach einer starken, nicht neuen Staates profitieren. Man musste durchaus parlamentarisch kontrollierten Regierung und

1 Klaus Behnken (Hg.), Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934-1940, Frankfurt am Main 1980, März 1936, S. 310; April 1936, S. 465 u. 468 (im Folgenden: Sopade-Berichte).

AUFSÄTZE dem Wunsch nach Wiedereinsetzung elitärer fen der Jahre 1930 bis 1933 etwas reduziert, um Strukturen gegen die nivellierenden Tendenzen auch Wähler über die antisemitisch Eingestellten des demokratischen Sozialstaates fand sich hinaus zu gewinnen. Aber es war doch für jeder- das Bürgertum im neuen Staat überwiegend gut mann offensichtlich, dass, wer die Hitlerpartei aufgehoben und war bereit, die revolutionären wählte oder mit ihr sympathisierte, damit die am Umtriebe der Nazis als Radikalismus des Über- stärksten anti-jüdische Gruppierung unterstütz- ganges hinzunehmen. te, die in Deutschland je aufgetreten war.

Der Terror hatte sich in den Anfangsjahren des Einer klaren Linie folgte die antijüdische Politik Regimes in erster Linie gegen dessen potentielle des Regimes zunächst aber nicht. Die Juden zu politische Gegner gerichtet. Die „KZs“ waren demütigen, sie aus einflussreichen Positionen zu nachgerade zum Kennzeichen nationalsozialis- verdrängen, ihr Vermögen an sich zu reißen und tischer Herrschaft geworden, und Namen wie sie durch Gewalt und Drohungen zur Ausreise Dachau, später Buchenwald, Sachsenhausen zu veranlassen – darin waren sich die National- oder Neuengamme gewannen im Land eine sozialisten einig. Noch im Jahr 1933 verließen angsteinflößende Bekanntheit. Seit etwa 1936, 37.000 Juden das Land. Bis Ende 1937 waren als sich das Regime etabliert hatte und ein ver- insgesamt 125.000, mithin etwa ein Viertel der nehmbarer politischer Widerstand nicht mehr in Deutschland lebenden Juden emigriert. bestand, änderte sich die Funktion der Lager; sie wurden zunehmend zu Orten der Aussonderung Wirtschaftliche Aspekte der Judenfeindschaft der „Gemeinschaftsfremden“ aus der deutschen hatten bereits seit dem Aufkommen des moder- Volksgemeinschaft. Dieser Funktionswandel nen Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert zielte auf eine Gesellschaft ab, die tendenziell eine besondere Bedeutung besessen. Die Wi- keine Konflikte mehr kannte, weil die Träger der dersprüche und Aporien des modernen Kapi- erblichen Veranlagung zu abweichendem und ge- talismus auf das Wirken einer kleinen Gruppe sellschaftlich als „schädlich“ empfundenem Ver- zurückzuführen, die sich in der Industrie, im halten ausgesondert, von der Fortpflanzung aus- Handel, im Bankwesen und in den freien Berufen geschlossen, schließlich „ausgemerzt“ wurden. als besonders erfolgreich erwiesen hatte und Diese Bestrebungen, abweichendes Sozialver- anscheinend über geheime Kanäle erheblichen halten, Vererbung und ethnische Zugehörigkeit Einfluss auf die Kräfte des Marktes besaß – dies miteinander in Beziehung zu setzen, richteten war eine so verführerisch einfache Erklärung sich in besonderer Weise gegen die „Zigeuner“ der ansonsten unverständlichen Bewegungen genannten Sinti und Roma. Diese Gruppen, so von Konjunktur und Kapitalmarkt, dass sie auch urteilten die Erbbiologen, seien als „geschichts- von solchen akzeptiert wurde, die sich selbst gar und kulturlose Primitive“ anzusehen, die nicht nicht als Antisemiten verstanden. Dabei war der umerzogen, sondern nur „unschädlich“ gemacht wirtschaftliche Druck auf die Juden von Beginn werden könnten.2 Seit 1938 wurden daher mehr an untrennbar mit Korruption, Bereicherung und als 2.000 als „asozial“ stigmatisierte deutsche Raub verbunden. Es waren meist Parteifunktio- und österreichische „Zigeuner“ in die Konzen- näre, oft aber auch Mitarbeiter oder Konkurren- trationslager des Reiches eingewiesen. Am ten jüdischer Ladenbesitzer oder Handwerker, Vorabend des Kriegsausbruchs lag die Zahl der die mit Denunziationen und Gewalt versuchten, KZ-Insassen bei über 21.000. Der Anteil der von deren wirtschaftlicher Enteignung zu profi- „Politischen“ unter ihnen betrug nur noch etwa tieren. ein Drittel. Bemerkenswert war dabei die Parole, unter der Die Nationalsozialisten hatten ebenso wie ihr die Enteignung des jüdischen Teils der deutschen Führer in den Jahren vor der Machtübernahme Bevölkerung vollzogen wurde: „Wiedergutma- keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die klei- chung“. Die Vorstellung war hier, dass die Juden ne jüdische Minderheit in Deutschland für einen sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg auf Großteil der Probleme verantwortlich machten, unerklärliche Weise an den Deutschen bereichert denen sich die Deutschen gegenüber sahen. hätten. Man nehme sich jetzt nur, was einem Zwar hatte die NSDAP-Führung die Zahl der ext- sowieso gehöre, war die verbreitete Legitimation rem judenfeindlichen Ausfälle in den Wahlkämp- für den organisierten Raub. Damit konnte auch

250 | 251 der zuvor wirtschaftlich unterlegene Konkurrent Ausschreitungen des Straßenmobs eine stille, sein Mitwirken an der Zerschlagung des erfolg- gesetzförmige, gleichwohl aber massiv ver- reicheren jüdischen Textilgeschäfts rechtfertigen, schärfte Politik gegen die Juden begann, die um es dann für einen Spottpreis zu erwerben. durch die Inhaftierung von mehr als 20.000 jüdischen Männern in Konzentrationslagern nach Gegenüber den großen jüdischen Unternehmen dem 9. November eingeleitet wurde, legte sich waren die Behörden und Parteidienststellen die Aufregung schnell. Verfolgung, sogar Mord allerdings vorsichtiger, denn solche Betriebe zu an Juden, so lautete das Signal dieser Ereignisse schließen, hätte den Verlust zahlreicher Arbeits- an die Regimeführung, stieß in der Bevölkerung plätze bedeutet. Erst als sich die wirtschaftli- nicht auf Widerstand, wenn sie still, ohne Auf- che Lage in Deutschland seit 1936 merklich zu ruhr und Sachbeschädigung und gewissermaßen bessern begann, wurde auch hier die Zurück- legal stattfand. haltung aufgegeben. Nun schalteten sich auch die großen Banken und Versicherungen in die Neben der wirtschaftlichen Erholung infolge „Entjudung der deutschen Wirtschaft“ ein, und der rapiden Aufrüstung waren es vor allem die Finanzbehörden wurden zu den Zentralstel- die außenpolitischen Erfolge, die vor 1939 die len der staatlichen Konfiszierung des jüdischen Zustimmung zum NS-Regime und vor allem zu Eigentums. Hitler persönlich ansteigen ließen. Der Ein- marsch deutscher Truppen in das seit Kriegsen- Gegenüber öffentlichen Drangsalierungen der de entmilitarisierte Rheinland, der „Anschluss“ Juden verhielt sich die breite Bevölkerung indes Österreichs, die Inkorporation des sogenannten eher indifferent. Man profitierte womöglich von Sudetenlandes – all diese außenpolitischen der Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden, Coups liefen nach dem gleichen Muster ab: ein etwa wenn man auf den Platz eines jüdischen riskantes Vorpreschen Hitlers, die Angst vor Vorgesetzten aufrücken oder das Geschäft eines der Reaktion der Westmächte, dann die enorme jüdischen Konkurrenten übernehmen konnte. Aus Erleichterung, schließlich die unbändige Begeis- gewaltsamen Übergriffen versuchte man sich terung und eine Volksabstimmung, die mit 98 hingegen herauszuhalten. Das galt insbesonde- oder 99 Prozent Zustimmung endete. Die war re für die Pogrome des 9. November 1938, bei zwar manipuliert, kennzeichnete aber doch die denen Tausende von jüdischen Geschäften und Begeisterung in großen Teilen der Bevölkerung Wohnungen demoliert, Synagogen in Brand ge- über die erreichten Erfolge. setzt wurden und mehr als 100 Juden umkamen. Nahezu alle örtlichen Parteistellen in Deutsch- Der immer ausgedehntere Jubel, der Führerkult, land berichteten jedoch, dass die „Aktion in der die pompösen Aufmärsche und die Dauerpro- Bevölkerung weitgehend auf Unverständnis und paganda vermittelten den Eindruck, als stünde Ablehnung gestoßen sei. Die Gestapo Bielefeld das ganze Volk geeint hinter Hitler und seinem z.B. erhielt auf eine Rundfrage bei den örtlichen Staat – und diesen Eindruck wollte das Regime Polizeistellen ausschließlich negative Antworten: ja auch vermitteln. Tatsächlich war wohl ein Teil Das Vorgehen habe im Volke ‚Kopfschütteln und derer, die 1933 noch gegen Nazis und DNVP ge- eisiges Schweigen‘ hervorgerufen“, hieß es dort. stimmt hatten, angesichts der wirtschaftlichen „Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die und außenpolitischen Dauererfolge ins Lager Aktion gegen die Juden nicht verstanden und mit der Regimeanhänger gewechselt. Wichtiger war dem Hinweis verurteilt, daß Derartiges in einem noch, dass es das Regime verstand, eine Atmo- Kulturstaate nicht vorkommen dürfe“ – so der sphäre des dauernden Ausnahmezustandes zu einhellige Tenor.3 erzeugen, hervorgerufen durch die ständigen Großereignisse, bei denen sich Krisenangst und Als das Regime daraufhin die Form der anti- jubelnde Erleichterung abwechselten, wobei semitischen Politik modifizierte und statt der dem Führer, der diese Krisen vom Einmarsch im

2 Robert Ritter, Primitivität und Kriminalität, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 31 (1940), S. 198-210, hier S. 200 ff. 3 Antworten auf die Rundverfügung der Stapostelle Bielefeld, 14.11.1938, in: Otto D. Kulka u. Eberhard Jäckel (Hg.), Die Juden in den geheimen Stimmungs- berichten 1933-1945, Düsseldorf 2004, Nr. 357-370, S. 313-324.

AUFSÄTZE Rheinland bis zum Münchner Abkommen ja erst Das schlug sich zuerst in der deutschen Besat- hervorgerufen hatte, die Bewunderung und der zungspolitik in Polen nieder, die keine Grenzen Dank des Volkes zuflossen. der Gewaltsamkeit mehr kannte. Hitler hatte seinen Generälen von Beginn an verdeutlicht, Nach dem Münchner Abkommen allerdings und dass der Krieg gegen Polen nicht mit den bisher noch mehr nach dem Einmarsch deutscher bekannten Methoden geführt werde: „Vernich- Truppen in Prag im Frühjahr 1939 war zwar ein tung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseiti- weiteres Mal der Umschlag von ängstlicher gung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung Spannung zu erleichterter Begeisterung festzu- einer bestimmten Linie. [...] Herz verschlie- stellen, von Kriegsbegeisterung aber war im Volk ßen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill. nichts zu spüren. Die NS-Führung realisierte, Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre dass sie sich des Rückhaltes für ihre Kriegspo- Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere litik in der deutschen Bevölkerung nicht wirklich hat das Recht. Größte Härte.“5 Bereits in den sicher sein konnte: Die Deutschen wollten keinen ersten Wochen und Monaten des Krieges wurden Krieg. Das nahm das Regime zum Anlass, die Tausende von Polen von den Einsatzgruppen aus „Stimmung und Haltung“ der Bevölkerung ver- SS und Gestapo erschossen, insbesondere Politi- stärkt zu überwachen, um auf Unzufriedenheit ker, Intellektuelle, Geistliche. Über die jüdische oder Missstände rasch reagieren zu können – sei Bevölkerung Polens ergoss sich eine Welle von es mit Repressionen, sei es mit sozialpolitischen Verfolgung und Diskriminierungen. Zehntausende Rücksichtnahmen. Die Arbeiterstreiks vom Janu- wurden aus den westlichen Teilen des Landes ar 1918 waren noch in frischer Erinnerung. in das neu geschaffene „Generalgouvernement“ deportiert und dort in „Ghettos“ untergebracht. So reagierten die Deutschen im September 1939 Tausende von ihnen kamen dabei um. auf die Nachricht vom Kriegsbeginn eher be- drückt als begeistert. „Allgemein herrschte bei Für die deutsche Bevölkerung allerdings standen Kriegsausbruch furchtbare Angst“, notierte ein die Siegesmeldungen und die Erleichterung über Beobachter der Sopade aus Südwestdeutsch- das schnelle Ende des Krieges gegen Polen im land. „Auch kritische Geister seien unsicher in Vordergrund. Die deutsche Propaganda zeich- der Beurteilung der Kriegschancen für Deutsch- nete das Bild eines von verschlagenen Juden land. Hitler habe bis jetzt immer Erfolge gehabt beherrschten, primitiven und auf niedriger Zivili- und man könne nicht wissen, wie die Sache dies- sationsstufe stehenden Landes, das dem Deut- mal ausgehen werde.“ Wie schon bei den vorhe- schen Reich fortan als Kolonialgebiet zu dienen rigen militärischen Abenteuern wuchs jedoch die habe. In welchem Maße diese Propaganda sich Zuversicht, als sich die Siegesmeldungen mehr- in der deutschen Bevölkerung verfing, ist nicht ten: „Jetzt fürchtet man den Krieg nicht mehr. messbar. Zweifellos knüpfte sie an schon lange Er erscheint jetzt viel weniger schrecklich […]. bestehende antipolnische Ressentiments an. ‚Vielleicht gewinnen wir doch.’“4 Allerdings wurden nun Hunderttausende, dann Millionen polnischer Kriegsgefangener und Zivil- Der Krieg war das ureigenste Element des arbeiter ins Reich zur Arbeit gebracht, und mit Nationalsozialismus. Nun ging es endlich nicht ihnen etablierte das Regime auch im Reich eine mehr darum, gegensätzliche Interessen und strikte, nach rassischen Kriterien vorgenomme- die schwierige Organisation einer vielgestalti- ne Hierarchisierung. Die polnischen Zwangsar- gen modernen Industriegesellschaft mühevoll beiter mussten ein spezielles Abzeichen an der auszutarieren, sondern um Sieg oder Niederlage, Kleidung tragen, das signalisierte, dass es sich Triumph oder Untergang. Alles schien nun nur um Menschen minderen Rechtes handelte, die noch einem einzigen Ziel untergeordnet zu sein, länger arbeiten mussten, weniger verdienten als dem Sieg. Das vereinfachte alles und legitimierte die Deutschen und einem scharfen Polizeiregi- alles. Widersprüche, Einwände oder Vorbehalte ment unterworfen waren. Die Differenzierung waren nun obsolet, und in einer solchen Situation zwischen jenen, die zur deutschen Volksge- der existenziellen Bedrohung setzte sich in der meinschaft zählten, und jenen, für die das nicht Regel der radikalste Vorschlag durch. zutraf, wurde nirgends so deutlich und alltäglich spürbar wie beim „Ausländereinsatz“, dessen Höhepunkt im Sommer 1944 erreicht wurde, als

252 | 253 fast acht Millionen ausländische Zwangsarbeiter in diesem Ausmaße noch nie der Fall war. Vor im Reichsgebiet eingesetzt wurden, von de- dieser Größe verstummt aller Kleinmut und alle nen die meisten aus Polen und der Sowjetunion Nörgelei.“6 Auch die Militärs waren voller Be- stammten. Den nationalsozialistischen Behör- wunderung für Hitlers strategische Fähigkeiten, den bewies das Experiment des „Ausländer- hatte dieser doch gegen die Auffassung der einsatzes“, dem sie anfangs mit großer Skepsis meisten Generäle den Angriff über die Ardennen gegenübergestanden hatten, dass eine rassis- durchgesetzt. Mit jedem weiteren „Feldzug“ und tisch strukturierte Gesellschaft in Deutschland jedem neuerlichen Sieg wuchs die Zuversicht, tatsächlich funktionierte. und selbst ein kritischer Geist wie der Historiker Friedrich Meinecke schrieb begeistert: „Freude, Die Radikalisierung des Regimes bei Kriegsbe- Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen ginn schlug aber auch auf die Deutschen selbst zunächst auch für mich dominieren. Und Straß- zurück. Im Oktober 1939 ordnete Hitler in einem burgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das auf den 1. September zurückdatierten Führerer- Herz nicht schlagen. Es war doch eine erstaunli- lass die Aussonderung und Ermordung Zehntau- che, und wohl die größte positive Leistung des 3. sender psychisch Kranker an. Daraufhin wurden Reiches, in vier Jahren ein solches Millionenheer alle Anstalten für geistig Behinderte im Reich neu aufzubauen und zu solchen Leistungen zu systematisch nach Insassen durchforscht, deren befähigen.“7 Zustand als erblich bedingt angesehen wurde. Die so ausgesuchten Patienten wurden in eine Dieser Enthusiasmus wurde jedoch vor allem der sechs dazu bestimmten Krankenanstalten durch zwei Faktoren beeinträchtigt: Zum einen transportiert und dort in Gaskammern umge- gelang es der deutschen Luftwaffe nicht, die bracht. Die meist nichts ahnenden Angehörigen britische Royal Air Force zu besiegen, die nach erhielten eine Mitteilung über den Tod ihrer der „Luftschlacht um England“ nun ihrerseits Verwandten sowie eine Urne mit Asche. Bis zum damit begann, deutsche Städte anzugreifen. August 1941 wurden insgesamt 70.273 Behin- Das war für die deutsche Bevölkerung eine neue derte im Rahmen dieser sogenannten Erfahrung, denn zwischen 1914 und 1918 hatte ermordet. Damit war nicht nur eine weitere Stufe der Krieg deutsches Territorium bis auf kleinere der Eskalation der Gewalt erreicht: Der natio- Ausnahmen nicht erreicht. Die Luftangriffe nalsozialistische Staat hatte damit begonnen, wurden fortan in immer stärkerem Maße zur Tausende seiner Bürger zu ermorden – ein in der Bedrohung und begannen ab 1942, die Siegeszu- Geschichte außerhalb von Bürgerkriegen bis versicht der Deutschen und auch ihr Vertrauen dahin präzedenzloser Vorgang. in das NS-Regime und die militärische Stärke der Wehrmacht zu unterminieren. Mit dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940 veränderten sich die Ausgangsbedingungen. Zum anderen war die soziale Lage der Bevöl- Jubel und Erleichterung in Deutschland waren so kerung von Kriegsbeginn an ein steter Stein außerordentlich, dass alle Beschwernisse und des Anstoßes. Zwar war der Lebensstandard Unzufriedenheiten für eine Zeit zurückstanden. in Deutschland bereits in den Vorkriegsjahren Das Trauma der Niederlage von 1918 war über- niedriger gewesen als in Westeuropa oder gar wunden, und nie vorher und nie danach war die den USA. Nachdem sich aber die Lage seit Mitte Zustimmung zu Hitler in der Bevölkerung so stark der 1930er Jahre infolge der Rüstungskonjunktur und einhellig wie in der Situation im Sommer gebessert hatte, führten die bei Kriegsbeginn 1940. In einem Bericht aus Augsburg hieß es: verkündeten Lohnkürzungen und Arbeitszeitver- „Die ganze Nation ist nun von einem so gläubigen längerungen zu erheblicher Unruhe in der Be- Vertrauen zum Führer erfüllt, wie dies vielleicht völkerung. Die Hoffnung der Regimeführung, der

4 Sopade-Berichte, August – Oktober 1939, S. 975-983. 5 Hitler zu den Befehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939, Mitschrift eines Teilnehmers, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP), Serie D: 1937-1941, Bd. 7, Baden-Baden 1956, S. 172. 6 Bericht des Kreisleiters von Augsburg, 9.7.1940, zit. n. Ian Kershaw, Hitler, Bd. 2: 1936-1945, Stuttgart 2000, S. 407. 7 Friedrich Meinecke an Siegfried A. Kaehler, 4.7.1940, in: Hans Herzfeld (Hg.), Friedrich Meinecke, Werke, Stuttgart 1957-1979, Bd. 6, S. 363 f., hier S. 364.

AUFSÄTZE Beginn des Krieges und die Appelle an den Patrio- Die Kürzungen wurden daraufhin wieder rück- tismus würden Unmutsreaktionen in der Bevölke- gängig gemacht. Nichts beunruhigte die Regi- rung dämpfen, erwies sich aber als Fehlspekula- meführung so sehr wie aufkommende Unzu- tion, sodass sich das Regime gezwungen sah, die friedenheit in der deutschen Bevölkerung. Das Einschränkungen alsbald wieder aufzuheben. „Trauma“ der Streiks von 1918 wirkte hier nach, und die Behörden taten alles, um eine Wieder- Von der Nachricht über den Beginn des Krieges holung einer solchen inneren Destabilisierung zu gegen die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die vermeiden. Hermann Göring, der die Rücknahme meisten Deutschen völlig überrascht. Anders als der Rationenkürzungen bekannt gab, wies denn im September 1939 und bei den anderen „Feld- auch darauf hin, dass die Wehrmacht nun so zügen“ reagierten sie nicht nur mit Bestürzung große Gebiete in der Sowjetunion erobert habe, und Angst, sondern mit Entsetzen. Nachdem man dass es zu Einschränkungen bei der Lebensmit- nach dem Einmarsch in Paris im Grunde schon telversorgung in Deutschland nie mehr kommen an das Ende des Krieges geglaubt hatte, be- werde: „Zuerst und vor allem in der Stillung des fürchteten nun selbst die ganz Hitlertreuen eine Hungers und der Ernährung kommt das deutsche um Jahre verlängerte Dauer des Krieges. Sehr Volk. […] Wenn aber durch Maßnahmen des Geg- populär wurden jetzt die historischen Vergleiche ners Schwierigkeiten in der Ernährung auftreten, mit Napoleons Niederlage in Russland. Und an- dann sollen es alle wissen: Wenn gehungert wird, ders als bei den „Feldzügen“ zuvor ebbte die sor- in Deutschland auf keinen Fall!“10 Offen spielte genvolle Stimmung auch nicht ab, als im Sommer Göring hier auf den Zusammenhang zwischen 1941 die ersten großen Siege an der Ostfront ge- der Versorgungslage im Reich und der deutschen meldet wurden. Das Frontgeschehen wurde nun Strategie in der Sowjetunion an, wo die Zivilbe- noch aufmerksamer verfolgt, und die Sorge um völkerung und die sowjetischen Kriegsgefange- die eigenen Angehörigen, die im Osten kämpften, nen millionenfach dem Hungertod preisgegeben rückte in den Mittelpunkt des Interesses. Das wurden, um die Wehrmacht und die deutsche Eintreffen von Lazarettzügen in Deutschland Bevölkerung zu versorgen. etwa erregte große Aufmerksamkeit. Die Zahl der Gefallenen und Verwundeten nahm rapide zu. Dass die Kriegsführung im Osten eine andere Der Krieg hatte nichts „Unwirkliches“ mehr. war als die im Westen, war jedem Deutschen bekannt, der auch nur eine einzige Hitlerrede im Neben den Meldungen von der Front galt die Radio gehört hatte. Die Wehrmacht, so der Ein- Hauptsorge in der Bevölkerung den Fragen der druck, den man in Deutschland durch Zeitungen Lebensmittelversorgung, denn die Erinnerun- und Wochenschau, aber auch durch die Berichte gen an die Hungerwinter im Ersten Weltkrieg der Fronturlauber erhielt, war hier von einem waren noch frisch. Die Berichte der Exil-SPD unzivilisierten Gegner zu einer barbarischen meldeten, dass man im Land nun „viel mehr von Kriegsführung gezwungen, über die man besser Ernährungsfragen spricht als von der Politik. keine Einzelheiten erfuhr. Das galt in Sonderheit Jeder ist von der Sorge gehetzt, wie komme für die Besatzungspolitik in der Sowjetunion, ich zu meiner Ration?“8 Als im Frühjahr 1942 über die höchstens insoweit geschrieben und Rationenkürzungen bekannt gegeben wurden, gesprochen wurde, als man überzeugt war, dass schien die Stimmung erstmals zu kippen. Die- die hier eroberten riesigen Gebiete nach Zivilisie- se Maßnahmen, berichtete der innenpolitische rung und Kolonialisierung durch die Deutschen Geheimdienst der SS, der (SD), geradezu verlangten. Die propagandistischen habe „auf einen großen Teil der Bevölkerung Zerrbilder von den „Russen“ als unzivilisierte geradezu ‚niederschmetternd‘ gewirkt, und zwar Wilde wurden dann zwar durch die Millionen von in einem Ausmaße wie kaum ein anderes Ereignis Zwangsarbeitern, die aus der Sowjetunion nach während des Krieges“. Die Stimmung in diesen Deutschland gebracht wurden, zumindest in Bevölkerungskreisen sei „auf einem im Verlauf Frage gestellt, waren aber wirksam genug, um des Krieges bisher noch nicht erreichten Tief- über das Vorgehen der deutschen Besatzungs- stand angelangt. Die militärischen Meldungen truppen im Osten gar nichts Näheres wissen zu der letzten Tage wurden durch die Bekanntgabe wollen: Krieg ist Krieg. der Lebensmittelkürzungen vollkommen in den Hintergrund gedrängt.“9

254 | 255 Anders verhielt es sich mit der Verfolgung der se auf Massenerschießungen von Juden und auf Juden. Schon die Zwangsdeportationen aus Tötungen mit Gas verbreiteten sich rasch. den deutschen Städten seit Herbst 1941 waren ebenso wie die Versteigerung des Besitzes der Um aber die vielen einzelnen Informationen zu Deportierten in aller Öffentlichkeit durchge- einem Gesamtbild zusammenzusetzen, bedurfte führt worden. Überall hingen ja Plakate mit der es eines besonderen Interesses, darüber mehr Aufschrift: „Die Juden sind unser Unglück.“ Ein zu erfahren. Wer ein solches Interesse besaß, Teil der Deutschen begrüßte die Deportationen, konnte bereits seit Herbst 1942 über das Ge- etwa als die Juden in Kolonnen durch die einzel- schehen in Osteuropa recht genaue Kenntnisse nen Ortschaften zum Bahnhof gebracht wurden, erlangen und auch die Größenordnungen des nicht selten begleitet von johlenden Kindern und Massenmordes erahnen. Aber das taten nur Jugendlichen. Das war vermutlich eine Minder- wenige, wohl auch, weil die Gerüchte darüber heit, aber eine lautstarke. Der weitaus größte so furchtbar waren, dass es leichter war, sie zu Teil der Bevölkerung verhielt sich gegenüber den verdrängen oder sie für unglaubwürdig zu halten. Deportationen zurückhaltend und reagierte gar Wenn man jedoch bedenkt, dass in den deut- nicht. Angesichts des Krieges und der riesigen schen zivilen und militärischen Besatzungs- Opferzahlen an der Front, angesichts der Bom- verwaltungen in Europa mehrere Zehntausend benangriffe auf die deutschen Städte und der Menschen mit den Deportationen und der Er- nach wie vor schwierigen Versorgungslage war mordung der Juden direkt oder indirekt beschäf- das Interesse am Schicksal der Juden, von de- tigt waren, so ist die Vorstellung, es habe sich nen im Sommer 1941 ja nur noch etwa 130.000 in hierbei um ein nur von wenigen Auserwählten Deutschland lebten, offenkundig sehr gering. geteiltes Geheimnis gehandelt, einigermaßen abwegig. Jedoch war die Hinschlachtung von Allerdings waren die führenden Nationalsozialis- Tausenden und Zehntausenden Juden, überwie- ten mit Äußerungen über den Judenmord durch- gend Kindern, Frauen und Alten, bereits während aus nicht so zurückhaltend, wie man später des Krieges mit einer Aura des Unheimlichen und vermuten mochte. Reichspropagandaminister Furchtbaren verbunden, über das man besser Joseph Goebbels etwa schrieb am 16. Novem- schwieg oder das man verdrängte. ber 1941, als in Berlin die Entscheidungen über das Schicksal der europäischen Juden gefällt Die Hauptsorge der meisten Deutschen galt wurden, in der Wochenzeitung Das Reich einen hingegen während des Krieges dem eigenen Leitartikel mit der Überschrift „Die Juden sind Fortkommen und dem Bestreben, das nach Jahr- schuld“ und bezog sich darin auf Hitlers „Pro- zehnten der Entbehrungen nun endlich erreichte phezeiung“ im Reichstag am 30. Januar 1939, „normale“ Leben mit Arbeitsplatz, festem Ein- als der gedroht hatte, dass ein erneuter Welt- kommen und einer gewissen Zuversicht festzu- krieg zur „Vernichtung der jüdischen Rasse in halten und sich nicht durch die Begleitumstände Europa“ führen werde. Goebbels schrieb dazu: des Krieges zerstören zu lassen. Die Zahl der „Wir erleben eben den Vollzug dieser Prophezei- Urlaubsreisen nahm weiter zu, die Kurorte und ung, und es erfüllt sich damit an den Juden ein Seebäder meldeten hohe Zuwachsraten. Restau- Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient rants und Bars waren voll, Tanzvergnügen und ist […]. Das Weltjudentum erleidet nun einen Revuen ausverkauft. Den Krieg verdrängte man, allmählichen Vernichtungsprozeß, den es uns zu- so gut es ging. gedacht hatte.“11 Seit Ende 1941 wurde dann der Strom der Information über die Geschehnisse Seit der Jahreswende 1942/43 aber begann die in der Sowjetunion breiter, insbesondere durch Stimmung der deutschen Bevölkerung allmäh- Berichte der Fronturlauber. Vor allem die Hinwei- lich umzuschlagen – die immer gravierenderen

8 Sopade-Berichte, August – Oktober 1939, S. 975-983; Januar 1940, S. 29 f. 9 Hein Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 1938-1945, Herrsching 1984, Bd. 9, 23.3.1942, S. 3505. 10 Rede Hermann Görings, 4.10.1942, abgedr. in: Götz Aly (Hg.), Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Bonn 2006, S. 149–194, hier S. 155. 11 Joseph Goebbels, „Die Juden sind schuld!“, in: Das Reich, 16.11.1941.

AUFSÄTZE Bombenangriffe sowie die Rückschläge an der der Bevölkerung während des Krieges mehr und Ostfront, vor allem in Stalingrad, ließen die mehr ihren Bezug zu den sozialen, politischen Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende geringer und zum Teil auch regionalen Zugehörigkeiten. werden. So reduzierte sich die soziale Wahrneh- Das hatte viele Ursachen: die fortschreitende mung der Deutschen immer stärker allein auf die Zerstörung der Wohnviertel in den Städten, die eigene Existenz, auf das eigene Überleben und Umwälzung der Belegschaften durch Einberu- das der Männer, Brüder und Väter an der Front. fungen zum Militär und Ausländereinsatz, der „Die Einstellung eines Großteils der Bevölke- jahrelange Kriegseinsatz der Männer in sozial rung“, resümierte der SD zum dritten Jahrestag durchmischten Wehrmachtseinheiten, Dienst- des Kriegsbeginns im Herbst 1942, sei „vielfach verpflichtungen und Evakuierungen der Frauen durch eine gewisse Resignation gekennzeichnet, und auch die Rationierung des Mangels. Die Bin- die teilweise sogar in stärkerem Maße Anzeichen dung an die Klasse und das Sozialmilieu, denen einer Kriegsmüdigkeit zeigt. Die zunehmenden man zugehörte, verlor dabei nicht völlig, aber Versorgungsschwierigkeiten, drei Jahre Ein- doch zunehmend an Bedeutung. Stattdessen schränkungen auf allen Gebieten des täglichen formten sich Schicksalsgemeinschaften, deren Lebens, die an Heftigkeit und Umfang ständig Ergehen von geografischen, militärischen, politi- zunehmenden feindlichen Luftangriffe, die Sorge schen Faktoren abhängig war, und nicht zuletzt um das Leben der Angehörigen an der Front“ vom Zufall. seien Faktoren, die „immer mehr den Wunsch nach einem baldigen Kriegsende auftreten las- Das NS-Regime reagierte auf Bedrohungsla- sen“.12 gen seit der Niederlage in Stalingrad mit der weiteren Erhöhung der Kriegsproduktion, mit Das konnte gleichwohl mit fortgeltenden Hoff- Kampagnen zur „Totalisierung“ des Krieges und nungen auf „Vergeltung“ und „Endsieg“ durch- mit einer spürbaren Verschärfung der Unter- aus einhergehen. Zwar verzeichnete der SD in drückungspolitik auch in Deutschland. Die Zahl wachsendem Maße kritische Bemerkungen über der Bestrafungen von „Defätisten“ und „Mies- das Nazi-Regime und seine Funktionäre. Der machern“ nahm seit 1943 deutlich zu. Die Zahl Führer-Mythos aber war noch wirksam; Hitler der Todesurteile vervielfachte sich – von 926 trauten die Deutschen nach wie vor beinahe im Jahre 1941 auf 5.336 im Jahre 1943.14 Schon alles zu. Auch die von der deutschen Propagan- wegen kritischer Bemerkungen über das Regime da systematisch geförderte Angst vor der Roten oder skeptischer Äußerungen über den Kriegs- Armee band viele noch stärker an das Regime, verlauf wurden nun viele Menschen zum Tode „Kraft durch Furcht“ wurde das halb spöttisch, verurteilt. Zwar waren auch weiterhin mehr als halb ernst genannt. Sehr auffällig war dabei, wie drei Viertel aller Aktivitäten der Gestapo gegen oft in der Bevölkerung darüber spekuliert wurde, die ausländischen Zwangsarbeiter gerichtet, in dass „die Terrorangriffe eine Auswirkung der denen man in zunehmendem Maße eine Gefahr durchgeführten Maßnahmen gegen die Juden“ für die innere Sicherheit sah. Aber spätestens seien und dass, „wenn wir die Juden nicht so seit Mitte 1943 war der Terror des Regimes auch schlecht behandelt hätten, wir unter den Terror- in der deutschen Bevölkerung wieder sehr deut- angriffen nicht so leiden müßten“. Solche Hin- lich spürbar. weise deuten noch auf eine andere Quelle der Loyalität: auf das Wissen oder doch die dumpfe Im Osten wurde die deutsche Zivilbevölkerung Ahnung von dem, was „im Osten“ geschah, auf Opfer der verheerenden Vergeltungswut der die Befürchtung, nun dafür mitverantwortlich sowjetischen Truppen, die fast zwei Jahre lang gemacht zu werden – und auf die Überzeugung, mehr als 1.500 km durch die zuvor von der hinter den Kriegsgegnern Deutschlands steckten Wehrmacht besetzten und auf dem Rückzug doch irgendwie die Juden.13 weitgehend zerstörten westlichen Gebiete der Sowjetunion marschiert waren und nun, als sie So traten bei vielen Deutschen Kriegsmüdigkeit die deutsche Grenze in Ostpreußen überschrit- und zunehmende Entpolitisierung einerseits, ten, ein unzerstörtes, reiches Land betraten und „Kraft durch Furcht“ und Führervertrauen Rache an den Deutschen nahmen. Überall in Eu- andererseits gleichermaßen und gleichzeitig ropa flüchteten die Deutschen ins Reichsgebiet – auf. Dabei verloren Einstellungen und Verhalten aus der Slowakei, aus Kroatien und Jugoslawien,

256 | 257 aus Rumänien; dann vor allem aus den östlichen rückwärtige Konzentrationslager gebracht wer- Regionen Deutschlands. Ein monate-, zum Teil den sollten. So mussten sich Zehntausende von jahrelang dauernder Exodus setzte ein, insge- Häftlingen in Fußmärschen und auf Bahntrans- samt mussten etwa 13 Millionen Deutsche ihre porten so schnell wie möglich ins Reichsinnere Heimat verlassen. Die Zahl der dabei Umgekom- bewegen. Mehr als die Hälfte der evakuierten menen ist schwer zu ermitteln, liegt aber nicht Häftlinge kam bei diesen Todesmärschen ums unter einer Million. Leben, sei es durch Ermordung oder durch Er- schöpfung und Krankheiten. Der Zerfall des Führerstaates in der letzten Kriegsphase ging mit der Dezentralisierung Die Gewalt war von Beginn an das Kennzeichen der Entscheidungskompetenzen und verstärk- des NS-Staates, und mit dem Krieg waren alle ter Willkür einher. Die Gewalt durch Gestapo, noch hemmenden Gegenkräfte weggefallen. NS-Aktivisten oder sogar durch Trupps von Der zehntausendfache Mord an Behinderten in Hitlerjungen wurde nun zur jederzeit spürbaren Deutschland hatte bereits früh und nahezu öf- und für die Einzelnen kaum noch berechenbaren fentlich die Bereitschaft des Regimes zu staatli- Bedrohung. Das galt für Soldaten wie für Zivi- chem Massenmord offenbart. Die Umsiedlungs- listen und beschränkte sich nicht mehr auf den politik in Polen, die Verfolgung der Juden in ganz Kreis der „Gemeinschaftsfremden“ oder der Europa, die kolonialistische Vernichtungs- und politischen Gegner wie noch Monate zuvor. Aber Hungerpolitik in der Sowjetunion, schließlich die auch die Zahl derer, die sich berechtigt sahen, Ingangsetzung des Genozids an den europä- den Durchhalteterror auszuüben, erhöhte sich ischen Juden bezeichnen die Stationen einer dramatisch. In den letzten Kriegsmonaten und Mordpolitik, die alle bisher gekannten Dimensi- -wochen wurden überall fliegende Standgerich- onen überstieg. Dabei entwickelte sich eine Art te aufgestellt, die der Desertion verdächtige von Komplizenschaft zwischen der NS-Führung Soldaten ohne lange Beweisführung öffentlich und Teilen der deutschen Bevölkerung, die sich erhängen ließen. Zivilisten, die beim Herannahen aus dieser Verbindung bis zum Schluss nicht fremder Truppen etwa die Kapitulation ihres lösen konnte. Das Ausmaß der Zerstörung, die Ortes forderten oder auch nur Zweifel am End- Zahl der Ermordeten und Gefallenen, der Ver- sieg äußerten, wurden hingerichtet – mit einem stümmelten und Verwundeten, der Unbehausten, Pappschild um den Hals, auf dem stand: „Wegen der Flüchtlinge, der Waisen am Ende des Krieges Feigheit zum Tode verurteilt.“15 war historisch ohne Beispiel. Europa war vom Atlantik bis zur Krim zu großen Teilen verwüstet. In ganz Deutschland kam es in den letzten Am Ende fiel das Inferno der Gewalt auch auf die Kriegswochen zu Massakern an ausländischen Deutschen selbst zurück. Zwangsarbeitern – wegen tatsächlicher oder vermuteter Plünderungen oder als „Rache“ für die Bombardierung deutscher Städte. Oft Ulrich Herbert aber trat hier auch ein Habitus der Apokalypse Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg hervor: Wenn man schon selbst unterging, wollte man vorher noch so viele „Feinde“ töten, wie man nur konnte, und seien es wehrlose „Ost- arbeiter“. Am schrecklichsten aber traf es die KZ-Häftlinge. Im Januar 1945 waren mehr als 700.000 Häftlinge registriert, von denen ein Großteil angesichts der nahenden Fronten in

12 Boberach, Meldungen, Bd. 11, 3.9.1942, S. 4164. 13 Berichte des NSDAP-Kreisschulungsamts Rothenburg/T., 22.10.1943, und der SD-Außenstelle Schweinfurt, o.D., 1944, in: Kulka u. Jäckel (Hg.), Juden, S. 532, S. 537. 14 Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006, S. 195-239, S. 451. 15 Himmler, 3.4.1945, zit. n. Elisabeth Kohlhaas, „Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen.“ Durchhalte- terror und Gewalt gegen Zivilisten am Kriegsende 1945, in: Cord Arendes, Edgar Wolfrum u. Jörg Zedler (Hg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006, S. 51-79, hier S. 65.

AUFSÄTZE Nach der Zeitgenossenschaft Norbert Frei

Seit der Befreiung des Konzentrationslagers erinnern und an denen der Opfer gedacht wird: Buchenwald und dem Ende der NS-Herrschaft Es galt zu verstehen und zu akzeptieren, dass ist ein Menschenalter vergangen, und mittler- die Zeit der Zeitgenossenschaft unausweichlich weile wächst die dritte Generation heran, die zu Ende geht; dass es bald schon kaum noch das „Dritte Reich“ nur als Geschichte kennt. Auf Menschen geben wird, die aus bewusster per- den ersten Blick mag diese Feststellung banal sönlicher Erfahrung Zeugnis ablegen können von erscheinen, auf den zweiten jedoch verweist sie alledem, was im „Dritten Reich“ geschehen ist. ganz unmittelbar auf die Herausforderungen, vor denen Geschichtswissenschaft und Gedenkstät- Die Jüngsten derer, die den Terror von Buchen- tenarbeit heute stehen. wald am eigenen Leib durchlitten haben, stehen in ihrem achten Lebensjahrzehnt. Nicht zuletzt Was folgte daraus für das Vorhaben einer neuen aus den Reihen dieser ehemaligen Häftlinge und Dauerausstellung im ehemaligen Kammergebäu- ihrer Verbände, die sich seit langem unermüd- de, das der Direktor der Stiftung Gedenkstätten lich in der Gedenkstätte engagieren, kam der Buchenwald und Mittelbau-Dora im Einver- Wunsch, ja die Erwartung, die neue Daueraus- nehmen und in ständigem Austausch mit dem stellung werde mit Blick auf die Kinder des neuen Wissenschaftlichen Kuratorium und dem Häft- Jahrhunderts konzipiert. In diesem Sinne hat lingsbeirat seit 2010/11 auf den Weg gebracht das Wissenschaftliche Kuratorium der Stiftung hat? Im Kern vor allem eines: Die Ausstellung die Arbeit der Ausstellungsmacher beraten und würde die Geschichte des Konzentrationslagers begleitet. Buchenwald für die Zeit nach der Zeitgenossen- schaft begreifbar machen müssen. Sie würde Ein zentrales Prinzip der Neukonzeption ist die Voraussetzungen dafür zu schaffen haben, die systematische zeitgeschichtliche Kontex- dass ein historisch gewordenes Geschehen sich tualisierung der Entwicklung des Lagers. Das auch Besucherinnen und Besuchern erschließt, nimmt die wachsende Distanz zum historischen deren geschichtliches Wissen und Geschichts- Geschehen und den damit verbundenen gesell- bewusstsein vielleicht wenig ausgeprägt ist, die schaftlichen Verlust von Kontextwissen auf und ohne strukturierte Vorkenntnisse in die Gedenk- versucht, beides im Sinne neuer Frageperspek- stätte kommen und die mit der Zeit des Natio- tiven produktiv zu machen: Die Ereignisse im KZ nalsozialismus nur mehr wenig oder gar nichts Buchenwald und seinen zahlreichen Außenla- verbindet – sei es, weil die Familienerzählung gern, die Erfahrungen der Häftlinge, das Ver- bereits vor ein oder zwei Generationen abgebro- halten der Wachmannschaften, aber auch der chen ist, sei es, weil es sie nie gegeben hat oder alltägliche Lagerbetrieb und die Planungen der geben konnte. SS-Führung werden stärker als bisher in ihren gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang Anders als anfangs noch vermutet oder er- und in ihre regionalen Bezüge gestellt. Damit hofft, bestand die Aufgabe in den letzten Jahren greift die Ausstellung Erkenntnisse der erst im also nicht in der bloßen „Renovierung“ der seit Laufe der 1990er Jahre intensiver gewordenen 1995 gezeigten Ausstellung. Es ging nicht nur empirischen Konzentrationslagerforschung auf; um Ergänzung und Überarbeitung, nicht allein insbesondere korrigiert sie ältere Deutungen, um die Präsentation damals noch unbekannter wonach der gewöhnliche „Volksgenosse“ zwar oder erst in letzter Zeit zugänglich gewordener von der Existenz der Lager, aber kaum etwas Quellen, auch nicht nur um die Einbeziehung über die konkreten Vorgänge in ihrem Innern ge- neuer Forschungsergebnisse und -perspekti- wusst habe. Solche Erklärungen kamen den apo- ven. Am Ende ging es um die Realisierung eines logetischen Bedürfnissen der beiden deutschen Paradigmenwechsels. Dieser trifft Buchenwald Nachkriegsgesellschaften entgegen, finden in nicht anders als andere historische Orte und Ge- den vielfach überlieferten sozial- und alltagsge- denkstätten, die an die Verbrechen der NS-Zeit schichtlichen Quellen jedoch keine Bestätigung.

258 | 259 Im Gegenteil verdeutlicht die neue Daueraus- Auch deshalb wäre es verfehlt, im gesellschaftli- stellung anhand eindrücklicher Beispiele und chen Beziehungsgeflecht der Lager nur Täter und Exponate – darunter die in der Lagerschreinerei Opfer ausmachen zu wollen. Selbst die von Raul nachgebauten Schiller-Möbel – das dichte Be- Hilberg in die Holocaust-Forschung eingeführte ziehungsgeflecht zwischen Weimar und Buchen- Kategorie der „Zuschauer“ (Bystander) greift zu wald. Das Lager auf dem Berg und die Stadt im kurz, weil sie die soziale Dynamik und Faszina- Tal: Die Nachbarschaft war nicht nur topogra- tionskraft eines Regimes nicht erfasst, das im fisch eng, und anders als lange behauptet wurde, Verlauf seiner Herrschaft mannigfach Anlässe beschädigte das KZ auch keineswegs den ins bot, aus Unbeteiligten partiell Mitwirkende und Völkisch-Chauvinistische gewendeten Ruf der aus distanzierten Beobachtern dankbare Profi- Stadt der deutschen Klassik. Viele ihrer Bürger teure zu machen. Dass bei alledem ein zentrales profitierten von dem zusätzlichen Wirtschafts- Funktionsprinzip moderner Industriegesell- aufkommen. Heute würde man sagen: Buchen- schaften erhalten blieb – die Arbeitsteiligkeit –, wald war ein Standortfaktor für die gesamte erleichterte es vielen Deutschen, ein Stück des Region. verbrecherischen Weges mitzugehen und im Prozess der „Vernichtungsarbeit“ einen Beitrag Im Sinne einer historischen Forschung, die die zu leisten. komplizierte soziale Realität des „Dritten Rei- ches“ nicht hinter bequemen Formeln versteckt, Die fortbestehende Aktualität der hier nur sucht die neue Ausstellung schließlich die allzu skizzierten Perspektiven auf ein inzwischen einfache Dichotomie von Tätern und Opfern zu historisch gewordenes Geschehen bedarf keiner überwinden. Dies selbstredend nicht, um die Tä- Erläuterung, zumal nicht vor dem Hintergrund ter zu schonen oder die Verbrechen zu relativie- des „Schwurs von Buchenwald“, den die alt ren. Auch nicht um Überhöhung der Opfer geht gewordenen Überlebenden des Lagers aus An- es, sondern darum, ihnen in ihrer Ausgesetztheit lass des 70. Jahrestags ihrer Befreiung in einer Respekt und Mitgefühl zu erweisen, ihre Not eindrucksvollen Zeremonie erneuerten. Aus den und ihr Bedrängnis begreiflich werden zu lassen intensiven, vertrauensvollen Gesprächen mit – und sie im Kontext der menschenverachten- ihren Repräsentanten – zu nennen sind hier in den Perfidie eines Terrorsystems zu verstehen, erster Linie M. Floréal Barrier, der im Oktober das mitunter sogar Geschundene zu Schindern 2015 verstorbene langjährige Vorsitzende des werden ließ. Häftlingsbeirats KZ Buchenwald, und M. Bertrand Herz, der Präsident des Comité International Der erbarmungslose Rassismus des NS-Regimes Buchenwald-Dora et Kommandos – weiß ich, blieb nicht auf die Konzentrations- und Ver- dass der kritisch-aufklärerische Impuls, der nichtungslager beschränkt, aber an Orten wie auch die neue Dauerausstellung kennzeichnet, in Buchenwald erwies sich seine tödliche Konse- ihrem Sinne ist. quenz. Doch das heißt nicht, dass eine Mehrheit der Deutschen sich daran gestoßen hätte. Ge- wiss, der unverhüllte Terror, mit dem die Nati- Norbert Frei onalsozialisten 1933/34 gegen ihre politischen Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Gegner – und die Juden – vorgingen, wirkte auf Vorsitzender des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Stiftung manchen irritierend, und mehr noch wuchsen Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die Zweifel eine Dekade später angesichts der sich abzeichnenden Niederlage; über die längs- te Zeit seiner Existenz aber fühlten sich die meisten Deutschen im nationalsozialistischen „Führerstaat“ gut aufgehoben. Diese soziale Attraktivität des Regimes muss in Rechnung stellen, wer die notorische Bereitschaft vieler „Volksgenossen“ verstehen will, über die tagtäg- liche Inhumanität gegenüber den sogenannten Gemeinschaftsfremden hinwegzusehen oder ihr sogar zu applaudieren.

NACHWORT Quellenverzeichnis

Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora hat sich intensiv bemüht, die Inhaber von Bild- und Nutzungsrechten zu ermitteln. Sollten im Einzelfall Rechte nicht abgeklärt sein, so wird um Kontaktaufnahme gebeten.

Bernd Ahnicke; S. 68 rechts unten Emil-von-Behring-Bibliothek, Phillips-Universität Familie Anesetti; S. 109 oben Marburg; S. 63 links Mitte AP/Wide World Photos, New York; Encyklopedia wiedzy Kos´ciele katolickim na S. 152 unten, 174 l sku; S. 74 rechts oben Marlis Apitz; S. 94 rechts unten Fédération Nationale des Déportés et Internés Archiv der sozialen Demokratie/Friedrich- Résistants et Patriotes, Paris; S. 168 links, 217 Ebert-Stiftung, Bonn; S. 27 rechts unten, Filmarchiv Austria; S. 43 unten 36 unten Fonds Photographique Knall-Demars, Paris; Archives d’histoire contemporaines, Centre S. 38 rechts d’histoire de Sciences Po, Paris; S. 165 links Familie da Fonseca-Wollheim; S. 134 links Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich; Hanns-Peter Frentz; S. 116 S. 151 oben Frihedsmuseet København; S. 133 rechts Archives municipale de Saint-Claude; Georg Naftali Fürst; S. 83 rechts unten, 162 links S. 106 oben Familie Gauger; S. 75 oben Association Française Buchenwald-Dora, Paris; Gedenkstätte Buchenwald; S. 14, 19 oben, S. 181 oben 20 oben, 21 unten, 24 links oben, 31, 32 oben, Bauhaus-Archiv, Berlin; S. 39 links unten 33 links, 35 links, 36 links oben, 37 rechts, Constantin Beyer, Weimar; S. 119 Beyer-Fotos, 39 rechts unten, 46 unten, 47, 48 rechts S. 218 unten, 49 unten, 51 links oben und rechts Familie Bigo; S. 130 links unten, 54, 56, 59 oben, 60, 62, 63 oben, 67, bpk, Berlin; S. 167 rechts oben 70 Mitte und unten, 73 Mitte, 77 rechts und Gonnecke Botmann-Robert; S. 177 unten unten, 83 links, 84, 85 Mitte und unten, 89, Familie Brusselairs; S. 93 unten, 163 unten 92 rechts, 94 Mitte, 95, 98, 100, 107 oben, Bundesarchiv/Bildarchiv; S. 28 oben, 37 Mitte, 108, 122, 123 oben, 124, 126, 128, 129, 64, 104, 165 rechts, 167 unten, 168 Mitte 130 rechts, 131 Mitte, 132 links oben, Bundesarchiv Berlin; S. 28 unten, 29 oben, 133 Mitte, 136 rechts, 137, 138, 139 links 34 Mitte, 51 Mitte, 112, 1. und 2. von links, und Mitte, 143 oben und Mitte, 147, 148, 113 links, 176 oben 149 oben, 166 rechts, 170 oben, 171 links, Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg; 172, 173, 175, 176 unten, 178, 179, 181 Mitte S. 50 links, 208 und unten, 182, 187, 189, 193 unten, 194, Centre d’Études et de Documentation Guerre 195oben, links und unten, 207, 211 et Sociétes contemporaines, Bruxelles; Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin; S. 144, 150 unten, 152 oben S. 166 links oben Centropa, Wien; S. 139 rechts Gedenkstätte Mauthausen; S. 72 links Collège de France Archives, Paris; S. 163 rechts Gemeindearchiv Niederorschel; S. 168 links CTK Czech News Agency; S. 73 oben Ghetto Fighters House Archives; S. 164 Deutsche Dienststelle, Berlin; S. 113 rechts rechts oben Deutsches Historisches Museum, Berlin; S. 110 Udo Graupner; S. 35 rechts DIZ Stadtallendorf; S. 112, 2. von rechts Familie Hájková; S. 132 unten Dokumentationsarchiv des österreichischen Familie Hessel; S. 125 Widerstandes; S. 74 unten, 131 links, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; 151 rechts S. 73 unten Dokumentationsstelle Dresden; S. 66 Yvonne Hewitt-Berthin; S. 92 links, Agnieszka Dolecka; S. 170 unten 93 rechts oben Laura Hillmann; S. 76 Mitte

260 | 261 Historisches Archiv der Stadt Köln; S. 96, Familie Pickersgill; S. 167 links oben 119 rechts oben picture alliance/ANP; S. 74 links oben Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main; Éva Pusztai; S. 115 unten S. 63 links unten Raphaelsheim Heiligenstadt; S. 164 links oben ITS, Bad Arolsen; S. 21 oben, 29 unten, 53 unten, Thijs Rinsema; S. 133 links 99 unten, 109 unten, 111, 121, 127, 146, Robert Koch-Institut, Berlin; S. 63 rechts Mitte 147 oben, 150 oben, 153 unten Familie Roels; S. 145 Orit Kamir; S. 149 unten Artur Roth; S. 93 links oben Kazerne Dossin, Mechelen; S. 130 Mitte Josef Roth; S. 134 Mitte Klassik Stiftung Weimar; S. 70 unten Jelena Rother; S. 164 unten Familie Kosk; S. 105 Ottomar Rothmann; S. 89 Mitte Władysław Kożdoń; S. 72 rechts Ruhr Museum, Essen; S. 119 van Heekern-Fotos Kraewedtscheskij musei gorodskogo okruga, Sächsisches Staatsarchiv, Leipzig; S. 135 Mitte Sysran; S. 170 rechts Gilberto Salmoni; S. 163 oben Kulturamt der Stadt Dachau; S. 160 unten Familie Schieweg; S. 136 links Familie Kuznetsowa; S. 131 rechts Jörg Schumacher; S. 68 oben und links Familie Kvamme; S. 132 rechts Familie Semprún; S. 132 Mitte KZ-Gedenkstätte Flossenbürg; S. 18 Service historique de la Défense, Vincennes; KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora; S. 117, 156 S. 113 unten Landesarchiv Berlin; S. 36 rechts oben Staatsarchiv München; S. 34 rechts Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Staatsarchiv Nürnberg; S. 34 links, 65 oben Abt. Rheinland; S. 37 links, 136 unten Staatsbibliothek zu Berlin; S. 153 oben Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Stadtarchiv Meuselwitz; S. 118 oben Abt. Magdeburg; S. 29 Mitte Stadtarchiv Weimar; S. 71 links und 1. und Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, 2. von rechts Dresden; S. 115 oben Stadtmuseum Weimar; S. 16 Moreshet Archive, Givat Haviva; S. 161 Süddeutsche Zeitung Photo; S. 193 oben Musée de la Résistance et de la Déportation, The International Court of Justice, The Hague; Besançon; S. 51 links unten, 55, 61, S. 20 unten, 22, 23, 24 rechts oben und unten, 63 rechts unten, 70 oben, 82, 99 oben, 25, 27 oben, 32 unten, 44, 45 links, 46 oben, 101, 103, 106 unten, 120, 215, 216 49 oben, 50 rechts, 52, 53 oben und Mitte, Musée de la Résistance Nationale de 58 oben, 71, 2. von links, 75 unten, 210 Champigny-sur-Marn; S. 83 rechts oben, 169 Herbert Thiele; S. 94 oben Familie Nagengast; S. 135 rechts Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar; National Archives at College Park, Maryland; S. 17, 19 unten, 27 links unten, 33 rechts, S. 48 links unten, 112 rechts, 140, 142, 48 oben, 50 Mitte, 51 rechts oben, 59 Mitte, 151 unten, 155, 159 Mitte und unten, 177 oben, 65 unten, 102, 143 unten, 157, 212 183, 184, 186, 190, 191, 192, 220, 221 ullstein bild; S. 59 unten, 166 unten Naturhistorisches Museum Wien; S. 42, United States Holocaust Memorial Museum, 43 oben, 45 rechts Washington; S. 40, 58 unten, 69, 159 oben, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln; 160 oben, 162 rechts, 195 rechts Mitte S. 107 unten, 118 unten, 119 links oben und Wachtturm-Gesellschaft, Selters; S. 39 oben Radermacher-Fotos, 134 rechts Wiener Library, London; S. 30 Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv; Yad Vashem, Jerusalem; S. 114, 158, 188 S. 76 links und rechts, 77 links Suzanne Orts; S. 85 rechts oben, 93 Mitte Památník Terezín; S. 85 oben links Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau; S. 94 links unten Günter Pappenheim; S. 135 links Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e.V., Weimar; S. 26, 38 links Familie Pecorari; S. 123 unten

QUELLENVERZEICHNIS BUCHENWALD AUSGRENZUNG UND GEWALT 1937 BIS 1945

Eine Ausstellung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Thüringer Staatskanzlei.

Wissenschaftliche Leitung Recherchen

Prof. Dr. Volkhard Knigge Dr. Marc Bartuschka, Martina Bauer, Dr. Imanuel Baumann, Nora Blumberg, Roland Borchers, Stefanie Dellemann, Kuratoren Maria Döbert, Maryna Dubyk, Zden k Dytrt, Jessica Elsner, Nikolai Evseev, Gero Fedtke, Prof. Dr. Volkhard Knigge Dr. Piotr Filipkowski, Jens Franke, Kati Fromm, Rikola-Gunnar Lüttgenau Dr. Katja Ganske, Indira Geisel, Dr. Harry Stein Christoph Gollasch, Wolfram Gugel, Franka Günther, Anna Hageman, Laura Herrmann, Ronald Hirte, Hannah Lea Hofmann, Ausstellungsteam Dr. Julia Hörath, Dr. Nicole Hördler, Clemens Huemerlehner, Mateusz Jamro, Wissenschaftlicher Projektkoordinator Torsten Jugl, Mackenzie Lake, Dr. Michael Löffelsender Dr. Alexander Lange, Lena Langensiepen, Stephan Laudien, Johanna Lehmann, Dr. Jens Binner Stefan Lochner, Ronny Oschwald, Georg Wamhof, M.A. Christian Philipp, Katja Plachov, Juliane Podlaha, Anita Pröger, Dr. Olga Radchenko, Wissenschaftliche Mitarbeit Dr. Jörn Retterath, Dr. Wilhelm Rösing, René Bienert, M.A. Dr. Christian Schölzel, Paul Schütrumpf, Sabine Stein Christina Shakirova, Laurie Slegtenhorst, Dr. Jens-Christian Wagner (bis 2014) Lukas Sondermann, Robin Spindler, Éric Vazzoler, Alexander Walther, Rabea Weber, Juliane Wenke, Ausstellungsobjekte Anne-Christine Weßler Holm Kirsten, M.A. Mitarbeit Kunstwerke Dr. Sonja Staar Übersetzungen Assistenz Helmut Suffa EGLS Judith Rosenthal, Frankfurt am Main Logan Kennedy und Leonard Unglaub, Nova Scotia Wissenschaftliche Volontäre Laurence Wuillemin, München Sven Löhr Clara Mansfeld, M.A. Lektorat Katharina Brand Projektsekretariat Cornelia Raßloff

262 | 263 Restaurierung Das Projekt wurde begleitet von

Stefanie Masnick, Sophie Riedel, Häftlingsbeirat des KZ Buchenwald Friederike Szlosze Werkstätten für Textilgestaltung & Restaurierung, Mitglieder Lobenstein Floréal Barrier †, Frankreich (Vorsitzender) Christiane Schill, Ruth Kaiser Prof. Dr. Robert Bardfeld, Tschechien Georg Naftali Fürst, Israel Éva Pusztai, Ungarn Sanierung ehemaliges Ottomar Rothmann, Deutschland Kammergebäude Gert Schramm †, Deutschland Gäste Janin Mannes Bertrand Herz, Präsident des Internationalen Hartman und Helm Planungsgesellschaft mbh, Komitees Buchenwald-Dora & Kommandos Weimar Dr. Silvio Peritore

Wissenschaftliches Kuratorium Verwaltung Prof. Dr. Norbert Frei, Jena (Vorsitzender) Antje Hitzschke Prof. Dr. José Brunner, Tel Aviv Prof. Dr. Rainer Eisfeld, Osnabrück Prof. Dr. Mary Fulbrook, London Öffentlichkeitsarbeit Prof. Dr. Detlef Hoffmann †, München Prof. Dr. Wolfgang Holler, Weimar Rosina Korschildgen Cilly Kugelmann, Berlin Dr. Philipp Neumann-Thein Prof. Dr. Lutz Niethammer, Berlin Sandra Siegmund Prof. Dr. Henry Rousso, Paris Prof. Dr. Thomas Sandkühler, Berlin Dr. Irina Scherbakowa, Moskau Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Wien ArchD Dr. Simone Walther, Berlin Prof. Dr. Bernd Weisbrod, Berlin Prof. Dr. Hermann Wentker, Berlin Prof. Dr. Wolfgang Wippermann, Berlin

IMPRESSUM Ausstellungsgestaltung, Szenografie, Grafik-, Medien- und Lichtkonzeption

Holzer Kobler Architekturen, Zürich/Berlin Barbara Holzer Roland Lehnen Sebastian Hübsch Diana Bi o Kira Schnieders Veronika Malek Britta Liermann

Ausstellungsgrafik Prolog

2xGoldstein+Fronczek, Rheinstetten Konzeption und Umsetzung Satz unter Mitarbeit von buchstabenschubser, Potsdam Erik Schöfer Regie Jan Gabbert, Ellen Stein Medienplanung und -einrichtung, Animation Ksenia Mozhayskaya, Niclas von Steen, Ellen Stein Videoproduktion Sounddesign Uwe Bossenz Nils Menrad Film- und Medienproduktion, Produktion Karlsruhe Jan Gabbert Nils Menrad, Nikolaus Völzow, Sandra Pasic, Julius Schall Audioproduktion, Tonaufnahmen

Medientechnik speak low Audioproduktion, Berlin Sprecher VST Vertriebsgesellschaft für Video-System- Gabriele Blum, Eva Gosciejewicz, Therese Hämer, und Kommunikationstechnik mbH Markus Hering, Inka Löwendorf, Julian Mehne, Götz Schubert, Robert Stadlober, Gerd Wameling, Laura Cameron, Tania Carlin, Andrew Glen, Beratung Ausstellungslicht Melissa Holroyd, Ben Posener, Monica Solem, Tomas Spencer, Steve Taylor Lichtvision Design GmbH, Berlin

264 | 265 Ausstellungsbau

Vitrinen Körling Interiors GmbH & Co. KG, Dortmund Projektleitung Martin Stockmaier Technische Projektleitung Manfred Frammelsberger

Epilog, Lagermodell Seiwo Technik GmbH, Drebach

Raumkörper barth Innenausbau KG, Brixen Projektmanager Thomas Ziegler

Ausstellungsbeleuchtung Elektro Schäfer

Reproduktionen

PAL Preservation Academy Leipzig Anja Grubitzsch, Thomas Bartsch

Objekteinrichtung m.o.l.i.t.o.r GmbH, Berlin

Grafikdruck

Foto Reklame, Berlin gefördert von

IMPRESSUM Zum Gelingen der Ausstellung haben zahlreiche Personen und Institutionen mit Leihgaben, Auskünften, Rat und Hilfe beigetragen. Sollte trotz sorgfältiger Zusammenstellung jemand vergessen worden sein, bitten wir um Nachsicht. Allen Beteiligten sei sehr herzlich gedankt.

Agence France-Presse, Paris Centre d'Histoire de Sciences Po, Paris Bernd Ahnicke, Hildburghausen (Dominique Parcollet) Aktionskomitee DIZ Emslandlager e.V., Papenburg Centropa, Wien (Fietje Ausländer) Collège de France, Paris (Anne Chatellier, Algemeen Rijksarchief, Brussel Christophe Labaune, Caroline Waddell) Familie Anesetti Dr. Friedrich da Fonseca-Wollheim, Berlin AP Wide World Photos, New York Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Marlis Apitz, Berlin Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Arbeitsgemeinschaft KZ-Transport 1945, Deutschen Demokratischen Republik, Fürstenstein (Nikolaus Saller) Außenstelle Erfurt (Jörg Pittelkow) Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich- Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin Ebert-Stiftung, Bonn Deutscher Bundestag, Berlin Archiv des Bistums Passau Deutsches Historisches Museum, Berlin Archiv Fotoatelier Louis Held Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (Inhaber Stefan Renno, Weimar) Stefan von Dobrzynski, Kiel Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich Dokumentationsarchiv des österreichischen Archives municipales de Saint Claude Widerstandes, Wien (Irene Filip, Dr. Elisabeth (Véronique Rossi) Klamper, Dr. Ursula Schwarz) Association Française Buchenwald-Dora, Paris Dokumentations- und Informationszentrum Dr. Franziska Augstein, München Stadtallendorf (Fritz Brinkmann-Frisch) Claus Bach, Weimar Agnieszka Dolecka PD Dr. Frank Bajohr, München Dr. Axel Doßmann, Berlin BAL - Musée des Beaux-Arts, Liège Familie Durand (Carmen Genten) Erinnerungsort Topf & Söhne Erfurt Familie Banach (Verena Bunkus, Dr. Annegret Schüle) Familie Bargatzky Fédération nationale des déportés et internés Familie Barrier résistants et patriotes, Saint-Claude Bauernhaus-Museum Wolfegg (Jacqueline Vuitton) Bauhaus–Archiv, Berlin Antonella Filippi, Torino Bayerische Staatsbibliothek, München Filmarchiv Austria, Wien Detlef Belau, Mössingen (Ada Becirovic, Susanne Rocca) Knut Bergbauer, Köln Fonds Photographique Knall-Demars, Paris Constantin Beyer, Weimar FOTO FAYER & Co GesmbH, Wien Bibliothèque interuniversitaire de santé, Paris Hanns-Peter Frentz, Berlin (Solenne Coutagne) Friedensbibliothek-Antikriegsmuseum, Berlin Maurilio Bigo, Torino Frihedsmuseet, København (Henrik Lundbak) Carla C. Bittorf, Erfurt Rainer Fröbe, Hannover Prof. Dr. Ulrich Borsdorf, Düsseldorf Georg Naftali Fürst, Haifa Familie Botmann-Robert Patrik Gallinnis, Gevelsberg bpk, Berlin Familie Gauger Familie Brusselairs Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin Sam Bryan, New York Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain (Jens Nagel) Bundesarchiv Berlin Gedenkstätte für die Opfer des KZ Langenstein- Bundesarchiv Koblenz Zwieberge (Gesine Daifi) Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig Centre d'Études et de Documentation Guerre et Getty Images Sociétés contemporaines, Bruxelles Prof. Dr. Christian Geulen, Koblenz (Gerd de Coster, Fabrice Maerten) Birgit Gewehr, Hamburg

266 | 267 Ghetto Fighters’ House Museum, Western Galilee Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, (Zvi Oren) Abteilung Magdeburg Udo Graupner, Markkleeberg Elzbieta Lapszewicz, Sutherland Louis Gros, Mercury Jean Lemaître, Bruxelles Wolfgang Große, Niederorschel Hanja Levithan, Israel René Gymnich, Much Dr. Peter Lieb, Potsdam Radko Hájek, Praha Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf Dr. Anna Hájková, Berlin Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Peter Hansen, Weimar Peter McFarren Maria Julia Hartgen, Bad Gandersheim Christa Meier, Aicha vorm Wald Prof. Dr. Ulrich Herbert, Freiburg Mémorial de la Shoah, Paris Bertrand Herz, Paris Mémorial de l'internement et de la déportation – Familie Hessel Camp de Royallieu, Compiègne (Anne Bonamy) Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Yvonne Hewitt-Berthin, Garches Dresden Laura Hillman, Los Alamitos Moreshet Archive, Givat Haviva Historisches Archiv der Stadt Köln Familie Moro Hochschularchiv, Thüringisches Landesmusik- Dr. Tim B. Müller, Hamburg archiv, Weimar Dr. Torsten W. Müller, Heiligenstadt Hoechst GmbH, Frankfurt am Main Musée de la Résistance Nationale, ICRC Photo Library, Genf Champigny-sur-Marne Imperial War Museum London (Xavier Aumage, Guy Krivopissko) Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main Musée Pasteur, Paris International Court of Justice, The Hague Museum der Stadt Bad Gandersheim (Philippe Couvreur) Muzeum Gross-Rosen (Janusz Barszcz) International Tracing Service, Bad Arolsen Muzeum Powstania Warszawskiego, Warszawa (Axel Braisz, Nicole Dominicus, Heike Müller, Manfred Nagengast, Hattingen Franziska Schubert, Dr. Susanne Urban) National Archives at College Park, Maryland Ivan Ivanji, Beograd Naturhistorisches Museum, Wien Julien Bryan Archive, Washington DC (Dr. Margit Berner) Prof. Dr. Orit Kamir, Jerusalem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln Kazerne Dossin, Mechelen (Dorien Styven) Beate Oethinger, Wiesloch Klassik Stiftung Weimar Österreichische Nationalbibliothek, Wien Dr. Friedhart Knolle, Wernigerode Suzanne Orts, Aix-en-Provence Familie Kosk Památník Terezín (Iva Gaudesová, Eva N mcová, Władysław Kożdoń, Wrocław Jaroslava Nytlová) Kraewedtscheskij musei gorodskogo okruga, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau, Sysran Os´więcim (Wojciech Płosa) Dr. Sybille Krafft, Icking Günter Pappenheim, Zeuthen Marie Krausová, Praha Familie Peulevé Kulturamt der Stadt Dachau Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e.V., Weimar Eleonora O. Kuznetsowa, Kherson (Elsa-Ulrike Ross) Familie Kvamme Philipps-Universität Marburg, KZ-Gedenkstätte Dachau (Albert Knoll) Emil-von-Behring-Bibliothek (Dr. Ulrike Enke) KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Vanna Pecorari, Triest KZ-Gedenkstätte Mauthausen Nigel Perrin, London KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora Pfarrarchiv der Herz-Jesu-Gemeinde Weimar Juliette Lafont-Molins, Ille-sur-Têt Familie Pickersgill Landesarchiv Baden-Württemberg, picture alliance / ANP Abteilung Generallandesarchiv Karlsruhe Gisela Plessgott, Berlin Landesarchiv Berlin Familie Pribula Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Radio Lotte Weimar Abteilung Rheinland Raphaelsheim Heiligenstadt (Benno Pickel)

DANK Siegfried Ressel, a+r film, Potsdam The Wiener Library, London REUTERS Bildagentur (Dr. Christine Schmidt, Marek Jaros) Rheinisches Bildarchiv, Köln Herbert Thiele, Berlin Beatrice Richter-Bethge, Flensburg Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Thijs Rinsema, Norg (Dr. Bernhard Post, Dr. Frank Boblenz, Jo Rivett, Wolfenschiessen Gabriele Krynitzki) Robert Koch-Institut, Berlin Thüringisches Landesamt für Vermessung Familie Roels und Geoinformation, Erfurt Artur Roth, Frankfurt am Main Thüringisches Staatsarchiv Meiningen Josef Roth, Bonn (Dr. Norbert Moczarski) Renate Rothenaicher, Plattling Jeanette Touissant, Potsdam Elena Rother, Leipzig Dr. Agnès Triebel, Versailles Ottomar Rothmann, Weimar Familie Trostorff Ruhr Museum, Essen Prof. Dr. Johannes Tuchel, Berlin Peter Sachs, Houston ullstein bild, Berlin Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig United States Holocaust Memorial Museum, Gilberto Salmoni, Genova Washington D.C. (Judith Cohen, Bruce Levy) Uwe Schieweg, Leipzig USC Shoah Foundation Jürgen Schneider, Weimar Prof. Dr. Jonathan F. Vance, London (Ontario) Dr. Irmgard Seidel, Erfurt Rik Vanmolkot, Haasrode Service historique de la Défense, Vincennes Firouz Vladi, Osterode Patrick Šimon, Praha Vojensky ustředni archiv, Praha Spiegel TV, Hamburg Wachtturm-Gesellschaft, Selters Staatsarchiv München (Wolfram Slupina) Staatsarchiv Nürnberg Dr. Jens-Christian Wagner, Celle Staatsbibliothek zu Berlin (Christoph Albers, PD Dr. Annette Weinke, Jena Dr. Christiane Caemmerer) Dr. rer. nat. Katja Weiske, Frankfurt am Main Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Werner Winkelmann, Hebertshausen Stadtarchiv Bochum Juliane Witteck, Jena Stadtarchiv Duisburg Dr. Ernst Woll, Erfurt Stadtarchiv Eisenach (Klaudius Kabus, Yad Vashem, Martyrs‚ and Heroes‚ Christopher Launert) Remembrance Authority, Jerusalem Stadtarchiv Hattingen (Thomas Weiß) ZDF Enterprises, Mainz Stadtarchiv Meuselwitz (Steffi Müller) Detlef Zellner, Leipzig Stadtarchiv Nürnberg Židovské muzeum v Praze, Praha Stadtarchiv Weimar (Dr. Jens Riederer) Stadtgeschichtliches Museum Leipzig Stadtmuseum Weimar Besonderer Dank (Dr. Alf Rößner, Uta Junglas, Marina Reichardt) Musée de la Résistance et de la Déportation, James Stewart, St. Andrews Besançon Steven Spielberg Film and Video Archive, Washington DC Dr. Bernhard Strebel, Hannover Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 e.V., Frankfurt am Main Timo Stück, Bonn Dr. Rüdiger Stutz, Jena Jacques Suard, Nantes Süddeutsche Zeitung Photo, München Zbyn k Syrovátka, Cheb Familie Szczerkowski Evelyne Taslitzky, Paris

268 | 269 Bildungsarbeit am außerschulischen Lernort Buchenwald

Grundsätze der Bildungsarbeit an der Gedenkstätte Buchenwald

Sehen Reflektieren Ausgangspunkt für historisches Lernen ist der Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergan- authentische Ort, sind die Lagerüberreste. genheit soll die Aufmerksamkeit für Gefährdungen Als Sachbeweise verbinden sie Gegenwart und demokratischer, menschenrechtlicher Kultur in Vergangenheit. Zeitzeugenberichte, Original- Gegenwart und Zukunft schärfen. Erfahrungen dokumente, Sammlungsgegenstände und weitere und Gegenwartsbeobachtungen von Jugendlichen anschauliche Materialien ergänzen sie. Als un- sind deshalb ein weiterer Ausgangspunkt für mittelbare Zeugnisse regen sie die historische Lernprozesse. Gedenkstättenpädagogik verordnet Vorstellungskraft an und werfen Fragen auf: keine Geschichtsbilder, sondern sie sensibilisiert Forschendes Lernen statt erhobener Zeigefinger. und befördert reflektiertes Geschichtsbewusst- Historische Vorstellungskraft ist eine Grundlage sein und selbstständige historisch-ethische für Empathie und historisches Begreifen. Urteilskraft.

Begreifen Kommunizieren Jugendliche, die eine Gedenkstätte besuchen, Gedenkstättenpädagogik fördert Dialogfähigkeit können die Vergangenheit nicht mehr direkt erin- und ist selbst dialogisch angelegt. Gegen den nern. Deshalb: Erinnerung und Gedenken brauchen nationalsozialistischen Zivilisationsbruch steht Wissen. Dieses Wissen ist kein Selbstzweck. die Grundsolidarität mit dem Menschen als Es zielt darauf, am konkreten historischen Bei- Mensch. Interkulturelle bzw. transnationale spiel zu lernen, was man im Sinne unteilbarer Begegnung und Auseinandersetzung gehören Humanitas und unteilbarer Menschenrechte nicht deshalb zu den Kernelementen der gedenk- tut. Es verdeutlicht, unter welchen politischen, stättenpädagogischen Arbeit. rechtlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen Menschen zu Tätern werden. Es bewahrt die Er- fahrung der Verfolgten und Widerstandskämpfer. Das Wissen ist handlungsorientiert.

Formate und pädagogische Angebote

Überblicksführung ihren Gedenkstättenbesuch vorbereitet haben. (ca. 2 Stunden) Das Mindestalter beträgt 15 Jahre, die Gruppe Diese Führung, beginnend im Bereich der Be- kann aus 15 bis maximal 30 Personen bestehen. sucheranmeldung, wird über den früheren Führungen in Fremdsprachen können begrenzt „Carachoweg“ und das Lagertor zum ehemaligen vermittelt werden. Für den Aufenthalt inklusive Appellplatz fortgesetzt, schließt einen Vortrag zur Führung und Museumsbesuch sind mindestens Lagergeschichte an einem Modell ein, und endet 3,5 Stunden einzuplanen. nach der betreuten Besichtigung des einstigen „Krematoriums“. Für Schulklassen empfehlen Ganztägige Veranstaltungen wir vorher den Einführungsfilm der Gedenkstätte (ab 4 Stunden) und anschließend eine angeleitete Vertiefung in Ganztägige Veranstaltungen können zu verschie- der Dauerausstellung zur Geschichte des Kon- denen Themen der Lagergeschichte durchge- zentrationslagers. Unsere Betreuungsangebote führt werden. Die Programme bestehen aus den richten sich vorrangig an Schulklassen (ab Klasse Modulen: Einführungsgespräch, themenspezifi- 9), Jugendgruppen und junge Erwachsene, die im sche Führung durch das ehemalige Häftlingslager, Rahmen der Schule und der politischen Bildung materialgestützte Recherche in den jeweiligen DURCH DIE ARBEIT MIT FUNDSTÜCKEN IN DER RESTAURIERUNGSWERKSTATT NÄHERN SICH JUGENDLICHE DER GESCHICHTE BUCHENWALDS AN.

Dauerausstellungen und Seminarräumen, Auswer- Anmeldung von Gedenkstättenbesuchen: tungsrunde und Abschlussgespräch. Die Gruppe Damit unsere pädagogischen Mitarbeiterinnen wird ganztägig von einem pädagogischen Mitar- und Mitarbeiter Ihren Besuch gezielt auf die beiter betreut. Die konkrete Programmabsprache jeweiligen Wünsche, Fragen und das Wissen erfolgt durch ein Gespräch mit einem pädagogi- der Gruppe vorbereiten können, möchten wir Sie schen Mitarbeiter der Gedenkstätte. bitten, nachfolgende Kontaktadressen zu nutzen. Die weitere detaillierte Planung sollte anschlie- Mehrtägige Veranstaltungen ßend in einem Telefonat mit Ihnen abgestimmt (2 bis 5 Tage) werden. Gedenkstättenexkursionen, Projekttage, Semina- re und Weiterbildungen für Multiplikatoren wer- Für die Anmeldung von Führungen den nach den Teilnehmerinteressen geplant und und Multimedia-Guide: dafür jeweils spezielle Gruppenprogramme ent- Besucherinformation wickelt. Die Programmplanung entsteht im Dialog Gedenkstätte Buchenwald zwischen Projektleitern und dem pädagogischen 99427 Weimar-Buchenwald Mitarbeiter, der die Gruppe in der Gedenkstätte Fon: +49 (0)3643 430 200 betreut. Spezielle Seminarangebote gibt es zum Fax: +49 (0)3643 430 102 Thema Zwangsarbeit und Konzentrationslager, [email protected] der engen Nachbarschaft von Weimar und Bu- chenwald, zur Problematik von Technik und Für die Anmeldung ganztägiger und Vernichtung - Arbeit und Verantwortung sowie mehrtägiger Veranstaltungen: zur Geschichte des Speziallagers 2. Zu den Internationale Jugendbegegnungsstätte Möglichkeiten vor Ort gehört u.a. die Arbeit im Sylke Schmidt Archiv, in der Bibliothek oder in der Restaurie- Fon: +49 (0)3643 430 190 rungswerkstatt der Gedenkstätte Buchenwald. Fax: +49 (0)3643 430 100 [email protected] Angesichts der vielen Möglichkeiten werden die Programmschwerpunkte individuell mit den je- weiligen Partnern abgestimmt. Die thematischen Angebote sowie die entstehenden Kosten für das pädagogische Programm entnehmen Sie bitte der Homepage der Gedenkstätte.