Hape Kerkeling Der Junge muss an die frische Luft Zu diesem Buch

» Was, um Himmels willen, hat mich bloß ins gleißende Scheinwerferlicht getrieben, mitten unter die Showwölfe ? Eigentlich bin ich doch mehr der gemütliche, tapsige Typ und überhaupt keine Rampensau. Warum wollte ich also bereits im zarten Kindesalter mit aller Macht › berühmt werden ‹ ? Und wieso hat das dann tatsächlich geklappt ? Nun, vielleicht einfach deshalb, weil ich es meiner Oma als sechsjähriger Knirps genau so versprechen musste . . .« Hape Kerkeling, der mit seinem Pilgerbericht » Ich bin dann mal weg « seine Fans begeisterte und Leser jeden Alters für sich gewann, lädt auf die Reise durch seine Memoiren ein. Sie führt nach Düsseldorf, Mosambik und in den heiligen Garten von Gethsemane ; vor allem aber an die Orte von » Peterhansels « Kindheit : in Recklinghau- sens ländliche Vorstadtidylle und in die alte Bergarbeiter- siedlung Herten-Scherlebeck. Eindringlich erzählt er von den Erfahrungen, die ihn prägten, und warum es in fünf- zig Lebensjahren mehr als einmal eine schützende Hand brauchte.

Hape ( eigentlich Hans-Peter ) Kerkeling, geboren 1964 in Recklinghausen, ist einer der beliebtesten Entertainer und vielfach preisgekrönter Comedian, Sänger, Schau- spieler, Moderator, Kabarettist und Autor. Er wurde u. a. mit der Goldenen Kamera, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Sein Buch » Ich bin dann mal weg « stand hundert Wochen auf Platz 1 der Bestsellerliste, hat fünf Millionen Leser erreicht und wurde mit Devid Striesow in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt. Hape Kerkeling lebt in Bonn und Italien. Zuletzt erschien sein Kolumnenband » Frisch hapeziert «. Hape Kerkeling

Meine Kindheit und ich

Mit farbigem Bildteil Mehr über unsere Autoren und Bücher : www.piper.de

Von Hape Kerkeling liegen im Piper Verlag vor : Ich bin dann mal weg Der Junge muss an die frische Luft Frisch hapeziert

Dank an den G. Reichel Verlag für die Genehmigung des Textabdrucks auf S. 7 aus » Babaji – Unergründlich tief wie das Meer : 108 Begegnungen «

Der Autor spendet zehn Prozent seines Honorars an die Deutsche AIDS-Stiftung, Bonn. Spendenkonto : Deutsche AIDS-Stiftung, Sparkasse Köln Bonn IBAN : DE85 3705 0198 0008 0040 04 BIC : COLSDE33

Ungekürzte Taschenbuchausgabe ISBN 978-3-492-31239-4 Dezember 2018 © Piper Verlag GmbH München 2014 Redaktion : Matthias Teiting, Leipzig Szenenfotos und Umschlagabbildung : © 2018 UFA Fiction GmbH/Warner Bros. Entertainment GmbH Originalfotos von Hape Kerkeling im Bildteil : Privatarchiv Hape Kerkeling Satz : Satz für Satz, Wangen im Allgäu Gesetzt aus der The Antiqua Druck und Bindung : CPI books GmbH, Leck Printed in the EU Dieses Buch widme ich meiner Mutter Margret. Liebe die ganze Menschheit. Hilf allen Lebewesen. Sei glücklich. Sei höflich. Sei eine Quelle unerschöpflicher Freude. Erkenne Gott und das Gute in jedem Gesicht. Kein Heiliger ist ohne Vergangenheit, kein Sünder ohne Zukunft. Sprich Gutes über jeden. Kannst Du für jemanden kein Lob finden, so lasse ihn aus Deinem Leben gehen. Sei originell. Sei erfinderisch. Sei mutig – schöpfe Mut, immer und immer wieder. Ahme nicht nach. Sei stark. Sei aufrichtig. Stütze Dich nicht auf die Krücken anderer. Denke mit Deinem eigenen Kopf. Sei Du selbst. Alle Vollkommenheit und Tugend Gottes sind in Dir verborgen – offenbare sie. Auch Weisheit ist bereits in Dir – schenke sie der Welt. Lasse zu, dass die Gnade Gottes Dich frei macht. Lasse Dein Leben das einer Rose sein – ­schweigend spricht sie die Sprache des Duftes.

Shri Babaji Haidakhan, 1984 Inhalt

GruSS an die Leser 11

Kapitel 1 Niemand betritt diesen Garten 15

Kapitel 2 Du bist wie ich, Horst Schlämmer! 21

Kapitel 3 Der Junge spricht nicht viel 38

Kapitel 4 Alles zurück auf Anfang! 48

Kapitel 5 In Mamas Garten 60

Kapitel 6 Der Opa mit dem tollen Beruf 77

Kapitel 7 Das graue Haus 87

Kapitel 8 Die Königin winkt 101

Kapitel 9 Gay Pride, mal anders 118

Kapitel 10 Shiva tanzt 132

Kapitel 11 Weiß der Himmel 159

Kapitel 12 An der Seite eines taumelnden Sterns 171 Kapitel 13 Der Stuhl am Küchenfenster 195

Kapitel 14 Sie hat es nicht geschafft 213

Kapitel 15 Mein Beileid 228

Kapitel 16 Applaus! Applaus! Applaus! 244

Kapitel 17 Die sagenhafte Frau Kolossa 264

Kapitel 18 Wer möchte Pudding? 288

Kapitel 19 Gut gemacht! 299

GRUSS AN DIE LESER

Liebe Leser, es ist schon ein ziemliches Ding, dass jemand, dessen Na- men man im deutschen Sprachraum nicht einmal wirk- lich kennt, großspurig ein Buch über seine Kindheit ver- fasst. Tatsächlich kann sich kaum jemand meinen Namen wirklich merken, auch wenn ich selbst inzwischen recht bekannt bin. Es würde mich zum Beispiel überhaupt nicht wundern, wenn Sie nicht wüssten, wie mein Name eigent- lich geschrieben wird. Ach, geben Sie es doch zu! Vermut- lich müssen Sie genau in diesem Moment auf dem Buch- deckel nachsehen. Dort angekommen, werden Sie dann etwas perplex feststellen, dass ich eben nicht Harpe Kerpe- lin, Herpes Ferkeling, Herbert Harleking oder Hete Kerker- dings heiße, sondern schlicht: Hape Kerkeling. Obwohl ich so ja eigentlich auch nicht heiße. Tatsächlich ist und war mein Vorname immer Hans-Peter. So steht er auch im Pass. Hape Kerkeling!? Tja, wer soll sich diesen knappen, skan- dinavisch anmutenden Vornamen auch schon merken können oder wollen – zumal in Verbindung mit dem be- sonders auswärtig klingenden Zunamen, welcher hoch- deutsche Ohren vermutlich ans Zuchthaus denken lässt? Ab­gesehen natürlich von meinen treuesten Fans Dina und Moreen aus Magdeburg. Auch so Namen, die immer

11 falsch geschrieben oder schlecht verstanden werden. Welch humoriger kleiner Zufall. Hape also! Diese radikale Verstümmelung meines Tauf- namens zu Karrierezwecken war im fernen Jahre 1984 die glorreiche Idee meines ersten Managers Manfred Schmidt. Man hätte mich damals auch auf den Namen Silvio La Palma oder Tino Teufel taufen können. Ich hätte das wahr- scheinlich mitgemacht, ganz toll gefunden und mit einem halben Liter klebrig süßem Prosecco beschwingt darauf angestoßen. Franz Elstner, Uwe Jürgens oder Ulli Glas. So hätte ich mich mal nennen sollen. Das sind Namen, die sich ein ge- neigtes deutsches Publikum wenigstens hätte merken können. Tatsache ist: Für manchen Bayern bin ich »der Harpe«, in Sachsen »der Herbe« und im Rest der Welt ver- mutlich »der Dings aus dem Ruhrpott«. Manche denken auch, ich heiße Hefe. Dazu verkneife ich mir jetzt mal ­jeden Kommentar zu meiner Figur. Mittlerweile habe ich allerdings meinen Frieden mit meinem zweisilbigen Künstlervornamen gemacht. Vor ­allem seitdem mir meine liebe Freundin Penny McLean – ihres Zeichens Welt- und Popstar der späten 1970er- Jahre sowie vor allem auch Numerologin – erläutert hat, welch mysteriöse Kraft angeblich hinter dieser Abkür- zung steckt. Ohne den »Hape« hätte ich ihrer Auffas- sung nach niemals einen so erfolgreichen Lebensweg beschritten. »Ha-« steht demnach für das erleichterte Seufzen des Herzens und, wie kann es anders sein, für ein befreites ­Lachen. »-pe« hingegen steht für Vitalität und Macht.

12 Also steht Hape für ein mächtiges Herz, welches vital lacht. Gar kein schlechtes Bild. Kerkeling hingegen ist niederländisch oder auch nieder- deutsch und bedeutet nichts anderes als: Kirchling. Also jemand, der nahe bei der Kirche, der Kerke, lebt, sie auf­ fallend oft in frommer Absicht besucht oder schlicht als Küster arbeitet. Mit meinem Buch Ich bin dann mal weg scheine ich der in meinem Nachnamen verankerten re­ ligiösen Strebung meiner niederländischen Urahnen schlussendlich brav nachgegeben zu haben und ihr auf angenehme Weise erlegen zu sein. Gleich hier im Vorwort muss ich unumwunden und ganz offen etwas bekennen. Trotz der scheinbar schicksal- haft richtigen Vornamenwahl habe ich dennoch den fal- schen Beruf gewählt. Definitiv! Was allerdings ein großes Glück war. Denn was hätte ich alles für verrückte, erschre- ckende und schöne Erfahrungen nicht gemacht, wenn ich die Weichen nicht von Anfang an so gänzlich falsch ge- stellt hätte … Vielleicht merken sich einige auch genau deshalb mei- nen Namen nicht, weil sie unterschwellig spüren: Hey, dieser gemütliche, tapsige Typ passt doch gar nicht ins grelle Rampenlicht!? Wie dem auch sei: Egal, wo in Deutschland ich sitze, liege oder stehe, tue ich das inzwischen als sogenannte öffent­ liche Person. Und das, obwohl ich es eigentlich eher ruhig und beschaulich mag und es mir lieber ist, wenn ich nicht der Mittelpunkt des Geschehens bin. Rote Teppiche finde ich dämlich und unnütz. Call me Mr. Boring! Kunstlicht setzt meinen Augen massiv zu. Mein Augen- arzt hat mir mehrfach eindringlich empfohlen, doch bes-

13 ser den Beruf zu wechseln. Fernseh- und Filmproduktio- nen überstehe ich nur mit verschreibungspflichtigen Au- gentropfen, die ich mir quasi ampullenweise in mein Seh- organ eintröpfele, um den beißenden Schmerz auf der ­geröteten Netzhaut zu lindern. Wenn also auf jemanden die unschöne Titulierung »Rampensau« eigentlich nicht zutrifft, dann auf mich! Was, um Himmels willen, hat mich dann ins gleißende Scheinwerferlicht getrieben und somit mitten unter die Showwölfe? Warum wollte ich bereits im zarten Kindes­ alter mit aller Macht »berühmt werden«? Und wieso hat das dann tatsächlich geklappt, und zwar sehr viel besser, als ich es mir in meiner kindlichen Naivität jemals hätte vorstellen können? Nun, vielleicht einfach deshalb, weil ich es meiner Oma Anna als sechsjähriger Knirps genau so versprechen musste. Jeder Lebensroman ist einmalig, und allein diese Tat­ sache macht ihn bedeutsam. Dies ist meine Geschichte. Oder besser gesagt: der entscheidende Teil meines bis­ herigen Lebensfilms. Ein schlichter Holzstuhl am Küchen- fenster spielt dabei keine ganz unbedeutende Rolle.

Wenn Sie mich nun begleiten wollen auf der Reise durch meine Memoiren, dann sind Sie herzlich eingeladen. Im- mer hat da irgendwer schützend seine Hand über mich gehalten, manchmal ganz konkret, manchmal auf mir ­unbegreifliche Weise. Jetzt sollen Sie mich mal kennenlernen. Ich habe jetzt schon Kreislauf! In diesem Sinne: Prosit!

14 KAPITEL 1 NIEMAND BETRITT DIESEN GARTEN

Niemand, behaupte ich, kann so überzeugend harmlos und ungefährlich dreinschauen wie ich.

»Niemand betritt diesen Garten. Was meinen Sie, warum wir einen Zaun drum herum gebaut haben? Wahrschein- lich, damit jeder hier durchlatscht, wie er will? Haben Sie das Schild draußen nicht gelesen?« Der grauhaarige, griesgrämige Wärter mit dem dicken Schlüsselbund in der sonnengegerbten Hand spricht zwar nur gebrochenes Englisch, ist aber trotzdem unerbittlich. Obwohl uns die Sonne schon jetzt am frühen Morgen wie- der erbarmungslos auf den Pelz brennt, bleibt mein Pro- duzent und Regisseur wie stets höflich und distinguiert. Genau auf diese Art und Weise hat zum Wohle unserer gemeinsamen Fernseharbeit noch fast im- mer seinen Willen durchgesetzt. Auf der Jagd nach spektakulären und einzigartigen be- wegten Bildern für unsere sechsteilige und aufwendige ZDF-Dokumentation »Unterwegs in der Weltgeschichte« sind der Produzent, sein Team und ich bis zum Oktober dieses abenteuerlichen Jahres 2009 bereits einmal fast um den gesamten Erdball gejettet und haben unter ande- rem die Pyramiden in Mexiko und die Freiheitsstatue in

15 New York fernsehtechnisch »abgefrühstückt« und in das rechte historische Licht gerückt. »Dann lassen wir das eben mit dem Dreh in dem Gar- ten!«, sage ich resignierend, wohl auch ein bisschen über- reizt infolge meines Dauer-Jetlags. Während ich mir den Schweiß mit einem penetrant nach billigem Fliederparfüm riechenden Papiertaschen- tuch von der Stirn wische, arbeite ich allerdings innerlich an einer möglichst konstruktiven Alternative. Schließlich schlage ich vor: »Wir könnten doch über den Zaun hinweg drehen. Ganz einfach!« Der Produzent schaut mich verdutzt an. So, als wollte er sagen: Haben wir uns auch nur ein einziges Mal während unserer Dreharbeiten mit dem Nein eines mürrischen Schwellenwächters zufriedengegeben? Wo wir überall eigentlich nicht hätten drehen dürfen! In der Blauen Moschee in Istanbul, im Herzen des Vatikans oder auch im großen Tempel in Luxor. Überall hieß es: Nein! Nicht mit uns! Wir haben uns trotzdem nicht ver- treiben lassen. Und auch diesmal bleibt unser Produzent auf charmante Weise ungehorsam. Er weiß, dass die jeweils Verantwortlichen es nie bereuen, ihren anfänglich rigoro- sen Widerstand schlussendlich aufgegeben zu haben. Es ist uns stets gelungen, ihren guten Willen nicht zu enttäuschen, und das, obwohl wir zum fahrenden Volk der »Fernsehfuzzis« gehören. Und so lautet Gero von Boehms etwas halsstarrige Antwort nun vollkommen zu Recht: »Das kommt gar nicht infrage! Das Bild, das wir für den Film brauchen, bist du im Garten und nicht irgendwo vor einem Eisengitter. Von außen ansehen darf sich den Ort ja jeder Tourist.«

16 Der Produzent hält dem skeptischen Wärter entgegen, dass wir eigens aus Deutschland angereist seien und eine Drehgenehmigung vom zuständigen Ministerium für das gesamte Areal in der Tasche hätten. Im Übrigen würde ich – der Moderator der Sendung – selbstverständlich nur schweigend und andächtig durch den geheimnisumwit- terten Garten wandeln. Das ist ein wirklich kluger Schachzug, denke ich, auch wenn mir diese Tatsache völlig neu ist. Denn ich hätte ­eigentlich einen zwar poetischen, aber doch ellenlangen Text im Garten zu sprechen gehabt. Der wird nun aus ­gegebenem Anlass gestrichen. Bilder sind eben manch- mal aussagekräftiger als Worte. Eine Stärke jedoch werfe auch ich in den Ring, um Gero stumm lächelnd zu un­ terstützen. Ich gucke harmlos! Niemand, behaupte ich, kann so überzeugend harmlos und ungefährlich drein- schauen wie ich, zumindest wenn es, so wie jetzt, darauf ankommt. Die Argumente und vor allem aber die hypnotisierende Ausstrahlung unseres Produzenten scheinen indes auf fruchtbaren Boden zu fallen, denn der störrische Wärter des Allerheiligsten wirft einen nachdenklichen Blick auf seinen Schlüsselbund und verkündet dann verschwöre- risch, während er dabei auf mich deutet: »Okay. Aber nur fünf Minuten, und er darf im Garten nicht sprechen!« Er greift nach einem der halb verrosteten Schlüssel am Bund und öffnet tatsächlich das kleine schmiedeeiserne Tor zum Garten Gethsemane in Jerusalem. Dem letzten Zufluchtsort Jesu vor seiner Kreuzigung. Der Platz, an dem der Messias verraten wurde.

17 Was schier unmöglich schien, ist mit einem Mal und ­allein durch Herrn von Boehms diplomatisches Geschick und sein Fingerspitzengefühl zum Greifen nahe. Mit einer knappen und wenig einladenden Geste fordert mich der grimmige Wärter auf, den Garten zu betreten. Er selbst setzt den Fuß nicht einmal auf die Schwelle und bleibt mahnend am Tor stehen. Der Kameramann folgt mir samt seinem technischen Equipment still ins Allerheiligste. Es ist ein eigenartiges Gefühl der besonderen Ehre, wel- ches uns beschleicht, als wir zwei diesen zweifellos bedeu- tenden Ort der Menschheitsgeschichte betreten dürfen. Ein schlichter kleiner sonnendurchfluteter Olivenhain mit exakt acht uralten und ehrwürdigen Bäumen; mehr ist es zunächst gar nicht. Ein sanfter Wind lässt die Blätter an den Olivenbäumen leise rascheln. Das also ist der Lieb- lingsplatz Jesu. Eigentlich bin ich jemand, der heiligen Stätten oder so- genannten spirituellen Orten eher skeptisch gegenüber- tritt, da diese Plätze meist nur das sind, was Menschen ­unbedingt in ihnen sehen wollen. Aber dieser Garten ist ganz anders als alles, was ich ­bisher an Vergleichbarem sehen durfte. Er besitzt so et- was wie eine eigenständige Wirksamkeit, die unabhängig von meinem Wünschen, Wollen, Denken oder Betrach- ten ­arbeitet. Mit einem Mal wird etwas in mir sanft »ver- rückt« oder, besser gesagt, gerade gerückt. Wild durch­ einanderkreisende Gedanken in meinem Kopf scheinen sich hier wie von selbst in einer sinnvollen Reihenfolge zu ordnen. Das karge Wäldchen durchströmt spürbar eine liebe- volle Kraft, der ich mich, selbst wenn ich es wollte, nicht

18 erwehren kann. Energetisch ist hier alles im harmonischen Fluss, mein Geist und mein Körper geraten automatisch in Einklang mit dieser zarten und friedvollen Schwingung. Seltsam befreiend fühlt es sich an, still durch diesen Gar- ten zu wandeln. Die heilsame Kraft, die von diesem grü- nen Fleck ausgeht, ist für mich körperlich wahrnehmbar und beschert mir unerwartet einen der schönsten und ­damit unvergesslichsten Momente meines Lebens. Tat- sächlich empfinde ich es als eine Art Gnade, meinen Fuß in dieses gut bewachte Heiligtum setzen zu dürfen. Der Ort selbst wirkt dabei so verletzlich. Ein falsches, lautes oder unbedachtes Wort an diesem Platz würde die friedensstiftende Energie vermutlich trüben, und ein ein- ziger glühender Funke würde ausreichen, um das trockene Grün innerhalb kürzester Zeit lichterloh in Flammen auf- gehen zu lassen. Wie hat dieser fragile Ort bloß die vergangenen 2000 Jahre vollkommen schadlos überstanden? Und das quasi mitten im von Krisen und Krieg geplagten Jerusalem? Ver- mutlich muss man vielen Generationen von argwöhnisch dreinschauenden Wächtern dafür danken, dass der Ort noch intakt ist. Die ungewöhnliche Widerborstigkeit des wachhabenden Hüters kann ich nun nachvollziehen. Es muss im Innersten des Gartens allzeit absolute meditative Stille herrschen. Der hier gewirkt hat, hat seine nachhal­ tigen Spuren im Schatten der Olivenbäume fühlbar hin- terlassen. Als wir den Garten, förmlich verwandelt, durch das kleine Tor nach gut fünf Minuten wieder verlassen, steht da immer noch der schlecht gelaunte Wärter und raunzt mir leise zu: »Haben Sie es gespürt?«

19 Zwar bin ich etwas verblüfft über seine Frage, sage aber dann doch freiheraus: » Ja, das habe ich in der Tat!« »Gut!« Mit diesem gegrummelten Wort verschließt er das Tor auch wieder. Der Produzent lächelt mehr als zufrieden. Und für mich bleibt Jerusalem der bewegendste Ort, an dem ich je sein durfte. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Das, was ich im Oktober des Jahres 2009 in diesem Garten gespürt habe, es festigt meinen Glauben. Dass mein kurioser Weg als Fernsehkomiker und Mode- rator mich nach knapp 26 Berufsjahren in den Garten Gethsemane führen würde, hätte ich wohl selbst für am wenigsten wahrscheinlich gehalten. Eine selten glückliche und durchaus schräge Fügung. Letztlich war der kurze Aufenthalt in Gethsemane ausschlaggebend dafür, dass ich die Kraft und die Überwindung aufbringen konnte, das vorliegende, für mich stellenweise schwierige Buch über- haupt zu schreiben. Glaubt man der Kabbala, der uralten mystischen Tra­ dition des Judentums, dann steckt hinter jedem Namen oder Wort neben seiner offensichtlichen noch eine ver- borgene Bedeutung. Anagrammspezialisten würfeln die Buchstabenfolge eines Wortes so oft neu zusammen, bis sich ihnen ein neuer, geheimer Sinn des Namens erschließt. Ein an der Kabbala interessierter Leser hat das mit dem ­Titel meines ersten Buches versucht und ist zu einem frappierenden Ergebnis gelangt. Ich bin dann mal weg wird zu: »Weib, Mann, Ding, lach!« Diesen Satz dürfen Sie gern als dringende Lebensemp- fehlung meinerseits verstehen. Aber wozu wird wohl Der Junge muss an die frische Luft? Ich bin gespannt.

20 KAPITEL 2 DU BIST WIE ICH, HORST SCHLÄMMER!

Erkenne Gott und das Gute in jedem Gesicht.

Der 11. 11. 2011 ist ein matschig verregneter, nasskalter Tag in Düsseldorf. Ob allein aufgrund des miesen Wetters oder der drolligen­ Schnapszahl wegen, das weiß ich nicht ge- nau, jedenfalls bedeutet dieser Tag eine Zäsur in meinem Leben. Es endet etwas Altvertrautes, und etwas aufregend Neues scheint sich Bahn zu brechen. Richtig hell ist es den ganzen Tag nicht geworden; jetzt am frühen Nachmittag ist es eigentlich schon wieder dun- kel. Selbst in Reykjavik ist das Wetter heute wahrschein- lich freundlicher. Die fünfte, närrische Jahreszeit hält im Rheinland in diesem Jahr eher schlapp ihren Einzug, zu hören ist bestenfalls ein ganz maues Helau, das sich am liebsten wohl unter einem Regenschirm verschanzen würde. Bei diesem Aschermittwochwetter bleibt selbst der närrischste Jeck zu Hause, um jetzt schon für die klei- nen Sünden zu büßen, welche er noch gar nicht begangen hat und die er, wenn das Wetter so bleibt, aus purer Lust­ losigkeit auch nie begehen wird. Der ockerfarbene Horst-Schlämmer-Mantel und das da- zugehörige schwarze Herrenhandtäschchen aus billigem

21 Kunstleder mit Griffschlaufe liegen auf der ausladenden waidmannsgrünen Samtcouch zum Einsatz parat. Alles andere, was noch zur Maskerade gehört, wird Inge später mitbringen. Mein Blick aus dem Fenster der irgendwie ­altdeutsch eingerichteten und überheizten Schleiflack- Präsidentensuite im mondänen Parkhotel trifft auf die größte und wahrscheinlich auch dezibelstärkste Baustelle Europas. Mitten in der schlimmsten und von uns Deutschen mit- verschuldeten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Welt- krieg macht Düsseldorf auf richtig dicke Hose und verlegt eine mehrspurige Brückentrasse mit aller Gewalt unter die Erde. In ferner Zukunft soll hier eine autofreie Grünflä- che für erholungsbedürftige Düsseldorfer entstehen. Die Erholung werden sie auch bitter nötig haben nach all dem Radau. Im Moment sieht es hier noch so aus wie kurz nach ­einem Bombenangriff. Genau deswegen kann man im ­Hotel auch besonders preiswert wohnen, und ich begreife, wieso ich ausnahmsweise mal in einer Präsidentensuite logieren darf. Heute Abend findet die Vorpremiere des MusicalsHape Kerkelings Kein Pardon im Düsseldorfer Capitol Theater statt, morgen dann die eigentliche sogenannte Welturauf- führung, in Anwesenheit vieler aufgebrezelter Fernseh- promis, mit all dem dazugehörigen Medientamtam. Diese Baustelle funktioniert gewissermaßen wie eine Metapher für mein eigenes Leben, denn so wie sich Düs- seldorf gerade mit diesem Großbauprojekt ein wenig über- nimmt, so übernehme ich mich wieder einmal mit mei- nem Job … und überhaupt.

22 Dieses klaffende, wunde Loch mitten in der ansehn­ lichen Landeshauptstadt steht für das mühsame Werden einer vermutlich in Zukunft einmal wunderschönen Oase. Wenn man nicht genau wüsste, was sie da unten lautstark inmitten der ohnehin quirligen Metropole Düsseldorf treiben, könnte man den verantwortlichen Projektleiter getrost für komplett verrückt halten. Es sieht im Moment einfach nicht so aus, als würde oberhalb dieser schlammi- gen und lärmenden Grube jemals eine blühende kleine Landschaft entstehen wollen. War mein Leben zu Beginn nicht auch eine ziemlich auf- gewühlte Baustelle und ein einziges Chaos? Gab es da nicht auch eine klaffende Wunde, die einfach nicht heilen wollte? Hätte ich jemals ernsthaft annehmen können, dass aus dieser Wunde über die Jahrzehnte etwas derart Schönes entsteht? Aus dem Film Kein Pardon von 1993 ist jedenfalls unter der Federführung von Thomas Hermanns ein ausgespro- chen gelungenes Comedy-Musical geworden. Viele inhaltliche und konzeptionelle Diskussionen, Cas- tings, kalte und heiße Proben, ziemlich blöde und ausge- sprochen nette Interview- und Fototermine haben mich deshalb in den vergangenen Monaten immer wieder in meine geliebte alte Wahlheimat geführt. Als ich jenen Streifen damals gemeinsam mit dem ­unvergesslichen Filmproduzenten Horst Wendlandt ver- wirklichen durfte, flog mir parallel dazu das Angebot des ZDF ins Haus, Wetten, dass..? von zu übernehmen. Ich lehnte umgehend und dankend ab, und zwar mit einem klaren: »Nein danke. Ich möchte nicht.«

23 Und nun, knapp 18 Jahre später, wird aus dem Film das Musical, und vor exakt einer Woche habe ich Wetten, dass..? zum zweiten Mal abgelehnt. Diesmal live und im Fernsehen! Direkt neben Thomas Gottschalk, auf dessen berühmter Couch hockend, und somit vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit. Ich hab sie doch nicht mehr alle!? So etwas sagt man nämlich nicht vor laufender Ka- mera ab, sondern schlicht mit einem knappen und amü- santen Pressestatement. Habe ich das jetzt aus verirrtem Größenwahn oder aus purer Erschöpfung getan? Tatsache ist: Ich hab’s getan. Im Rückblick einfach nur peinlich. In den vergangenen Jahren ist mir jedoch so einiges an Schönem, leider aber auch an weniger Erbaulichem in die Quere gekommen. Manche Dinge sind mir dadurch schlicht aus dem Ruder gelaufen. Diese Jahre, von 2009 bis 2011, waren für mich besonders ereignisreich, geprägt von jeder Menge Abenteuer und Wirbel. Mein bereits 2006 erschienener Erstling Ich bin dann mal weg!, der tatsächlich von Gott und der Welt handelt, avancierte gegen alle meine Erwartungen zum erfolg- reichsten deutschen Sachbuch der Nachkriegszeit und ist in 16 Sprachen übersetzt worden. Ulkiger und ehrenvoller Nebeneffekt dieses überwältigenden Erfolges war, dass mich der spanische König wegen besonderer Verdienste um Spanien im Jahre 2011 zum »Illustrissime« ernannte und ich somit quasi zum niederen spanischen Adel ge- höre. Natürlich gab es bei allem Rummel um diesen ­Erfolg vereinzelt auch harsche Kritik. Dilettantisch, unpersön- lich, fade, schlecht geschrieben, naiv, nicht nachvollzieh- bar, eitel, esoterisch, langweilig, redundant, verkorkst und

24 nicht der Rede wert – dies waren die negativen Begriffe, mit denen man das Buch und somit auch mich belegte. Und gelegentlich habe ich auch diese Dinge an mich he­ rangelassen. Mit dem bereits eingangs erwähnten Gero von Boehm und seinem großartigen Team habe ich die sechsteilige ZDF-Reihe Unterwegs in der Weltgeschichte gedreht. Eine Mammutaufgabe. Auf dem eng gestrickten Arbeitsplan standen als Drehorte die Türkei, Ägypten, Israel, Spanien, Italien, Großbritannien, die Niederlande, die Tschechische Republik, Frankreich, Russland, die USA, Mexiko, die Wart- burg und obendrein der neblige Teutoburger Wald. Das alles innerhalb nur eines Jahres. Parallel dazu beschlossen mein langjähriger Lebenspart- ner Angelo und ich schweren Herzens, getrennte Wege zu gehen. Mitten in dieser schlimmen Lebenskrise verschlug es mich paradoxerweise also immer wieder an die schöns- ten Orte des Erdballs. Das will dann alles auch einfach mal verdaut werden. Nur wann eigentlich? An friedliches Innehalten und stille Reflexion ist gar nicht zu denken. Denn an wie vie- len atemberaubenden Schauplätzen und in wie vielen un- terschiedlichen Klima- und Zeitzonen an wie viel Tagen wir gedreht haben, das weiß ich beim besten Willen nicht mehr genau. Es waren unzählige, und manchmal ist die Arbeit auch eine willkommene Ablenkung gewesen. So schön und erlebnisreich das Leben eines Welten- bummlers auch sein mag, ganz ehrlich, die berühmten Sätze: »Willkommen an Bord!« und »Die Schwimmwesten befinden sich unter Ihrem Sitz!« kann ich eine ganze Weile lang einfach nicht mehr hören.

25 Manchmal frage ich mich, wie ich über all die Jahre in die- ser durchaus auch kaputten Branche überhaupt halbwegs heil geblieben bin. Ein Wunder, dass ich nicht tatsächlich so aussehe wie Horst Schlämmer! Zugegeben – der Stress im Showbusiness ist nichts weiter als ein massives Luxus- problem, für das ich zumeist sogar dankbar bin. Es gibt Schlimmeres. Viel Schlimmeres. Davon soll gleich noch die Rede sein. Vor all den Premierenzirkus am heutigen 11. 11. 11 hat der liebe Gott nämlich noch einen wirklich wichtigen Termin gesetzt. Vor zwei Stunden sind mein Freund Henning und ich, aus kommend, am Düsseldorfer Flughafen gelan- det und haben es uns nun in dieser rheinischen Luxus­ residenz an der Kö so gemütlich wie nur eben möglich ­gemacht. Selbst bei geschlossenem Fenster hat man das Gefühl, dass man live auf der Baustelle beim Pressluft- hämmern mit dabei wäre. Wie zum Trotz einen melancholischen alten Schlager trällernd macht Henning sich im Bad nebenan frisch. Er hat einfach immer gute Laune; auch an einem so schwieri- gen Tag wie heute bleibt er sonnig bis heiter. Mir gefällt das. Und hat er mal schlechte Laune, dann handelt es sich bei ihm immer noch um eine abgespeckte Variante von guter Laune. Er ist ein Wunder für mich! Seit gut einem Jahr. Pünktlich um 17.00 Uhr steht Inge vor unserer Hotel- zimmertür. Meine Maskenbildnerin. Eine temperament- volle, dunkelhaarige, herztüchtige Fränkin. Wir kennen und schätzen uns seit 1985 – das ist schon verdammt lange. Alles fühlt sich heute irgendwie so an, als wäre es lange her. Länger als sonst, komischerweise …

26 Nach einer herzlichen Umarmung, einem kurzen Plausch bei einer Zigarette und einem schönen, schnöden Filter- kaffee kramt Inge wie schon so oft die grau gelockte Perü- cke, die schiefen Zähne und den dazugehörigen verfilzten Schnauzbart aus den Untiefen ihres Maskenkoffers her- vor. Beim bloßen Anblick dieser drei Gegenstände be- komme ich wahlweise entweder Kreislauf oder Rücken. Und das ist normalerweise auch gut so. Sie legt alles, so als handele es sich um die Kronjuwelen des niederländischen Königshauses, behutsam auf den kurzerhand zum Schminktisch umfunktionierten Bieder- meiersekretär. Oft werde ich den schmierigen grauen Schlämmer-Kit- tel nicht mehr anziehen können, schießt es mir bei einer eingehenden Untersuchung des abgegriffenen Mantels durch den Kopf. An den Ärmeln gibt der inzwischen trans- parente Stoff infolge des siebenjährigen Einsatzes bereits bedrohlich nach. »Wie bin ich bloß auf die bescheuerte Idee gekommen, derart hässliche Kleidung und eine so abartige Maskerade zur besten Sendezeit im Deutschen Fernsehen zu tragen?«, denke ich laut. Inge lacht, und zwar so, wie sie es immer tut. Schallend, herzlich und ansteckend. »Na, da gab es aber schon weit- aus schlechtere Ideen als diese!« Ob es allerdings so eine gute Idee ist, ausgerechnet heute in diese Kostümierung zu steigen, dessen bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Was für ein verrücktes Phänomen, dass meine schmuddelige und nuschelnde Kunstfigur Horst im Prinzip bekannter und beliebter ist als ich, ihr Darsteller.

27 Henning ist mittlerweile dem Bad entschwunden und hat sich in seinen feinsten, silbergrau schimmernden Zwirn geworfen. »Toll siehst du aus!«, entfährt es Inge – und sie meint ­damit nicht mich. Denn ich lasse mich gerade auf eigenen Wunsch ja höchst professionell von ihr verunstalten. »Also, wie machen wir das jetzt?«, will Henning vorsich- tig in Erfahrung bringen. »Ich gehe mit … oder? Es ist, glaube ich, gut, wenn ich dich heute begleite.« »Allein schaffe ich das nicht«, sage ich mit belegter Stimme. »Es wäre schon toll, wenn du dabei bist!« In solchen Situationen legt sich immer ein klebriger und gegen alle Linderungsversuche resistenter Film auf meine Stimmbänder, der es mir partout nicht mehr gestattet, ­etwas in normaler Zimmerlautstärke zu äußern. Inge ihrerseits bekundet wie immer Solidarität und ab- solute Loyalität. »Wenn du willst, gehe ich auch mit! Kein Thema!« Dass sie mich heute schminkt und ganz nebenbei auch moralisch stärkt, kostet niemanden einen Cent. Sie ist ge- kommen, weil sie es für richtig hält. »Nein, lass mal, Inge …«, sage ich zwar dankend, aber trotzdem bestimmt. »Es sollten auch nicht zu viele Men- schen dabei sein. Ich kenne das Mädchen doch gar nicht.« Mit dem breiten Mastix-Pinsel verteilt Inge inzwischen großzügig den gleichnamigen Perückenkleber unter mei- ner Nase. Der Schnauzbart muss ja schließlich irgendwie halten. Dieses eklige Zeug mit dem schönfärbenden Na- men »Mastix« hat die bösartige Eigenschaft, bei direktem Hautkontakt schlagartig eiskalt und gleichzeitig ätzend heiß zu werden. Dabei stinkt es penetrant nach einer Mi-

28 schung aus Harz, Dieselkraftstoff und ranzigem Marzi- pan. Irgendwie liebreizend süßlich, aber auch verdorben sauer. Und fragen Sie mich bitte nicht, woher ich weiß, wie ranziges Marzipan riecht, ich weiß es natürlich nicht. Aber eines weiß ich, nämlich, dass Mastix genau so riecht. Bäh! Und das meistens direkt unter meiner Nase. Wieder und wieder habe ich mir in den vergangenen fast dreißig Jahren diese zähflüssige Teufelstinktur unter die Nase, an die Schläfen, auf die Stirn, ans Kinn oder sonst wo- hin schmieren oder reiben lassen, damit irgendein Fremd- haar zu mehr oder weniger gelungenen Fernseh­unter­ haltungszwecken bombenfest in meinem Gesicht oder auf dem Kopf halten konnte. So wurde ich zu Hannilein, Siggi Schwäbli, Beatrix, dem Hurz-Sänger Miroslav Lemm, Rico Mielke, Gisela, Uschi Blum, der Paartherapeutin Evje van Dampen und – last, but not least – zu Horst Schlämmer. Meine Maskerade ist perfekt. Der Kleber ätzt und riecht streng, und ich sehe nun so aus, als würde ich dasselbe tun. Heute passiert das alles allerdings nur auf Wunsch ­einer einzelnen jungen Dame. Melanie. So heißt die kleine Duisburgerin. Sie ist gerade einmal neun Jahre alt und hat nach Aussage ihrer behandelnden Ärzte nicht mehr viel Zeit auf diesem komischen und manchmal recht zickigen Planeten. Eine Organisation, die todkranken Kindern ihren letzten Wunsch erfüllt, hat mich angeschrieben und mir von Me- lanie erzählt. »Eine Ballonfahrt und einmal Horst Schläm- mer treffen!« Das stand auf ihrem bescheidenen Wunsch- zettel. Ballon gefahren ist sie bereits, und es soll toll gewesen sein. Nun will sie Horst Schlämmer kennenlernen. Wohl-

29 gemerkt, nicht mich. Von mir hat sie wahrscheinlich noch nie etwas gehört. In Ich bin dann mal weg habe ich eine ähnliche Begeg- nung bereits beschrieben. Damals, 1992, begegnete ich – übrigens auch in Düsseldorf – der 15-jährigen Alexandra. Das Erlebnis hat mich erschüttert und verändert. Des­ wegen weiß ich von der Kraft und der Wucht, die in derart endgültigen Begegnungen steckt. In meinen frühen Sket- chen spielte ich oft eine von mir erfundene Melanie, die pausbäckig, frech und sehr lustig war – die kleinere Schwester des vorlauten Hannilein. Auf was für eine Mela- nie werde ich heute treffen? Es klopft an die Tür. Das muss Nancy sein. Meine wuselige, kessblonde Managerin Elke hat in ihrer Heimatstadt Berlin zu tun, und so wird ihre weitaus ruhi- gere Assistentin sich um die Koordination der heutigen Termine kümmern. Ich öffne die Tür. »Melanie und ihre Eltern sind gerade unten in der Lobby angekommen. Das Hotel war so freundlich und hat extra eine andere Suite vorbereitet, wo ihr euch in Ruhe tref- fen könnt. Du bist ja schon umgezogen. Ich begleite dich hi­nauf, okay?«, bereitet Nancy mich vor. Wie vor jedem Auftritt mustert mich meine Masken- bildnerin noch einmal eingehend und kritisch. Etwas scheint nicht zu stimmen, denn Inges suchender Blick landet mit weit aufgerissenen Augen auf dem Sofa. »O Gott, bloß nicht den Schnapper aus Nappa verges- sen!« Inge reißt die Herrenhandtasche vom Sitzmöbel und wirft sie mir entschlossen zu. Recht hat sie. An dem Herrenhandtäschchen hält sich Horst Schlämmer nämlich immer fest. Sonst weiß er par-

30 tout nicht, wohin mit den Händen. Ohne diese Tasche ist er nicht er selbst. Gemeinsam mit Nancy fahren Henning und ich mit dem Aufzug in die oberste Etage des schicken Hauses, um kurz danach die stilvolle und angenehm beleuchtete Suite zu betreten. Eigentlich ein sehr schöner Ort. Die ­Hotelangestellten wussten von der geplanten Begegnung und haben alles auf berührende Weise liebevoll herge­ richtet. »Gut. Dann werde ich deinen Gast jetzt in der Lobby in Empfang nehmen und hierher begleiten«, erklärt Nancy in besänftigendem Tonfall und zieht die Tür wieder leise hinter sich ins Schloss. Der Baustellenlärm verebbt, und so herrscht bald eine eigentümlich friedvolle Feierabendstimmung in den Räumlichkeiten. An der schwarzen Herrenhandtasche nestelnd, setze ich mich in einen der schweren grünen Sessel – und Herr Schlämmer versinkt fast darin. »Das sieht sicher lustig aus«, denke ich laut, »und Horst wirkt dadurch kleiner.« Vielleicht ist das gut? Oder eher nicht? Wie lege ich Horst Schlämmer eigentlich an? Dies ist kein Auftritt wie alle anderen, sondern das gnadenlose Leben. »Meinst du, ich sollte mich im Laufe des Gesprächs mit Melanie langsam demaskieren? Damit sie sieht, wer ich wirklich bin?«, frage ich Henning. »Bloß nicht! Sie will Horst Schlämmer treffen«, bremst er mich laut flüsternd. »Das musst du so gut gelaunt wie nur eben möglich durchziehen. Sonst ist sie vielleicht ­enttäuscht.«

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