Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/27

Deutscher

Stenografischer Bericht

27. Sitzung

Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 18: NIS 90/DIE GRÜNEN: Fünf Jahre UN- Behindertenrechtskonvention – Sofort- Antrag der Abgeordneten Philipp Mißfelder, programm für Barrierefreiheit und ge- Sibylle Pfeiffer, (Chemnitz), gen Diskriminierung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Drucksache 18/977 ...... 2180 A CDU/CSU sowie der Abgeordneten , Dr. Bärbel Kofler, , b) Antrag der Abgeordneten , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Diana Golze, Sabine Zimmermann (Zwi- SPD sowie der Abgeordneten Kordula Schulz- ckau), weiterer Abgeordneter und der Asche, Tom Koenigs, , weite- Fraktion DIE LINKE: Programm zur Be- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- seitigung von Barrieren auflegen NIS 90/DIE GRÜNEN: Erinnerung und Ge- Drucksache 18/972 ...... 2180 B denken an die Opfer des Völkermordes in Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ Ruanda 1994 DIE GRÜNEN) ...... 2180 C Drucksache 18/973 ...... 2163 B (CDU/CSU) ...... 2182 A Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA ...... 2163 C Katrin Werner (DIE LINKE) ...... 2183 C (DIE LINKE) ...... 2166 A (SPD) ...... 2184 D Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 2167 A Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2185 B Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2168 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2186 A Niels Annen (SPD) ...... 2170 B Dr. (CDU/CSU) ...... 2187 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 2171 C Sabine Zimmermann (Zwickau) Dr. (CDU/CSU) ...... 2172 C (DIE LINKE) ...... 2188 A Gabriela Heinrich (SPD) ...... 2174 B (Aachen) (SPD) ...... 2188 D Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) ...... 2175 B Jutta Eckenbach (CDU/CSU) ...... 2190 A Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 2176 D Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 2191 A Wilfried Lorenz (CDU/CSU) ...... 2178 B Dr. (SPD) ...... 2192 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 2193 A Tagesordnungspunkt 19: Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 2194 C a) Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . 2195 C Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (SPD) ...... 2196 D II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. , Freitag, den 4. April 2014

Uwe Lagosky (CDU/CSU) ...... 2197 C Tagesordnungspunkt 21: Dr. (SPD) ...... 2198 C Antrag der Abgeordneten , Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Zusatztagesordnungspunkt 3: Fraktion DIE LINKE: Deckungslücken der Antrag der Bundesregierung: Beteiligung Sozialen Pflegeversicherung schließen und bewaffneter deutscher Streitkräfte am die staatlich geförderten Pflegezusatzversi- maritimen Begleitschutz bei der Hydro- cherungen – sogenannter Pflege-Bahr – ab- lyse syrischer Chemiewaffen an Bord der schaffen CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen Drucksache 18/591 ...... 2209 C VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 2209 D syrischen Chemiewaffen Drucksache 18/984 ...... 2200 A Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 2210 D Dr. , Bundesministerin Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 2211 A BMVg ...... 2200 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Jan van Aken (DIE LINKE) ...... 2200 C DIE GRÜNEN) ...... 2212 C (DIE LINKE) ...... 2201 D (SPD) ...... 2213 C Michael Roth, Staatsminister AA ...... 2203 A (CDU/CSU) ...... 2215 B Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 2204 A Heiko Schmelzle (CDU/CSU) ...... 2216 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2205 B Nächste Sitzung ...... 2217 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 2205 D Michael Roth, Staatsminister Anlage 1 AA ...... 2206 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2219 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2206 C Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 2207 C Anlage 2 Dr. (CDU/CSU) ...... 2208 C Amtliche Mitteilungen ...... 2220 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2163

(A) (C)

27. Sitzung

Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Auswärtigen: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Die Berge Ruandas strömen Wärme und Behaglich- begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Ple- keit aus. Sie locken durch Schönheit und Stille, narsitzung dieser Woche. kristallene Luft, Ruhe und die Vollkommenheit ih- rer Linien und Formen. Am Morgen füllt durchsich- Ich habe Ihnen mit Blick auf die nächste Sitzungswo- tiger Nebel die grünen Täler. che, die ja unmittelbar bevorsteht, mitzuteilen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So ständigt hat, während der Haushaltsberatungen ab dem beschreibt Richard Kapuscinski die Landschaft von 8. April wie üblich keine Befragung der Bundesregie- Ruanda. „Land der tausend Hügel“ wird Ruanda deshalb rung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stun- auch im Volksmund dort genannt. den durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von (B) Montag, dem 7. April, bis Freitag, dem 11. April, festge- Einer der tausend Hügel liegt in Murambi. Hierhin (D) legt worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das waren Zehntausende Tutsi geflüchtet, als vor 20 Jahren ist nicht der Fall. Dann haben wir das so vereinbart. der Massenmord in Ruanda begann. „Oben am Hügel in der neu gebauten Schule seid ihr sicher“, hatte der Bi- Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: schof gesagt. Genau an diesem Morgen, am 21. April Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp 1994, umstellten Milizen die Schulgebäude und began- Mißfelder, Sibylle Pfeiffer, Frank Heinrich nen zu morden, mit Macheten, Messern und Knüppeln – (Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der ein Blutrausch, der kein Ende nehmen wollte. Zehntau- Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten sende Menschen starben auf diesem Hügel an einem ein- Niels Annen, Dr. Bärbel Kofler, Gabriela zigen Tag. Jonathan Nturo hat das Massaker als kleiner Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Frak- Junge überlebt. Heute sagt er beim Blick über den Hü- tion der SPD sowie der Abgeordneten Kordula gel: Ich wundere mich manchmal, dass hier noch Gras Schulz-Asche, Tom Koenigs, Omid Nouripour, wächst, dass das Leben weitergeht. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist schwer, zu begreifen, dass die Erde sich weiterdreht nach einem sol- Erinnerung und Gedenken an die Opfer des chen Grauen des Völkermords. Dieses Gefühl kennt je- Völkermordes in Ruanda 1994 der von uns, vielleicht vom ersten Besuch in Bergen- Belsen, Buchenwald oder Auschwitz. Es beschleicht je- Drucksache 18/973 den, der an solche Orte kommt. Aber auch überall dort Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für wächst noch Gras. Jetzt im Frühling blühen sogar die diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu Bäume. kann ich keinen Widerspruch erkennen, sodass wir so verfahren können. Als Deutscher bin ich vorsichtig mit historischen Ver- gleichen. Sie werden der Einzigartigkeit und Unver- Dazu liegt ein Antrag vor, über den wir dann später gleichbarkeit dieser Verbrechen und insbesondere der befinden werden. Dimension nationalsozialistischer Verbrechen nie ge- recht. Sie werden aber auch der Geschichte und den un- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- terschiedlichen Kulturen Afrikas nicht gerecht. Und nächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank- Walter Steinmeier. trotzdem: Als Deutscher kann man von einem Völker- mord in Afrika nicht sprechen, ohne an den von uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) selbst zu verantwortenden Völkermord zu denken. Das 2164 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) sind Schicksalsmomente unserer Kontinente. Sie prägen handeln können. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das (C) unser Handeln bis heute und prägen eben auch – davon muss eben auch unser Interesse sein. Wir Europäer wol- rede ich – die Beziehungen unserer Völker zueinander. len auch, dass Afrika sein Schicksal in die eigenen Unsere Schicksalsmomente mögen so unterschiedlich Hände nimmt. Afrika ist ein Kontinent im Aufbruch, und sein wie die Landschaften – die Hügel von Ruanda, die wir müssen diesen Aufbruch massiv unterstützen. Wälder um Auschwitz, die Mohnfelder von Verdun –, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem doch die Lehren aus diesen Schicksalsmomenten verbin- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. den uns. Sie sind Lehren einer geteilten Menschlichkeit. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zu Dazu gehört auch, dass wir viele der afrikanischen ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder! Staaten heute mehr und mehr als Partner wahrnehmen. Ja, niemals wieder. Doch viel schwieriger ist die Frage, Wir brauchen sie als Partner, auch um die globalen He- wie wir dieser Verantwortung des „Niemals wieder!“ ei- rausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, be- gentlich gerecht werden. Seien wir ehrlich: Wir haben wältigen zu können. Wenn man dort unterwegs ist, dann schon einmal „Niemals wieder!“ gerufen. Das war 1948, merkt man, wie sehr unsere beiden Kontinente, Europa nach dem Holocaust, als die Vereinten Nationen die Völ- und Afrika, aufeinander angewiesen sind, zueinander ge- kermordkonvention beschlossen haben. Doch wir haben rückt sind, wie sehr wir von der Stabilität des jeweils an- dieses Versprechen nicht halten können. Die internatio- deren Kontinentes abhängen. Das erleben wir Europäer nale Gemeinschaft hat versagt, als sie in Ruanda vor – und wir reden hier auch darüber –, wenn Flüchtlinge 20 Jahren inmitten der Gewalt ihre Blauhelmsoldaten aus Afrikas Krisenherden an Europas Grenzen stoßen. abzog. Aber man spürt es auch in vielen Gesprächen in Afrika, Zur Wahrheit gehört auch, dass heute, in der Gegen- wenn dort gesagt wird: Wir spüren hier vor allen Dingen wart, die Dämonen des Völkermords keineswegs ge- eure seit fünf Jahren dauernde Krise in Europa, weil von bannt sind, auch wenn die internationale Gemeinschaft den europäischen Staaten, insbesondere den südeuropäi- unter der Überschrift „Responsibility to Protect“ auf Ru- schen Staaten, weniger investiert wird. – Die europäi- anda reagiert hat, auch wenn sie Prävention, Einsatzfä- sche Krise hinterlässt eben auch tiefe Spuren in Afrika. higkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist leicht bessert hat. Wir sprechen nicht überall von Völkermord, beschrieben. Danach zu handeln, ist nicht ganz so aber wir stehen im Kongo, in Zentralafrika und in Syrien einfach. Dazu entwickelt sich Afrika viel zu rasant, viel vor endlosem Blutvergießen. zu vielfältig. Dieses Afrika will einfach unter keine Jonathan Nturo und allen Opfern von Menschheits- knackige Überschrift passen, nach der Medien und gele- (B) verbrechen können wir den Verlust ihrer Kinder, Väter, gentlich die Politik suchen. Afrika ist weder einfach Kri- (D) Mütter und Freunde niemals wiedergutmachen. Aber wir senkontinent noch einfach Chancenkontinent. Wahr- schulden ihnen etwas, auch wenn wir ehrlich wissen, scheinlich hat Horst Köhler recht, der gesagt hat: Solche dass nicht jedes Unrecht und jedes Blutvergießen ge- Urteile sagen ohnehin viel mehr über uns selber als über stoppt werden kann. Wir schulden ihnen, dass wir uns Afrika. nicht dem Gefühl der Ohnmacht und schon gar nicht der Ich finde, wenn die Entwicklung Afrikas so vielfältig Gleichgültigkeit hingeben, dass wir nicht nur anpran- ist, dann muss unser Instrumentenkasten daran angepasst gern, sondern das uns Mögliche tun, das in unserer werden und genauso vielfältig sein. Je nach Land und je Macht steht, um Völkermord zu verhindern. Das ist un- nach Lage gehören in diesen Instrumentenkasten wirt- sere Verpflichtung, und dieser Verpflichtung müssen wir schaftliche Investitionen genauso wie Abrüstung oder gerecht werden. die Eindämmung von Kleinwaffen; dazu gehört kulturel- (Beifall im ganzen Hause) ler Austausch genauso wie Straßenbau, die Stärkung des Rechtsstaates genauso wie das Training von Sicherheits- Ruanda ist dabei, Vergangenheit aufzuarbeiten, ein kräften. All diese Instrumente habe ich in verschiedenen neues Ruanda zu schaffen. Überall in Afrika entsteht Ländern, in verschiedenen Staaten gesehen, und alle ganz viel Neues in diesen Jahren. Afrika, habe ich in ei- werden sich in den afrikapolitischen Leitlinien der Bun- ner anderen Rede gesagt, verändert sich schneller als un- desregierung wiederfinden, die wir gerade erarbeiten. sere Wahrnehmung von Afrika. Ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Gerade gegen- Das ist der Grund für meine Reise nach Äthiopien, über Afrika bleibt Außenpolitik immer auch ein Balan- Tansania und Angola, die ich in der vergangenen Woche ceakt. Dazu gehört der Respekt vor den Unterschieden gemacht habe. So unterschiedlich die drei Länder sind, und die Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch die so habe ich doch eigentlich überall, von fast allen Ge- Feststellung dessen, was möglicherweise unvereinbar sprächspartnern, denselben Ruf gehört. Der Ruf lautet: ist. Wir wollen keine Bettler vor den Türen Europas sein. – Der afrikanische Kontinent ist aus sich heraus lebensfä- Gemeinsamkeiten gibt es heute sehr viel mehr als das hig, kann Nahrung und Entwicklung für alle Menschen „Nie wieder!“, von dem ich ganz am Anfang meiner jedenfalls potenziell bereitstellen. Rede gesprochen habe, das „Nie wieder!“ zu Krieg und Völkermord. Wenn es um Sicherheit, Stabilität und Frieden geht, sagen viele: Wir wollen nicht um Europas Soldaten bit- Es ist sehr viel mehr, weil erstens die Europäer wie ten, sondern wollen das selbst bewältigen können, selbst die Afrikaner gelernt haben, mit Nachbarn zu leben, mit Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2165

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) ihnen zu arbeiten statt gegen sie. Das ist eine Leitidee Morden zu verstricken. Deshalb gehört zu den Lehren (C) der regionalen Integration, wie wir sie in Europa ent- des Völkermords das Friedensversprechen auf der einen wickelt haben; aber das ist eben auch die Leitidee der Seite, aber auch das Wohlstandsversprechen auf der an- Afrikanischen Union. deren Seite. Ich befürchte, wir unterschätzen gelegentlich, was Kongo, Nigeria und Angola, alle diese Staaten lehren von den afrikanischen Organisationen mittlerweile ge- uns, dass Öl, Gas, Gold und Diamanten nicht von selbst leistet wird. Natürlich reden wir zu Recht über Einsätze, für Wohlstandsentwicklung sorgen, an der alle teilhaben, über Mandate, die hier im Deutschen Bundestag be- sondern das muss politisch organisiert werden. Nur schlossen werden. Aber viele wissen einfach nicht, dass wenn der wirtschaftliche Aufbruch Perspektiven für alle die Afrikanische Union 70 000 Soldaten in innerafrika- Menschen schafft, nur wenn er – auch durch Bildung, nischen Konflikten im Einsatz hat und mit Mühe – und Entwicklung und die Schaffung eines Gesundheitswe- nicht überall erfolgreich – danach sucht, dort Stabilität sens – alle Menschen am Wohlstand teilhaben lässt, wiederherzustellen, wo sie verloren gegangen ist. Die schweißt er die Gesellschaft zusammen. Nur dann kön- Stärkung der afrikanischen Eigenverantwortung, die nen wir für Frieden sorgen. dazu notwendig ist, hat auf dem EU-Afrika-Gipfel in dieser Woche eine große Rolle gespielt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Wir versuchen, diese Eigenverantwortung zu stärken – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht nur durch situative Ausbildungsmissionen, sondern ganz gezielt, indem wir beispielsweise das Kofi Annan In Addis Abeba führte ich längere Gespräche mit Ver- International Peacekeeping Training Centre in Ghana tretern der Afrikanischen Union, auch mit der Kommis- unterstützen oder das Peace and Security Centre – ich sionsvorsitzenden Frau Dlamini-Zuma. Nach den Ge- konnte mir das ansehen –, das wir auf dem Gelände der sprächen stellte eine deutsche Journalistin die relativ Afrikanischen Union in Addis Abeba bauen und das klare Frage an Frau Zuma: Was ist eigentlich die größte nächstes Jahr eröffnet wird, pünktlicher als manche Bau- Erwartung Afrikas an Europa? Frau Zuma hat eine klare stelle in Deutschland. Antwort gegeben. Sie sagte: Unsere Jugend! Für sie wol- len wir mit Europa arbeiten, für ihre Ausbildung, für ihre (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei wirtschaftlichen Perspektiven. Die nächste Frage der Abgeordneten der CDU/CSU) Journalistin war: Und was hat Europa von Afrika zu er- warten? Darauf antwortete Frau Zuma: Auch unsere Ju- Zweitens. Wir wollen die Vielfalt der Menschen gend! Unsere Jugend ist unser Reichtum, und von die- schützen. Die Botschafterin Ruandas hat in einer Rede sem Reichtum wird auch Europa profitieren. (B) zum 20-jährigen Gedenken an den Völkermord gesagt: (D) Meine Damen und Herren, die Lehren aus den Wir bauen ein Ruanda auf, in dem alle Menschen … Schicksalsmomenten, die ich genannt habe, verbinden sich mit gleichen Rechten entfalten können. uns. 20 Jahre nach dem Völkermord ist Ruanda heute ein Land, das auf dem Weg ist in eine neue Zukunft, ohne zu In Vielfalt leben, das geht nur – das wissen wir – in ei- verdrängen, ohne zu vergessen. nem Rechtsstaat, auf den sich alle verlassen können. Dazu gehört die Freiheit von Meinung und Religion ge- Die tausend Hügel, von denen ich gesprochen habe, nauso wie die Freiheit der sexuellen Orientierung. Das sind und bleiben die Schicksalslandschaft Afrikas. war ein Grundsatz, der auf meiner Reise eine große Roméo Dallaire, der 1993 als Kommandeur der Blau- Rolle gespielt hat, zum Beispiel beim Besuch des Ger- helme nach Ruanda kam, rief, als er diese tausend Hügel man Tanzanian Law Centre in Daressalam, wo ich Stu- sah: Ein Garten Eden ist das hier. Wenige Monate später denten getroffen habe, die sehr an einem Rechtsstaats- musste er voll Scham und Wut das Massaker mit anse- dialog mit uns, mit Europa, aber insbesondere mit hen. Deutschland, interessiert sind. Viele ihrer Lehrer haben an deutschen Universitäten studiert. Deshalb will ich an Die Erinnerung ist in tausend Hügeln eingeprägt. Ihr dieser Stelle den vielen deutschen Universitäten meinen Name bleibt verbunden mit den Menschheitsverbrechen herzlichen Dank für ihr Engagement auf dem afrikani- vor 20 Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben schen Kontinent aussprechen, insbesondere dem Deut- aller Erinnerung, die in dieser Landschaft ruht: Denen, schen Akademischen Austauschdienst, der sich durch die Ruanda heute aufbauen, mögen die tausend Hügel seine Stipendienprogramme mit unendlicher Energie da- wieder Heimat sein und fruchtbarer Boden. für einsetzt, dass die entsprechenden Vorhaben auf den Vielen Dank. Weg gebracht werden können. (Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU/CSU (Beifall im ganzen Hause) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens haben wir gelernt, dass Frieden oder Unfrie- den auch materielle Grundlagen hat, insbesondere dann, Präsident Dr. Norbert Lammert: wenn sie fehlen. Der Völkermord vor 20 Jahren wurde Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Liebich für angeheizt durch materielle Not, durch knappe Ressour- die Fraktion Die Linke. cen, durch Konflikte, die die Machthaber systematisch ausgenutzt haben, um möglichst viele Menschen in das (Beifall bei der LINKEN) 2166 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

(A) Stefan Liebich (DIE LINKE): Viele stellten und stellen sich die Frage, warum die (C) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Ihr Weltgemeinschaft den Geschehnissen keinen Riegel vor- habt gute Arbeit geleistet“, so bedankte sich der Präfekt geschoben hat, warum die UNO nicht militärisch einge- des Verwaltungsbezirks Gikongoro im Süden Ruandas griffen hat, als die Dimension der Unmenschlichkeit be- bei jenen, die innerhalb weniger Stunden Abertausende kannt wurde. Ich finde diese Frage verständlich. von Menschen getötet hatten. Damals, vor 20 Jahren, hat Noch wichtiger ist es, sich damit auseinanderzuset- kein Virus des Tötens, wie manche sagen, das Land be- zen, was man hätte tun können, um den Völkermord fallen. Es waren keine vermeintlichen Wilden, die sich schon vor seinem Geschehen zu verhindern. Vor der Ver- in einen Stammeskrieg verirrten. Es waren gebildete, antwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung, vor sol- moderne Eliten, die Unvorstellbares taten. Sie organi- chen Verbrechen liegt die Verantwortung, zu vermeiden, sierten einen hunderttausendfachen Mord an den Tutsi dass es überhaupt so weit kommen kann. und den gemäßigten Hutu und führten ihn teilweise auch eigenhändig durch. Eine Frage, der wir uns heute stellen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- müssen, ist, wie es zu diesem Völkermord kommen neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- konnte und wer dafür in Ruanda, in Afrika, in Europa, in NISSES 90/DIE GRÜNEN) unserer Weltgemeinschaft die Verantwortung trägt. Wie Warum wurden vor 130 Jahren hier ganz in der Nähe konnte so etwas geschehen in einem Land, in dem die in der Wilhelmstraße die Grundlagen für die Aufteilung Menschen die gleiche Sprache sprechen, meist auch die der Kolonien Afrikas gelegt und willkürlich Grenzen ge- gleiche Religion haben, in dem man über sehr lange Zeit zogen, ohne irgendeinen der Menschen zu fragen, die friedlich miteinander lebte und sich vor allem dadurch seit Jahrhunderten auf diesem Kontinent lebten? Was unterschied, dass der eine Ackerbauer und der andere war die Rolle Deutschlands und Belgiens bei der Zie- Viehbesitzer war? hung der Grenzen zwischen den Bewohnern Ruandas? Schließlich: Was ist mit Frankreich? „Hebt endlich die Hutu und Tutsi wurden erst von Europäern zu Fein- Geheimhaltung der Rolle Frankreichs in Ruanda auf!“, den gemacht. Es war der Engländer John Speke, der fordert seit vergangenem Mittwoch eine Petition, die be- 1860 fand, dass die Tutsi den neolithisch-hamitischen reits von Tausenden Franzosen unterschrieben wurde. Völkern zugerechnet werden müssten und den afrikani- Denn immer noch hält die Regierung Hollande die Ak- schen Hutu überlegen seien. Festgeschrieben wurden die ten unter Verschluss. angeblichen Rassenunterschiede durch die Deutschen, deren Kolonie das Territorium Ruandas zunächst war, Französische Experten hatten die rassistische Hutu und vor allem durch die belgischen Kolonialherren, die Power bei der statistischen Erfassung und Organisation (B) in Pässe eintragen ließen, ob jemand Hutu oder Tutsi ist. der gesamten Bevölkerung beraten. Die Statistiken ha- (D) Soziale Unterschiede wurden ethnisiert, damit die euro- ben später beim Völkermord geholfen. Die Genozid- päischen Mächte das Land leichter beherrschen und die Regierung selbst wurde in den Räumen der französi- Gruppen gegeneinander ausspielen konnten. Hier liegt schen Botschaft in Kigali gegründet, und als der Völker- die Wurzel des Übels. mord bereits auf Hochtouren lief, wurde sie noch in Paris empfangen. Wer Außenpolitik nicht nur von der Es waren auch die Belgier, die eine Hutu-Regierung Seitenlinie machen möchte, Frau Merkel, Herr in Ruanda ins Amt brachten und damit der jahrhunderte- Steinmeier, und wer Afrika dabei im Blick hat, der sollte alten Tutsi-Herrschaft ein Ende setzten. Die Hutu diskri- schleunigst gegenüber den französischen Freunden aktiv minierten die Tutsi. Die Tutsi flohen. Es gab Kämpfe werden und hier Aufklärung fordern. und Tote, und die Invasion der Tutsi der Ruandischen Patriotischen Front, der heutigen Regierungspartei (Beifall bei der LINKEN) Ruandas, unter Paul Kagame von Uganda aus konnte nur Wenn wir die Opfer des Völkermords ehren wollen, durch das Eingreifen Frankreichs, das die Hutu-Regie- dann sollten wir Ruanda helfen, zum Beispiel den Über- rung unterstützte, gestoppt werden. lebenden des Völkermords, die heute unter HIV und Aids leiden, und jenen, die an ihrem Lebensabend keine Nun begann die Vorbereitung zum Völkermord: Ra- Familien mehr haben, die sie unterstützen können. Wir dios wurden umsonst im Land verteilt, um Hass- und helfen nicht, wenn wir mit Kritik an der Scheindemokra- Gewaltaufrufe zu verbreiten. Als das Präsidentenflug- tie, die Ruanda heute ist, sparen. Unterdrückung der zeug am 6. April 1994 abgeschossen wurde, brachen alle Opposition, mangelnde Pressefreiheit und die Rolle Dämme. Mit Namenslisten gingen die Anhänger von Kagames im Kongo dürfen nicht verschwiegen werden. Hutu Power, so der Name einer rassistischen Partei, als Erstes zu den Häusern der gemäßigten Hutu-Politiker Eines noch zum Schluss: Bitte legitimieren Sie keine und brachten sie um. Am 7. April 1994, also einen Tag neuen Militäreinsätze in Situationen, die mit Ruandas später, war die gesamte Regierung ausgelöscht oder un- Völkermord mit Hunderttausenden Toten nicht zu ver- tergetaucht. Dann wurde den Milizen freie Hand ge- gleichen sind! währt. Allen, die sich an den Massakern beteiligten, bot (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) man materielle Anreize. Wer nicht mitmischte, wurde mitsamt seiner Familie getötet. In 100 Tagen wurden Eine soziale und gerechte Weltwirtschaftsordnung und 75 Prozent der ruandischen Tutsi ermordet. Das Grauen daraus erwachsende Stabilität – der Außenminister hat wird noch heute in zahlreichen Gedenkstätten deutlich. darauf hingewiesen – sind sicher keine Garantie, aber Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2167

Stefan Liebich (A) können helfen, solche Abgründe der Unmenschlichkeit Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten (C) zu vermeiden. Hier haben wir noch viel zu tun. Regierung und Opposition am 4. August 1993 in Tansa- nia ein Friedensabkommen, das eine Teilung der Macht Vielen Dank. sowie eine Integration der Rebellenarmee vorsah. Beide (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Parteien befürworteten die Stationierung einer UN-Blau- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE helmtruppe, um die Umsetzung der Vereinbarung zu GRÜNEN) überwachen. Am 5. Oktober 1993 richtete der UN-Sicherheitsrat Präsident Dr. Norbert Lammert: mit der Resolution 872 auf Vorschlag des damaligen Ge- Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für neralsekretärs Boutros Boutros-Ghali eine UNO-Mis- die CDU/CSU-Fraktion. sion für Ruanda ein. Aber auch das hat den späteren Völ- (Beifall bei der CDU/CSU) kermord nicht verhindert. Der damalige UNAMIR- Kommandeur traf am 22. Oktober 1993 in der ruandi- schen Hauptstadt Kigali ein, die ersten Soldaten fünf Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Tage später. Das heißt, die UNO war damals schon prä- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In sent. Die Etablierung einer Übergangsregierung unter diesen Tagen jährt sich der Völkermord in Ruanda – am Einschluss der Patriotischen Front Kagames scheiterte kommenden Montag findet eine Gedenkveranstaltung in jedoch. Über Radio – das wurde bereits gesagt – wurde Ruanda selbst statt – zum 20. Mal. Zwischen April und damals bereits dazu aufgerufen, die Tutsi umzubringen. Juni 1994 wurden über 800 000 Menschen, vorwiegend Tutsi, aber auch gemäßigte Hutu, Opfer eines unbe- Die Situation eskalierte vollkommen, als am 6. April schreiblichen Sterbens. Der Deutsche Bundestag ver- 1994 das Flugzeug abgeschossen wurde, in dem Präsi- neigt sich mit diesem Gedenken und den Initiativen, die dent Habyarimana saß, und dieser dabei ums Leben kam. wir ergriffen haben, vor den Opfern von Gewalt, Mord Dadurch wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die und Vertreibung. Wir wollen durch unser Gedenken si- Planungen dazu wurden aber wahrscheinlich schon vor- cherstellen, dass dies nicht vergessen wird. her getroffen. Wir bedauern insbesondere, dass es der internationa- Wir müssen kritisch überprüfen, was die UNO-Mis- len Gemeinschaft trotz zahlreicher Hinweise aus dem sion damals gebracht hat und ob sie vielleicht Schlimme- Land und außerhalb des Landes damals nicht gelungen res hätte verhindern können. Die UNO hat sich deshalb ist, die Vorboten des Völkermords zu erkennen und die Jahre später, im Jahr 1999, unter dem früheren schwedi- Entwicklung zu verhindern. Deshalb wollen wir mit die- schen Premierminister Carlsson ausführlich mit diesem (B) ser Debatte nicht nur anregen, der Opfer zu gedenken Völkermord und mit seinem Zustandekommen beschäf- (D) – dies tun wir –, sondern wir wollen auch darüber spre- tigt. Ich möchte aus dem Bericht zitieren: chen – das ist in den vorherigen Wortbeiträgen bereits Die Unabhängige Untersuchungskommission stellt geschehen –, wie Völkermord insgesamt verhindert wer- fest, daß die Vereinten Nationen im Vorfeld und den kann und welchen Einfluss europäische Politik, po- während des Völkermordes in Ruanda 1994 in sitiv wie negativ, auf Afrika haben kann. mehreren grundsätzlichen Punkten versagt haben. Die Ursachen dieses Völkermords sind von meinem Die Verantwortung für das Versagen der Vereinten Vorredner sehr deutlich herausgearbeitet worden. Eines Nationen, den Völkermord in Ruanda zu verhin- muss man sagen: Selbstverständlich haben auch europäi- dern oder zu stoppen, liegt bei einer Reihe verschie- sche Länder dort aufgrund ihrer Interessenpolitik herum- dener Akteure, insbesondere beim Generalsekretär, experimentiert. Dies hat dem Land nicht gutgetan, und dem Sekretariat, dem UNO-Sicherheitsrat, der das haben viele Menschen mit dem Tod bezahlt. UNAMIR und bei der breiteren Mitgliedschaft der Vereinten Nationen. Diese internationale Verant- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wortung verlangt eine klare Entschuldigung der Or- der LINKEN) ganisation und der betreffenden Mitgliedstaaten ge- Die autoritäre Militärregierung hat damals versucht, genüber dem ruandischen Volk. Hinsichtlich der die Opposition niederzuringen und dringend notwendige Verantwortung jener Ruander, die den Völkermord Reformen zu verhindern. Als 1973 Präsident Juvénal an ihren Landsleuten planten, dazu aufhetzten und Habyarimana durch einen Staatsstreich ins Amt kam, ihn begingen, sind fortgesetzte Bemühungen erfor- war die Rollenverteilung nicht nur in ethnischer Hinsicht derlich, sie vor Gericht zu stellen, vor den Interna- klar, sondern auch machtpolitisch zementiert. Zur Kon- tionalen Strafgerichtshof für Ruanda und vor natio- solidierung seiner Macht platzierte der Präsident diverse nale Gerichte in Ruanda selbst. Hutu-Anhänger in nahezu allen Schlüsselpositionen, vor Aus diesem Bericht und aus den vielen Bemühungen, allem in der Armee des Landes. die es damals gab, um den Völkermord und das Versa- Anfang der 90er-Jahre eskalierten die Auseinander- gen der internationalen Staatengemeinschaft aufzuarbei- setzungen mit der Patriotischen Front, der Rwandese ten, ist die Diskussion um die sogenannte Responsibility Patriotic Front, des heutigen Staatspräsidenten Paul to Protect entstanden. Sie spielt hier sehr häufig eine Kagame, der später den Völkermord beendet hat. Lokale Rolle. Häufig wird aber vergessen, dass der Ausgangs- Pogrome kosteten damals bereits Hunderte von Tutsi das punkt eigentlich das Versagen der UNO im Hinblick auf Leben. den Völkermord in Ruanda war. Deshalb ist es richtig, 2168 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Philipp Mißfelder (A) wenn man die Responsibility to Protect bemüht oder als (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (C) politisches Hilfsargument anführt, dass man sich verge- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wissert, dass dieser Gedenktag eine ganz wichtige Funk- GRÜNEN) tion hat, und dass man sieht – es ist uns gelungen, die Debatte um RtoP in der UNO voranzubringen –: Häufig Präsident Dr. Norbert Lammert: führt die Selbstblockade der UNO dazu, dass es keine Das Wort erhält nun die Kollegin Kordula Schulz- Garantie dafür gibt, dass dieses Prinzip auch angewandt Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich an einem Punkt Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – gar nicht polemisch – widersprechen. Auch hier im NEN): Hause gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab man im Rahmen der Responsibility to Protect oder im viele Ereignisse, Bilder und Gefühle im Jahr 1994, die Rahmen weiterer Möglichkeiten zur Verhinderung eines ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Eine kleine Völkermordes militärische Maßnahmen ergreifen sollte Auswahl: oder nicht. Am Abend des 6. April 1994 hatten wir in Kigali ei- Ich stimme dem, was gesagt worden ist, zu. Man kann nen portugiesischen Arbeitskollegen zu Besuch. Meine generell sagen: Es ist besser, wenn man vorausschauend dreijährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als um agiert. – Die verfehlte Kolonialpolitik hat dazu geführt, 20.20 Uhr ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zu dass man Ruanda zu wenig geholfen hat, dass man hören war. Wenig später erfuhren wir über Telefon und Ruanda in diese Situation gebracht hat, dass man Eth- Funkgeräte vom Abschuss des Flugzeugs des damaligen nien zuerst kreiert und sie dann gegeneinander aufge- ruandischen Präsidenten. In dieser Nacht auf den 7. Ap- hetzt hat. Aber nichtsdestotrotz: Wenn so etwas falsch ril begann der systematische Völkermord an den Tutsi gelaufen ist und sich ein Land in eine falsche Richtung und die Ermordung von moderaten und oppositionellen bewegt, dann muss man bereit sein, zum Schutz der Zi- Hutu. vilbevölkerung als äußerstes Mittel der Politik auch mili- Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau eines tärische Maßnahmen zu ergreifen. Da stimmen wir hier Arbeitskollegen, beide Tutsi, die uns verzweifelt um im Haus eben nicht alle überein. Deshalb möchte ich Hilfe bat, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzu- mich noch einmal dafür starkmachen, dass ein Mittel im dringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrund Rahmen der Responsibility to Protect als äußerste Mög- und kurz darauf Schreie; dann brach das Gespräch ab. lichkeit eben auch militärische Maßnahmen sein sollten. Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die ge- samte Familie ermordet worden war. (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD und der Abg. Cem Özdemir Am 9. April fuhren wir im ersten Konvoi im Rahmen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Kordula der Evakuierung Richtung Burundi. Als wir uns der klei- Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen Stadt Gitarama näherten, kam uns ein alter, sehr NEN]) hoch gewachsener Mann, ein Bauer, entgegen. Er schaute auf den Konvoi, begriff, dass die Ausländer ge- Der Bundesaußenminister hat klargemacht, dass er ei- rade dabei waren, das Land zu verlassen, ließ seinen nen Schwerpunkt seiner Arbeit auf Afrika legt; ich Stab fallen und schlug verzweifelt die Hände vor das Ge- glaube, seine jüngste Reise vor ein paar Tagen dokumen- sicht. In diesem Moment dachte ich wieder einmal: Wir tiert das sehr deutlich. Deshalb möchte ich heute unsere werden es wahrscheinlich schaffen, aber diese Menschen Bereitschaft betonen, mit der Regierung in Ruanda ein hier lassen wir zurück. Müsste man nicht bleiben? neues Kapitel der bilateralen Zusammenarbeit aufzu- Müsste man nicht irgendetwas tun? – Ein Gefühl, meine schlagen. Kritische Punkte in Bezug auf Präsident Damen und Herren, das man nie wieder vergisst. Kagame sind angesprochen worden. Aber eines sollten Im September und Oktober 1994, nach dem Völker- wir nicht vergessen: Dieser Mann hat den Völkermord mord, kehrte ich nach Ruanda zurück und erfuhr von damals beendet und zur Aussöhnung im Land erheblich vielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfern beigetragen. waren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen, Wir sehen, dass Ruanda Schwierigkeiten hat. Wir se- von denen es hieß, dass sie gemordet haben. So fuhr ich hen aber auch, dass die wirtschaftlichen Perspektiven, bis 1998 regelmäßig zu der Nichtregierungsorganisation, die Perspektiven von Good Governance und Regierungs- in der ich vor dem Völkermord gearbeitet hatte, um die führung im Allgemeinen viel besser sind als in vielen an- Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu begleiten. deren Ländern. Vor diesem Hintergrund sollten wir am Die Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ konnte heutigen Tage mit Blick auf die Zukunft festhalten, dass ich allerdings nicht beantworten. Aber seitdem bin ich wir, gerade was die Region der Großen Seen oder die der festen Überzeugung, dass es eine Verantwortung der Diskussion über den Kongo angeht, mit Ruanda zusam- internationalen Gemeinschaft gibt, aus den Fehlern in menarbeiten, die politische und die bilaterale Zusam- Ruanda zu lernen, um eine Zivilbevölkerung tatsächlich menarbeit vertiefen und weiterhin versuchen wollen, ein wirksam vor Völkermord zu schützen und vor allem alle freundschaftliches und partnerschaftliches Verhältnis zur Möglichkeiten der Prävention zu erkennen, dann aber Regierung zu pflegen. auch zu nutzen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2169

Kordula Schulz-Asche (A) Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht für mich mit Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu, über (C) das Gedenken an die vielen Opfer des Völkermords in Massaker, auch in großem Ausmaß, an der Bevölkerung. Ruanda. Wir gedenken auch jener, die, sich selbst größ- Was wurde aufgrund all dieser Warnungen getan? Wa- ter Gefahr aussetzend, anderen geholfen haben. Wir ha- rum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutsch- ben aber auch ausdrücklich des Leids derjenigen zu ge- lands nicht an die UN-Ruanda-Mission weitergeleitet? denken, die überlebt haben, die Verwandte verloren Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sani- haben – manche haben ihre ganze Familie verloren –, tätssoldaten abgeschlagen? Warum wurden 147 Flücht- die, selbst traumatisiert, verstümmelt, vergewaltigt, nun linge, für die Rheinland-Pfalz sogar die Übernahme aller ihren Platz in der heutigen ruandischen Gesellschaft fin- Kosten zugesagt hatte, nicht in Deutschland aufgenom- den müssen. Sie gehören oft zu den Vergessenen dieses men? Warum dauerte es so lange, bis der damalige Au- Völkermords. Die Konzentration, die richtige Konzen- ßenminister das Wort „Völkermord“ in den Mund nahm, tration auf die juristische Verurteilung der Täter vernach- und warum hatte es, als er es tat, keinerlei Folgen? Wa- lässigt nach wie vor die Frage, wie die Opfer, wie die rum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ru- Zeugen besser unterstützt werden können. Hier, meine anda diskutiert? – Das sind nur einige offene Fragen. Damen und Herren, sehe ich auch international noch (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) großen Handlungsbedarf, auch für die Zukunft. „Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen?“ (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Bartholomäus Grill sagt in dieser Woche in einem sehr Der fraktionsübergreifende Antrag erwähnt die ruan- beeindruckenden Artikel im Spiegel: dischen Bemühungen zur Aufarbeitung, die Arbeit des Ich schäme mich bei solchen Fragen bis heute. Arusha-Tribunals, den Aufbau eines geordneten Staats- wesens, unterstützt auch durch die Zusammenarbeit mit Er hinterfragt die eigene Rolle als Journalist und seine Deutschland, mit dem Ziel einer guten demokratischen, 1994, wie er selbst sagt, „flott hingeschriebene Fernana- rechtsstaatlichen und nachhaltig sozioökonomischen lyse“. Entwicklung in der Region der Großen Seen. Wirkliche Partnerschaft heißt aber auch, immer dann in den Dialog Weiter sagt Herr Grill: zu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Die Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention von nachhaltige Entwicklung eines Landes ist nur möglich, außen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die un- wenn sich der Rechtsstaat auf eine aktive vielfältige Zi- verzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Berufs- vilgesellschaft stützen kann, die keine Angst vor Verfol- leben unterlaufen sind. gung haben muss. Hoffentlich ist dieser Artikel ein Auslöser der Aufar- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, beitung von journalistischer Seite der Art und Weise von (D) bei der CDU/CSU und der SPD) Berichterstattung, aber zum Beispiel auch der Ausbil- dung von Journalisten der Zeitschrift Kangura oder des Auch hier könnte Ruanda zu einem Vorbild werden. Die Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines. Bereitschaft, dies zu unterstützen, besteht – da bin ich mir sicher – im gesamten Haus. Es ist auch überfällig, die Verantwortung der deut- schen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Außen- und In- Die bisherige Aufarbeitung des Völkermords in Ru- nenpolitik aufzuarbeiten. In den 20 Jahren vor dem Völ- anda – ich denke an seine Genese, seine Mechanismen kermord war Deutschland der zweitgrößte Geber. und seine Akteure – hat bereits geholfen, internationale Ruanda erhielt Ausstattungshilfe für die Streitkräfte, und Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwi- seit 1978 gab es auch vor Ort eine Beratergruppe der ckeln, auch wenn es – das wird uns immer wieder be- Bundeswehr – bis zum April 1994. DED, GTZ, die wusst – schwere Rückschläge gibt. Besonders die Res- , politische Stiftungen, die beiden großen ponsibility to Protect, die durch die Vereinten Nationen Kirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirk- 2005 entwickelt und etabliert wurde, geht auch auf die ten vor Ort. Die enge Partnerschaft zwischen Rheinland- Erfahrungen in Ruanda zurück. Pfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über Heute ist daher eine entscheidende Frage, ob wir 650 Projekten. Und wieder die Fragen: Wo wart ihr? wirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirk- Warum habt ihr uns nicht geholfen? lich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist: Die Prävention von Völkermorden bedarf der Ent- offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zu schiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschieden- zeigen. Die Verantwortlichen für das Versagen der inter- heit wird immer auch geprägt vom Engagement einzel- nationalen Gemeinschaft während des Völkermords hat- ner Nationen. Im Ruanda vor dem Völkermord hielten ten einige schnell identifiziert: die USA mit ihrem Schei- Politiker aus fast allen Parteien Ausschau nach dem En- tern in , Belgien als ehemalige Kolonialmacht, gagement eines neutralen Partners, und ihre Hoffnung Frankreich als starker Verbündeter der Regierung richtete sich auf Deutschland. Dass es wiederholt und Habyarimana, die Vereinten Nationen, weil sie es ver- zunehmend dringlicher den Wunsch nach einer deut- säumt hatten, früher einzugreifen. schen Vermittlungsinitiative gab, wissen wir vom Hö- Und Deutschland? Vor dem Hintergrund der sich hin- rensagen. Ob dies stimmt und ob die Bundesrepublik je- ziehenden Friedensverhandlungen in Arusha häuften mals erwogen hatte, diesem Wunsch nachzukommen, sich seit 1992 immer mehr Informationen über Trai- wird man heute ohne eine gründliche historische Auf- ningscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslisten arbeitung kaum noch belegen können. 2170 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Kordula Schulz-Asche (A) Nach dem Völkermord war Deutschland eines der In Ruanda sind zwischen April und Juli 1994 syste- (C) ersten Länder, die in Ruanda wieder aktiv wurden. Mit matisch unvorstellbare Verbrechen begangen worden, wesentlicher deutscher Unterstützung haben die afrika- Verbrechen, die unser Fassungsvermögen auf eine harte nischen Partnerländer mit dem Ausbau von Frühwarn- Probe stellen; der Außenminister hat dazu die richtigen systemen und der Unterstützung von Friedensmissionen Worte gefunden. Ich glaube – ohne unpassende Verglei- beginnen können, die es vor dem Völkermord in Ruanda che anstellen zu wollen –: Für uns Deutsche stellt dieser überhaupt nicht gegeben hat. Was nun fehlt, ist eine sys- Gedenktag eine besondere – wie soll man sagen? – He- tematische, unabhängige wissenschaftliche Aufarbei- rausforderung dar. Wir wissen, wie schwer es ist, zu den tung der deutschen Politik in den Jahren 1990 bis 1994. dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stehen. Ich Dies betrifft auch die Politik im Verhältnis zu anderen bin deshalb dankbar und ich freue mich darüber, dass es europäischen Partnern; Frankreich ist bereits genannt CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gelungen worden. ist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, den wir heute verabschieden wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Ge- SPD und der LINKEN) denktag erinnert uns nicht nur an den von Deutschen be- gangenen Völkermord an den Juden, sondern auch an Das Ziel einer solchen Aufarbeitung sollte es sein, das Versagen der internationalen Gemeinschaft, dem dass wir für die Zukunft weitere Lehren daraus ziehen Morden in Ruanda ein Ende zu bereiten; auch darauf ist und wirklich sagen können: Unser Ziel ist: Nie wieder zu Recht hingewiesen worden. Dieses – man kann das Völkermord! Lassen Sie uns alle gemeinsam, auch vor gar nicht häufig genug betonen – Versagen der interna- dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, eine Ant- tionalen Gemeinschaft ist auch unser Versagen, ist auch wort auf die Frage finden: Warum habt ihr uns nicht ge- ein Versagen der deutschen Politik gewesen. holfen? Seit dem Völkermord in Ruanda stellen wir uns in Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. diesem Parlament, in der deutschen Öffentlichkeit bei Nachrichten über massive Menschenrechtsverletzungen (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE die Frage: Ist unsere Antwort angemessen? Der häufig GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – ausgesprochene, manchmal aber auch unausgesprochene Beifall bei der LINKEN) Maßstab für die Antwort ist Ruanda; in gewisser Weise ist Ruanda somit zum Synonym für Menschheitsverbre- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen geworden. Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die (B) Wenn wir heute der Opfer gedenken, müssen wir uns (D) SPD-Fraktion. auch die Frage stellen, ob wir aus diesem gemeinschaft- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichen Versagen die notwendigen, die richtigen Lehren der CDU/CSU) gezogen haben. Krisen betreffen häufig nicht nur ein Land – wir haben häufig nicht mehr die klassischen Akteure innerstaatlicher Konflikte –, Konfliktursachen Niels Annen (SPD): kennen oftmals keine Staatsgrenzen mehr. Das stellt uns Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten vor große Herausforderungen. Gerade die aktuellen Kri- Damen und Herren! Liebe Kollegin Schulz-Asche, ich sen in , in der Zentralafrikanischen Republik und im möchte Ihnen für Ihre eindrücklichen, sehr persönlichen Südsudan, die den Deutschen Bundestag und die deut- Worte recht herzlich danken. sche Öffentlichkeit beschäftigen, machen allesamt nicht an – manchmal aus der Kolonialzeit stammenden, will- (Beifall im ganzen Hause) kürlichen – Grenzen halt, und sie können leicht über Am 6. April 1994 wurde die Maschine des ruandi- diese Grenzen hinaus Auswirkungen haben. Unsere schen Präsidenten im Landeanflug auf Kigali abgeschos- Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss darauf an- sen. Dabei kamen alle Insassen ums Leben. Nur wenige gemessen reagieren. Wir alle wissen: Das ist nicht im- Minuten später begann der Mord an Hunderttausenden mer einfach. Tutsi, aber auch an moderaten Hutu, die sich schützend Ruanda hat, auch wenn uns einige innenpolitische vor ihre Nachbarn gestellt hatten. Es war keine spontane Entwicklungen durchaus Sorgen bereiten, in den letzten Eruption von Gewalt, sondern ein von langer Hand orga- Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Wir ermu- nisatorisch und ideologisch vorbereiteter Mord. In den tigen die Regierung, auf diesem Wege weiterzugehen. Reden ist darauf hingewiesen worden: Die Verantwortli- Ich möchte die Gelegenheit deshalb gerne nutzen, den chen dafür – meine Damen und Herren, das macht es be- Generalkonsul Ruandas in Vertretung der Botschafterin sonders schwer zu verstehen – waren bekannt. heute auf der Bühne zu begrüßen: Seien Sie uns herzlich Auch für mich hat die Erinnerung an den Genozid in willkommen! Ruanda einen sehr persönlichen Bezug: Am 6. April (Beifall) 1994 habe ich meinen 21. Geburtstag gefeiert. Die Trag- weite der Ereignisse, die wir eher beiläufig über das Ra- Der Genozid in Ruanda hat in der Zwischenzeit sehr dio erfahren haben, habe ich damals, wie so viele andere konkrete politische, aber auch völkerrechtliche Konse- auch, nicht erfasst. quenzen ausgelöst. So wurde die sogenannte Schutzver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2171

Niels Annen (A) antwortung als Kategorie des Völkerrechts entwickelt. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): (C) Das ist ein Fortschritt, weil Staaten, die massive Men- Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin- schenrechtsverletzungen zu verantworten haben, sich nen und Kollegen! Es bleibt natürlich die Fassungslosig- nicht mehr hinter der nationalen Souveränität verstecken keit über das, was in Ruanda passiert ist. Ich finde, das können. Natürlich ist auch diese Norm nicht perfekt, und können der menschliche Verstand und erst recht die die Diskussion über den Einsatz der NATO in Libyen menschliche Seele nicht aufnehmen und verarbeiten. Ich zeigt uns, wie schmal der Grat zwischen berechtigtem wünsche mir sehr, dass diese Fassungslosigkeit frak- – auch militärischem – Eingreifen auf der einen und der tionsübergreifend alle Mitglieder dieses Parlamentes be- Überinterpretation eines auf der Schutzverantwortung wegt. basierenden Mandates der Vereinten Nationen auf der anderen Seite ist. Vielleicht können wir eines tun, nämlich zu gleichen Gerade deshalb sei hier ausdrücklich daran erinnert: Fragen kommen. Ob wir dann auch zu gleichen Antwor- Die eigentliche Bedeutung der Schutzverantwortung ten kommen, weiß ich nicht. Ich möchte Ihnen aber an- liegt in der Verpflichtung, Staaten in die Lage zu verset- bieten, dass wir über gleiche Fragen an gleichen Ant- zen, Massengewalttaten im Vorfeld solcher Ereignisse zu worten arbeiten. Ich biete Ihnen also meine Fragen an verhindern. Ich halte es für eine zentrale Aufgabe der und bitte Sie, mit darüber nachzudenken. deutschen Politik, diese Fähigkeiten aufzubauen und da- Meine erste Frage lautet natürlich: Was kann Men- bei mit den afrikanischen Staaten und der Afrikanischen schen dazu bringen, andere Menschen in einer kollekti- Union zusammenzuarbeiten. ven Raserei umzubringen? Brecht hat das einmal so for- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muliert: Welche Kälte muss über Menschen gekommen der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- sein, um so etwas vollbringen zu können? – Auf diese NISSES 90/DIE GRÜNEN) Frage suche ich eine Antwort: Was kann Menschen dazu bringen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen möchte ich dem Bundesaußenminister dafür danken, dass er aus- Ich blicke dabei nicht nur auf Ruanda, und ich sage drücklich darauf hingewiesen hat, wie wichtig diese Ko- das schon gar nicht in Verbindung mit Afrika. Wir kön- operation mit den afrikanischen Staaten ist. Ich will das nen hier auch auf die Killing Fields in Kambodscha hier einmal vielleicht auch etwas salopp formulieren: In blicken, und wir können blicken auf die Geschichte un- der Wahrnehmung der deutschen Politik, aber auch in seres eigenen Landes. Ich fand es sehr in Ordnung, dass der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit wird der Außenminister auch angesprochen hat, dass wir von Afrika manchmal wie ein Land behandelt, und dabei Deutschland als von einem Land reden, das industriell, vergessen wir, wie unterschiedlich die Entwicklungen in (B) massenhaft, Menschen ermordet hat. Wir kommen also (D) Afrika sind. Wir müssen die positiven Entwicklungen auch aus einer Tradition der Schuld. unterstützen, und ich glaube, dazu können wir als Parla- mentarier beitragen. Meine nächste Frage lautet: Was kann man dafür tun, dass Menschen so immun gemacht werden, dass sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht gegen andere Menschen aufgehetzt werden kön- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE nen? Das ist doch eine Frage, die wir weltweit beantwor- GRÜNEN) ten müssen. Heute – und das ist ein Fortschritt – herrscht ein weit- Ich suche eine Antwort darauf, dass solche Aufhet- gehender Konsens darüber, dass die Staatengemein- zungen wie in Ruanda nicht vom Himmel fallen, son- schaft in Ruanda versagt hat. Der ehemalige amerikani- sche Präsident Bill Clinton, der sein Wegschauen in dern Ursachen haben. Wenn man Bevölkerungsteile auf- Ruanda als das schwerste Versäumnis seines Lebens be- einander hetzt, hat das zuletzt und am wenigsten zeichnet hat, hat in einer Rede in Kigali Folgendes for- ethnische und religiöse, sondern auch konkrete ökono- muliert – ich zitiere –: Wir haben nicht schnell genug re- mische und politische Ursachen. agiert, die Verbrechen nicht das genannt, was sie waren: Ich möchte gerne, dass wir Anstrengungen dafür un- ein Genozid. Wir können die Vergangenheit nicht än- ternehmen, Ausgleichsformen zu finden, und ein staatli- dern, aber alles in unserer Macht Stehende tun, um eine ches Gewaltmonopol entwickeln, das tatsächlich an Zukunft ohne Angst, aber voller Hoffnung zu bauen. Recht, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gebunden Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bleibt auch wei- ist. terhin unsere Aufgabe. Wir können, wenn wir über Ruanda diskutieren, nicht Herzlichen Dank. von uns weisen, auch über koloniale Geschichte zu re- den. Ich möchte den Außenminister und auch die Bun- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem desregierung sehr bitten: Wenn Sie von einer neuen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Afrika-Konzeption sprechen, die dringend notwendig ist, dann lassen Sie uns auch darüber reden, dass sich die Präsident Dr. Norbert Lammert: europäischen Staaten, auch Deutschland, gegenüber der Wolfgang Gehrcke hat nun das Wort für die Fraktion Bevölkerung in vielen Ländern Afrikas schuldig ge- Die Linke. macht haben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 2172 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Wolfgang Gehrcke (A) Nur wenn wir unsere Schuld eingestehen, wird eine neue sere Schuld anerkennen, können wir die Schuld anderer (C) Konzeption überhaupt möglich werden. Darüber sollten besser benennen. Diese Botschaft wollte ich Ihnen von wir gemeinsam nachdenken, gerade vor dem Hinter- dieser Stelle aus überbringen. Lassen Sie uns zumindest grund dessen, was heute in vielen Teilen Afrikas pas- gemeinsame Fragen stellen! Über die Antworten kann siert. man dann streiten. Wir sollten auch darüber nachdenken, dass soziale Ich hätte gerne an diesem fraktionsübergreifenden Konflikte durch Landknappheit, Landraub, Land-Grab- Antrag mitgearbeitet. Das Verhalten, diese Kleinkariert- bing und durch Wasserknappheit verstärkt werden heit, dass man im Zusammenhang mit einem Völker- – Landknappheit und Wasserknappheit sind die ökono- mord die Linke ausgrenzt und sie daran hindert, an ei- mischen Ursachen von Kriegen der Gegenwart und auch nem solchen Antrag mitzuarbeiten und ihre Fragen der Zukunft –, dass Konflikte durch Spekulationen auf einzubringen, muss sich hier in diesem Hause ändern. Preise verstärkt werden, durch die Zerstörung gewachse- ner Strukturen, durch die Verführung von Elitekonzep- Herzlichen Dank. tionen und auch durch sprachliche Spaltung. Kann man (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nicht, wenn wir aus Ruanda lernen wollen, eine Afrika- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Politik entwickeln, die sich ganz klar gegen Land- und ten der SPD) Wasserraub ausspricht, gegen die Fortsetzung des Kolo- nialismus mit ökonomischen Mitteln? Darauf müssen wir Antworten geben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Andreas Nick erhält nun das Wort für die CDU/CSU- Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Fraktion. Konflikte nicht vom Himmel fallen. Es ist immer ko- misch, wenn es heißt, irgendetwas sei plötzlich eingetre- (Beifall bei der CDU/CSU) ten. Nichts tritt plötzlich ein; Konflikte werden vorberei- tet und geschürt. Ruanda hat eine halbe Million Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Macheten im Ausland gekauft. Hat sich niemand die Frage gestellt, wozu man eine halbe Million Macheten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kauft? Vielleicht sind wir, was Ruanda angeht, über das „Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit un- Archaische des Völkermordes erschrocken. Ich frage seren Familien umgebracht werden.“ So steht es in ei- mich selbst und auch uns: Was ist mit Kleinwaffen? Sind nem am 15. April 1994 in Mugonero geschriebenen die Kleinwaffen nicht die moderne Form der Macheten? Brief. Das Zitat ist auch Titel eines Buches mit Berichten über das unvorstellbare Grauen des Völkermords in (B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ruanda. (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) Wir gedenken heute der Opfer. Von April bis Juli Müssen wir nicht zumindest zu einer Initiative „Schluss 1994 verloren in Ruanda mehr als 800 000 Menschen ihr mit dem Handel und dem Profit durch den weltweiten Leben durch unvorstellbare Gewalttaten, die das maleri- Verkauf von Kleinwaffen“ kommen? Diese Fragen rich- sche Land der tausend Hügel in ein Meer von Blut und ten sich an uns selbst. Muss man nicht zusammen und Tränen verwandelten. In knapp 100 Tagen töteten Ange- öffentlich der Propaganda nachgehen und Propaganda hörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der im Land sofort aufgreifen, wo sie rassistisch ist oder zum Rassis- lebenden Tutsi-Minderheit ebenso wie moderate Hutus, mus führt, auch in Europa, auch im eigenen Land? Das die sich dem Völkermord widersetzten. Wir ehren des- müssen die Schlussfolgerungen sein. halb heute auch die Bemühungen derjenigen Ruander, (Beifall bei der LINKEN) die sich oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens für die Rettung von Frauen, Männern und Kindern eingesetzt Kofi Annan hat nach dem Völkermord gesagt: „Der haben, zum Beispiel der über 1 200 in das Hôtel des Grund für das Scheitern von Ruanda war fehlender poli- Mille Collines in Kigali geflohenen Menschen, an deren tische Wille.“ – Bringen wir einen wirklichen Willen zur Rettung der preisgekrönte Film Hotel Ruanda erinnert. Gleichberechtigung auf, politisch und ökonomisch, da- mit so etwas nicht wieder eintritt! Die Ereignisse in Ruanda waren keineswegs – darin sind sich die meisten Beobachter heute einig – ein hefti- Ich möchte zum Schluss noch ganz knapp einige ger Ausbruch uralter „Stammesfehden“ zwischen Hutu Punkte ansprechen, die mir sehr am Herzen liegen. und Tutsi, traditionellen Ackerbauern und Viehzüchtern. Wenn wir über Völkermord sprechen, müssen wir dann Sie tragen vielmehr zahlreiche Merkmale eines systema- nicht zugleich auch darüber reden, dass jeden Tag welt- tischen und geplanten Völkermords als Teil eines bruta- weit 57 000 Menschen verhungern? Auch das ist eine len Machtkampfs, bei dem nicht zuletzt – das wurde Form von Völkermord, die wir bekämpfen müssen. schon angesprochen – der Einsatz von Radiosendern als Müssen wir nicht darüber reden, dass im Mittelmeer „Hassmedien“ zur Aufstachelung der Gewalt eine wich- 19 000 Menschen ertrunken sind, Menschen, die gehofft tige Rolle spielte. hatten, in Europa ein besseres Leben zu finden? Ist nicht auch das ein Teil der Verantwortung, die wir wahrneh- In seinem Buch Handschlag mit dem Teufel – Die men müssen? Ich finde, das ist unsere Verantwortung. Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Indem wir solche Fragen aufwerfen, finden wir einen Ruanda schreibt der kanadische General Roméo neuen Weg zu den afrikanischen Ländern. Indem wir un- Dallaire: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2173

Dr. Andreas Nick (A) Ich habe in Ruanda dem Teufel die Hand geschüt- und 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedet (C) telt. Ich habe ihn gesehen, gerochen und berührt. – Kollege Mißfelder ist darauf schon ausführlich einge- gangen –: Schutz vor Kriegsverbrechen, ethnischen Säu- Er ist an dieser Erfahrung fast zerbrochen. Als Komman- berungen und anderen Menschheitsverbrechen. Dabei deur der in Ruanda stationierten Blauhelmtruppen geht es um eine dreifache Verpflichtung der Staatenge- musste er ertragen, dass ihm trotz seiner eindringlichen meinschaft: zur Prävention, zur Reaktion und zum Wie- Berichte seitens der Weltgemeinschaft die benötigte deraufbau. Hilfe verweigert wurde, um den Völkermord zu stoppen. Wir bedauern daher auch nachdrücklich die wenig ent- Wo steht Ruanda heute? Mehr als drei Viertel der Ru- schiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, die ander sind jünger als 36 Jahre, viele haben im Völker- trotz vielfältiger Informationen über das mörderische mord ihre Eltern verloren und sind als Waisen aufge- Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht hat, diese wachsen. Neben der Aufarbeitung durch die nationalen Gräuel zu beenden. Gerichte haben bis 2012 etwa 200 000 Laienrichter in den wiederbelebten traditionellen Gacaca-Gerichten am (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Prozess von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Ver- Ein Völkermord wie der in Ruanda ist teuflisch; aber söhnung mitgewirkt. Die Bezugnahme auf ethnische er ist kein Werk des Teufels, sondern er wird von Men- Identitäten als Hutu oder Tutsi ist heute verboten. Bei al- schen an Menschen begangen. Wir Europäer, wir Deut- len noch bestehenden Problemen, auch in der Festigung schen zumal, haben an dieser Stelle mit Blick auf unsere demokratischer Strukturen und umfassender bürgerli- eigene Geschichte wahrlich keinen Anlass zu Hochmut cher Rechte: Ein Mitte der 90er-Jahre als kaum lebensfä- gegenüber den Menschen in Afrika. Die Ortsnamen hig erachtetes Land gilt heute in vielen Bereichen als Er- Auschwitz und Srebrenica sind dafür Mahnung genug. folgsgeschichte, als eines der sichersten und am wenigsten korrupten Länder Afrikas. Mit einem wirt- Fassungslos stehen wir aber immer wieder vor diesen schaftlichen Wachstum von jährlich 7 bis 8 Prozent ist Ereignissen und fragen: Wie ist das möglich? Wie kön- Ruanda auf gutem Wege, die meisten Millenniumsziele nen Menschen sich derart entmenschlichen, dass sie zu der Vereinten Nationen zu erreichen. solchen Taten fähig werden? Die Entmenschlichung steht dabei nicht am Ende, sondern bereits am Anfang, Wir unterstützen die erfolgreichen Ansätze zur wirt- nämlich die Entmenschlichung des anderen in den Au- schaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung in Ru- gen der späteren Täter als entscheidender Schritt auf anda in vielfältiger Weise. Viele Menschen in meiner dem Weg zur eigenen Entmenschlichung, die derartige Heimat Rheinland-Pfalz haben dabei eine ganz beson- Verbrechen erst möglich macht. Das Gegenüber wird re- dere und persönliche Beziehung zum Land der tausend (B) duziert auf seine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer Hügel; denn auf Initiative des damaligen Ministerpräsi- (D) andersartigen Gruppe; ein einzelnes seiner vielen Identi- denten Bernhard Vogel ist Ruanda seit 1982 das Partner- tätsmerkmale wird verabsolutiert, sei es die Sprache, das land von Rheinland-Pfalz. Es ist eine Partnerschaft, die religiöse Bekenntnis, die ethnische Herkunft oder der so- trotz aller Verwerfungen den Genozid 1994 nicht nur ziale Status. Wenn der andere Mensch aber nicht mehr überlebt, sondern sich bis heute als eines der wirksams- als in seinem Menschsein gleich und gleichwertig ange- ten und beständigsten Hilfsprogramme in Ruanda sehen wird, dann ist eine ganz wesentliche Hemm- erwiesen hat. Es ist eine beispielhafte Graswurzelpart- schwelle zur Entmenschlichung der Täter gefallen. nerschaft, auf Augenhöhe, mit breitem zivilgesellschaft- lichem Engagement und konkreten Projekten: Die Philosophin Hannah Arendt hat zu Recht darauf 250 Schulpartnerschaften, 50 Initiativgruppen und mehr hingewiesen, dass Völkermord – anders als es sich in ei- als 1 000 erfolgreich umgesetzte Kleinprojekte sind eine ner wenig treffsicheren deutschen Übersetzung einge- eindrucksvolle Bilanz. bürgert hat – im Kern nicht ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ist, sondern ein „Verbrechen gegen die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Menschheit“. Genau deshalb kann sich die Völkerge- bei Abgeordneten der LINKEN und des meinschaft ihrer Verantwortung nicht entziehen, wie sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) es 1994 in Ruanda viel zu lange getan hat. Denn erst bei der Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda wurde die Lassen Sie mich kurz nur wenige Beispiele aus mei- UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des nem Wahlkreis nennen. Die Gemeinde Holzheim ist mit Völkermordes aus dem Jahre 1948 erstmals praktisch 930 Einwohnern die kleinste Gemeinde in Rheinland- angewendet: Im November 1994 wurde der Internatio- Pfalz, die seit 1988 eine kommunale Partnerschaft in nale Strafgerichtshof für Ruanda eingesetzt. Mit rund Ruanda unterhält. Aus Veranstaltungserlösen und priva- 60 Verurteilungen vor allem der Drahtzieher – hochran- ten Spenden sind in dieser Zeit über 300 000 Euro pro- gige Politiker, Offiziere, Amtsträger und Journalisten – jektbezogen nach Ruanda geflossen, für Wasser- und hat das sogenannte Arusha-Tribunal durchaus Maßstäbe Stromversorgung, eine Primarschule und eine Gesund- gesetzt: Erstmals wurde ein Regierungschef wegen Völ- heitsstation. – Die Kreishandwerkerschaft Rhein-Wes- kermord verurteilt, und auch die Rolle der sogenannten terwald hat vor kurzem ein Schulbauprojekt für 300 Kin- Hassmedien wurde juristisch aufgearbeitet. der finanziert. Die Wirtschaftsjunioren Westerwald- Lahn sammeln, ebenfalls unter dem Dach der Stiftung In Reaktion auf das Versagen der internationalen Ge- „fly and help“, derzeit für ein vergleichbares Projekt. – meinschaft in Ruanda wurde das Konzept der Schutzver- Der Verein „Hilfe für Ruanda aus Hachenburg e. V.“ antwortung, der Responsibility to Protect, entwickelt engagiert sich seit 2005 in vielfältigen Projekten vor al- 2174 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Dr. Andreas Nick (A) lem im medizinischen Bereich, bei Bildung und Land- Menschen massenhaft ermordet werden oder ethnischen (C) wirtschaft. Säuberungen ausgesetzt sind. Ganz wichtig ist – der Kollege Niels Annen hat das bereits beschrieben –: Re- Was diese Partnerschaft so wertvoll macht, ist, neben agieren ist nur eine Seite der Schutzverantwortung. Die ihrer Nachhaltigkeit, der unmittelbare Bezug und die internationale Gemeinschaft muss Staaten auch ermuti- Vielzahl der persönlichen Begegnungen zwischen Men- gen, den Schutz der Bevölkerung selbst zu übernehmen, schen aus Ruanda und Rheinland-Pfalz. Alle Besucher und Staaten müssen überhaupt erst in die Lage versetzt berichten von der Freude und der Dankbarkeit und von werden, dies zu leisten. strahlenden Kinderaugen, die sie in der Begegnung mit den Menschen in Ruanda erleben durften und die sie als Meine Hochachtung gilt dem Bemühen Ruandas, Sta- große persönliche Bereicherung empfinden. „Wir sind bilität und Staatlichkeit wiederherzustellen. Versöhnung nach dieser Reise andere Menschen als vorher“ – so be- ist die Grundlage von Stabilität, und Stabilität ist die schrieb kürzlich ein Reisender seine Erfahrung. Grundlage dafür, dass sich Ruanda weiterentwickelt, wirtschaftlich und als Demokratie. Dazu gehören dann Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat vor ei- auch Pressefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfrei- nigen Tagen gesagt: heit sowie das Zulassen von Opposition. All das ist nicht Was wir für die deutsch-afrikanischen Beziehungen einfach in einem Land, in dem vor 20 Jahren ein Geno- brauchen, ist eine neue Bescheidenheit in unserer zid stattfand und die Menschen noch viel miteinander re- Haltung und eine neue Leidenschaft in unserem den müssen, um voranzukommen. Handeln. Der Antrag erkennt die Bemühungen um Aufarbei- Die heutige Erinnerung an den Völkermord in Ruanda tung und Versöhnung in Ruanda ausdrücklich an. Grund- vor 20 Jahren gibt dazu allen Anlass und die Partner- lage dafür ist, die Täter zu bestrafen und alles dafür zu schaft von Rheinland-Pfalz mit Ruanda ein gutes Bei- tun, dass sich Glutnester des Konflikts nicht wieder ent- spiel. zünden. Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen: Heute leben in Ruanda die Täter von damals neben den Vielen Dank. Opfern und deren Angehörigen. Am 20. Jahrestag des (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Völkermords werden unsägliche Albträume wiederkeh- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren, Albträume, die von abgehackten Gliedmaßen han- deln, von Macheten und von Vergewaltigung. Meine Hochachtung gebührt daher den Menschen in Ruanda. Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie sind bereit, sich zu versöhnen. Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Gabriela (B) Heinrich für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vergewaltigung als Kriegshandlung zu beschreiben und aufzuarbeiten, ist ein Tabuthema – nicht nur in Gabriela Heinrich (SPD): Ruanda –, das es zu brechen gilt. Mir ist das wichtig; Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und denn in Ruanda wurden unzählige Frauen vielfach brutal Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Über 800 000 vergewaltigt. Viele unter ihnen mussten vorher die Er- Menschen mussten in Ruanda sterben. Sie starben, weil mordung ihrer Familien mit ansehen. Viele wurden die internationale Gemeinschaft weggeschaut hat. Unser schwanger. Viele wurden mit HIV infiziert. Sie wurden fraktionsübergreifender Antrag ist ein Signal, dass wir schwanger mit Kindern, die sie nicht lieben konnten, uns gegen das Wegschauen und gleichzeitig für Versöh- traumatisierte Kinder und traumatisierte Mütter, Kinder, nung aussprechen. Worin bestand das Wegschauen der die nicht geliebt und die verstoßen wurden. So etwas internationalen Staatengemeinschaft vor 20 Jahren? Die kann einer der teuflischsten Kreisläufe werden, die Friedenstruppe UNAMIR wurde verkleinert statt vergrö- denkbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass unser An- ßert, als der Genozid schon in vollem Gang war. War- trag Ruanda ermutigt, sich noch mehr zu kümmern, sich nungen im Vorfeld wurden nicht ernst genommen. Die noch mehr zu kümmern, Tabus aufzuheben und den Welt tat den Völkermord als Stammeskrieg ab. Dieses Traumata zu begegnen. Das ist auch der Punkt, wo wir Versagen der internationalen Staatengemeinschaft darf weiter unterstützen müssen und unterstützen können. sich niemals wiederholen. Ein Beispiel dafür ist der Zivile Friedensdienst. Er unter- stützt die Reintegration von Flüchtlingen und die Frie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie densarbeit in der Region Große Seen. Er kümmert sich bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE auch um traumatisierte Menschen, insbesondere um von GRÜNEN) Gewalt betroffene Frauen. Mit unserem Antrag bauen wir auf dem Konzept der Ruanda ist bei allen Fortschritten noch immer ein sehr Schutzverantwortung auf. Diese Norm der Vereinten Na- armes Land. Aber es gibt auch Erfolge, auf denen wir tionen ist eine Folge des Völkermords in Ruanda. Wenn weiter aufbauen sollten. So hat Ruanda zum Beispiel Staaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre eine Krankenversicherung. Rund 90 Prozent der Men- Bevölkerung zu schützen, muss die internationale Staa- schen sind krankenversichert. Das wurde von der GIZ tengemeinschaft reagieren und diese Verantwortung und mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit unter- übernehmen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn stützt. Die unzähligen Projekte von Rheinland-Pfalz Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2175

Gabriela Heinrich (A) wurden bereits beschrieben. Auch hier wird Ruanda in Hause kam, fand ich sie beide tot auf dem Fußbo- (C) seiner Entwicklung unterstützt. Es sind Partnerschaften den. Ich bin nun ganz alleine. und Projekte wie diese, mit denen wir unterstützen, dass Liebe Kolleginnen und Kollegen, erkennen Sie einen der Versöhnungsprozess fortgeführt wird. Mit unserem Unterschied? Das erste Zitat ist 20 Jahre alt, das zweite Antrag wollen wir solche Projekte stärken und setzen da- nur ein paar Monate. Das erste stammt aus Ruanda, das mit auf Prävention. zweite aus der Zentralafrikanischen Republik. Das stellt Meine Damen und Herren, die historische Verantwor- uns vor die Frage, wie es heute mit unserer internationa- tung Deutschlands gegenüber Ruanda ist älter als len Schutzverantwortung steht, zumindest gegen die 20 Jahre; das wurde bereits erwähnt. Meine afrikani- schlimmsten Verbrechen: Völkermord und Verbrechen schen Freunde weisen mich immer wieder darauf hin, gegen die Menschlichkeit. dass das Deutsche Reich und Belgien als Kolonial- Wir haben es gehört: Zwischen dem 6. April und dem mächte beteiligt waren, die Menschen künstlich in Hutu 17. Juli 1994 wurden in Ruanda über 800 000 Menschen und Tutsi einzuteilen. Eine rassistische Politik setzte die ermordet – kaltblütig, systematisch, grausam –, das Tutsi als Elite des Landes fest. Dadurch bildete sich der heißt, fast 10 Prozent der Bevölkerung. Mit anderen Gegensatz dieser Völkergruppen erst richtig heraus und Worten: mindestens 8 000 Menschen am Tag, in der Mi- dies, obwohl die Menschen die gleiche Sprache spre- nute fünf Tote. Eine mediale Hetzkampagne im Land chen. stachelte die Mörder zusätzlich an. Radiosender melde- Es ist ein wichtiges Ziel der ruandischen Regierung, ten: Das Grab ist nur halb voll. Wer hilft uns, es zu fül- diese Einteilung wieder aufzuheben. Es gehört zur Ver- len? – Nur eine halbe Stunde nach dem Abschuss des söhnung, diesen Gegensatz aufzulösen. Versöhnung ist Flugzeuges des Präsidenten wurden die ersten Tutsi und möglich. Wer könnte das besser verstehen als wir Deut- Oppositionspolitiker ermordet. Es war ein organisierter sche, die wir uns mit ganz Europa versöhnen mussten? Völkermord. Es war kein Bürgerkrieg. Es war auch kein Stammeskrieg, wie die Weltpresse damals einfältig ti- Ruanda muss für uns eine Warnung sein, nicht weg- telte. Es war vorbereitet. Hutu-Milizen hatten vorberei- zuschauen und unsere Verantwortung wahrzunehmen. tete Listen mit Namen und Adressen von allen Tutsis. Das bedeutet die Prävention von Konflikten und Men- Wochen vorher wurden über 100 000 Macheten aus schenrechtsverletzungen. Das bedeutet aber auch Wie- China bestellt. Das hätten Warnungen sein sollen. deraufbau und Versöhnung. Letzteres ist für Ruanda die beste Prävention. Wer Ruanda kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen, weiß, dass Ruanda ein kleines Land ist. Es ist das am Vielen Dank. dichtesten bevölkerte Land in ganz Afrika: 432 Einwoh- (B) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ner pro Quadratkilometer. Es gab einen Verteilungs- (D) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kampf um knappe Ressourcen. Es war ein ethnischer Konflikt, der seit Generationen Präsident Dr. Norbert Lammert: brodelte und dann zum Ausbruch kam. Es gab nur ein Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin Ziel. Das einzige Ziel war, die Minderheit der Tutsis Dagmar Wöhrl das Wort. vollständig auszurotten. Während in Ruanda blindwütig gemordet wurde – dies wurde angesprochen –, hat die (Beifall bei der CDU/CSU) internationale Gemeinschaft versagt: die Vereinten Na- tionen, der Westen, die afrikanischen Bruderstaaten und Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): die Weltpresse. Es fehlte der Mut, international Verant- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wortung zu übernehmen, der Mut, die Situation zu ver- ist heute Morgen schon viel von internationaler Verant- stehen, der Mut einzugreifen und der Mut, gegen die wortung damals und heute gesprochen worden. Ich Instrumentalisierung von Glaube und Ethnien vorzuge- möchte Ihnen zunächst einmal zwei Zitate vorlesen. Ers- hen. Durch eine ehrliche Analyse damals wären wir ge- tes Zitat: zwungen gewesen, einzugreifen. Mut hatte damals nie- Am Abend zuvor spielten meine Kinder mit den mand außer einigen Ruandern, die unter Einsatz ihres Nachbarskindern, mein Mann unterhielt sich mit ih- Lebens versucht haben, ihren Brüdern und ihren rem Vater und ich kochte … das Abendessen. Am Schwestern zu helfen und sie vor den Mordlustigen zu Tag darauf kamen sie und töteten meine Familie. verstecken, so wie der Direktor des Hôtel des Mille Man sagt mir nun, ich solle nach vorne schauen. Collines in Kigali, der mehr als 1 000 Menschen gerettet Mein Mann und meine Kinder wurden ermordet. hat. Wie kann ich also verzeihen? Haben wir aus dem Versagen damals Lehren gezo- Zweites Zitat: gen? – Es hat sich das Rechtsinstitut der Schutzverant- wortung entwickelt. Der Internationale Strafgerichtshof Als sie unsere Stadt einnahmen, haben sie zuerst für Ruanda wurde eingerichtet; heute nimmt der Interna- meinen Vater erschossen. Als sie dann wieder zu tionale Strafgerichtshof in Den Haag über seine Recht- unserem Haus kamen, wollten sie die angeblich sprechung Einfluss. Es ist das erste Mal, dass die Straflo- versteckten Waffen bei uns mitnehmen. Meine sigkeit für schwerwiegende Verbrechen politischer Mutter und meine Schwester sagten ihnen, dass wir Amtsträger beendet wurde. Es ist das erste Mal, dass keine Waffen im Hause hätten. Als ich wieder nach Vergewaltigung als Begehungsform des Völkermordes 2176 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Dagmar G. Wöhrl (A) vor Gericht anerkannt worden ist. Die Vereinten Natio- ment kann gefährlich sein. Das Leben unserer Soldaten (C) nen haben sich bei den Friedensmissionen einen neuen kann auf dem Spiel stehen. Verantwortung zu überneh- strategischen Ansatz gegeben, nämlich dass die zentra- men heißt nicht, dass wir uns künftig überall militärisch len Aufgaben der Schutz der Zivilbevölkerung, der engagieren müssen. Verantwortung zu übernehmen heißt Schutz der Menschenrechte sind und dass ein robustes vielmehr, sich nach Kräften und Möglichkeiten inner- Mandat, nicht nur eines zur Selbstverteidigung, notwen- halb der Europäischen Union und innerhalb der Verein- dig sein kann. ten Nationen zu engagieren, zu vermitteln, präventiv tä- tig zu werden, um gemeinsam Gräueltaten frühzeitig zu Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Ruanda wird als verhindern. Musterland dargestellt mit Wachstumsraten von 8 Pro- zent. Die Weltbank hat Ruanda letztes Jahr als unterneh- Die Weltgemeinschaft muss lernen, öfter mit einer merfreundlichstes Land ganz Afrikas bezeichnet. Der Stimme zu sprechen; denn nur dann schaffen wir es, Wiederaufbau schreitet voran, auch dank internationaler Konflikte auch helfend mit zu beseitigen. Wir müssen Unterstützung, auch dank deutscher Unterstützung im das Konzept der Schutzverantwortung mit unseren Part- Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ruanda nern noch konkreter ausgestalten und die Entwicklung übernimmt international Verantwortung. Ruanda ist zu eigener afrikanischer Instrumente zur Krisenprävention einem verlässlichen Partner bei Friedensmissionen auf unterstützen. Wir versuchen, im Rahmen unserer Mög- dem afrikanischen Kontinent geworden. Allein 850 Sol- lichkeiten, auch im Rahmen der Entwicklungszusam- daten aus Ruanda sind an MISCA beteiligt, der Mission menarbeit, Einfluss zu nehmen, frühzeitig gezielte ent- in der Zentralafrikanischen Republik, auch aufgrund der wicklungspolitische und präventive Maßnahmen zu eigenen schmerzlichen und leidvollen Erfahrungen. ergreifen, damit unsere Partnerländer sich selbst helfen können, um wirtschaftliche Stabilität, politische Teil- Es besteht Nachholbedarf; das ist klar. In den Berei- habe und langfristigen Frieden für sich zu erreichen. chen Meinungsfreiheit und politische Teilhabe ist noch viel zu tun. Trotz vieler Fortschritte ist – das ist uns be- Ruanda ist seit 2000 ein Schwerpunktland der bilate- wusst – ein nachhaltiger innerer Friede noch nicht gege- ralen Zusammenarbeit. Wir wissen, dass unser Antrag ben. Die Unterscheidung zwischen Hutus und Tutsis ist heute auch zeigt: Wir müssen und werden uns weiterhin präsent, auch wenn die Verfassung heute eine Unter- für die Stärkung der Demokratie und der Menschen- scheidung verbietet. Es gibt noch viele traumatisierte rechte als Grundlage des Friedens in Ruanda einsetzen. Täter und Opfer. Zur Versöhnung wurden die Gacaca- Wir werden Ruanda weiterhin beim Aufbau einer star- Gerichte eingerichtet, an denen bis 2012 2 Millionen ken Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien unter- Fälle verhandelt wurden. Aber kann sich ein Täter mit stützen. Wir haben die Verpflichtung – die Opfer, die Er- dem Opfer versöhnen, das er vergewaltigt und gefoltert (B) mordeten verpflichten uns –, Menschen in anderen (D) hat, dessen Familie er ermordet hat? Opfer und Täter le- Ländern, die von Gräueltaten bedroht sind oder an denen ben notgedrungen noch heute Tür an Tür. Man versucht Gräueltaten verübt werden, zu helfen. Es müssen noch zu verdrängen; vergessen wird man kaum können. viele mutige Schritte getan werden, bis wir wirklich und Wir versuchen, die Menschen bei der Versöhnung zu ehrlich von einer internationalen Verantwortung spre- unterstützen. Dies tun wir mit unserem Zivilen Friedens- chen können. dienst und mit der GIZ, die gemeinsam mit dem Dach- Wir gedenken heute zusammen mit den Ruandern ih- verband IBUKA die Überlebenden des Genozids bei rer Opfer, zu denen auch viele unschuldige Hutus gehö- dem Versöhnungsprozess in den Dörfern unterstützt. ren – auch das muss man erwähnen –, die versucht ha- Dieser Tage gedenken Millionen Ruander ihrer verstor- ben, Unterstützung zu leisten. Ich glaube, wir alle benen Familienmitglieder. Der Verlust ist jedoch nicht gemeinsam hier im Hause können zusichern, dass wir sie mehr gutzumachen. auf dem Weg zu Stabilität und langfristigem Frieden Aber auch heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch weiterhin begleiten werden. werden Menschen getötet, leben noch immer viele Men- Vielen Dank. schen in Gefahr vor Folter und Vergewaltigung. Ich denke an Syrien mit inzwischen über 150 000 Toten. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie denke an den Südsudan. Ich denke an die Zentralafrika- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE nische Republik, in der ein blutiger Konflikt zwischen GRÜNEN) Moslems und Christen stattfindet und ein Versöhnungs- prozess in weiter Ferne ist. Er hat noch nicht einmal be- Präsident Dr. Norbert Lammert: gonnen. Das Morden geht weiter. Wie müssen wir, wie Frank Heinrich hat nun das Wort für die CDU/CSU- muss eine verantwortungsbewusste Weltgemeinschaft Fraktion darauf reagieren? (Beifall bei der CDU/CSU) Der Genozid hat die Weltbevölkerung aufgeschreckt. Es ist gut, dass wir heute diese Debatte führen. Vor 20 Jahren haben wir sie nicht geführt. Das war ein ganz Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): großer Fehler. Wir haben die Verantwortung, Menschen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und weltweit zu schützen, denen Mord und Vergewaltigung Kollegen! Gedenken, Versöhnung, Aufarbeitung: Ich droht. Wir wissen aber auch, dass der Einfluss, auf natio- denke, auch Geschichte schreiben sollte im Mittelpunkt nale Konflikte zu reagieren, oft begrenzt ist. Ein Engage- stehen, Geschichte schreiben über das, was wir in den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2177

Frank Heinrich (Chemnitz) (A) letzten 20 Jahren in diesem Land schon erlebt haben und viele Täter in so kurzer Zeit so viele Mitmenschen um- (C) was nicht mit dem heutigen Gedenken aufhört. gebracht. Ich möchte drei Menschen aus dem Buch La Stratégie „Ntidigasubire“ – „Nie wieder“ – steht nun auf gro- des antilopes, Die Strategie der Antilopen, des Franzo- ßen Plakaten an den Straßen in Kigali, an den Toren der sen Jean Hatzfeld über diese Zeit vor 20 Jahren zu Wort Gedenkstätten, auf den Gräbern, und damit endet heute kommen lassen. jede Radiosendung über den Genozid. Die Wunden und das Gedenken an die Opfer – nicht nur an die, die gestor- Cassius war 1994 sieben Jahre alt. An die Taten hat er ben sind – sind noch da; der Genozid ist noch sehr prä- nur vier klare Erinnerungen: sent. Viele Menschen tragen die Narben. Aber Ruanda Meine Mutter, die vor meinen Augen geköpft ist auf einem guten Weg, auf einem Weg der Versöhnung wurde, bevor ich an der Reihe sein sollte. Das Eisen und der Entwicklung. Das haben wir heute in dieser De- der Machete über meinem Kopf. Das Versteck aus batte und in diesem Antrag ausgedrückt. Blättern im Wald, in dem ich tagelang hockte. Die Eines der Elemente auf dem Weg der Versöhnung ist faulende Wunde in meinem Kopf, sodass ich mich die Aufarbeitung der Geschichte. Letztes Jahr hatten wir heute noch an der Stelle kratze, an der die Insekten in unserem Ausschuss die ruandische Außenministerin früher in meinem Kopf fraßen. Louise Mushikiwabo zu Gast. Sie sagte Folgendes: Ignace Rukiramacumu: Nach dem Ende des Völkermords …, bei dem die internationale Gemeinschaft … versagt hatte, stand Das Vertrauen neu zu finden, interethnisch zu heira- Ruanda vor der Wahl. Würde die Wut darüber uns ten, das ist wohl im Eimer. Aber etwas zusammen an diesem historischen Punkt in eine insulare und trinken, sich Kühe schenken, einander auf dem verbitterte Nation verwandeln – oder können wir Acker zu helfen, das hängt vom Charakter eines je- den Zorn überwinden und stattdessen mehr … Zu- den Einzelnen ab. … Es ist der Verlust, der das sammenarbeit mit der Welt anstreben? Wir haben tiefste Innere zerstört und der verhindert, zu verges- uns für Letzteres entschieden, für einen Weg der sen. Die Versöhnung ist eine Pflicht der Menschen Versöhnung … in Ruanda, die keinen anderen Acker als ihr kleines Land haben. Sie wird quälend sein, aber sie wird Dafür war und ist weiterhin eine ehrliche Aufarbeitung gelingen, auch weil die Behörden gerecht mit bei- der Geschichte notwendig, nicht nur bis heute, sondern den Lagern sind, indem sie alle dazu bringen, sich auch ab heute. als gleich zu akzeptieren. Aus dem ruandischen Genozid wurden Lehren gezo- (B) Sylvie Umubyeyi: gen – wir haben es von mehreren Kollegen gehört –: (D) Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, die Früher war ich viel zu sehr von Angst geprägt. von den Vereinten Nationen entwickelt wurde. Wir brau- Wenn ich einen der Mörder sehen würde, müsste chen solche Frühwarnsysteme, wir brauchen mehr Prä- ich an meine verschwundenen Eltern, an alles, was vention. In unserer Debatte über Afrika vor zwei Wo- ich verloren haben, denken. Wie ich es schon sagte: chen haben wir auch dieses Wort sehr oft gehört: Wenn man sich zu lange bei der Angst vor dem Ge- Preparedness. nozid aufhält, verliert man die Hoffnung. Man ver- liert, was man vom Leben retten konnte. Ich behalte Es wurde eine Geschichte geschrieben, nicht nur eine die Hoffnung, eines Tages glücklich zu sein. … Ich, Genozidgeschichte, sondern auch eine Geschichte der ich leide nicht an meinem Körper. Ich habe schöne Aufarbeitung, der Entwicklung. Wir haben gehört: Ru- Kinder. Ich kann reisen und sprechen. Ich wurde in anda wird als afrikanisches Musterland bezeichnet, als meiner Existenz beschnitten, aber ich will absolut Erfolgsmodell. Dafür sprechen wirtschaftliche Argu- weitermachen. Wenn ich kein Vertrauen in meinen mente, die Bekämpfung der Korruption, die Frauen- Nachbarn mehr habe, behalte ich doch das Ver- rechte, die Erfüllung der MDGs und die Erfolge beim trauen in mich. Umweltschutz. Einige von uns hatten gestern die Gelegenheit, mit Deutschland hat sehr gute Beziehungen zu Ruanda, Überlebenden zu sprechen. Mir blieben zwei Sätze aus aus bekannten Gründen. Ich selbst freue mich über eine diesem Gespräch besonders in Erinnerung. Der erste gute Zusammenarbeit mit der Botschafterin von Ruanda. war: An dem Tag habe ich den Glauben an die Mensch- Wir begegnen uns auf vielen Veranstaltungen. Sie hat heit verloren. Und der zweite: Immer wieder sehe ich gute Beziehungen zu allen Fraktionen. Gestern Morgen dieses Bild vor mir: das Ackerfeld, und aus den Furchen war sie beim Gedenken an die deutsche Verantwortung ragen die Arme der niedergemetzelten Kinder. beim ruandischen Genozid mit dabei. Als Freunde müs- sen wir auch begleiten, müssen wir möglicherweise un- 20 Jahre ist es in diesem April her, dass Ruanda zum terstützen, nicht nur mit Geldern, sondern auch durch Er- Schauplatz dieses Massenmordes wurde. Es war der innern und Mahnen. In den letzten Monaten gab es furchtbarste Völkermord seit der Judenvernichtung der Berichte über Fragen, die von Menschenrechtsorganisa- Nationalsozialisten – es wurde hier erwähnt – und dem tionen aufgeworfen wurden, die die Transparenz, das Genozid auf den Killing Fields in Kambodscha. Inner- Demonstrationsrecht, die Medienfreiheit und das Ver- halb von nur 100 Tagen starben mehr als 800 000 Men- schwindenlassen von Menschen betreffen. Das Positive schen. Wohl nie in der Menschheitsgeschichte haben so überwiegt bei weitem, und doch darf man an diesen Stel- 2178 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Frank Heinrich (Chemnitz) (A) len nicht aufhören, zu mahnen. Wir ermuntern Ruanda stellen: Hat die internationale Völkergemeinschaft aus (C) auch durch unsere Unterstützung: Bleiben Sie dran! der Geschichte gelernt? Schreiben Sie weiter Geschichte! Dieser Prozess ist Wir gedenken heute des grausamsten Völkermords nicht beendet; wir Deutsche wissen sehr wohl, wie lange auf dem afrikanischen Kontinent. Gedenken heißt inne- ein solcher Prozess dauern kann. halten, erinnern, aber vor allem Wege in eine bessere Zu- Daraus folgt unter anderem die Notwendigkeit, auch kunft finden und diese dann auch zu gehen. Erinnern an mit unseren Geldern die wissenschaftliche Aufarbeitung den ruandischen Völkermord heißt gleichzeitig, sich an weiter zu fördern. Wir haben, wie ich gerade gesagt die Verantwortung der internationalen Staatengemein- habe, eine lange Geschichte der Verdrängung, Aufarbei- schaft für Afrika und andere Regionen in der Welt zu er- tung und Weiterentwicklung. Es bleibt noch eine ganze innern. Ich möchte an dieser Stelle die Frage wiederho- Menge zu tun. Deshalb wollen wir dafür auch Haushalts- len: Haben wir aus der Geschichte wirklich ausreichend mittel einsetzen. Dabei wünschen wir uns aber auch – da gelernt? spreche ich als Menschenrechtler – eine Beobachtung Wir erinnern uns heute an die unfassbare Gewalt in und Stärkung der Entwicklung von Demokratie und Ruanda, die die internationale Staatengemeinschaft nicht Menschenrechten in diesem Land von diesem Tag an. beenden konnte. Wir erinnern uns heute an Blutbäder Der Außenminister hat es vorhin gesagt: Wir müssen und an unaussprechliche Grausamkeiten, die uns mit das uns Mögliche tun, das in unserer – gemeinsamen – Abscheu und Entsetzen erfüllen. Gerade deshalb ist es Macht steht. Ich sage „gemeinsam“, weil das, was wir mir persönlich ein wichtiges Anliegen, heute hier zu hier ausdrücken, im gemeinsamen Interesse der Weltge- sprechen, und zwar als Bürger eines Staates, der sich für meinschaft und Ruandas liegt. Ich habe schon in der ein friedliches Miteinander in der Welt einsetzt und letzten Debatte über Afrikapolitik vor 14 Tagen von dem Grundrechte wie Würde und körperliche Unversehrtheit Traum gesprochen, dass wir irgendwann nicht mehr nur seiner Bürgerinnen und Bürger schützt, und als Kind ei- von gemeinsamer Augenhöhe sprechen, sondern mögli- ner Zeit, in der die unmittelbaren Nachwirkungen des cherweise von Afrika als Big Brother, dass wir nicht nur Zweiten Weltkriegs in Deutschland noch hautnah zu vom Chancenkontinent sprechen, sondern von einem spüren waren. Kontinent, der uns vielleicht noch viel mehr zu geben Die Regierungskoalition und die Fraktion Bündnis 90/ hat, als wir jemals für möglich halten. Die Grünen haben gemeinsam einen Antrag formuliert, Ein kurzes Beispiel zum Schluss. Bei einem Vortrag in dem sie das in Ruanda Geschehene verurteilen und die in der Schweiz vor nicht allzu langer Zeit hatte ein über- unsäglichen Gräueltaten gerade an Frauen und Kindern lebender Tutsi von seinen Erlebnissen in besagter Zeit ächten. Das Bedauern über – ich zitiere aus dem Antrag – (B) berichtet. Es herrschte Betroffenheit. Kurz darauf sieht „die wenig entschiedene Rolle der internationalen Ge- (D) man ihn, wie er zur Musik im Gottesdienst tanzt. Eine meinschaft, die trotz vielfältiger Informationen über das deutsche Freundin – etwas verwirrt über die Situation – mörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht fragte ihn später: Wie kannst du tanzen, nach dem, was hat, die Gräuel zu beenden“, kommt darin deutlich zum du alles erlebt hast? Seine Antwort: Wie kann es sein, Ausdruck. Gleichzeitig werden wir mit dem Antrag dass ihr das nicht erlebt habt und nicht tanzt? – Lebens- Wege aufzeigen, um den Versöhnungsprozess und den mut und Lebensbejahung, trotz solcher Erlebnisse, als Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen kulturelles Gut, das können wir sehr wohl von Ruanda in Ruanda zu unterstützen. und vielen anderen in Afrika lernen. Der Völkermord in Ruanda entstand aus einem Jahr- Der Außenminister hat heute Morgen in seiner Rede zehnte schwelenden Konflikt zwischen Volksgruppen Frau Zuma zitiert. Er sagte: Wir können sehr viel lernen der Hutu und der Tutsi. Erinnern wir uns kurz. April bis vom Reichtum der Jugend in Afrika. Juni 1994: 800 000 Tutsis und gemäßigte Hutus in nur 100 Tagen ermordet, systematisch hingemetzelt auf das Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Grausamste mit Macheten, Äxten und Knüppeln; Morde, Köpfungen und Vergewaltigungen als Normalität. Das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ist die schreckliche Bilanz des Völkermordes in Ruanda, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dennoch: Die ruandische Gesellschaft ist dabei, die Geschichte aufzuarbeiten, und hat bereits eine große Präsident Dr. Norbert Lammert: Wegstrecke hin zu einem inneren Frieden zurückgelegt. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege In unserem Antrag würdigen wir ausdrücklich den Bei- Wilfried Lorenz. trag der Regierung Ruandas zur gesamtgesellschaftli- chen Versöhnung. Sie, diese Regierung, diese Menschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dort, haben die Lehren aus dem nicht verhinderten Ge- neten der SPD) nozid gezogen. Sie verfolgen eine auf Schaffung demo- kratischer Strukturen gerichtete Reformagenda und en- Wilfried Lorenz (CDU/CSU): gagieren sich für ein globales Bewusstsein, das die Früherkennung aufkommender Konflikte und die Prä- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vention fördert. Hier wurde aus der Geschichte gelernt. Meine sehr verehrten Damen und Herren! 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda und fast 70 Jahre nach Ende Systematische Eliminierungen ethnischer Volksgrup- des Zweiten Weltkriegs ist es berechtigt, die Frage zu pen, Massaker und Völkerrechtsverletzungen gab es aber Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2179

Wilfried Lorenz (A) auch in der europäischen Geschichte nach dem Zweiten müssen für Frieden sorgen. Militärbischof Rink verweist (C) Weltkrieg, sogar noch in der Zeit nach dem Fall des Ei- in einem Interview zu Recht darauf, dass militärische sernen Vorhangs, als wir alle von der Friedensdividende Einsätze nur die Ultima Ratio sein können. Entwick- gesprochen haben. Ich denke zum Beispiel an Srebre- lungshelfer wollen wegen der Lage vor Ort zurzeit nicht nica. Im Fall Ruanda blieb die Völkergemeinschaft zu- mehr in die Zentralafrikanische Republik gehen. Vor nächst untätig. Es gab keinen Aufschrei der Empörung, diesem Hintergrund stellt sich Bischof Rink die Frage, nur zögerlich wurde entschieden, das Blauhelmkontin- „ob die internationale Gemeinschaft zusieht, wenn das gent aufzustocken, eine UN-Resolution gab es erst im Land im Chaos versinkt, Menschen erschossen werden späteren Verlauf der Krise, als das Töten schon im vollen oder verhungern, oder ob, weil alle anderen Möglichkei- Gange war. ten nicht mehr greifen, unter Umständen ein Einsatz der Bundeswehr mit entsprechendem Mandat – sagen wir: Was lernen wir aus diesen Ereignissen? Welche Leh- als Schlichtungshilfe – dazu beiträgt, wieder ein rechts- ren ziehen wir daraus? staatliches Leben herzustellen.“ Erstens. Durch Nichthandeln kann sich die Völkerge- Meine tiefste Überzeugung ist, dass Deutschland die meinschaft ebenso schuldig machen wie durch Handeln. Verpflichtung hat, Verantwortung zu übernehmen. Wir Zweitens. Deutschland muss seiner Rolle als politisch müssen anderen Staaten helfen, Sicherheit zu schaffen. und wirtschaftlich starke Kraft in der Völkergemein- Das ist die Grundlage für Frieden, Freiheit und wirt- schaft gerecht werden. Dies haben unser Bundespräsi- schaftlichen Wohlstand. Das ist auch eine moralische dent, Herr Gauck, und die Bundesverteidigungsministe- Pflicht, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte. rin, Frau Dr. von der Leyen, in Grundsatzreden sehr Unsere Sicherheit, auf der wir unseren Wohlstand aufge- baut haben, haben wir jahrzehntelang durch andere Län- deutlich formuliert. der garantiert bekommen. Das sollten wir Deutsche nicht Daher ist das Engagement Deutschlands in Zentral- vergessen. afrika und Somalia nur konsequent. Im internationalen Miteinander können Wegschauen, Zögern und Untätig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bleiben die furchtbaren Konsequenzen haben, auf die neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir in diesem Moment, in dieser Stunde schauen. Der Völkergemeinschaft müssen Möglichkeiten zuge- Lassen Sie mich eine sehr persönliche Anmerkung standen werden, schwere Verbrechen gegen die Mensch- machen. Ich habe als Kind 1949 die Berliner Blockade lichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht zu unterbin- erlebt und war glücklich und froh, eines dieser Essens- den; RtoP ist hier gerade angesprochen worden. Dieses pakete, die vom Himmel geworfen wurden, aufzufan- gen. Ich habe mich damals darüber gefreut, dass ich es (B) Eingreifen muss frühzeitig geschehen, bevor Morde, (D) bekommen habe, aber auch darüber, dass ich meinen Folter, Verstümmelungen oder Massenvergewaltigun- Hunger zumindest teilweise stillen konnte. Dabei ist an- gen unvorstellbare Ausmaße annehmen können – wie in zumerken, dass die Menschen in dieser Stadt nur über- Ruanda –, auch wenn sich die Völkergemeinschaft dabei lebt haben, weil sie von ehemaligen Kriegsgegnern nicht ohne Mandat – wie im Kosovo-Krieg – anfangs in einer im Stich gelassen worden sind. Den Ausdruck „nicht im völkerrechtlichen Grauzone bewegt. Stich lassen“ haben wir heute in der Diskussion schon Solche Grauzonen resultierten bisher aus einem Veto- mehrfach gehört. Daraus entstanden Freundschaften, verhalten weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, das un- Freundschaften über Jahrzehnte hinweg, Freundschaf- geachtet menschlichen Leidens machtpolitischen Inte- ten zwischen Menschen, Freundschaften von Land zu ressen diente. Wir haben es gerade wieder erleben Land und Freundschaften, die den Frieden in Europa ge- müssen, dass eine Verletzung des Völkerrechts nicht deihen ließen. vom UN-Sicherheitsrat verurteilt werden konnte. Alle Lassen Sie mich zum Schluss – meine Redezeit ist ab- fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ste- gelaufen – ein afrikanisches Sprichwort zitieren: „Siehst hen in der besonderen Pflicht, bewusst mit ihrem Veto- du Unrecht und Böses und sprichst nicht dagegen, dann recht umzugehen. Sie sind aufgerufen, eine Kultur der wirst du sein Opfer.“ Mein Fazit aus dieser Diskussion Zusammenarbeit zu pflegen; denn wir befinden uns im ist: Völkermord darf sich nicht wiederholen, heute nicht, 21. Jahrhundert, in dem die Stärke des Rechts und nicht morgen nicht, nirgendwo. Dieser Verantwortung müssen das Recht des Stärkeren gelten muss. wir uns stellen, jetzt, jederzeit und überall. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Ich bedanke mich. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Deutschland trägt seiner Verantwortung mit dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Konzept der vernetzten Sicherheit Rechnung. Wir betrei- geordneten der LINKEN) ben kein Säbelrasseln, sondern vernetzen außen-, ent- wicklungs- und sicherheitspolitische Kompetenz, um die Ursachen von Konflikten frühzeitig erkennen und diese Präsident Dr. Norbert Lammert: eindämmen zu können. Das war, Herr Kollege Lorenz, Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulie- Die Friedensdenkschrift des Rates der Evangelischen ren möchte. Kirche aus dem Jahr 2007 hat den Titel: „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“. Ja, wir (Beifall) 2180 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich möchte mich aber auch bei allen Kolleginnen und Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der (C) Kollegen ausdrücklich bedanken, die an dieser Diskus- Kollegin Corinna Rüffer für die Fraktion Bündnis 90/ sion teilgenommen haben, und insbesondere allen Red- Die Grünen. nerinnen und Rednern aus allen Fraktionen meinen Res- pekt ausdrücken für die Art und Weise, mit der sie sich Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall im ganzen Hause) Es geht an dieser Stelle nachdenklich weiter. Seit fünf Jahren ist die Konvention der Vereinten Nationen über Um ähnlich wie Herr Lorenz ganz zum Schluss eine die Rechte von Menschen mit Behinderungen geltendes persönliche Anmerkung zu machen: Nach dieser denk- Recht in Deutschland. Dass wir eine solche Konvention würdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns die haben, ist in erster Linie denjenigen Menschen mit Be- selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Ver- hinderungen zu verdanken, die über Jahrzehnte nicht antwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugen- aufgegeben haben, für ihre Rechte zu kämpfen. der gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Ver- pflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Ereignisse stattgefunden haben. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall im ganzen Hause) Bei ihnen möchte ich mich heute bedanken. Was sie ge- tan haben, war bitter nötig. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Grünen auf der Drucksache 18/973 mit dem Titel: „Er- SES 90/DIE GRÜNEN) innerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda 1994“. Wer stimmt diesem Antrag zu? – Wer Als die Vereinten Nationen das Jahr 1981 zum UNO- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Jahr der Behinderten erklärten, ernteten sie heftige Kri- Antrag mit breiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion tik von Menschen mit Behinderungen in ganz Deutsch- Die Linke angenommen. land. In einer Resolution schrieb die Aktionsgruppe ge- gen das UNO-Jahr: Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19 a und 19 b: Wir erklären, daß das „Internationale Jahr der Be- hinderten“ … über unsere Köpfe hinweg und gegen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna unsere Interessen durchgeführt wird. Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Sie sprachen von einer Integrationsoperette, die die (B) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN gravierenden Missstände im Behindertenbereich ver- schleiern soll. Menschen mit Behinderungen kämen als Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonven- selbstbestimmt handelnde Menschen nicht vor. Aus tion – Sofortprogramm für Barrierefreiheit diesem Grund organisierten die Aktivistinnen und Akti- und gegen Diskriminierung visten das sogenannte Krüppeltribunal. Hier machten sie Drucksache 18/977 auf Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat auf- merksam. Zur Sprache kamen die unwürdige Lebens- Überweisungsvorschlag: situation in Heimen, Behördenwillkür, Sonderwelten Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch Werkstätten, die Situation behinderter Frauen, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Mobilitätsbarrieren und vieles andere mehr. Der Erfolg dieser Bewegung wurde nicht zuletzt deutlich, als gut b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin 20 Jahre später behinderte Menschen selber über die Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann UN-Konventionen mitverhandelt haben. Er wird deut- (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Frak- lich, wenn Menschen mit Behinderungen in politische tion DIE LINKE Entscheidungsprozesse ernsthaft einbezogen werden und Programm zur Beseitigung von Barrieren als Expertinnen und Experten ernstgenommen werden. auflegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Drucksache 18/972 des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU]) Überweisungsvorschlag: Er wird auch an jeder Rampe und an jeder Übersetzung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) in leichte Sprache deutlich. Der Kern der Kritik, der be- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) reits vor 30 Jahren formuliert wurde, richtete sich gegen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Politik, die den Schein aufrechterhielt und Miss- Ausschuss für Gesundheit stände verschleierte, also gegen Integrationsoperetten. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Situation behinderter Menschen hat sich in den Haushaltsauschuss letzten 30 Jahren erheblich verbessert. Das liegt auch da- Federführung strittig ran, dass Menschen mit Behinderungen für ihr Selbstbe- Interfraktionell ist auch hier eine Debattenzeit von stimmungsrecht gekämpft haben. Wenn ich mir behin- 96 Minuten vereinbart worden. – Dazu höre ich keinen dertenpolitische Reden anhöre, dann frage ich mich Widerspruch. Also können wir so verfahren. allerdings gelegentlich, ob wir mittlerweile von Inklu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2181

Corinna Rüffer (A) sionsoperetten sprechen müssten. Die Gruppe derjeni- Situation behinderter Menschen auseinanderzusetzen, (C) gen, die gerne von Inklusion spricht und nicht aus dem die nach Deutschland geflüchtet sind. Quark kommt, wenn es wirklich um etwas geht, hat je- denfalls prominente Vertreter. „Gut Ding will Weile ha- Ich möchte zum Ende meiner Rede noch eine Ent- ben“ scheint ihr Motto zu sein. Ich bin gespannt, wie wicklung ansprechen, die wir gerade vor dem Hinter- häufig uns Frau Nahles das in puncto Teilhabegesetz grund der Behindertenrechtskonvention im Auge behal- noch erklären wird. Wenn ich mir die Finanzplanung ten sollten. In den letzten Jahren beobachte ich verstärkt dieser Bundesregierung anschaue, dann muss ich fest- die Tendenz, dass gegenüber Arbeitgeberinnen und stellen, dass es vor 2017 jedenfalls nicht losgehen wird. Arbeitgebern die besonderen Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen angepriesen werden. So informiert Wenn es darum geht, die Umsetzung der Behinderten- zum Beispiel die BDA darüber, dass behinderte Men- rechtskonvention voranzutreiben, sollten wir uns nicht schen am Arbeitsplatz häufig besonders motiviert sind, von schönen Worten blenden lassen. Wir müssen im weil sie beweisen möchten, das ihre Arbeit Wertschät- Blick behalten, was sich wirklich verändert und was sich zung verdient. Das mag so sein. Aber lassen wir uns das im Leben von Menschen mit Behinderungen konkret einmal auf der Zunge zergehen: Hier wird dafür gewor- verbessert. ben, Menschen mit Behinderungen einzustellen, weil sie sich beweisen möchten. Das hat nichts zu tun mit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Perspektive der Behindertenrechtskonvention. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Lebenssituation behinderter Menschen ist in und bei der LINKEN) Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern re- lativ gut. Wir müssen bei der Umsetzung der Konvention Die Konvention zielt darauf, einen inklusiven Arbeits- keinesfalls bei null anfangen. Gerade aus diesem Grund markt zu schaffen. Das bedeutet, der Arbeitsmarkt muss sollten wir unsere Erfolge daran messen, wie gut es uns so gestaltet werden, dass sowohl der sehr leistungsstarke gelingt, auch denjenigen eine selbstbestimmte Teilhabe als auch der leistungsschwache Mensch seinen Lebens- zu ermöglichen, die besonders verletzlich sind. Wir soll- unterhalt durch Arbeit verdienen können. Menschen mit ten uns fragen, wie selbstbestimmt zum Beispiel diejeni- Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit. gen leben, die nicht in einer Werkstatt arbeiten dürfen, weil sie – auch nachdem sie an Maßnahmen im Berufs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bildungsbereich teilgenommen haben – kein Mindest- Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es für sinn- maß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung er- voll, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bestehende bringen werden. Wir sollten uns fragen, was wir für die (B) Vorurteile über Menschen mit Behinderungen reflektie- (D) Selbstbestimmungsrechte derjenigen tun, die nicht spre- ren und hoffentlich überwinden – selbstverständlich. Wir chen können. Wir sollten uns auch fragen – jetzt schlage dürfen uns aber nicht damit zufriedengeben, wenn von ich einen etwas weiteren Bogen –, wie unsere Vorstel- Inklusion gesprochen wird und damit gemeint ist, Men- lungen von einem lebenswerten Leben die Entscheidung schen mit Behinderungen als wertvolle und nicht aus- über einen Schwangerschaftsabbruch beeinflussen, reichend genutzte Ressource am Arbeitsmarkt zu präsen- wenn eine genetische Untersuchung nahelegt, dass ein tieren. Wenn Menschen mit Behinderungen besonders Kind mit einer Beeinträchtigung leben wird. motiviert arbeiten, weil sie stärker als nichtbehinderte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Menschen das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen, des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU]) dann liegt das daran, dass sie derzeit diskriminiert wer- den. Das ist ein Problem, gegen das wir vorgehen müs- Gemeinsam mit mehr als 20 Kolleginnen und Kolle- sen. Das ist jedenfalls kein guter Zustand, aus dem Profit gen aus meiner Fraktion habe ich vor zwei Wochen die geschlagen werden sollte. Bundesregierung zu ihren behindertenpolitischen Vorha- ben befragt. So wollten wir beispielsweise wissen, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen mit Behinderungen leben, die nach Deutsch- und bei der LINKEN) land geflüchtet sind. Auch hier handelt es sich um Perso- Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit fünf Jahren ist nen, die besonders verletzlich sind. Wir wollten wissen, die Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in wie diese Menschen untergebracht sind, ob sie Zugang Deutschland. Mit der Konvention haben wir uns ver- zu Rehamaßnahmen haben und ob die Bundesregierung pflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichbe- zu diesen Fragen Daten erheben wird, sollten diese bis- rechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermög- her nicht zur Verfügung stehen. Die Antwort in der Fra- lichen. Das passiert nicht, wenn möglichst viele gestunde: Anerkannte Flüchtlinge werden nicht in Un- Menschen möglichst oft „Inklusion“ sagen. Die Bundes- terkünften für Asylbewerber untergebracht. Außerdem regierung täte gut daran, sich vom Vertrösten und Verzö- stehen ihnen Sozialhilfeleistungen und medizinische gern aufs Handeln zu verlegen. Vielleicht möchte sie uns Versorgung wie eigenen Staatsangehörigen zur Verfü- ja beweisen, dass ihre Arbeit Wertschätzung verdient. gung. Ganz ehrlich: Das ist in etwa so, als würde ich auf die Frage nach einem Kuchenrezept antworten, dass Vielen Dank. Mehl eine der Zutaten ist und man den Ofen benutzen kann, den man auch für Lasagne verwendet. Diese Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desregierung ist offensichtlich nicht gewillt, sich mit der und bei der LINKEN) 2182 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

(A) Vizepräsidentin : (Kerstin Tack [SPD]: Yes!) (C) Vielen Dank, Frau Kollegin. – Guten Morgen von dafür zu sorgen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten der meiner Seite aus! Verbände der Betroffenen auch bei der Erstellung der Der nächste Redner: Uwe Schummer für die CDU/ nächsten Teilhabeberichte noch weiter ausgebaut wer- CSU-Fraktion. den, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie neten der SPD) der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Uwe Schummer (CDU/CSU): damit das Motto „Nichts über uns ohne uns“ auch als Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Grundlage des politischen Handelns verankert wird. Dass Sie die Bundesregierung zum Handeln auffordern, und zwar endlich, nachdem die Große Koalition jetzt Wir haben damit den Art. 31 der UN-Konvention um- 100 Tage an der Regierung ist, finde ich bemerkenswert. gesetzt, der uns in der Politik auffordert, Statistiken und Datensammlungen über die Lebenslagen behinderter (Vereinzelt Heiterkeit) Menschen aufzuarbeiten. In diesen Statistiken und Da- tensammlungen sollen sich auch differenziert die unter- Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in die mehr Hand- schiedlichen Lebenswirklichkeiten und Belange der lungsempfehlungen zur Inklusion in allen Politikberei- Menschen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigun- chen aufgenommen worden sind als in die jetzt gültige gen wiederfinden. zwischen Union und Sozialdemokraten. Diese enthält insgesamt zwanzig solcher Handlungsempfehlungen. Nach dem Teilhabebericht sind 25 Prozent der Bevöl- kerung über 18 Jahre betroffen. Das sind 17 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Menschen. Davon sind etwa 7 Millionen Menschen an- Wir haben ja bereits am Mittwoch im Ausschuss für erkannt schwerbehindert. Wir werden aufgrund der De- Arbeit und Soziales und in anderen Ausschüssen mit- mografie, der Bevölkerungsstruktur, die Frage von Be- einander diskutiert und überlegt, wie wir die ambitio- hinderung und Beeinträchtigung, auch von chronischen nierten Ziele der Koalition gemeinsam umsetzen kön- Krankheiten, in der Zukunft politisch noch weiter auf- nen. Ein Thema war der neue Teilhabebericht. Wir haben arbeiten müssen. gesagt: Wir wollen wegkommen vom alten Bericht zur Von daher wird es wichtig sein, dass „barrierefrei“ für Lage der Menschen mit Behinderungen, in dem seit alle Facetten des Lebens gilt. Wir hatten am Donnerstag 1982 Defizite aufgeführt und Subventionen dargestellt (B) dieser Woche eine Initiative mit Gehörlosen aus Thürin- (D) wurden. – Die Konsequenz war, dass wir im letzten Jahr gen zu Gast, die uns aufgefordert haben, die heutigen erstmals einen Teilhabebericht zum Thema Inklusion er- technischen Standards zu nutzen, beispielsweise für Ge- stellt haben, in dem auch die sehr unterschiedlichen Le- hörlose eine Notruf-App zu entwickeln, mit der man benswirklichkeiten der Menschen mit Behinderungen wichtige Informationen, wichtige Nachrichten sofort zu- dargestellt werden. So differenziert wie die Lebenswirk- spielen kann, damit auch diese Menschen über ihr lichkeiten sind, so differenziert werden auch die politi- iPhone oder ihr iPad schnell über die aktuelle Sachlage schen Antworten sein müssen. informiert werden können. Es sind sehr einfache techni- Es war ein guter und wichtiger Erfolg des früheren sche Möglichkeiten, die heute schon existieren, die wir Beauftragten der Bundesregierung für die Belange be- nur nutzen müssen, um auch in der Kommunikation Bar- hinderter Menschen, von Hubert Hüppe – er ist heute un- rieren zu überwinden und mehr Teilhabemöglichkeiten ter uns –, zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wir müssen aber auch mentale Barrieren, Barrieren in bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE den Köpfen, Barrieren dadurch, dass wir etwas nicht ge- GRÜNEN) lernt haben, überwinden. Wenn man nicht weiß, wie man mit contergangeschädigten Menschen umgeht, wie man dass mit diesem neuen Teilhabebericht auch die UN- ihnen die Hand gibt, dann hat man Bedenken, Schwie- Konvention umgesetzt werden konnte, verbunden mit rigkeiten, zieht sich zurück, geht nicht auf diese Men- der Zielsetzung, für mehr Teilhabe zu sorgen. Der Teil- schen zu. Das sind unsere Barrieren, die wir aufarbeiten habebericht ist auch eine Grundlage für weitere Politik- müssen, damit wir auf die Menschen zugehen, sie begrü- ansätze, die die Große Koalition in den nächsten drei ßen, mit ihnen scherzen können, damit wir sehr ent- Jahren verfolgen wird, um die Teilhabe insgesamt zu spannt sein können, wenn wir auf sie zugehen. verbessern, und zwar in allen Bereichen des Lebens. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Im Sinne der Grundregel „Nichts über uns ohne uns“ bei Abgeordneten der LINKEN und des hat der Deutsche Behindertenrat dafür gesorgt, dass an BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Erstellung des Teilhabeberichts auch Wissenschaftler beteiligt waren, die selber betroffen sind und daher auch Barrieren haben wir alle miteinander, und wir alle mitei- ihre Lebenswirklichkeit mit einbringen konnten; sie nander sind aufgefordert, sie zu beseitigen. Es ist nor- machten ein Drittel des gesamten Redaktionsteams aus. mal, verschieden zu sein, und es ist wichtig, dass wir ler- Kerstin Tack und ich sind wild entschlossen, nen, offen miteinander umzugehen, in allen Facetten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2183

Uwe Schummer (A) Der Teilhabebericht gibt uns auch Handlungsempfeh- ein Sparprogramm für die Kommunen; es geht darum, (C) lungen. Dazu gehört – das ist auch in unserer Koalitions- dass für die betroffenen Menschen eine Verbesserung, vereinbarung festgelegt worden –, dass wir unter dem ein Mehrwert an Teilhabe in der Gesellschaft entwickelt Dach der Kinder- und Jugendhilfe die verschiedenen wird. Sowohl die Kommunen als auch die Länder als Fördermaßnahmen für Eltern, für Kinder, für Jugendli- auch der Bund werden zusammen mit den Trägern wei- che bündeln, sodass es vor Ort eine Anlaufsituation, eine terhin aktiv sein müssen. Es kann nicht nur um ein Spar- Struktur gibt, die weiterhilft, wenn Fragen entstehen, programm zwecks Ausgabenentlastung der Kommunen weil zum Beispiel Fördermaßnahmen beantragt werden gehen, es muss letztendlich um mehr Teilhabe für die be- müssen. troffenen Menschen gehen. Wir werden das familiäre Umfeld und die Familien (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie selbst durch eine Kultur der Nachbarschaft stärken müs- bei Abgeordneten der LINKEN und des sen – durch die Vernetzung mit begleitenden Hilfen, Ta- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gesstätten, Beratung und Betreuung. Wir wollen ver- stärkt die betreuten Werkstätten nutzen. Sie sollen auch Die Leitidee dieser Großen Koalition – das haben wir Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der betreuten Werkstät- auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben – ist ten organisieren. Wir sagen: so viel inklusive Arbeit wie die inklusive Gesellschaft, in der wir gemeinsam lernen, nur irgend möglich, aber weiterhin so viel Betreuung arbeiten, spielen, wohnen und mit allen Facetten leben. wie nötig. Ich halte nichts davon, eine Struktur abzu- Das wird unser Anspruch sein. Daran, wie wir das mit- schaffen und zu schauen, was dann passiert. Wir werden einander umsetzen werden, können Sie uns gerne in drei Strukturen miteinander vernetzen müssen, aber immer Jahren – nicht nach 100 Tagen – messen. mit der Zielsetzung, für den einzelnen Menschen, an (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dem wir Maß nehmen, möglichst viel auch inklusive Ar- beit zu entwickeln. Vizepräsidentin Claudia Roth: In meinem Heimatkreis am Niederrhein fangen auch Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist Kinder mit Downsyndrom an, aus der betreuten Werk- Katrin Werner für die Linke. statt rauszugehen. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN) NEN]: Die hätten da nie reingehört!) Katrin Werner (DIE LINKE): Gemeinsam mit anderen, mit Handwerksmeistern bauen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- (B) sie in einem offenen Museum eine niederrheinische Lehm- (D) kate. Sie sind sehr stolz darauf, eine solche Leistung zu nen und Kollegen! Seit fünf Jahren gilt in unserem Land erbringen. Man sieht auf einmal, wie stark, wie innova- eine Konvention, die man die modernste Menschen- tiv und wie motiviert sie sind. rechtskonvention nennt. Was hat sich für 7 Millionen schwerbehinderte Menschen, für mehr als 17 Millionen Vom Bundesverband der Floristen kam einmal je- Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Er- mand zu mir und beklagte sich über den Fachkräfteman- krankungen im Alltag praktisch verbessert, verschlech- gel. Ich habe ihn gefragt: Haben Sie einmal überlegt, tert, oder was blieb, wie es war? beispielsweise verstärkt auch Behinderte einzustellen? Die Antwort war erst einmal: Die Kunden haben es im- Übereinstimmend sagen viele: Es wird schwieriger, mer so eilig; die haben keine Zeit, zu warten. – Hier geht den Alltag zu organisieren. Es fehlt an inklusiven Infra- es um Entschleunigung, um Dinge des Miteinanders und strukturen. Mittelfristig fehlen 3 Millionen barrierefreie Füreinanders, über die wir miteinander reden müssen. Wohnungen in Deutschland, Defizit steigend. Nur jede Wir müssen ein Stück weit auch einen Mentalitätswan- dritte Arztpraxis ist wenigstens rollstuhlgerecht. Noch del, eine Revolution der Herzen erzeugen, damit das immer blüht eine Landschaft von Sonderwelten: Heime, Miteinander und Füreinander insgesamt verbessert wer- in denen im Minutentakt verrichtet wird, Werkstätten, in den kann. denen für Dumpinglöhne auch für Rüstungsunterneh- men, wie zum Beispiel in Bremerhaven, gearbeitet wird, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie und Förderschulen, die 75 Prozent der Schüler ohne Ab- bei Abgeordneten der LINKEN und des schluss verlassen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nach der UN-Behindertenrechtskonvention jedoch Die inklusive Bildung endet in Deutschland heute oft muss Politik Menschen mit Behinderungen absichern, nach der Kindertagesstätte. 60 Prozent der betroffenen fördern und ermutigen, selbstbestimmt zu leben; sie Kinder gehen noch gemeinsam mit anderen Kindern in muss also Räume für Selbstentfaltung öffnen – wie für eine Regelkita. In der Grundschule sind es nur noch alle anderen Menschen auch. 34 Prozent. Im weiteren Bildungsverlauf werden es im- mer weniger, bis hin zu den Restbeständen in der Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten beitswelt. Da müssen wir stärker werden; da müssen wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) besser werden. Inklusion braucht deshalb „angemessene Vorkehrungen“ Auch mit dem Bundesteilhabegesetz wird diese Ziel- für den Einzelfall im Zusammenspiel mit vielen „geeig- setzung verfolgt werden. Es geht hier eben nicht nur um neten Maßnahmen“ im Großen. 2184 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Katrin Werner (A) Art. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention spricht Wir wollen konkrete Taten, die die Lebenslagen von (C) davon, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- Menschen mit Unterstützungsbedarf praktisch verbes- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem sern. Wir wollen ein Signal, dass Teilhabe mehr ist als Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Des- ein einzelner Leistungsanspruch, nämlich Wert und halb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Wirklichkeit für alle, ein soziales Gut. Wir wollen diese Die Grünen, zunächst das Behindertengleichstellungsge- Beseitigung von Barrieren bewusst als Zusatzprogramm, setz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu neben dem Bundesleistungsgesetz. Dabei betonen wir, novellieren. dass mit dem Teilhabegesetz keine und keiner schlech- tergestellt werden darf. Aber wir sehen auch: Die Entlas- Denn es geht in dieser Wahlperiode nicht isoliert um tung der Kommunen von den Kosten der Eingliede- ein Bundesteilhabegesetz. Die Gültigkeit des SGB IX rungshilfe räumt keine einzige Barriere fort. Wir wollen steht – sagen Wissenschaftler – zu 80 Prozent nur auf ein Programm, das in den Kommunen wirkt: dort, wo dem Papier. Auch in diesem Gesetz ist der Behinde- Menschen zum Arzt gehen oder rollen; dort, wo sie in rungsbegriff zu ändern. Es geht auch um den arbeitneh- der Schule oder im Theater hören können, was sie nicht merähnlichen Status und ein Recht auf bedarfsgerechte sehen, oder in Bildern verstehen, was Buchstaben ihnen Assistenz in allen Lebensphasen und Lebenslagen, und nicht verraten; zwar unabhängig von Einkommen und Vermögen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) dort, wo sie ihr Recht selbst vertreten, im Rathaus oder Gebraucht wird eine soziale Umwelt, an der alle Men- im Gericht; dort, wo sie arbeiten und Freunde am schen mit Beeinträchtigungen teilhaben können. Das Stammtisch treffen; dort, wo sie wohnen, daheim statt sind auch ältere Menschen und Menschen mit chroni- im Heim. schen Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern und Kinder selbst, nicht nur Menschen mit einem Behinde- Wir wollen von Anfang an eine fachkundige Beglei- rungsgrad. Es geht um alle Menschen mit dauerhaftem tung durch das Bundeskompetenzzentrum Barrierefrei- oder zeitweiligem Unterstützungsbedarf. heit und eine Evaluation dieses Programms, damit es nachhaltig wird. Wir wollen eine Regierung mit men- Es gibt eben auch thematische Focal Points. Einer da- schenrechtlichem Tatendrang und beantragen deshalb von ist in der UN-Behindertenrechtskonvention die Bar- geeignete Maßnahmen, wie sie die UN-Konvention ver- rierefreiheit. Aus Sicht der betroffenen Menschen heißt steht. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger. das: im Alltag – zu jeder Zeit – nahezu jeden Ort, jede Einrichtung, jedes Angebot und jede Information errei- Danke. (B) (D) chen, nutzen und verstehen zu können, ohne Bittgänge, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Kostenvorbehalte oder Vermögensanrechnung. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Schon 2011 forderten die Landesbehindertenbeauf- tragten in ihrer Dresdner Erklärung energischere Schritte. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin Der Teilhabebericht von 2013 zeigt, dass diese fehlen. Tack für die SPD-Fraktion. Aber inklusive Strukturen wird es ohne Barrierefreiheit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht geben. Ein bisschen Barrierefreiheit ist leider ex- klusiv. Kerstin Tack (SPD): Einzel- und Pilotprojekte reichen nicht. Barrierefreie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lösungen im Alltag müssen leider immer wieder ein- Sehr geehrte Damen und Herren! Die UN-Behinderten- gefordert, erstritten oder sogar eingeklagt werden. rechtskonvention, die Deutschland vor fünf Jahren ratifi- Zuletzt kritisierte der Bundesrechungshof, dass vom ziert hat, verpflichtet uns alle, Teilhabe an allen Lebens- Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn bereichen dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Aus AG „die Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahn- dieser Verpflichtung, die wir eingegangen sind, haben höfen … pauschal als stufenfrei bewertet werden, selbst wir geeignete Maßnahmen abzuleiten; denn wir sind zu- wenn die Bahnsteige ausschließlich über Treppen er- ständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechts- reichbar sind“. Zwei Drittel aller Bahnhöfe werden so konvention. indirekt als barrierefrei ausgegeben, obgleich sie für Rollstuhlfahrer oder Menschen mit größeren Mobili- In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Be- tätseinschränkungen kaum nutzbar sind. hinderungen. Nur rund 2 Prozent von ihnen sind von Ge- burt an bzw. vom ersten Lebensjahr an behindert. Das Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Sofortpro- heißt, dass im Laufe des Lebens Behinderung uns alle gramm zur Beseitigung bestehender Barrieren in Höhe ereilen kann. Deshalb ist die Zielgruppe, über die wir re- von jährlich 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum von den, beeindruckend groß. fünf Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2185

Kerstin Tack (A) Die Koalition hat sich richtig viel vorgenommen: können. Das, was schon gestern diskutiert wurde, ist (C) Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik finden richtig: Wir werden das Bundesteilhabegesetz im Jahr die Belange von Menschen mit Behinderungen in einem 2016 zur Verabschiedung bringen, und es wird in 2017 Koalitionsvertrag flächendeckend Berücksichtigung. in Kraft treten. Das ist unsere Aussage dazu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Das ist eine große Errungenschaft. Diese Maßnahmen Frau Kollegin, vielleicht ist das auch der Grund dafür, finden sich im Koalitionsvertrag nicht nur unter „Men- dass Sie in Ihrem Beitrag hier schlussendlich gar nichts schen mit Behinderungen“ wieder, sie finden sich – das zu Ihrem Antrag gesagt haben. Ich gehe davon aus, dass werden wir im Laufe der Debatte noch vorgetragen be- fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention natürlich kommen – auch in jedem weiteren Kapitel. auch für Sie Anlass sind, mehr zu tun, als sich nur die zwei Gesetze anzugucken. Aber ich will auch sagen, dass die Anträge der Oppo- sition doch recht enttäuschend sind. Wenn ich sehe, dass Bei der Kollegin der Linken erleben wir das, was wir die Kollegin der Grünen anlässlich fünf Jahren Behin- schon kennen: 1 Milliarde Euro ist das Mindeste, was dertenrechtskonvention ausschließlich fordert, dass wir man grundsätzlich in jedem Antrag fordert, ohne dass das Behindertengleichstellungsgesetz und das All- man sagt, wo das Geld herkommen soll. Auch hier will gemeine Gleichbehandlungsgesetz ändern, muss ich ich sagen: Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlich- ehrlich sagen: Da wollen wir eindeutig mehr als Hand- keit. Wir werden sie bei den weiteren Maßnahmen zur lungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention Städtebauförderung und anderem selbstverständlich re- ableiten. alisieren. Genau so, wie von Ihnen gefordert, ist auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Teil unseres Koalitionsvertrages, den wir umzuset- der CDU/CSU) zen gedenken. (Beifall bei der SPD – Richard Pitterle [DIE Vizepräsidentin Claudia Roth: LINKE]: Sagen Sie doch, wo das Geld her- Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage/-be- kommen soll!) merkung von Markus Kurth? Mit dem modernen Bundesteilhabegesetz, das wir in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen, werden Kerstin Tack (SPD): wir genau diesen Anspruch auf Teilhabe in der Gesell- Selbstverständlich darf Herr Kurth zwischenfragen. schaft umfassend umsetzen. Wir wollen die soziale Teil- (B) habe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfe (D) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): herausholen und es als eigenständiges Recht im SGB IX Sie sagen, Sie haben sich wesentlich mehr vorgenom- verankern. Allein das ist ein Paradigmenwechsel, den men. wir aus der UN-Behindertenrechtskonvention als Auf- trag für uns definieren. Um auch das deutlich zu sagen: Mit der Herausnahme aus der Sozialhilfe ist selbstver- Kerstin Tack (SPD): ständlich auch das Bedürftigkeitsprinzip obsolet. Ja. (Beifall bei der SPD) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Selbstverständlich haben wir auch die Kosten im Wie ist es denn dann zu deuten, dass Sie zwar im Blick, deren Anstieg ja nicht daraus resultiert, dass die Koalitionsvertrag das Bundesteilhabegesetz angespro- Menschen ein immer größeres Geldbudget zur Verfü- chen und den Kommunen im gleichen Zuge eine Entlas- gung gestellt bekommen, sondern ausschließlich daraus, tung um 5 Milliarden Euro jährlich in Aussicht gestellt dass die Zahl der Leistungsberechtigten massiv angestie- haben, dies in der vorletzten Woche aber kurzerhand ein- gen ist. Haben noch im Jahre 2000 525 000 Menschen fach in die kommende Legislaturperiode verschoben ha- Eingliederungshilfe erhalten, so waren es 2012 bereits ben, auf das Jahr 2018, wenn Sie ja womöglich gar nicht 821 000 – mit steigender Tendenz –, und selbstverständ- mehr regieren? lich zieht das eine Spirale nach sich. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Was lernen wir daraus? Daraus muss man doch den DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Uwe Rückschluss ziehen, dass man insbesondere bei der Ant- Schummer [CDU/CSU]: Wollt ihr dann mit wort auf die Frage, wie man die Hilfe steuern sollte, an- uns?) ders, passgenauer, personen- und nicht institutionenzen- triert vorgehen und ein neues Leistungspaket Kerstin Tack (SPD): überdenken muss. Genau das steht im Koalitionsvertrag, Herr Kollege Kurth, ich gehe davon aus, dass Sie, wie und das werden wir machen. alle anderen Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hau- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ses auch, den Koalitionsvertrag intensiv gelesen haben und selbstverständlich in der Lage sind, daraus abzulei- Meine Damen und Herren, Behinderung ist ein Le- ten, wie sich unsere 23 Milliarden Euro zusammenset- bensrisiko, das jeden von uns individuell treffen kann. zen, weil Sie ja nicht nur lesen, sondern auch rechnen Gleichzeitig ist Behinderung kein personengebundes 2186 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Kerstin Tack (A) Schicksal, sondern es sind die Rahmenbedingungen der Worum geht es? Es geht um die Anpassung des Be- (C) Gesellschaft, die Behinderung produzieren. hindertenbegriffs an das Verständnis der Behinderten- rechtskonvention. Wir müssen deutlich sagen: Behinde- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung entsteht erst dann, wenn ein Mensch, der von der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) physischen, geistigen und psychischen Norm, von dem scheinbar Normalen abweicht, auf Barrieren, Treppen, Vizepräsidentin Claudia Roth: enge Räume, komplizierte Anweisungen, Erwartungen Kommen Sie bitte zum Schluss. an Stressresistenz, Vorurteile trifft. Die Behinderten- rechtskonvention nimmt die Gesellschaft als Verursacher Kerstin Tack (SPD): für diese Barrieren in die Verantwortung. Das ist ein Pa- Ja, mache ich. – Deshalb ist für uns völlig klar: Be- radigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel steht un- hinderung darf nicht arm machen. Das betrifft die behin- serer Gesellschaft gut an. Führen Sie ihn jetzt herbei! derten Personen selber, aber auch die Lebenspartner der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Personen. Auch das wird uns ein Anliegen sein: dass selbstverständlich jede Person, egal ob mit oder ohne Wir wollen das Recht auf Verständigung in leichter Behinderung, zur sozialen Teilhabe eigenes Einkommen Sprache. Behörden müssen schon heute in Gebärden- ansparen und einsetzen darf. Das ist unser Leitthema; sprache und Brailleschrift kommunizieren. Leichte Spra- das werden wir vorlegen. che ist notwendig, damit auch geistig behinderte Men- schen verstehen. Das hat etwas mit Wertschätzung zu Wir sind uns sehr sicher, dass wir in drei Jahren ein tun, damit, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird. sehr zufriedenstellendes Teilhabegesetz auf den Weg Auch das würde unserer Gesellschaft gut anstehen. bringen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herzlichen Dank. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir wollen angemessene Vorkehrungen. Das klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Da, wo nicht sofort Vizepräsidentin Claudia Roth: grundsätzlich etwas geändert werden kann, da, wo wir Danke, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin kurzfristige Maßnahmen brauchen, da muss eine Umset- Andreae für Bündnis 90/Die Grünen. zung leichter möglich sein, etwa die Rampe, damit der Rollstuhlfahrer am Abend noch ein Bier in der Kneipe Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): trinken kann. Das sind angemessene Vorkehrungen. (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Der letzte Punkt. Derzeit ist der Diskriminierungs- Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der Men- schutz von Menschen mit Behinderungen auf bestimmte schen- und Bürgerrechte so ernst genommen werden, Teilbereiche beschränkt. Wollen wir akzeptieren, dass, dass jeder gleichgestellt ist. Wir müssen mit den – durch wie vor einigen Jahren geschehen, einer Familie mit ei- die von uns gestaltete Umwelt, durch unser Verhalten, nem inkontinenten Kind im Jugendalter eine Ferienwoh- durch uns – behinderten Menschen auf Augenhöhe um- nung während ihres Aufenthalts dort mit der Begrün- gehen. Es geht darum, dass sich alle Menschen mit der dung gekündigt wurde, dass zu viele Windeln zu viel gleichen Selbstverständlichkeit in ihrem Leben, Wohnen Müll produzierten? Wollen wir akzeptieren, dass in man- und Arbeiten bewegen können. Das erfordert eine an- chen Restaurants und Klubs Menschen, weil sie sich an- dere Kultur der Aufmerksamkeit, des Respekts und der ders bewegen und anders essen, der Zutritt zu diesen Or- Rücksichtnahme, und zwar nicht nur aus einem karitati- ten verwehrt wird? Nein, das wollen wir nicht ven, sozialen Blickwinkel heraus, sondern schlicht des- akzeptieren. Auch hier wird eine Veränderung unserer halb, weil es ein Menschenrecht ist. Gesellschaft guttun. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ja, das Teilhabegesetz kommt – 2017. bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Vielleicht!) Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Die Umset- Die Menschen warten aber. Jeder einzelne Schritt ist zung dieser Maßnahmen kostet nicht viel Geld, manch- wichtig. Jetzt legen wir Ihnen in unserem Antrag vier mal sogar gar kein Geld. Aber sie bringen vielen viel. Maßnahmen vor, die etwas mit Freiheit, mit Menschen- Sie kosten ein Umdenken. rechten, mit Ermöglichung zu tun haben, vier Maßnah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men, die Sie sofort umsetzen könnten. Es spricht nichts dagegen, dass Sie 2017 ein Teilhabegesetz auf den Weg Wenn es Ihnen schwerfällt, einem Antrag der Opposi- bringen. Aber es spricht viel dagegen, Frau Tack, dass tion zuzustimmen, dann nehmen Sie einfach diese Vor- Sie sagen: Dieser Antrag ist enttäuschend; da steht ja schläge in Ihre jetzigen Debatten auf. Warten Sie nicht nicht viel drin. – Setzen Sie diese vier Maßnahmen um, drei Jahre, um diese Maßnahmen für Freiheit und für und Sie haben unheimlich viel erreicht. Menschenrechte umzusetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2187

Kerstin Andreae (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Bericht zeigt aber auch, dass die Bundesrepublik, (C) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) vor allem auf gesetzgeberischer Seite, schon eine Menge im Sinne der Konvention für die Menschen mit Behinde- Vizepräsidentin Claudia Roth: rung getan hat und tut. Neben den SGB sind das vor al- lem die – auch in dem Antrag der Grünen angesproche- Danke schön, Frau Kollegin. – Das Wort hat nen – Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen, Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion. das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hindertengleichstellungsgesetz. Sie trugen und tragen neten der SPD) ganz maßgeblich zur Gleichberechtigung bei und sind nur einige Beispiele. Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Zurzeit werden diese Gesetze vor dem Hintergrund Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe der Konvention evaluiert. Diese Evaluation soll bis zum Kolleginnen und Kollegen! Die Katholische Jugendfür- Sommer abgeschlossen sein. Dabei geht es um genau die sorge in meiner Heimatstadt Regensburg betreibt eine ei- Punkte, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der gene Facebook-Seite, die „Teilhabeprojekte“ heißt. Dort Grünen, in Ihrem Antrag ansprechen: nämlich um den wird erfreulicherweise nicht nur gelegentlich etwas ge- Behinderungsbegriff, um den Einsatz leichter Sprache postet, sondern es tut sich sehr viel auf dieser Seite. Die usw. Volkshochschule zum Beispiel bietet eine Altstadtfüh- Es ist wichtig, nicht nur die Gleichstellung an sich rung in leichter Sprache an. Bei „Radio sag’ was!“ gehen rechtlich festzuzurren, sondern eben auch das veränderte junge Radiomacher mit Behinderung im örtlichen Lokal- Verständnis von Behinderung, das der Behinderten- funk mit bemerkenswerten Interviews auf Sendung. Das rechtskonvention zugrunde liegt. Da sind wir ganz bei Atelier der KJF stellt seine Werke im örtlichen Künstler- Ihnen. haus Andreas-Stadel inmitten der Werke anderer Künst- ler aus. Und, und, und. Die KJF Regensburg präsentiert Trotz dieser Gesetze, die die gleichen Rechte garan- auf dieser Facebookseite einen Überblick über ihre Teil- tieren, haben Menschen mit und ohne Behinderungen in habeprojekte und über das, was jeden Tag im Kleinen der Praxis immer noch häufig ungleiche Chancen auf passiert. Teilhabe. Während ein Viertel der behinderten Men- schen keine oder nur wenige Behinderungen durch die Die gute Nachricht nach fünf Jahren UN-Behinder- Umwelt erfährt, erlebt ein anderes Viertel große Ein- tenrechtskonvention lautet daher: Es ist nicht bei der schränkungen in allen betrachteten Lebensbereichen. Idee einer inklusiven Gesellschaft geblieben. Die Sache (B) lebt, und wir sind damit gut unterwegs. Ein Gießkannenprinzip hilft uns deshalb nicht weiter. (D) Wir müssen Nachteilsausgleiche und Programme diffe- In der UN-Behindertenrechtskonvention wird bekräf- renziert auf besonders betroffene Gruppen und Situatio- tigt – ich zitiere –, „… dass alle Menschenrechte und nen ausrichten. Die Barrieren, die noch am meisten an Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, ei- der Teilhabe hindern, müssen als Erste eingerissen wer- nander bedingen und miteinander verknüpft sind und den. dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss die- ser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garan- Aufgabe der Politik ist es jedoch nicht nur, die Barrie- tiert werden muss“. Klar, denkt man, wieso sollten Men- ren für die Betroffenen so weit wie möglich abzubauen. schenrechte auch nicht für Menschen mit Behinderungen Jede Barriere ist zwar eine zu viel, aber aus der Behin- gelten? Doch was sich wie ein Allgemeinplatz anhört, dertenrechtskonvention folgt noch etwas anderes: Die stößt in der Realität oft an Grenzen: an Barrieren im individuelle Lebensplanung und die Selbstbestimmung wörtlichen Sinne. der Menschen mit Behinderung muss mehr geachtet und gestärkt werden. Viele Barrieren werden bedeutungslos, Umso wichtiger war es, dass die Vereinten Nationen wenn dem Menschen mehr Wahlfreiheit gelassen wird, mit der Konvention vor fünf Jahren die erste verbindli- wenn er die Entscheidungen zu seiner Lebensplanung che universelle Menschenrechtsquelle für behinderte selbstbestimmt treffen kann und Teilhabe erfährt. Menschen geschaffen haben. Die unterzeichnenden Die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem Staaten haben sich verpflichtet, die darin festgeschriebe- modernen Teilhaberecht ist deshalb einer der wichtigsten nen Rechte in ihre nationale Gesetzgebung zu übertra- Bausteine bei der Umsetzung der Behindertenrechtskon- gen. Auch Deutschland hat das getan. vention. Dadurch wird sie auch eine der wesentlichen Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen dafür gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben dieser zu schaffen, dass Teilhabe für alle Menschen gleichbe- Legislaturperiode werden. Wir wollen weg von einer rechtigt ermöglicht wird und Barrieren eingerissen wer- überwiegend einrichtungsbezogenen hin zu einer perso- den. Nun fiel die Behindertenrechtskonvention in Deutsch- nenzentrierten Hilfe, und daran arbeiten wir. land nicht in ein behindertenpolitisches Vakuum. Erst am (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mittwoch haben wir uns im Ausschuss mit dem Teilha- bebericht der Bundesregierung befasst. Dieser Teilhabe- Der Mensch mit Behinderung muss mit seinen spezi- bericht zeigt – neben dem Staatenbericht – auf, an wel- fischen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen. Wir wollen chen Stellen wir noch etwas tun müssen, um unsere deshalb bei der Reform die Perspektive der Betroffenen Verpflichtungen zu erfüllen. kontinuierlich mit einbeziehen. Ein solcher Prozess dau- 2188 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Dr. Astrid Freudenstein (A) ert tatsächlich; er gewinnt dadurch aber auch an Legiti- finden, dann macht mich das richtig wütend; denn ich (C) mität und an Qualität. verstehe nicht, dass es in einem wirtschaftlich so gut da- stehenden Land, wie Sie es in den Debatten immer wie- Herzlichen Dank. der erwähnen, nicht möglich ist, mehr Menschen mit Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dabei ginge es auch anders. Wir Linken wollen unter Vizepräsidentin Claudia Roth: anderem die Erhöhung der Pflichtquote, zumindest wie- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist der auf 6 Prozent, die Erhöhung der Anreize für Unter- Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. nehmen und eine bessere und dauerhafte Förderung der (Beifall bei der LINKEN) Beschäftigung behinderter Menschen. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Eines will ich ganz besonders herausheben, nämlich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dass Menschen, die heute gute Arbeit in einer Werkstatt Kollegen! Was sagt eigentlich die UN-Behinderten- für Menschen mit Behinderung leisten, eine Chance zum rechtskonvention zu dem ganz wichtigen Thema Arbeit? Übergang in die reguläre Arbeitswelt bekommen müs- Sie schreibt klar und deutlich das gleiche Recht auf Ar- sen. beit für Menschen mit Behinderung fest. Wichtige Ziele sind der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gewährleistung (Beifall bei der LINKEN – Corinna Rüffer [BÜND- von Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Recht!) die Förderung der Beschäftigung sowie die Barrierefrei- – Ein Recht, das ist richtig. – Das würde das Klima in heit am Arbeitsplatz. der Arbeitswelt entscheidend und auch positiv beeinflus- Aber wie ernst nimmt denn diese Bundesregierung sen. Ganz wichtig ist es auch, dass bei einem solchen und wie ernst nahm die letzte Bundesregierung dieses Übergang die besonderen Rentenansprüche für Men- Thema und diese Konvention? Sie erinnern sich alle: schen mit einer Behinderung erhalten bleiben. Wichtig Wir alle haben in diesem Hohen Haus für diese Konven- ist aber auch, Barrierefreiheit umfassend am Arbeits- tion gestimmt. Ich sage Ihnen trotzdem: Wir sind Licht- platz umzusetzen, und zwar grundsätzlich so, dass Men- jahre entfernt von einer inklusiven Arbeitswelt. schen mit und ohne Behinderung beschäftigt werden können. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Die Lage von Menschen mit Behinderung am Ar- (D) beitsmarkt ist leider immer noch ein Trauerspiel. Seit Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesre- Jahren rührt sich nichts an der hohen Arbeitslosigkeit gierung, bitte begreifen Sie die UN-Behindertenrechts- von Menschen mit Behinderung. Aktuell sind in der Sta- konvention nicht länger als ein schön zu lesendes tistik über 183 000 schwerbehinderte Menschen. Das ist Dokument, verstehen Sie es als eine handfeste Arbeits- im Vergleich zu 2008 ein immenser Anstieg von 10 Pro- anleitung! Fangen Sie an, an einer inklusiven Arbeits- zent. welt zu arbeiten! Die Barrieren für Menschen mit Be- hinderung auf dem Arbeitsmarkt müssen endlich Bei Betrieben mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müs- eingerissen werden. Schluss mit jeder Form von Diskri- sen wenigstens 5 Prozent Menschen mit Behinderung minierung! beschäftigt sein. Wenn die Betriebe diese Quote nicht er- füllen, dann kommt die sogenannte Ausgleichsabgabe. Danke schön. Viele Unternehmen kaufen sich aber mit dieser Abgabe (Beifall bei der LINKEN) einfach von ihrer Pflicht frei. Deshalb wird die Quote von 5 Prozent von Jahr zu Jahr – das können Sie be- obachten – nicht erfüllt. Ein anderes Problem ist: Wenn Vizepräsidentin Claudia Roth: ein schwerbehinderter Arbeitsloser seine Arbeitslosig- Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist Ulla keit beendet, findet nur jeder siebente eine Beschäfti- Schmidt für die SPD. gung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht schwerbehinderten Arbeitslosen gilt dies in fast je- der CDU/CSU) dem dritten Fall. Arbeitgeber klagen regelmäßig über den sogenannten Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Fachkräftemangel. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kann es nicht mehr hören; denn wenn man einmal auf Für mich bedeutet die Umsetzung der Behinderten- das Potenzial von schwerbehinderten Menschen schaut, rechtskonvention eine große gesellschaftspolitische Auf- dann stellt man fest: Sie sind gut qualifiziert, sie sind gabe. Diese Umsetzung und die damit verbundene Dis- hochmotiviert, aber keiner holt sie aus der Arbeitslosen- kussion darüber, welche Schritte wir gehen müssen, statistik. Wenn solche gut qualifizierten Menschen, gehören zu den größten gesellschaftspolitischen Heraus- wenn hochmotivierte Menschen mit Behinderung in forderungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und sind für meine Bürgersprechstunde kommen und mir erzählen, mich genauso bedeutsam wie die Bildungsreformen, die wie schwer es ist, wie es fast unmöglich ist, einen Job zu wir in den 60er-Jahren durchgeführt haben und die das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2189

Ulla Schmidt (Aachen) (A) Land nachhaltig verändert haben. Das in der Behinder- Teilhaberecht zu entwickeln, wird der Lackmustest sein, (C) tenrechtskonvention festgelegte Menschenrecht auf Teil- der deutlich macht, wie ernst es uns damit ist. habe an und in der Gesellschaft sollte die Diskussionen (Beifall bei der SPD) übergreifend bestimmen. Die Diskussionen machen sehr deutlich, dass dieses Menschenrecht in unserem Land, Dabei geht es um vieles, was heute von der Eingliede- das sonst alles versucht, um die Menschenrechte einzu- rungshilfe nicht geleistet wird. Es geht um Selbstbestim- halten, Tag für Tag verletzt wird. Ich glaube, dass wir mung und Partizipation, aber auch um Mitmachen und dieses Menschenrecht nur durchsetzen können, wenn Beteiligung. Ich bin sehr froh, das unsere Ministerin wir das zu einer gemeinsamen Aufgabe des ganzen Par- gesagt hat: Wir beginnen in diesem Jahr laments machen. und werden mit den Menschen mit Behinderung einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten und diesen im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Jahr 2016 verabschieden. Lassen Sie sich gesagt sein: bei Abgeordneten der LINKEN und des Wer Andrea Nahles kennt, weiß, dass sie das tut. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Ich bin sehr viel unterwegs und habe viele Bundeslän- der besucht. Egal wer gerade regiert, in keinem Land Wenn man ein modernes Teilhaberecht gestaltet, ist und in keiner Kommune wird zu 100 Prozent das umge- eines wichtig: Wir sind als Staat verpflichtet, die Barrie- setzt, was wir eigentlich wollen. Ob Brandenburg, Ba- ren abzubauen. Wir haben uns als Staat verpflichtet, da- den-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern oder für zu sorgen, dass Nachteile, die durch eine Behinde- Schleswig-Holstein – ich könnte eigentlich alle Bundes- rung entstehen, ausgeglichen werden. Deshalb sage ich länder aufzählen –, überall gibt es gelungene Beispiele. Ihnen: Es kann nicht sein, dass auf Dauer der Ausgleich der Nachteile vom Staat in die private Einkommenssitu- Aber es gibt noch viel zu tun, bis das, was wir wollen, ation des Einzelnen gelegt werden. Auch behinderte nämlich die volle Teilhabe aller Menschen, tatsächlich Menschen haben ein Recht auf ein Sparbuch. umgesetzt ist. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie uns nicht gegeneinander arbeiten, sondern überlegen, was wir mit- (Beifall im ganzen Hause) einander machen können, um dies umzusetzen. Behinderte Menschen haben nach der UN-Konven- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tion ein Recht darauf, dass sie ihre Lebenssituation stetig bei Abgeordneten der LINKEN und des verbessern können. Deshalb wird es ein wichtiger Schritt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sein, dass wir diesen Prozess voranbringen. Wir wollen nicht, dass sich Eltern behinderter Kinder darum sorgen Für mich ist neben den Artikeln betreffend Arbeits- müssen, ob sie für ihre Kinder ein Guthaben anlegen (B) markt, Schule und Kindergarten der Art. 9 der Behinder- können, damit sich die Kinder, wenn die Eltern einmal (D) tenrechtskonvention, der die Barrierefreiheit behandelt, nicht mehr leben, Sonderwünsche erfüllen können. Wir essenziell. Menschen können nicht teilhaben, wenn Bar- wollen, dass Menschen mit Behinderung ihre Wohnung rieren sie daran hindern. Aber beim Abbau von Barrie- und ihre Arbeit frei wählen können. Dann müssen wir ren handelt es sich um einen Prozess. Barrieren lassen ihnen aber zugestehen, dass sie ansparen dürfen, damit sich nicht per Gesetz von einem Tag auf den anderen sie sich Möbel oder andere Dingen kaufen können. niederreißen. Vielmehr muss jede Barriere Schritt für Schritt abgebaut werden. Ich bin sehr froh, dass wir im (Beifall im ganzen Hause) Präsidium des Deutschen Bundestags beschlossen ha- Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst uns ben: Wir wollen, dass der Deutsche Bundestag Vorbild daran arbeiten! Das ist eine große Aufgabe, nicht allein beim Abbau von Barrieren wird. des Bundestages, sondern auch der Länder und der Kommunen. (Beifall im ganzen Hause) Ich bin sehr für die Entlastung der Kommunen, aber Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung nicht nur diese Aufgabe ist so groß, dass wir sie nur gemeinsam an Anhörungen und Debatten teilhaben, sondern dass sie schultern können. Erst kommen die Inhalte, erst brau- sie auch verfolgen können. Wir wollen unsere Publika- chen wir ein modernes Teilhaberecht, und dann können tionen und Debattenübertragungen so aufbereiten, dass wir darüber entscheiden, wie wir die Kommunen oder Blinde, Gehörlose, Sehbehinderte, Hörgeschädigte so- andere bei dieser Aufgabe entlasten. Machen Sie mit! wie Menschen mit kognitiven oder psychischen Ein- Das ist ein ganz wichtiges Projekt. schränkungen am gesellschaftlichen Prozess teilhaben und sich dafür interessieren können, was wir politisch Danke schön. entscheiden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- GRÜNEN) geordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Natürlich kann man der Meinung sein, dass das Teil- Vielen Dank, Ulla Schmidt. – Nächste Rednerin in habegesetz nicht alles ist. Aber ich sage Ihnen aufgrund der Debatte ist die Kollegin Jutta Eckenbach für die meiner Erfahrung: Die Gestaltung des Teilhabegesetzes, CDU/CSU-Fraktion. das zum Ziel hat, die Eingliederungshilfe aus dem Sys- tem der Fürsorge herauszuholen und zu einem modernen (Beifall bei der CDU/CSU) 2190 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

(A) Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, bereits in der vergangenen (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Legislaturperiode wurde dem Bundestag der Teilhabebe- Kollegen! Teilhabe ist ein Menschenrecht. Das ist heute richt der Bundesregierung vorgelegt. Die Bundesregie- Morgen schon ein paarmal gesagt worden. Ich gehe noch rung ist – das haben wir heute Morgen schon gehört – einmal auf die Worte von Hubert Hüppe, unserem ehe- seit 1982 verpflichtet, einen solchen Bericht vorzulegen. maligen Beauftragten der Bundesregierung für die Be- Der letzte Bericht, den wir vorgelegt bekommen haben, lange behinderter Menschen, der immer für diesen Per- hat jedoch die Besonderheit – das haben wir bereits im sonenkreis dagewesen ist, ein. Hubert Hüppe hat immer zuständigen Fachausschuss behandelt –, dass in ihm ein wieder gesagt: Es geht nicht darum, dass wir mit diesen ganz anderer Blickwinkel eingenommen wird und er da- Menschen Mitleid haben, sondern es geht einzig und al- mit ganz andere Aussagen beinhaltet als die vorherigen lein darum, dass wir die Menschen teilhaben lassen an Berichte. einem selbstbestimmten Leben. Ich bin sehr froh, dass Wir haben im Ausschuss ebenfalls gehört, dass wir der gesamte Bundestag heute Morgen zu dieser Einstel- noch mehr Erfahrungen sammeln müssen, dass wir noch lung kommt. Dazu ermutigen wir sie. näher an die Menschen herankommen müssen, um noch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mehr von ihnen zu erfahren. Auch von schwerstbehin- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE derten Menschen möchte ich wissen, welchen Bedarf GRÜNEN) und welche Bedürfnisse sie haben. Aber wie sollen wir diese Menschen erreichen? Es kommt also darauf an, Für die CDU/CSU kann ich natürlich sagen, dass uns das ganz spezifische Fragestellungen zu entwickeln, um immer wieder ganz wichtig war und ich dies nur der diese Menschen zu erreichen; denn es gibt – das ist mir Form halber heute Morgen noch einmal klarstellen persönlich wichtig – nicht den Behinderten, vielmehr ha- möchte. ben viele Menschen ganz unterschiedliche Einschrän- Meine Damen und Herren, seit der Rede des Kollegen kungen. Den Einzelnen zu erreichen, das muss doch un- Hüppe hat sich in der Gesetzeslandschaft viel getan. Zur ser Ziel sein. Deswegen ist es, wie ich finde, wichtig, Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wur- dass wir eine Vorstudie machen und weitere Entwicklun- den in den vergangenen Jahren Verbesserungen bei den gen beobachten, um noch mehr von den Menschen zu er- Fahrgastrechten oder Änderungen im Luftverkehrsge- fahren. Dann können wir noch individueller tätig wer- setz vorgenommen. Gesetze zur Förderung des elek- den. tronischen Rechtsverkehrs in der Verwaltung oder vor (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gerichten wurden verabschiedet. Ich freue mich ganz neten der SPD) besonders, dass wir gerade hören konnten, dass sich (B) auch der Bundestag hier einbringt, für Menschen mit Be- In dem Bericht wurde ein Schwerpunkt auf Menschen (D) hinderungen tätig zu werden. Ich freue mich schon auf mit psychischen Beeinträchtigungen gelegt. Aus meiner den Tag, an dem es möglich sein wird, alle in geeigneter Arbeit im Landschaftsverband Rheinland – ich nenne es Form zu erreichen. Dafür von unserer Seite herzlichen immer mein früheres Leben – weiß ich um die Besonder- Dank. heiten dieser Personengruppen. Wir haben es immer wieder mit psychisch erkrankten Personen zu tun gehabt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es ist auch Aufgabe des Landschaftsverbandes, bei die- Es kommt aber auch darauf an, dass wir uns Zeit neh- sen Erkrankungen tätig zu werden. men. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Gestatten Sie Speziell auf einen Aspekt möchte ich eingehen, bei mir daher einen Schlenker auf die dortige Landesebene. dem wir als Nichtbetroffene nicht so sehr im Film sind, Hier möchte ich das Thema Schulpolitik – Stichwort In- wie ich immer sage, nämlich auf die Langzeitarbeitslo- klusion – aufgreifen. Genau dieses Thema entwickelt sen. Wenn man mit den Betroffenen redet, dann hört sich in Nordrhein-Westfalen zu einem großen Problem. man, dass psychisch erkrankte Langzeitarbeitslose, wenn Das Beispiel Inklusion macht deutlich, dass Überarbei- sie endlich eine neue Arbeit gefunden haben, es zwei tungen, Evaluierungen und Weiterentwicklungen erfor- oder drei Wochen schaffen, dieser Tätigkeit nachzuge- derlich sind, um allen Beteiligten gerecht zu werden. Die hen. Aber nach zwei oder drei Wochen ist es vorbei, sie Umsetzung der Inklusion darf nicht mit der Brechstange können ihre Ängste nicht überwinden. Diesen Menschen erfolgen; denn Teilhabe erfordert vor allem Qualität, und müssen wir helfen. Ich glaube, dass das eine ganz wich- zwar Qualität für alle Seiten. tige Aufgabe ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein zweiter Bereich, den ich neben der Psychiatrie als Auf dieses Umsetzungsproblem in Nordrhein-Westfalen ganz wichtig erachte und den ich während meiner Arbeit wollte ich hier besonders hinweisen. im Landschaftsverband kennengelernt habe, ist der Be- reich der Jugend- und Behindertenhilfe. Auch in der Ju- Um unserem hohen Qualitätsanspruch gerecht wer- gendhilfe müssen wir Hürden überwinden, die durch die den zu können, bedarf es leider auch etwas Zeit: Zeit Sozialgesetzbücher aufgebaut werden. Das ist ganz zum Austausch aller Interessen und Meinungen; Zeit zur wichtig. Überarbeitung; Zeit zur Ausarbeitung. Ein Schnell- Schnell ist dabei sicher der falsche Weg. Ich sehe gerade, dass mich die Lampe am Rednerpult durch Blinken darauf hinweist, dass meine Redezeit ab- (Beifall bei der CDU/CSU) gelaufen ist. Ich dachte, sieben Minuten Redezeit seien Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2191

Jutta Eckenbach (A) länger. Deswegen komme ich zum Schluss: Behinderung Für den Bereich des Sports hat die Linke in der (C) ist nicht heilbar. Sie ist ein integraler Bestandteil der Per- 17. Wahlperiode einen Antrag eingebracht, der damals sönlichkeit behinderter Menschen und verdient unseren von allen Sachverständigen in einer Anhörung für sehr Respekt. Jedoch sind behindernde Strukturen und behin- gut befunden wurde. Dieser Antrag ist leider abgelehnt derndes Verhalten heilbar. Wir werden die Welt einfa- worden. Das sind wir gewöhnt. Aber es ist schon schade, cher machen. Und das werden wir gemeinsam mit unse- dass die Koalition sich nicht einmal die Mühe gemacht ren Mitstreiterinnen und Mitstreitern einfach machen. hat, ihn als Grundlage zu nehmen, um hier einen neuen Ich freue mich in diesem Sinne auf die weitere Aus- Antrag für den Bereich des Sports vorzulegen. sprache in den Ausschüssen und stimme der Überwei- (Beifall bei der LINKEN) sung wie alle anderen zu. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Besonders in den Bereichen des Schulsports, des Breitensports und der Nachwuchsgewinnung stellen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) immer wieder fest, dass Kinder und Jugendliche zu schnell eine Sportbefreiung erhalten, weil man mit Be- Vizepräsidentin Claudia Roth: hinderungen schlecht bzw. gar nicht umgehen kann. Das Vielen Dank, Frau Kollegin Eckenbach. Wir gratulie- müssen wir ändern. Lehrer-, Übungsleiter- und Trainer- ren Ihnen alle zu Ihrer ersten Rede im Hohen Haus ausbildung müssen dem inklusiven Anspruch gerecht (Beifall) werden. Gemeinsames Sporttreiben in der Schule, im Verein und im Wettbewerb muss selbstverständlich für und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit für die alle sein. Menschenrechte in unserem Land. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt hat das Wort Katrin Kunert für die Linke. Grundlegende Voraussetzung dafür ist natürlich die (Beifall bei der LINKEN) Barrierefreiheit von Sportstätten. Es gibt erst eine ein- zige Sporthalle in Deutschland, nämlich in , die Katrin Kunert (DIE LINKE): völlig barrierefrei ist. Das ist ein Manko für die deutsche Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesellschaft. Deshalb fordern wir auch ein bundesweites Werte Frau Eckenbach, ich glaube, fünf Jahre nach Rati- Sportstättensanierungsprogramm. Neben den aktiven fizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kann Sportlerinnen und Sportlern müssen wir aber auch die man hier nun wirklich nicht von der Brechstange reden. Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Behinderung (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. im Blick haben, die den Sport konsumieren wollen. In (B) (D) Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie geben NEN]) das die Möglichkeiten der Übertragung her? Wie gelan- gen sie barrierefrei ins Stadion? Dazu gibt es ein sehr po- Vor drei Wochen kam die überaus erfolgreiche deut- sitives Beispiel, nämlich einen Reiseführer der Bundes- sche Mannschaft von den Paralympics aus Sotschi liga-Stiftung: Barrierefrei ins Stadion. Auch hier kann zurück. Sie hat mit neun Goldmedaillen, fünf Silber- der Bund einmal schauen, welche sportlichen Aktivitä- medaillen, einer Bronzemedaille und ganz vielen Top- ten und Initiativen es gibt, um diesem Ziel gerecht zu platzierungen den zweiten Platz in der Nationenrangliste werden. erkämpft. Das ist ein sehr tolles Ergebnis. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] und Matthias Schmidt An allererster Stelle steht doch aber, liebe Kollegin- [Berlin] [SPD]) nen und Kollegen, die Barrieren in den Köpfen zu be- Positiv will ich anmerken, dass es längst überfällig seitigen. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn man diese war, die Prämienzahlungen für die Medaillen anzuglei- Debatte verfolgt, muss man feststellen, dass die Barrie- chen. Endlich ist eine paralympische Medaille genauso refreiheit in vielen Bereichen noch nicht gegeben ist. In- viel wert wie eine olympische Medaille. klusion in eine Gesellschaft bedeutet nämlich nicht un- bedingt, alle gleich zu behandeln, sondern, sich an den (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung zu orien- Positiv will ich auch anmerken, dass bei der Bericht- tieren. Das ist unser Anspruch. Deshalb bleiben wir an erstattung über die sportlichen Wettkämpfe die Leistun- diesem Thema dran. gen und die Athletinnen und Athleten im Mittelpunkt Herzlichen Dank. standen und nicht die Leidensgeschichten von Behinder- ten. Aber all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, (Beifall bei der LINKEN) dass wir auch im Bereich des Sports weit von der Inklu- sion entfernt sind. Der Geist der UN-Behindertenrechts- konvention lebt vom selbstbestimmten Mitmachen der Vizepräsidentin Claudia Roth: Menschen mit Behinderung; denn sie wissen am besten, Vielen Dank, Frau Kollegin Kunert. – Nächster Red- was für sie eine hohe Lebensqualität in der Freizeit, ner in der Debatte ist Dr. Matthias Bartke für die SPD. beim Reisen oder beim Sport ausmacht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) 2192 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

(A) Dr. Matthias Bartke (SPD): In meiner Heimatstadt Hamburg ist man für Mitarbei- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ter von Werkstätten für Behinderte im Rahmen eines Kollegen! Dies ist heute meine erste Rede im Deutschen neuen Modellprojekts „Budget für Arbeit“ neue Wege Bundestag. gegangen. Zu diesem Budget gehört unter anderem ein unbefristeter Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber, die in (Beifall) ihren Unternehmen geistig behinderte Mitarbeiter ein- stellen. Das Projekt funktioniert hervorragend. Das Ich freue mich sehr darüber, dass ich sie zur UN-Behin- Schöne ist, dass sich das Betriebsklima in den Unterneh- dertenrechtskonvention halten darf. Es gibt wohl kaum men häufig verbessert hat: Unternehmen, die zuvor aus- einen Sozialpolitiker, dem Behindertenpolitik nicht ein schließlich auf Effizienz ausgelegt waren, bekommen Herzensanliegen ist. Denn der Umgang einer Gesell- durch die geistig behinderten Mitarbeiter plötzlich eine schaft mit ihren Menschen mit Behinderung ist immer menschliche Komponente; ein Gradmesser für ihre Qualität. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Seit Einführung des SGB IX vor fast 14 Jahren und der CDU/CSU) vor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich in unserem Land viel zum Besseren gewandelt. sie stellen eine Bereicherung für die Betriebe dar. Das ist Aber die Lage ist noch lange nicht so, dass man sagen gelebte Inklusion. Es freut mich sehr, dass das Modell- könnte, sie ist gut. Mit der UN-Behindertenrechtskon- projekt „Budget für Arbeit“ Eingang in den Koalitions- vention wurde die Inklusion zum neuen Leitgedanken vertrag gefunden hat. Es ist sinnvoll, über dauerhafte der Behindertenpolitik. Sie beinhaltet eine Abkehr von Lohnkostenzuschüsse nicht nur für Arbeitnehmer mit der alten Zweiklassentheorie „Behindert“ versus „Nicht geistiger Behinderung, sondern auch für Langzeitar- behindert“. Inklusion heißt, dass alle Menschen gleich- beitslose mit körperlichen Behinderungen nachzuden- berechtigte Teile eines gemeinsamen Ganzen sind: ken. Damit erhalten vor allem junge behinderte Arbeits- lose eine neue Perspektive. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auf ein GRÜNEN]) Problem zu sprechen kommen, das mir besonders am Herzen liegt. Die UN-Konvention fordert völlig eindeu- Nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen an- tig, dass Arbeitnehmer nicht wegen ihrer Behinderung gepasst werden, sondern der Sozialraum so gestaltet diskriminiert werden oder weniger Lohn bekommen dür- sein, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Zugang fen und dass auch sie das Recht auf einen angemessenen offen ist. Dies, meine Damen und Herren, ist ein grund- Lebensstandard haben. (B) legender Paradigmenwechsel, den die Konvention be- (D) wirkt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bei schwerstbehinderten Arbeitnehmern mit persönli- der CDU/CSU und der Abg. Corinna Rüffer chem Assistenzbedarf wird hingegen täglich auf das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Krasseste verstoßen. Bei ihnen werden alle Ersparnisse über 2 600 Euro gegengerechnet und müssen an den Nur ist eines auch klar: Eine inklusive Behinderten- Staat abgeführt werden. Das gilt auch für die Ehepartner. politik gibt es nicht zum Nulltarif. Die Schaffung eines Ich finde, diese Regelung ist ein Skandal. barrierefreien Sozialraumes ist teuer, manchmal sogar sehr teuer. Die Unterzeichnung der UN-Konvention ist (Beifall im ganzen Hause) auch ein Bekenntnis zu diesen Kosten. Schwarz-Rot be- kennt sich mit dem Koalitionsvertrag dazu, die Kommu- Vor zwei Wochen haben wir im Ausschuss für Arbeit nen nicht mit den Kosten für die Behindertenpolitik al- und Soziales in einem formellen Akt eine Petition mit leinzulassen. Sie werden bei der Eingliederungshilfe um über 126 000 Unterschriften gegen diese Regelung er- 1 Milliarde Euro jährlich entlastet. Mit Verabschiedung halten. In ihr ist prägnant formuliert: des Bundesteilhabegesetzes kommt eine jährliche Ent- Anlegen einer Altersvorsorge? Unmöglich. lastung um weitere 5 Milliarden Euro hinzu, Rücklagen für … Notfälle bilden? Nicht erlaubt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Geld für einen Autokauf ansparen? Fehlanzeige … und zwar, Herr Kurth, im Jahr 2016. Dies sind wahrlich Die große Liebe heiraten? Besser nicht. keine Peanuts. (Zurufe von der SPD: Oh!) Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Stär- Diese Verrechnungspraxis entspricht vielleicht den kung des inklusiven Arbeitsmarktes vereinbart. Das ist Buchstaben des SGB XII; den Normen und vor allem auch dringend notwendig, denn die Arbeitslosenquote dem Geist der UN-Konvention widerspricht sie auf das bei Menschen mit Behinderung ist mehr als doppelt so Eklatanteste. Hier tut eine Abhilfe dringend not. hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Besonders alarmierend ist dabei der hohe Anteil von jungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Schwerbehinderten. Hier besteht dringender Handlungs- bei Abgeordneten der LINKEN und des bedarf. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2193

Dr. Matthias Bartke (A) Im Bereich der Behindertenpolitik sind wir schon ei- zu einer inklusiven Gesellschaft gelingt. Es geht nun da- (C) nen weiten Weg gegangen, aber es liegt auch noch ein rum, dass nicht Politiker über Behinderte schreiben, son- weiter Weg vor uns. Zum Abschluss möchte ich daher dern in dem Aktionsplan muss sich das wiederfinden, Erich Kästner zitieren, der einmal wunderbar passend was Menschen mit Behinderung selber eingebracht ha- gesagt hat: ben. Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den, kannst du etwas bauen. Eine Anpassung der Gesetzgebung im Zuge der Re- Ich danke Ihnen. form der Eingliederungshilfe hin zu einem neuen Bun- desteilhabegesetz ist der entscheidende Schritt. Die Op- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem position kann sich jetzt natürlich hinstellen und fragen: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Warum gibt es das nicht schon längst? Legt endlich ei- geordneten der LINKEN) nen Entwurf vor! – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um Ihr Kurzzeitgedächtnis etwas aufzufrischen: Seit Vizepräsidentin Claudia Roth: Jahren reden wir in Deutschland über die Reform der Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert Eingliederungshilfe. Wir haben einen mühsamen, aber Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. Ich wünsche interessanten Prozess angestoßen. In einer Bund-Länder- Ihnen viel Erfolg, nicht nur im Kampf für die große Arbeitsgruppe haben sich Bund und Bundesländer zu- Liebe. sammen hingesetzt und aufgeschrieben, wie eine solche (Heiterkeit und Beifall – Dr. Matthias Bartke Reform inhaltlich aussehen soll. Jetzt ist es in der Tat an [SPD]: Die habe ich schon!) der Zeit, die Reform der Eingliederungshilfe anzu- packen. Das haben wir uns als Große Koalition vorge- Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter nommen. Weiß von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) In der Debatte gerieten ein paar Dinge durcheinander. Gestern ist mehr über die Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro gesprochen worden als über Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): den Inhalt der Eingliederungshilfe selbst. Ich will klipp Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und klar sagen: Ja, der Bund, wir als Große Koalition, Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat ei- stehen zu unserer Zusage, im Rahmen der Reform die nen Prozess ausgelöst, im Zuge dessen auch unser eige- (B) kommunale Seite um insgesamt 5 Milliarden Euro zu (D) nes Denken eine Veränderung erfährt. entlasten und uns an den Kosten der Eingliederungshilfe Zum Schluss dieser erfreulichen Debatte kann man zu beteiligen. Aber bevor es zu einer Entlastung kommt, feststellen: Die Idee einer inklusiven Gesellschaft ist müssen die Inhalte stimmen. Das ist das Wesentliche: mittlerweile bei uns angekommen. Sich daran zu gewöh- Wir wollen eine inhaltliche Reform der Eingliederungs- nen, war – wenn man sich die Tradition und die bisher hilfe. Das ist unser Ziel. geleistete Arbeit in der Behindertenpolitik in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie land vor Augen führt – eine echte Revolution, aber sie ist der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE gelungen. Unser Bekenntnis ist klar: Ja, wir wollen eine GRÜNEN]) inklusive Gesellschaft. Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft sprechen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie dann sprechen wir natürlich über unterschiedliche Arten der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE von Behinderungen. Ich möchte darauf aufmerksam ma- GRÜNEN]) chen, dass der Personenkreis der Menschen mit psychi- Das bedeutet vor allen Dingen, die Kompetenzen und schen Behinderungen oft vergessen wird. Unter den rund auch den Sachverstand der Menschen mit Behinderun- 7,3 Millionen schwerbehinderten Menschen, die in der gen ernst zu nehmen. Was heißt das? Lassen Sie mich Bundesstatistik verzeichnet sind – ich sage das aus- ein Beispiel nennen: Im Inklusionsbeirat der Bundesre- drücklich einschränkend –, befindet sich – amtlich fest- gierung sitzen nicht nur Menschen, die Sachverstand ha- gestellt – 1 Million Menschen mit seelischen Behinde- ben und über Behinderte reden, sondern dort sitzen Men- rungen. Wir wissen, dass langfristig psychisch kranke schen mit Behinderung, um ihre eigenen Interessen und Menschen von sich aus vielfach keine Anerkennung als Bedürfnisse zu artikulieren. Schwerbehinderte beantragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Aktuell leben in Deutschland 1,4 Millionen Men- der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE schen mit der ärztlich gestellten Diagnose Demenz unter GRÜNEN]) uns. Aber nur etwa ein Drittel dieser Personen beantragt von sich aus, dass amtlich eine Schwerbehinderung fest- Das wichtigste Instrument ist der Nationale Aktions- gestellt wird. plan. All die Forderungen und Wünsche, die vorgetragen worden sind, müssen jetzt in den Nationalen Aktions- Ein zweiter Hinweis: Im Zusammenhang mit der plan aufgenommen werden. Wir brauchen einen Arbeits- wachsenden Anzahl der Menschen mit seelischen Behin- plan, mit dem uns Schritt für Schritt die Umsetzung hin derungen muss man die dramatisch steigende Zahl der 2194 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Menschen berücksichtigen, die wegen psychischer Er- ser inklusiven Landkarte gibt es keine weißen Flecken (C) krankungen, wegen psychischer Störungen auf eine Er- mehr. werbstätigkeit verzichten müssen und Erwerbsminde- rungsrente beantragen. Deshalb ist es wichtig, auch an Vielen Dank. die seelisch behinderten Menschen zu denken, wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) man von Menschen mit Behinderungen spricht. Natürlich haben Menschen mit psychischen Störun- Vizepräsidentin Claudia Roth: gen andere Probleme als zum Beispiel Menschen mit ei- Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. Es ist gut, dass Sie ner Gehbehinderung oder einer Sinnesbehinderung. Sie Herrn Hüppe erwähnt haben. – Herr Hüppe, ich glaube, brauchen auch andere Formen von Unterstützung. Ich das ganze Haus dankt Ihnen für das, was Sie in diesem will das kurz an drei Punkten verdeutlichen. Bereich geleistet haben. Erstens: Teilhabe. Die gesellschaftliche Teilhabe ist (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ein zentrales Thema. Um erwerbstätig sein zu können, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- benötigen Menschen mit psychischen Behinderungen geordneten der LINKEN) auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen und Unterstützungsangebote. Seien Sie mal nicht so bescheiden! Wir danken Ihnen nicht nur für die Landkarte. Zweitens: Barrierefreiheit. Bezogen auf einen Roll- Nächste Rednerin: Waltraud Wolff für die SPD. stuhlfahrer können wir Barrierefreiheit sehr leicht defi- nieren. Bezogen auf einen Menschen mit seelischen Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hinderungen fällt uns das sehr schwer. Menschen mit der CDU/CSU) seelischer Behinderung haben oft Schwierigkeiten in so- zialen Beziehungen. Sie reagieren vielleicht besonders Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): sensibel auf bestimmte Stressfaktoren. Sie haben viel- leicht Ängste, die die Alltagsbewältigung, die Teilhabe Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und am Leben in der Gesellschaft erschweren. Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben übereinstimmend festge- Drittens: Selbstbestimmung. Für Menschen mit psy- stellt: Alle Menschen haben den Anspruch und das chischen Erkrankungen ist Selbstbestimmung ein wich- Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesell- tiges und spezifisches Thema, weil sie oft große Schwie- schaftlichen Leben. Das hört sich sehr groß an; darüber rigkeiten haben, eine für sie sinnvolle Entscheidung zu ist ja schon vielfältig diskutiert worden. Vor fünf Jahren (B) treffen. Dann müssen Betreuer oder Gerichte für sie ent- wurde dieses Ziel in der UN-Behindertenrechtskonven- (D) scheiden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das tion festgehalten. Deutschland war das erste Land, das Betreuungsrecht reformiert und die Schwelle für Zwangs- diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat, aber maßnahmen, also für Unterbringung oder Zwangsbe- wir sind natürlich noch nicht am Ende des Weges. Auch handlung, deutlich erhöht. Auch das war ein wichtiger unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Jeder Mensch Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon- soll seine eigene Lebenssituation so weit wie möglich vention. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. selbst gestalten können. Neben dem, was wir rechtlich oder durch finanzielle (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Unterstützung regeln können, ist, wie ich finde, für die Das ist unser Anspruch. Eines kann ich Ihnen sagen, so Idee einer inklusiven Gesellschaft von großer Bedeu- wie ich hier stehe: Bis zum Ende dieser Legislaturpe- tung, dass sich die vielen guten Beispiele, die wir in un- riode werden wir auf diesem Weg ein großes Stück vor- serem Land haben, vervielfältigen. Deshalb fand ich die angekommen sein. Idee des früheren Behindertenbeauftragten der Bundes- regierung, Hubert Hüppe, sehr gut, eine sogenannte in- Die Behindertenrechtskonvention beschreibt die Ein- klusive Landkarte ins Leben zu rufen. schränkungen von Menschen mit Behinderungen als ab- hängig von der Wechselbeziehung zwischen den indivi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- duellen Fähigkeiten eines Menschen und den Barrieren, neten der SPD) auf die er trifft. Aufgrund einer Beeinträchtigung ist man Für all die tollen Beispiele, die wir in unserem Land ha- also nicht per se dafür prädestiniert, dass man nicht un- ben, gilt: Man konnte beantragen, in dieser Landkarte eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben verzeichnet zu werden. Nicht der Behindertenbeauf- kann. Oft ist es doch die Umwelt, die aus einer Beein- tragte hat entschieden, wer aufgenommen wird, sondern trächtigung erst eine Behinderung macht. Menschen mit Behinderung haben den Auswahlprozess (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mitgestaltet und entschieden, wer in die Landkarte auf- der CDU/CSU) genommen wird. Die besten Beispiele wurden ausge- zeichnet. Ich glaube, in den kommenden Jahren wird es Hier gilt es, den Finger in die Wunde zu legen. Bei- entscheidend darauf ankommen, dass wir dafür sorgen, spiel: Wenn Fußgänger die Welt planen würden, könnte dass die vielen guten Beispiele für eine inklusive Gesell- das durchaus eine Welt voller Stufen und Treppen sein. schaft in Deutschland sich möglichst rasch vervielfälti- Natürlich hätte das für einen Rollifahrer gravierende gen, sodass wir in einigen Jahren sagen können: Auf die- Auswirkungen. In dieser Welt ist aber nicht der Rollstuhl Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2195

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) die Barriere, sondern die Barriere sind die Treppen. Da- Barrierefreiheit hat also auch etwas mit Bildungsarbeit, (C) rum müssen diese Treppen weg. mit dem Abbau von Vorurteilen zu tun. Hierbei müssen wir alle mithelfen. (Beifall bei der SPD) Wenn ich von gemeinsamem Lernen und einem ge- Aus solchen und aus vielen anderen Gründen haben meinsamen Arbeitsmarkt rede, heißt das nicht gleichzei- wir im Koalitionsvertrag ein zutiefst sinnvolles und tig, dass es keine Werkstätten für Behinderte und keine menschliches Ziel definiert: Sonderschulen für Kinder mit Förderbedarf geben soll. Diese werden wir auch in der Zukunft brauchen. In die- Menschen mit und ohne Behinderungen sollen zu- sem Punkt müssen Eltern Sicherheit haben. sammen spielen, lernen, leben, arbeiten und wohnen. In allen Bereichen des Lebens sollen Menschen mit (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Behinderungen selbstverständlich dazugehören – Schummer [CDU/CSU]) und zwar von Anfang an. Wir wollen Teilhabe statt Fürsorge. Wir wollen ein (Beifall bei der SPD) gemeinsames Spielen, Lernen, Wohnen und Arbeiten er- möglichen. Wir tun etwas. Lassen Sie uns das auch ge- An circa 20 Stellen im Koalitionsvertrag gibt es dazu meinsam mit der Opposition tun. Aussagen. Als ich diese gefunden habe, war ich etwas erstaunt, aber ich habe mich natürlich sehr darüber ge- Herzlichen Dank. freut. Es gibt größere und kleinere Baustellen, die zu be- arbeiten sind. Diese betreffen im Grunde genommen alle (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Fachgebiete. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir haben festgestellt: Wir wollen die Eingliede- Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist rungshilfe zu einem modernen Teilhabegesetz machen. Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. Wir wollen eine gemeinsame Bildung vorantreiben und einen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mit (Beifall bei der CDU/CSU) Behinderungen offensteht. Wir wollen Barrieren ab- bauen. Wir brauchen einen leichteren Zugang für Men- Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): schen mit Behinderungen zu Transportmitteln. Jeder kennt das: Ein Rollstuhlfahrer muss erst bei der Bahn an- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe rufen, damit er überhaupt in den ICE kann. Wir brauchen Kolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einer Debatte ans Rednerpult tritt, dann ist schon viel gesagt (B) einen besseren Zugang zu Informationen und Kommuni- (D) kationsmöglichkeiten. Wir werden in der Gesundheits- worden. Wir haben heute Morgen schon sehr viele wun- versorgung viel ändern und gerade bei der Vorsorge derbare Beispiele für gelungene Inklusion, für Aktionen mehr tun. im Interesse der Menschen mit Behinderungen und für Leistungen der Menschen mit Behinderungen, zum Bei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten spiel in Sotschi, aber auch lokal, gehört. Ich werde daher der CDU/CSU) nicht noch weitere Beispiele nennen, sondern versuchen, das Ganze aus meiner Sicht zusammenzufassen: Mir ist eines ganz besonders wichtig: Wir wollen das Selbstbestimmungsrecht hilfebedürftiger Erwachsener Wir wollen die Umsetzung der UN-Behinderten- stärken. Willy Brandt hat in den 70er-Jahren von Men- rechtskonvention vorantreiben und den Nationalen Ak- schen mit Behinderungen als Erster von Mitbürgern ge- tionsplan gemeinsam mit den Menschen mit Behinde- sprochen. Warum, frage ich, dürfen Menschen mit Be- rungen weiterentwickeln. Die Konvention ist durch die hinderungen, die unter voller Betreuung stehen, heute Ratifizierung geltendes Recht und eine wichtige Leitli- nicht zur Wahl gehen? Diese Diskriminierung muss ein nie für die Behindertenpolitik in Deutschland. Das Ziel Ende haben. des Übereinkommens ist, die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, ge- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie sellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben bei Abgeordneten der CDU/CSU und des in Deutschland zu fördern, Diskriminierung zu unterbin- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den und den Inklusionsprozess in der Gemeinschaft wei- ter anzustoßen und zu fördern. Es geht um Chancen- Barrierefreiheit verknüpfen wir immer mit einem gleichheit in der Bildung, um berufliche Integration und Rolli. Klar, wir wollen da sehr viel tun. Aber Barriere- um die gesamtstaatliche Aufgabe, Menschen mit Behin- freiheit fängt im Kopf an, und zwar bei uns allen. Als derungen einen selbstbestimmten Platz in einer barriere- Opposition kann man zwar sagen, dass die Regierung freien Gesellschaft zu sichern. nicht genug tut, aber zum Beispiel für einen inklusiven Arbeitsmarkt können wir nur den Rahmen setzen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) brauchen auch Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Dabei steht der Zugang für Menschen mit Behinde- rungen zu Transportmitteln, Informationen, Diensten (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Corinna und Einrichtungen im Vordergrund. Wir nehmen diese Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Aufgabe sehr ernst, auch wenn uns von der Opposition wir müssen den Rahmen auch machen!) manchmal etwas anderes unterstellt wird. 2196 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Gabriele Schmidt (Ühlingen) (A) Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Der Abschlussbericht soll, wie zu vernehmen ist, schon (C) Vertragsstaaten, politische Konzepte zur Durchführung im Mai dieses Jahres vorliegen. auszuarbeiten und umzusetzen. Genau dieser Verpflich- tung ist die Bundesregierung in der Zwischenzeit mit der Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans nachgekom- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer Anpassung men. des Behinderungsbegriffs eingehen. Wie bereits erwähnt, ist die Konvention geltendes Recht. Diese Forderung ist (Beifall bei der CDU/CSU) nach meiner Ansicht überflüssig und in der Sache nicht zielführend. Denn der im SGB IX und im Behinderten- Der Nationale Aktionsplan wurde 2011 beschlossen. gleichstellungsgesetz definierte Behinderungsbegriff Er leistet unserer Überzeugung nach einen wichtigen stellt eben nicht nur auf gesundheitliche Funktionsbeein- Beitrag zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe trächtigungen ab, sondern er nimmt auch die Teilhabe von den rund 7 bis 8 Millionen in Deutschland lebenden von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Menschen mit Behinderung. Dieser Aktionsplan trägt Leben in den Blick und entspricht somit den Anforde- nicht nur die Handschrift der Bundesregierung, sondern, rungen der Konvention. wie wir bereits gehört haben, von Anfang an auch die von Menschen mit Behinderung. Er umfasst über 200 Einzel- (Beifall bei der CDU/CSU) maßnahmen und hat einen Zeithorizont von zehn Jahren. Darüber hinaus sind Länder und Kommunen dazu ange- Im Übrigen wird derzeit vom Arbeitsministerium im halten, eigene Aktionspläne zu erarbeiten. Das passiert Rahmen der bereits angesprochenen Evaluation des Be- in vielgestaltiger Hinsicht; davon haben wir heute schon hindertengleichstellungsgesetzes geprüft, ob der Begriff gehört. angepasst werden muss. Liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der Opposition, lassen Sie uns da bitte nicht um In dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag Begriffe streiten, sondern in der Sache arbeiten. sind die Fortentwicklung und auch die Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten erklärtes Ziel. Von Septem- Vielen Dank. ber 2013 bis Juni dieses Jahres wird der Nationale Ak- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tionsplan im Auftrag des BMAS von der Prognos AG wissenschaftlich evaluiert. Schwerpunkt dabei ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammen- Vizepräsidentin Claudia Roth: hang sollte noch einmal der von allen Fraktionen begrüßte Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nächste Red- Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebensla- nerin in der Debatte: Heike Baehrens für die SPD-Frak- gen von Menschen mit Beeinträchtigungen erwähnt wer- tion. (B) den. Dieser Teilhabebericht ist im Übrigen auch von der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden. Sie sehen also: Wir kommen unseren Verpflichtungen Heike Baehrens (SPD): nach. Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Mit der Schaffung des SGB IX, des Behinderten- Herren! Hätten Sie gedacht, dass vier von fünf Arztpra- gleichstellungsgesetzes, der Gleichstellungsgesetze al- xen in Deutschland nicht barrierefrei sind ler 16 Bundesländer und des am 18. August 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ja, leider!) wurde in den letzten zehn Jahren die Grundlage für mehr und dass in nicht einmal 7 Prozent der Praxen barriere- Selbstbestimmung und Teilhabe geschaffen. Die Ergeb- freie Sanitärräume vorhanden sind? nisse der Evaluation des Nationalen Aktionsplans und die Erkenntnisse des Teilhabeberichts werden in die (Zuruf von der SPD: Traurig!) Weiterentwicklung einfließen. Die Erkenntnisse der Ist Ihnen bewusst, dass Ärzte und Pflegekräfte in unse- Staatenprüfung werden ebenfalls Berücksichtigung fin- ren Krankenhäusern mit der Behandlung von an Demenz den. erkrankten Patienten und von Menschen mit geistiger Im September 2014 soll der von der Bundesregierung Behinderung in der Regel überfordert sind? Menschen eingereichte erste Staatenbericht aus dem Jahr 2011 vom mit erheblichen Behinderungen oder besonders originel- UN-Vertragsausschuss für die Rechte von Menschen mit lem Verhalten haben oft einen komplexen Hilfebedarf. Behinderungen abschließend geprüft werden. Die Eva- Darauf ist unser Gesundheitswesen in der Breite noch luation des Behindertengleichstellungsgesetzes und der nicht eingestellt. Wir müssen heute ehrlich zugeben, drei auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnun- dass die zentrale Intention der UN-Behindertenrechts- gen ist ebenfalls eine Aufgabe, die sich aus dem Nationa- konvention noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft len Aktionsplan ergibt. Dabei sollen möglicher Anpas- angekommen ist. sungsbedarf und Regelungslücken aufgezeigt werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Die Bewertung des Gesetzes hat zum Ziel, verlässliche der Abg. [Havelland] [DIE Erkenntnisse darüber zu erhalten, ob alle Gruppen von LINKE] und Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/ Menschen mit Behinderungen ausreichend berücksich- DIE GRÜNEN]) tigt sind und ob sich die Instrumente dieses Gesetzes in der Praxis bewährt haben. Hier geht es insbesondere um Recht allgemein und dennoch bestimmt formuliert leichte Sprache, Zielvereinbarungen und Verbandsklage. Art. 25 der Konvention: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2197

Heike Baehrens (A) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Men- sind dann zu überwinden, wenn es um die Frage geht: (C) schen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchst- Wer trägt die Kosten? Wer ist zuständig? Wo stelle ich maß an Gesundheit ohne Diskriminierung … den Antrag? Dies bleibt auch nach fünf Jahren immer noch eine große Aufgabe und Herausforderung. Dieser Sehr viel konkreter wird dann Art. 26, der besagt: Aufgabe sollten wir uns stellen bei den anstehenden Ge- Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt setzgebungsvorhaben, die wir uns vorgenommen haben. werden, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ein Höchstmaß an Unabhängigkeit … und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) … Zu diesem Zweck organisieren, stärken und er- weitern die Vertragsstaaten umfassende Habilita- Vizepräsidentin Claudia Roth: tions- und Rehabilitationsdienste und -programme, Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: Uwe insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit … Lagosky für die CDU/CSU-Fraktion. und der Sozialdienste … (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dies bleibt auch fünf Jahre nach Unterzeichnung der Dr. Martin Rosemann [SPD]) Konvention Aufgabe und Herausforderung in unserem Land. Uwe Lagosky (CDU/CSU): Unüberwindbare Treppen, zu schmale Türen, unge- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- eignete Behandlungstische und -stühle bei Ärzten und in legen! „Nichts über uns ohne uns“ steht bei uns im Krankenhäusern markieren dabei Barrieren, die mit gu- Koalitionsvertrag als einfache Vorgabe für die Umset- tem Willen und mit recht überschaubarem Ressourcen- zung der UN-Behindertenrechtskonvention. Unsere Ge- einsatz in absehbarer Zeit beseitigt werden können. sellschaft können wir und wollen wir nur gemeinsam mit Ärzte und andere Akteure jedenfalls hätten den als den Menschen mit Behinderung inklusiv gestalten. Rechtsanspruch verankerten Sinn der UN-Konvention, vor allem aber auch die Zeichen des demografischen Das zentrale Maßnahmenpaket hierfür ist der Natio- nale Aktionsplan aus dem Jahr 2011. Bei ihm geht es Wandels noch nicht wirklich erkannt, wenn sie diese nicht nur darum, Mittel in mehr Barrierefreiheit zu ste- Missstände nicht zeitnah und konsequent beseitigen cken oder das Behindertengleichstellungsgesetz oder das würden. AGG zu ändern, wie es in den von der Fraktion Die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Linke und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein- gebrachten Anträgen gefordert wird, sondern es geht um (B) An anderen Stellen sind dickere Bretter zu bohren. So viel mehr; denn die Inklusion betrifft alle Lebenslagen (D) erleben behinderte und chronisch kranke Menschen bei und erfordert deshalb notwendigerweise einen Wandel der Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln fast täglich im Denken der Menschen insgesamt. Dieser gesell- die Diskrepanz zwischen ihrem gesetzlichen Anspruch schaftliche Entwicklungsprozess wird durch unsere Vor- und der vom Kostendämpfungsbestreben beherrschten gaben im Koalitionsvertrag sowie durch das Maßnah- Wirklichkeit: wenn die Zeit für den Aufbau von Ver- menpaket im Nationalen Aktionsplan mehr als gut trauen und Verstehen fehlt, wenn Assistenz nicht zur flankiert. Verfügung steht, wenn das Taschengeld nicht reicht, um rezeptfreie Arzneimittel bezahlen zu können, wenn Als letzter Redner in einer Reihe von vielen ist es mir Kommunikation nicht gelingt, weil man einfach nicht jetzt wichtig, einmal auf den Arbeitsmarkt zu schauen die gleiche Sprache spricht. Die volle Zugänglichkeit zu und ihn unter dem Blick der Inklusion zu betrachten. Gesundheitsleistungen wird nur dann realisiert, wenn die Wer arbeitet und sich auf diese Weise einbringt, erfährt das Gefühl, gebraucht zu werden. Außerdem haben so- noch immer in erheblichem Maße vorhandenen Kommu- wohl die berufliche Kommunikation als auch die sozia- nikationsbarrieren konsequent abgebaut werden. len Kontakte im Betrieb eine besondere Bedeutung für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ein erfülltes Leben. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die 3 Millio- GRÜNEN) nen behinderten Menschen hinweisen, die im arbeitsfä- Müssten nicht alle Beschäftigten im medizinischen higen Alter sind. Diese Zahl steigt nach Angaben der Bereich eine für Laien verständliche Sprache nutzen, um Bundesagentur für Arbeit in den nächsten Jahren noch. so überhaupt erst eine gute Kommunikation auf Augen- Von ihnen waren im März 2014 ungefähr 183 000 ar- höhe zu ermöglichen? Beipackzettel oder Therapiean- beitslos. Es hat nach Verlust der Arbeit im Durchschnitt weisungen in einfacher Sprache zu formulieren, wäre 77 Wochen gebraucht, bis ein Behinderter wieder in den nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein legitimer Arbeitsprozess eingegliedert werden konnte. Bei ande- Anspruch; es wäre ein Gewinn für alle und ein wichtiger ren Arbeitslosen beträgt diese Zeit 64 Wochen. Für ar- Beitrag zu einer bürgernahen Gesundheitsversorgung. beitslose Schwerbehinderte ist es also deutlich schwieri- ger, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Kümmern wir uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie also darum, auch dieses Potenzial zu heben! Arbeiten bei Abgeordneten der LINKEN) wir daran, dass die Schwerbehinderten vermehrt in Be- schäftigung kommen! Noch ein letzter Aspekt. Es gibt viele gute Angebote und fantastische Hilfsmittel, aber die größten Hürden (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 2198 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Uwe Lagosky (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicherlich gibt es meinsam auf den Weg bringen! Dafür möchte ich wer- (C) zahlreiche Arbeitgeber, die immer noch unsicher sind, ben. was die Einstellung von behinderten Menschen angeht: Fallen teure Anschaffungen an? Sind Umbauarbeiten er- Herzlichen Dank. forderlich? Antworten auf diese Fragen liefern in unserer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gesellschaft die Arbeitgeberservices und der Technische Beratungsdienst der Bundesagentur für Arbeit. Sie kön- Vizepräsidentin Claudia Roth: nen auch bei der finanziellen Förderung entsprechender Maßnahmen helfen oder Kontakte zum passenden Kos- Vielen Dank, Herr Kollege Lagosky. – Sie sind noch tenträger herstellen. In ihrem Geschäftsbericht weist die nicht der letzte Redner in dieser Debatte. BA übrigens 2,43 Milliarden Euro für die Förderung von Das letzte Wort hat vielmehr Dr. Martin Rosemann Menschen mit Behinderung aus. Dieses hohe Niveau für die SPD. wird auch im aktuellen Haushaltsplan gehalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun müssen die Arbeitgeber solche Fördermaßnah- der CDU/CSU) men natürlich auch kennen. Als eines der vielen positi- ven Beispiele möchte ich hier einmal VW nennen. Ich Dr. Martin Rosemann (SPD): habe mich vorgestern mit einem Freund unterhalten, der Frau Präsidentin! Es ist schön, hier auch einmal das in der Schwerbehindertenvertretung von VW Salzgitter letzte Wort zu haben. mitwirkt. Er bestätigte mir das, was ich in meiner be- triebsrätlichen Arbeit bei BS|ENERGY bis zum letzten (Heiterkeit) Jahr kennengelernt habe: Es werden alle Möglichkeiten ergriffen, damit Beschäftigte mit einer Behinderung im Vizepräsidentin Claudia Roth: Arbeitsleben bleiben können. Die Schwerbehinderten- vertreter organisieren gemeinsam mit dem Betrieb Hilfe- Das allerletzte Wort haben Sie nicht; das habe ich. stellungen an den Arbeitsplätzen. Sie führen Begehun- Aber Sie haben fast das letzte Wort. gen durch. Sie bieten Beratungsdienstleistungen an und führen den Dialog mit den Integrationsämtern, und die Dr. Martin Rosemann (SPD): wiederum gestalten die Arbeitsplätze entsprechend mit. Das allerletzte Wort haben Sie; das habe ich mir schon gedacht. – Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Auch die Ausbildung von Menschen mit Behinderung Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einer persönli- erfolgt samt aller erdenklichen Hilfestellungen. Ent- chen Bemerkung beginnen. Ich selber habe seit meiner (B) scheidend ist, dass die gesundheitlichen Grundvoraus- Geburt eine Körperbehinderung: Mein rechtes Bein ist (D) setzungen erfüllt sind und die notwendigen Qualifikatio- 16 Zentimeter kürzer als das linke; an der rechten Hand nen gegeben sind. Wir müssen mit solchen guten habe ich nur drei Finger. Meine Erfahrung vor allem als Beispielen werben, damit unsere gesamte Gesellschaft Kind und Jugendlicher war immer: Ich wollte einfach davon lernt. genauso mitmachen wie die anderen auch, vor allem beim Fußball. Allen Menschen mit Behinderungen wel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cher Art auch immer, die ich im Laufe meines Lebens neten der SPD) kennengelernt habe, ging es genauso. Sie wollten keine Gemäß dem Koalitionsvertrag werden wir die Arbeit Sonderbehandlung, schon gar kein Mitleid, der Schwerbehindertenvertretungen in Zukunft unter- (Beifall im ganzen Hause) stützen. Unter anderem geschieht das zurzeit schon durch die Initiative Inklusion. Diese von der Bundesre- sondern sie wollten einfach mitmachen und dabei sein gierung mit den Ländern, Kammern, Integrationsämtern, wie die anderen auch. In diesem Geist ist ja auch die Hauptfürsorgestellen und der BA entwickelte Initiative UN-Behindertenrechtskonvention verfasst. Deswegen soll vor allem jugendlichen Menschen mit Behinderung ist heute einfach ein guter Tag, zu sagen: Herzlichen den Eintritt in das reguläre Arbeitsgeschäft erleichtern. Glückwunsch zu fünf Jahren UN-Behindertenrechtskon- Bis 2016 werden in diesem Programm 100 Millionen vention! Euro ausgegeben, die aus dem Ausgleichsfonds kom- men; davon haben wir heute hier ja schon mehrfach ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie hört. In eine ähnliche Richtung geht eines der jüngsten bei Abgeordneten der LINKEN und des Projekte: die Inklusionsinitiative für Ausbildung und Be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schäftigung. Auch diese unterstützt die Bundesregierung Bei Geburtstagen sollte man vielleicht auch etwas mit 50 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds. über die Väter und Mütter sagen. Deswegen will ich, nachdem vorhin Herrn Hüppe zu Recht für seine Arbeit Fassen wir zusammen: Der 2011 eingeführte Natio- gedankt und er für sie gelobt worden ist, auch derjenigen nale Aktionsplan setzt bis 2020 die UN-Behinderten- für ihre Arbeit danken, die damals, als die UN-Behinder- rechtskonvention in Deutschland um. Die meisten Maß- tenrechtskonvention von Deutschland unterschrieben nahmen wurden bis Ende der 17. Wahlperiode wurde, die Beauftragte der Bundesregierung war, näm- angeschoben, einige sogar abgeschlossen. Die heutige lich Karin Evers-Meyer. Debatte allerdings zeigt, dass wir hier noch viel zu tun haben. Lassen Sie uns das Bundesteilhabegesetz ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2199

Dr. Martin Rosemann (A) Man muss immer noch ein bisschen weiter zurückgehen; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) alles hat ja Ursachen. So will ich auch den Vater des der CDU/CSU) SGB IX, Karl Hermann Haack, nicht verschweigen. Auch ihm möchte ich für seine Arbeit damals unter Rot- dass es im Jahr 2017 in Kraft tritt und dass die Entlas- Grün danken. tungswirkungen für die Kommunen bereits im Jahr 2017 beginnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich wissen wir alle: Bei der Umsetzung der Ebenso zentral ist für uns, dass bereits der Prozess der UN-Konvention gibt es Licht und Schatten. Deshalb ist Entwicklung dieses Bundesteilhabegesetzes inklusiv es aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, dass sich sein muss. Das bedeutet: von Beginn an Beteiligung der die Große Koalition eine umfassendere Reform der Ein- gliederungshilfe im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes Behindertenverbände, und nicht nur der großen Ver- bände, sondern auch Beteiligung von Selbsthilfegrup- vorgenommen hat. Das ist eines der wichtigsten und pen, von Angehörigenvertretungen und von den Men- größten Projekte in dieser Legislaturperiode. Technisch geht es nur darum, das Bundesteilhabegesetz im SGB IX schen mit Behinderungen selbst. Es darf keine Änderung als eigenständigen Leistungsbereich zu verankern. Es über die Köpfe der Betroffenen hinweg geben. Hier geht also um nichts weiter als die Umsetzung der UN- fängt die Inklusion an, meine Damen und Herren! Behindertenrechtskonvention in ein bundesdeutsches (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Teilhaberecht. In Wirklichkeit geht es dabei aber um der CDU/CSU) nicht weniger als eine völlig neue Ausrichtung der Poli- tik für behinderte Menschen, nämlich von der Fürsorge Letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich meine, dass wir zur Teilhabe. mit Andrea Nahles und Verena Bentele die beiden richti- gen Frauen an der Spitze dieses Prozesses haben. Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weiß, beiden ist dies ein Herzensanliegen, ebenso uns als der CDU/CSU) SPD-Bundestagsfraktion. Wir freuen uns darauf. Das verlangt von vielen ein völliges Umdenken, ein Herzlichen Dank. neues Denken nach dem Motto: Behindert ist man nicht, behindert wird man. – Besonders wichtig ist mir wie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) auch vielen, die vor mir gesprochen haben, die Teilhabe von behinderten Menschen am ersten Arbeitsmarkt. Da- Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) für braucht es mehr Durchlässigkeit. Das bedeutet für Danke, Herr Kollege. – Damit schließe ich die De- (D) mich aber auch, auf all diejenigen Regelungen kritisch batte. zu schauen, die bisher eine Beschäftigung am ersten Ar- beitsmarkt gegenüber einer Beschäftigung in einer Ich bedanke mich bei allen; denn es wurde, wie ich Werkstatt für behinderte Menschen diskriminieren. glaube, heute sehr deutlich: Dies ist nicht nur das Anlie- gen der SPD-Fraktion. Ich hoffe, dass die Gäste auf den Ich habe in meinem Wahlkreis ein Projekt, bei dem Tribünen gemerkt haben, dass dieses Parlament auch der sich Leute darum bemühen, Beschäftigungsverhältnisse Ort für leidenschaftliche Debatten sein kann und ist, De- am ersten Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen batten, in denen man zeigt, dass man das Gemeinsame in zu schaffen. den Vordergrund stellen will und nicht das Trennende. Nicht nur heute Morgen bei der Debatte zum Völker- (René Röspel [SPD]: Sauschwer!) mord in Ruanda, sondern auch jetzt konnte man merken, Das ist in der Praxis mit großem Aufwand verbunden: Es dass hier auch Herzenswärme und Intelligenz zu Hause geht darum, geeignete Stellen zu finden; es geht darum, ist. Vielen Dank für diese intensive Diskussion! Stellen entsprechend auszugestalten; es geht darum, die (Beifall) Menschen in dieser Beschäftigung auch immer weiter zu begleiten. Dafür stehen bisher noch nicht ausreichend Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Instrumente zur Verfügung. Drucksache 18/977 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Meine Damen und Herren, beim Bundesteilhabege- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung setz muss aus meiner Sicht gelten: Gründlichkeit geht so beschlossen. vor Schnelligkeit. (Unruhe) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Ich darf kurz noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit Das BMAS geht dieses Projekt rechtzeitig an, damit es bitten. mit der notwendigen Gründlichkeit vorangetrieben wer- den kann, und die SPD-Bundestagsfraktion begleitet die- Die Vorlage auf Drucksache 18/972 soll ebenfalls an sen Prozess auch mit einer eigenen Arbeitsgruppe und die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über- bringt, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, Vor- wiesen werden. Dabei ist die Federführung aber strittig. schläge ein. Für uns – ich will das für die SPD-Fraktion Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Fe- noch einmal ganz deutlich sagen – ist zentral, dass das derführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bundesteilhabegesetz im Jahr 2016 verabschiedet wird, Bau und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Die Linke 2200 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Ein unfassbares Ausmaß an Grauen hatte aber das (C) Soziales. Deswegen müssen wir jetzt darüber abstim- Verbrechen, das am 21. August 2013 stattfand, als das men. Regime Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hat. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim (Widerspruch bei der LINKEN) Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die- Das war eine Stufe der Barbarei, die wir auf das Aller- sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – schärfste verurteilen. Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung der Linken und Ablehnung durch CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Vizepräsidentin Claudia Roth: Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Fe- Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des derführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Kollegen Jan van Aken? Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Über- weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der hält sich? – Damit ist der Überweisungsvorschlag mit Verteidigung: den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Ja. Grünen bei Ablehnung durch die Linken angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Vizepräsidentin Claudia Roth: Gut. Beratung des Antrags der Bundesregierung Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte Jan van Aken (DIE LINKE): am maritimen Begleitschutz bei der Hydro- Frau von der Leyen, Sie haben gerade gesagt, dass lyse syrischer Chemiewaffen an Bord der das Regime am 21. August 2013 diese Chemiewaffen CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen eingesetzt hat. Die Vereinten Nationen sagen nichts VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der sy- dazu, wer sie eingesetzt hat. Sie sagen ausdrücklich: Es rischen Chemiewaffen kann nicht festgestellt werden, wer sie eingesetzt hat. – Das einzig Konkrete, was sie dazu sagen, ist: Es ist sehr Drucksache 18/984 wahrscheinlich, dass es Chemiewaffen aus den Bestän- Überweisungsvorschlag: den der syrischen Armee waren, es ist aber völlig unklar, (B) Auswärtiger Ausschuss (f) (D) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ob möglicherweise Rebellen diese Waffen eingesetzt ha- Verteidigungsausschuss ben, nachdem sie sie erobert hatten, oder Assad-Truppen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe selbst. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Da Sie gerade eben gesagt haben, es sei das Regime Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO gewesen, frage ich Sie: Können Sie kurz darstellen, auf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für welche Quellen Sie diese Aussage fußen? die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- Auf genau den Quellen, die Sie eben zitiert haben, ministerin Dr. Ursula von der Leyen. nämlich dass es Chemiewaffen aus den Lagern des Regi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mes waren. neten der SPD) (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) Genau das haben Sie eben angeführt. Ich glaube, einen Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung: Grabenkrieg darum zu führen, wer diese Chemiewaffen eingesetzt hat, bringt nichts. Alle Hinweise deuten da- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen rauf, dass es so ist, wie wir das gesagt haben. und Kollegen! Die Bundesregierung wendet sich heute mit der Bitte an Sie, der Entsendung einer Fregatte zur (Zuruf von der LINKEN: Unverantwortlich Absicherung der gemeinsamen Mission der Vereinten für eine Ministerin!) Nationen und der Organisation für das Verbot chemi- Darüber aber, dass das eine Barbarei gegen die Bevölke- scher Waffen zur Vernichtung von syrischen Chemie- rung in Damaskus gewesen ist, besteht in diesem Hohen waffen zuzustimmen. Haus wohl Einigkeit. Uns allen ist der dramatische und tragische Hinter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- grund dieser Mission klar: In Syrien tobt seit drei Jahren ten der SPD – Zurufe von der LINKEN) ein Bürgerkrieg. Wahrscheinlich sind schon über 100 000 Menschen getötet worden. Millionen Menschen Hunderte von Menschen sind durch diese Angriffe sind auf der Flucht. Immer wieder kommt es zu grauen- ums Leben gekommen, Hunderte von Kindern und Frauen. haften Verbrechen. Menschen mit schwersten Verletzungen und Vergiftun- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2201

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) gen sind in Krankenhäuser eingeliefert worden. Es hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) die Grenzen unserer Vorstellungskraft schier überschrit- neten der SPD) ten, als wir gesehen haben, wozu Menschen beim Ein- satz von Chemiewaffen fähig sind. Deshalb sind wir Wenn dies wieder der Fall sein sollte, dann, so hoffe ich, heute alle aufgerufen, diese chemischen Waffen nicht wird auch wieder ein gemeinsames Vorgehen von NATO nur zu ächten, sondern mit aller Kraft dabei zu helfen, und Russland möglich sein. sie auch zu vernichten. Zwei Gedanken möchte ich noch mit Ihnen teilen. Die Krim-Krise bindet zurzeit fast die gesamte Aufmerksam- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keit. Aber der Bürgerkrieg in Syrien tobt immer weiter, neten der SPD) und die Weltgemeinschaft hat noch immer keine Lösung Die Weltgemeinschaft hat diesen Angriff nicht nur für diesen Konflikt gefunden. Bei aller Notwendigkeit verurteilt, sondern sie hat auch gehandelt, und zwar ge- der Konzentration auf die Krim-Krise dürfen wir das schlossen und gemeinsam. Jetzt geht es darum, dass wir Elend der syrischen Bevölkerung nicht vergessen und konkret werden, dass wir alle dazu stehen, was wir ge- unsere Aufmerksamkeit nicht von Syrien abwenden. meinsam beschlossen haben. Für diesen Einsatz ist das Hier muss gemeinsam mit der Weltgemeinschaft eine amerikanische Spezialschiff „Cape Ray“ vorgesehen, Lösung gefunden werden. das in der Lage ist, auf hoher See eine Hydrolyse dieser (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem chemischen Kampfstoffe durchzuführen. Nach der Hy- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) drolyse entsprechen die chemischen Kampfstoffe han- delsüblichen Chemieabfällen gewerblicher Art. Dieses Wir haben jetzt die Chance, unseren Beitrag zu den Verfahren läuft über mehrere Wochen und Monate auf Abrüstungsbemühungen der Weltgemeinschaft zu er- hoher See. Dabei muss die „Cape Ray“ geschützt wer- bringen. Ich hoffe, dass das ganze Hohe Haus – das sage den. Die Gefährdungslage im Mittelmeer ist zwar ge- ich bewusst mit Blick auf die Linke – dieses Mandat un- ring, aber die Symbolkraft dieses Schiffes ist hoch. terstützt; denn ich finde: Wer in seiner Forderung nach Abrüstung glaubwürdig bleiben will, der darf sich dann Uns ist wichtig, dass im Rahmen der Resolution 2118 bei der praktischen Umsetzung dem auch nicht ver- des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht nur die schließen. Beseitigung der Chemiewaffen verbindlich gefordert wird, sondern auch die Unterstützung dieser Mission. Vielen Dank. Deshalb wollen wir nicht nur eine Fregatte entsenden, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sondern wir bieten auch Verbrennungskapazitäten für die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Abfälle, Laborfähigkeiten und finanzielle Unterstützung (B) GRÜNEN) (D) an.

Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang Vizepräsidentin Claudia Roth: ein Wort zu dieser Mission, die eigentlich zusammen mit Vielen Dank, Frau Ministerin. – Das Wort hat Russland durchgeführt werden sollte. Nach diesem Christine Buchholz für die Linke. schrecklichen Verbrechen in Syrien wurde zwischen den USA und Russland eine Rahmenvereinbarung getroffen. (Beifall bei der LINKEN) Auf dieser Basis ist die gemeinsame Resolution des UN- Sicherheitsrates entstanden. Ursprüngliche Idee war es, Christine Buchholz (DIE LINKE): dass der Begleitschutz der „Cape Ray“ als gemeinsame Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Operation der NATO und Russlands durchgeführt wird. geht es um syrische Chemiewaffen. Woher kommt das Angesichts des russischen Vorgehens auf der Krim hat Giftgas eigentlich? Zwischen 1982 und 1993 waren die NATO die militärische Kooperation mit Russland deutsche Firmen an der Lieferung von Material für syri- ausgesetzt. Ich finde, das ist verständlich. sche Giftgasfabriken beteiligt. (Widerspruch bei der LINKEN) (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Weichen Sie Bei dieser gemeinsamen Mission unter dem Dach der doch der Thematik nicht aus!) Vereinten Nationen und der OVCW geht es auch darum, Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen sicherzustellen, dass sich die Stärke des Völkerrechts ge- übermittelte kürzlich 50 Namen der beteiligten deut- gen das brutale Recht des Stärkeren in Syrien durchsetzt. schen Firmen. Doch die Bundesregierung weigert sich, die Namen der Firmen bekannt zu geben. (Zurufe von der LINKEN) (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie hat sie Ursprünglich hat Russland am Zustandekommen dieser dem Generalbundesanwalt gegeben!) Resolution mitgewirkt. Das heißt, es teilt unser Inte- resse, dass auf Basis des Völkerrechts diese syrischen Es geht noch weiter: Deutsche Firmen haben zwi- Chemiewaffen vernichtet werden. Vor diesem Hinter- schen 1998 und 2011 350 Tonnen an chemischen Sub- grund finde ich es wichtig – das ist unser aller Hoff- stanzen, aus denen Giftgas hergestellt werden kann – so- nung –, dass sich Russland darauf besinnt, dass auch in genannte Dual-Use-Substanzen – an das Assad-Regime anderen Regionen der Welt das Völkerrecht voll und geliefert. Die Bundesregierung wiegelt auch in diesem ganz zu respektieren ist. Punkt ab. 2202 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Christine Buchholz (A) Nun geht es endlich um die Zerstörung von Chemie- Die Antwort liegt auf der Hand: für die neue außenpoliti- (C) waffen. sche Strategie der Bundesregierung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie schicken die Bundeswehr in mehr internationale Ein- Die Linke begrüßt, dass die Vernichtung der Reste des sätze und nennen das Bündnistreue. Sie wollen ihre mili- syrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll. tärischen Fähigkeiten ausbauen und testen, und Sie wol- len die Öffentlichkeit daran gewöhnen; denn noch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- immer lehnen drei Viertel der Bevölkerung die Aus- neten der SPD) landseinsätze der Bundeswehr ab. Sie wären durchaus glaubwürdiger, Frau von der Leyen, (Beifall bei der LINKEN – wenn Sie die Exporte von chemiewaffenfähigem Mate- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht rial an Länder, die die Chemiewaffenkonvention nicht diesen! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Frau unterzeichnet haben, unverzüglich stoppen würden. Buchholz!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten – Nun regen Sie sich aber nicht auf! Sie haben gestern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einen weiteren Bundeswehreinsatz, nämlich den in So- malia, beschlossen, In der heutigen Debatte geht es um ein Mandat für den Einsatz eines Kriegsschiffes der Marine. Es soll sich (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ein Ausweich- am Schutz des US-Marineschiffes „Cape Ray“ im Mit- manöver nach dem anderen!) telmeer vor Italien beteiligen. Auf diesem Schiff findet die erste Stufe der Vernichtung des syrischen Giftgases, und Sie wollen nächste Woche nicht nur die Entsendung die sogenannte Hydrolyse, statt. der Fregatte ins Mittelmeer beschließen, sondern auch noch einen neuen Einsatz in der Zentralafrikanischen Ursprünglich hieß es, es handele sich um einen Ein- Republik. Ohne uns! satz im Rahmen des NATO-Russland-Rates. Dann wurde die Kooperation mit Russland seitens der NATO (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens aufgekündigt – wegen der Krim-Krise. Ich glaube nicht, [CDU/CSU]: Beides ohne Sie!) dass das das ganze Verfahren sicherer gemacht hat. Meine Damen und Herren, meine Fraktion diskutiert (Beifall bei der LINKEN) das vorliegende Mandat noch. (Niels Annen [SPD]: Immerhin!) (B) Jetzt haben wir eine Mission, die unter dem Kom- (D) mando der USA steht. Auch der Mandatstext zeigt, dass Mir persönlich ist noch kein Argument bekannt gewor- es sich vor allem um eine US- und NATO-Operation den, das mich bewegen könnte, meine Absicht, mit Nein handelt. zu stimmen, zu ändern. (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE Ich fasse zusammen: Erstens. Es ist gut, dass die Ver- GRÜNEN]: So ein Unsinn!) nichtung der Reste des syrischen Giftgases in Deutsch- land erfolgen soll. Dazu gibt es noch Fragen: Warum beispielsweise wer- den als Operationsgebiet das Mittelmeer und der Nordat- ( [CDU/CSU]: Gut, dass wir Ver- lantik plus angrenzende Seegebiete ausgewiesen? Bisher antwortung übernehmen!) hieß es, die deutsche Fregatte soll die „Cape Ray“ nur auf ihrem kurzen Weg von dem italienischen Hafen Zweitens. Statt die Bundeswehr in den nächsten Ein- Gioia Tauro in internationale Gewässer vor der italieni- satz zu schicken, sollten Sie Ihren Beitrag zur Abrüstung schen Küste begleiten. Meine Damen und Herren, das leisten. Vorgehen der Regierung macht misstrauisch. (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte (Beifall bei der LINKEN) [CDU/CSU]: Gut, dass wir Verantwortung übernehmen!) Hinzu kommt, dass, wie wir wissen, der Hydrolyse- Klären Sie endlich die Beteiligung von deutschen Fir- prozess auf der „Cape Ray“ bereits durch eine US-Spezi- men an der Lieferung von Material und Substanzen für aleinheit an Bord und einen inneren Ring aus US- die syrischen Giftgasfabriken auf! Kriegsschiffen geschützt wird. Darum soll ein Ring aus Kriegsschiffen verschiedener anderer Staaten gelegt (Henning Otte [CDU/CSU]: Das macht der werden, darunter die Fregatte „Augsburg“. Generalbundesanwalt! – Gegenruf der Abg. [DIE LINKE]: Das ist eine poli- Ich meine, es handelt sich beim Einsatz dieser Fre- tische Entscheidung!) gatte – auch militärisch – vor allem um eine symbolische Aktion. Doch die entscheidende Frage ist: ein Symbol Stoppen Sie die Lieferung von solchen Chemikalien an für was? die fünf Länder, die keine Vertragsstaaten der Chemie- waffenkonvention sind! (Henning Otte [CDU/CSU]: Sprechen Sie doch zum Thema!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2203

Christine Buchholz (A) Nur so wird glaubwürdig garantiert, dass Chemiewaffen Diktator setzt die Vernichtung seines eigenen Volkes (C) nicht ihre tödliche Bestimmung finden: weder in Syrien kaltblütig fort. noch irgendwo sonst auf der Welt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine militärische (Beifall bei der LINKEN) Lösung des Syrien-Konflikts kann und darf es nicht ge- ben. Der Versuch, einen Sieg zu erzwingen, würde die Vizepräsidentin Claudia Roth: Spirale der Gewalt noch weiter drehen und noch mehr Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Staats- Menschenleben fordern. Eine solche Politik ist verant- minister Michael Roth. wortungslos und menschenverachtend. Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Assads Regime, die Armee (Beifall bei der SPD) hat ganze Stadtteile ausgehungert und in die Kapitula- tion gezwungen. Assad lässt Wohnviertel bombardieren. Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Alleine aus Aleppo ist wegen dieser grausamen Kriegs- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und führung seit Beginn des Krieges eine halbe Million Men- Kollegen! Es dürfte neben der derzeit keine Kri- schen geflohen. Die Regierung behindert konsequent senregion weltweit geben, die uns derart aufwühlt wie den humanitären Zugang in solche Gegenden des Lan- Syrien, ja, gelegentlich fassungslos macht angesichts des, in denen sie eine oppositionelle Gesinnung vermu- dessen, was Menschen dort zu erleiden haben, was ein tet. Regime, eine Diktatur, Bürgerinnen und Bürgern des ei- genen Landes antut. Wie Sie alle wissen, schreckt das Assad-Regime auch nicht davor zurück, Giftgas gegen die Zivilbevölkerung Sie werden sich vielleicht noch an die letzte Rede von einzusetzen; Frau Bundesministerin von der Leyen hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Syrien hier dies eben geschildert. Über 1 400 Menschen starben am im Deutschen Bundestag erinnern. Wir standen damals 21. August des vergangenen Jahres bei den Giftgasan- kurz vor Beginn der Genfer Friedensverhandlungen. Ich griffen auf die Vororte von Damaskus. Eine Untersu- gebe zu: Wir waren damals nicht sonderlich optimis- chung der Vereinten Nationen, liebe Kolleginnen und tisch, aber wir haben eine Chance für einen politischen Kollegen der Linkspartei, hat ergeben, dass industriell Prozess gesehen, der endlich das furchtbare Leid der gefertigte Kampfstoffe aus einem groß angelegten Che- Menschen in Syrien beenden oder doch zumindest die miewaffenprogramm zum Einsatz gekommen sind. Die brutale Gewalt verringern würde. Diese Chance wollten Bundesregierung ist damals zu der Einschätzung gekom- wir gemeinsam mit unseren Partnern nutzen. men, dass als Täter nur die syrische Armee infrage Wir haben auch bei den Oppositionellen in Syrien kommt. (B) – ob sie nun bewaffnet oder unbewaffnet sind – entschie- (Jan van Aken [DIE LINKE]: Fehleinschät- (D) den dafür geworben, dass sie diese Chance zum Frieden zung!) ergreifen. In Genf haben die Vertreter der Nationalen Koalition dann auch – das muss man sagen – sehr kon- An dieser Einschätzung, die unsere engsten Verbündeten struktiv mitverhandelt. Es war aber wieder einmal das teilen, hat sich nichts geändert. Assad-Regime, das den Prozess missbraucht hat, um Zeit zu gewinnen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jan van Aken [DIE LINKE]: Herr Roth, Sie haben (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist völ- keine Ahnung!) liger Unsinn!) Lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen: – Wenn Sie mir, liebe Vertreter der Linkspartei, schon Derzeit sind innerhalb Syriens fast 6 Millionen Flücht- nicht glauben wollen: Ich zitiere hier den Sondergesand- linge unterwegs. In den Nachbarländern gibt es 2,6 Mil- ten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, lionen Flüchtlinge, die zum Teil unter kaum zumutbaren Lakhdar Brahimi. Der hat dies nämlich sehr deutlich for- Bedingungen leben müssen. Die Auswirkungen dieses muliert. Er als Vertreter der Arabischen Liga und der Bürgerkriegs sind also nicht nur in Syrien selbst auf das Vereinten Nationen – nicht die Bundesregierung und auch Schmerzhafteste zu spüren. Vielmehr ist die gesamte Re- nicht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier – gion in einem mehr als fragilen Zustand. Sie ist schwers- hat zum Ausdruck gebracht, er werde so lange keine ten Belastungen ausgesetzt. Eine weitere Eskalation der dritte Gesprächsrunde einberufen, bis er sicher sein könne, Gewalt in Syrien droht die konfessionellen Spannungen dass die Regierungsseite ernsthaft verhandele. Wir müssen zwischen Sunniten, Schiiten und Christen in der ganzen hier die Verantwortung schon klar und deutlich benen- Region anzuheizen. Hier sitzen viele versierte Außenpo- nen. litikerinnen und Außenpolitiker, die sich seit Jahren mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diesem Thema befassen und die wissen, welche Spreng- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kraft diese Region birgt. Wir müssen alles dafür tun, um die Deeskalation voranzutreiben. Aber es gibt nur sehr Leider deutet derzeit wenig darauf hin, dass Assad wenige Hoffnungszeichen. sich kompromissbereit zeigen wird. Im Gegenteil: Er be- reitet seine Wiederwahl auf Grundlage einer pseudode- Die Stabilität der Nachbarländer, insbesondere des Li- mokratischen Gesetzgebung vor, die praktisch keine Ge- banon und des Irak, würde in erheblichem Maße gefähr- genkandidaten zulässt, und er setzt ganz offenbar darauf, det, wenn wir jetzt nicht endlich zu einer Stabilisierung eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. Der Syriens kommen. 2204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Staatsminister Michael Roth (A) (Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie das doch verloren hat. In der Türkei sind derzeit – darauf habe ich (C) den Türken!) bereits hingewiesen – über 800 000 Flüchtlinge aus Sy- rien untergebracht. Trotz dieser dramatischen Lage hat Auch in der Türkei sind rund 850 000 Flüchtlinge unter- sich das NATO-Mitglied Türkei verantwortungsbewusst gekommen. und besonnen verhalten. Der Bundestag kann sich darauf (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Mehr als verlassen, dass wir weiterhin in allen unseren Gesprä- in Deutschland!) chen mit den türkischen Verantwortlichen darauf hinwei- sen, dass wir vom NATO-Mitglied Türkei, sollte denn Ich werde mich persönlich in Bälde über die Zustände in eine Änderung der bisherigen Strategie vorgesehen sein, den türkischen Flüchtlingslagern informieren. eine zeitnahe Aufnahme von Gesprächen mit den Die Bundesregierung setzt sich weiterhin intensiv für NATO-Bündnispartnern erwarten. Die bisherigen Ge- eine friedliche Beendigung des Konflikts in Syrien ein. spräche haben nicht erkennen lassen, dass die Türkei ge- willt ist, ihr verantwortungsbewusstes und besonnenes Vizepräsidentin : Verhalten aufzugeben. Das müssen wir auch in dieser Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- Hinsicht erst einmal würdigen, liebe Kolleginnen und kung der Kollegin Hänsel? Kollegen. (Beifall des Abg. Niels Annen [SPD] – Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Mein Gott, Bitte. dass man sich so verbiegen kann!) Wir müssen aber auch realistisch sein. Ich möchte Heike Hänsel (DIE LINKE): noch einmal an dem Punkt anknüpfen, den ich vorhin Danke schön. – Herr Staatsminister, Sie haben über zum Ausdruck gebracht habe. Wann der Wiedereinstieg den Konflikt und den grausamen Krieg in Syrien gespro- in Friedensverhandlungen gelingen kann, ist derzeit chen. Aber ich vermisse von Ihnen einen Satz über die überhaupt nicht absehbar. Das heißt aber doch nicht, massive Unterstützung, insbesondere durch Waffenliefe- dass wir zur Untätigkeit verdammt sind – ganz im Ge- rungen, für Rebellen, fundamentalistische Gruppen, genteil. Deshalb setzen wir uns direkt und unmittelbar Dschihadisten und Terroristen vonseiten Saudi-Arabiens für diejenigen ein, die unter den Grausamkeiten des in Zusammenarbeit mit den USA. Es ist doch genauso Kriegs leiden. ein Verbrechen, schweres Gerät an die genannten Grup- pen zu liefern, die diesen Bürgerkrieg anheizen. Dazu Seit Beginn der Krise in Syrien im Jahr 2011 hat die habe ich von Ihnen bisher kein einziges Wort in der Dar- Bundesregierung für die Bewältigung der politischen (B) stellung dieses Krieges gehört. und humanitären Katastrophe fast 500 Millionen Euro (D) bereitgestellt. Unsere Hilfe dient insbesondere den Men- Mich interessiert Ihre Meinung zu dem veröffentlich- schen, die innerhalb Syriens vor den Kampfhandlungen ten YouTube-Video, aus dem hervorgeht, dass Personen fliehen mussten. Sie werden mit Lebensmitteln und Me- im türkischen Außenministerium über einen möglichen dikamenten versorgt. Flüchtlinge, die über die Grenze in fingierten Angriff von syrischer Seite nachgedacht ha- den benachbarten Libanon geflohen sind, erhalten dort ben, und das im Hinblick darauf, dass Bundeswehrsolda- Versorgung und eine Unterkunft. Aber täglich steigt die ten in der Türkei stationiert sind, die jederzeit in einen Zahl derer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. solchen Konflikt hineingezogen werden können. Daher wollen wir dieses humanitäre Engagement inten- Das sind für mich brennende Fragen. Darauf hätte ich siv weiterführen und möglichst ausbauen. von Ihnen gerne eine Antwort. Insofern bitte ich Sie heute bei dieser Gelegenheit, (Beifall bei der LINKEN) liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung. Ohne weitere finanzielle Unterstützung – dazu brauchen Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: wir das Ja des Deutschen Bundestages – werden wir die Sehr verehrte Frau Kollegin, was mich eher verstört, humanitären Hilfsleistungen leider nicht ausbauen kön- ist, dass Ihnen kein noch so hanebüchenes Argument nen. Ich wäre sehr daran interessiert, wenn sich wirklich recht ist, um Gründe dafür zu finden, diesen Einsatz zu alle Fraktionen bereit erklären könnten, uns in unserem verhindern bzw. abzulehnen, obwohl er konkret dazu Bemühen, die humanitären Hilfsleistungen auszubauen, beiträgt, Chemiewaffen zu vernichten. Das ist der Auf- zu unterstützen. trag. Darüber diskutieren wir heute im Deutschen Bun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten destag. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir beschränken uns aber auch nicht darauf, die hu- Selbstverständlich haben wir auch gegenüber den manitären Folgen des Bürgerkriegs zu lindern. Wir wol- Verantwortlichen der Türkei deutliche Worte gefunden len auch verhindern, dass es erneut zu Gräueltaten gegen und darauf hingewiesen, dass das bisherige Mandat der die syrische Bevölkerung kommt. Deshalb beteiligt sich NATO ausschließlich auf Selbstverteidigung und Unter- die Bundesregierung an dem Programm zur Vernichtung stützung der Verteidigung der Türkei ausgerichtet ist. Sie der syrischen Chemiewaffen. Wir wollen den abermali- müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei gen Einsatz dieser Waffen verhindern. Aber auch das ist bislang 72 Zivilisten aufgrund von Angriffen Syriens kein einfacher Prozess. Das Assad-Regime hat nach Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2205

Staatsminister Michael Roth (A) Monaten des Verzögerns im März einige Teile seines Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: (C) Giftgases außer Landes transportiert. Die Bundesregie- Herr Kollege Ströbele, lassen Sie mich zunächst da- rung drängt zusammen mit ihren Verbündeten, vor allem rauf hinweisen, dass sich eine Reihe von NATO- und den USA, auf diplomatischem Wege auf einen zügigen Nicht-NATO-Staaten am Begleitschutz für das US- und vollständigen Abtransport der Chemiewaffen; denn Schiff beteiligen: Belgien, Frankreich, Finnland, Grie- Deutschland hat ein hohes Interesse daran, dieses bei- chenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Portugal, spiellose Abrüstungsvorhaben erfolgreich und fristge- die Türkei. Sie wissen genau, dass es dazu derzeit gar recht abzuschließen. Wir haben das notwendige Know- keine Bereitschaft Russlands gibt. Die Russen sind daran how und die notwendigen Kapazitäten, um uns entschie- nicht beteiligt. den und substanziell einzubringen. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das In den vergangenen Monaten haben wir bereits Ver- stimmt doch gar nicht!) antwortung übernommen. Wir haben umfangreiche lo- Darüber hinaus wurde aus dem NATO-Russland- gistische und finanzielle Unterstützung für die Organisa- Engagement – der NATO-Russland-Rat ist jetzt suspen- tion für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW, diert worden; das wissen Sie ganz genau, Sie kennen geleistet. Wir haben darüber hinaus angeboten, Abbau- auch die Gründe – ein multinationaler Einsatz gemacht. stoffe aus den zerstörten syrischen Chemiewaffen sicher Alle Staaten, die dazu bereit sind, wurden eingeladen, und umweltverträglich in einer Spezialanlage im nieder- sich an diesem Engagement zu beteiligen. Kollege sächsischen Munster zu entsorgen. Ströbele, wir schließen niemanden aus, aber die Zusam- menarbeit zwischen der NATO und Russland in dem ent- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Resolution 2118 sprechenden Rat ist suspendiert. Sie sollten also keine des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ruft die Vermutungen darüber anstellen, dass wir jemanden aus- Weltgemeinschaft auf, die Vereinten Nationen und die schließen wollen. Wir wollen diesen Einsatz zu einem Organisation für das Verbot chemischer Waffen bei der erfolgreichen Abschluss bringen. Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu unterstüt- zen. Die USA beabsichtigen, die gefährlichsten syri- Ursprünglich war das – ich will das noch einmal er- schen Chemiewaffen auf einem speziell umgerüsteten läutern, Herr Kollege Ströbele – eine gemeinsame Ope- ration der NATO und der Russischen Föderation. Wir US-Schiff zu neutralisieren. Wir wollen einen weiteren hätten eine solche gemeinsame Operation sehr begrüßt. Beitrag leisten. Eine Fregatte der deutschen Marine soll Aber vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen sich an dieser multinationalen Begleitschutzoperation Vorgehens Russlands in der Ukraine – auch Sie haben beteiligen. die aktuellen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen müs- (B) sen – ist ein solcher gemeinsamer Einsatz nun nicht (D) Vizepräsidentin Petra Pau: mehr möglich. Die Tür ist aber prinzipiell offen für alle Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- Teilnehmer weit über den NATO-Rahmen hinaus; ich kung des Kollegen Ströbele? habe Ihnen eben eine Reihe von Staaten genannt, die hier engagiert sind.

Michael Roth (Heringen) (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden mit die- sem Einsatz einmal mehr unsere Verlässlichkeit als Part- Bitte. ner demonstrieren, eine bislang beispiellose Abrüstungs- maßnahme unterstützen, und nicht zuletzt dabei helfen, Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE das syrische Volk vor der Armee des Diktators Assad zu GRÜNEN): schützen. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie deshalb um Ihre Zustimmung zu diesem Mandat. Danke, Herr Kollege Roth, dass Sie mir die Gelegen- heit geben, auf einen Punkt hinzuweisen. – Sie sagen, Vielen Dank. dass die UNO alle Nationen aufgefordert hat, bei der Be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) seitigung dieses Giftgases zu helfen. Wieso schließen Sie plötzlich Russland von der Beteiligung an dieser Ak- tion zur Beseitigung der Chemiewaffen aus? Ich denke, Vizepräsidentin Petra Pau: dies ist ein Erziehungsversuch gegenüber Russland, ein Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gehrcke Versuch am falschen Objekt. Hier passt es überhaupt das Wort. nicht. Wenn es wirklich um eine Aktion geht nach dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ – hier vielleicht Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): „Giftgas zu Frischluft“, wie auch immer man dies be- Herr Staatsminister, ich möchte Ihre Argumente gerne zeichnen will –, dann muss man auch konsequent sein verstehen; denn bei besseren Argumenten würde ich und muss jeden willkommen heißen, der dabei mitwirkt. meine Meinung möglicherweise ändern. Ich verstehe es Man kann nicht den einen oder anderen aus ganz ande- aber einfach nicht: Wenn es nun so war, dass Russland ren politischen Gründen ausschließen. zu der Aktion der Vernichtung der Chemiewaffen – das ist, wie Sie zu Recht sagen, eine Abrüstungsaktion – ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie bracht worden ist, vielleicht sogar unter dem Druck der der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ Weltgemeinschaft oder aus eigenen Motiven, warum ist DIE GRÜNEN]) Russland dann vor Vollendung dieser Aktion über die 2206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Wolfgang Gehrcke (A) Suspendierung des NATO-Russland-Rats rausgeschmis- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Da sind wir (C) sen worden? Wenn Sie der Auffassung sind, dass Völ- jetzt gespannt!) kerrechtsfragen thematisiert werden müssen, dann müss- ten Sie auch darauf bestehen, dass Russland so weit wie Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- möglich in diese Aktion einbezogen wird. Deswegen kann ich Ihre Position nicht nachvollziehen. Ich würde NEN): dies aber gerne tun. Straft man Russland damit, wenn Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am man es daran hindert, in vollem Umfang an der Aktion, 21. August letzten Jahres verloren weit über 1 000 Men- die Sie über den NATO-Russland-Rat zugesagt haben, schen auf qualvolle Art und Weise ihr Leben. Viele von mitzuwirken, und dieses Übereinkommen aufkündet? Ist ihnen erstickten elendig. Unzählige Syrerinnen und Sy- das wirklich eine angemessene und sinnvolle Strafe? rer, die den grausamen Giftgasanschlag in der Nähe von Damaskus überlebt haben, sind heute blind, von den Ver- Vizepräsidentin Petra Pau: brennungen entstellt oder krebskrank. Kollege Roth, Sie haben, wenn Sie das wünschen, die Der 21. August 2013 war der dunkelste Tag im anhal- Möglichkeit, zu erwidern. tenden Grauen des syrischen Bürgerkriegs. Dieses Ver- (Zuruf von der LINKEN: Besser nicht!) brechen gegen die Menschlichkeit hat die Welt zutiefst erschüttert. Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: (Michael Roth, Staatsminister: Nicht die Vielen Dank. – Zu Beginn bitte ich Sie darum, auch Linke!) sprachlich abzurüsten. Die internationale Gemeinschaft hat diesen Anschlag Die Kurzintervention des Kollegen Gehrcke gibt mir mit der UN-Resolution 2118 im September 2013 aufs Gelegenheit, auf folgenden Punkt hinzuweisen: Ange- Schärfste verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat beschloss sichts der derzeitigen Aktivitäten Russlands von einer einstimmig, dass das gesamte syrische Chemiewaffen- Abstrafaktion zu sprechen, das entbehrt wirklich jeder arsenal herausgegeben und vernichtet werden muss. Die Grundlage und macht – sehen Sie mir diesen flapsigen Zerstörung dieser menschenverachtenden und grausa- Begriff nach – den Bock zum Gärtner. Ich finde es un- men Waffen ist ein wichtiger und richtiger Schritt. kollegial und merkwürdig, dass Sie hier mit einer so ein- seitigen Argumentation eines versuchen: Ihnen ist kein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Argument zu schade und zu schlecht, um die fraktions- und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- übergreifende Einmütigkeit, dass es sich hierbei um ei- ten der SPD) (B) nen substanziellen Beitrag zur Vernichtung von Chemie- (D) waffen handelt, infrage zu stellen. Wir Grüne begrüßen es ausdrücklich, dass Deutsch- land sich an der Vernichtung beteiligen will und in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Munster 370 Tonnen der zuvor auf hoher See zersetzten Es handelt sich hierbei auch um einen Beitrag, eine und verdünnten Chemikalien umweltgerecht verbrannt Krisenregion, in der es zu schlimmsten Menschenrechts- werden sollen. Wir Grüne haben die Bundesregierung verletzungen kommt, halbwegs zu stabilisieren. Wir be- bereits im Herbst letzten Jahres aufgefordert, sich jen- finden uns hier doch in einer internationalen Staatenge- seits finanzieller Unterstützung an diesen Vernichtungs- meinschaft, die sich sehen lassen kann. aktivitäten zu beteiligen. Ich will noch einen allerletzten Punkt benennen, weil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie ja auf die Verantwortung Russlands hingewiesen ha- ben. Die militärische Absicherung innerhalb der syri- Da haben Sie erst so ein bisschen herumgedruckst. Aber schen Territorialgewässer wurde bisher ausschließlich umso besser, dass Sie sich jetzt dafür entschieden haben; von Russland übernommen. denn wir haben in Deutschland die nötige Fachexpertise und in Munster eine weltweit führende Verbrennungsan- (Niels Annen [SPD]: Eben!) lage, die auf Chemiewaffen spezialisiert ist. Der russische Kreuzer – das wissen Sie sicherlich auch – befindet sich aber derzeit zu Wartungsarbeiten in Zy- Die Bundesregierung legt heute ein Mandat vor, das pern. Weil sich Russland zurückgezogen hat, befürchten die maritime Absicherung des Hydrolysevorgangs auf wir, dass es möglicherweise zu weiteren Verzögerungen dem US-amerikanischen Schiff „Cape Ray“ und den kommt. Reden Sie also hier nicht von einer Strafaktion, Schutz beim Abtransport der chemischen Reststoffe zu Herr Kollege Gehrcke! den Vernichtungsanlagen beinhaltet. Mit der Entsendung einer Fregatte will Deutschland sich an dieser Mission (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – der Vereinten Nationen und der OVCW in einer breiten Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das ist wirklich Koalition mit anderen Staaten beteiligen. Ziel dieser ein Popanz!) Mission ist es, den Auftrag der Vereinten Nationen um- zusetzen und ein für alle Mal die grauenhaften syrischen Vizepräsidentin Petra Pau: Chemiewaffen zu zerstören. Mir fällt kein plausibles Ar- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die gument ein, warum man diesem Vorhaben nicht zustim- Kollegin Brugger das Wort. men kann. Daher unterstützen wir Grüne dieses Mandat. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2207

Agnieszka Brugger (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) der SPD) Meine Damen und Herren, wir sind es den Opfern des Ich frage mich ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kol- barbarischen Giftgasanschlages in Syrien schuldig, dass legen von der Linkspartei, was man gegen einen Einsatz wir alle uns aktiv dafür einsetzen, dass solche Verbre- haben kann, der Schutz bei der Zerstörung von Massen- chen gegen die Menschlichkeit nie wieder verübt werden vernichtungswaffen gewährleistet. können. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass die grausamsten aller Waffen für immer und ewig vernichtet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden und dass deutsche Unternehmen nie wieder mit und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- solchen Programmen Geld verdienen. Diesen Menschen ten der SPD) sind wir es schuldig, dass Massenvernichtungswaffen Die Vernichtung der Chemiewaffen darf nicht darüber – chemische, aber auch biologische und Atomwaffen – hinwegtäuschen: Die Zivilbevölkerung in Syrien leidet niemals wieder gegen unschuldige Zivilistinnen und Zi- immer noch auf das Schlimmste unter dem gnadenlosen vilisten eingesetzt werden. Das bedeutet nicht nur, diese Bürgerkrieg, in dem immer noch Gräueltaten, Morde Waffen zu zerstören, sondern auch, eine Kehrtwende in und Menschenrechtsverletzungen verübt werden. Eines der Rüstungsexportpolitik, eine Verschärfung der Rüs- ist ganz klar: Auch wenn bei der Vernichtung der syri- tungsexportkontrolle und eine entsprechende Stärkung schen Chemiewaffen mit der Regierung zwangsweise der Verträge an dieser Stelle einzuleiten. zusammengearbeitet werden muss, kann das Assad-Re- Vielen Dank. gime durch diese Aktion mitnichten rehabilitiert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, sowie des Abg. Niels Annen [SPD]) trotz der breiten Zustimmung kann ich Ihnen ein paar kritische Worte nicht ersparen. Deutschland muss sich Vizepräsidentin Petra Pau: hier nicht nur aus humanitärer Sicht engagieren, sondern Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die Deutschland trägt auch aufgrund seiner Exportpolitik CDU/CSU-Fraktion. große Verantwortung. Deutsche Unternehmen haben nach Angaben der OVCW eine große Rolle beim Auf- (Beifall bei der CDU/CSU) bau des syrischen Chemiewaffenprogramms gespielt. Von 1982 bis 1993 gab es 50 Lieferungen deutscher Fir- Philipp Mißfelder (CDU/CSU): men: Steuerungsanlagen, Pumpen, Kontrollventile, Gas- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen (B) detektoren, eine Chemiewaschanlage und 2 400 Tonnen und Kollegen! Ich finde es richtig, dass die Bundesregie- (D) einer Schwefelsäure, die zur Produktion des Giftgases rung dieses Mandat einbringt, und ich bin der Meinung, Sarin genutzt werden kann. Das ist erschreckend. dass wir uns am Schutz der „Cape Ray“ beteiligen soll- ten. Damit zeigen und dokumentieren wir, dass es uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wichtig ist, bei der Konfliktlösung – ich betrachte die Die schwarz-rote Bundesregierung weigert sich mit Vernichtung der Chemiewaffen als Teil der Konflikt- Verweis auf das Geschäftsgeheimnis, offenzulegen, wel- lösungsstrategie – nicht nur am Rand zu stehen, sondern che Unternehmen am Aufbau des syrischen Chemiewaf- auch ein aktiver Partner zu sein, einen aktiven Beitrag zu fenprogramms mitverdient haben. Meine Damen und leisten. Ich finde es gut, dass man diesen Weg gefunden Herren, das ist inakzeptabel. An dieser Stelle sind Trans- hat. parenz, Offenheit und lückenlose Aufklärung angesagt. Natürlich ist das grausame, schreckliche Verbrechen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das mit dem Einsatz der Chemiewaffen geschehen ist, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) bis heute nicht restlos aufgeklärt worden, und die westli- che Gemeinschaft ist auch mit Sicherheit nicht so ent- Zudem wurde bekannt, dass deutsche Unternehmen schlossen aufgetreten, wie sich das viele von ihr ge- bis 2011, auch noch bei Beginn des syrischen Bürger- wünscht haben. Aber die Paradoxie unseres Handelns an krieges, Chemikalien an Syrien geliefert haben, die so- dieser Stelle, auch die Ankündigungen seitens der Ame- wohl zivil als auch militärisch nutzbar sind – und das rikaner, was rote Linien angeht, ist vor allem der Kom- trotz zahlreicher Expertenwarnungen und obwohl plexität des Bürgerkrieges in Syrien geschuldet. Deutschland die Chemiewaffenkonvention ratifiziert hat. Auch das ist ungeheuerlich. Wir haben häufig gesagt – auch ich habe es schon ein- mal an diesem Platz gesagt –, dass eine Konfliktlösung Schwarz-Rot hat im Koalitionsvertrag angekündigt, nur ohne Assad möglich ist; das war zu Beginn der beim Export von Dual-Use-Chemikalien etwas verbes- Dreh- und Angelpunkt fast aller Wortmeldungen hier im sern zu wollen. Abgesehen davon, dass Sie dann jetzt Hause. Wir sehen aber, dass sich die militärische Situa- auch so schnell wie möglich an dieser Stelle handeln tion aufgrund der massiven Intervention seitens Irans sollten, fordern wir Grüne Sie auf, die Ausfuhr- und und der Hisbollah verändert hat und sich das Blatt in mi- Endverbleibskontrolle von Dual-Use-Gütern auf natio- litärischer Hinsicht gewendet hat. Insofern haben wir al- naler und europäischer Ebene zu verschärfen und dabei les darangesetzt, eine politische Lösung voranzubringen, nicht weiterhin Wirtschaftsinteressen ständig höher zu und haben, anders als andere, einen militärischen Lö- gewichten als Menschenrechte. sungsansatz ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund 2208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Philipp Mißfelder (A) glaube ich, dass man dieses Mandat nicht als Teil irgend- viele Opfer gekostet hat. Er verdient nach wie vor unsere (C) welcher militärischen Konstrukte missverstehen darf; politische Aufmerksamkeit. denn hier geht es in der Tat darum, Abrüstungsmaßnah- men voranzubringen. Nur aus Sicherheitsüberlegungen Herzlichen Dank. heraus muss der Transport der Chemiewaffen militärisch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- begleitet werden. Um ein entsprechendes Mandat wirbt neten der SPD) die Bundesregierung an dieser Stelle. Ich bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, die Vizepräsidentin Petra Pau: Gespräche über die Zukunft Syriens fortzusetzen; aber Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat nun für die ich glaube auch – das ist vorhin in der Debatte mehrfach Unionsfraktion das Wort. gesagt worden –, dass gerade die öffentliche Fokussie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung auf andere Problemfelder und Konfliktherde der Welt dazu geführt hat, dass Syrien und die entsprechen- den Verhandlungen in den letzten Wochen und Monaten Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): etwas in den Hintergrund getreten sind. Wenn man ver- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- sucht, zu bilanzieren, welche substanziellen Fortschritte gen! Auch wenn es heute um ein Mandat für den Einsatz es gegeben hat, dann kommt man leider zu dem Ergeb- bewaffneter Streitkräfte geht, ist der ganze Vorgang doch nis, dass es in den letzten Wochen und Monaten keine ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass es sich selbst in substanziellen Fortschritte gegeben hat. Die Situation ist scheinbar ausweglosen Situationen immer lohnt, nach eher festgefahren. diplomatischen Lösungen zu suchen. Wenn Sie sich angeschaut haben, mit welcher Kritik (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da hat er der amerikanische Präsident, als er Saudi-Arabien be- recht!) suchte, konfrontiert worden ist – Saudi-Arabien sagt Ich erinnere mich mit Schrecken an den 21. August nach wie vor, man habe großes Interesse daran, dass – das Datum ist mehrfach genannt worden –, an dem der Amerika die Dschihadisten und die Aufständischen, die grausame Konflikt in Syrien durch den Einsatz von Che- sich aus diesem Teil der Opposition rekrutieren, unter- miewaffen eine neue Dimension erreicht hat. Ich erin- stützt –, sehen Sie, wie weit die Position auch unserer nere mich genau an die Tage und Wochen danach, in de- Verbündeten teilweise von unserer abweicht. nen die Welt um eine Antwort gerungen hat und in denen Wir müssen die politische Aufmerksamkeit nach wie man teilweise das Gefühl hatte: Ein Militärschlag ist un- vor darauf richten: Wie kann der Bürgerkrieg gestoppt ausweichlich. (B) werden? Welche Zukunft soll das Land haben? Da ist der (D) Dann kam die diplomatische Wende: 14. September Frontverlauf in keiner Weise klar. Denn sosehr wir auch die Einigung zwischen USA und Russland, am selben Sympathie für die syrischen Oppositionellen in Syrien Tag dann die Ankündigung des Beitritts Syriens zum hegen: Wir können nicht die Augen davor verschließen, Übereinkommen über ein Verbot chemischer Waffen, dass viele Dschihadisten von außen eingesickert sind 27. September die Resolution des UN-Sicherheitsrates. und dass wir auch im Falle eines Friedensschlusses damit Bereits wenige Tage später haben die Vorbereitungen für konfrontiert sein werden, dass Dschihadisten, die viel- die Zerstörung von unglaublichen 1 300 Tonnen Che- leicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, trainiert, miewaffen an 23 Standorten in Syrien begonnen. Das ist ausgebildet und kampferprobt zurück nach Deutschland ein riesengroßer abrüstungspolitischer Erfolg, der – und kommen. Vor diesen Hintergrund sage ich: Die Komple- das ist eigentlich das Bemerkenswerte – mitten in einem xität dieses Problems ist nicht zu überschätzen. Deshalb tobenden Bürgerkrieg zustande gekommen ist. Das ist sollte man sachlich argumentieren; ich fand allerdings, ein deutliches Signal an die Länder, dass die Weltge- dass das bei den Wortbeiträgen der Linkspartei nicht der meinschaft trotz unterschiedlicher Interessen, trotz Mei- Fall war. nungsverschiedenheiten in vielen geostrategischen Wir werben für dieses Mandat. Wir wollen uns wei- Fragen bei einer Frage wie dem Einsatz von Massenver- terhin politisch engagieren, damit Syrien eine friedliche nichtungswaffen zusammensteht und dass sie, organi- Zukunft hat. Ich traue mir keine Prognose darüber zu, in siert in den VN, nicht bereit ist, den Einsatz von Massen- welcher personellen Konstellation das stattfinden wird vernichtungswaffen zu dulden, sondern dagegen und wer die Ansprechpartner sein sollen. Ich habe mit vorgeht. zahlreichen Vertretern der syrischen Opposition Gesprä- Ich bin auch stolz auf unser Land, auf Deutschland, che geführt. Manche waren mir außerordentlich sympa- weil wir zur Zerstörung dieser Waffen einen wirklich thisch; sie setzen sich für eine friedliche, demokratische substanziellen Beitrag leisten. Dazu gehört eine finan- und freie Zukunft ihres Landes ein. Andere hingegen zielle Unterstützung. Dazu gehört – ganz am Anfang – sehe ich eher als zwielichtige Personen, die etwas ganz vor allem die logistische Unterstützung der Inspektoren, anderes im Schilde führen. die Luftunterstützung, die wir damals geleistet haben. Insgesamt ist festzustellen: Sosehr uns die Ereignisse Dazu gehört die Beteiligung deutscher Forschungsinsti- auf der Krim, die deutsch-russische Partnerschaft oder tute an der Analyse der Kampfstoffe. Dazu gehört die auch das Hickhack um die Zukunft des deutsch-russi- Vernichtung von 370 Tonnen Reststoffen in Munster. sche Verhältnisses beschäftigen, sollten wir nicht verges- Und dazu gehört eben auch der Schutz des Spezialschif- sen, dass in Syrien ein Bürgerkrieg tobt, der bisher sehr fes der USA, auf dem auf hoher See die Kampfstoffe un- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2209

Dr. Reinhard Brandl (A) schädlich gemacht werden. Nur dieser Teil, der Begleit- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf (C) schutz dieses Spezialschiffes, braucht ein Mandat des Drucksache 18/984 an die in der Tagesordnung aufge- Deutschen Bundestages. Aber es ist wichtig, deutlich zu führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- machen, dass das nur ein kleiner Teil eines größeren, verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung umfassenden Beitrags ist, den Deutschland in diesem so beschlossen. Prozess der Zerstörung der Waffen leistet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Die Bedrohung des Schiffes ist in den Gewässern Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia zwar niedrig, nichtsdestotrotz muss es geschützt werden. Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Dafür stellen wir von deutscher Seite eine Fregatte und Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter bis zu 300 Soldaten bereit. Abhängig davon, wie schnell und der Fraktion DIE LINKE der Abtransport der Kampfstoffe aus Syrien möglich ist, kann die ganze Operation bereits in wenigen Monaten Deckungslücken der Sozialen Pflegeversiche- beendet sein. rung schließen und die staatlich geförderten Pflegezusatzversicherungen – sogenannter Die spannende Frage in dieser Debatte lautet: Wel- Pflege-Bahr – abschaffen chen Grund versucht die Linke dieses Mal an den Haa- ren herbeizuziehen, um gegen einen solchen Einsatz zu Drucksache 18/591 stimmen? Ich habe Frau Buchholz genau zugehört. Sie Überweisungsvorschlag: haben aus meiner Sicht ein Sachargument vorgetragen. Ausschuss für Gesundheit (f) Sie sagten, Sie seien misstrauisch, weil das Einsatzgebiet Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu groß gewählt sei. Dieses Sachargument kann ich ent- kräften. Frau Buchholz, Sie wissen, dass die Hydrolyse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für etwa 90 Tage dauern wird, abhängig von ruhiger See und die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- entsprechenden Witterungsverhältnissen. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das geht Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- bis in den Nordatlantik!) gin Pia Zimmermann für die Fraktion Die Linke. Deswegen macht es Sinn – wir wissen ja nicht, wie im (Beifall bei der LINKEN) Mai oder Juni das Wetter sein wird –, dass das Schiff Ich bitte Sie, Frau Zimmermann, so lange zu warten, dorthin fährt, wo die See ruhig ist. bis die notwendigen Umgruppierungen auf der rechten Seite des Hauses abgeschlossen sind, sodass wir der De- (B) (Christine Buchholz [DIE LINKE]: In den (D) Nordatlantik!) batte folgen können.

Der Eiertanz, den Sie hier aufführen, ist meines Erach- Pia Zimmermann (DIE LINKE): tens lächerlich. Man sieht an Ihrer Rede, wie blind Ideo- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und logie macht: Selbst wenn es um die Vernichtung von Kollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht, nur leider Massenvernichtungswaffen geht, können Sie nicht zu- sind wir von der Verwirklichung dieses Menschenrechts stimmen. sehr weit entfernt. Stattdessen gibt es eine Pflegemisere, (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das und es besteht akuter politischer Handlungsbedarf, und stimmt doch gar nicht! Da haben Sie nicht zu- zwar nicht nur hinsichtlich eines besorgniserregenden gehört!) Mangels an Pflegekräften, nein, sondern auch mit Blick auf die wachsende soziale Ungerechtigkeit im Pflegesys- Ich hoffe, dass das die Menschen sehen, die Sie gewählt tem. Herr Minister Gröhe – er ist nicht da –, von Ihnen haben, und ich hoffe, dass das auch die Menschen sehen, und dem Pflegebeauftragten, Herrn Laumann, sind na- die Ihnen vielleicht einmal Regierungsverantwortung hezu täglich nur wohlfeile Worte zu hören. Aber wenn es zutrauen wollen. um konkrete Vorschläge geht, zum Beispiel wie bei un- serem heutigen Antrag, eines dieser grundsätzlichen ( [CDU/CSU]: Bloß nicht! Um Probleme anzugehen, verweigern Sie sich. Darum appel- Gottes willen! Gar nicht erst daran denken!) liere ich an Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete: So sind Sie aus meiner Sicht nicht in der Lage, Verant- Gehen Sie mit uns diesen Schritt, schaffen Sie diese un- wortung für unser Land zu übernehmen. sinnige Pflege-Bahr-Zusatzversicherung ab! (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Mit Ihnen (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. schon gar nicht!) Birkwald [DIE LINKE]: Super Idee!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich richte mich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und möchte etwas aus einem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Flugblatt, das man auch auf Ihrer Internetseite findet, zi- neten der SPD) tieren. Ich habe das Flugblatt mitgebracht; so sieht es aus. Zitat: Vizepräsidentin Petra Pau: Die SPD lehnt den „Pflege-Bahr“ ab. Wir wollen Ich schließe die Aussprache. keinen Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege. 2210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Pia Zimmermann (A) (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. (Beifall bei der LINKEN) (C) Birkwald [DIE LINKE]: Da hat die SPD recht!) Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege wäre das Fundament, um gute Pflege für Sehr gut so weit. Weiter: alle umfänglich zu finanzieren. Der „Pflege-Bahr“ ist gleichzeitig nutzlos und un- Als ersten Schritt fordern wir deshalb den Stopp der gerecht, denn er löst die Probleme in der Pflege staatlichen Förderung von privaten Zusatzversicherun- nicht. gen und die Rückabwicklung der vorhandenen Verträge. Auch gut – so weit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Um Ihren Argumenten gleich vorzugreifen: Das ist [DIE LINKE]: Stimmt!) machbar. Es ist tatsächlich nur eine Frage des politischen Willens. Denn immerhin sind durch die fünfjährige Ka- Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie sich selber renzzeit beim Pflege-Bahr noch keine Ansprüche ent- ernst! Enttäuschen Sie die Menschen in diesem Land standen. Auch das Beispiel der Rückabwicklung der pri- nicht erneut, und stimmen Sie unserem Antrag zu! vaten Zahnzusatzversicherungen von 2004 zeigt, dass diese problemlos storniert werden können. (Beifall bei der LINKEN) Sie wissen, dass Sie 2014 noch eine große Aufgabe Hier noch ein paar Argumente dafür, dass der Pflege- vor sich haben. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsge- Bahr abgeschafft gehört. Der Pflege-Bahr privatisiert das setz sind Sie verpflichtet, die Leistungen zu prüfen und Risiko, pflegebedürftig zu werden, und macht den An- der Kostenentwicklung anzupassen. Die Menschen mit spruch auf Pflege noch mehr zu einer Frage des Geld- Pflegebedarf und die Verbände warten darauf. Wir wer- beutels, noch mehr, weil bereits das Teilleistungsprinzip den das nicht aus dem Auge verlieren; das kann ich Ih- der Pflegeversicherung bedeutet, dass sie lediglich eine nen versprechen. Zuschussversicherung ist. Mehr als die Hälfte der Kos- ten müssen pflegebedürftige Menschen und ihre Ange- (Beifall bei der LINKEN) hörigen schon jetzt aus eigener Tasche zahlen. Das lehnt Außerdem fordern wir eine regelgebundene Anpas- die Linke entschieden ab. sung der Versicherungsleistungen an die Lohn- und (Beifall bei der LINKEN) Preisentwicklungen. Es reicht einfach nicht aus, nur kurzfristige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Es (B) Der Pflege-Bahr verspricht, das Risiko der Pflegebe- braucht eine gänzliche Abkehr vom Teilleistungsprinzip, (D) dürftigkeit privat abzusichern. Aber das widerspricht um den Ansprüchen auf gute Pflege für alle gerecht wer- nicht nur dem Solidarprinzip, sondern stimmt noch nicht den zu können. Eine Zustimmung zu unserem Antrag einmal. Er ist vollkommen ungeeignet, die Versorgungs- wäre ein vertrauenerweckendes Zeichen für bessere lücken zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung Pflege und für mehr Pflegegerechtigkeit für alle Men- und den tatsächlichen Pflegekosten zu schließen. Pflege schen in diesem Land. Ich bitte um Ihre Zustimmung, wird immer teurer. Eine Anpassung an diese Entwick- wenn wir demnächst darüber abstimmen. lung ist jedoch beim Pflege-Bahr überhaupt nicht vorge- Herzlichen Dank. sehen. Niemand kann heute sagen, was die vereinbarten Leistungen wert sind, wenn sie gebraucht werden, und (Beifall bei der LINKEN) zwar nicht heute, sondern in der Zukunft, beim Eintritt in die Pflegebedürftigkeit. Vizepräsidentin Petra Pau: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege wie bei Riester!) Erwin Rüddel das Wort. – Genau. – Zudem höhlt der Pflege-Bahr das Solidari- (Beifall bei der CDU/CSU) tätsprinzip weiter aus und verschärft die soziale Spal- tung. Er ist absolut kontraproduktiv, weil er sich nicht an Erwin Rüddel (CDU/CSU): den Interessen der Menschen orientiert, sondern vor al- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen len Dingen Geld in die Versicherungswirtschaft spült. und Herren! Die staatlich geförderte private Zusatzver- (Beifall bei der LINKEN) sicherung gegen das Pflegerisiko erlebt derzeit einen wahren Boom. Wurden im Januar 2013 240 Verträge pro Alle Menschen haben das gleiche Recht auf eine ih- Tag abgeschlossen, waren es im Juni 2013 bereits über ren Bedürfnissen entsprechende Pflege. Deshalb müssen 1 000 Verträge pro Tag. Das zeigt, dass die staatlich ge- wir die Finanzierung auf breitere Schultern verlagern. förderte Zusatzversicherung bei den Menschen an- Wissen Sie eigentlich, dass die Pflegehelferinnen, die kommt. Zurzeit werden täglich 1 600 neue Verträge ab- Verkäuferinnen und die Friseurinnen den Pflege-Bahr geschlossen. Die Versicherungswirtschaft ist davon mitfinanzieren, und zwar über ihre Steuern, ihn sich sel- überzeugt, dass wir in diesem Jahr noch die Millionen- ber aber gar nicht leisten können? Diese Ungerechtigkeit grenze überschreiten werden. Im Januar 2014 kamen wir muss abgeschafft werden. bereits auf über 400 000 Verträge. Was zeigt uns das? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2211

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: ziellen Überforderung im Pflegefall zu schützen und zu (C) Kollege Rüddel, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- mehr Vorsorge zu motivieren. Die Menschen erkennen kung der Kollegin Zimmermann? zusehends – auch das zeigen die Zahlen –, dass sie bei der Pflege stärker vorsorgen müssen, und das ist auch ( [CDU/CSU]: Die hat doch gerade gut so. Denn nach meiner Einschätzung bieten sich ins- geredet! – Tino Sorge [CDU/CSU]: Sie hat besondere für Frauen und Männer zwischen 25 und doch gerade gesprochen! Frau Zimmermann, 40 Jahren gute Chancen, mit staatlicher Unterstützung hören Sie sich die Argumente doch erst einmal eine zusätzliche Vorsorge gegen das Pflegerisiko im Al- an!) ter zu schaffen. Vom Staat werden 5 Euro pro Monat als Zulage gezahlt, wenn der oder die Versicherte einen Erwin Rüddel (CDU/CSU): Mindestbeitrag von 10 Euro pro Monat leistet. Ja. Risikozuschläge und Gesundheitsprüfungen sind nicht zulässig. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn auch Men- Pia Zimmermann (DIE LINKE): schen mit Vorerkrankungen können auf diesem Weg eine Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Es ist doch so, private Versicherung abschließen und mit nur 10 Euro dass Sie die Anzahl an Vertragsabschlüssen, die Sie an- im Monat den Einstieg in diese Vorsorgemaßnahme ver- gestrebt haben, überhaupt nicht erreicht haben; Sie ha- wirklichen. ben noch nicht einmal die Hälfte davon erreicht. Deut- lich wird auch: In dem von Ihnen vorgelegten Haushalt Statt dieses Instrument infrage zu stellen oder gar ab- sind die Mittel zur staatlichen Unterstützung und Finan- schaffen zu wollen, sollten sich die Initiatoren des vor- zierung der Verträge im Pflege-Bahr deutlich abgesenkt liegenden Antrags, die Fraktion Die Linke, vielleicht worden. Das passt meines Erachtens nicht mit dem zu- besser überlegen, ob und wie wir es ausbauen und noch sammen, was Sie gerade gesagt haben. Können Sie mir attraktiver machen können. das vielleicht näher erklären? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich persönlich – das betone ich ausdrücklich – hielte es durchaus für angebracht, über eine sinnvolle Weiter- Erwin Rüddel (CDU/CSU): entwicklung der staatlich geförderten Zusatzversiche- Ich wäre in meiner Rede noch darauf eingegangen. rung nachzudenken. Dabei schwebt mir zum Beispiel Ich halte 1 Million Neuverträge im Jahr 2014 für eine eine Familienkomponente vor, bei der sich die Zahl der sensationell hohe Zahl. Auch wenn wir geglaubt haben, Kinder positiv auf die Höhe des staatlichen Zuschusses (B) dass wir eine höhere Zahl erreichen könnten, zeigt die auswirken könnte. Aber auch andere Schritte wären (D) Entwicklung, dass wir unser Ziel, Vorsorge zu fördern denkbar, um diese Art der privaten Vorsorge seitens des und die Menschen zu motivieren, vorzusorgen, erreicht Staates zusätzlich zu fördern. haben. Wir sollten vielleicht gemeinsam überlegen, wo man Anreize schaffen kann, damit wir noch höhere Zah- Stattdessen räsoniert die Linke in ihrem Antrag da- len als derzeit erreichen können. Ich denke, das Ziel ist rüber, was die vereinbarten Mindestleistungen von richtig. Ihrer Logik zufolge dürften wir auch keinen Cent 600 Euro Pflegegeld in der Pflegestufe III bei Eintritt der für Prävention ausgeben. Pflegebedürftigkeit in 50 oder 60 Jahren wert sein könn- ten. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Davon habe ich kein Wort gesagt! – Kathrin Vogler [DIE (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist ja LINKE]: Völliger Quatsch!) auch nicht ganz unwesentlich!) Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Weg, die Das, Frau Zimmermann, kann man sich über diesen Zeit- Menschen zu motivieren, Vorsorge zu treffen, der rich- raum hinweg sicherlich mit Blick auf alle möglichen und tige ist. Wir werden in den nächsten Wochen mit der unmöglichen Zahlen fragen. Anstatt nun darüber nach- Pflegereform zeigen, dass Vorsorge ein guter Weg ist. zudenken, ob und wie dieses Produkt durch eine Dyna- Mit dem Vorsorgefonds haben wir bereits einen weiteren misierung künftig noch verbessert werden könnte, schüt- Schritt getan. tet die Linke lieber das Kind mit dem Bade aus und will die staatlich geförderte Zusatzversicherung mit einem (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ein weiterer Federstrich abschaffen. Schritt in die falsche Richtung!) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Wir wollen Wir befinden uns auf einem guten Weg; denn er führt in eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerver- eine gute Zukunft. Ihr Weg dagegen ist der falsche. Wir sicherung!) werden auch Ihren Antrag hier im Haus eindrucksvoll und mit breiter Mehrheit ablehnen. Ihr Ziel ist es doch, den Menschen die Chance auf Vor- sorge zu erschweren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Quatsch!) Die vom Staat geförderte private Zusatzversicherung wird von den Menschen angenommen. Das beweisen die Sie wollen, dass das Teilleistungsprinzip abgeschafft Zahlen eindeutig. Das Produkt erfüllt also den Wunsch wird und der Staat zukünftig einfach für alles aufkommt. des Gesetzgebers, die Bürger stärker vor einer finan- Das ist sinngemäß das, was in Ihrem Antrag steht. 2212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Erwin Rüddel (A) Dieser folgt damit einem bekannten Muster: wir ja einen guten Antrag! – Gegenruf der (C) Abg. [CDU/CSU]: Nein! Der (Maria Michalk [CDU/CSU]: Ja!) Antrag ist nicht gut!) einerseits den Menschen Angst machen und ihnen ande- rerseits Wunderdinge versprechen, Vizepräsidentin Petra Pau: (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ja, ja!) Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat für die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. immer nach dem Motto: Am Ende werden andere für euch die Zeche zahlen. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Maria Michalk [CDU/CSU]: So sind sie!) NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Natürlich zeigt sich auch hier wieder, dass Ihnen jegli- legen! Im vorliegenden Antrag der Linksfraktion finden cher Anreiz zu eigener Initiative, zu eigener Verantwor- sich einige Forderungen, die wir Grüne durchaus mittra- tung und zu privater Vorsorge zutiefst zuwider ist. Die gen und unterstreichen können, die sinnvoll sind. Es ist Botschaft Ihres Antrags lautet im Grunde: Macht euch völlig richtig, dass wir endlich eine klare Regelung für keine Gedanken, Leute, der Staat wird es schon richten. eine jährliche Anpassung der Pflegeleistungen brauchen. – Das ist absolut unverantwortlich. Jetzt ist es nämlich so, dass die Bundesregierung alle (Beifall bei der CDU/CSU) drei Jahre so Pi mal Daumen bestimmt, wie viel sie denn geben will. Bei der geplanten Pflegereform von Schwarz- Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag ist Rot soll es genauso laufen. Es wird keine objektive auch aus einem anderen Grund ein ärgerliches Doku- Rechnung geben, sondern es wird geschachert werden: ment. Man fragt sich nämlich angesichts der Ausführun- Leistungsanhebung um 3 Prozent, 4 Prozent oder 5 Pro- gen zur gesetzlichen Pflegeversicherung, ob die Kolle- zent? Wer bietet mehr? Wer geht drunter? Entscheidung ginnen und Kollegen von der Linken eigentlich den nach Gusto oder danach, wer sich gerade durchsetzt! So Koalitionsvertrag gelesen haben. Falls nicht, will ich ein Vorgehen führt nicht nur zu einer Entwertung der hier im Plenum kurz feststellen: Leistungen; es führt zu einer Entwertung der Pflegever- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sicherung an sich. NEN]: Oh nein! Bitte nicht vorlesen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsver- Wir sagen, dass die Leistungen regelgebunden zu trag auf die umfassendste Reform der gesetzlichen Pfle- zwei Dritteln entlang der Lohn- und zu einem Drittel (B) geversicherung seit ihrer Einführung 1995 verständigt. entlang der Inflationsentwicklung angepasst werden (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und müssen. Das wäre sachgerecht, weil sich die Pflegekos- der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜND- ten in etwa zu zwei Dritteln aus Personalkosten und zu NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das musste ja auch einem Drittel aus Sachkosten zusammensetzen. Das ist sein, nachdem Sie das vorher schon jahrelang übrigens keine neue grüne Forderung. Wir fordern das verschleppt haben!) schon seit 2012 genau so in unserem Konzept der grünen Pflege-Bürgerversicherung. Schön, dass die Linksfrak- Wir werden die Leistungsbeträge dynamisieren, den tion diesen Vorschlag von uns übernommen hat! Schlüssel für Betreuungskräfte pro Pflegebedürftigem deutlich senken, Leistungen wie Kurzzeit- und Verhin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) derungspflege flexibilisieren, Richtig ist auch die Forderung, den Pflege-Bahr wie- (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Alles mit der abzuwickeln. Der Pflege-Bahr war und ist weder ge- Eigenbeteiligung!) recht noch sinnvoll, und deshalb muss er – ganz klar – wieder abgeschafft werden. die Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes ver- stärken, einen Pflegevorsorgefonds in Höhe von 1,2 Mil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liarden Euro jährlich schaffen und vor allem Menschen und bei der LINKEN) mit Demenzerkrankung und ihre Angehörigen weit stär- Der unsägliche Pflege-Bahr wurde von Schwarz-Gelb ker als bisher unterstützen, indem wir eine Neudefinition eingeführt – gegen den Rat der überragenden Mehrheit des Pflegebegriffs vornehmen. Schließlich werden wir aller Fachverbände, gegen den Rat der Expertinnen und für deutlich mehr und für gut ausgebildete und für or- Experten sowie der versammelten Opposition. Damals dentlich bezahlte Fachkräfte in der Pflege sorgen. war die SPD natürlich auch dagegen, weil ja noch Op- position. Für 2013 rechneten Sie mit 1,5 Millionen Die Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung, wie Pflege-Bahr-Verträgen. Sie haben das vollkommen über- ich sie hier skizziert habe, ist ein zentrales politisches schätzt. Herr Rüddel, die Rechnung, die Sie gerade vor- Vorhaben dieser Koalition. Daran konstruktiv mitzuwir- getragen haben, klingt ein bisschen wie Pfeifen im ken, sind alle in diesem Hause aufgefordert und eingela- Walde. Es sind bis heute – April 2014 – gerade einmal den; das gilt ausdrücklich auch für die Kolleginnen und 400 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist kein Er- Kollegen der Linken. folg; das ist ein Witz. Der Pflege-Bahr bringt nichts. Alle (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – haben es Ihnen gesagt. Aber Sie wollten es damals nicht Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Deshalb haben hören, und Sie wollen es jetzt nicht hören. Die SPD hört Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2213

Elisabeth Scharfenberg (A) jetzt leider auch weg. Die SPD hat inzwischen kein Pro- fen. Eine solide Finanzierung der Pflege schaut anders (C) blem mehr mit dem Pflege-Bahr. Die pflegepolitischen aus. Überzeugungen der SPD sind sehr schnell auf der Stre- Danke schön. cke geblieben. Schade! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Mit einigem im Antrag sind wir nicht einverstanden: Vizepräsidentin Petra Pau: Da ist die Forderung der Linken, aus der Pflegeversi- Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die cherung eine Vollversicherung zu machen. Sie geben da SPD-Fraktion. ein ganz schön voreiliges Versprechen ab. Verdi hat (Beifall bei der SPD) 2012 ein Gutachten über die Auswirkungen einer Pflege- vollversicherung veröffentlicht. Klar wird: Es gibt viele Unsicherheiten. Was würde eine Vollversicherung ei- Mechthild Rawert (SPD): gentlich bezahlen? Wie teuer wäre eine Vollkasko-Pfle- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen geversicherung? Teurer als heute auf jeden Fall! Es gibt und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im da mehr Fragen als Antworten. Mai 1994 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflege- Anders beim Pflege-Bahr. Da sind alle Fragen beant- bedürftigkeit. Die soziale Pflegeversicherung als fünfte wortet. Ich werde noch einmal ganz deutlich: Der Säule der Sozialversicherung in Deutschland ward gebo- Pflege-Bahr ist eine Luftnummer und nichts anderes – ren. Dieser Beschluss war ein sozialpolitischer Meilen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stein; er war aber auch keine einfache Geburt. Dieser sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Geburt gingen damals 20 Jahre intensive und breite Dis- kussionen voraus. Es wurden debattiert die Situation der übrigens genauso wie der Pflegevorsorgefonds, den die Pflegebedürftigen, die Folgen des demografischen Wan- GroKo nächstes Jahr einführen will. dels und auch die finanziellen Belastungen der Kommu- nen – heute immer noch aktuelle Themen. Kurz vor dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20. Geburtstag dieses Gesetzes sei es erlaubt, hier schon sowie bei Abgeordneten der LINKEN) einmal zu gratulieren: Happy Birthday, liebe SPV, liebe Da möchte ich Ihnen ein abenteuerliches Interview soziale Pflegeversicherung! Du hast dich trotz schwer- mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Unions- wiegender struktureller Reformstaus zu einer in der Be- fraktion, Jens Spahn, vom 11. März in der Berliner Zei- völkerung akzeptierten Sozialversicherung entwickelt. (B) (D) tung nicht vorenthalten. „Sicher wie das Gold der Bun- Die soziale Pflegeversicherung war von Anfang an desbank“, das war der Titel des Artikels. Darin erklärt als Teilleistungssystem, als Teilkaskoversicherung, wie uns Herr Spahn den Pflegevorsorgefonds. Der Fonds, sie in der Bevölkerung häufig genannt wird, konzipiert. sagt er, werde so sicher sein wie das Gold, das bei der Ja, es ist richtig: Es sind notwendige Leistungsverbesse- Bundesbank lagert. Dann empfiehlt der gelernte Bank- rungen vorzunehmen. Die bisherigen Verbesserungen kaufmann Herr Spahn, dass man das Geld aus dem durch die verschiedensten Gesetze in der ambulanten Fonds doch bitte schön – ich zitiere – „stärker in Aktien und stationären Pflege reichen noch nicht aus. Darauf oder Unternehmensanleihen … oder auch in ausländi- hat die Expertenkommission, darauf haben aber auch die sche Anlagen“ stecken solle. ambulanten Träger und viele andere aufmerksam ge- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, genau! Da- macht. Wir selber erleben dies tagtäglich, wenn wir in mit kennt er sich aus!) die entsprechenden Einrichtungen gehen. Man müsse höhere Renditen erwirtschaften. Außerdem Wir wollen die eng richtungsbezogene Definition der sei die Idee des Sparens schon „ein Wert an sich“. Pflegebedürftigkeit überwinden und natürlich sehr viel mehr für Menschen tun, die an Demenz erkrankt sind, Übrigens ist sich die Fachwelt einig, dass der Fonds und vor allen Dingen für Menschen, die an psychischen nicht funktionieren wird. Das interessiert aber Herrn Erkrankungen leiden. Wir brauchen hier mehr Leis- Spahn und die CDU/CSU nicht. Das lässt tief blicken. tungsansprüche. Das ist uns als Großer Koalition aber Ich hoffe, die SPD schwingt sich dazu auf, diesen Un- sehr bewusst. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass in sinn endlich zu Ende zu bringen. dieser Legislaturperiode nachhaltige strukturelle Refor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men erfolgen werden. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Pia Inmitten einer weltweiten Finanzkrise mit dem Geld Zimmermann [DIE LINKE]: Dann müssen Sie der Versicherten zu zocken, den Menschen Märchen als Erstes den Pflege-Bahr abschaffen!) über goldene Töpfe – damit ist der Vorsorgefonds ge- Wir haben in der Koalitionsvereinbarung für den Be- meint – zu erzählen, das bezeichne ich nicht als ernst- reich Pflege sehr viele Maßnahmen vereinbart; denn wir hafte und nachhaltige Finanzierung. Um das Kraut fett- wollen, dass Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zumachen, klammert sich die Große Koalition auch noch von allen gesehen und auch wahrgenommen wird. am unsolidarischen und äußerst erfolglosen Pflege-Bahr fest. Sie sollten die Menschen nicht für dumm verkau- (Beifall bei der SPD) 2214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Mechthild Rawert (A) Wir wollen die zügige Neuordnung des Pflegebedürftig- (Beifall des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/ (C) keitsbegriffs. Wir wollen eine Dynamisierung der Leis- CSU]) tungssätze, um so den überproportionalen Eigenfinan- Vorhin ist schon darauf hingewiesen worden: Es gibt zierungsanteil nicht weiter steigen zu lassen. Konzepte für eine Vollkaskoversicherung, die aber teil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) weise noch auf unzureichenden Annahmen beruhen, und die Berechnungen sind auch nicht positiv, einmal abge- Wir wollen Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von sehen davon, dass ich mich frage, wer das finanzieren Berufstätigkeiten und Pflegetätigkeiten. Wir wollen eine soll. Aufwertung der Pflegeberufe. Wir wollen ein Pflegebe- rufegesetz mit einheitlicher Grundausbildung und darauf Doch kommen wir zum Pflege-Bahr. Erinnern Sie aufbauender Spezialisierung. Wir wollen die Kostenfrei- sich noch? Im Rahmen des am 1. Januar 2013 in Kraft heit der Ausbildung. getretenen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes hat die da- malige schwarz-gelbe Regierung begonnen, private Pfle- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gezusatzversicherungen zu fördern. Zumindest in der Die so gewonnenen Mehreinnahmen bei der Pflege FDP hat mensch sich darüber gefreut, wie ich heute ge- dienen uns allen. Wir wollen eine gute Pflegeinfrastruk- hört habe: Herr Rüddel persönlich auch. tur, und weil wir das wollen, sagen wir allen Pflegebe- (Tino Sorge [CDU/CSU]: Er freut sich jetzt!) dürftigen und ihren Angehörigen: Dazu gehört eine Dy- namisierung der Leistungssätze. Ich verspreche Ihnen, – Ja, er freut sich und findet das toll. – Das war aber, wie Frau Zimmermann, sie wird kommen. gesagt, mehr ein FDP-Kind. Der damalige FDP-General- sekretär, , hatte auch gleich einen pas- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE senden Namen dafür: Das ist der Pflege-Bahr, den wir GRÜNEN]: Wann, Mechthild, wann? – jetzt einführen. – Dieser Pflege-Bahr ist für alle Versi- Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gucken wir cherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer unab- mal!) hängig vom jeweiligen Einkommen gleich hoch. Sie Wir haben in der Diskussion vorhin schon gehört, müssen mindestens 180 Euro zahlen; davon werden dass die Pflegeversicherung auf der Leistungsseite eine 60 Euro staatlich gefördert. Bürgerversicherung ist; denn jede und jeder bekommt, Es blieb kein Geheimnis: Die SPD, Sozialverbände, unabhängig davon, ob sie oder er bei einer privaten oder Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer, in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert ist, die Fachinstitute, Linke, Grüne, sie alle lehnten die Einfüh- gleichen Leistungen. rung des Pflege-Bahrs ab. (B) (D) (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Die SPD GRÜNEN]: Dann macht doch die Finanzseite auch!) auch zu einer Bürgerversicherung!) – Habe ich gesagt; ich habe sie sogar als Erste genannt. – Ja, es stimmt: Am liebsten wäre uns Sozialdemokratinnen Mit der Einführung des Pflege-Bahrs waren nämlich und Sozialdemokraten zur Bekämpfung der chronischen zwei Botschaften verbunden: Zum einen sollte damit Unterfinanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung laut Begründung im Gesetzentwurf ein Anreiz zu zusätz- eine Bürgerversicherung auch auf der Finanzierungsseite licher Pflegevorsorge geschaffen werden, quasi ergän- gewesen. Wir haben für diese Legislaturperiode aber an- zend zum Teilleistungssystem. Es gab aber auch noch dere Modelle verabredet. eine zweite Botschaft – die lag schon ein bisschen zu- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE rück –: Die Einführung einer einkommensunabhängigen GRÜNEN]: Es geht definitiv nicht voran!) privaten Pflegezusatzversicherung wurde, beispielsweise im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb von 2009, mit Das heißt jetzt nicht, dass wir gegen eine Bürgerversi- einer substitutiven Wirkung begründet. Das heißt, damit cherung sind; ist eine Verlagerung von Finanzierungsverantwortung (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE von der umlagefinanzierten Sozialversicherung zur kapi- GRÜNEN]: Aber auch nicht dafür!) talgedeckten Privatversicherung intendiert. Glauben Sie mir: Das will die SPD nicht. Wir sind nach wie vor für wir verschieben sie. starke Umlagefinanzierungssysteme. (Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Wird ins Archiv (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE verschoben!) GRÜNEN]: Das Produkt ist das gleiche, die Erklärung ist eine andere!) Ich denke, das ist geklärt zwischen uns. Jetzt haben wir einen Koalitionsvertrag zu erfüllen. Unser Bürgerversi- Vielleicht zur Aufklärung: Durch die Finanzkrise sind cherungskonzept bleibt aber nach wie vor aktuell. am besten die Versicherungen gekommen, die ein umla- gegefördertes System hatten. (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU: Ach ja? – Hört! Hört!) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Die Mischung macht’s!) Die in dem Antrag der Linken gewünschte langfris- tige Abschaffung des Teilleistungsprinzips ist keine Lö- Es war viel sicherer, das Geld dort angelegt zu haben, als sung; das lehnen wir ab. bei privaten, profitorientierten Unternehmen. Infolge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2215

Mechthild Rawert (A) dessen werden wir in Zukunft sicherlich auch noch ein- und muss Ihnen leider sagen: Es hat sich in der bisheri- (C) mal darüber reden – das gilt auch in Bezug auf andere gen Debatte im Grunde genau das bestätigt, was aus Ih- Bereiche –, was gute Formen der Förderung sind. rem Antrag bereits hervorging. Entweder haben Sie nicht verstanden, dass wir von der Systematik her über Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, den Pflege- eine Pflegezusatzversicherung reden, oder Sie blenden Bahr rückabzuwickeln, und einen Stopp der Pflegever- das ganz bewusst aus, um hier Effekthascherei zu betrei- sicherung. Alle Verbraucherschützerinnen und Verbrau- ben. Deshalb werden wir, wie Sie schon gesagt haben, cherschützer – das sind auch Rechtsschutzexperten – diesen Schritt nicht mit Ihnen gehen, sondern den Antrag sagen aber: Das ist leider gar nicht möglich; denn dieje- ablehnen – zu Recht, wie ich finde. nigen, die einen Vertrag abgeschlossen haben, bauen da- rauf, dass es die Förderung weiterhin gibt. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schade eigentlich!) All diejenigen, die jetzt sagen: „Es waren 1,5 Millio- nen Verträge geplant; herausgekommen sind allerdings Was sind die Fakten? Sie sind teilweise schon ange- nur 400 000“, haben recht. sprochen worden: (Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Bis jetzt!) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht wirklich! Das muss man – Es waren schon bis 2013 1,5 Millionen Verträge ange- einmal ganz klar sagen!) dacht. Bis zum Jahr 2050 werden wir mit ungefähr 4,5 Millio- (Tino Sorge [CDU/CSU]: Sie beziehen sich nen Pflegebedürftigen rechnen müssen. Damit sind dann auf die Zukunft!) circa 44 Prozent der pflegenahen Generation – das heißt Das wurde auch bei der Aufstellung des Haushalts be- derjenigen, die über 80 Jahre alt sind – Nutznießer von rücksichtigt. In der mittelfristigen Finanzplanung für die Pflegeleistungen. Das hat zur Folge, dass die Pflegekos- Jahre 2014, 2015 und 2016 waren für diese staatliche ten nicht nur insgesamt, sondern auch individuell anstei- Zusatzversicherung nämlich noch jeweils 100 Millionen gen werden. Durch das stark ansteigende Lebensalter Euro vorgesehen. In den Haushalt 2014 eingestellt – ich – die Menschen in unserem Land werden immer älter, finde, diese Bundesregierung ist hier klüger als die vor- worüber wir uns alle ja freuen – und den medizinischen herige – werden aber nur 33 Millionen Euro. Es hat hier Fortschritt liegt es in der Natur der Sache, dass die Pfle- eine gute Kooperation zwischen den Fach- und Finanz- geaufwendungen steigen. Gerade deshalb ist es eben so politikern gegeben. Das muss man hier gar nicht weiter wichtig, dass wir als Politiker denjenigen, deren Pflege- kommentieren. Wir werden uns sicherlich spätestens in situation konkret ist, den Pflegebedürftigen und denen, (B) einem Jahr noch einmal darüber unterhalten. Dass ich die in die Pflege eingebunden sind, zur Seite stehen, (D) persönlich – das sage ich als Sozialdemokratin – keine sinnvolle Angebote unterbreiten und Unterstützung zu- Anhängerin der Privatisierung von Vorsorge bin, ist, teilwerden lassen. denke ich, unbestritten: Es schadet auch nicht dem Ko- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. alitionsfrieden, wenn ich das hier so deutlich sage. [SPD]) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist aber Das Pflegesystem muss auf ein breites Fundament ge- wichtig!) stellt werden. Aus Sicht der Union ist ein Baustein natür- Meine Bitte an alle ist: Die Pflege gehört in die Mitte lich die staatliche Pflegeversicherung, von der aufgrund der Gesellschaft und muss noch viel mehr Gegenstand ihrer stetigen Weiterentwicklung sehr viele pflegebe- der Diskussionen des Deutschen Bundestages sein. Die dürftige Menschen profitieren, und das ist auch gut. Als Bürgerinnen und Bürger erwarten viel von uns. Packen weiteren Baustein gibt es die private Pflegezusatzversi- wir es an! Machen wir daraus: gesagt, getan, gerecht! cherung, die viele im Haus schon liebevoll Pflege-Bahr genannt haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Mechthild Rawert [SPD]: Na ja, nicht gerade GRÜNEN]: Dann verplempert nicht so viel liebevoll! – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Geld für falsche Sachen!) Was Sie so empfinden!) – Ich habe das so empfunden, Frau Zimmermann. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/ Diese Pflegezusatzversicherung – ich sage ganz be- CSU-Fraktion. wusst: Pflegezusatzversicherung – ergänzt das staatliche System. Das heißt, das ist ein Angebot an diejenigen, die (Beifall bei der CDU/CSU) freiwillig eine Zusatzversicherung abschließen möchten. Die Zahlen sind schon genannt worden: Täglich werden Tino Sorge (CDU/CSU): 1 600 Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mittlerweile zwischen 400 000 und 500 000 Verträge. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Man sieht: Die Zusatzversicherung wird angenommen. Zimmermann, ich habe Ihnen genau zugehört Es geht hier auch um den Kontext der Eigenvorsorge. Wir wollen ja die Menschen zu immer mehr Eigenvor- (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Sehr gut!) sorge animieren. 2216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

Tino Sorge (A) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das wird setzt mit Karl-Josef Laumann als Beauftragten für Pflege (C) nicht angenommen! Die Menschen sind sturer, ein weiteres deutliches Zeichen. als Sie denken!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gerade meine Generation ist sich dessen bewusst, dass Mechthild Rawert [SPD]) wir eigenverantwortlich vorsorgen müssen. Die Versicherten, die Pflegebedürftigen, die Angehö- Schauen Sie sich doch einmal die Vorzüge der Pflege- rigen und die Pflegekräfte in Deutschland sowie alle Fa- zusatzversicherung an; sie liegen doch auf der Hand. Es milien, die sich mit der Pflegesituation auseinanderset- gibt keine Risikozuschläge. Es gibt keine altersbeding- zen müssen, können weiterhin auf eine gute, verlässliche ten Prämiensteigerungen. Es gibt keine Gesundheitsprü- und vertrauensvolle Versicherung bauen. Dafür steht die fung. Bundesregierung. Dafür stehen wir als Union. Dafür steht die Koalition. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Und keine Dynamisierung! – Maria Michalk [CDU/ Herzlichen Dank. CSU]: Vor allen Dingen das Letzte ist doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sehr solidarisch!) neten der SPD) Das heißt: All diejenigen, die früher keine Möglichkeit hatten, in diesem Bereich eine Versicherung abzuschlie- Vizepräsidentin Petra Pau: ßen, haben jetzt Zugang zu einer Pflegezusatzversiche- Kollege Sorge, das war Ihre erste Rede im Deutschen rung. Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ge- (Beifall bei der CDU/CSU) samten Hauses herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrer Arbeit. Da wir gerade bei der Systematik sind: Diese Ver- sicherung war von vornherein – das ist schon angeklun- (Beifall) gen – als Zusatzversicherung geplant. Es stand nie im Das Wort hat der Kollege Heiko Schmelzle für die Raum, dass es eine Komplettversicherung werden sollte. CDU/CSU-Fraktion. Die Versicherten – auch meine Generation – wissen: Es handelt sich um eine Zusatzversicherung. Dieses System (Beifall bei der CDU/CSU) hat sich bewährt. Heiko Schmelzle (CDU/CSU): Mit dieser Pflegezusatzversicherung – ich habe es Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (B) schon gesagt – ist private Vorsorge überhaupt erst mög- (D) lich geworden. Deshalb meine Bitte an die Kolleginnen Kollegen! Besonders begrüßen möchte ich die Parla- und Kollegen von den Linken, den Grünen und auch an mentarische Staatssekretärin, Frau Widmann-Mauz. Für Sie, Frau Rawert – ich weiß nicht, ob ich Sie richtig ver- mich ist ihre Präsenz als Vertreterin der Regierung an ei- standen habe –: Lassen Sie die Pflegezusatzversicherung nem Freitagnachmittag im Plenum des Deutschen Bun- doch erst einmal wirken! destages (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Mechthild Rawert [SPD]: Ich kann sie ja GRÜNEN]: Selbstverständlich!) nicht abschaffen!) ein deutliches Zeichen dafür, welch hohen Stellenwert Schauen wir uns doch erst einmal an, wie sie sich aus- das Thema Pflege in der 18. Wahlperiode für die Koali- wirkt! Es ist doch vernünftig, wenn die Evaluation seriös tionsfraktionen hat. sein soll, sie erst nach einem längeren Zeitraum vorzu- nehmen und nicht schon nach einem Jahr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Wir sind der Meinung, dass die Pflegezusatzversiche- rung eine ausgewogene Balance zwischen Beitrag und Die Deutschen sind heute weit über den Eintritt in den Versicherungsleistung darstellt. Die Lage der Versicher- Ruhestand hinaus deutlich rüstiger, als es gleichaltrige ten war vor Einführung dieser Versicherung wesentlich Senioren vor einigen Jahrzehnten gewesen sind. Wir schlechter; das sollte hier niemand vergessen. Eine sol- werden immer älter. Männer haben mittlerweile eine Le- che Zuschussversicherung bietet die Chance auf mehr benserwartung von 78 Jahren, Frauen von circa 83 Jah- Eigenverantwortung, schärft aber gleichzeitig den Blick ren. Das steigende Durchschnittsalter ist erfreulich, stellt für die Kosten und sensibilisiert dafür, welch große He- unsere Gesellschaft jedoch vor immer größere Heraus- rausforderung die Pflege ist. forderungen; denn die Zahl derjenigen, die auf Pflege bzw. Hilfe angewiesen sind, steigt ebenfalls stetig. Das aktuelle System zeigt, dass Pflegebedürftigkeit kein individuelles Problem ist; diese Thematik betrifft Mit Weitblick wurde bereits 1995 unter der Regie des immer die ganze Familie. Wir dürfen in diesem Zusam- damaligen CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm die ge- menhang nie vergessen, dass Pflegezeiten, der interfami- setzliche Pflegeversicherung eingeführt. Ziel war es, al- liäre Einsatz im Falle einer Pflegebedürftigkeit, heutzu- len Bürgerinnen und Bürgern für den Fall der Pflegebe- tage wesentlich stärker gefördert und unterstützt wird, dürftigkeit eine Basisabsicherung zu gewährleisten. Man als das noch vor Jahren der Fall war. Das ist ein Erfolg; legte sich damals ganz bewusst auf das Teilleistungs- das können wir doch einmal sagen. Die Bundesregierung prinzip fest, um überbordende Beitragskosten zu vermei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2217

Heiko Schmelzle (A) den, die eine vollständige Absicherung des Pflegebe- Die geförderten Tarife sind aufgrund des Kontra- (C) dürftigkeitsrisikos mit sich gebracht hätte. hierungszwangs und der fehlenden risikobezogenen Prämienkalkulation teurer als vergleichbare nicht In der letzten Wahlperiode haben wir nun zum 1. Ja- geförderte Produkte. nuar 2013 eine staatliche Förderung in Kraft gesetzt, die die Eigenvorsorge im Rahmen einer privaten Pflegezu- Jetzt kommt der springende Punkt: satzversicherung unterstützt. Zum Beispiel erreichen auf Das führt zu einer negativen Risikoselektion und diese Weise junge Menschen im Alter zwischen 20 und weiteren Beitragssteigerungen. 40 Jahren mit einem Eigenbeitrag von 10 Euro monat- lich und einer staatlichen Förderung von 5 Euro monat- (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das passt nicht lich tendenziell deutlich mehr, als das Mindestsiche- zusammen!) rungsziel von 600 Euro in Pflegestufe III vorsieht. Im Idealfall sind dies bis zu 1 400 Euro über den Erstat- Das sehe ich völlig anders. Ich sehe es gerade als die so- tungsbetrag hinaus, der bereits durch die gesetzliche ziale Komponente der staatlichen Förderung der ergän- Pflegeversicherung gezahlt wird. zenden privaten Pflegeversicherung an, dass auch Men- schen mit Vorerkrankungen noch aktiv etwas tun Die Zahlen des Verbandes der Privaten Krankenversi- können, um ihr persönliches Risiko einer Pflegebedürf- cherung sind eindeutig. Vor Einführung der staatlichen tigkeit finanziell abzusichern. Förderung hatten circa 1,8 Millionen Menschen eine pri- vate Pflegezusatzversicherung. Seit deren Einführung (Beifall bei der CDU/CSU) sind bereits 500 000 neue Verträge abgeschlossen wor- Die Linke möchte also gerade jenen die Möglichkeit der den. Dies entspricht innerhalb kürzester Zeit einer Stei- staatlich geförderten Eigenvorsorge nehmen, denen die gerung um 27 Prozent. Das heißt, der von uns bzw. von geltende Regelung am meisten hilft. der Politik gesetzte Anreiz hat insofern die gewünschte Wirkung entfaltet, vielleicht nicht im gewünschten Ich möchte den Antragstellern abschließend ein Zitat Maße, aber die Richtung ist vorgegeben. Wenn aktuell von Mahatma Gandhi mit auf den Weg geben. Es lautet 1 600 Verträge pro Tag dazukommen, dann ist das doch wie folgt: ein Erfolg. Wir haben die Pflicht, stets die Folgen unserer (Beifall bei der CDU/CSU) Handlungen zu bedenken. Diese Zahlen werden durch die aktuelle repräsentative Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit bei mei- Allensbach-Umfrage untermauert. In dieser wurden rund ner ersten Rede. 2 000 Menschen zum Thema Pflege befragt. 60 Prozent (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) der Befragten hielten eine staatlich bezuschusste private Pflegezusatzversicherung für eine gute Sache. Vizepräsidentin Petra Pau: (Maria Michalk [CDU/CSU]: Immerhin!) Kollege Schmelzle, Sie sagten es abschließend: Das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ih- Was können wir aus den erwähnten Zahlen schließen? nen alles Gute für Ihre weitere Arbeit! Die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man ergän- zend Eigenvorsorge betreiben muss. Vor diesem Hinter- (Beifall) grund muss man die Basisversorgung sehen. Ich schließe die Aussprache. Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Antrag die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf staatliche Förderung der ergänzenden privaten Pflege- Drucksache 18/591 an die in der Tagesordnung aufge- versicherung stoppen und wünscht eine Rückabwicklung führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der 500 000 bereits abgeschlossenen Verträge. Des Wei- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung teren fordern die Antragsteller langfristig einen Umbau so beschlossen. der Pflegeversicherung zu einer „Vollkaskoversiche- rung“. Ich frage mich ernsthaft, wer das am Ende bezah- Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. len soll. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Die Linke verschließt in diesem Zusammenhang aus destages auf Dienstag, den 8. April 2014, 11 Uhr, ein. meiner Sicht die Augen vor den anstehenden Herausfor- Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen gute derungen, die sich uns aufgrund einer alternden Bevöl- Erholung über das Wochenende. kerung stellen. Besonders irritiert war ich, im Antrag der Linken Folgendes zu lesen – ich zitiere –: (Schluss: 14.25 Uhr)

Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2219

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Alpers, Agnes DIE LINKE 04.04.2014 Kaster, Bernhard CDU/CSU 04.04.2014

Bahr, Ulrike SPD 04.04.2014 Krellmann, Jutta DIE LINKE 04.04.2014

Dr. Bartels, Hans-Peter SPD 04.04.2014 Dr. Krings, Günter CDU/CSU 04.04.2014

Barthel, Klaus SPD 04.04.2014 Kühn-Mengel, Helga SPD 04.04.2014

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 04.04.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 04.04.2014 Sabine DIE GRÜNEN

Bluhm, Heidrun DIE LINKE 04.04.2014 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ 04.04.2014 DIE GRÜNEN

Brähmig, Klaus CDU/CSU 04.04.2014 Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 04.04.2014

Brase, Willi SPD 04.04.2014 Roth (Heringen), SPD 04.04.2014 Michael (B) Dr. Brunner, Karl-Heinz SPD 04.04.2014 (D) Rüthrich, Susann SPD 04.04.2014 Bülow, Marco SPD 04.04.2014 Schieder (Schwandorf), SPD 04.04.2014 Marianne Dr. Diaby, Karamba SPD 04.04.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 04.04.2014 Ernst, Klaus DIE LINKE 04.04.2014 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 04.04.2014 Ernstberger, Petra SPD 04.04.2014 Christian Silberhorn, Thomas CDU/CSU 04.04.2014 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 04.04.2014 Dr. Sitte, Petra DIE LINKE 04.04.2014 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 04.04.2014 Stritzl, Thomas CDU/CSU 04.04.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 04.04.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 04.04.2014 Groß, Michael SPD 04.04.2014 DIE GRÜNEN

Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 04.04.2014 Gunkel, Wolfgang SPD 04.04.2014 DIE GRÜNEN

Ilgen, Matthias SPD 04.04.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 04.04.2014

Karawanskij, Susanna DIE LINKE 04.04.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 04.04.2014 2220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014

(A) Auswärtiger Ausschuss (C) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Drucksache 18/419 Nr. C.1 Ratsdokument 9706/13 Drucksache 18/419 Nr. A.2 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ 04.04.2014 EuB-BReg 43/2013 Drucksache 18/419 Nr. A.14 DIE GRÜNEN Ratsdokument 11396/13 Weinberg, Harald DIE LINKE 04.04.2014 Sportausschuss Drucksache 18/642 Nr. A.1 Dr. Weisgerber, Anja CDU/CSU 04.04.2014 Ratsdokument 5842/14

Wunderlich, Jörn DIE LINKE 04.04.2014 Haushaltsausschuss Drucksache 18/544 Nr. A.27 Ziegler, Dagmar SPD 04.04.2014 Ratsdokument 5359/14 Drucksache 18/822 Nr. A.15 Ratsdokument 6266/14 Zypries, Brigitte SPD 04.04.2014 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/642 Nr. A.4 Anlage 2 Ratsdokument 5958/14 Drucksache 18/822 Nr. A.24 Amtliche Mitteilungen Ratsdokument 6054/14 Drucksache 18/822 Nr. A.25 Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ratsdokument 6445/14 hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 18/419 Nr. A.114 Ratsdokument 10275/13 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/419 Nr. A.122 Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 36 Ratsdokument 13065/13 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes Drucksache 18/419 Nr. A.123 (B) Bahn 2013 – Reform zügig umsetzen! Ratsdokument 13234/13 (D) Drucksache 18/419 Nr. A.126 Drucksachen 17/14076, 18/641 Nr. 16 Ratsdokument 13716/13 Drucksache 18/419 Nr. A.127 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 13717/13 Tätigkeitsbericht 2012 der Bundesnetzagentur für Drucksache 18/544 Nr. A.41 Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisen- Ratsdokument 5166/14 bahnen für den Bereich Eisenbahnen Drucksache 18/544 Nr. A.42 Ratsdokument 17967/13 mit Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 18/544 Nr. A.43 Drucksachen 18/356, 18/526 Nr. 1.4 Ratsdokument 18136/13 Drucksache 18/822 Nr. C.2 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 10154/13 Bericht über die Projektfortschritte beim Ausbau der Drucksache 18/822 Nr. C.3 grenzüberschreitenden Schienenverkehrsachsen Ratsdokument 10160/13 Drucksachen 18/357, 18/526 Nr. 1.5 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- Drucksache 18/419 Nr. A.170 Ratsdokument 12453/13 dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be- Drucksache 18/642 Nr. A.11 ratung abgesehen hat. Ratsdokument 5855/14

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