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Kai Artinger

Graphic Novels und Fotografie Das Geschichts- und Frauenbild in zwei deutschen Graphic Novels

In jüngster Zeit hat es zahlreiche Veröffentlichungen von deutschen Graphic Novelists gegeben, die von wahren historischen Ereignissen und Persönlichkeiten erzählen. Diese Entwicklung, die Parallelen zur amerikanischen Comicszene aufweist, ist relativ neu in Deutschland.1 Sie illustriert einerseits die zunehmende Anerkennung dieser Kunstgattung und andererseits das Interesse ihrer Konsumenten an historischen Stoffen. Die Graphic Novel scheint ein geeignetes Medium zu sein, Geschichte Leuten nahe zu bringen, die sich nicht zu den Lesern historischer Sachbücher zählen. Im Jahr 2010 erschienen in Deutschland zwei Graphic Novels, die starke Beachtung bei der Kritik fanden. Sie veranschaulichen sehr gut, wie Geschichte in dieser Kunst- und Literaturgattung behandelt wird. Es handelt sich um Reinhardt Kleists „Castro“ und Arne Bellstorfs „Baby’s in black“. „Castro“ erzählt die Biografie des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro von der Kindheit bis heute, „Baby’s in black“ die Begegnung der jungen deutschen Fotografin Astrid Kirchherr mit den Beatles in im Jahre 1960. Beide Bücher machen deutlich, welch große Bedeutung die Gattung der historischen Biografie für die deutschen Graphic Novels hat. Die meisten von ihnen sind als biografische Erzählung angelegt. Doch zugleich wird an Kleists und Bellstorfs Büchern sichtbar, wie sehr sich die beiden Autoren auf historische Fotografien stützen, um ihrer Bildwelt Authentizität zu verleihen. Doch während Bellstorf ein sehr einfühlsames Porträt einer jungen deutschen Frau und ihrer Liebe zu einem jungen englischen Musiker und Maler zeichnet, spielen Frauen bei Kleist nur eine marginale Rolle. Und das, obwohl beide Geschichten in der gleichen Zeit spielen. Die Gründe für das unterschiedliche Geschichts- und Frauenbild können im unterschiedlichen Umgang der Autoren mit historischen Fotografien gefunden werden. Dieses Bildmedium bestimmt das Geschichtsbild in den Graphic Novels mit. Kleist griff weitgehend auf historische Fotos zurück, die von männlichen Fotoreportern und Fotojournalisten

1 Laut des Berliner Tagesspiegel, Nr. 21357, Sonntag, 10. Juni 2012, S. 24.gehören die Graphic Novels zu den am stärksten wachsenden Segmenten auf dem deutschen Buchmarkt. Der Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne schreibt dazu: „Wie groß der hiesige Comicmarkt tatsächlich ist, lässt sich jedoch nur schätzen. Konkrete Zahlen rücken die Verlage selten heraus. Martin Jurgeit, Chefredakteur der Fachzeitschrift ‚Comixene’, errechnete 2009 für das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, dass der Bruttoumsatz der deutschen Comicbranche mehr als 200 Millionen Euro im Jahr beträgt“; in: Unsterbliche Helden. Der Markt für Bildergeschichten wächst – dank anspruchsvoller Titel und unverwüstlicher Klassiker, Tagesspiegel, Nr. 21357, Sonntag, 10. Juni 20, S. 24. 2 geschossen wurden. Diese hatten einen ganz spezifischen („männlichen“) Blick auf Frauen und „ihre“ Welt. Nicht zufällig wählte Kleist als Erzählerfigur einen Fotoreporter. Ganz anders sieht es bei Bellstorf aus. Dieser stützt sich auf das historische Fotomaterial einer jungen Fotografin, die zugleich auch Hauptperson seiner Erzählung ist. Er hat damit seiner Graphic Novel einen „weiblichen“ Blick zugrunde gelegt. Mit der Geschichte der deutschen Fotografin Astrid Kirchherr vermag er eine Emanzipationsentwicklung der Frauen in Deutschland in den frühen 1960er Jahren darstellen und das Porträt einer Jugend im Aufbruch zeigen. Kleists Castro-Biografie könnte man dagegen als ein Beispiel dafür nehmen, wie die Nähe des Autors zu seinen fotografischen Bildvorlagen und deren unkritische Verwendung zu einer Reproduktion männlich bestimmter Geschichtsbilder und Geschichtsvorstellungen führen.

Die Bedeutung der Biografie für Graphic Novels in Deutschland

Auf dem deutschen Buchmarkt sind Biografien eine tragende Säule des Geschäfts. Sie befriedigen einen „großen Hunger nach geschriebenem [und im Falle des Comics: nach gezeichnetem, K.A.] Leben“.2 Die belletristischen (Populär-)Biografien fanden nach dem Ersten Weltkrieg große Verbreitung und diese Tradition ist ungebrochen. Allerdings begann in den 1960er Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft die Biografik zu problematisieren. Infolge des Siegeszuges der Sozial- und Mentalitätsgeschichte büßte die klassische Biografie ihre Bedeutung in der Geschichtswissenschaft ein. Die Idee, dass große Männer die Geschichte machen, schien endgültig überholt zu sein. Ab den 1980er Jahren setzte in Westdeutschland eine neue Welle von Biografien ein und dieser Trend hält an. Heute machen sie unter allen Neuerscheinungen der historischen Forschungsliteratur einen wachsenden Anteil aus. Die Historiker besannen sich auf die narrativen Möglichkeiten des Genres. Die Biografie sucht einen subjektiven Zugang zu einer historischen Persönlichkeit und stützt sich trotzdem auf intensive wissenschaftliche Studien. Das wissenschaftliche Schreiben ist bei ihr von Annäherung und Distanz bestimmt, während man die chronologisch-teleologische Darstellungstechnik verwarf. Die Personalität wird aus heterogenen Bruchstücken der Überlieferung zusammengesetzt und umkreist. Diese Strategie wurde als wahrheitsfördernd anerkannt und trug der Biografik neue Bedeutung ein. Demgegenüber erreichen die

2 Das bemerkte Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Journalist, angesichts des Literaturbooms in Deutschland, 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; s. http://content.stuttgarter- nachrichten.de/stn/page/1895431_0_9223_-neue-biografien-politiker-poeten-und-ein-jahrtausendgenie.html, Stand: 25.05.2012. 3 belletristischen (Populär)Biografien sehr selten den wissenschaftlichen Standard und stehen daher in der Kritik, die Subjektivität über Wahrhaftigkeit zu stellen und vor allem die Sehnsüchte und Vorurteile ihrer Leserschaft zu bedienen. Es kann nicht weiter verwundern, dass angesichts der intensiven Auseinandersetzung mit den Produktionsformen von Erinnerung im Allgemeinen und der Konstruktion von Geschichte und „kulturellem Gedächtnis“ im Besonderen in den letzten Jahrzehnten auch die Biografie und ihre Theorie kritisch untersucht wurden.3 Dabei wurde nur einmal mehr offenbar, dass dem hohen Grad an Reflexion auf der wissenschaftlichen Seite das geringe Maß an kritischem Bewusstsein in der populären Biografik gegenübersteht. Dieser Sachverhalt ist bedeutsam für die Graphic Novels, weil viele der in Deutschland produzierten Bildromane historischen „Biografien“ angenähert sind, d. h. sich inhaltlich und formal stark an ihnen orientieren. Sie sind von ihrer Struktur her „Individualbiografien“, die meistens nur wenige Anteile von Sozial- und Epochenbiografien aufweisen. Die Betrachtung des Individuums geht oft zu Lasten der Darstellung des in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingebundenen Subjekts. Um sich von einer Biografie zu unterscheiden und einem Roman / einer Novel zu entsprechen, ist die Biografie in deutschen Graphic Novels in der Regel in eine fiktive Rahmenhandlung eingebunden. Ein gutes Beispiel dafür ist „Gift“ von Peer Meter und Barbara Yelin (2010). Diese Graphic Novel weist eine Erzählstrategie auf, die typisch für das Genre ist. Eine junge Reiseschriftstellerin wird zufällig Augenzeugin, wie die Justiz der norddeutschen Hafenstadt mit der mehrfachen Mörderin Gesche Gottfried verfährt und wie diese schließlich zum Tode durch das Schwert verurteilt wird. „Gift“ handelt von einem berühmten historischen Kriminalfall in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Gottfried brachte fünfzehn Menschen um, darunter zwei Ehemänner, die Eltern und alle ihre Kinder. An ihr wurde zum letzten Mal in der Geschichte Bremens die Todesstrafe vollstreckt. Dieser Kriminalfall erlangte große Bekanntheit und machte Gesche Gottfried zu einer der berühmtesten Frauen in der Geschichte der Hansestadt. Reinhard Kleists „Castro“ und Arne Bellstorfs „Baby’s in black“ sind ebenfalls biografisch angelegte Erzählungen. Der Autor und Zeichner Reinhard Kleist ist ein ausgewiesener Spezialist für biografische Stoffe. Sein preisgekrönter Bildroman über das Leben und Werk von Johnny Cash („Cash. I see a darkness“, 2008) brachte ihm den internationalen

3 Erst kürzlich veranstaltete das kunsthistorische Seminar der Universität Basel / Schweiz eine internationale Tagung zum Thema „Die Biografie. Mode und Universalie?“ (Dezember 2010). Im gleichen Jahr untersuchte eine Tagung der FernUniversität Hagen / Institut für Geschichte und Biografie das Verhältnis von AutoBiografie und Zeitgeschichte. Das Sterling and Francine Clark Art Institute in New York machte in den Jahren 2002-2003 Workshops zu „Art History and Biography“. In Europa gibt es Institute wie das Wiener Ludwig Boltzmann Institut für die Geschichte und Theorie der Biografie, die sich auf die Geschichte der Biografie spezialisiert haben. 4

Durchbruch und wurde in neun Sprachen übersetzt.4 Da es einen gut entwickelten Markt für Biografien in Deutschland gibt und diese nicht nur unter den meistverkauften historischen Büchern rangieren, sondern auch einen großen Anteil aller gedruckten Bücher ausmachen, ist es erklärlich, warum sich Comic-Autoren und Zeichner gern historisch-biografischen Themen zuwenden. Auch ein Blick auf die Cover veranschaulicht diese Entwicklung.

Die hier genannten Graphic Novels erzählen historische Kriminal-, Abenteuer- und Liebesgeschichten. Es gibt den historischen Kriminalfall (Gift), die abenteuerliche Geschichte eines charismatischen Revolutionsführers und die ungewöhnliche und ebenfalls authentische Geschichte der Begegnung zwischen den Beatles und einer jungen deutschen Fotografin im Hamburg der frühen 1960er Jahre. Noch ein weiterer Aspekt ist in den Blick zu nehmen, der zur gestiegenen Akzeptanz der historischen Comic-Biografie beigetragen habe könnte. Seit den 1990er Jahren hat sich die Geschichtswissenschaft auch verstärkt Bildern als historische Quelle zugewandt und die Frage der „Augenzeugenschaft“ untersucht.5 2008/9 gab der deutsche Geschichtsprofessor Gerhard Paul den zweibändigen Bilderatlas „Das Jahrhundert der Bilder“ heraus, der einen Streifzug durch das kulturelle (Bild-)Gedächtnis der Deutschen im 20. Jahrhundert unternimmt.6 Bilder sind für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft längst nicht mehr nur Illustration von historischer Erzählung, sie selbst sind Geschichtsquellen, in denen sich „Augenzeugenschaft“ manifestiert hat. Angesichts des gewandelten Bildverständnisses und Bildbewusstseins erfährt auch die Graphic Novel eine Aufwertung, besonders dann, wenn sie selbst auf authentisches, d. h. dokumentarisches Bildmaterial zurückgreift und dieses zur Grundlage ihrer Erzählung macht. Sie erhält dadurch selbst die Weihen einer scheinbaren Wahrheit.

4 Sie wurde vielfach ausgezeichnet (u. a. 2010 Nomierungen für die renommierten US-amerikanischen „Eisner“- und „Harvey“-Awards). 5 Z. B. Arthur E. Imhoff, Im Bildersaal der Geschichte oder ein Historiker schaut Bilder an, München 1991; Peter Burke, Augenzeugenschaft, Bilder als historische Quellen, Berlin 2010 (Eyewitnessing: The Uses of Images as Historical Evidence, London 2001). 6 Das Jahrhundert der Bilder. Bilderatlas des 20. bis zum 21. Jahrhundert, Gerhard Paul (Hg.), Göttingen 2009. 5

Die Bedeutung der Fotografie

Die historische Authentizität beider Erzählungen beruht auf eine im hohen Grade wirklichkeitsgetreue Schilderung von Personen, Ereignissen und Orten. Die Bilder sollen die historische Realität so genau wie möglich wiedergeben. Dafür stützen sich Kleist und Bellstorf auf Fotografien, die es ihnen ermöglichen, historisch getreu darzustellen. Insbesondere die Ereignisse auf Kuba und die beiden Persönlichkeiten Fidel Castro und Ernesto Che Guevara sorgten für eine große internationale Medienresonanz, die viele Bilder hervorbrachte. Castro war zudem ein Public Relations-Talent, der die Medien für seine Sache einzuspannen wusste und das Rampenlicht liebte. Dadurch sorgte er für einen kontinuierlichen Fluss an Bildern über Jahrzehnte. Bellstorf, der wie Astrid Kirchherr in Hamburg wohnt, hatte wiederum das Glück, auf das Fotoarchiv seiner Heldin zurückgreifen zu können und dadurch einen exklusiven Zugang zu frühen Aufnahmen zu erhalten. Kirchherr hatte alle Hauptfiguren in „Baby’s in black“ selbst in Porträtfotos festgehalten Das gab Bellstorf die Möglichkeit, sich beim Entwurf seiner Figuren eng daran zu orientieren. Sie war in ihren künstlerischen Anfängen vor allem Porträtfotografin, etwas später, Mitte der 60er Jahre, machte sie auch an der Sozialreportage angelehnte Fotos über das der frühen 60er, der Geburtsstadt der Beatles. (Abb. 1)

Abb. 1: Astrid Kirchherr, Liverpool, 1960

Fraglos hatten die fotografischen Vorlagen bei beiden Autoren großen Einfluss auf die visuelle Darstellung. Trotzdem fällt das Ergebnis unterschiedlich aus. Kleist nutzte insbesondere bekanntes Material, in dem die herausragende Persönlichkeit und das Umfeld geschildert werden. Bellstorf verwendete Fotomaterial, das von einer damals noch unbekannten Fotografin produziert wurde. Ihr Werk tritt erst heute in den Fokus der Fotografiegeschichte und Stadtgeschichte Hamburgs. Noch einen weiteren Unterschied gibt es: Während mit der Person Castro das große historische Ereignis im Zentrum steht, nimmt 6 sich Bellstorf einer Alltagsgeschichte an, die erst Jahrzehnte später eine historische Bedeutung erlangt. Es ist davon auszugehen, dass die Bildvorlagen Einfluss auf die Konstruktion der Erzählungen haben. Kleist wählte zum Beispiel nicht zufällig einen Fotoreporter als Erzähler. Bei dem Material, das er verwendete, lag diese Entscheidung nahe. Bellstorf stellte gleich die junge Fotografin Kirchherr in den Mittelpunkt seiner Erzählung, die durch die ersten professionellen Fotoporträts der Beatles bekannt wurde und mit ihnen heute selbst Bestandteil der Geschichte der Popmusik und Popkultur ist. In beiden Graphic Novels spielen also die Fotografie und die Fotografen eine hervorragende Rolle. Die Fotografie und die Arbeit der Fotografen haben erstens einen Anteil an der Konstruktion der Handlung, der Entwicklung der Figuren und des Geschichtsbildes, und zweitens üben sie Einfluss aus auf die grafische Umsetzung der Graphic Novel. Die Ästhetik der Zeichnung ist von der Fotografie nicht unabhängig. Betrachten wir den ersten Aspekt. Die meisten Fotos über die kubanische Revolution wurden von Männern gemacht. Ende der 50er Jahre waren es in erster Linie Fotografen, die die Krisenherde und Kriegsschauplätze der Welt bereisten und sich den Gefahren aussetzten. Eine große Ausnahme war die amerikanische Fotografin Elizabeth „Lee“ Miller, die wegen ihrer Arbeit den Titel „weiblicher Robert Capa“ verliehen bekam. Der Fotojournalismus wurde von Männern dominiert und entsprechend fiel das Bild der Frau aus. Wie selten und ungewöhnlich Frauen tatsächlich in diesem Beruf waren, macht der Roman „Die Jahre mit Laura Díaz“ (1999) des kürzlich verstorbenen großen mexikanischen Autors Carlos Fuentes deutlich. Dieser erzählt das Leben einer Frau, die erst spät zum Fotografieren kommt und in den 60er Jahren mit Aufnahmen von Straßenunruhen in Mexiko City auf sich aufmerksam macht. Hier ist es erstmals, lange nach Tina Modotti, wieder eine Frau, die ihre Sicht der Welt mit der Kamera mitteilt. Die von ihr eingenommene Perspektive unterscheidet sich von der ihrer Kollegen, so wie sich auch Astrid Kirchherrs frühe Porträtaufnahmen dadurch auszeichnen, dass sie einen anderen Blick auf die jungen Männer ihres Umfeldes wirft. Die Fotos von ihrem Freund , der in „Baby’s in black“ ebenfalls eine wichtige Rolle spielt und in der Realität zu einem Mitstreiter und Musiker der Beatles wurde,7 zeigen einen jungen, zarten, fast feminen Typ, den man nicht unbedingt mit der damaligen Rock & Roll-Szene und der schwarzen Lederkluft der Rocker in Verbindung bringt. Dasselbe gilt für das Bild der Beatles, deren Band damals noch fünf Musiker umfasste. Bellstorf hält sich sehr genau an seine fotografischen Vorlagen, seine Zeichnungen fangen die Weichheit und

7 2009 entstand Jörg Bundschuhs Musikdokumentarfilm „All you need is Klaus“, der Klaus Voormanns Leben und seine Beziehung zu den Beatles behandelt. Sein Kinostart war in Berlin am 30. Juni 2011. 7

Verletzlichkeit der Gesichter ein und das sensible Wesen der jungen Männer. Auch bei der Darstellung seiner Heldin, der Figur der Astrid, versucht er der frühen fotografischen Selbstdarstellung der Künstlerin sehr nahe zu kommen. Die Ruhe, die Beherrschtheit und Nachdenklichkeit, das Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlt, kommen in ihren Selbstporträts deutlich zum Ausdruck. Bellstorf versucht seiner Figur diese Züge zu verleihen. Er lässt eine junge, selbstbewusste Frau auftreten. In Kleists Erzählung fehlt eine solche selbstbewusste Frauenfigur. Es mag an dem Material gelegen haben, das die kubanischen Geschehnisse fast ausschließlich aus der Sicht von Männern zeigt. Im Vordergrund stehen die Revolutionäre, die Revolutionärinnen verbleiben im Hintergrund oder haben nur Bedeutung als Ehefrauen oder Geliebte. In der Anfangsphase der kubanischen Revolution erscheinen sie wie exotisches Beiwerk. Amazonen, Frauen, die im Dschungel „ihren Mann“ stehen. Vor diesem Hintergrund ist Kleists Wahl eines Fotoreporters als Erzähler nachvollziehbar, wenn auch eine Fotografin als Erzählerin nicht undenkbar gewesen wäre. Doch wie selbstverständlich Kleist von Männern in diesem Beruf in der damaligen Zeit ausgeht, macht der wichtige Prolog deutlich: Dort führt er sogar gleich zwei Fotografen ein! Es drängt sich der Verdacht auf, Kleist habe eine unreflektierte Haltung zu dem historischen Bildmaterial eingenommen mit der Folge, dass er „männlich fixierte“ Geschichtsbilder und Geschichtsvorstellungen in „Castro“ reproduziert. Dagegen gelingt es Bellstorf, aus dem Leben einer Frau zu erzählen, die selbst zur Akteurin wird und Geschichte macht. Er setzt dem in den 60er Jahren weit verbreiteten konservativen Frauenbild ein anderes entgegen und wird in seiner Sichtweise gestützt durch die heutige Wertschätzung, die das Werk von Kirchherr genießt. 2011 zeigte die University of Liverpool Victoria Gallery & Museum eine Retrospektive ihres Œuvres.8 Kleists Übernahme der von Männern produzierten Geschichtsbilder führt dazu, wie wir noch sehen werden, dass er zum Beispiel der Frauenemanzipation in der kubanischen Gesellschaft keine Beachtung schenkt, weil er sie nicht sieht. Gerade dieser kam aber eine wichtige Bedeutung zu. Bellstorf entkommt durch die „Frauenperspektive“ dem einseitigen Geschichtsbild. Indem er sich in das Denken, den Blick und das Handeln seiner Protagonistin einfühlt, schafft er es, die Anfänge der Frauenemanzipation in (West-)Deutschland auf unprätentiöse Weise zu erzählen.

8 Astrid Kirchherr, A Retrospective, Liverpool 2010. 8

Die grafische Konstruktion von historischer Authentizität

Beim zweiten Aspekt – dem Einfluss der Fotografie auf die Zeichnung – geht es um die Beziehung von grafischer Ästhetik und Fotografie. Beide Autoren nutzten Schwarzweißfotos als Vorlagen. Vom Film kennen wir, dass in Schwarzweißbildern gehaltene Rückblenden einen dokumentarischen Charakter erhalten, weil der frühe Film nur schwarzweiße Bilder kannte. Auch historische Fotografien sind bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in Schwarzweiß. Mit dieser Reduktion der Farbe assoziiert der Rezipient Historizität. Kleist und Bellstorf gleichen sich durch die Wahl der Schwarzweißzeichnung ihren historischen Fotovorlagen an und unterstreichen dadurch die Authentizität ihrer Darstellung. Kleist verwendet Pinsel, Feder und Tusche und schafft dadurch sehr harte Helldunkelkontraste, die auch gut das Licht der Tropen wiedergeben. Bellstorf benutzt den Kohlestift und versucht mit ihm die Tiefe der Schwarzweißfotos von Kirchherr in die Grafik zu übersetzen. Aber noch ein weiterer Aspekt spielt bei seiner grafischen Arbeit mit hinein, den er auch selbst in seiner Novel anspricht: die Bedeutung des niederländischen Malers Rembrandt Harmenszoon van Rijn für den Einsatz von Licht in der Porträtdarstellung (Abb. 2).

Abb. 2: Arne Bellstorf, S. 54, Panel 3-6

Der Anspruch der jungen Kirchherr ist es, im Ausdruck mit Rembrandts Bildnissen zu konkurrieren, zumindest es ihm gleichzutun. Sie möchte etwas in der Fotografie erreichen, das bis dahin für nicht möglich gehalten wurde und der Malerei vorbehalten zu sein schien. Der Zeichner Bellstorf lässt sich von diesem Anspruch leiten. Auch er wandelt auf den Spuren 9 des Vorbilds Rembrandt, indem er, wie der Maler, ein spezielles Licht schafft, das für malerische Helldunkelkontraste sorgt und der grafischen Linie ein Eigenleben zugesteht, wodurch die Zeichnung lebendig und ausdrucksstark wird (Abb. 3 / 4).

Abb. 3: Arne Bellstorf, nach Selbstporträt von Abb. 4: Astrid Kirchherr, , 1960 Rembrandt

Untersuchen wir nun im Einzelnen, wie in beiden Graphic Novels Geschichte konstruiert wird.

„Castro“

„Castro“: Schon der auf den Nachnamen reduzierte Buchtitel gibt dem Bildroman einen biografischen Anstrich. Er legt eine Biografie in Comic-Form nahe. Und tatsächlich ist die „Novel“ in weiten Strecken einer solchen ähnlicher als einem in Bildern erzählten, fiktionalen Roman. Sein Schöpfer ist Jahrgang 1970 und studierte Grafik und Design an einer Fachhochschule. Er lebt in Berlin. Bereits für sein Debüt „Lovecraft“ wurde er 1996 mit dem „Max und Moritz“-Preis ausgezeichnet. Zur Vorbereitung von „Castro“ bereiste Kleist im Jahre 2008 mehrere Wochen lang Kuba und hielt seine Eindrücke in Fotos und Zeichnungen fest. Auf der Grundlage dieses Materials entstand sein Comic-Buch „Havanna. Eine kubanische Reise“. Für „Castro“ engagierten er und der Verlag den deutschen Journalisten und Publizisten Volker Skierka als Fachberater für kubanische Geschichte. Dies wird ausdrücklich auf der Titelseite des Buches angegeben und soll wohl die Qualität der historischen Darstellung unterstreichen helfen. Skierka hatte 2001 eine der weltweit bekanntesten Castro-Biografien veröffentlicht und 2004 die Fernsehdokumentation „Fidel 10

Castro. Ewiger Revolutionär“ produziert, deren englischsprachige Version in über 25 Länder verkauft wurde. Castros Leben und die Geschichte der kubanischen Revolution wird von einem Ich- Erzähler vorgetragen. Kleist erklärt die Einführung dieser Figur damit, dass Castro eine Persönlichkeit sei, die keine Identifikationsmöglichkeiten für den Leser bietet. Deshalb hätte er eine andere Figur einführen müssen.9 Wie schon in „Gift“ handelt es sich dabei um jemanden von der schreibenden Zunft, der ins Alter gekommen ist. Es ist ein alter Mann namens Karl (Carlos) Mertens, der in Deutschland geboren wurde und als junger Journalist und Fotograf vor dem Sieg der Revolution auf die Insel kam, um mit Fidel Castro im Dschungel ein Interview zu machen. Er kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück, sondern wurde ein Sympathisant der Revolution, der sie als ausländischer Beobachter mit seinen Berichten und Fotos begleitete. In der Figur des Karl Mertens ist der „Augenzeuge“ und Chronist angelegt, der in seinem (Bild-)Bericht Rechenschaft über die historischen Ereignisse ablegt. „Castro“ wird – ebenfalls wie in „Gift“ – retrospektiv erzählt. Der inzwischen vereinsamte alte Mertens erinnert sich und führt einen weiteren Erzähler ein, den „Professor“, einen Revolutionär und ehemaligen Studenten der Literaturwissenschaften, der „Juan“ gerufen wird. Karl lernt Juan im Dschungelcamp Castros kennen, als er mehr über Fidels Vergangenheit in Erfahrung bringen möchte. Juan, der Schriftsteller werden und ein Buch über die Revolution verfassen will, sammelt alles Material über den Aufstand. Er kennt Castros Biografie, da die beiden jungen Männer sich auf der Universität von Havanna kennen gelernt hatten und sich Juan der Widerstandsgruppe Castros gegen das Regime des kubanischen Diktators Batista anschloss. Während Juan über die Anfänge des Aufstandes berichtet, erzählt Karl über den siegreichen Marsch auf Havanna und den Fortgang der Revolution. Juan tritt immer dann als Erzähler auf, wenn kritische Einblicke in den kubanischen Sozialismus gegeben werden. Denn Juan, der Freigeist, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wird als Homosexueller wegen seiner sexuellen Disposition verfolgt. Er entfremdet sich zunehmend von Castros Regime und wird schließlich zum erbitterten Kritiker des Systems. Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte: einen Prolog, drei Kapitel und einen Epilog. Während im 1. Kapitel Castros Kindheit und Jugend und seine Entwicklung zum revolutionären Widerstandskämpfer geschildert werden, berichtet das 2. Kapitel vom Sieg der Revolution, ihrem Scheitern und deren Gründe. Das 3. Kapitel, das vom Umfang sehr viel kürzer ist als die anderen beiden (24 Seiten zu 124 Seiten/1. Kap.; 113 Seiten/2. Kap.), erzählt von den Jahren des Niedergangs, der Mangelwirtschaft und Massenflucht nach dem

9 Kleist im Gespräch anlässlich einer Buchvorstellung in Berlin am 03.02.2011. 11

Untergang der Sowjetunion und dem Wegfall der wirtschaftlichen Unterstützung durch Russland. Karl berichtet von der Verfolgung der politischen Oppositionellen und kritischen Intellektuellen. Zugleich wird seine zunehmende Vereinsamung deutlich, die mit der Ausreise seiner kubanischen Frau Lara, einer ehemaligen Mitkämpferin Castros, nach Miami ihre Klimax erreicht. Zur gescheiterten Revolution kommt Karls gescheiterte Ehe hinzu. Dieser zweite Erzählstrang der Geschichte von Karl, Lara und Juan bleibt unterentwickelt. Anstatt diese Figuren psychologisch durchzuzeichnen und einen wirklichen historischen Roman zu erschaffen, erzählt Kleist letztlich nur die Geschichte des Máximo Líder. Diese Schwäche wurde von der deutschen Literaturkritik gesehen.10 Ganz anders dagegen ist die Graphic Novel zum gleichen Thema vom französischen Comic-Zeichner Jacques Tardi. Dieser behandelt in seiner Quadrologie „Die Macht des Volkes“ ebenfalls das Thema Volksaufstand und Revolution. Die vier Bände sind nach dem historischen Roman von Jean Vautrin über die Pariser Kommune entstanden (2002-2005). Aber anders als Kleist stellt Tardi tatsächlich das Volk mit repräsentativen Typen in den Mittelpunkt, jedoch nicht eine einzelne Führerpersönlichkeit. Der kurze Epilog schließlich führt die Erzählung von „Castro“ in die Gegenwart. Ein auktorialer Erzähler lässt den heute über achtzigjährigen und krebskranken Fidel abschließend zu Wort kommen. Der Leser wohnt einer Diktierstunde zwischen ihm und seinem Sekretär im Krankenzimmer bei und hört zu, wie der abgetretene Maxímo Líder über US-Präsident Barak Obama und die Revolution philosophiert. Die Bildsequenz will zeigen, dass Castro bei aller Selbstkritik und trotz der Einsicht in Fehler und Niederlagen unbeirrt an der Utopie einer gerechten Gesellschaft und dem revolutionären Prinzip festhält. Er ist weiterhin von seiner historischen Mission und Kubas revolutionärer Rolle in der Weltgeschichte fest überzeugt.

Die Entstehung des Jahrhundertfotos

Bereits die fünf Seiten des Prologs geben wesentliche Einblicke in Kleists Geschichtsverständnis und seinen Umgang mit Geschichte. Die Erzählung setzt mit der Kundgebung für die Toten ein, die die Explosion des mit Munition und Waffen beladenen belgischen Frachters „La Coubre“ im Hafen von Havanna am 3. März 1960 zur Folge hatte. 81 Menschen starben und 200 wurden verletzt. Die Revolutionsregierung glaubte an einen

10 Thomas von Steinaecker, Mit Bart und Zigarre, in: Süddeutsche Zeitung, 26.11.2010. Von Steinaecker schrieb: „Der zweite Handlungsstrang stellt das eigentliche Problem von ‚Castro‘ dar. Mertens tritt viel zu selten auf, als dass man ihm nahe kommen würde. Auch die Beziehung zwischen der schönen Lara und dem unscheinbaren Journalisten bleibt vage. Karl, Lara und Juan, die sich oft in bloßen Diskursen unterhalten, sind nur Konstrukte, die dem Autor dazu dienen, die Ambivalenz der kubanischen Politik zu veranschaulichen. Ähnliches gilt für die Hauptfigur des Buches. Kleist lässt keine der wichtigsten Stationen in Castros Leben aus. Und doch wird der Mensch Fidel auf den knapp 300 Seiten kaum greifbar.“ 12

Anschlag feindlicher Mächte, sie führte am nächsten Tag eine Protest- und Trauerdemonstration durch, auf der Castro die Trauerrede hielt. Unter den vielen Versammelten befanden sich auch das französische Philosophen-Paar Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Karl Mertens berichtet, wie er das Geschehen fotografierte. Das allererste Bild des Bildromans zeigt Fidel im Fadenkreuz – von Mertens Kamera. Es ist ein symbolisch aufgeladenes Bild, denn Castro war nicht nur eine Art „Pop-Ikone“ der Revolution im 20. Jahrhundert, dessen Bild auf unzähligen Fotos gebannt wurde, sondern er stand tatsächlich auch im Fadenkreuz seiner Feinde, die seinen Tod herbeisehnten und alles versuchten, um ihn durch ein Attentat zu beseitigen. Kleist wählte die Trauerkundgebung als Einstieg in die Erzählung mit Absicht. Der Prolog kreist nämlich um die Bedeutung der Fotografie und die Augenzeugenschaft des Fotografen. Neben dem fiktiven Erzähler Mertens erscheint noch ein weiterer, historisch verbürgter Fotograf auf der Bildfläche: Alberto Días Gutiérrez, weltbekannt unter seinem Künstlernamen Alberto Korda. Er schoss auf der Kundgebung das legendäre und am meisten reproduzierte Foto des 20. Jahrhunderts: die berühmte Aufnahme von Che Guevara. Sie machte Che zur Ikone der kubanischen Revolution und den weltweiten revolutionären Befreiungsbewegungen. Der Entstehungsgeschichte dieses Jahrhundertfotos ist der Prolog gewidmet. Und es wird zu Beginn zum Ausdruck gebracht, dass sich die Erzählung den historischen Fakten, der Faktizität der Geschichte, verschreibt. Deshalb werden Zahlen und „Tatsachen“ genannt. Die Anzahl der Toten wird mit exakt 75 Menschen angegeben, als Ursache wird ein Bombenattentat identifiziert. Karl zweifelt Castros Darstellung nicht an. Tatsächlich gehen heute die Zahlen über die Toten und Opfer auseinander und über die wahren Hintergründe herrscht Uneinigkeit.11 Zwei weitere Fakten erfährt der Leser. Korda hätte nur zweimal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt, um Fotos von Che zu schießen. Und er fotografierte aus der Untersicht. Der Leser bekommt das berühmte Bild im Prolog nicht zu sehen, es findet sich erst einige Seiten später, im 1. Kapitel, in einem Panel, das Karl in seiner Wohnung zeigt (Abb. 5).

11 Der Historiker Stephan Lahrem geht von 81 Toten und mehr als 200 Verletzten aus und ihm zufolge ist die Ursache der Explosion bis heute nicht aufgeklärt; Stephan Lahrem, Che - Eine globale Protestikone des 20. Jahrhunderts, in: Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, (Hg.) Gerhard Paul, Göttingen 2008, S. 234-241. 13

Abb. 5: 1. Kapitel, S. 17, Panel 1

Abb. 6: Alberto Korda mit einem unbeschnittenen Abzug seines berühmten Fotos vor dem Che-Plakat des italienischen Verlegers Feltrinelli mit beschnittenem Abzug; ullstein bild. Abb. 7: Hector Oesterheld, Alberto Breccia, Che. Eine Comic-Biographie, Hamburg 2008 (2. deut. Auflage)12.

Für jemanden, der die Geschichte des berühmten Fotos nicht kennt, muss es unklar bleiben, warum Karl feststellt, Che wäre nur kurz aufgetaucht und der andere Fotograf habe diesen einen Moment abgepasst und zweimal den Auslöser gedrückt (Abb. 8).

Abb. 8: S. 9, Panel 8

12 Ursprünglich hatte Kleist vorgehabt, sein Buch über Che Guevara zu machen, aber weil es diese Comic- Biografie schon gibt, entschied er sich dafür, Fidel Castro zum Thema zu machen; Kleist im Gespräch anlässlich einer Buchvorstellung in Berlin am 03.02.2011. 14

Erst im weiteren Verlauf der Erzählung beginnt der Leser zu verstehen, dass Karl hier rückblickend an ein Ereignis von großer historischer Tragweite erinnert: An die Entstehung jenes Schnappschusses von Che, durch den er für immer aufs engste mit der kubanischen Revolution und mit Fidel Castro verbunden bleibt. Hier ist auch die Anbindung des Comic und der von ihm erzählten Geschichte an die Gegenwart, denn wie kein anderes Bild hat sich dieses Foto in das „kulturelle Gedächtnis“ eingebrannt und findet sich auf allen möglichen Gebrauchsgegenständen des alltäglichen Lebens wieder wie T-Shirts, Becher etc. Castros Biografie ist mit der Geschichte dieses Bildes und der kubanischen Revolution verwoben und damit ist das Foto vom Standort der Gegenwart aus betrachtet der nahe liegende Einstieg in die kubanische Revolutionsgeschichte. Im Prolog stellt Kleist somit nicht nur ein bestimmtes Porträtfoto ins Zentrum, sondern sowohl die Fotografie als eines der wichtigsten Dokumentationsmedien als auch die Fotos als Quelle historischer Ereignisse. Im 20. Jahrhundert sind es die fotografierten und gefilmten Bilder gewesen, die Revolutionen in Erinnerung gehalten haben. Es sind eben jene Bilder, ohne die es wahrscheinlich eine Graphic Novel wie „Castro“ in dieser Form nicht geben könnte, da der Zeichner auf dokumentarisches Bildmaterial zurückgreift, damit er seinem Anspruch gerecht werden kann, dass Handlungsorte und Figuren so „authentisch“ wie möglich erscheinen. Das gilt umso mehr, wenn es sich um das Porträt einer historischen Figur wie Fidel Castro handelt, dessen physiognomische Züge durch Fotos und Filmaufnahmen in der westlichen Welt weithin bekannt sind. Wie genau sich Kleist teilweise an seine fotografischen Vorlagen orientierte, veranschaulicht das zweite Panel von Seite 31, das Castro im Gespräch mit Karl Merten zeigt. (Abb. 9 / 10) Die Parallelen zur historischen Aufnahme von Dickey Chapelle, der Castro und Celia Sanchez 1958 im Dschungelcamp fotografierte, sind offensichtlich. Auch die Aufnahme, die Castro als Redner aus extremer Untersicht zeigt, macht deutlich, wie sehr Kleist sich von der Fotografie inspirieren ließ (Abb. 11 / 12).

Abb. 9: 1. Kapitel, S. 31, Panel 2 Abb. 10: Fidel Castro und Celia Sanchez, 1958, Foto: Dickey Chapelle 15

Abb. 11: 2. Kapitel, S. 203, Panel 1 Abb. 12 Fidel Castro, Autor / Jahr ?13

Zur Steigerung der Glaubwürdigkeit der Bilder legt Kleist größten Wert darauf, dass sein „Castro“ in allen Altersphasen dem wirklichen Fidel ähnlich ist. Der Prolog gibt ein Bekenntnis für die Bedeutung der Bildes / des Fotos im Prozess des historischen Erinnerns ab. Die kubanische Revolution ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass ein Fotozeugnis zum Kulminationspunkt des „kulturellen Gedächtnisses“ und der Identifikation mit Geschichte werden kann. Das Che-Porträt nutzte Fidel Castro nicht nur für die Revolutionspropaganda, es machte auch mit ihm etwas, indem es ihn in Beziehung setzte zu Che, dem bekanntesten und beliebtesten kubanischen Revolutionär und ideologischen Fackelträger (Abb. 13 / 14 / 15).

Abb. 13: 3. Kapitel, S. 260, Panel 1 Abb. 14: Kubanisches Innenministerium, Havanna, Foto: Ina Strunk

13 Mir sind Autorschaft und Entstehungsjahr nicht bekannt. 16

Abb. 15: 2. Kapitel, S. 236, Panel 1

Ungewollt legt der Prolog aber auch ein Dilemma des Zeichners Kleist bloß. Er befindet sich in einem Abhängigkeitsverhältnis von dem dokumentarischen Bildmaterial. Er braucht es, um seinen Zeichnungen die gewünschte historische Authentizität zu verleihen, er muss zugleich aber auch billigend in Kauf nehmen, dass darunter Bilder sind, die zum Zwecke der Propaganda, des Revolutionskultes und -kitsches hergestellt wurden und alles andere als wahrhaftig sind. Die Kontextualität der problematischen Bildvorlagen wird von Kleist nicht sichtbar gemacht, sie bleibt in seiner Graphic Novel unreflektiert. Manchmal drängt sich sogar der Eindruck auf, dass der Zeichner sich des Problems gar nicht bewusst ist und ganz naiv seine Vorlagen nutzt. Kleists Anspruch, eine Bildwelt zu erschaffen, die der Überprüfung der Fakten standhält und auf einer Art objektiver „Augenzeugenschaft“ seines Erzählers Karl beruht, zwingt ihn ein ums andere Mal, alles aus der Sicht eines Fotoapparats und / oder einer Filmkamera zu sehen und zu denken. Wie hätte der Fotoapparat / die Filmkamera die Geschehnisse festgehalten? Nur in Einzelfällen bricht er mit dieser Haltung, dann etwa, wenn er in montageartigen Anschauungstafeln die politischen, personellen und geo-strategischen Verflechtungen sichtbar zu machen versucht (Abb. 16 / 17 / 17.1). 17

Abb. 16: 1. Kap., S. 72, Panel 1

Abb. 17: 2. Kap., S. 125, Panel 1

Abb. 17.1: Fidel Castro mit Gewehr, 1958

Die großen graphischen, d. h. zeichnerischen Möglichkeiten, die die Graphic Novel bietet und die Autoren wie Tardi, Moore / Campbell und Giardino bis zur Perfektion ausreizten,14 schöpft Kleist dadurch nicht aus. Er versucht nicht, einen Realismus jenseits der Kameraeinstellung zu erreichen und damit andere Standpunkte zu gewinnen, die im fotografierten und gefilmten Bildmaterial zur kubanischen Revolution nicht zu finden sind. Kleist visuelles Erzählen wendet sich an ein durch das Fernsehen und Filmdokumentationen geschultes Publikum, das klar lesbare Bilder und keine ästhetischen Herausforderungen wünscht, die eine experimentelle Grafik in sich bergen. Die Folge ist, dass Kleist manches Mal die Ästhetik der Agitprop reproduziert und in die Nähe der sozialrevolutionären russischen Bildvorlagen der Leninzeit gerät, ohne diese aber zu hinterfragen (Abb. 18 / 19).

14 Hier wäre z. B. an Giardinos Arbeiten „Ungarische Rhapsodie“ , Reinbek bei Hamburg 1984 (erste deutsche Ausgabe) und „Jonas Fink. Eine Jugend in Prag“, Hamburg 1997 (erste deutsche Auflage) sowie Allan Moore / Eddie Campbells „From Hell“, Rastatt 2001 (Zweite deutsche Auflage) zu denken. 18

Abb. 18: Lenin auf der Rednertribüne, 1920; Foto: Abb. 19: 2. Kapitel, S. 172, Panel 1 V.V.Gol’dstejn

Besonders deutlich wird das am letzten Bild des Prologs. Castro, der Redner, ist ganz allein in Szene gesetzt. Die Zeichnung ist freigestellt: Castro gewissermaßen „außer Rand und Band“. Die Parallelen zur sowjetischen Ikonographie Lenins sind nicht zu übersehen (Abb. 20 / 21).

Abb. 20 Abb. 21, Prolog, S. 11, Panel 2

Dieses Castro-Bild im Prolog erscheint beinahe programmatisch für Kleists Vorstellung seines „Helden“ in der kubanischen Geschichte. Der Mann wird als kraftvoll und eindrucksvoll, als eine rhetorische „Naturgewalt“ eingeführt. Es ist hier zudem der Mann, der „die Geschichte macht“. Im Verlauf der Erzählung, in der Castro immer wieder als Redner auftritt, erstarrt dieses Bild zu einer hohlen Pose. Kleist gibt mit dieser Bildstrategie sicher einen kritischen Kommentar auf die leeren Rituale ab, von denen der Revolutionsführer ein Leben lang nicht lassen wollte, doch weil Kleist sich bei der Darstellung seines Castros an die vermeintlich „authentischen“ Bilder klammert, erfährt die Figur keine Differenzierung und die Widersprüche des Menschen Castro werden kaum sichtbar.

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Die Art des Erzählens

Kleists Bildsprache ist kompatibel mit dem breiten Geschmack des Fernseh- und Kino- geschulten Publikums. Einher geht diese mit einer weitgehend konventionellen Erzählweise. Der Werdegang Castros ist chronologisch dargestellt und schildert seine Entwicklung vom aufbrausenden, wahrheitsliebenden sowie für Gerechtigkeit eintretenden Kind bis zum abgetretenen, altersstarrsinnigen Herrscher. Seine Biografie ist eng verzahnt mit der Geschichte der Revolution. Die Graphic Novel lässt sogar den Eindruck entstehen, Castro sei die Revolution und die Revolution sei Castro. Unzweifelhaft hat Castro einen wesentlichen Anteil am Aufstand der kubanischen Bevölkerung und seines Sieges über den Diktator Batista, doch lassen sich die Ereignisse nicht allein aus Castros Persönlichkeit und Rolle erklären. Er ist der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt, doch das Kuba des diktatorischen Regimes zerbrach wohl auch an den inneren Widersprüchen einer anachronistischen Gesellschaftsordnung. Vom historischen Ansatz erscheint Kleists Darstellung eher altmodisch und wenig innovativ, er folgt dem überholten Muster, nach dem die außergewöhnlichen Männer die Geschichte machen. Diese Geschichtsvorstellung wird vom Autor nirgendwo gegen den Strich gebürstet. Tatsächlich scheinen er und sein fachlicher Berater sich der Problematik gar nicht bewusst gewesen zu sein. Im Gegenteil bedient Kleist sogar noch diese Auffassung dadurch, dass er Castro bereits auf dem Buchumschlag als die treibende Kraft vorstellt. Infolge der Untersicht erhöht er ihn zu jenem „großen“ Mann, von dem dann auf 280 Seiten die Rede ist. Sicher werden auch Schwächen und Fehler sichtbar, die grundsätzliche Annahme, Männer seien der treibende Motor geschichtlicher Entwicklung, wird jedoch nicht in Frage gestellt. Ironischerweise war jedoch die Revolution in Kuba dafür verantwortlich, dass erstmals die patriarchal-strukturierte und ausgesprochen machistische Gesellschaft auf breiter Basis reflektiert und die Gleichstellung der Frau sowie ein neues Frauenbild gefordert wurde. Davon findet sich in „Castro“ nichts. Celia Sanchez, die kubanische Revolutionärin, Politikerin, Kampf- und Lebensgefährtin Fidel Castros z. B. bleibt sehr blass in Kleists Erzählung und in der oben gezeigten Bildvorlage für Panel 2 auf Seite 31 ersetzt Kleist sie einfach durch Karl Mertens, so als wären die Frauen, zu denen Castro spricht, auf dem Originalbild nur schmückendes Beiwerk, das man nach Belieben einfach aussparen kann, ohne das dadurch die Bedeutung des Fotos verändert werden würde (Abb. 22/23).

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Abb. 22: 1. Kapitel, S. 31, Panel 2 Abb. 23: Fidel Castro und Celia Sanchez, 1958, Detail; Foto: Dickey Chapelle

Dazu passt, dass es im ersten Kapitel nicht ein einziges Panel gibt, das wie das historische Foto das Geschlechterverhältnis der Revolutionäre thematisiert. Inwiefern die Frauen diese Geschichte mitbestimmt haben, ist Kleist keine nähere Betrachtung wert. Seine Erzählerfigur Mertens gibt die männlich-fixierte Perspektive vor und konsequenterweise ignoriert Kleist all jene Veränderungen, die die Revolution den Kubanerinnen, also den Frauen, brachte. Deshalb kann es auch nicht weiter verwundern, dass die Dschungelkämpferin und spätere Lebensgefährtin von Karl, Lara, die einzige Frauenfigur ist, die etwas stärker akzentuiert ist – lässt man einmal die Schilderung von Fidels Frauen außer Acht. Doch was Lara im Einzelnen über die Revolution und die möglichen Folgen für ihre Geschlechtsgenossinnen denkt, erfährt der Leser nicht. Lara zeigt sich zwar zunehmend unzufrieden mit der Entwicklung des Landes, nimmt Anstoß an der wachsenden politischen Verfolgung, der Mangelwirtschaft, doch der radikale Wandel im Alltag der Frauen nach dem Sieg der Revolution wird ausgeblendet. Kleist dekonstruiert an keiner Stelle den kubanischen Machismo, obwohl es genügend historische Ansatzpunkte dazu gegeben hätte. Nur einer soll hier genannt werden, der sich dem Autor geradezu hätte aufdrängen müssen. Kuba stand in den späten 1970er Jahren vor dem großen Problem einer hohen Zahl von Kinderschwangerschaften. Viel zu viele Mädchen und junge Frauen wurden infolge fehlender Sexualkenntnisse schwanger. Zu ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung als „gefallene Mädchen“ kam noch hinzu, dass sie ihre schulische Ausbildung abbrechen mussten und ihre Zukunft damit verbaut war. Die in Deutschland 1941 geborene und in der DDR aufgewachsene Lateinamerikanistin Monika Krause wurde von den Genossen dazu auserkoren, den Kubanern und Kubanerinnen die Sexualerziehung zu bringen, sie über die grundlegenden Sachverhalte der menschlichen Sexualität aufzuklären und dem Machismo den Kampf anzusagen.15 Obwohl Karl selbst

15 Monika Krause, geb. 1941, studierte Lateinamerikanistik und lernte später einen in Havanna aufgewachsenen gebürtigen Spanier kennen, der der jüngste Kapitän des Landes war. 1962 erhielt sie die Heiratserlaubnis und reiste mit ihrem Mann nach Kuba aus. 1977 gründete sie die Nationale Arbeitsgruppe für Sexualerziehung bei der Ständigen Kommission der Nationalversammlung zur Betreuung der Kinder, Jugendlichen und für die 21

Deutscher ist und es somit ziemlich unwahrscheinlich ist, dass er der in Kuba sehr berühmten Deutschen nicht begegnet wäre, erfährt man hierüber nichts. Stattdessen bringt Kleist die nur allzu bekannte, aber viel weniger aufschlussreiche Geschichte der jungen Deutschen Marita Lorenz, die Castros Geliebte wurde und einen Attentatsversuch auf ihn unternahm.

Abb. 24: Epilog, S. 282, Panel 1 Abb. 25: Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818

Das letzte Panel des Buches enthüllt einen unterschwelligen Romantizismus, von dem Kleists Bild des Revolutionsführers nicht frei ist (Abb. 24/25). Castro als Rückenfigur in seinem Krankenzimmer, wie er auf die tropische Landschaft blickt. Die kompositorische und inhaltliche Analogie zu Caspar David Friederichs berühmten Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ fällt auf. Wie Friedrichs Wanderer blickt der alte Castro auf die Welt hinunter und sinniert über die Kleinheit und Machtlosigkeit des Menschen angesichts der Größe der Natur. Das ihm vom Autor in den Mund gelegte Zitat des großen kubanischen Revolutionärs und Autors José Julian Martí unterstreicht die romantische Idee von der Vergeblichkeit der menschlichen Anstrengung: „Wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer.“ Der Mensch kann das Meer nicht pflügen und versucht er das Unmögliche doch, ist es ein unendliches Unterfangen, eine Sisyphosarbeit. Das Bild des Meeres bringt Kleist durch sein Martí-Zitat in das Panel, so dass die Landschaft, über die Castros Blick schweift, auch als ein unendliches grünes Meer interpretiert werden kann.

Gleichberechtigung der Frau, dem späteren Nationalen Zentrum für Sexualerziehung. Sie wird dessen Direktorin. Anlässlich des Weltkongresses für Sexologie, Caracas 1989, wird sie Mitglied des Wissenschaftlichen Rates der WAS (World Association for Sexology) und im selben Jahr Ehrenmitglied der Polnischen Akademie der Sexualwissenschaften. Ende 1990 kehrt sie nach Deutschland zurück. 22

„Baby’s in black“

Sehen wir in „Castro“ die große Geschichte mit weltpolitischer Ausstrahlung, finden wir bei Bellstorf die Alltagsgeschichte. Die Begegnung zwischen Astrid Kirchherr und den Beatles war zu Beginn scheinbar nur das Treffen junger Leute aus zwei verschiedenen Ländern, die im Krieg erbitterte Feinde waren. Rückblickend ist Kirchherr jedoch eine wichtige Chronistin der Geschichte der erfolgreichsten britischen Popband aller Zeiten und ihre Fotos haben selbst Geschichte geschrieben. Bellstorf zeichnet ein Stück Pop- und Kulturgeschichte. Bei ihm sind es nicht die Politik und die großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die im Mittelpunkt stehen, sondern die gesellschaftliche Veränderung im Kleinen, die zum Beispiel von der Jugend- und Popkultur ausgelöst wurde und die ein internationales Phänomen war. Gleichzeitig schildert Bellstorf, wie die junge Fotografin mit ihren ästhetischen Vorstellungen das Image der Beatles am Anfang ihrer Karriere mitprägt. Der für die Musiker typische Pilzkopfhaarschnitt war ihre Idee. Der Zeichner und Autor Arne Bellstorf wurde 1979 in Deutschland geboren und arbeitet in Hamburg. Er studierte hier auch Gestaltung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften. 2005 wurde er auf der Frankfurter Buchmesse mit dem „Sondermann“-Preis als „Bester New Comer“ ausgezeichnet, 2006 wurde sein Debüt „Acht, neun, zehn“ mit dem „ICOM Independent Preis“ prämiert und in Frankreich, Italien, Polen und Südkorea veröffentlicht. Bellstorf arbeitet freiberuflich als Grafiker und Comic-Autor. Für die Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel zeichnet er regelmäßig. „Baby’s in black“ schildert die Hamburger Subkultur im Hafenviertel – der „Großen Freiheit“ in Sankt Pauli. Die tragische Liebesgeschichte zwischen Astrid und dem Beatles- Guitaristen und Kunststudenten Stuart Sutcliffe nimmt großen Raum ein. Schon im Untertitel stellt Bellstorf den biografischen Charakter seiner Bilderzählung deutlich heraus: „The Story of Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe“. Beide Protagonisten sind auf dem Cover und dem Titelblatt abgebildet (Abb. 26). Sie sind ganz in Schwarz gekleidet, denn Schwarz war die Lieblingsfarbe der Existenzialisten sowie der Rockmusiker und Rocker.

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Abb. 26: Titelblatt Abb. 27: Astrid Kirchherr, Stuart Sutcliff, 1960

Abb. 28: Astrid Kirchherr, Selbstporträt, 1960 Abb. 29: Arne Bellstorf, Astrid Kirchherr

Wie Kleist erzählt auch Bellstorf von historischen, teils heute noch lebenden Personen, und wenn man die Physiognomien seiner Gestalten mit Kirchherrs Porträts vergleicht, fällt ihre Ähnlichkeit auf. Dies geht soweit, dass die Figur Astrid wie das Original mit blondem Kurzhaarschnitt, schwarzem Pullover, Kajal und Lidschatten ausgestattet ist (Abb. 28 / 29).

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Abb. 30: Astrid, Kirchherr, Klaus Voormann, 1960 Abb. 31: Bellstorf, Klaus Vormann

Abb. 33: Arne Bellstorf, John Lennon Abb. 32: Astrid Kirchherr, John Lennon, 1960

Viele Darstellungen von Stuart Sutcliffe und von den anderen Beatles haben direkte fotografische Vorlagen. Selbst in der Typografie der Kapitelüberschriften erweckt der Autor den Eindruck von historischer Treue, da das Schriftbild an die Druckbuchstaben einer Schreibmaschine angelehnt ist. Damit wird dem Leser eine Epoche vor dem Zeitalter des Personal Computers und der Textverarbeitung signalisiert. Bellstorf entwickelte seine Erzählung aus persönlichen Gesprächen mit Kirchherr. Das Buch umfasst 204 Seiten und die Erzählung gliedert sich in sieben Abschnitte, die einen Zeitraum von Oktober 1960 bis April 1962 abstecken. Alle Dialoge der „Beatles“ sind in Englisch, um die Handlung realistischer zu machen. Am Ende des Buches gibt es die deutsche Übersetzung. Biografische Angaben zu den wichtigsten Personen, zu Stuart Sutcliffe, Astrid Kirchherr, Klaus Voormann, und den „Beatles“ komplettieren die Informationen. 25

Die Erzählung beginnt mit der ersten Begegnung zwischen Astrid, Klaus und den Beatles. Klaus hat die englische Band in einem düsteren Kellerlokal auf der Amüsiermeile des Hamburger Rotlichtviertels, der „“, entdeckt und ist völlig hingerissen. Er überredet Astrid, sich mit ihm die jungen Musiker aus Liverpool anzusehen. Für beide wird es zu einer schicksalhaften Begegnung, die beider Leben in andere Bahnen lenken wird. Sie freunden sich mit den „Beatles“ an, Klaus entwirft ein Plattencover für die Band, Astrid macht die ersten Fotos von den späteren „Fab Four“. Dabei verlieben Stuart und sie sich ineinander. Astrid und Klaus werden von den „Beatles“ wegen ihrer „existenzialistischen“ Kleidung – schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpullover, überhaupt wegen ihrer Lieblingsfarbe Schwarz – für Franzosen gehalten. Und die Beatles liegen mit dieser Einschätzung insofern nicht falsch, weil Klaus alles Französische liebt, insbesondere die Literatur von Jean-Paul Sartre und Albert Camus sowie das Werk von Jean Cocteau. Astrid hört gern die Chansons der Juliette Gréco und besitzt zur Verwunderung der Musiker keine Rock ’n Roll-Platten. Da die „Beatles“ keine gültige Arbeitserlaubnis haben, müssen sie bis auf Stuart, der sich an der Hamburger Kunsthochschule immatrikulieren kann, Hamburg 1961 verlassen und nach Liverpool zurückkehren. Stuart und Astrid verloben sich und Stu richtet sich ein Atelier in ihrem Wohnhaus ein. Bellstorf lässt mit dem Sankt Pauli-Viertel und der „Großen Freiheit“ eine Seite des Hamburger Kulturlebens wieder auferstehen, das legendär ist und dem man in Sankt Pauli ein eigenes Museum, das „Beatlemania“, gewidmet hat. Dort wird an die ersten Aufenthalte der Beatles in der Hafenstadt und deren Bedeutung für die Weltkarriere der Band erinnert. In diesem Kontext ist Bellstorfs Buch ein Beitrag zur Lokalgeschichte. Der Autor verschafft dem Leser Einblicke in den Mikrokosmos des Alltags der frühen Sechziger Jahre in Deutschland. Das damalige Hamburg mit seinen Musikclubs ist den heute Mittsechzigern noch in lebhafter Erinnerung.

Zeichnung und Erzählung

Im Vergleich zu „Castro“ ist das Verhältnis von Bellstorfs Erzählung zum geschichtlichen Hintergrund viel freier. Das schlägt sich in seiner Grafik nieder, wie bereits auf der ersten Seite von „Baby’s in black“ sichtbar wird. Sie zeigt die Bildsequenz eines Traums von Astrid, in dem sie selber auftritt (Abb. 34).

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Abb. 34: 1. Kapitel, 1. Seite, Panel 1-3

In den drei Panels ist das Gewicht auf die Zeichnung und Erzählung gelegt, trotzdem werden auch hier die historische Faktizität des Ereignisses und die Authentizität der Bilder gewahrt. Die ganze Graphic Novel ist von dieser Haltung gekennzeichnet. Der Schal, der durch die Bäume schwebt, ist Stu’s, den ihm Astrid auf einem ihrer Spaziergänge durch die Elbwälder geschenkt hat. Er symbolisiert den dahingegangenen Geliebten.

Abb. 36: Astrid, Kirchherr, Stuart Sutcliffe, 1960

Abb. 35: Arne Bellstorf, S. 73 27

Bellstorf hält Figuren, Gegenstände und Orte in einer vereinfachten Zeichnung fest. Sein grafischer Strich – er zeichnet mit Kohle – rückt die Personen ins Bildzentrum, während die Bühne, auf der sie agieren, oft nur angedeutet und die Zeichnung schematisch ist. Der hohe Grad der Abstraktion bedingt, dass einzelne Bilder nicht naturalistisch sind und die dargestellten Plätze nicht als historisch-authentische Orte wirken. Sie verbleiben vielmehr im Unspezifischen, Zeitlosen, könnten auch im Hier und Jetzt verortet sein (Abb. 37 / 38).

Abb. 37: S. 128, Panel 1 Abb. 38: S. 202

Es gibt aber auch Ortsdarstellungen, die sich direkt an berühmte Vorlagen orientieren, etwa die Straße „Große Freiheit“, die auch im Beatles-Museum nachgebaut wurde.

Abb. 39: Nachbau der Straße „Große Freiheit“ im Beatles- Abb. 40: Arne Bellstorf, „Große Freiheit“, Museum S. 110

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Dadurch, dass die meisten Bildhintergründe oft nur vage angedeutet sind, treten die Figuren umso deutlicher hervor. Bei der Wiedergabe der Örtlichkeiten ist kein fotografischer Realismus angestrebt. Eine Meisterin dieses Realismus ist die deutsche Comic-Autorin und Graphic Novel-Zeichnerin Isabel Kreitz. In ihrer Graphic Novel „Die Sache mit Sorge. Stalins Spion in Tokio“ (2008) erzählt sie die legendäre und wahre Geschichte des Journalisten Dr. Richard Sorge, der Stalins Spion in der deutschen Botschaft in Tokio war. Kreitz’ Bleistiftzeichnungen streben eine fotografische Genauigkeit in der Widergabe der Dingwelt und Räume an (Abb. 41).

Abb. 41: Isabel Kreitz, Die Sache mit Sorge, S. 54

Die Beispiele von Bellstorfs Panels veranschaulichen dagegen, dass es hier die Straßenbeschilderung ist, die den Ort überhaupt erst erkennbar macht. Einige aktuelle Tagesereignisse sind in die Erzählung eingeflochten, zum Beispiel das Überlaufen des russischen Balletttänzers Rudolf Nurejew in den Westen bei seinem Auftritt in Hamburg im Jahre 1961. Die Teilung Deutschlands durch die Mauer wird erwähnt, als Stu feststellt: „Aren’t we lucky we met on this side of the wall? We’re free to go whereever we want. You know, we could even get married in Paris and go on a honeymoon in France ...“ Es wird die Nähe zum vergangenen, von den Deutschen verlorenen, Weltkrieg angedeutet, es gibt witzig gemeinte Anspielungen der Beatles auf den Führer. Was den großen Unterschied von Bellstorfs Erzählung zu Kleists historischer Biografie ausmacht, ist die Filterung von Geschichte durch eine sehr persönliche Ästhetik, die ihren Ausgangspunkt in Kirchherrs Fotos hat. Dem Hamburg der frühen 60er Jahre und seiner künstlerischen Szene versucht Bellstorf mit Zeichnungen gerecht zu werden, die sich dem 29

Blick der Fotografin und ihrer Fotoästhetik annähern. Dadurch gelingt es ihm, den „Zeitgeist“ einzufangen.

Abb. 42: Arne Bellstorf, S. 61 Abb. 43: Astrid Kirchherr, , 1960

Abb. 44: Arne Bellstorf, S. 163

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Abb. 45: Arne Bellstorf, Lennon und McCartney

Abb. 46: Astrid Kirchherr, Die Beatles, 1960

Kleist und Bellstorf stellen Geschichte von konträren Positionen dar. Während der eine die persönlich erlebte, in persönlichen Zeugnissen dokumentierte Geschichte aufzeichnet, zeigt der andere sie als eine Geschichtserzählung, die aus vielen verschiedenen offiziellen Darstellungen und Medienberichten besteht, d. h. aus der Perspektive vieler Chronisten, Historiker und Biografen konstruiert wird. Bellstorf vermag jedoch seinen historischen Figuren weitaus näher zu kommen. Geschichtliche Erfahrung hat viel mit individueller Erinnerung zu tun, sie geht einher mit dem persönlichen Erlebnis, das individuell verarbeitet wird. Dadurch, dass Bellstorf real-existierende Personen mit ihren historischen Erinnerungen nimmt und zu deren Gestaltung auf ihre eigenen Dokumente zurückgreift, wirkt seine Erzählung glaubhafter und nicht konstruiert. Kleist dagegen, der seinen Erzähler erfindet, bleibt den geschilderten historischen Ereignissen äußerlich. Seine Figur Karl vermag es weder, die Glaubwürdigkeit und psychologische Tiefe der Astrid zu erlangen, noch die Geschichte Fidels und der kubanischen Revolution aus dem individuellen Blick eines Zeitzeugen zu schildern. „Castro“ ist infolgedessen eine biografische Geschichtsdarstellung in Bildern, aber kein „Roman“, während Bellstorf eine Bilderzählung schafft, die die Qualität eines abgeschlossenen Kunstwerks erreicht.

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Urheberrechte: Von Arne Bellstorf: Arne Bellstorf/Reprodukt; von Reinhard Kleist: Reinhard Kleist/Carlsen; Astrid Kirchherr:

Abbildungsnachweis: Abb. 1 Astrid Kirchherr, Liverpool 1960, in: Astrid Kirchherr, A Retrospective, Liverpool 2010 (fortan: 2010); Abb. 2 Panel 3-6, in: Arne Bellstorf, Baby´s in black, Berlin 2010, S. 54; Abb. 3 Panel 5, in: Bellstorf (2010), S. 54; Abb. 4 Astrid Kirchherr, John Lennon, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 5 Panel 1, in: Reinhard Kleist, Castro, Hamburg 2010, S. 17; Abb. 6 Der Alte Alberto Korda, ullstein bild, in: Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Hrsg. von Gerhard Paul, Göttingen 2008, S. 236; Abb. 8 Panel 8, in: Kleist (2010), S. 9; Abb. 9 Panel 2, in: Kleist (2010), S. 31; Abb. 10 Dickey Chapelle, Fidel Castro und Celia Sanchez, 1958, auf: http://www.djibnet.com/photo/military+uniforms/fidel-castro-and-celia-sanchez- 977271002.html, Stand: 24.05.2012; Abb. 11 Panel 1, in: Kleist (2010), S. 203; Abb. 13 Panel 1, in: Kleist (2010), S. 260; Abb. 14 Foto: Ina Strunk, Kubanisches Innenministerium mit dem Abbild Che Guevaras, Havana, auf: http://www.umdiewelt.de/Karibik/Kuba/Reisebericht-441/Kapitel-1.html, Stand: 24.05.2012; Abb. 15 Panel 1, in: Kleist (2010), S. 236; Abb. 16 Panel 1, in: Kleist (2010), S. 72; Abb. 17 Panel 1, in: Kleist (2010), S. 125; Abb. 17.1 Fiedel mit Gewehr, auf: www.cubafreundschaft.de, Stand: 24.05.2012; Abb. 18 V.V.Gol’dstejn, Lenin auf der Rednertribüne, 1920, in: Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949, Hrsg. von Gerhard Paul, Göttingen 2008, S. 255; Abb. 19 Panel 1, in: Kleist (2010), S. 172; Abb. 20 Lenin als Redner, auf: http://rjosephhoffmann.wordpress.com/tag/first-amendment/, Stand: 24.05.2012; Abb. 21 Panel 2, in: Kleist (2010), S. 11; Abb. 22 Panel 2, in: Kleist (2010), S. 32; Abb. 24, Panel 1, in: Kleist (2010), S. 282; Abb. 25 Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818, in: Eckardt Kleßmann, Die deutsche Romantik, Köln 1979, Tafel 17; Abb. 27 Astrid Kirchherr, Stuart Sutcliff, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 28 Astrid Kirchherr, Selbstporträt, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 29 Arne Bellstorf, Panel 3, in: Bellstorf (2010), S. 193; Abb. 30 Astrid, Kirchherr, Klaus Voormann, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 31 Arne Bellstorf, Panel 6, in: Bellstorf (2010), S. 12; Abb. 32 Astrid Kirchherr, John Lennon, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 33 Arne Bellstorf, Panel 2, in: Bellstorf (2010), S. 61; Abb. 34 Arne Bellstorf, Panel 1-3, in: Bellstorf (2010), S. 9; Abb. 35 Arne Bellstorf, Panel 1-5, in: Bellstorf (2010), S. 75; Abb. 36 Astrid, Kirchherr, Stuart Sutcliffe, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 37: Arne Bellstorf, Panel 1, in: Bellstorf (2010), S. 128; Abb. 38 Arne Bellstorf, Panel 1- 3, in: Bellstorf (2010), S. 202; Abb. 39 Nachbau der Straße „Große Freiheit“ im Beatles-Museum, auf: http://www.beatlemania-hamburg.com/, Stand: 24.05.2010; Abb. 40 Arne Bellstorf, Panel 1, in: Bellstorf (2010), S. 110; Abb. 41 Isabel Kreitz, Panel 1-5, in: Die Sache mit Sorge, Hamburg 2008, S. 54; Abb. 42 Arne Bellstorf, Panel 1-5, in: Bellstorf (2010), S. 61; Abb. 43 Astrid Kirchherr, The Beatles, 1960, in: Kirchherr (2010); Abb. 44 Arne Bellstorf, Panel 1-5, in: Bellstorf (2010), S. 163; Abb. 45 Arne Bellstorf, Panel 4, in: Bellstorf (2010), S. 62; Abb. 46 Astrid Kirchherr, Die Beatles, 1960, in: Kirchherr (2010).