. DPA Tour-Legende Indura´in, Verfolger Zülle: „Ein Kreislauf wie bei einem Tier“

Radrennen „Etwas explodiert in dir“ Miguel Indura´in dominiert nun schon im fünften Jahr die . Doch weil der Spanier gelernt hat, mit dem Ruhm zu spielen, ist diesmal alles anders: Der Bauernsohn tritt bei der Tour so selbstbewußt auf wie Mick Jagger auf Tournee – und die Fans an den Bergpässen feiern ihn plötzlich als Volkshelden.

er König der Tour schaut gelang- dium, auf dem und Mann ohne Leidenschaften erstmals läs- weilt über die Place de la Basilique die Organisatoren der Tour seit einer sig und aufsässig wie Mick Jagger. Din Aime-La Plagne, auf dem an Stunde auf seine Unterschrift warten. Dazu gehört, daß er bei den Siegereh- diesem Morgen 153 Radprofis beson- „Ein Meister, der Beste“, kreischt rungen Kekse mampft und die schlan- ders hektisch an den Klebebändern zup- der fünfmalige Tour-Sieger Hinault ins ken Blondchen von Sponsor Coca-Cola fen, die sie um ihre Lenker gewickelt Mikrofon. Da hebt der Baske die rech- mit Krümeln an den Lippen küßt. Dazu haben. Immer wieder steigen sie ab, te Hand, als segne er Frankreich. In gehört auch, daß er aggressiv wie nie zu- überprüfen noch mal den Reifendruck. solchen Momenten sind alle, die von vor fährt. Sie alle fürchten die 162,5 Kilometer der Tour leben, überzeugt: Endlich ist Und als hätte es das vergangene Jahr- hinauf nach Alpe d’Huez. Auf dieser auch Indura´in ein Idol geworden, das zehnt nicht gegeben, in dem Indura´in Alpenetappe erneuert die Tour de ihnen Nutzen bringt. nach jeder Floskel eine längere Denk- France alljährlich ihren Mythos; hier Bei seiner möglicherweise letzten pause einlegen mußte, sprudeln auf ein- fallen die Schwachen von den Fahrrä- Frankreich-Rundfahrt wird Indura´in mal pathetische Sätze aus ihm hervor, dern. „Respekt“, sagt der Deutsche erstmals auch von den Massen, die an die Radel-Romantiker für den Beweis Erik Zabel am Start, habe er vor diesen den Pässen zelten, verehrt – als würde von Charisma halten. „Das Herz raste, Bergen, „ich habe schon soviel von ih- die Tour, diese Kombination aus High- die Lunge brannte, ich habe gelitten und nen gehört – nur rübergekommen bin Tech-Sport und Faschingsumzug, erst wäre fast gestorben“, versichert Indu- ich noch nie“. jetzt begreifen, daß ihr etwas fehlen ra´in in La Plagne. Die Tour und ihr An- Miguel Indura´in Larraya, 31, ist der könnte, wenn der Sieger der letzten tistar, so scheint es, gehen doch noch ei- einzige Fahrer, der an diesem Morgen vier Jahre nicht mehr dabei ist. ne einträgliche Verbindung ein. Spaß hat. Auf der Rückbank des Wohn- Ähnlich wie die Tennisprofis Marti- Über Jahre war „El Silencioso“, wie mobils sitzt er neben seinem Manager na Navratilova oder Ivan Lendl, die sie ihn in seinem baskischen Heimatort und krümmt sich vor Lachen. Erst als über Jahre wegen ihrer Leistungen re- Villava nennen, der größte Feind der alle Kollegen sich längst in das Renn- spektiert und erst am Ende ihrer Kar- Veranstaltung. Gegründet als „grausa- protokoll eingeschrieben haben, läßt er rieren auch gefeiert wurden, erlebt nun me Prüfung für Körper und Geist“, lebt sich das Rad reichen. Ohne die Konkur- der brave Indura´in einen Starkult, „der Le Tour, die Mutprobe des erwachse- renten auch nur anzuschauen, rollt er mich erschreckt“. Aber er gefällt ihm nen Mannes, schließlich von dem Ruf, durch eine Gasse von Fans zu jenem Po- auch, jedenfalls gibt sich der einstige „größer als ihre Helden“ zu sein, wie

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Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc im- Weit ist er nicht gekommen. Das aus ganz Spanien hergeflogen sind. mer wieder schwülstig versichert. Haus, das er mit Frau Marisa bewohnt, „Nach dem Essen“ dürften sie ihn spre- Indura´in entzauberte in den vergan- ist nur einen Kilometer vom Hof der El- chen, hatte Indura´in wissen lassen – um genen Jahren die schöne Show, weil er tern entfernt. Die Polstermöbel haben 17 Uhr erscheint er, die Finger mani- bewies, daß Erfolg planbar ist. Der den Charme der sechziger Jahre, in der kürt, die Füße nackt in Wildlederschu- „Chrono-Maıˆtre“ (L’Equipe) erarbeite- Schrankwand steht eine Lexikasamm- hen. Die Audienz dauert 20 Minuten, te sich im Einzelzeitfahren einen Vor- lung und davor das Rad, mit dem er sei- dann muß sich der Meister massieren sprung und begnügte sich an- schließend, ihn zu verteidigen. Indura´in galt als radelnder Rechenschieber und als der erste von Ärzten geklonte Toursieger. Seine Nase war durch eine Ope- ration erweitert, der Körper ex- akt vermessen worden: 7,8 Liter Lungenvolumen ließen die Meß- geräte bersten, sein Herz pumpt bei Belastung bis zu 50 Liter Blut pro Minute durch den Kör- per. Solche Daten wurden zwi- schen den Rennställen gehan- delt wie Forschungsergebnisse aus dem All; nur menschliche Rührstücke verweigerte der Ka-

tholik, der bis zur Verlobung auf dem Bauernhof seiner Eltern Medienobjekt Indura´in: „Das Herz raste, die Lunge brannte“ lebte. Unbesiegbar und zugleich auch noch ne erste Tour gewann. Sonntags um lassen; immerhin ist er bereit, im Weg- langweilig – Jose´ Miguel Echa´varri und zwölf gehe er in die Kirche, berichtet gehen jeden zu berühren, der es Eusebio Unzue vom Radrennklub Pam- der Hausherr. Bis zum Tag der Abreise wünscht. plona hatten diesen Schrecken aller nach Frankreich wird er hier mit Fragen Bei der Tour wollen alle von Indu- Verkäufer des Sports geschaffen. Seit nach Motivation oder Form genervt. Sie ra´in angefaßt werden: der Pfarrer, der sie von dem Talent gehört hatten, das interessieren ihn nicht, denn in Villava nach Frankreich reiste, um für ihn zu bei seinem ersten Rennen gleich Zwei- lebt er wie die Bauern der Gegend. Die beten, Hinault, die spanischen Journali- ter geworden war, verwirklichten sie säen, die ernten, und dazwischen guk- sten und die Fans aus aller Welt. konsequent ihren Traum: „Wir bilden ken sie, ob das Wetter hält. „Viel- Zwanzig Meter hat Indura´in hinter Miguel zu einer unschlagbaren Rennma- leicht“, murmelt Indura´in, „ist mein dem Zielstrich stets zurückzulegen, bis schine aus“ (Echa´varri). wahrer Platz im Leben im Bett.“ sich unter dem großen Plakat eines So einer wird nicht über Nacht zum Seine Kollegen rätseln, ob dieser Toursponsors ein Gitter für ihn zur Sei- Heros. Und im wirklichen Leben ist In- Mann vom Dorf wirklich der gute te schiebt. Hinter den Tribünen, auf ei- dura´in wohl immer noch der schüchter- Mensch im Sattel ist, als der er sich gibt, nem winzigen Hocker, spricht er dann ne Bub, dem das erste Fahrrad geklaut wenn er etwa Zabel für dessen ersten jeweils zwei Minuten lang zu zwei wurde, als er es abgestellt hatte, um mit Etappensieg mit einem Klaps auf die Gruppen von 15 schreienden Repor- dem Traktor über die Getreidefelder Schultern belohnt. Ist es überhaupt tern. Wer Glück hat, erwischt den Kö- seines Vaters zu zuckeln. möglich, ohne Haß und innere Abgrün- nig der Tour im Wohnmobil noch ein- de die Tour de France zu gewinnen? mal: 20 Zentimeter breit wird dann das „Seine Schwächen bemerkt keiner“, Fenster geöffnet, vor dem die Männer sagt Zabel. „Alle anderen“, weiß der von El Paı´s auch im Gewitter von La deutsche Udo Bölts, „reißen sich vor Plagne in die Knie sinken müssen. Anstrengung das Trikot bis zum Bauch- So inszeniert sich längst nicht mehr nabel auf, schmeißen die Mützen weg der Bauernsohn, sondern der Millionär, und grabschen nach allem, was man dem fast fünf Millionen Mark Jahres- trinken kann.“ Indura´in hingegen setze verdienst Sicherheit geben. Immer wie- am Start eine Sonnenbrille auf, und am der machen spröde Sportler solche Me- Ziel nehme er sie wieder ab. Essen, fah- tamorphosen durch: Auch der verbie- ren, schlafen – für Echa´varri ist es „ein sterte Fußballtrainer Otto Rehhagel ge- Kreislauf wie bei einem Tier“. fällt sich seit seinem Aufstieg von Bre- Zweifel verbietet sich die Branche men nach München als Mediendarling. selbst. Während in jeder anderen Sport- Alle, die aus geldwerten Gründen ei- art außergewöhnliche Resultate auto- nen Helden brauchen, vollenden Indu- matisch von den Rivalen in Frage ge- ra´ins wundersame Wandlung gern. stellt werden, herrscht im Radsport L’Equipe, als Gesellschafterin der So- Chancengleichheit: Doping wird als Teil cie´te´ du Tour de France an jedem inter- des Wettkampfes verstanden und damit essiert, der sich zum Heros machen nicht mehr als Betrug. läßt, taufte Indura´in „das Gelbe Trikot Indura´in, der sich zunehmend selbst in Person“ und lud ihn zum „Gipfel der als Legende begreift, beginnt, mit sei- Giganten“, einem Plausch mit Merckx

BONGARTS nem Ruhm zu spielen. Zwei Wochen und Hinault. Zabel vor dem Start der Tour empfängt er in Der TV-Sender France 2 zeigt Indu- „Du bleibst still wie ein Bock stehen“ einem Hotel in Segovia Journalisten, die ra´ins zuckenden Trizeps in Nahaufnah-

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me und die rasierten, vor Schweiß glän- zenden Beine im Stakkato schneller Leichtathletik Schnitte, unterlegt mit hämmerndem Rap. Und wieZabel stellen auf einmal al- lean Indura´in fest, wassieimmer vermiß- ten: „Er hat eine Aura.“ Kubas Lady Di Wahr ist, daß der ehemalige Span- nungstöter den Kitzel der Überraschun- Bei der Explosion eines Kerosinkochers wurde die kubanische Rekordläufe- gen entdeckt hat. In der vergangenen Woche fiel er an jedem Tag auf: Als Aus- rin Ana Fidelia Quirot lebensgefährlich verletzt. Der Wille, wieder zu laufen, reißer, als Jäger oder beim Showdown läßt sie Schmerzen und Wunden vergessen. vor Alpe d’Huez. Und manchmal, stell- ten Beobachter fest, fletschte er sogar die Zähne wie einst „der Kannibale“ egen ein Uhr nachts hält der knallroten Lippenstift und der reflektie- Merckx. schwarze Mercedes vor dem Her- renden Sonnenbrille verteilt Küßchen Da wurdeselbstdas jahrelang soschnö- Gmanos-Ameijeros-Hospital, eilig und hält hof. de Zeitfahren zum Thriller. Auf dem im verschwindet der große, alte Mann im „So, jetzt habt ihr sie lange genug ge- Windkanal getesteten Designerrad Portal. Vor der Intensivstation zieht er sehen“, sagt eine Mutter und drängt ihre „Espada“ (das Schwert) ritt der furcht- sich einen sterilen Umhang über die drei aufgeregten Kinder weiter. Ana Fi- lose Miguel im farblich exakt abgestimm- Uniform, legt eine Maske über seinen delia wird geliebt, verehrt und als Sym- ten Dress – Rad und Radfahrer schienen Bart, setzt ein Käppi auf und läßt sich bol benötigt. zu verschmelzen und gewannen gemein- dann an das Bett der Patientin mit den Es steht wieder einmal nicht gut um sam eine schon verloren geglaubte Etap- schweren Verbrennungen bringen. Kuba. Die Zuckerernte ist miserabel, pe. Seine kurze Unterhaltung mit der un- Nickel bringt kaum Geld. In der Haupt- Seitdem herrscht Indura´in wieder über ter Schock stehenden jungen Frau endet stadt sind viele Lebensmittel uner- die Tour wie in den vergangenen Jahren. mit der Aufforderung an sie, „zu kämp- schwinglich, nachts wird schon mal der Seine Mannschaft Banesto bewältigt of- fen“. Die Schwerverletzte fühlt nicht Strom abgeschaltet. In der Not jagt das fenbar jedes Detail professioneller als die nur die väterliche Zuneigung, sie emp- Volk lieber dem Dollar hinterher als re- Gegner. Mal trainiert das Team als einzi- findet die Worte als Staatsbefehl. volutionären Ideen. ges schon vor dem Start auf einer schwie- „Es war in diesem Moment“, erinnert Wie gut, daß Fidel wenigstens seine rigen Strecke; dann wieder tritt es mit ei- sich Ana Fidelia Quirot, „als stünde Ku- Ana Fidelia Quirot, 32, hat – die Volks- nem neuen, natürlich noch aerodynami- bas Regierung neben meinem Bett.“ heldin, die dem Feuertod entkam. scheren Helm an. Die einst beste 800-Meter-Läuferin der Noch einmal streift die Läuferin, die Im Kreise seines Stabs wirkt Indura´in Welt verspricht: „Ich werde wieder lau- die Hälfte der Zuschauer persönlich be- wie der perfekte Profi: Alles ist organi- fen.“ Da lächelt Fidel Castro und geht. grüßt hat, ihren roten Rennanzug glatt. siert, niemand wird unterschätzt, Pannen Zweieinhalb Jahre später setzt ein ro- Sie nimmt eine große kubanische Flagge passieren anderen. Dem Rivalen Tony ter Lada 2105 die Leichtathletin im Pan- in die Hand und marschiert gemessenen Rominger etwa, den ein Plattfuß zurück- amerikastadion von Havanna ab – und Schrittes auf den Rasen gegenüber der wirft wie Donald Duck die auf seinem die Copa Cuba, die nationale Meister- Ehrentribüne. Als die Nationalhymne Weg liegende Bananenschale. schaft, hat ihre Attraktion. Ana Fidelia, erklingt, läßt sie die Fahne flattern – die Dabei profitiert Indura´in vor allem da- die zierlich wirkende Frau mit dem Meisterschaft kann beginnen. von, daß Banesto als einziger Rennstall die strikte Leibeigenschaft vergangener Radsporttage konserviert hat. Jede ande- re Mannschaft hat Spezialisten für Berge oder Sprints verpflichtet, die oft nur wi- derwillig zusammenarbeiten – Indura´ins Truppe hingegen schweigt und funktio- niert nur fürihn. Die Domestiken, die ihn so lange an der Spitze des Feldes eskortie- ren, bis er seinen Husarenritt zum Ziel antritt, haben mit der Unterschrift in ih- rem Ein-Jahres-Vertrag jeglichen Egois- mus aufgegeben. Den Unterschied zwischen dem größ- ten und dem ganz normalen Tour-Teil- nehmer macht Erik Zabel, 25, aus Frön- denberg im Sauerland darum vor allem am „Maß des Leidens“ fest. Indura´in, sagt Zabel abends nach der Ankunft in Alpe d’Huez, sei lange vor Wind und Ri- valen beschützt worden und dann einfach vorne weggefahren – „und dann liegst du hilflos dahinter und weißt, daß du nur ei- nen Stundenkilometer langsamer bist“. Nur, diesen einen Kilometer schneller zu

fahren, das gehe nicht mehr: „Dann ex- CREUTZMANN / ZEITENSPIEGEL plodiert etwas in dir, du bleibst auf ein-

mal still wie ein Bock stehen und kommst FOTOS: S. nicht mehr vom Fleck.“ Y Quirot (1995), Gelegenheitsmodel Quirot (1990): „Es ist mit ihr, als würden wir in

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