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SWR2 Musikstunde

Musikalischer Aufbruch Europäische Avantgarde um 1400 (3)

Von Joachim Steinheuer

Sendung: Mittwoch, 18.06.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikalischer Aufbruch - Europäische Avantgarde um 1400 (3)

…mit Joachim Steinheuer. Das Thema dieser Woche: Musikalischer Aufbruch – Europäische Avantgarde um 1400. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht die vielfältige Rezeption des weltlichen Ars-subtilior-Repertoires aus Frankreich und Italien. Diese zeigt sich gleichermaßen in der Instrumentalmusik und in Umtextierungen und Bearbeitungen, nicht zuletzt bei dem Dichtersänger Oswald von Wolkenstein.

Für die Instrumentalmusik des Mittelalters ist die Überlieferungslage weitaus ungünstiger als für die lateinische Kirchenmusik oder für die weltliche Vokalmusik. Figürliche Darstellungen an Portalen und Kapitellen romanischer und gotischer Kirchen und Miniaturen in zahlreichen Handschriften geben zwar über das breite Spektrum unterschiedlicher Instrumente und die vielfältige Verwendung von Musik mit Instrumenten im religiösen, höfischen und öffentlichen Leben Auskunft, Instrumentalmusik wurde allerdings nur selten schriftlich aufgezeichnet, sondern weitgehend mündlich tradiert. Instrumente kamen nicht nur ganz unabhängig von Gesang in der Tanzmusik oder bei zeremoniellen Anlässen zum Einsatz, sondern spielten schon früh eine wichtige Rolle in der Begleitung von Gesang, zunächst bei einstimmigen weltlichen Liedern und später auch in der Mehrstimmigkeit. So sind etwa in den drei- bis vierstimmigen weltlichen Liedern von Guillaume de Machaut oder bei seinen Nachfolgern in der Ars subtilior häufig nicht alle Stimmen textiert. Das lässt vermuten, dass eine oder mehrere Stimmen auch instrumental besetzt werden konnten. Mehrstimmige reine Instrumentalmusik ist dagegen vor 1400 weitgehend unbekannt. Eine der frühen Quellen dafür ist der sogenannte Codex Faenza, eine heute in der Stadt Faenza nahe Bologna aufbewahrte Handschrift, deren ältester Teil mit zweistimmig notierten Stücken für ein Tasteninstrument zwischen 1400 und 1425 zusammengestellt wurde. Auffällig ist, dass sich darin unter der Überschrift Belfiore dança nur ein einziger als Tanz bezeichneter anonymer Satz findet. Darin ist einer langsameren Hauptstimme im Tenor eine mit vielen Verzierungen versehene weitaus raschere Oberstimme gegenübergestellt.

Musik 1: Anonymus, Belfiore dança CD Il Solazzo, The Newberry Consort, tr. 2, 2’14 Min. / LC 7045

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Als Duo von Laute und spielten Mitglieder des Newberry Consort Belfiore dança aus dem Codex Faenza. Wie andere Quellen mit Instrumentalmusik aus dem 15. Jahrhundert belegt auch der Codex Faenza die noch lange vorherrschende Abhängigkeit mehrstimmiger Instrumentalmusik von vokalen Modellen. Abgesehen von diesem einzigen Tanz finden sich in der Sammlung fast ausschließlich Bearbeitungen von Vokalmusik in Form sogenannter Intabulierungen - darunter versteht man spezielle Formen von Partiturschrift für Tasten- und Lauteninstrumente, wie sie etwa heute noch für die Gitarre verwendet wird. In den letzten Jahrzehnten konnte ein größerer Teil der Vorlagen für die Intabulierungen im Codex Faenza identifiziert werden, doch gibt es auch einige Stücke, deren Modelle heute nur noch in dieser bearbeiteten Form erhalten sind. Dies gilt auch für das folgende, mit Le ior überschriebene Stück, das vermutlich auf einer anonymen, heute ansonsten nicht mehr bekannten dreistimmigen Ballade basiert.

Musik 2: Anonymus, Le ior CD Codex Faenza, Marcel Peres, tr. 10, 2’00 Min. / LC 7045

Auf dem Nachbau eines Clavicytheriums aus dem 15. Jahrhundert spielte Marcel Peres Le ior, die instrumentale Fassung einer heute verlorenen Ballade. Die meisten der bislang identifizierten Vorlagen für die instrumentalen Bearbeitungen im Codex Faenza stammen aus französischen und italienischen Quellen der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Während die geistlichen Vorlagen ausnahmslos anonym überliefert sind, finden sich bei den weltlichen Stücken einige der wichtigsten Komponistennamen der Zeit, darunter Guillaume de Machaut, Francesco Landini und Antonio . Von Jacopo da Bologna sind allein fünf Stücke in den Codex aufgenommen worden, dazu gehört auch sein berühmtes Madrigal Aquila altera/Creatura gentil/Uccel di Dio, das möglicherweise 1360 anlässlich der Hochzeit des damals erst neunjährigen Gian Galeazzo Visconti mit der französischen Königstochter Isabelle de Valois entstanden ist. Als Herzog sollte dieser Mailand in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts zum größten und mächtigsten Staat in Italien machen, doch nach seinem Tod an der Pest im Jahre 1402 zerfiel sein Reich rasch wieder. Jacopo da Bologna konzipierte seine Komposition als Tripelmadrigal, d.h. mit drei unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Texten in den drei Stimmen, die alle den Adler als Symbol des Herrschers zum Gegenstand haben. Die beiden Oberstimmen sind zudem in mehreren Abschnitten in kanonischer Führung aufeinander bezogen.

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Musik 3: Jacopo da Bologna, Aquila altera CD Codex Faenza, , Marcel Peres, tr. 4, 3’24 Min. / LC 7045

Jacopo da Bolognas Madrigal Aquila altera/Creatura gentil/Uccel di Dio mit dem Ensemble Organum unter Marcel Peres in der originalen Form, wie sich das Stück auch im Codex Squarcialupi findet. Demgegenüber ist die instrumentale Fassung im Codex Faenza stark verändert: Die Dreistimmigkeit ist zur Zweistimmigkeit ohne den Contratenor reduziert, dadurch entfällt der Kanon in den Oberstimmen ganz. Während die Tenorstimme weitgehend unverändert übernommen wurde, ist die verbliebene Oberstimme so stark und vielgestaltig umspielt und ausgeziert, dass sie kaum noch als dieselbe Stimme wahrzunehmen ist und das Stück einen gänzlich anderen Charakter annimmt.

Musik 4: Anonymus nach Jacopo da Bologna, Aquila altera CD Codex Faenza, Marcel Peres, tr. 14, 3’27 Min. / LC 7045

Marcel Peres spielte die zweistimmige instrumentale Version von Jacopo da Bolognas Madrigal Aquila altera aus dem Codex Faenza. Die vielfältigen Verzierungen in der rechten Hand deuten auf eine zu dieser Zeit wohl weitverbreitete Praxis instrumentaler Improvisation hin, die nur vereinzelt schriftlich notiert wurde. Insofern bilden die instrumentalen Bearbeitungen im Codex Faenza auch Hinweise auf eine recht freie Art des Umgangs mit notierten Kompositionen in der zeitgenössischen Aufführungspraxis. Neben italienischen Vorlagen finden sich auch mehrere vergleichbare Bearbeitungen nach Vorlagen aus dem jüngeren französischen Repertoire mit weltlicher Musik. Eines dieser Stücke ist die Ballade De ce que fol pense von Pierre des Moulins aus dem Codex Chantilly. Über den Komponisten ist nur wenig bekannt. Der Refrain der Ballade spricht in allen drei Strophen davon, dass das lyrische Ich sich „en estrange contrée“ aufhalte, also in einem fremden Lande. Nach der verlorenen Schlacht bei Maupertuis im September 1356 war Pierre des Moulins im Gefolge des französischen Königs Jean le Bon für mehrere Jahre in englischer Gefangenschaft, von wo aus er seine Liebesklage an die entfernte Dame richtete.

Musik 5: Pierre des Moulins, De ce que fol pense, vokale Version Project Ars Nova, tr. 14, 4’50 Min. / LC ??

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Das Ensemble Project Ars Nova mit De ce que fol pense von Pierre des Moulins. Diese dreistimmige Ballade gehörte zu den weitverbreiteten Stücken der Zeit um 1400. Die instrumentale Bearbeitung im Codex Faenza bewahrt erneut den Tenor und variiert die Oberstimme so, dass daraus fast ein Tanz zu entstehen scheint.

Musik 6: Pierre des Moulins, De ce que fol pense, instrumentale Version nach Codex Faenza Project Ars Nova, tr. 3, 2’29 Min. / LC ??

Die instrumentale Fassung von De ce que fol pense von Pierre des Moulins mit dem Ensemble Project Ars Nova. Nur eine weitere Komposition ist darüber hinaus von Pierre des Moulins bekannt, doch wurde auch sein Amis tous doux im frühen 15 Jahrhundert mehrfach instrumental bearbeitet. Ein im deutsch-französischen Krieg 1870 in Straßburg verbranntes Manuskript enthielt gleich zwei Versionen davon, die glücklicherweise durch zuvor entstandene Transkriptionen erhalten geblieben sind. Die erste davon trug in der Handschrift die Überschrift Molendium de 1, womit der Name des Komponisten angezeigt wurde.

Musik 7: Molendium de Paris 1 (Amis tous doux) aus dem Manuskript Straßburg CD Piffarissimo, Capella della Torre, tr. 5, 1’55 Min. / LC 00950

Amis tous doux von Pierre des Moulins in einer instrumentalen Version mit dem Ensemble Capella della Torre. Neben solchen instrumentalen Bearbeitungen bildeten Kontrafakturen, d.h. Umtextierungen von bereits vorliegenden Kompositionen, einen zweiten wichtigen Bereich der Rezeption mehrstimmiger weltlicher Lieder der italienischen und französischen Ars subtilior. Nicht selten wurden dabei die volkssprachlichen Texte durch geistliche lateinische Texte ersetzt, wodurch aus weltlichen Liebesliedern geistliche Gesänge wurden, die in ganz anderen Kontexten aufgeführt werden konnten. Ungewöhnlicher ist dagegen, dass nun auch mehrstimmige Lieder mit neuem Text in einer der anderen Volkssprachen versehen wurden. In früherer Zeit war dies etwa bei der Übernahme einstimmiger Liedmodelle aus Frankreich im deutschen Minnesang gängige Praxis gewesen. Besonders im Werk des Dichtersängers Oswald von Wolkenstein spielen Kontrafakturen in den Jahrzehnten nach 1400 eine ganz wesentliche Rolle. Bei vielen seiner mehrstimmigen Stücke ist mittlerweile erwiesen, dass es sich um Bearbeitungen von bereits existierenden Kompositionen handelt, allerdings wird dabei oft sehr frei mit den Vorlagen umgegangen. Oswald hatte auf seinen zahlreichen Reisen seit früher Jugend vielfältige Gelegenheit, in verschiedenen Ländern die 6 neueste Musik kennenzulernen und vielleicht auch zu kopieren. Als Teilnehmer beim Konzil von Konstanz kam er in Kontakt mit Musikern aus ganz Europa, die im Gefolge von Päpsten, Kardinälen und Fürsten angereist waren. Mit König Sigismund reiste Oswald nach Venedig, sowie nach England, Spanien und Frankreich, wo dieser mit den dortigen Königen Separatverhandlungen über eine Beendigung des abendländischen Schismas führte. Bei diesen Anlässen traf Oswald auch mit der Königinwitwe von Aragon und mit der französischen Königin zusammen. Vielleicht hat Oswald bei einem dieser Aufenthalte das folgende hochvirtuose Virelai von Jean Vaillant kennengelernt. Es findet sich auch im Codex Chantilly und ahmt mit lautmalerischen Silben die Rufe verschiedener Vögel nach. Unter diesen treten Lerche, Nachtigall und auch der Kuckuck deutlich hervor, dessen ehebrecherisches Treiben die anderen Vögel mit dem Tode bestrafen wollen.

Musik 8: Jean Vaillant, Par maintes fois, Virelai Project Ars Nova, tr. 13, 2’49 Min. / LC ??

Das Ensemble Project Ars Nova mit dem dreistimmigen Vogelrufvirelai Par maintes fois von Jean Vaillant. Oswald von Wolkenstein verwendete in seiner Bearbeitung nur zwei der drei Stimmen der Vorlage und fertigte für die Oberstimme eine recht freie Übersetzung des französischen Textes an, in der neben den Vögeln der Vorlage am Ende unerwartet auch ein Rabe und ein störrischer Esel auftreten.

Musik 9: Oswald von Wolkenstein: Der mai mit lieber zal CD Songs of Myself, tr. 17, 3’24 Min. / LC 7045

Oswald von Wolkensteins Der mai mit lieber zal mit Andreas Scholl und Marc Lewon. Obwohl Oswald bei der Mehrzahl seiner Kontrafakturen französische Vorlagen verwendete, findet sich doch mit der dreistimmigen Ballata Questa fanciulla Amor fallami pia von Francesco Landini auch ein prominentes Beispiel aus Italien, das auch im Codex Squarcialupi überliefert ist.

Musik 10: Francesco Landini, Questa fanciulla Amor CD Landini, Ensemble Micrologus, tr. 10, 3’56 Min. / LC ??

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Francesco Landinis Questa fanciulla Amor mit dem Ensemble Micrologus. In seiner Kontrafaktur dieser Ballata greift Oswald das Thema unerfüllter Liebe auf, das er in seiner dritten Textstrophe allerdings unerwartet zuspitzt: „Vil besser ist mit eren / kurz gestorben zwar / wann mit schanden / hie gelebt zwai hundert jar.“ Anders als bei Landini, wo die Oberstimme beim Textvortrag im Vordergrund steht, hat Oswald in seiner zweistimmigen Umarbeitung dem Tenor die Strophen zugewiesen, während die Oberstimme untextiert bleibt.

Musik 11: Oswald von Wolkenstein: Mein Herz das ist versehrt CD Wolkenstein Ensemble für frühe Musik Augsburg, tr. 8, 2’22 Min. / LC 0612

Oswald von Wolkensteins Mein Herz das ist versehrt mit dem Ensemble für frühe Musik Augsburg. Auch in mehrstimmigen Stücken, in denen kein konkretes Modell nachweisbar ist, hat Oswald vermutlich Anregungen aus dem internationalen Liedrepertoire aufgegriffen. Sein zweistimmiges Lied Herz, prich kombiniert ausdrucksvolle komplementäre Textdeklamation in den beiden Singstimmen, die an altertümliche Hoquetustechniken erinnert, mit einem hochvirtuos verzierten Gesang in der Oberstimme, der die Vertrautheit mit zeitgenössischer Ars-subtilior-Kunst voraussetzt.

Musik 12: Oswald von Wolkenstein, Herz, prich CD The Cosmopolitan, Ensemble Leones, Marc Lewon, tr. 15, 3’41 Min. / LC 00612

Oswald von Wolkensteins Herz, prich mit dem Ensemble Leones. Auch in seinen mit „Fuga“ überschriebenen Kanonkompositionen mag Oswald die Kenntnis von Beispielen der französischen Chace oder der italienischen Caccia zu Gute gekommen sein. Allerdings verwendet er Kanontechniken nicht so sehr, um kompositorische Subtilität und Virtuosität zur Schau zu stellen, sondern für ein breites Spektrum an Themen von Trinkliedern bis hin zu ganz innigen Liebesliedern. Nu rue mit sorgen steht in der Tradition der Tagelieder, die den Abschied eines Liebespaares bei Tagesanbruch zum Gegenstand haben. Der ganz syllabisch angelegte Kanon kann nicht nur zweistimmig, sondern wie das Ensemble Leones in einer gerade neu erschienenen Aufnahme unter Beweis stellt, auch dreistimmig gesungen werden.

Musik 13: Oswald von Wolkenstein, Nu rue mit sorgen CD The Cosmopolitan, Ensemble Leones, Marc Lewon, tr. 11, 3’37 Min. / LC 00612

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Das war die SWR2 Musikstunde zum Thema Musikalischer Aufbruch – Europäische Avantgarde um 1400, Teil 3. Im Mittelpunkt stand heute die Rezeption der weltlichen Ars- subtilior-Kunst in der zeitgenössischen Instrumentalmusik und bei Oswald von Wolkenstein. Zuletzt hörten Sie Oswalds Kanon Nu rue mit sorgen in einer dreistimmigen Version des Ensembles Leones unter der Leitung von Marc Lewon. In der letzten Sendung am Freitag geht es dann um die englische Musik und die Entstehung einer neuen Einfachheit. Am Mikrophon war Joachim Steinheuer.