dtv Fortsetzungsnummer 0 30084

Kulturgeschichte Griechenlands

von Egon Friedell

1. Auflage

Kulturgeschichte Griechenlands – Friedell schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

dtv München 1994

Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 30084 1 dtv Dieses posthum 1950 publizierte Werk bildet einen in sich ge- schlossenen Bestandteil der von Egon Friedell als Pendant zur geplanten dreibändigen < Kultur- geschichte des Altertums>, die infolge seines tragischen Todes unvollendet blieb. Der für das Gesamtprojekt vorgesehene Un- tertitel sollte den inneren Zusammenhang des vorliegenden Bandes mit der 1936 veröffentlichten und dem nicht mehr geschriebenen Buch über die römische Zeit verdeutlichen. — Friedells Kulturgeschichte gibt ein viel- schichtiges Bild des Lebens und der Kultur im alten Griechen- land, vom grauen Alltag bis zur hohen Politik, von der Haustier- haltung bis zur Vasenmalerei und der Philosophie der Eleaten- so, wie es sich dem geistreichen Wiener Causeur, der alles gelesen hat und alles weiß, darbietet. Das ist kein blasses «objektives», sondern ein farbiges, subjektives Bild; es ist gewiß nicht die Wahrheit, aber es steckt voller Wahrheiten. Friedells Bericht Tiber das alte Hellas stimmt freilich nicht überein mit dem klassi- schen, dem heiteren Griechenlandbild Winckelmanns, Hölder- lins und Goethes, das ist sozusagen von den Säulen auf die Straße heruntergeholt, denn «das Altertum war nicht antik». Friedell sieht und zeigt — und darin folgt er Bachofen, Burckhardt und Nietzsche — auch die Nöte und Zwänge, die Grausamkeit und die Verzweiflung des griechischen Lebens, der unerlösten «vor- christlichen Seele».

Egon Friedell (bis 1916 Friedmann) wurde am 21. Januar 1 878 in Wien geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik und promovierte 1904 mit einer Arbeit über . Als Dramatiker, Kabarettist und Theaterkritiker, als Freund von und gehörte er zu den bestimmen- den Persönlichkeiten des Wiener Kulturlebens. Von 1922 bis 1927 war er Schauspieler bei in und Wien, dann freier Schriftsteller. Berühmt machte ihn seineKulturge- schichte der Neuzeit> (3 Bände, 1 927-1931). Kurz nach dem Ein- marsch der Hitlertruppen in Österreich nahm sich Friedell am i6. März 1938 das Leben. Egon Friedell Kulturgeschichte Griechenlands

Deutscher Taschenbuch Verlag Von Egon Friedell sind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Kulturgeschichte der Neuzeit (30o61/30062) Kulturgeschichte Griechenlands (30084)

Ungekürzte Ausgabe Mal 1981 (dtv 166o) io. Auflage September 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Griechische Vasenmalerei (um 5 lo v. Chr.) Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in • ISBN 3-423-30o84 -I VORBEMERKUNG

Den vorliegenden Band hatte Egon Friedell 1938 eben vollendet, als er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Osterreich freiwillig aus dem Leben schied. Das Manuskript wurde von der beschlagnahmt, aber durch den Mut der Erben Friedells gerettet. Mit der im Jahre 1936 erschienenen «Kulturgeschichte Agyp- tens und des alten Orients» bildet der Band das reife Spätwerk des geistvoll-ironischen Geschichtsphilosophen. Das zusammen- gefaßte Werk, dessen letztes Kapitel über das alte Rom jedoch nicht mehr geschrieben wurde, sollte Kulturgeschichte des Altertums Leben und Legende der vorchristlichen Seele betitelt sein, so wie Egon Friedells «Kulturgeschichte der Neu- zeit» durch den Untertitel «Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg» gekennzeichnet ist. Die mehrfachen Hinweise auf den «vorigen» Band beziehen sich auf die «Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients».

Wien, 1949 Walther Schneider

INHALTSVERZEICHNIS

ERSTES KAPITEL

IONISCHER FRÜHLING

Seele und Umwelt 9 — Die griechische Szene i i — Die Berge 12 — Die Inseln 13 — Die Schiffahrt sS — Der Norden und die Mitte i6 — Der Peloponnes 17 — Die Kleinräumigkeit 20 — Die Temperaturen 22 — Sonne, Wasser und Luft 23 — Das Volk des Vordergrunds 26—Blumen 28 — Bäume 29 — Früchte 32 — 0134 — Minerale 37 — Frugalität 39 — Jagd 39 — Pferd, Hund und Katze 41 — Rind, Schwein und Schaf 44 — Ge- flügel 45 — Fische 47 — Purpur 48 — Das griechische Naturgefühl 49 — Das griechische Genie 5' — Das griechische Ethos S 2—Die Sophrosyne S 4 — Der griechische Individualismus 56 — Der Schein des Scheins S8 — Die griechischen Buchstaben S9 — Die griechischen Formen 62 — Die grie- chische Aussprache 64 — Die griechischen Dialekte 68 — Homer als Rund- bildner 68 — Homer ohne Homer 70 — Homers Komposition 73—Homer als Fachmann 7S — Homers Welt 76 — Hesiod 78 — Der Olymp 79 — Die Unterirdischen 8i — Die Heroen 82 — Das Jenseits 83 — Die Mysterien 84 — Die Vorzeichen 86 — Die griechische Religion 88 — Die griechischen Epochen 91 — Nachhellenische Geschichte Griechenlands 95 — Die grie- chischen Stämme 97 — Die griechische Kolonisation 98 — Kroisos ioi — Untergang der Monarchie 102 — Drakon 102 — Solon 104 — Das grie- chische Geld ios — Sparta 107 — Der Lakonismus 110— Kreta 113 — Die ionische Stadt 113 — Die Tyrannis 114 — Polykrates i i6 — Peisistra- tos 117— Die Polis 119—Die Kalokagathie 121 — Der Sport 122 — Die Päderastie 123 — Die Antibanausie 125 — Die Vasenmalerei 127 — Die Skulptur 130 — Das erste Monument 132 — Der Tempel 133 — Die Säule 135 — Die Musik 136 — Archilochos 138 — Alkman 139 — Die Elegie 540 — Alkaios und Sappho 14o — Anakreon 142 — Theognis 142 — Simonides 143 — Asop 144 — Die dorische Komödie 144 — Thales 1 45 — Anaximander 148 — Pythagoras 'o — Die Eleaten 553 — Die Dialek- tik 1 S S — Heraklit 1 S7 — Mathematik 16o — Historia 162 — Die Apenninenhalbinsel 163 —Die Etrusker x6 —Rom i 66 —Die Könige i68 — Charakter der Urrömer 169 — Leben der Urrömer 172 — Das Latei- nische 174 — Die römische Religion 175 — Der römische Kult 177 — Der Mazdaismus 179 — Die zarathustrische Ethik ‚8i — Iran 184 — Das Achämenidenreich 184 — Die persische Post 187 — Die persische Kunst 187 - Der Fall Milets i88 — Militiades i88 —Themistokles 190— Xerxes 191 - Leonidas 192 — Salamis 192 — Die Ereignisse der Weltgeschichte 1 93 —

ZWEITES KAPITEL

DER WELTTAG ATHENS

Die Maske 195 — Der wirkliche Mensch '95 — Das Wunschbild 197 — Das Indianerdorf 198 — Der Attische Seebund 200 — Themistokles und Kimon 202 — Der griechische Westen 204 — Soziale Entwicklung 204 — Lebensstandard 207—Lebensform 210— Perikles 211 — Der Peloponne- sische Krieg 214 — Alkibiades 216 — Die athenische Demokratie 220 — Der athenische Staatshaushalt 222 — Die Frauen 225 — Die Sykophan- ten 226 — Platos Gegenstaat 227 — Die Sklaven 228 — Der Tag eines Atheners 230 — Die Kunst des «strengen Stils» 232 — Das griechische Theater 235 — Der Chor 239 — Die Katharsis 240 — Antikes und christ- liches Drama 241 — Aischylos 243 — Pindar 245 — Polygnot 246 — Hero- dot 249 — Sophokles 250 — Phidias 252 — Myron 255 — Polyklet 256 — Empedokles und Anaxagoras 2S7 — Die Sophisten 261 — Protagoras 263 — Gorgias 264 — Prodikos und Kritias 265 — Nachleben der Sophi- stik 266 — Der Prozeß des Sokrates 269 — Die Philosophie des Sokra- tes 270 — Demokrits Atomistik 273 — Demokrits Theorie der Sinnes- wahrnehmung 275 — Demokrits Ethik 277 — Hippôkrates 279 — Das antike Buch 280 — Thukydides 283 — Euripides 286 — Die Komödie 290 — Die Maler 293 — Die Nachkriegszeit 295 — Die beiden Dionyse 296 — Die Anabasis 299 — Epaminondas 301 — Das römische Mittelalter 304 — Die Kelten 305 — Die Makedonen 307 — Philippos 308 — Chaironeia 311 — Das Geheimnis Alexanders 312—Die Seele Alexanders 315 — Alexan- der und das Schicksal 317 — Pauperismus und Plutokratie 320— Hetairo- kratie 322 — Prigne 323 — Die Rhetorik 325 — Aristipp 329 — Die Kyniker 330 — Die Ideen 332 — Der erste Professor 335 — Der aristo- telische Rationalismus 337 — Die Bilanz des Aristotelismus 339 — Theo- phrasts «Charaktere» 341 .—Theophrasts Psychologie 344 — Eudoxos 345 — Apelles 346 — Praxiteles 347 — Skopas und Lysipp 349 — Effekt- k unst 3;o—Ende des Welttags 3 S 3—

NAMENREGISTER 355 ERSTES KAPITEL

IONISCHER FRÜHLING

Das größeste Geheimnis ist der Mensch sich selbst. Die Auflösung dieser unendlichen Aufgabe ist die Tat der Weltgeschichte.

Daß der Mensch ein einfaches Bodenprodukt sei wie seine Brü- der, die Pflanzen und Tiere, ist eine zu naheliegende Meinung, als daß sie nicht schon sehr früh aufgestellt worden wäre. In der Tat sehen wir sie bereits von Aristoteles vertreten, der sich seiner- seits wieder auf den Chefarzt von Hellas stützt, Hippokrates den Großen, wie er ihn mit Recht nennt. Beide erklären ganz un- mißverständlich, die Menschen seien im großen und ganzen genau soviel wert wie ihr Land und ihr Klima, mit dem sie in Körper und Seele übereinstimmen. Aber die nächstliegenden Gedanken sind nicht immer die tragfähigsten: das zeigt sich wiederum be- reits bei Aristoteles, der aus seiner Theorie die Behauptung ab- leitet, daß die Bewohner der kalten Gegenden Europas tapfer, jedoch an geistiger Einsicht und an Kunstsinn arm und zu Herr- schaft und echter Staatenbildung wenig befähigt seien. Dieser Schluß, für die damalige Weltlage vollkommen richtig, ist, von uns aus gesehen, haarsträubend falsch; denn niemand wird heute mehr die Ansicht wagen, daß es im Norden unseres Erdteils, auf einem Boden, wo Kant und Newton, Rembrandt und Shake- speare gewachsen sind, an geistiger Einsicht oder an Kunstsinn gefehlt habe und daß England, Rußland und Preußen keine Eig- nung zu Herrschaft und Staatenbildung erwiesen hätten. Es zeigt sich hier wieder einmal, daß alle Geschichtsphilosophien ebenso- wohl wahr wie falsch sind: falsch vor dem Weltgeist, dessen Ant- litz wandelbar oder vielmehr unerkennbar ist, und wahr als Ausdruck ihrer Zeit. Die aristotelische Ansicht scheint das ganze Altertum beherrscht zu haben: auch ein so scharfer Geschichtsdenker wie Polybios er- klärt, was die Sitten der Völker so gut wie ihre Gestalt und Farbe bilde, sei das Klima. Das Mittelalter dachte zu tief, um dieser allzu diesseitigen Weisheit zu huldigen. Aber im neunzehnten Jahrhundert ist sie wieder zu fast orthodoxem Ansehen gelangt, zumal durch Buckles «Geschichte der Zivilisation in England», die geradezu ausschließlich davon handelt, indem sie an einer Fülle von Belegen, die aus allen erreichbaren Zeiten und Zonen zusammengetragen sind, zu erweisen sucht, daß der Mensch nichts sei als ein Geschöpf der Nahrung, des Erdreichs, der Wit- terung und des «allgemeinen Charakters der Naturerscheinun- gen». Dies ist nicht mehr allzu weit entfernt von dem Bierwitz Ludwig Feuerbachs (den dieser aber ganz ernsthaft meinte) : «Der Mensch ist, was er ißt»: der Homo wird zum Homunkulus de- gradiert, dessen Gaben und Schicksale in der Retorte der Natur mechanisch gebraut werden, und dem Geschichtsforscher bleibt nichts zu tun als hinter das Rezept zu kommen, nach dem jeweils verfahren wurde, um damit die Historie zum Range einer «ech- ten Wissenschaft» zu erheben. Wir wollen aber nicht gar zu streng mit dem armen Buckle ins Gericht gehen, der bereits in jungen Jahren starb, und zwar am übermäßigen Materialsammeln: zweifellos eine der sonderbarsten Todesarten, von denen die Ge- schichte der menschlichen Verirrungen zu erzählen weiß. Er hatte nicht bloß, als ein echtes Kind des neunzehnten Jahrhunderts, seine Arbeitskraft, sondern auch, als ein echter Engländer, seine These überspannt. Aber in jedem redlichen und emsigen Bemühen steckt ein Kern von Wahrheit, der unsere Beachtung und sogar unsere Hochachtung verdient. Was sowohl die Individuen wie die Völker bildet, ist ihr Ta- lent und ihr Charakter. Woher diese beiden Kräfte stammen, weiß niemand; diese beiden aber einmal gegeben, ist die Umgebung, das «Milieu», keineswegs gleichgültig. Auch das reichste Talent bedarf einer Atmosphäre, aus der es schöpfen, auch der stärkste Charakter eines Magnetfeldes, auf das er wirken kann. Unter- ernährung ist das Schicksal des Geistes, dem es an Eindrücken ge-

I0 bricht, Muskelatrophie das Los der Tatkraft, der das Material zum Handeln fehlt. Freilich könnte man sagen, daß der echte Geist alles in seine Nahrung zu verwandeln vermag und die rechte Tatkraft alles in ihr Material; aber wir wollen nicht in den Fehler Buckles verfallen und unsere Theorie auf die Spitze trei- ben. Etwas muß die Natur, das «Draußen», schon auch dazutun: die Welt besteht nicht bloß aus Wille und Phantasie. Es verhält sich hier ähnlich wie mit dem Reisen. Die Globetrotter sind sehr häufig gerade die stumpfsten und gewöhnlichsten Menschen; und bleiben es auch. Aber wenn der richtige Reisende die richtige Reise macht! Dann entsteht das Schöpfungswunder des Kontakts. Solche magische Berührung von Seele und Umwelt ist gewiß nicht die Regel, weder beim einzelnen noch bei Völkern; das liegt schon einmal im Wesen des Wunders. Und trotzdem, was viel- leicht das wunderbarste an der ganzen Sache ist, besteht die Welt- geschichte aus lauter solchen Mirakeln. Aber verlassen wir das unwirtliche Nebelgebiet der Spekula- tion, die nach dem «Gewordensein» der Dinge fragt, und halten wir uns an die solide und konkrete Erfahrungstatsache des Ge- wordenen, die völlig eindeutig im hellen Sonnenlicht liegt. Wir bemerken, daß alle menschliche Geschichte, soweit wir auch den Blick in Zeit und Raum senden mögen, sich immer auf einer be- stimmten Bühne abgespielt hat, in einer eigentümlichen Szenerie, die freilich noch lange nicht das Drama selbst ist: diese materia- listische Ansicht wäre ebenso unhaltbar wie der Standpunkt mancher Theaterentrepreneure, daß die Hauptsache die Aus- stattung sei. Die Umwelt ist nur ein Requisit: aber jeder Regis- seur weiß davon zu erzählen, wie bedeutsam und unentbehrlich, ja schicksalhaft oft die Rolle eines Requisits sein kann. Und ebenso weiß jeder echte Dramatiker, daß das Bühnenbild mehr ist als «Dekoration», wie es sehr unzutreffend genannt wird, daß es tönend, färbend, dämpfend unterstreichend das Seelengeschehen wirksam begleitet und als stumme Person unablässig mitspielt. Goethe schreibt: «Nun ich alle diese Küsten und Vorgebirge, Golfe und Buchten, Inseln und Erdzungen, Felsen und Sandstrei- fen, buschige Hügel, sanfte Weiden, fruchtbare Felder, ge-

M schmückte Gärten, gepflegte Bäume, hängende Reben, Wolken- berge und immer heitere Ebenen, Klippen und Bänke und das alles umgebende Meer mit so vielen Abwechslungen und Mannig- f altigkeiten im Geiste gegenwärtig habe, nun ist mir erst die Odyssee ein lebendiges Wort.» Und dies schrieb er gar nicht aus Griechenland, sondern aus Neapel, wo allerdings schon früh Griechen eine zweite Heimat fanden: so stark empfand er bereits dort die Macht des Lokals. Die «griechische Szene», jahrhunderte- lang maßlos überschätzt, ist gleichwohl von der griechischen Kul- tur nicht wegzudenken. Der Naturcharakter der griechischen Halbinsel läßt sich mit zwei Worten bezeichnen: der Mittelmeerforscher Theobald Fischer nennt sie ein maritimes Gebirgsland. Die reiche Gliederung ihres Reliefs sowohl wie ihrer Küste setzt sie zu Europa in ein ähn- liches Verhältnis wie dieses zu den übrigen Erdteilen: sie verdient in dieser Hinsicht das Europa Europas genannt zu werden; und nicht bloß in dieser Hinsicht. Steilaufschießende Bergketten, die nur schmalen Tälern Raum gewähren, erfüllen fast ihr ganzes Gebiet; Thessalien besitzt die einzige ausgedehnte Ebene in ganz Hellas. Der sprichwörtliche Unabhängigkeitssinn und Partikula- rismus der Griechen hat hier seine Wurzel und ebenso die farbige Mannigfaltigkeit der hellenischen Stammeseigentümlichkeiten, die immer wieder das Staunen der Mitwelt und Nachwelt erregt hat: fast jeder größere Taleinschnitt hatte die naturgegebene Möglichkeit, eine eigene Welt zu bilden. Deshalb ist die aus- schließliche griechische Staatsform, der Stadtstaat, die Polis, ein höchst eigenartiges politisches Gebilde, wie es sich in dieser ex- tremen Zuspitzung in der gesamten Weltgeschichte nur noch bei den Phoinikern findet; und aus ähnlichen Gründen. Eine Zu- sammenfassung zu machtvolleren Herrschaffsgebieten ist nur in Lakonien und Attika gelungen und nur durch brutalste Gewalt unter steten Rückschlägen aufrechterhalten worden. Der Grieche ertrug keinen anderen Herrn über sich als seine Kommune und empfand jeden Versuch einer großstaatlichen Organisation be- reits als Tyrannis. Die Kehrseite davon aber war, daß die Polis über ihre eng zusammengedrängten und streng abgeschlossenen

W Bewohner selber eine Tyrannei ausübte, wie sie ebenfalls in der Weltgeschichte fast einzig dasteht, und daß das Land sich in wahnwitzigen Bruderkriegen aufzehrte: die Geschichte des alten Hellas ist ein einziger großer Verwandtenmord, und nicht um- sonst ist seine Sagenwelt angefüllt mit Familiengreueln. Die Überlieferung hat nur die Erinnerung an die großen Kämpfe aufbewahrt; aber ganz offenbar war der Krieg aller gegen alle, von Dorf zu Dorf, von Tal zu Tal, von Landschaft gegen Land- schaft in Griechenland der Normalzustand. Deshalb ist auch die griechische Geschichte so kurz, denn auf die Dauer erträgt auch das lebenszäheste und waffentüchtigste Volk keine solche Selbst- zerfleischung. Andrerseits war Griechenland vermöge seiner Lage und Boden- beschaffenheit mit den Mitteln, die der antiken Kriegstechnik zur Verfügung standen, nur äußerst schwierig, ja wohl überhaupt nur durch ein Einverständnis mit inneren Feinden zu erobern. Auf drei Seiten vom Meer umgeben und an allen seinen Küsten leicht zu verteidigen, konnte es nur von Norden her ernstlich gefährdet werden. Einer von dort eindringenden Landarmee hatte aber die Natur eine ganze Reihe von Brustwehren ent- gegengestellt, und auch wenn eine von ihnen durch Übermacht, Fahrlässigkeit oder Verrat fiel, erhob sich sofort dahinter eine neue. Auch dies ist einer der Gründe, warum es nie zu einer grie- chischen Einheit gekommen ist: sie war keine unbedingte natio- nale Notwendigkeit. Lichte Gliederung und leichte Überschaubarkeit ist der Grund- zug alles Dichtens und Trachtens der Griechen: ihrer Dramen und Denkgebäude, Tempel und Bilder, Religionsschöpfungen und Gesellschaftsbildungen. Jede griechische Landschaft läßt sich von den Gipfeln ihrer Berge mit einem Blick umfassen und in einer Tagreise zu Fuß oder auf dem Saumtier durchwandern. Und weiter als eine Tagreise ist auch keine griechische Polfis von der See entfernt. Die Hellenen waren Meerwesen. Von frühester Zeit an waren sie in die schäumende Flut verliebt, die, in zahl- losen schöngeformten Buchten tief ins Land schneidend, von Morgen bis Abend ihre Zauberfarben spielen ließ: glanzblau im

13 Mittagslicht, purpurn und violett bei Sonnenuntergang, grau bei Unwetter, schwarz im Winter. Aber nicht weil der Grieche über- all Meer, sondern weil er überall Eilande und Gegenküsten er- blickte, hat er so bald im Wasser sein ureigenes Element erblickt, das für ihn nicht eine Welt des Geheimnisses und Schreckens war wie für den Agypter, sondern ein schmeichlerischer gastlicher Ge- fährte, der zu leichten Abenteuern lockte. Das griechische Wort für Meer, pontos, ist verwandt mit dem lateinischen pons, die

Brücke, und dem griechischen patos, - der Pfad. Eine reiche Insel-

flur- erfüllt allenthalben das Agäische Meer: Reste des versunke- nen Festlands «Agäis», die sowohl geologisch wie geographisch zu Griechenland gehören. Die Entfernung zwischen Insel und Insel beträgt nirgends mehr als vierzig Kilometer, meist noch viel weniger; da sie sämtlich gebirgig sind, zeichnen sie ihre ragenden Silhouetten weithin in die klare Luft, und so hat der Bewohner dieser Mittelmeergegend nie das Gefühl niederdrük- kender Einsamkeit und drohender Unendlichkeit, das das Meer andern Völkern so unheimlich macht. Man hat die zahlreichen Landmarken, die sich zwischen der Balkanhalbinsel und Klein- asien hinziehen, mit Postenketten, Meilensteinen, Brückenpfei- lern, Kieseln in Bächen verglichen. Gleich gegenüber dem Zen- trum von Griechenland liegt die größte Insel des eigentlichen Hellas, lang hingestreckt mit saftigen Weiden und großen Vieh- beständen und darum Euboia, die «Rinderreiche», genannt; an sie schließen sich die Kykladen, so geheißen, weil sie im Kreise um das winzige Delos gelagert sind, einen religiösen Mittelpunkt des alten Griechenlands: die bedeutendsten Inseln dieser Gruppe waren Paros mit seinem weltberühmten Marmor und Naxos, der Sitz des Dionysoskults. Den Übergang zu Kleinasien bildeten die Sporaden, die «Verstreuten», mit der Hauptinsel Kos, der Hei- mat der zartesten Frauengewänder und der geschicktesten Arzte. I)ie namhaftesten Inseln an der kleinasiatischen Küste waren das handelsmächtige Rhodos und das seegewaltige Samos, Chios, das die feurigsten Weine, und Lesbos, das die glühendsten Liebeslieder in die Welt sandte. An den Enden lagen im Norden, im «Thraki- schen Meer», das vulkanische Lemnos, Imbros, die Insel des Her- i4 mes, Samothrake mit seinen uralten Mysterien und das goldreiche Thasos, südlich des Peloponnes Kythera, wo einst Aphrodite aus dem Schaum der Meerout ans Licht gestiegen war, und der mäch- tigeQuerriegel Kreta, das, mit antiken Maßen gemessen, einen selbständigen Kontinent darstellte; und dazwischen drängte sich eine bunte Vielzahl größerer, kleinerer und kleinster Eilande. Auch durch die vielen geschützten Golfe mit ihren vorzügli- chen Häfen wurde die Schiffahrt erleichtert; nicht minder durch die Regelmäßigkeit der Meeresströmungen, die Seltenheit der Nebel und die Stetigkeit der Winde. Doch galt dies alles nur für die Sommerzeit. Im Herbst getraute sich der Grieche nur sehr ungern in See zu stechen, und im Winter wagte er es überhaupt nicht. Sehr gefürchtet war Zephyros, der Westwind, dessen ge- fährliches Walten Homer höchst anschaulich beschreibt: pfeifend ballt er die Wolke und bewegt sie gegen die Küste, schwarz wie Pech rast sie in wildem Wirbel daher, und sein Wüten vermag auch gegen den Willen der Götter ein Schiff zu zerschmettern. Noch ärger treibt es Boreas, der rappengestaltige Nordwind: eisiges Schneegestöber trägt er in seinem Sack und hochauf peit- schen seine heulenden Stöße die weißen Kämme des Meeres. Auch bei Nacht segelte man nur in äußersten Notfällen. Oberhaupt betrieb der Grieche in der Regel bloß Küstenschiffahrt, indem er höchstens die Buchten abschnitt, sonst aber die Luftlinie vermied. Bei der Fahrt längs des klippenreichen Gestades sicherte man sich durch Seezeichen und fleißiges Auswerfen des Lots. Die Vorsicht des antiken Seemanns, die auf uns den Eindruck der Angstlich- keit macht, war aber nur zu berechtigt, denn es fehlte an jeg- lichem Mittel zu einer exakten Orientierung. Es gab nicht nur keinen Kompaß, sondern auch keine bis in die Details zuver- lässige Kartographie. Die einzigen Anhaltspunkte boten der ge- stirnte Himmel und der Schattenstab, gnomon, der es ermög- lichte, die Länge des Schattens für die einzelnen Orte und Tage unter Zuhilfenahme einer Tabelle zu bestimmen, aber doch nur recht ungenau. Man muß unter diesen Umständen im Gegenteil die maritimen Leistungen der Alten bewundern, denn sie haben allem Anschein nach in den meisten Fällen ihre Fahrtziele er- reicht, wenn auch natürlich nicht «fahrplanmäßig», und sich so- gar bisweilen auf die hohe See begeben. Am bizarrsten ist die Gliederung im hohen Norden, wo das Land von Osten her eine lange dünne Zunge ins Meer streckt, den thrakischen Chersones, das im Weltkrieg sooft genannte Gallipoli, während die Halbinsel Chalkidike im Westen sogar drei Spinnenfinger besitzt. Diese Gebiete wurden aber im Alter- tum nicht mehr zur hellenischen Welt gerechnet, obgleich sie von einem reichen Kranz griechischer Kolonien umsäumt waren. Nordgriechenland beginnt erst mit Thessalien, dessen Grenze nach Westen von der mächtigen Pindoskette gebildet wird. Jen- seits davon lag Epeiros, das ebenfalls nicht für griechisch galt, wiewohl sich auf seinem rauhen Boden eines der ältesten Heilig- tümer des Landes befand, das Zeusorakel von Dodona, und vor seiner sturmumbrandeten Küste die Insel Kerkyra lag, das heu- tige Korfu, eine der wichtigsten griechischen Pflanzstätten. So- wohl der nördlichste wie der höchste Punkt Griechenlands war der thessalische Olympos, dessen wolkenumhülltes Haupt drei- tausend Meter über das Meer emporragt. Der Hauptfluß Thessa- liens ist der Peneios mit dem Tempetal, das, wegen der erhabenen Schönheit seiner Lorbeerwälder und Tannenforste, rotleuchten- den Felsen und schneebedeckten Kuppen im ganzen Altertum gefeiert, zugleich als Eingangspforte Griechenlands von höchster strategischer Bedeutung war. Es wurde schon vorhin erwähnt, daß sich nur in 7hessalien größere Flächen finden; aber auch seine kräftige Bewässerung verleiht ihm eine Sonderstellung unter den übrigen griechischen Gebieten. Nur auf dieser reichgetränkten Erde gab es weite Getreidefelder, deren grüne Wogen der er- staunte Fremdling dem Meer verglich, und in den breiten Ebenen blühte, wie nirgends sonst in Hellas, die Rossezucht und der Junkerdünkel. In Mittelgriechenland schlossen sich an den Norden zunächst die Akarnanen und Aitoler, Phoker und Lokrer, lauter wenig ge- achtete Stämme, von denen die beiden ersteren sogar zu den Bar- baren gezählt wurden; doch beherbergte Phokis nichts Geringe- res als die Orakelstätte von Delphoi. An dieses reihte sich Boio-

I6 tien, in gewisser Hinsicht das Kernland von Hellas, und das un- gefähr gleichschenklige Dreieck der attischen Landschaft; gegen- über von Attika befanden sich Salamis und, südlicher, Aigina, zwei kleine, aber eine Zeitlang durch Handel und Marine mäch- tige Inseln. In Boiotien lag das Helikongebirge, der Sitz der Musen; der dritthalbtausend Meter hohe Parnaß in Phokis ver- dankt seine Zelebrität erst der Barockzeit. Der Peloponnes ist schon im Altertum recht zutreffend mit einem Platanenblatt verglichen worden; den Stiel dieses Blattes bildete die dorische Landschaft Megaris, vermöge ihrer Lage zu hoher Blüte bestimmt, aber von den Athenern ebenso eifersüchtig niedergehalten wie Salamis und Aigina. Am schmalsten wird die Landbrücke gerade an der Stelle, wo sie an den Peloponnes an- legt, und hier, am Isthmos, lag zwischen zwei Meerbusen, dem Korinthischen und dem Saronischen, die Welthandelsstadt Ko- rinth mit ihrem prachtvollen Hafen, ihrer sechshundert Meter über der Stadt gelegenen Bergfeste Akrokorinth und der gewalti- gen Mauer, die, quer über den Isthmos laufend, den Peloponnes vollständig abriegelte. Ein Durchstich der Landenge wurde be- reits um 600 vor Christus von Periander, dem Tyrannen von Korinth, geplant, dann dreihundert Jahre später von Demetrios Poliorketes, König von Makedonien, auch von Julius Cäsar und dem Kaiser Caligula, der durch einen Stabsoffizier umfangreiche Vermessungen vornehmen ließ; aber wirklich in Angriff genom- men wurde er nur von Nero, der die Erdarbeiten unter großem Pomp eröffnete, jedoch nach kurzer Zeit infolge eines gallischen Aufstands und abschreckender Vorzeichen wieder abbrechen ließ. Das Werk wäre zweifellos gelungen, denn die römischen Inge- nieure hatten die beste Linie gewählt, die genau so wieder gelegt wurde, als die Grabungen im Jahre 1881 von neuem aufgenom- men wurden. 1893 konnte der Kanal, 6 3/4 Kilometer lang, 8 Me- ter tief, dem Verkehr übergeben werden. Aber er war eine Ent- täuschung: er wird fast nur vom Lokalverkehr in Anspruch ge- nommen und deckt kaum die Betriebskosten. Die Bedeutung Korinths im Altertum beruhte eben gerade darauf, daß es an einer Landenge lag, wodurch es zwei Meere beherrschte und

17 außerdem das Sperrfort der Halbinsel bildete; für den Binnen- transport diente von altersher in ausreichendem Maße eine Roll- bahn, der diolkos, auf der Schiffsladungen und kleinere Fahr- zeuge von einem Golf zum anderen geschleift wurden. Der Peloponnes, selbst die Halbinsel einer Halbinsel, entsen- det abermals vier Halbinseln: die argolische, die beiden lakoni- schen, und die messenische. Argolis leidet in einem Großteil seines Gebiets an Regenmangel; weit fruchtbarer ist schon Lakonien, das vom Eurotas, dem «Schilfreichen», durchströmt wird; Mes- senien aber, dem die Südwestwinde reichlich Niederschläge zu- führen, besitzt die üppigste Vegetation von ganz Hellas. Das mächtige Massiv des Tâygetosgebirges, das Messenfen von La- konien trennt, aber auf die Dauer doch keinen Schutz gegen die landhungrigen Spartiaten zu bieten vermochte, mündet an der Spitze der westlichen lakonischen Halbinsel in das Kap Tainaron, den südlichsten Punkt des griechischen Festlands. Nördlich von Messenfen erstreckt sich der Kanton Elis, bewässert von Alpheios, dem größten Fluß des Peloponnes, und an ihm liegt Olympia, der hochberühmte Festspielort der Griechen. Die merkwürdigste peloponnesische Landschaft aber ist Arkadien, das, in der Form eines fast regelmäßigen Vierecks in der Mitte der Halbinsel ge- legen und allenthalben von hohen Bergen umwallt und zer- klüftet, durch all die Jahrhunderte des hellenischen Tumults ein idyllisches Sonderdasein geführt hat. Es ist oft mit der Schweiz verglichen worden; die Analogie stimmt auch insofern, als die Arkadier sich als vielbegehrte und gutbesoldete Reisläufer an jedermann vermieteten, ganz wie die Schweizer, von denen es im ausgehenden Mittelalter hieß «point d'argent, point de Suisse; kein Kreuzer, kein Schweizer». Das Leben in den weltfernen Ge- birgswinkeln, die sich auch noch untereinander abschlossen, war rauh, dürftig und kulturarm; nur die Musikliebe teilten die Ar- kader mit allen übrigen Griechen. Zu einem Paradies ist Arka- dien erst von der Großstadtsentimentalität der Alexandrinerzeit gemacht worden, und diese Vergoldung hat sich trotz ihrer Un- echtheit durch die «Hirtenpoesie» aller modernen Völker bis in unsere Tage konserviert.

I8 Man muß den Peloponnes trotz seines Landstengels als eine Insel ansehen, und die Griechen nannten ihn ja auch die Insel des Pelops. Daher müßte man eigentlich im Deutschen «die Pelopon- nes» sagen, denn nesos ist weiblichen Geschlechts; und nicht we- nige Altertumsforscher tun dies auch. Aber dann müßte man auch «die Chersones» sagen (welches Wort, «Halbinsel» bezeichnend, im Griechischen in vielen Verbindungen vorkommt) ; und auch dies geschieht bisweilen. Doch wirken solche Oberkorrektheiten sehr leicht affektiert. Man muß sich hier vom Sprachgebrauch leiten lassen, der oft sehr eigensinnig und fast niemals logisch ist. Wir sagen zum Beispiel, in richtigem Anschluß an das franzö- sische Geschlecht: der Flakon, der Balkon; aber kein Mensch sagt: der Billett, der Parkett. Wir sagen, da das griechische «me- tron» Neutrum ist: das Thermometer, das Barometer, das Ma- nometer (obgleich der Gebrauch des männlichen Artikels durch- aus nicht falsch ist) ; hingegen klingt «das Meter» schon etwas be- fremdend, «das Kilometer» zumindest schrullenhaft und «das Gasometer» geradezu ungebildet. «Die Portikus» hinwiederum, in der Kunstwissenschaft ziemlich gebräuchlich, hört sich zu ge- bildet an: wie als ob man sich hochmütig von der Plebs abgren- zen wollte, die nicht weiß, daß Portikus im Lateinischen Femi- ninum ist. Vollends aber «der Kontur» zu bilden, weil es im Französischen «le contour» heißt, ist der Ausfluß eines menschen- feindlichen Gelehrtendünkels oder eines wichtigtuerischen Sno- bismus: es ist ungefähr ebenso fein, nämlich im höheren Sinne unfein, wie wenn man eine Aprikose mit Messer und Gabel ver- zehrt, obwohl beides zweifellos das Korrektere ist. Während die Natur fast aller übrigen griechischen Gebiete ausgesprochen maritim ist, trägt der Peloponnes mit seinen festungsartigenGebirgszügen,isoliertenHochebenen und geschlos- senen Talkesseln Kontinentalcharakter. Die. Griechen nannten ihn denn auch die Akropolis von Hellas. Die Spartaner waren bekanntlich unverbesserliche Landratten und andrerseits in ihrem Konservativismus und ihrer splendid isolation typische Insu- laner. Urigens war der Peloponnes, der heute eine künstliche Insel ist, ursprünglich eine natürliche, denn das Baumaterial des

19 Isthmos stammt erst aus dem späten Tertiär. Kant sagt einmal vom englischen Volk, es habe einen Charakter, «den es sich selbst angeschaffl hat»: dies läßt sich ganz wörtlich auch auf die Lake- daimonier anwenden. Sparta ist der klassische Fall eines über die Natur hinaus und sogar gegen die Natur erzwungenen Zucht- produkts. Solche künstlichen Gebilde bergen stets die Gefahr einer frühen Versteinerung. Eine Insel, die sich mit Konsequenz zu ihrem Inselcharakter des Solipsismus und der «Selbstgenügsam- keit» bekennt (zu der der imperialistische Expansionswille nur die naturgegebene Kehrseite bildet), muß früher oder später den Rückwirkungen der physischen und geistigen Inzucht erliegen; dies hat sich an Venedig gezeigt, und auch an Japan wird es sich zeigen, während England, in bewußter oder instinktiver Er- kenntnis der Gefahr, bereits an der Umstellung arbeitet. Was dem modernen Auge an der griechischen Welt zu allererst auffällt, ist ihre Kleinräumigkeit. Die Entfernung von der make- donischen Grenze bis zum Vorgebirge Tainaron beträgt 420, die Breite der Halbinsel zwischen i oo und 240 Kilometer, die Land- schaff Attika war noch nicht so groß wie Luxemburg; die gesamte Einwohnerschaft zählte im fünften Jahrhundert, zu der Zeit der höchsten Blüte, drei bis vier Millionen, mit sämtlichen Kolonien etwa das Doppelte. Auf Kypros allein gab es zehn Königreiche, und wir haben im vorigen Bande gesehen, welche Großmacht Kreta repräsentierte; auch die sizilischen Tyrannen galten als ehrfurchtgebietende Potentaten, obgleich sie immer nur einen Teil der Insel beherrschten. Nach den «periplus», den Kursbüchern des fünften und vierten Jahrhunderts, dauerte die damalige «Weltreise», die Fahrt von einem Ende der bekannten Erdober- fläche bis zum andern, nämlich von Syrien bis Südspanien, achtzig Tage, genau so lange wie die wirkliche Erdumkreisung Mister Phileas Foggs in Jules Vernes Roman aus dem Jahr i872. Der Weg war allerdings weiter als der heutige, denn die antiken Schiffe bewegten sich, wie gesagt, immer möglichst der Küste ent- lang: man fuhr also über den Südrand Kleinasiens, die ägäischen Inseln, den Peloponnes und das Westufer Griechenlands nach Kerkyra, setzte von da nach Unteritalien über und begab sich

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