Es war ein bitterer Weg gewesen, den Marco Chiudinelli in den vergangenen Jahren hatte gehen müssen. Diverse Verletzungen hatten ihn immer wieder zurückgeworfen, eine Knieverletzung 2007 gar aus dem Ranking kata- pultiert. Heute steht er nach starken Resultaten 2009 erstmals in seiner Karriere in den Top 60. Smash sprach exklusiv mit dem 28-jährigen Basler über sein sensationelles Comeback. Doris Rickenbacher, Marco Chiudinelli

Smash In Ihrem zehnten Profi jahr gen, einige nehmen mich erst jetzt wahr. haben Sie endlich Ihr Ziel, einmal Mein Selbstbewusstsein auf dem Platz ist zu den besten 100 Spielern der Welt zudem viel grösser geworden. Meine zu gehören, erreicht. Nach dem sen- jüngsten Erfolge haben auch dazu ge- sationellen Halbfi nal-Einzug bei den führt, dass mich heute mehr Fans abseits Davidoff schafften Sie der Courts erkennen. Viele haben mich jüngst sogar den Sprung in die Top zwar schon früher um Autogramme gebe- 60. Wie fühlen sich diese Erfolge an? ten, sich dann aber zu ihren Kollegen um- Marco Chiudinelli Als nach Bangkok gedreht und leise gefragt: «Wer ist das feststand, dass ich erstmals in meiner Kar- eigentlich?» (lacht). Dies passiert mir riere zu den besten 100 Spielern der Welt heute nicht mehr so häufi g. gehöre, bin ich erst einmal in ein kleines Loch gefallen. Ich fühlte mich völlig er- Smash Sie haben schwierige schöpft, ja irgendwie leer und konnte Jahre mit vielen Verletzungen und mich gar nicht so richtig darüber freuen. enttäuschten Hoffnungen hinter Erst nach fünf Tagen Erholung zu Hause sich. Ab 2007 mussten Sie wegen bei meinen Eltern kamen die Gefühle der einer Knieverletzung 18 Monate Freude auf. Und heute empfi nde ich auch pausieren. Gab es in diesen Zeiten eine sehr grosse Befriedigung, mein Kar- Momente, wo Sie daran dachten, riereziel endlich nach so langer Zeit er- das Handtuch zu werfen? reicht zu haben. Chiudinelli Eigentlich nicht. Klar hatte ich schwere Momente zu überstehen. Am Smash Hat das Dasein in den Anfang meiner Verletzungspause dachte Top 100 Ihr Leben bereits etwas ich auch weniger an meine verpassten verändert? sportlichen Chancen als vielmehr daran, Chiudinelli Ich habe endlich das Gefühl, dass ich unbedingt wieder vollständig ge- auch an grossen ATP-Turnieren zur Spie- sund werden wollte. Ich habe aber in all lergemeinschaft zu gehören. Viele Spieler den Monaten immer daran geglaubt, dass treten mir auch mit mehr Respekt entge- ich sportlich wieder bessere Zeiten erle- ben kann. Ich erinnerte mich immer wie- der an mein erstes erfolgreiches Come- back und sagte mir, dass ich das erneut «Nachdem ich die Top-100-Grenze schaffen kann. überschritten hatte, fi el Smash Wäre Ihre -Karriere ich erst einmal in ein Loch.» ohne die komplizierte Knieoperation in den USA zu Ende gewesen?

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18-19_STM-Chiudinelli-1.indd 18 13.11.2009 12:10:38 : Interview Fotos: Siggi Bucher Siggi Fotos:

18-19_STM-Chiudinelli-1.indd 19 13.11.2009 12:10:47 Chiudinelli Ja, alle Ärzte haben mir ge- sagt: Wenn ich nicht operiere, könne ich nie mehr Tennis spielen. Selbst mit der OP konnten mir die Ärzte vor dem Eingriff nur zu 80 Prozent garantieren, dass ich wieder Spitzensport betreiben kann. Zu- dem hatte ich auch im Alltag grosse Schmerzen, die meine Lebensqualität stark einschränkten. Heute kann ich zum Glück praktisch wieder schmerzfrei spie- len. Werden die Schmerzen etwas grös- ser, lege ich einfach eine Pause ein – wie vergangenen Sommer, als ich meinem Knie zwei Wochen Ruhe gönnte.

Smash Sie wirken im Vergleich zu früher viel reifer, viel ruhiger und viel konzentrierter in allem, was Sie tun. Stimmt dieser Eindruck? Chiudinelli Ja, durchaus. Paradoxer- weise liessen mich nicht zuletzt die lan- gen Verletzungspausen konzentrierter und ruhiger werden. Ich mache heute we- niger Unsinn und verliere nicht mehr so rasch den Fokus. Ich bin aber auf der an- deren Seite auch etwas lockerer gewor- den, indem ich mir selbst Fehler bzw. Niederlagen besser verzeihen kann. Zu- dem weiss ich heute mein Leben als Ten- nisprofi viel mehr zu schätzen als noch vor einigen Jahren und bin sehr dankbar für all die schönen Momente, die ich in meinem Beruf gerade erleben darf.

Smash Haben Sie in Ihrer ersten Karrierehälfte Ihre Talente nicht richtig genutzt? Chiudinelli Klar hätte ich von Anfang an so professionell arbeiten können wie jetzt. Aber ich war vor zehn Jahren noch sehr jung und einfach noch nicht fähig dazu. Ich benötigte diesen Lernprozess in all den Jahren. Und vielleicht hat ja gera- de er mich dahin gebracht, wo ich heute stehe. Ich bereue nichts in meiner Karri- ere. Es ist gut so, wie es gelaufen ist.

Smash Sie haben zusammen mit , , Stéphane Bohli ihre Tenniskarri- eren Ende der Neunzigerjahre im Leistungssportzentrum von Swiss Tennis begonnen und Sie haben allesamt den Sprung in den Profi - circuit geschafft. Leider drängen im Schweizer Herrentennis derzeit keine neuen jungen Spieler nach vorne. Woran liegt das Ihrer Ansicht FC-Basel-Fan Chiudinelli zusammen mit Fussball-Nationalspieler Valentin Stocker. nach? Beide vertrauen dem gleichen Mentalcoach, Chris Marcolli.

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21-23_STM-Chiudinelli-2.indd 21 16.11.2009 10:11:58 Chiudinelli Das ist schwierig zu sagen, da ich die Nachwuchsbewegung in der Schweiz nur aus der Distanz kenne. Ich kann lediglich sagen, dass wir damals von optimalen Bedingungen im Leistungszen- trum profi tieren durften. Wir verfügten mit Sven Grönefeld, Peter Lundgren, Pe- ter Carter und Urs Walter über ein Trai- nerteam mit Weltklasseformat. Zudem ist es sicherlich als Glücksfall zu bezeichnen, dass die Schweiz damals über eine solch starke Generation von jungen Spielern und mit Roger Federer sogar über ein Jahr- hundert-Talent verfügte. Wir haben uns gegenseitig angetrieben und gleichzeitig neben dem Platz eine gute Kameradschaft Sie hielten auch in den schwierigen Zeiten zu Chiudinelli (links): Sponsor gepfl egt. Von den heutigen Nachwuchs- Peter Kuratli von der Syntax AG (Mitte) und Kleiderausrüster Ivo Heuberger (HI-Pro). spielern kenne ich nur Sandro Ehrat, mit dem ich trainiert habe. Er spielt schon sehr gut und ist im Junioren-Ranking bes- Ihre Erfahrungen und Ihr Wissen 2010 mein Ranking halten kann, werde ich ser klassiert, als ich es war. Ob er seinen später einmal als Trainer an junge mir neue, höhere Ziele setzen. Weg auch bei den Profi s machen wird, Spieler weiterzugeben? werden wir indes erst in den nächsten Chiudinelli Ja, das könnte ich mir durch- Smash Und der Sieg beim Davis Jahren sehen, denn es sind schon viele aus vorstellen. Ich gehe aber nicht davon Cup? Talente gescheitert, weil ihnen der nötige aus, dass ich mein ganzes Leben auf dem Chiudinelli Das wäre natürlich ein gros- Biss auf der Profi -Tour fehlte. Tennisplatz verbringen werde. ser Traum von mir – auch wenn ich nur auf dem Siegerbild der Mannschaft er- Smash Sie starten 2010 in Ihre Smash Welcher Job schwebt Ihnen scheinen sollte (lacht). 11. Saison als Profi spieler. Fragen Sie denn sonst noch so vor? sich nicht manchmal, wo die Zeit Chiudinelli Darüber habe ich mir ehr- Smash Wird im Team über dieses geblieben ist? lich gesagt noch keine Gedanken ge- Ziel geredet? Chiudinelli Ja, all diese Jahre vergingen macht. Ich hoffe, dass ich noch lange auf Chiudinelli Eigentlich nicht. Aber wir tatsächlich wie im Fluge, deshalb ist es der Profi -Tour mitspielen kann und dass wissen alle, dass Roger und Stan diesen auch so wichtig, dass ich die Zeit optimal mir dann plötzlich einmal die zündende Triumph gerne einmal in ihrer Karriere er- nutze. Ich durfte sehr viel schöne und Idee kommt, was für mich nach dem Spit- reichen möchten. zum Teil auch abenteuerliche Momente zensport berufl ich anstehen könnte. Mit erleben. Ich habe viele Leute kennenge- Michi Lammer habe ich schon ab und zu Smash Ihre Davis-Cup-Kollegen lernt und Orte gesehen, wo ich als Nicht- darüber geredet und die Möglichkeit an- Federer und Wawrinka erleben schon Tennisspieler wohl nie in meinem Leben gesprochen, zusammen eine Firma zu bzw. bald Vaterfreuden. Denken Sie hingekommen wäre. Um ehrlich zu sein, gründen. Wir wissen nur noch nicht, was auch schon über eigenen Nachwuchs waren die Zeiten, als ich noch nicht so gut für eine. Also falls jemand gute Inputs für nach? klassiert war, spannender und erlebnis- uns hat, soll er sich doch bei uns melden Chiudinelli Nein, auf keinen Fall. Das reicher. Heute ist mein Profi -Dasein viel (lacht). Vatersein ist für mich noch sehr weit weg. geregelter und dadurch auch etwas ein- Ich habe dafür ein zweijähriges Paten- töniger. Aber das ist gut so, schliesslich Smash Noch haben Sie ja einige kind, mit dem ich viel Spass habe, auch muss für einen Tennisprofi das Ziel sein, Jahre im Tenniscircuit vor sich. wenn ich den Kleinen wegen meinem Job möglichst viel Erfolg zu haben und nicht, Welche Ziele möchten Sie gerne noch leider nur selten sehen kann. ein abwechslungsreiches und spektaku- erreichen? läres Leben zu führen (schmunzelt). Chiudinelli Das ist im Moment schwie- Smash Reden Sie mit Roger Federer rig zu sagen. Ich habe gerade die Top-100- über dessen neue Aufgaben als Smash Aus Ihren Fehlern haben Sie Grenze geknackt und damit ein grosses Familienvater? Gibt er Ihnen viel- gelernt. Ist es für Sie eine Option, Ziel erreicht. Jetzt schon an höhere Ziele leicht schon mal Tipps? zu denken, ist gefährlich, denn ich weiss, Chiudinelli Ja, ab und zu. Wir sind gu- dass ich nicht so ein starker Spieler bin, te Freunde und da redet man über solche und zufrieden sein kann, diesen Platz zu Dinge. Das Vatersein ist ja jetzt ein wich- «Als mittelmässiger Spieler ist halten. Schliesslich ist die Leistungsdich- tiger Teil von Rogers Leben. Aber es ist das Tourleben spektakulärer. Aber te derzeit im Herrentennis enorm hoch nicht so, dass er mir Tipps zu Babyfragen und von hinten drängen viele gute junge gibt. Hierfür ist Stan als baldiger Daddy dies darf ja nicht das Ziel sein.» Spieler nach vorne. Erst wenn ich bis Mai wohl der bessere Adressat (lacht). A

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