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Wolfgang Püschl
Physik des Segelns Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/ffirst.3d from 13.04.2012 15:36:05 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Für Elisabeth Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/ffirst.3d from 13.04.2012 15:36:05 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Wolfgang Püschl
Physik des Segelns
Wie Segeln wirklich funktioniert Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/ffirst.3d from 13.04.2012 15:36:05 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Autor 1. Auflage 2012 Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Prof. Dr. Wolfgang Püschl Herausgeber und Verlag in keinem Fall, ein- Universität Wien schließlich des vorliegenden Werkes, für die Fakultät für Physik Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Strudlhofgasse 4 Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung 1090 Wien Bibliografische Information Österreich der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Vorwort
“After all, the art of handling ships is finer, perhaps, than the art of handling men.” Joseph Conrad, The Mirror of the Sea.
Segeln bezaubert durch seine wunderbare Ästhetik: Ein schlankes Boot gleitet, von einem Windhauch vielleicht nur angetrieben, der seine aus- gebreiteten Schwingen sanft umströmt, über die glatte Wasserfläche und zeichnet darauf sein vollendetes, ewig gleiches Linienmuster. Eine kraft- volle Hochseeyacht erkämpft sich durch grün schimmernde Wellenberge ihren Weg nach Luv und wirft nonchalant Gischtfahnen beiseite. Die Kunst des Segelns – und es handelt sich um eine hohe Kunst – ist in Jahr- hunderten gewachsen und überliefert und kann in Regeln gelehrt und gelernt werden, so wie die Kunst alten Handwerks vom Meister auf den Schüler übertragen wird. Warum also Physik und höhere Mathematik? Dazu muss man sich zunächst vor Augen halten, dass ein gelernter Physiker gar nicht anders kann, als die naturwissenschaftliche Methode als das schärfste Messer der Analyse anzuwenden, wenn es ihm wirklich darum zu tun ist, ein Phänomen zu verstehen. Er gleicht darin einem Kind, das lesen gelernt hat. Es muss fortan einen Sinn herauslesen, wann immer eine Buchstabenkette auftaucht. Ebenso erging es dem Autor, der den Segelsport schon als Kind geliebt hat. Die Obsession, das Segeln vom Standpunkt des Physikers aus zu verstehen, gesellte sich nach einschlägi- gem Hochschulstudium ganz von selbst hinzu. Also nur intellektuelle Spielerei, in geheimnisvollen Zeichen notiert und nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich? Dieser Standpunkt wird eindrucksvoll wi- derlegt durch die breite Anwendung physikalisch-mathematischer Metho- den auf das Problem des Segelns und die daraus gewonnene unerhörte Steigerung der Effizienz, durch die sich die moderne Segelyacht von ihrem Vorgänger, dem Lastensegler früherer Tage, unterscheidet. Man mag dies als Ironie der Geschichte sehen oder aber auch unter dem Aspekt großer wirtschaftlicher Bedeutung, die der Sektor Freizeitsegeln heute tatsächlich hat.
V Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/fpref.3d from 13.04.2012 15:36:11 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Dieses Buch wendet sich an den Physiker oder Physikstudenten, der selbst segelt oder sich zumindest für dieses Phänomen interessiert, auch deswegen, weil es eine Fülle von Anwendungen von Prinzipien der klassi- schen Physik enthält. Aber auch der naturwissenschaftlich interessierte Segler sollte von dem vorliegenden Werk profitieren können. Abschnitte mit etwas aufwendigerem mathematischem Formalismus kann er gefahr- los überblättern. Die wirklich wichtigen Grundaussagen sind am Ende jedes Kapitels zusammengefasst und genügen in diesem Fall. Ich habe mich bemüht, dem Buch eine sichtbare logische Grundstruktur zu geben, indem zuerst elementare Grundprinzipien eingeführt werden und dann in immer komplexeren Zusammenhängen erscheinen, zum Beispiel vom Zweidimensionalen zum Dreidimensionalen, vom gleichförmigen zum zeitlich veränderlichen Ablauf, vom Einfachen zum Zusammengesetzten, von der einzelnen Eigenschaft zum Gesamtverhalten des Systems „Segel- yacht“. Das Buch ist also, mit einem modernen Ausdruck, strikt „bottom- up“ organisiert. Wenn zwischen den Diagrammen und Formeln auch die Faszination hervorblitzt, die mich all die Jahre beseelt hat, betrachte ich meine Mission als erfüllt. Dem ambitionierten, kritischen Leser wünsche ich herzlich „Mast- und Schotbruch“. Mondsee, August 2011
VI Vorwort Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/ftoc.3d from 13.04.2012 15:36:17 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Inhaltsverzeichnis
Vorwort V
Liste der verwendeten Symbole XI
1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche 1 1.1 Höchstgeschwindigkeit 8 1.2 Etmale auf See 10 1.3 Reisezeit auf Langstrecken 10 1.4 Luvgeschwindigkeit 11 1.5 Segler des Tierreiches 12
2 Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand 15 2.1 Kräftegleichgewicht 15 2.2 Momentengleichgewicht 21 2.2.1 Achse 1 21 2.2.2 Achse 2 25 2.2.3 Achse 3 30
3 Grundlagen der Strömungslehre 35 3.1 Dynamik einer idealen (reibungsfreien) Flüssigkeit 37 3.2 Die Eigenschaften von Wirbeln 40 3.3 Bernoulli-Theorem 44 3.4 Die ebene Potenzialströmung 45 3.5 Dynamik von Fluiden mit innerer Reibung 48 3.6 Dissipation von Wirbeln 50 3.7 Ableitung der Reynoldszahl 50 3.8 Der Strömungswiderstand von Körpern 52
4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften) 63 4.1 Irrlehren der Auftriebsentstehung 63
VII Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/ftoc.3d from 13.04.2012 15:36:18 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
4.2 Wie entsteht der Auftrieb wirklich? 65 4.3 Druckverteilung am Tragflügel 73 4.4 Ablösungsverhalten und Wirbelbildung an Tragflügelprofilen 75 4.5 Gewölbte Platte verglichen mit dickem Flügelprofil 80 4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen 81
5 Der dreidimensionale Tragflügel 89 5.1 Randwirbel und induzierter Widerstand 89 5.2 Elliptische Auftriebsverteilung 96 5.3 Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche 100 5.4 Verwindung (Twist) 102 5.5 Flügelform 104 5.6 Pfeilung 105 5.7 Auftriebsverhalten von Tragflügeln mit niedrigem Seiten- verhältnis 107
6 Der Bootskörper: Wellenerzeugung und Widerstands- komponenten, Skalierung 113 6.1 Wasserwellen (Schwerewellen) 113 6.2 Tiefenabhängigkeit der Wellenamplituden 114 6.3 Ableitung der Dispersionsrelation 117 6.4 Tiefwasserwellen 119 6.5 Seichtwasserwellen 121 6.6 Das Wellensystem eines fahrenden Schiffes 122 6.7 Wie viel PS hat eine Segelyacht? 129 6.8 Skalierungsgesetze 131 6.8.1 Hochrechnung von Modellversuchen auf wirkliche Größe 131 6.8.2 Segeltragvermögen und Skalierung der Segelfläche 134 6.9 Kenngrößen für das Wellenwiderstandsverhalten 138 6.9.1 Breite / Tiefgang-Verhältnis 138 6.9.2 Volumetrischer Koeffizient 138 6.9.3 Prismatischer Koeffizient (Schärfegrad) 142 6.9.4 Die Wellenformtheorie 142 6.10 Der Gleitzustand 143
7 Optimale Geschwindigkeit auf verschiedenen Kursen 149 7.1 Segel- und Rumpf-Polardiagramme 149 7.2 Rechnerische Bestimmung der Fahrtgeschwindigkeit 155 7.3 Geschwindigkeits-Polardiagramm und Wahl des Kurses 157 7.4 Segeln in einem variablen Windfeld 162
VIII Inhaltsverzeichnis Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/ftoc.3d from 13.04.2012 15:36:18 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
8 Zeitabhängiges Verhalten 169 8.1 Schwingungsbewegungen des Bootskörpers 172 8.1.1 Vertikale Tauchschwingungen 173 8.1.2 Drehschwingungen: Stampfen, Rollen 176 8.1.3 Rollen vor dem Wind (engl. downwind rolling) 180 8.1.4 Gier-Instabilität 185 8.2 Auftriebs-Hysterese 186 8.3 Reiten auf der Welle (surfen) 189 8.4 Gefährdung durch Brecher 193
9 Mechanische Belastung und Materialien 199 9.1 Kräfte in der Takelage – Dimensionierung von Stehendem Gut und Mast 199 9.2 Kräfte auf den Rumpf 209 9.3 Baumaterialien des Rumpfes 212 9.4 Materialien für Segel 216
A1 Glossar der Seemannssprache 221
A2 Beaufort-Skala 229
A3 Metazentrum eines Baumstammes 233
A4 Dimensionsanalyse 237
A5 Ableitung der Kutta-Joukowski-Gleichung 239
A6 Verfahren nach Prohaska 243
A7 Impulsübertrag, Kraft, Leistung, Kinetische Energie 245
A8 Elliptische Auftriebsverteilung und Berechnung des induzierten Widerstandes 249
A9 Linienriss einer Rennjolle 253
Literatur 257
Stichwortverzeichnis 259
Inhaltsverzeichnis IX Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/flast.3d from 13.04.2012 15:36:37 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Liste der verwendeten Symbole
Alle fettgedruckten Symbole sind Vektoren, kursiv gedruckte Symbole bezeichnen skalare Variable. Die Geschwindigkeiten mit „v“ werden auf- recht geschrieben, um Verwechslung mit der kinematischen Zähigkeit n zu vermeiden. Aufrecht gedruckte Großbuchstaben bezeichnen Punkte (Orte). Nur vorübergehend verwendete Rechenhilfsvariable sind nicht erklärt.
A Referenzfläche (für Widerstand und Auftrieb); Wellenampli- tude a Anstellwinkel des Segels
aeff Effektiver Anstellwinkel ai Induzierter Anstellwinkel AW Fläche der Schwimmwasserlinie B Auftriebsschwerpunkt b Schiffsbreite; allg. Exponent; Spannweite (eines Doppelflügels) b Abdriftwinkel (= Anstellwinkel des Unterwasserschiffs); redu- zierte Dämpfungskonstante
B0 Auftriebsschwerpunkt in aufrechter Schwimmlage Bft Windstärke nach Beaufort c Sehnenlänge des Profils
C1,C2,C3 Druckkräfte im Rigg cD Widerstandsbeiwert (Profil) CD Widerstandsbeiwert (Flügel) CDi Beiwert des Induzierten Widerstandes (Flügel) CDW Beiwert des Wellenwiderstandes CF Koeffizient des Reibungswiderstandes eines Schiffes CL Lateralschwerpunkt cL Auftriebsbeiwert (Profil) CL Auftriebsbeiwert (Flügel) CP Prismatischer Koeffizient CRes Koeffizient des Restwiderstandes eines Schiffes CS Segelschwerpunkt CS Proportionalitätsfaktor für Segelflächenskalierung
XI Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/flast.3d from 13.04.2012 15:36:37 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
CT Koeffizient des Gesamtwiderstandes eines Schiffes CV Volumetrischer Koeffizient D Richtmoment (Direktionsmoment); Widerstand (skalar) D Laplace-Operator (D ¼ q2=qx2 þ q2=qy2 þ q2=qz2); Wasserver- drängung (in N) ∂A Berandung einer Fläche A d Segel-Einstellwinkel
dik Kronecker-Delta (= 1, wenn i = k und 0 sonst) D1,D2,D3 Zugkräfte im Stehenden Gut DA Aerodynamischer Widerstand D xB Verlagerung des Auftriebsschwerpunktes df Flächenelement
DH Hydrodynamischer Widerstand DW Wellenwiderstand (skalar) EA Aerodynamischer Gleitwinkel EH Hydrodynamischer Gleitwinkel E Elastizitätsmodul Z Dynamische Zähigkeit; normierte Flügelspannweite F Allgemein: Kraft f Analytische Funktion; Frequenz F Kraft (auch im Komplexen)
FK Knickkraft FA Aerodynamische Vortriebskraft FB Auftriebskraft FG Gewicht FG,W Gewicht der mitgeschleppten Wassermenge fR Reduzierte Frequenz Fr Froude-Zahl g, g Gravitationsbeschleunigung g Winkel zwischen Scheinbarem Wind und Kurs des Schiffs; Dämpfungskonstante; Korrekturfaktor für Reibungswiderstand
gW Winkel zwischen Wahrem Wind und Kurs des Schiffs G Gewichtsschwerpunkt GM Metazentrische Höhe GML Longitudinale Metazentrische Höhe G Zirkulation pffiffiffiffiffiffiffi i Imaginäre Einheit, i ¼ 1
I, Ix,Iy Flächenträgheitsmomente k Federkonstante (harmon. Oszillator); Wellenvektor (Betrag) kn Knoten (1,852 km/h) L Charakteristische Länge; Wasserlinienlänge; Auftrieb (Skalar) l Länge (allgemein)
XII Liste der verwendeten Symbole Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/flast.3d from 13.04.2012 15:36:38 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
LA Aerodynamischer Auftrieb L Seitenverhältnis eines Flügels l Wellenlänge
LH Hydrodynamischer Auftrieb LH* Gesamter hydrodynamischer Auftrieb (LH ist die Horizontal- komponente davon).
LH,R Hydrodynamischer Auftrieb, Anteil des Ruderblatts LH,S Hydrodynamischer Auftrieb, Anteil des Schwertes M Metazentrum m Masse M Biegemoment
Ma Aufrichtendes Drehmoment mW Mitgeschleppte Wassermasse ∇ Nabla-Operator (Gradient, r¼ðq=qx, q=qy, q=qzÞ ; Verdrängtes Volumen n Kinematische Zähigkeit V Kreisfrequenz der Störfunktion V Wirbelstärke o Frequenz
o0 Eigenfrequenz eines (harmonischen) Oszillators p Druck f * Krängungswinkel; Realteil einer analytischen Funktion f Dimensionslose Geschwindigkeit c Imaginärteil einer analytischen Funktion
cx, cz Auslenkungen der Wasserteilchen aus der Ruhelage (Orbitalbe- wegung von Wellen) R Radius (geometrisch)
RA Aerodynamische Gesamtkraft Re Reynoldszahl
RG Trägheitsradius RGW Trägheitsradius der mitgeschleppten Wassermenge RH Hydrodynamische Gesamtkraft r Dichte; lokaler Krümmungsradius S Segelfläche s Spannweite (eines Flügels); Knicklänge
SA Aerodynamische Seitenkraft SA* Aerodynamische Seitenkraft normal zum Mast (SA ist die Hori- zontalkomponente davon).
SH Hauptspantfläche (eingetaucht) sik Spannungstensor St Strouhal-Zahl STZ Segeltragezahl
Liste der verwendeten Symbole XIII Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/flast.3d from 13.04.2012 15:36:38 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
t Profiltiefe; Zeit T Tiefgang Y Trägheitsmoment (eines Schiffes)
TR Tiefgang des Rumpfes u Geschwindigkeit (Strömung)
u0 Geschwindigkeit (einer Anströmung) v Geschwindigkeit des Scheinbaren Windes; Strömungs- geschwindigkeit
v0 Geschwindigkeit (einer Anströmung) vG Gruppengeschwindigkeit vH Horizontale Geschwindigkeit (Flugzeug) VMG Velocity Made Good = Zielgeschwindigkeit, im engeren Sinn Luvgeschwindigkeit
vP Phasengeschwindigkeit vR Rumpfgeschwindigkeit vS Schiffs-(Boots-)Geschwindigkeit vSi Sinkgeschwindigkeit (Flugzeug) vW Geschwindigkeit des Wahren Windes w Abwind x Ortsvektor W Widerstandsmoment ~ x Dimensionslose Raumkoordinate
xa Aufrichtender Hebelarm z Komplexe Zahl; Ortskoordinate z Integrationsvariable
XIV Liste der verwendeten Symbole Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:36:58 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche
Die Verwendung von Windkraft zum Antrieb von Wasserfahrzeugen geht bis weit in prähistorische Zeiten zurück1). Wir wissen nicht, wann zum ersten Mal ein früher Mensch eine geflochtene Matte oder eine Tierhaut auf seinem Floß gesetzt hat, um es von einer günstigen Brise antreiben zu lassen. Die älteste bekannte Darstellung eines Segels findet sich jedenfalls auf einer Totenurne aus Luxor (Ägypten), die aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. stammt. Gesichert sind weiters Hilfsbesegelungen in Ägypten seit etwa 4000/3000 v. Chr. Seegehende Segelschiffe besaßen die Phönizier etwa ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. Sie sollen angeblich unter Pharao Necho II etwa 600 v. Chr. damit bereits Afrika umsegelt haben. Bekannt sind die Leistun- gen der Wikinger, die um etwa 1000 n. Chr. Nordamerika erreicht haben, das sie wegen des dort vorkommenden wilden Weins „Vinland“ nannten. Während ihre Drachenboote (Langschiffe, Abb. 1.1) und die etwas rund- licher gebauten Handelsschiffe (Knarr) mit rechteckigen Rahsegeln aus- gerüstet waren, verfügt die Dau (oder Dhau) des arabischen Kulturkreises
Abb. 1.1 Langschiff der Wikinger (Wikimedia Commons, Ningyou).
1) Zur Geschichte des Schiffs mit naturgemäß starkem Bezug auf das Segelschiff siehe z. B. History of the Ship (Woodman, 2002).
Physik des Segelns: Wie Segeln wirklich funktioniert, 1. Auflage. Wolfgang Püschl. 1 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:36:59 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.2 Verschiedene Arten von Schratsegeln (fore-and-aft sails): a) Lateinersegel, b) Sprietsegel, c) Gaffelsegel, d) Luggersegel, e) Bermudasegel (Hochtakelung).).
über ein dreieckiges Lateinersegel2), das schließlich für den Mittelmeer- raum charakteristisch wurde und daher seinen Namen hat. Mit diesen Schiffen wurde bereits um die Zeitenwende unter Ausnützung des Mon- sun-Windsystems der Indische Ozean befahren. Somit entwickelten sich schon früh zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Segeln, die quer zum Schiff stehenden Rahsegel (engl. square sail), die größere Vortriebskraft vor dem Wind brachten, und die mehr in Längsrichtung orientierten Schratsegel (engl. fore-and-aft sail) wie Lateiner-, Spriet-, Gaffel- und Luggerse- gel, mit denen ein Aufkreuzen gegen den Wind vorteilhafter war (Abb. 1.2). Zu dieser Kategorie gehört auch die bei modernen Segelyachten übliche Hochtakelung (sog. Bermudasegel). Unabhängig davon entstand in China ab etwa 700 n. Chr. der Typ der Dschunke (Abb. 1.3), der über eine hervorragend bedienbare Amwindbesege- lung (Schratsegel!) verfügt, die den Lattensegeln moderner Yachten nicht unähnlich ist. Diese Fahrzeuge erreichten beträchtliche Größe und trugen mehrere Masten, lange bevor dies in Europa der Fall war. Die Seemacht- ambitionen Chinas, verkörpert durch den Admiral und Eunuchen Zheng He unter der Ming-Dynastie mit Reisen hunderter Schiffe (1405–1433) bis ins Rote Meer, fanden später durch politische Selbstbeschränkung ein jähes Ende. Nicht zu vergessen sind auch die Leistungen der seefahrenden Völker, die in einem über Jahrtausende erstreckten Prozess die gesamte Inselwelt des Pazifiks besiedelten (Austronesische Wanderung, ausgehend von Südchina 3500 v. Chr. bis etwa 1000 n. Chr. – Besiedelung Neuseelands). Sie bedienten sich Auslegerkanus mit hervorragenden Segeleigenschaften, wie sie heute noch von den Einwohnern Polynesiens benützt werden.
2) Oft in der Variante des Dau- oder Settee-Segels, bei dem ein Stück des vorderen Ecks abgeschnitten ist.
2 1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:03 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.3 Das Dschunkenrigg – eine effektive Amwindbesegelung. (Wikimedia Com- mons, Pearson Scott Forsman).
Im europäischen Raum tritt die Bedeutung des Hochseesegelschiffes mit den Koggen der Hanse (13. bis 15. Jahrhundert) in den Vordergrund, wobei das in der Mittschiffsebene angebrachte und um eine feste Achse drehbar gelagerte Steuerruder eine bedeutende Verbesserung der Manövrierfähig- keit darstellte. Ältere Schiffstypen wurden nämlich mit einem oder mehre- ren seitlich angebrachten Rudern gesteuert3). Mit dem Zeitalter der Ent- deckungsreisen, das mit dem 15./16. Jahrhundert einsetzte, und an dessen Anfang noch vergleichsweise kleine Schiffe standen, wie etwa die Karavel- len der Portugiesen, mit denen Kolumbus nach Amerika segelte und Vasco da Gama den Seeweg nach Indien entdeckte, kamen allmählich größere Schiffe auf, die immer kompliziertere Takelagen mit einer wachsenden Anzahl von Rahsegeln übereinander (Mars, Bram, Royal etc.) an mehreren Masten trugen. Allen Schiffsfreunden wohlvertraut sind Begriffe wie Ga- leone, Karacke, Fleute, schließlich die Ostindienfahrer (Abb. 1.4), Postschiffe („packets“) und Klipper des 18. und 19. Jahrhunderts, die den ausgereiften Typ des großen, seegehenden Schiffes mit drei rahgetakelten Masten (Voll-
3) Bei den Schiffen der Wikinger war die- mit seinem Rücken zur linken Schiffs- ses stets an der in Fahrtrichtung gese- seite. Darum heißt bis heute die rechte hen rechten Schiffsseite angebracht. Schiffsseite Steuerbord und die linke Der Steuermann ging seiner Tätigkeit Backbord. zum Ruder gewandt nach und zeigte
1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche 3 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:10 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.4 Ostindienfahrer, Nachbau der „Batavia“ (holländisch, 17. Jahrhundert) (Wiki- media Commons, ADZee).
Abb. 1.5 Teeklipper „Ariel“ und „Taeping“ bei ihrem berühmten Wettrennen im Ärmel- kanal.. (Shewan, 1927).
schiff, engl. ship schlechthin, Abb. 1.5) darstellten4). Triebfedern für die Entwicklung besonders schneller Segelschiffe waren illegaler Handel und
4) Zu verschiedenen Segelschiffstypen siehe The story of sail (Veres und Woodman, 1999) mit einer großen Fülle von Abbildungen.
4 1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:14 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.6 In Großbritannien neu gebaute Schiffe. Tonnage in Einheiten von 1 Million Tonnen (Daten: Encyclopaedia Britannica, 1926).
seine Bekämpfung (Opium- und Sklavenfahrt), der Transport leicht ver- derblicher Luxusgüter (Tee) und der Goldrausch in Kalifornien 1848. Das Segelschiff blieb durch viele Jahrhunderte das Fernreisemittel schlechthin. Die Konkurrenz zwischen Dampfschifffahrt und Segelschiff- fahrt währte lange Zeit. Noch 1890 hatten die Segelschiffe einen Anteil von 41 % der Welttonnage, der bis 1914 auf 7,5 % und bis 1937 allmählich auf 1,5 % sank. In einer Graphik, die den Anteil von Dampf- und Segelantrieb bei Neubauten in den Jahren 1865 bis 1890 in England zeigt, ist der Übergang zum maschinellen Antrieb deutlich zu sehen (Abb. 1.6). In der Küstenfahrt sind vor allem in Ländern der Dritten Welt, jedoch bisweilen sogar in Europa, bis zum heutigen Tag vereinzelt Segelschiffe anzutreffen, die dem Transport und der Fischerei dienen („Arbeitssegler“). In jüngster Zeit sind wieder ernsthafte Bemühungen im Gange, die Windkraft für die Handelsschifffahrt zumindest als Hilfsantrieb nutzbar zu machen. Die Firma Skysails (Deutschland) bietet ein System an, bei dem von einem ausfahrbaren Mast ein Flugdrachen bis in eine Höhe von mehreren 100 m steigen gelassen wird. Der Vorteil ist dabei die höhere Windstärke in diesen Luftschichten. Zusätzlich lässt man diesen Drachen sich in Achterschleifen bewegen, wodurch eine höhere scheinbare Wind- geschwindigkeit und noch größerer Vortrieb erzielt werden. Bei guten Windverhältnissen lässt sich damit eine Antriebsleistung von bis zu 2000 kW erzeugen (Abb. 1.7, siehe auch www.skysails.info).
1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche 5 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:15 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.7 Drachenantrieb für Handelsschiffe der Firma Skysails (Foto © Skysails, mit freundlicher Genehmigung).
Auch auf dem Gebiet des Sports spielen Drachenantriebe (Kitesurfen) eine immer größere Rolle. Den aktuellen Geschwindigkeitsrekord unter Segel hält ein Kitesurfer (siehe Abschnitt 1.1). Rotierende Zylinder (Flettner-Rotoren) können ebenfalls die Windkraft nutzen und werden neuerdings wieder kommerziell eingesetzt (Näheres dazu in Kapitel 4). Wenn wir heute von „segeln“ sprechen, dann meinen wir fast ausschließ- lich eine sportliche Betätigung, abgesehen von einigen Segelschulschiffen, die der Ausbildung in der Kriegs- und Handelsmarine dienen, und neuer- dings auch großen Segel-Passagierschiffen („Sea Cloud“, „Royal Clipper“, „Star Clipper“ etc.). Das Segeln als Zeitvertreib kam im 18. Jahrhundert in den Niederlanden auf und wurde im England des 19. Jahrhunderts zum exquisiten Sport des Hochadels und der Industriemagnaten entwickelt (Abb. 1.8 Schoner „Susanne“). Der Begriff „Yacht“ kommt von „Jagd“ und bedeutet ein kleines, schnell segelndes Schiff. Damit verlagert sich der Schwerpunkt vom Lastentransport zum Segeln als sportlicher Wettbewerb und Freizeitvergnügen: Nicht großes Fassungsvermögen bei noch akzep- tabler Geschwindigkeit, also insgesamt große Transportleistung, sondern allein die Erzielung größtmöglicher Geschwindigkeit steht an oberster Stelle der Forderungen des (Renn-) Yachtseglers. Diese haben wiederum je nach Größe des Bootes, dem Revier mit seinen Wind- und Wetterverhält-
6 1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:17 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.8 Schoner „Susanne“ 1910 (Foto: © Beken of Cowes).
nissen und der zu bewältigenden Distanzen eine Fülle von verschiedenen Segelyachttypen hervorgebracht (mehr dazu in Die Yacht (Sciarelli, 1973), Die Geschichte des Yachtsports (Charles, 2006), Segelsport, Segeltechnik, Segel- yachten (Baader, 1962) etc.). Während man um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Geschwindigkeit vor allem aus großen Segelflächen zu schöpfen suchte, begannen in den 1920er Jahren die Erkenntnisse der Aerodynamik und die Anfänge moderner Segeltheorie die Konstruktionen zu beeinflussen. Die Gaffeltakelage wurde von der Hochtakelung mit höherem Seitenverhältnis und besseren Kreuzeigenschaften abgelöst, und die Rümpfe wurden strömungsgünstiger und leichter. Noch immer war man hauptsächlich bemüht, die Eigenschaften des Rumpfes bei klassischer Verdrängungsfahrt zu optimieren, was zu besonders lang gestreckten Formen führte. Die damals eingeführten Klassen der Schärenkreuzer und Rennjollen (Abb. 1.9) illustrieren dieses Konzept. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts treten zuerst bei Jollen, Katamaranen und Windsurfern, schließlich aber auch bei Hochsee-Rennyachten Gleiteigenschaften in den Vordergrund. Im Verlauf der folgenden Kapitel werden wir bei allen Erörterungen immer die moderne Segelyacht vor Augen haben. Manche Sichtweisen,
1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche 7 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:18 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.9 Yachten aus den 1920er Jahren a) 40 m²-Schärenkreuzer (Foto: Autor), b) 20 m²-Rennjolle (Foto: Elisabeth Püschl).
die uns dabei vollkommen natürlich erscheinen, sind im Verlauf der jahr- hundertelangen Entwicklung der Segelschifffahrt durchaus nicht selbstver- ständlich gewesen, sondern haben sich erst langsam und mühsam durch- gesetzt. Dazu kommt, dass der Seefahrer stets zu einem konservativen, ja abergläubisch allem Neuen gegenüber ablehnenden Verhalten neigte, so- dass die Entwicklung sehr allmählich erfolgte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade heute, wo der Segelantrieb seine (direkte) kommerzielle Bedeutung verloren hat, die Segeltechnik ungeheure Fortschritte gemacht hat, sodass neben den Leistungen moder- ner Yachten sogar die berühmten Schnellsegler von einst verblassen. Die folgenden Leistungsvergleiche sollen dies illustrieren.
1.1 Höchstgeschwindigkeit
Ein typisches Handelsschiff vergangener Jahrhunderte erzielte im Schnitt eine Geschwindigkeit von wenigen Knoten, meistens deutlich unter 10 kn (1 Knoten = 1 Seemeile pro Stunde = 1,852 km/h). Höchstgeschwindig- keiten von etwa 10 kn konnten jedoch bereits von Hansekoggen erreicht werden, wie man bei Probefahrten mit Nachbauten feststellte. Eine Höchst- geschwindigkeit von über 10 kn ist auch für die Langschiffe der Wikinger plausibel, da bei Fahrten mit Nachbauten 14 kn erreicht wurden. Die berühmtesten Schnellsegler des 19. Jahrhunderts, die Teeklipper, konnten bis etwa 22 kn laufen (Log der „Sovereign of the Seas“), Geschwindigkeiten
8 1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:20 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 1.10 „Hydroptère“ (Foto: Gilles Martin-Raget).
von an die 20 kn sind auch von den großen stählernen Frachtseglern der Laeisz-Reederei („Flying P-Line“) auf der Route nach Südamerika überlie- fert. Solche Geschwindigkeiten können heute jedoch von relativ kleinen Gleitjollen unter günstigsten Verhältnissen erreicht werden und von mo- dernen Einrumpf-Hochseeyachten, wie sie beim Volvo Ocean Race einge- setzt werden, über lange Strecken mühelos übertroffen werden. Was Geschwindigkeit unter Segeln auf dem Wasser betrifft, so ist die „50- Knoten-Schallmauer“ bereits gefallen. Der aktuelle Segel-Geschwindigkeits- rekord5) über eine 500 m-Strecke beträgt 55,65 kn, aufgestellt 2010 mit einem Kitesurfer von Rob Douglas vor Lüderitz (Namibia). Der Rekord über eine Seemeile wird von Alain Thébault mit dem Tragflügel-Trimaran „Hydroptère“ (Abb. 1.10) mit 50,17 kn gehalten, aufgestellt im November 2009 vor Hyères (Frankreich). Der Weltrekord im Eissegeln beträgt 229 km/h entsprechend 124 kn, aufgestellt 1938 (!) von John D. Buckstaff auf dem Lake Winnebago, USA (umstritten, deutlich über 150 km/h jedenfalls gesichert). Das Landsegel- fahrzeug Ecotricity Greenbird erzielte 2009 202,9 km/h, auf dem Dry Lake Ivanpah.
5) Segel-Geschwindigkeitsrekorde werden Homepage des World Sailing Speed Re- häufig verbessert. Um auf dem Laufen- cord Concil (WSSRC): www.sailspeed- den zu bleiben, empfehlen wir die records.com
1.1 Höchstgeschwindigkeit 9 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:21 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
1.2 Etmale auf See
Aussagekräftiger im Vergleich mit historischen Segelschiffen sind auf jeden Fall größere Distanzen, die auf See zurückgelegt werden. Bei den Teeklippern galt ein Etmal („day’s run“ = die innerhalb von 24 Stunden zurückgelegte Distanz) von 200 sm als gute Leistung. Die „Cutty Sark“ verzeichnete als größtes Etmal 363 sm, das Fünfmast-Vollschiff „Preussen“ (Laeisz) 1903 eines von 368 sm, die „Champion of the Seas“ bereits 1854 ein Etmal von 465 sm. Die augenblicklichen Rekorde für eine in 24 Stunden zurückgelegte Distanz sind 908,2 sm entsprechend 37,84 kn Durchschnitt, aufgestellt 2009 vom Trimaran Banque Populaire V (131 Fuß) gesteuert von Pascal Bidegorry, Frankreich. Die beste Leistung für eine Einrumpfyacht ist 596,6 sm entsprechend 24,85 kn Schnitt, aufgestellt 2008 von „Ericsson 4“, einer Yacht vom Typ Volvo 70 unter Torben Grael (Abb. 1.11). Wenngleich der Rekord der Ericsson 4 nicht so viel mehr erscheint als die 465 See- meilen von 1854, so ist doch zu bedenken, dass er von einem Boot mit 24 m Länge aufgestellt wurde, während die „Champion of the Seas“ 84 m lang war. (Die Rumpfgeschwindigkeit beträgt bei dieser Länge 22 kn, was die berichtete Geschwindigkeit durchaus plausibel macht – vgl. Kapitel 6).
Abb. 1.11 a) „Banque Populaire V“ (Foto: © B.STichelbaut/BPCE), b) „Ericsson 4“ (Foto: © Dave Kneale).
1.3 Reisezeit auf Langstrecken
Für ein Segelschiff war es im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, zur Überquerung des Atlantiks drei bis vier Wochen zu benötigen. Bei einer Transatlantik-Regatta im Jahre 1905 stellte der Dreimastschoner „Atlantic“ einen legendären Rekord von 12 Tagen, vier Stunden und einer Minute auf (10,02 kn Schnitt), der erst im Jahr 1980 unterboten wurde. Den aktuellen
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Rekord hält 2009 der Trimaran Banque Populaire V unter Pascal Bidegorry mit 3 d 15 h 25 m 48 s und einer Durchschnittsgeschwindigkeit (!) von 32,94 kn. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass der noch immer gültige Dampfer-Rekord für das „Blaue Band des Nordatlantik“, aufgestellt von der SS „United States“ (1952) 3 d 12 h 12 m beträgt, bei einer Durchschnitts- geschwindigkeit von 34,51 kn. Es handelt sich dabei um ein Schiff mit einer Länge von 301,9 m! Zur ersten Weltumsegelung benötigte Magellans Flotte noch drei Jahre (mit ein paar Zwischenstopps allerdings). In der Zeit der Klipper galt eine Reise von England nach Australien mit 62 Tagen als Rekord („Thermo- pylae“ von London nach Melbourne 1868), ein sehr guter Wert waren auch etwa 90 Tage von China nach England. Eine berühmte Reise der „Flying Cloud“ führte 1851 von New York nach San Francisco in 89 Tagen. Dieser Wert wurde erst in den 1980er Jahren unterboten. Der augenblickliche Rekord für eine Nonstop-Weltumsegelung stammt aus dem Jahr 2012: Der Trimaran „Banque Populaire V“ bewältigte die Strecke unter Loick Peyron in 45 Tagen (19,75 kn Schnitt). Dieser Rekord wurde im Rahmen der „Jules Verne Trophy“ aufgestellt, deren ursprüngliches Motto es war, die Welt in weniger als 80 Tagen zu umsegeln. Bei allen Rekorden aus der klassischen Segelschiffsära ist zu bedenken, dass auch sie für die damalige Zeit extreme Spitzenleistungen darstellen und der typische Frachtsegler wesentlich länger brauchte, wie denn auch der heutige Fahrtensegler hinter den Leistungen hochgezüchteter Ozean- Rennmaschinen weit zurückbleibt.
1.4 Luvgeschwindigkeit
Nicht nur Höchstgeschwindigkeit, sondern auch die Fähigkeit schnell gegen den Wind aufzukreuzen gilt als Kriterium für die Leistungsfähigkeit einer modernen Segelyacht. Hier sind die rahgetakelten Großsegler einer modernen Yacht stark unterlegen. Als Richtwert für die Kreuztüchtigkeit eines klassischen Rahschiffes wird ein gesteuerter Kurs von 6 Strich am Wahren Wind angegeben, das entspricht 67,5 Grad. Die reine Luvgeschwin- digkeit (Zielgeschwindigkeit nach Luv, engl. oft als velocity made good – VMG – bezeichnet, das ist die Geschwindigkeitskomponente genau in Wind- richtung) ergibt sich aus der Multiplikation der Bootsgeschwindigkeit mit dem Cosinus dieses Winkels, cos(67,5°) ≈ 0,38. Eine moderne Rennyacht geht etwa 40° an den Wahren Wind. Der entsprechende Faktor cos (40°) ≈ 0,77 ist etwa doppelt so groß, d. h. bei gleicher Geschwindigkeit kann ein modernes Fahrzeug ein Ziel in Windrichtung doppelt so schnell erreichen. Darüber hinaus ist aber auch noch der Abdriftwinkel einer
1.4 Luvgeschwindigkeit 11 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:22 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
modernen Yacht wegen ihres strömungstechnisch ausgefeilten Kiels und Rumpfs wesentlich geringer als beim „kistenförmigen“ Großsegler, sodass sich der relative Vorteil noch vergrößert. Dazu kommt weiters, dass Groß- segler nur unter günstigen Umständen zwischen den Kreuzschlägen wen- den können und sehr oft gezwungen sind, zu halsen, womit viel Weg nach Luv verschenkt wird. Also kein Wunder, dass Großsegler oft Wochen brauchten, um Kap Hoorn gegen die dort vorherrschenden starken West- winde zu umrunden und öfters aufgaben und die Westküste Südamerikas schließlich mit einer Fahrt in östlicher Richtung an Australien vorbei ansteuerten. Einige Daten: Die 12 m-R-Yacht „Intrepid“ erreichte 1970 eine maximale Luvgeschwindigkeit von 7,5 kn bei 20 kn Wahrer Windgeschwindig- keit = 5 Bft (Marchaj, 1991). Eine 20 m²-Rennjolle erzielt bei diesen Verhältnissen etwa 5 kn Luvgeschwindigkeit, allerdings ohne Seegang (eigene Erfahrung des Autors). Während eines Trainingslaufs zum Ame- rica’s Cup 2010 hat der Katamaran „Alinghi 5“ bei einer Windgeschwindig- keit von 8–9 kn einen Kreuzkurs mit darauffolgender Vorwindstrecke von je 20 sm mit einer durchschnittlichen Zielgeschwindigkeit von 1,9mal der Wahren Windgeschwindigkeit abgesegelt. Die bemerkenswerte Tatsache ist, dass man heute, was die VMG betrifft, sowohl schneller als der Wind gegen den Wind als auch vor dem Wind kreuzen kann. Bei solchen extremen Booten kommt der Scheinbare Wind immer spitz von vorne, auch wenn der Wahre Wind von achtern kommt (dazu mehr in den Kapiteln 2 und 7).
1.5 Segler des Tierreiches
Das Prinzip des Tragflügels hat sich die Evolution schon frühzeitig zunutze gemacht, und das klassische Beispiel sind Vögel und andere Flugtiere. Manfred Curry vergleicht in seinem klassischen Buch Die Aero- dynamik des Segels und die Kunst des Regatta-Segelns (Curry, 1925) den Vogelflügel mit einer zeitgenössischen Takelage (Abb. 1.12). Das gleiche Prinzip kommt auch im Unterwasserbereich zur Anwendung (Fische, Pinguine etc.) sowie in der Pflanzenwelt bei geflügelten Samen. Es gibt allerdings auch Tiere, die das Gesamtkonzept einer Segelyacht verkörpern, indem sie sich an der Grenzfläche der beiden Medien bewe- gen, nämlich Segelquallen wie die Portugiesische Galeere (Abb. 1.13). Sie segeln mit Hilfe ihres Rückenkamms, der aus dem Wasser ragt und jeweils nach der Leeseite hin gewölbt werden kann, während ihre Unterwasser- Anhänge die Funktion eines Schwertes oder Kiels haben. Manfred Curry beobachtet sie im Mittelmeer und schreibt über sie „So ziehen diese
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Abb. 1.12 Vergleich einer Yachttakelung mit einem Vogelflügel (Curry, 1925).
kleinen Märchensegler mit ihren bläulich schimmernden Flügeln in gro- ßen Geschwadern über die unendliche Wasserfläche: In Kielwasser, neben- einander, durcheinander, sich gegenseitig abdeckend, kreuzen die Tiere mit langen Schlägen gegen den Wind an, und wenn man ihnen mitten im Felde vom Kajak aus zuschaut, möchte man meinen, Schiedsrichter bei einer großen Jollenregatta zu sein …“
Abb. 1.13 Portugiesische Galeere (Physalia physalis, Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1971–85).
1.5 Segler des Tierreiches 13 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c01.3d from 13.04.2012 15:37:24 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Zentrale Aussagen
Historische Entwicklung
• Die Kunst des Segelns reicht Jahrtausende zurück (belegt 5000 v. Chr.). Segelschiffe waren das Ferntransportmittel schlechthin. • Schon früh bildeten sich zwei Haupttypen von Segeln heraus: Rahsegel (quer zur Fahrtrichtung stehend) und Schratsegel (in Längsrichtung). • Ende 19. Jahrhundert: Bedeutung als Transportmittel schwindet, Yachtsport entsteht. • Steigerung der Geschwindigkeit anfangs durch große Segelfläche, später (1920er Jahre) durch schlanke Form. Leicht- und Flachbau- weise ermöglichen etwa ab 1950 das Gleiten.
Leistungsvergleiche
• Höchstgeschwindigkeit: In alten Zeiten wenige kn, Klipper bis etwa 20 kn, heute über 50 kn möglich (Kitesurfer, Tragflächenboo- te). • Etmale (Distanz in 24 Stunden): im 19. Jahrhundert 200 sm gute Leistung, Klipper bis 465 sm. Heutiger Rekord: 908 sm (Trima- ran). • Langstrecken: heute über den Atlantik in drei Tagen (früher 3–4 Wochen), nonstop um die Welt in 45 Tagen (früher viele Monate). • Luvgeschwindigkeit (VMG): heute größer als Wahre Wind- geschwindigkeit auf allen Kursen möglich. VMG mehr als 10 kn.
14 1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:46 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
2 Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand
2.1 Kräftegleichgewicht
Unter einem gleichförmigen Fahrtzustand verstehen wir das Dahinsegeln mit konstanter Geschwindigkeit, ohne Beschleunigung oder Verzögerung und ohne Lageveränderungen. Wegen des 1. Newton’schen Axioms (des Trägheitsprinzips) muss dann die Summe aller Kräfte, die auf das Segel- schiff ausgeübt werden, null sein. Mit dem Auge des Physikers betrachtet, handelt es sich bei einem Segelschiff um ein gekoppeltes System aus zwei tragflächenartigen Profilen. Es bewegt sich zugleich in zwei Medien, Wasser und Luft, und wird von ihnen in verschiedenen Richtungen und mit verschiedenen Geschwindigkeiten angeströmt. Aus den in Abb. 2.1 dargestellten geometrischen Verhältnissen und den Eigenschaften der angeströmten Profile ergibt sich die erstaunliche Fähigkeit eines Segel- schiffes, gegen den Wind aufzukreuzen. Entscheidend ist dabei nicht die absolute Geschwindigkeit der Medien oder des Bootes zu einem relativ zum Land ruhenden Referenzsystem, sondern die Relativbewegung von Segelschiff und Luft bzw. Wasser. Eine gute Illustration dazu liefert ein fiktiver Segelwettbewerb, der von R. Garrett (1996), erzählt wird: Zwei Segler wollen um die Wette segeln, indem sie zeitlich hintereinander 10 km einen Fluss hinunter segeln. Während dies der erste der beiden Segler tut, hat er Rückenwind, dessen Geschwindigkeit genau der Strömungs- geschwindigkeit des Flusses entspricht. Bis der zweite Segler an der Reihe ist, hat sich der Wind gelegt. Welcher der beiden kann bei optimaler Ausnützung seiner Segelkenntnisse die Strecke stromab schneller bewälti- gen? Die Antwort ergibt sich aus den Luftströmungsverhältnissen, denen der Segler ausgesetzt ist, während er sich den Fluss hinab bewegt: Während Segler 1 keinen Wind wahrnimmt, spürt Segler 2 einen Gegenwind. Diesen kann er nutzen, indem er gegen ihn aufkreuzt. Dadurch erzielt er eine zusätzliche Geschwindigkeit relativ zum strömenden Fluss mit einer Kom- ponente in Strömungsrichtung und ist folglich schneller am Ziel. Ein anderes Beispiel (ebenfalls von R. Garrett, 1996) zeigt uns, dass wir die Rolle von Luft und Wasser auch vertauschen können. Man stelle sich ein
Physik des Segelns: Wie Segeln wirklich funktioniert, 1. Auflage. Wolfgang Püschl. 15 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:46 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Luftschiff vor, das zunächst in einer Luftströmung über dem Wasser treibt, also relativ zur Luft in Ruhe ist. Sodann senkt es einen Tragflügel ins Wasser und verwendet diesen als „Wassersegel“, das in der vorbeiströmen- den Wassermasse wirksam wird. Damit kann sich das Luftschiff nun relativ zur Luftmasse bewegen. Es fährt in dieser genauso wie ein vom Wind angetriebenes Segelschiff im Wasser und kann sogar gegen die Geschwin- digkeit des „vorbeiströmenden“ Wassers aufkreuzen. In der Abb. 2.1 sind die Kräfteverhältnisse bei gleichförmigem Fahrt- zustand dargestellt. Diese Kräfte kommen durch Wechselwirkung des Bootsköpers und der Takelage mit den beiden Medien Wasser und Luft und durch besondere Phänomene (Wellen) an der Grenzfläche der beiden Medien zustande (Details in den Kapiteln 3 bis 6). Betrachten wir zunächst die Wasserkräfte: Das Boot bewegt sich mit einer Geschwindigkeit vs in einem Abdriftwinkel b zu seiner Kiellinie durch das Wasser. Im Bezugssystem des Bootes wird es von Wasser mit einer Geschwindigkeit –vs angeströmt. Dabei stellt der Abdriftwinkel b den Anstellwinkel dar, unter dem das Unterwasserschiff (insbesondere die Kiel- bzw. Schwertflosse als hydrodynamisches Profil) angeströmt wird. Er ist im normalen Fahrtzustand stets relativ klein und beträgt typischerweise 3–5°. Das Unterwasserschiff mit seinen Anhängen entwickelt in dieser Strö- mung eine gesamte hydrodynamische Kraft RH, die man in einen Auftrieb LH (engl. lift, auch hydrodynamische Seitenkraft genannt) normal zur
Abb. 2.1 Gleichgewicht der Luft- und Wasserkräfte beim gleichförmigen Segeln am Wind.
16 2 Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:48 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Anströmungsrichtung und in einen Widerstand DH (engl. drag) in Anströ- mungsrichtung zerlegen kann. Der Auftrieb kann dabei dem Absolutbetrag nach sehr viel größer sein als der Widerstand. Das Segel wird vom Wind in einem Winkel g zur Fahrtrichtung mit einem Geschwindigkeitsvektor v (Scheinbarer Wind, engl. apparent wind) ange- strömt, der sich aus dem Wahren Wind vw (engl. true wind, Wind in Bezug
auf einen an Land ruhenden Beobachter, Winkel zur Fahrtrichtung ist gW) und dem Fahrtwind –vS zusammensetzt. Dieser Scheinbare Wind ist jedoch der für die Strömung und das Entstehen der Luftkräfte maßgebliche. In Wirklichkeit ist also der Scheinbare Wind der „wahre“. Er trifft das Segel unter dem aerodynamischen Anstellwinkel a. Als solchen bezeichnet man den Winkel zwischen der Sehne des Profils, die näherungsweise mit der Richtung des Großbaums zusammenfällt, und der Strömungsrichtung. Der Wind erzeugt eine gesamte aerodynamische Kraft RA, die wiederum in eine Auftriebskomponente LA normal zur Anströmungsrichtung und eine Wider- standskomponente DA in Anströmungsrichtung zerlegt werden kann. Alter- nativ kann RA auch in die Fahrtrichtung vS und normal dazu zerlegt werden. Man erkennt, dass in Fahrtrichtung eine positive Vortriebskomponente FA besteht. Das ist eine Konsequenz der unterschiedlichen Anströmungsrich- tungen durch das Wasser und die Luft und ermöglicht das Aufkreuzen gegen den Wind. Im gleichförmigen Fahrtzustand muss das Boot insgesamt kräftefrei sein, die Gesamtheit aller Wasserkräfte muss der Gesamtheit aller Luftkräfte das Gleichgewicht halten. Es gilt also RA = –RH und auch kom- ponentenweise SA = –LH (mit einer aerodynamischen Seitenkraft SA) und FA = –DH. Ein Segelschiff in Fahrt ist fast stets zur Seite geneigt, was Krängung (engl. heel) genannt wird. Das Segel eines gekrängten (engl. heeled) Bootes wird auf Grund seiner Lage vom Scheinbaren Wind spitzer angeströmt als das Segel eines aufrecht fahrenden Bootes. Für den Beobachter auf dem gekrängten Boot erscheint nämlich das Dreieck aus Fahrtwind, Wahrem und Scheinbarem Wind um die Fahrtrichtung als Achse und um den Krängungswinkel nach unten geklappt (Abb. 2.2). Auf die ursprünglich horizontale Ebene projiziert, die etwa dem Deck des gekrängten Bootes entspricht, schließt die Richtung des Scheinbaren (und auch des Wahren) Windes nunmehr einen spitzeren Winkel mit der Fahrtrichtung ein. Das ist neben einigen anderen Faktoren ein Grund, warum ein aufrecht segeln- des Boot höher an den Wind geht und effizienter aufkreuzen kann. Der interessierte Leser ist eingeladen, sich diese Zusammenhänge mit einem Zeichendreieck zu veranschaulichen, das von oben betrachtet und zuerst waagerecht in der Hand gehalten und dann um eine Kathete nach unten geklappt wird.
2.1 Kräftegleichgewicht 17 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:48 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 2.2 Effekt der Krängung auf den An- Scheinbarer Wind v′ (Anströmwinkel g′) strömwinkel: Scheinbarer Wind v (Anström- beim gekrängten Boot. Analog für den winkel g) beim aufrecht segelnden Boot, Wahren Wind.
Das Verhältnis von aerodynamischem Widerstand DA zum aerodyna- L mischen Auftrieb A entspricht dem Tangens eines Winkels EA, des aerodynamischen Gleitwinkels. Der Ausdruck stammt aus der Flugzeugtech- nik, denn es ist genau der Winkel, unter dem ein Flugzeug angetrieben von seinem Gewicht zu Boden segelt (vgl. dazu Abb. 2.4 ganz unten). Ebenso entspricht das Verhältnis von hydrodynamischem Widerstand DH zum L hydrodynamischen Auftrieb H dem Tangens eines Winkels EH, des hydro- dynamischen Gleitwinkels. Wegen des Kräftegleichgewichtes bei gleichför- migem Fahrtzustand muss das Dreieck aus RA, SA, FA ähnlich zum R L D S Dreieck H, H, H sein und den Winkel EH enthalten. Da A normal auf vS steht und LA normal auf v (siehe Abb. 2.1), gilt die wichtige Beziehung
g ¼ EA þ EH: ðGleichung 2:1Þ
Während der aerodynamische Gleitwinkel auch relativ groß werden kann, wenn das Boot mit raumem bzw. achterlichem Wind segelt, ist der hydro- dynamische Gleitwinkel eines in Fahrt befindlichen Bootes immer relativ klein. Der Gleitwinkel ist immer dann klein, wenn das aero/hydrodyna- mische Profil sehr wirksam in der Erzeugung von Auftrieb ist und nur wenig Widerstand verursacht. Ein Segel wird jedoch manchmal als reiner Widerstandskörper verwendet, etwa, wenn man platt vor dem Wind segelt, und hat dann unter Umständen einen sehr großen aerodynamischen Gleitwinkel, der auch 90° erreichen kann. In der Abb. 2.3 ist das Wind- dreieck, bestehend aus Wahrem Wind, Fahrtwind und Scheinbarem Wind für verschiedene Kurse aus der Sicht des fahrenden Bootes dargestellt. Der Scheinbare Wind fällt immer spitzer ein als der Wahre Wind. Bei beson- ders großer Bootsgeschwindigkeit ist es sogar möglich, dass der Wahre Wind aus einer achterlichen Richtung kommt, der Scheinbare Wind aber von vorne (Beispiel d) in Abb. 2.3). Dies gilt für Hochleistungssegler
18 2 Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:49 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 2.3 Winddreieck aus Wahrem Wind b) halber Wind (engl. beam reach), c) Back- vW, Bootsgeschwindigkeit vS und Scheinba- stagkurs (broad reach), d) Sonderfall für rem Wind v bei betragsmäßig gleich blei- sehr hohe Bootsgeschwindigkeit: Obwohl bendem Wahrem Wind vW und die dazu der Wahre Wind achterlich einfällt (wie in gehörende Segelstellung für verschiedene c), kommt der Scheinbare Wind aus einer Kurse: a) hart am Wind (engl. close-hauled), vorlichen Richtung
insbesondere in Gleitfahrt, und stets für Eissegler, bei denen die hohe Geschwindigkeit dazu führt, dass der Scheinbare Wind immer spitz von vorne einfällt, und deren Segel daher immer dicht genommen wird, mit Ausnahme einer anfänglichen Beschleunigungsphase. In Abb. 2.4 sind diese Verhältnisse für Eissegler dargestellt und mit der Auftriebssituation eines effizienten Segelflugzeuges verglichen. Abbildung 2.4 zeigt das Anwachsen des Scheinbaren Windes bei einem Eissegler, während er beschleunigt. Der Wahre Wind weht dabei im rechten Winkel zur Fahrtrichtung. Fahrtgeschwindigkeit und Betrag des Scheinba- ren Windes erreichen ein Mehrfaches der Wahren Windgeschwindigkeit. 2 Da die Aerodynamische Gesamtkraft RA proportional zu v ist, übt der der Scheinbare Wind auf das Segel einer Eisyacht ein Vielfaches jener aerody- namischen Kraft aus, die der Wahre Wind auf ein ruhendes Segel ausüben würde. Mit dem Beschleunigen wächst also auch die Antriebskraft! Dass der Scheinbare Wind, der für die durch das Segel erzeugte Kraft maßgeb- lich ist, dem Betrag nach mehrfach so groß wie der Wahre Wind sein kann, verletzt nicht das Prinzip der Energie-Erhaltung. Die zur Fortbewegung benötigte Energie wird nämlich einem sehr großen Luftvolumen entzogen. Das Hochleistungs-Segelboot ist damit quasi ein Windenergie-Konzentra- tor. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei einem Windrad mit Flügeln, die einen kleinen Anstiegswinkel (= Schrägstellung der Flügel relativ zur Ebene des Windrades) aufweisen. Es wird durch eine vergleichsweise
2.1 Kräftegleichgewicht 19 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:51 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 2.4 Winddreieck bei einem Eissegler Sinkgeschwindigkeit, vH horizontale Flug- während der Beschleunigung, verglichen mit geschwindigkeit, FG Gewicht des Flug- einem Hochleistungs-Segelflugzeug, das in zeugs (nach Marchaj, 1991). der unbewegten Luft abwärts gleitet. vSi
schwache Brise in rasche Umdrehung versetzt. Bei Eisyachten kann wegen der geringen Kufenreibung der „hydrodynamische“ Widerstand DH prak- tisch vernachlässigt werden. Damit verschwindet der hydrodynamische ¼ Gleitwinkel EH, und die Beziehung Gl. (2.1) wird zu g EA. Der Kurswinkel zum Scheinbaren Wind wird dann nur durch das Verhältnis LA=DA bestimmt. Der gesamten Luftkraft RA wird durch die Seitenkraft (Zwangs- kraft) das Gleichgewicht gehalten, die von der Eisfläche über die Kufen auf den Eissegler ausgeübt wird. Ganz unten in Abb. 2.4 ist ein Hochleistungs- Segelflugzeug dargestellt. Wenn sich das Flugzeug in horizontaler Rich- tung mit vH bewegt und mit der Sinkgeschwindigkeit vSi zu Boden gleitet, ergibt sich daraus eine Anströmung v = –vH – vSi. Der Winkel g ist ebenso
wie beim Eissegler gleich dem aerodynamischen Gleitwinkel EA (von hier kommt die Bezeichnung!), denn die Gegenkraft zu RA ist in diesem Fall das Gewicht FG des Flugzeuges, und dieses wirkt senkrecht nach unten „ “ (damit wird der hydrodynamische Gleitwinkel EH = 0). EA kann bei solchen Flugzeugen sehr klein werden und beträgt typischerweise 1°, das entspricht einem Auftriebs-Widerstands-Verhältnis LA=DA 50. Es sind hauptsächlich zwei Freiheitsgrade, die der Segler bei gegebenem Wahrem Wind ausnützen kann: 1. Wahl des gesteuerten Kurses, 2. Wahl
20 2 Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:52 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
des Anstellwinkels des Segels. Aus letzterem folgen Auftrieb und Wider- stand des Segels, daraus wieder die Vortriebs- und Seitenkraft und über die Eigenschaften des Bootskörpers Geschwindigkeit und Abdriftwinkel. Da- raus resultiert in einer selbstkonsistenten Näherung wieder der Scheinbare Wind, daraus wieder die Luftkräfte etc. Man hat dann die richtigen Werte für die Bootsgeschwindigkeit und Abdrift gewählt, wenn der soeben ge- schilderte zyklische Berechnungsvorgang immer wieder auf dieselben Werte führt. Dieser Zusammenhang wird in Kapitel 7 näher erläutert.
2.2 Momentengleichgewicht
Das Kräftegleichgewicht genügt noch nicht für einen gleichförmigen Fahrtzustand, denn das Boot soll auch keinen Drehbeschleunigungen ausgesetzt sein. Rotationen können im Prinzip um eine Achse normal zur Wasseroberfläche erfolgen (Achse 1: Eine Drehung um sie heißt gieren, engl. yaw), um die Längsschiffsachse (Achse 2: rollen, engl. roll, als periodi- sche Bewegung, sonst krängen) oder um eine quer liegende Achse (Achse 3: stampfen, engl. pitch)1).
2.2.1 Achse 1
Betrachten wir die Situation für den ersten Fall, also eine vertikale Dreh- achse, Achse 1 (Abb. 2.5). Vor allem bei raumem Kurs greift die Vortriebs- kraft FA nicht in der Mittschiffsebene an, sondern in Lee davon, was umso stärker ausgeprägt ist, wenn das Boot gekrängt segelt. Das Drehmoment aus den Kräften FA und DH möchte das Boot in den Wind drehen, macht es also luvgierig. Um es zumindest soweit zu kom- pensieren, dass man mit kleiner Ruderwirkung auskommt, werden Bese- gelung und Kielflosse von vornherein so angeordnet, dass die Querkräfte SA und LH ebenfalls etwas versetzt gegeneinander angreifen und damit ein gegenläufiges Drehmoment bilden. In Seitenprojektion muss dazu der Angriffspunkt der aerodynamischen Seitenkraft SA (der aerodynamische
Segelschwerpunkt CS) vor dem Angriffspunkt der hydrodynamischen Sei- L tenkraft H (dem hydrodynamischen Lateralschwerpunkt CL) liegen. Der Konstrukteur setzt dazu den geometrischen Segelschwerpunkt um ein
1) Diese Unterscheidung nach Richtun- nach einem bekannten Satz der klassi- gen bzw. verschiedenen Drehachsen ist schen Mechanik für den Starren Körper zweckmäßig für die Diskussion, aber durch eine resultierende Gesamtkraft im Grunde willkürlich. Alle Kräfte, die plus ein Kräftepaar ersetzt werden. am Boot angreifen, können jedenfalls
2.2 Momentengleichgewicht 21 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:52 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 2.5 Luvgierigkeit.
gewisses Maß, das engl. „lead“ genannt wird und meistens ca. 5–10 % der Bootslänge beträgt, vor den geometrischen Schwerpunkt der Unterwasser- fläche (= Lateralschwerpunkt). In Abb. 2.6 sind die Lagen der Kraftschwer- punkte in Seitenprojektion in verschiedenen Näherungen und in tatsäch- licher Lage dargestellt. Der aerodynamische Segelschwerpunkt liegt deshalb vor dem geometrischen (im Segelriss), weil nicht jeder Teil der Fläche gleichermaßen zur Seitenkraft beiträgt. Vielmehr entwickeln die Flächen- anteile in der Nähe der Vorderkante mehr Kraft (Schraffur in Abb. 2.6, siehe dazu die Druckverteilung am Tragflügel in Kapitel 4 bzw. 5). Der geometrische Schwerpunkt des projizierten wahren Segelumrisses ist eine dazwischenliegende Annäherungsstufe. Der dynamische Lateralschwer- punkt liegt ebenfalls vor dem geometrischen Lateralschwerpunkt, weil auch unter Wasser die wirksameren Teile des Profils in der Nähe der Vorderkante liegen. Auch die Asymmetrie, die bei der Krängung des Rumpfes in der Form des Unterwasserschiffes entsteht, kann ein Giermoment hervorrufen. Man kann sich davon überzeugen, indem man in einem Ruderboot kurz zu rudern aufhört und es ein wenig nach der Seite neigt. Es wird dann vom geraden Kurs abweichen. Nach welcher Richtung, hängt von der Bootsform und vom Ausmaß der Krängung ab – es kann sich entweder eine Art „Rudereffekt“ durch die eintauchende Flanke des Bugs ergeben oder der Widerstand der stärker eingetauchten Bootsseite überwiegt. Einem luvgierigen Moment kann auf verschiedene Art entgegengewirkt werden, etwa durch Fieren des Großsegels oder Setzen eines größeren Vorsegels, bei großen Segelschiffen auch indem Segel im vorderen Teil des Schiffes gesetzt und achtern weggenommen werden, etwa durch Bergen des Besans (Segel am achteren Mast) bei einer Ketsch oder Yawl (zweimas-
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Abb. 2.6 Lage von Segelschwerpunkt CS die Flächenanteile unmittelbar hinter der und Lateralschwerpunkt CL . Prinzipskizze Vorderkante der Segel (Schraffur) die am Beispiel einer 20 m²-Rennjolle. meiste Kraft ausüben, wandert der dyna- a) Aus dem Segelriss rein geometrisch er- mische Segelschwerpunkt noch weiter D mittelt. b) Aus der tatsächlichen projizierten nach vorne. Lgeom bedeutet die kons- Segelfläche ermittelt, wenn die Segel beim truktiv beabsichtigte Vorlage (engl. lead) fahrenden Boot realistisch auswehen. c) Aus des Segelschwerpunkts gegenüber dem den tatsächlichen Kräfteverhältnissen: Da Lateralschwerpunkt.
tiges Segelschiff). Bei den historischen Galeonen führten die hohen Auf- bauten im Heckbereich zu einer unerwünschten Luvgierigkeit, die man durch eine Schar ebenso barocker Vorsegel zu bekämpfen versuchte, beispielsweise durch sog. Blinden, die unter dem Bugspriet gesetzt wur- den, ja sogar durch Segel, die an einem kleinen Mast gefahren wurden, der an der Spitze des Bugspriets stand (sog. Bovenblinde, zu sehen am Ost- indienfahrer „Batavia“ in Abb. 1.4). Die einfachste und schnellste Art der Korrektur eines luvgierigen Mo- ments, wie es etwa beim plötzlichen Einfall einer Bö durch verstärkte Krängung auftritt, ist es, Ruder zu legen (Abb. 2.7). Vorher herrscht Ungleichgewicht der Drehmomente, und die Wirkungs- linien der Resultierenden RH und RA der Kraftkomponenten (LH, DH) und (SA, FA) sind zunächst gegeneinander verschoben (Abb. 2.7a). Legt man Ruder, dann erzeugt dieses wegen des vergrößerten Anstellwinkels einen
2.2 Momentengleichgewicht 23 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:37:56 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 2.7 Wiederherstellung des Momen- hergestellt. Die Blockpfeile deuten an, wie tengleichgewichts durch Ruderlegen: a) luv- sich die Größen von a) zu b) verändert gieriges Moment, b) Gleichgewicht wieder- haben.
verstärkten hydrodynamischen Auftrieb LH,R. Ein Teil der gesamten Seiten- kraft LH wird daher vom Kiel (bzw. Schwert, LH,S) auf das Ruder verlegt. Dadurch verschiebt sich die Resultierende RH so weit, dass sie wieder auf der Wirkungslinie der anderen Resultierenden liegt, und das Momenten- gleichgewicht ist wiederhergestellt (Abb. 2.7b).
Abb. 2.8 20 m²-Rennjolle, unter Spinnaker bei dieser Krängung bereits unwirksam aus dem Ruder gelaufen. Man erkennt noch geworden. Klassenmeisterschaft 2005, den Versuch abzufallen. Das Ruder ist aber Ratzeburger See. Foto: Gudrun Wigger.
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Wird durch plötzliche starke Krängung das luvgierige Moment so stark, dass Ruder legen nicht mehr ausreicht, dann läuft das Boot aus dem Ruder,es kommt zum berüchtigten Sonnenschuss (Abb. 2.8, engl. broach-to), ein Unfall, der vor allem unter Spinnaker auftritt und zum Untergang etlicher Kielyach- ten geführt hat. Besonders leicht tritt diese Situation auf, wenn eine von achtern auflaufende See (Wellengang) zeitlich veränderliche Drehmomente ausübt und damit das Boot zusätzlich destabilisiert (siehe auch Kapitel 8).
2.2.2 Achse 2
Wir wenden uns nun den Momenten um die Längsachse zu, die eine für Segelschiffe eminent wichtige Eigenschaft bedingen, die Querstabilität. In Abb. 2.9 sind diese Momente dargestellt. Aerodynamische und hydrodyna- * * mische Seitenkraft LH und SA bilden zusammen ein Kräftepaar, dem ein krängendes Moment entspricht. Der Stern bedeutet in diesem Fall, dass nicht die auf die Wasseroberfläche projizierten Komponenten LH und SA zu nehmen sind, sondern die Gesamtkräfte, die normal auf die jeweiligen Auftrieb erzeugenden Flächen (Rumpf und Segel) wirken (siehe auch Detailansicht links unten in Abb. 2.9). Diesem krängenden Moment wirkt ein zweites Kräftepaar entgegen, das aus dem Gewicht des Bootes FG und dem Auftrieb FB besteht. Das ist deshalb möglich, weil sich der Auftriebs- schwerpunkt bei Krängung aus der Mittschiffsebene nach außen verlagert.
* Abb. 2.9 Krängende und aufrichtende Seitenkraft SA bzw. des hydrodyna- * Drehmomente. SA und LH sind die Hori- mischen Auftriebs LH . zontalkomponenten der aerodynamischen
2.2 Momentengleichgewicht 25 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:38:01 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Als Metazentrum bezeichnet man den Durchstoßpunkt der Wirkungs- linie des Auftriebs mit der Mittschiffsebene2). Die Metazentrische Höhe GM ist der Abstand des Metazentrums vom Schwerpunkt der Yacht. Sie ist eine wichtige Kenngröße für die Stabilität. Aus ihr lässt sich der aufrichtende
Hebelarm xa und damit das aufrichtende Drehmoment Ma berechnen:
xa ¼ GM sin f ðGleichung 2:2aÞ
Ma ¼ xaD, ðGleichung 2:2bÞ
wobei D die Wasserverdrängung (betragsmäßig identisch mit dem Gewicht) der Yacht ist. Wenn der Verlauf der Schwimmwasserlinie aus dem Linienriss der Yacht bekannt ist, so lässt sich daraus die Metazentrische Höhe für kleine Krängungswinkel berechnen. Dazu müssen wir wissen, um wie viel sich die Lage des Auftriebsschwerpunktes auf Grund der Krängung verän- dert. Der Auftriebsschwerpunkt ist gleich dem Schwerpunkt des eingetauch- ten Bootsvolumens ∇ (Volumenverdrängung, es gilt D ¼ rgr mit der Dichte r des Wassers und der Gravitationsbeschleunigung g)3), und sein Ortsvektor wird nach folgender Formel berechnet, die der üblichen Methode zur Berechnung von Schwerpunktskoordinaten entspricht: R R xdV xdV r r x ¼ R ¼ : ðGleichung 2:3Þ B dV r r
Wird ein Teil DV dieses Volumens verschoben, dann ändert sich die Lage des Schwerpunkts entsprechend R DxdV x ¼ DV : ð : Þ D B r Gleichung 2 4
Aus Abb. 2.10 geht hervor, dass das durch Krängung verschobene Volumen für jede quer aus dem Bootskörper herausgeschnitten gedachte dünne Scheibe ein schmaler Keil ist. Dieser taucht in Luv aus dem Wasser und in Lee in das Wasser ein. Wir bezeichnen mit x die Koordinate in Quer-
2) Genauer gesagt, handelt es sich um den Schnittpunkt der Wirkungslinien des Auftriebs für zwei Krängungswinkel, die sich nur sehr wenig voneinander unter- scheiden. 3) Achtung Physiker: ∇ als verdrängtes (Kapitel 3) verwechselt werden. Ebenso Volumen entspricht hier der üblichen sollte die Wasserverdrängung D vom Bezeichnungsweise im Schiffsbau und Laplace-Operator unterschieden wer- sollte nicht mit dem Nabla-Operator den.
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Abb. 2.10 Zur Ableitung der Metazentrischen Höhe für kleine Krängungswinkel aus den Eigenschaften der Schwimmwasserlinie (siehe Text).
schiffsrichtung und mit y die Koordinate in Längsrichtung. Die Höhe des Keils kann für kleine Krängungswinkel f dargestellt werden als x f. Ein kleines Element, das aus dem Keil herausgeschnitten wird, hat eine auf die Querschiffsebene projizierte Fläche von dA = x f dx. Jedes dieser Elemente wird um 2x von der einen Seite des Schiffs zur anderen verlagert (Distanz Dx in Gl. 2.4). Sie befinden sich von der Mittschiffsebene bis zur größten Breite b(y) bei der Längenkoordinate y. Durch Integration dieser Beiträge über einen Keil und dann über alle keilförmigen Scheiben, die hinter- einander in Längsrichtung des Schiffes angeordnet sind, ergibt sich dann für die Verlagerung des Auftriebsschwerpunktes von seiner aufrechten
Lage B0 zur gekrängten Lage B:
RL bRðyÞ dy dx x f 2x RR 2 f ¼ jjx ¼ 0 0 ¼ 2 dxdy x f ¼ Iy B0B D B r r r , ðGleichung 2:5Þ
wobei die Integration über die gesamte Fläche der aufrechten Schwimm-
wasserline geht und Iy deren sogenanntes Flächenträgheitsmoment um die Längsachse darstellt. Wir können uns dazu vorstellen, in der Schwimm- wasserlinie eine sehr dünne Scheibe aus dem (voll gedachten) Bootsrumpf herauszuschneiden. Lassen wir diese dann um die Längsachse des Bootes
rotieren, dann ist Iy r dz das Trägheitsmoment, wenn dz die Dicke der Scheibe und r die Dichte des Materials ist. Für den Abstand des Metazen- trums vom aufrechten Auftriebsschwerpunkt gilt dann für kleine Winkel f
2.2 Momentengleichgewicht 27 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:38:02 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
B B B B I B M ¼ 0 0 ¼ y : ðGleichung 2:6Þ 0 tan f f r
Für die Metazentrische Höhe müssen wir nur noch den Abstand des
Gewichtsschwerpunkts G vom aufrechten Auftriebsschwerpunkt B0 addie- ren (wenn er unter B0 liegt) bzw. subtrahieren (wenn er über B0 liegt).
GM ¼ B0M B0G ðGleichung 2:7Þ
Aus Gln. (2.6) und (2.7) ergibt sich auch die interessante Tatsache, dass die Metazentrische Höhe im Grenzfall kleiner Krängungswinkel nicht gegen null, sondern gegen einen konstanten Wert geht. Diesen meint man meistens, wenn man in legerem Sprachgebrauch von der Metazentrischen Höhe spricht. Für größere Krängungswinkel kann sich das Metazentrum von seiner ursprünglichen Lage (Anfangsmetazentrum) verlagern. Aus Gl. (2.5) ist auch unmittelbar der große Einfluss der Schiffsbreite auf die Anfangsstabilität zu ersehen. Ein bei gleicher Länge und gleichem Tiefgang doppelt so breites Schiff weist die vierfache Metazentrische Höhe und das achtfache aufrichtende Drehmoment auf! Sind zwei Schiffe geometrisch ähnlich, aber verschieden groß, dann führen sowohl die Ähnlichkeits- gesetze als auch Gln. (2.5) und (2.6) auf die Erkenntnis, dass der aufrich- tende Hebelarm proportional zur Länge L, die Wasserverdrängung propor- tional zu L3 und das aufrichtende Drehmoment proportional zu L4 ist. Dies bedeutet, dass mit der Größe eines Schiffes seine Querstabilität sehr stark anwächst. Das hat wichtige Konsequenzen für das Segeltragvermögen (Kapitel 6). Es ist eine reizvolle Übungsrechnung, die Metazentrische Höhe für einen homogenen, schwimmenden Zylinder zu berechnen, der ja indifferente Stabilität aufweist, sowie für runde und rechteckige Boots- querschnitte. Siehe dazu den Anhang A3. Die Bestimmung von GM für große Krängungswinkel ist im Allgemeinen schwierig, da die Schwimmlage des Schiffes im gekrängten Zustand nicht bekannt ist. Insbesondere stellt sich die Verlagerung schmaler „Wasserkeile“ nicht mehr so symmetrisch dar, wie es in Abb. 2.10 dargestellt ist. Mit zunehmender Krängung kann sich GM vergrößern (was charakteristisch für Kielyachten mit tief reichendem, schwerem Ballastkiel ist) oder verklei- nern (typisch für flache Jollen oder Katamarane). Als „Metazentroid“ wurde von einer Schule von Yachtkonstrukteuren (Turner, 1940er Jahre), die dies für eine besonders günstige Eigenschaft hielten, ein Bootskörper bezeichnet, dessen Metazentrum auch bei größeren Krängungen konstant bleibt.
Der aufrichtende Hebelarm xa ist über Gl. (2.2a) mit der Metazentrischen Höhe verknüpft und stellt eine wichtige Kenngröße für die Stabilität dar. In
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Abb. 2.11 Aufrichtende Hebelarme ver- bei D markiert den Punkt, wo bei weiter schiedener Segelyachten. Daten von Jolle fortschreitender Krängung der Kajütauf- und Katamaran nach Baader (1962), Daten bau eintaucht. Die gestrichelten Verläufe der Kielyachten YD-40 und Contessa 32 gelten für ausreitende/im Trapez stehende nach Larsson und Eliasson (2010). Die Delle Besatzung.
Abb. 2.11 ist er als Funktion des Krängungswinkels für verschiedene Segelyachten aufgetragen. Bei Jolle und Katamaran wächst der aufrichtende Hebelarm bei fort- schreitender Krängung vor allem dadurch an, dass sich der Auftriebs- schwerpunkt durch die flache Bootsform nach Lee verschiebt, was als Formstabilität bezeichnet wird. Typisch für formstabile Boote ist, dass in aufrechter Schwimmlage sich der Gewichtsschwerpunkt oberhalb des Auf- triebsschwerpunktes befindet. Die Gewichtsverlagerung der Besatzung (ausreiten, Trapez) trägt erheblich zur Stabilität bei (gestrichelte Verläufe). Beim Katamaran wird mit zunehmender Krängung der Auftriebsschwer- punkt ziemlich rasch in den Leeschwimmer verlegt. Der aufrichtende Hebelarm zeigt daher ein scharfes Maximum, wenn der Luvschwimmer aus dem Wasser taucht, und wächst dann nicht weiter an, weil sich der Auftriebsschwerpunkt innerhalb des schmalen Leeschwimmers kaum mehr verändert. Bei etwa 55° schwindet bei Katamaran und Jolle die Stabilität, und die Boote kentern. Im Gegensatz dazu haben die dargestell- ten seegehenden Kielyachten noch bei sehr großen Krängungswinkeln einen positiven aufrichtenden Hebelarm, im Falle der Contessa 32, eines
2.2 Momentengleichgewicht 29 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:38:05 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Langkielers mit v-förmiger, tiefreichender Spantform, fast bis 180°. Diese Yacht entspricht damit nahezu der idealen Sicherheitsvorstellung für einen Seekreuzer, sich aus jedem Krängungswinkel wieder aufrichten zu können. Die YD-40 hingegen hat einen flachen Rumpf mit angesetzter Kielflosse und hat ab etwa 130° negative aufrichtende Hebelarme und damit eine stabile Schwimmlage in gekentertem Zustand. Bei Kielyachten trägt durch den tief liegenden Ballastkiel die Verlagerung des Gewichtsschwerpunktes entscheidend zum Entstehen des aufrichtenden Hebelarms bei. Man spricht in diesem Fall von Gewichtsstabilität. Der Gewichtsschwerpunkt liegt relativ tief und unterhalb des Auftriebsschwerpunktes in aufrechter Schwimmlage. Interessanterweise sind die aufrichtenden Hebelarme für die Kielyachten nicht größer als für die kleinen Gleitboote, und sogar bei großen Handels-Seglern mit mehreren tausend Tonnen Wasserverdrän- gung liegen sie bei 1 m oder darunter. Diese Schiffe beziehen ihre Stabilität aus ihrer großen Wasserverdrängung, und wir werden sehen (Kapitel 8), dass es gute Gründe gibt, sie nicht durch Erhöhung des Hebelarmes noch viel größer zu machen (vgl. auch den Abschnitt über das Segeltragver- mögen in Kapitel 6). Es sollte bei Betrachtungen über die Stabilität von Schiffen allerdings nicht vergessen werden, dass sie in der Praxis nicht rein statischer Natur ist. Im Ernstfall wird eine kritische Stabilitätsgrenze aus einer Rollbewe- gung heraus überschritten. Welche Periode diese Bewegung hat und wie sie unter Umständen aufgeschaukelt werden kann, ist in Kapitel 8 behan- delt. Welchen Widerstand ein Schiff dem Kentern insgesamt entgegensetzt, sagt die sog. „dynamische Stabilität“, das ist die Gesamtenergie, die man aufwenden muss, bis es den Kenterpunkt erreicht hat, wenn der aufrich- tende Hebelarm durch null geht und negativ wird. Man erhält diese Kenn- größe, indem man die Hebelarmkurven (Abb. 2.11) über den Krängungs- winkel bis zu diesem Punkt integriert (im Bogenmaß!) und mit der D Wasserverdrängung FB (= ) multipliziert.
2.2.3 Achse 3
Schließlich wollen wir das Momentengleichgewicht um die dritte verblei- bende Achse, die Querschiffsachse, betrachten (Abb. 2.12). Da die Vortriebskraft FA (Luft) in beträchtlicher Höhe über der Wider- standskraft DH (Wasser) angreift, ist das Drehmoment in diesem Fall besonders groß. Indem das Schiff vorne tiefer eintaucht, kann aber relativ leicht über die Schiffslänge ein ebenso großes Gegenmoment erzeugt werden. Dieses Momentengleichgewicht kann insbesondere bei Mehr- rumpfbooten prekär werden, weil sie infolge der scharfen Rümpfe im Vorschiff wenig Auftriebsreserve haben (Abb. 2.13). Es gilt dann, diesem
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Abb. 2.12 Momentengleichgewicht um Quer- schiffsachse. Prinzipskizze unter Verwendung ei- ner Grafik von M. Barbetorte (Wikimedia Com- mons), die einen Tornado-Katamaran darstellt.
Fall durch entsprechende Verlagerung des Mannschaftsgewichts zuvor- zukommen, oder, bei größeren Booten, Druck aus den Segeln zu nehmen bzw. die Segelfläche zu verkleinern. Die Längsstabilität kann im Übrigen völlig analog zur Querstabilität behandelt werden. Weil das Boot über keine Symmetrieebene in Quer- richtung verfügt, muss man allerdings auf die exakte Definition des Metazentrums zurückgreifen. Es handelt sich um den Schnittpunkt der Wirkungslinien des Auftriebs für zwei eng benachbarte Krängungswinkel. So wird ein longitudinales Metazentrum definiert und die longitudinale Metazentrische Höhe analog zu den Gln. (2.5) bis (2.7) berechnet, wobei nunmehr das Flächenträgheitsmoment der Wasserlinienfläche um eine Querschiffsachse als Drehachse eingeht. Das longitudinale Metazentrum (Längenmetazentrum) befindet sich typischerweise in mehreren Metern Höhe, während die transversale Metazentrische Höhe in Regel unter 1 m beträgt. Obwohl wir die Drehmomente und ihre Wirkungen nach drei Haupt- achsen getrennt besprochen haben, sind sie in Wirklichkeit aufs Engste miteinander verknüpft. So entsteht etwa bei einer Yacht, die im Achter- schiff wesentlich flachere Spantformen aufweist als im Vorschiff, bei Krängung (Achse 2) dort zusätzlicher Auftrieb, weil ein Teil des Rumpfes ins Wasser eintaucht, der sonst oberhalb der Wasserlinie liegt. Dies führt zu einer Vertrimmung in Längsrichtung (Achse 3), d. h., die Yacht taucht mit dem Bug tiefer ein. Dadurch wandern Lateralschwerpunkt und Segel- schwerpunkt nach vorne, was üblicherweise insgesamt zu einem luvgieri-
2.2 Momentengleichgewicht 31 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c02.3d from 13.04.2012 15:38:06 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 2.13 Problem der Längsstabilität bei extrem schlanken Rümpfen von Mehrrumpf- booten: Kritischer Fahrtzustand des Trimarans Sodebo (Foto: Ivan Zedda).
gen Moment (Achse 1) führt. Der Effekt ist besonders ausgeprägt bei modernen Hochsee-Rennyachten, die zur Verbesserung der Gleiteigen- schaften im Heckbereich flach gebaut sind.
Zentrale Aussagen
• Segelschiff, physikalisch betrachtet: Ein System, bestehend aus zwei miteinander verbundenen Tragflächen, die von zwei Medien (Wasser und Luft) aus verschiedenen Richtungen und mit ver- schiedenen Geschwindigkeiten angeströmt werden. Es kommt auf die Relativbewegung der beiden Medien an. • Im gleichförmigen Fahrtzustand (geradeaus mit konstanter Ge- schwindigkeit) muss die Summe aller Kräfte ebenso wie die Summe aller Drehmomente auf das Boot null sein. • Gleichgewicht der Kräfte: Anstellwinkel der Unterwassertragfläche (Kielflosse) ist der Ab- driftwinkel. Diese erzeugt Auftrieb (Seitenkraft) und Widerstand. Das Segel wird durch den Scheinbaren Wind (Luftströmung im Bezugssystem des bewegten Bootes) angeströmt. Die entstehende
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Luftkraft kann in Bezug auf die Anströmung wieder in Auftrieb und Widerstand zerlegt werden. Alternativ dazu kann sie wie die Unterwasserkräfte in Fahrtrichtung und normal dazu zerlegt werden. Die Komponente in Fahrtrichtung ist nach vorn gerichtet und dient dem Antrieb des Bootes. • Aus dem Winddreieck, der Vektoraddition von Wahrem Wind und Fahrtwind zum Scheinbarem Wind, ergibt sich: Hochleis- tungssegler segeln zum Großteil mit dem eigenen Fahrtwind. Das widerspricht nicht dem Energieerhaltungssatz, denn es wird nur Windenergie „konzentriert“. • Gleichgewicht der Drehmomente. Das Boot kann sich um drei Hauptachsen drehen: 1) Normal auf die Wasseroberfläche (Bewegung: gieren). Ein luvgieriges Moment entsteht, weil die Antriebskraft (Segel) außerhalb der Mittschiffsebene angreift. Konstruktives Gegen- mittel: Segelschwerpunkt, von der Seite gesehen, eilt dem Lateralschwerpunkt (Unterwasser) voraus („lead“). 2) Längsachse (Bewegung: krängen bzw. rollen). Unter Winddruck nimmt das Boot nach Drehung um diese Achse einen Nei- gungswinkel ein (Krängung). Querstabilität: aufrichtendes Drehmoment durch Bootsgewicht und Auftrieb. Dessen Schwerpunkt wandert bei Krängung nach Lee. Verlängerung nach oben bis Mittschiffsebene → Metazentrum. Lage des Me- tazentrums bestimmt aufrichtenden Hebelarm. Berechnung der Metazentrischen Höhe aus dem Flächenträgheitsmoment der Schwimmwasserlinie. 3) Querachse (Bewegung: stampfen). Behandlung der Stabilität analog zur Querstabilität → longitudinales Metazentrum.
2.2 Momentengleichgewicht 33 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:45 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
3 Grundlagen der Strömungslehre
Im vorangegangenen Kapitel haben wir die Existenz von Widerstands- und Auftriebskräften beim angeströmten Segel bzw. Unterwasserschiff als ge- geben hingenommen. Nun wollen wir die Grundlagen für das physika- lische Verständnis dafür legen, wie diese Kräfte zustande kommen. In der Strömungslehre wird das Fluid (Flüssigkeit oder Gas) als Kon- tinuum angesehen, dessen Zustand bei konstanter Temperatur durch ein Strömungsfeld v(x,t), ein Druckfeld p(x,t) sowie ein Dichtefeld r(x,t) vollständig beschrieben wird. Druck und Dichte sind allerdings nicht unabhängig voneinander, sondern über die Zustandsgleichung des Mediums miteinan- der verknüpft, wobei im Allgemeinen auch noch die Temperatur variabel ist. Für sehr viele Anwendungen, vor allem Hydrodynamik sowie Aerody- namik von Luftströmungen weit unter der Schallgeschwindigkeit, kann das Fluid als inkompressibel und daher die Dichte als konstant angesehen werden. Während die sehr geringe Kompressibilität des Wassers eine wohlbekannte Eigenschaft ist, lässt sich diese Annahme für den uns interessierenden Geschwindigkeitsbereich auch im Fall der Luft begrün- den: Für Dichteänderungen in Gasen aufgrund von adiabatischen1) Druck- schwankungen entlang der Stromlinien schreiben wir qr Dr ¼ D ð : Þ q p, Gleichung 3 1 p S
wobei der Index S für adiabatisch (isentropisch) steht. Unter Verwendung des Bernoulli-Theorems Gl. (3.27) können wir Dp durch rDv2/2 ausdrü- cken. Berücksichtigen wir weiters, dass sich die Schallgeschwindigkeit in Gasen durch
1) Das sind solche, die so schnell erfolgen, dass keine Zeit bleibt, Wärme mit benach- barten Volumenelementen auszutauschen.
Physik des Segelns: Wie Segeln wirklich funktioniert, 1. Auflage. Wolfgang Püschl. 35 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:45 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
sffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi q ¼ p ð : Þ c qr , Gleichung 3 2 S
ausdrücken lässt, können wir schließlich schreiben
Dr Dv2 <<1: ðGleichung 3:3Þ r 2c2
Die uns interessierenden Strömungsgeschwindigkeiten betragen in der Regel nur einige Meter pro Sekunde, die Schallgeschwindigkeit in Luft beträgt jedenfalls mehr als 300 ms−1, also können in diesem Fall nach Gl. (3.3) Dichteänderungen vernachlässigt werden. Da nach den Adiabaten- gleichungen auch die Temperaturänderung mit der Volumen- bzw. Dich- teänderung verknüpft ist, können wir praktisch auch von konstanter Tem- peratur ausgehen. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Veranschaulichung des Strömungsfeldes ist das Konzept der Stromlinie. Es handelt sich dabei um Kurven, deren Tangentialvektor stets die Richtung der lokalen Strömungsgeschwindigkeit v(x,t) hat. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass Stromlinien einander nicht schneiden können und durch jeden Punkt des Strömungsfeldes nur eine Stromlinie gehen kann (Einen Ausnahmefall stellen Punkte dar, wo sich die Strömung teilt oder wieder vereinigt). Die Stromlinien sind in parameter- freier Darstellung durch
dx dy dz ¼ ¼ ðGleichung 3:4Þ vx vy vz
definiert (wobei dx, dy, dz die Tangentialrichtung der Stromlinie festlegen
und vx,vy,vz die Komponenten des Geschwindigkeitsfeldes bedeuten). Anders als in der Elastizitätstheorie eines Festkörpers, bei der die Verschiebungen von Punkten des Kontinuums in Abhängigkeit von ihrer ursprünglichen Lage betrachtet werden (Lagrange’sche Koordinaten), be- handelt die Strömungslehre das Geschwindigkeitsfeld an vorgegebenen Punkten des Raumes (Euler’sche Koordinaten). Das Konzept kann man sich als ortsfestes virtuelles Volumen vorstellen, etwa wie einen würfelförmi- gen Drahtrahmen, in den die Flüssigkeit hinein und auch wieder heraus strömt, und man untersucht, wie die Strömungsgeschwindigkeit dort aussieht. Trotzdem werden wir gelegentlich von Flüssigkeitsteilchen oder Flüssigkeitselementen sprechen, deren Bewegung wir entlang ihrer Bahn verfolgen. Damit sind allerdings nicht einzelne Atome oder Moleküle der betrachteten Substanz gemeint, sondern mikroskopisch kleine, aber den-
36 3 Grundlagen der Strömungslehre Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:45 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
noch viele solche Teilchen umfassende, mit der Strömung bewegte Volumenelemente.
Die in einem ortsfesten Volumen V0 enthaltene Masse m ändert sich durch den Flüssigkeitsstrom in und aus diesem Volumen: Z Z Z qm q q ¼ r dV ¼ r dV ¼ rv df qt qt qt |{z} V0 V0 qV0 Stromdichte Z vektor 0 ¼ðGauß scher IntegralsatzÞ¼ divðrvÞdV, 2)
V0 ðGleichung 3:5Þ
woraus die Kontinuitätsbedingung qr þ divðÞ¼r v 0 ðGleichung 3:6Þ qt
folgt, die für inkompressible Medien (r = const.) die einfache Form
div v ¼ 0 ðGleichung 3:7Þ
annimmt. Das Strömungsfeld eines inkompressiblen Fluids ist also quellen- frei.
3.1 Dynamik einer idealen (reibungsfreien) Flüssigkeit
Wir wollen nun die Gesetze ermitteln, nach denen sich das Strömungs- feld im Lauf der Zeit ändern kann. Die Kräfte, die auf ein kleines Flüssig- keitsvolumen von seiner Umgebung ausgeübt werden, können mit Hilfe 3) s s eines Spannungstensors (mit Komponenten iK) beschrieben werden. Dieser ist so definiert, dass X dFi ¼ sikdfk ðGleichung 3:8Þ k
die i-te Komponente der Kraft ist, die auf ein differenzielles Flächenele-
ment wirkt, dessen Flächennormalvektor die Komponenten dfk hat. Schreibt man den Spannungstensor als Matrix, so stellen die Elemente in
∂ 2) V0 in die Oberfläche des Volumens V0. 3) Schon der Name Tensor weist auf Spannung hin – von lat. tendere = spannen.
3.1 Dynamik einer idealen (reibungsfreien) Flüssigkeit 37 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:46 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
der Diagonale die Druckkräfte normal zur Oberfläche dar. Die Elemente außerhalb der Diagonale beziehen sich auf parallel zur Oberfläche wir- kende Scherungskräfte. Die Kraft auf ein Volumen DV, soweit sie von der benachbarten Flüssig- keit übertragen wird, beträgt allgemein Z Z q 0 4) DFi ¼ sikdfk ¼ðGauß scher IntegralsatzÞ¼ ðÞsik dV . q xk qðÞDV DV ðGleichung 3:9Þ
Liegt wie im Fall einer idealen Flüssigkeit nur hydrostatischer Druck vor, dann wirkt er mit dem gleichen Betrag in allen Richtungen normal zur Oberfläche. Der Spannungstensor nimmt dann die Form einer Diagonal- matrix an, also
sik ¼ pdik, ðdik ¼ 1, wenn i ¼ k, dik ¼ 0 sonst:Þ: ðGleichung 3:10Þ
Beziehen wir noch das Schwerefeld der Erde mit ein, das direkt auf jedes Molekül über sein Gewicht wirkt, ergibt sich für die Kraft auf ein differen- zielles Volumenelement q q dFi ¼ sik þ r gi dV ¼ p þ r gi dV qxk qxi ¼ ðÞþ r : ð : Þ grad p g idV Gleichung 3 11
Daraus erhalten wir gemäß dem 2. Newton’schen Axiom die Beschleuni- gung eines Flüssigkeitselements
dv r ¼ grad ðÞp þ r gz , ðGleichung 3:12Þ dt
wobei wir auch das Schwerefeld als Gradienten eines Gravitationspotenzi-
als geschrieben haben, mit der vertikalen Koordinate x3 = z. Gleichung (3.12) entspricht noch nicht der von uns angestrebten Betrachtungsweise der Strömungslehre, nämlich die zeitliche Veränderung des Geschwindig- keitsfeldes an einem festgehaltenen Ort zu betrachten (Euler’sche Koor- dinaten). Die hier vorkommende Zeitableitung bezieht sich hingegen auf
4) Es gilt die Einstein’sche Summenkonventi- summieren ist. Die Divergenzbildung on, wonach über doppelt vorkommende erfolgt wie bei einem Vektorfeld und Indizes stets über alle Koordinaten zu läuft hier nur über den zweiten Index.
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ein mit der Strömung mitgeführtes Flüssigkeitselement. Man bezeichnet sie daher auch als substanzielle Zeitableitung. Sie enthält neben einer expliziten Zeitabhängigkeit noch eine implizite, die daher kommt, dass das Flüssigkeitselement den Ort wechselt und an eine andere Stelle kommt, an der ein anderer Wert der Geschwindigkeit herrscht:
ð Þ ð Þ q q q q dv x,t ¼ dv x1,x2,x3,t ¼ v þ v dx1 þ v dx2 þ v dx3 dt dt qt qx1 dt qx2 dt qx3 dt qv qv ¼ þ ðÞv grad v ¼ þ ðÞv r v: qt qt ðGleichung 3:13Þ
Hier haben wir uns daran erinnert, dass dxi/dt =vi und die Geschwindig- keit dann vor die räumliche Ableitung geschrieben. Zusammen mit (3.12) erhalten wir schließlich
qv 1 þ ðÞv r v ¼ grad ðÞp þ r gz : ðGleichung 3:14Þ qt r
Diese Gleichung für die Dynamik von Flüssigkeiten wurde bereits 1755 von Leonhard Euler aufgestellt. Für manche Probleme erweist es sich als vorteilhaft, Gl. (3.14) mit Hilfe der Vektor-Identität v2 ðÞv r v ¼ grad v rot v ðGleichung 3:15Þ 2
weiter umzuformen, womit wir erhalten: qv v2 1 þ grad v rot v ¼ grad ðÞp þ r gz : qt 2 r ðGleichung 3:16Þ
Die Gleichungen (3.14) bzw. (3.16) enthalten Terme, die quadratisch in v sind, was die vorteilhaften Lösungsmethoden für lineare Differenzialglei- chungen ausscheidet, die auf dem Superpositionsprinzip5) beruhen, und ein Hinweis auf die zu erwartende Komplexität der Lösungen ist. Wendet man auf die gesamte Gleichung den Vektor-Differenzialoperator „Rotation“ an, dann werden die Gradiententerme wegen rotðgrad::Þ¼0 eliminiert, und man erhält eine Gleichung nur für das Strömungsfeld v.
5) Für homogene lineare Differenzialgleichungen gilt: Falls zwei Funktionen Lösun- gen der Differenzialgleichung sind, ist ihre Linearkombination auch Lösung.
3.1 Dynamik einer idealen (reibungsfreien) Flüssigkeit 39 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:46 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
q ðÞ¼rot v rotðÞ v rot v : ðGleichung 3:17Þ qt
Zur Lösung dieser Differenzialgleichung für das Strömungsfeld muss man noch entsprechende Randbedingungen hinzufügen. In einer idealen Flüs- sigkeit lautet die Randbedingung an der Oberfläche eines umströmten Körpers, dass die Strömung diesen nicht durchdringen kann, d. h., es
muss die Normalkomponente von v verschwinden: vn = 0. An der Grenze zwischen zwei sich nicht mischenden Flüssigkeiten (z. B. Luft und Wasser) müssen die Drücke und die Normalkomponenten der Geschwindigkeit gleich sein.
3.2 Die Eigenschaften von Wirbeln
Bezeichnen wir die Größe O =½rot v als Wirbelvektor6), dann lässt sich Gl. (3.17) in folgender Form schreiben
qO ¼ rotðÞ v O : ðGleichung 3:18Þ qt
Daraus folgt unmittelbar, dass eine ideale Flüssigkeit, die wirbelfrei ist (O = 0), stets wirbelfrei bleibt. Analog zu den Stromlinien können wir im Strömungsfeld der Flüssigkeit Kurven bilden, deren Tangentenrichtung an jedem Ort mit der augenblicklichen Richtung des Wirbelvektors O zusam- menfällt, die Wirbellinien. Wegen des allgemeinen Satzes div (rot v)=0 haben die Wirbellinien keine Quellen, sie können also nicht im Inneren der Flüssigkeit entstehen oder enden. Dort, wo sich zwei Wirbellinien vereinigen, muss die gesamte Wirbelstärke erhalten bleiben7). Wir definieren als Zirkulation G das Linienintegral über das Geschwin- digkeitsfeld längs einer geschlossenen Kurve C:
6) Der Faktor ½ wird nach üblicher Kon- rotierenden Starren Körper für das Ge- vention deswegen eingeführt, weil für schwindigkeitsfeld giltjj rotv ¼ 2o. einen mit der Winkelgeschwindigkeit o 7) Diese beiden Aussagen gehören zu den Helmholtz’schen Wirbelsätzen; nach Her- mann Helmholtz (1821–1894).
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I Z Z 0 G¼ v ds ¼ rotv df ¼ðStokes scher IntegralsatzÞ¼ O df.8)
C¼qA A A ðGleichung 3:19Þ Der Thomson’sche Satz9) von der Erhaltung der Zirkulation besagt nun, dass diese Größe erhalten bleibt, wenn sich die gesamte geschlossene Kurve mit der Flüssigkeit mitbewegt I dG d ¼ v ds ¼ 0: ðGleichung 3:20Þ dt dt
Zum Beweis ziehen wir die Differenziation nach der Zeit unter das Integralzeichen I I I I I d dv d dv v ds ¼ ds þ v ðÞ¼ds ds þ v dv: dt dt dt dt ðGleichung 3:21Þ
Den ersten Beitrag formen wir mit Hilfe von Gleichung (3.12) um. Der zweite Beitrag ist nichts anderes als d(v2/2): I I I dG d 1 v2 ¼ v ds ¼ gradðp þ r gzÞ ds þ d : dt dt r 2 ðGleichung 3:22Þ
Somit bekommen wir ein geschlossenes Kurvenintegral über einen Gra- dienten und ein Integral über ein vollständiges Differenzial mit gleichem
8) Bei Anwendung dieser Beziehung ist um den in Abb. 3.1 dargestellten Wir- jedoch Vorsicht geboten. Der Stokes’- belkern anwenden, wenn sich der Inte- sche Integralsatz gilt nur unter der Vo- grationspfad außerhalb des Wirbel- raussetzung, dass das von der geschlos- kerns befindet. Hingegen ist er im senen Kurve berandete Gebiet einfach Inneren eines starr rotierenden Wirbel- zusammenhängend ist. Betrachtet man kerns anwendbar, sodass die Zirkula- etwa ein Hindernis, das umströmt wird, tion gleich der Rotation (doppelte Wir- dann ist es durchaus möglich, dass in belstärke) mal der Querschnittsfläche jedem Punkt der Strömung die Rotation des Wirbelkerns ist. Je kleiner die verschwindet und entlang einer um das Querschnittsfläche, desto größer muss Hindernis geführten Kurve eine end- die Wirbelstärke werden, das ist gleich- liche Zirkulation auftritt. Insbesondere bedeutend mit der Aussage der Gln. lässt sich der Stokes’sche Integralsatz (3.23) und (3.24). nicht für ein Zirkulationsintegral rund 9) In der angelsächsischen Literatur auch Kelvin’scher Satz genannt. Beide Bezeich- nungen nach Sir William Thomson Lord Kelvin of Largs (1824–1907).
3.2 Die Eigenschaften von Wirbeln 41 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:47 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Anfangs- und Endwert, die nach allgemeinen Sätzen der Vektoranalysis beide verschwinden müssen, woraus die Behauptung folgt. Bei Auftreten von wirbelbehafteten Strömungen ist zu unterscheiden zwischen Gebieten, die bloß die Eigenschaft haben, dass rot v ≠ 0, was schon für eine geradlinige Strömung der Fall ist, bei der zwischen benach- barten Schichten ein Geschwindigkeitsgradient herrscht, und Wirbeln im engeren Sinn mit ausgeprägter Gestalt. Zu letzteren gehören Wirbelröhren, die aus den immer gleichen Flüssigkeitsteilchen bestehen, also mit der Flüssigkeit mitschwimmen. Es handelt sich um schlauchartige Gebilde, die von Wirbellinien begrenzt sind, und deren Durchmesser so klein ist, dass |rot v| über die Querschnittsfläche konstant ist. Wenn wir uns die „Anato- mie“ eines (in z-Richtung unendlich ausgedehnt gedachten) Wirbels anse- hen, so stellen wir fest, dass in der Mitte ein starr rotierender Wirbelkern vorhanden ist, die Wirbelröhre, und im Außenfeld die Geschwindigkeit dann ∝ 1/r abfällt (Abb. 3.1). Im Wirbelkern ist rot v ¼ const: 6¼ 0, außerhalb aber rot v ¼ 0, wie aus dem mit 1/r abfallenden Geschwindigkeitsfeld folgt. Da die Zirkulation in einem mit der Flüssigkeit mitbewegten Volumenbereich erhalten bleibt, gibt es Bereiche, in denen die Zirkulation (und damit die Rotation) einen konstanten Wert ungleich null besitzt, und andere, in denen sie null ist und bleibt. Daher besteht der Wirbelkern aus immer den gleichen Flüssigkeits- teilchen. In idealen Flüssigkeiten sind solche Wirbelröhren beständig und können weder aus dem Nichts entstehen noch vergehen. Weiters gilt: Die Zirkulation rund um die Röhre muss entlang ihres Verlaufes konstant sein.
Abb. 3.1 Geschwindigkeitsfeld um einen Wirbel, in der Mitte starr rotierender Wirbel- kern.
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Abb. 3.2 Wirbelröhre mit Integrationsweg, um die Konstanz der Zirkulation um den Wirbel zu zeigen.
Wir zeigen dies, indem wir an der Oberfläche einer Wirbelröhre (Abb. 3.2) ein Linienintegral über das Geschwindigkeitsfeld v entlang der dar-
gestellten Kurve durchführen, die aus den Abschnitten C1 und C2, welche die Röhre in entgegengesetztem Umlaufsinn fast ganz umfassen, und den
Abschnitten C3 und C4 besteht, die annähernd parallel zur Achse des Wirbelfadens an der Oberfläche entlang laufen und ebenfalls in entgegen-
gesetztem Sinn durchlaufen werden, C = C1 +C2 +C3 +C4. Dieser Integrationsweg umfasst die Wirbelröhre nicht. Die von ihr eingeschlos- sene Fläche ähnelt einer Manschette, welche die Röhre nicht ganz um- schließt, und ist insbesondere einfach zusammenhängend. Damit dürfen wir den Stokes’schen Integralsatz anwenden: I Z v ds ¼ rot v df ¼ 0: ðGleichung 3:23Þ
C¼qF F
Das Integral ist null, weil die Oberfläche von Wirbellinien gebildet wird, also parallel zu rot v liegt. Daher muss df ⊥ rot v, und der Integrand verschwindet überall. Andererseits ist klar, dass die beiden parallel verlau- fenden Wegabschnitte, die man beliebig nahe bringen kann, einander aufheben. Daher muss die Summe der beiden gegenläufigen Integrale, welche die Wirbelröhre umfassen, null sein oder I I I v ds ¼ v ds ¼ v ds: ðGleichung 3:24Þ
0 C1 C2 C2
Die Kurven C1 und C2' werden im gleichen Sinn durchlaufen. Daher ist die Zirkulation G, an verschiedenen Stellen der Wirbelröhre genommen, gleich. Je geringer der Querschnitt, umso größer muss die Strömungs- geschwindigkeit um den Wirbel herum sein. Ein besonders eindrucksvolles
3.2 Die Eigenschaften von Wirbeln 43 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:49 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Beispiel ist ein Tornado, bei dem aus einer relativ langsamen Drehbewe- gung der darüberliegenden Wolke im stark verengten Schlauch eine sehr hohe Windgeschwindigkeit wird. Zusammenfassend führen wir die Helmholtz’schen Wirbelsätze an:
1) Wirbel können ohne innere Reibung weder entstehen noch vergehen. 2) Wirbellinien können nicht innerhalb des Flüssigkeitsvolumens enden. Sie enden entweder an der Oberfläche oder sind in sich geschlossen (Wirbelring). 3) Die Zirkulation um eine Wirbelröhre ist an jeder Stelle gleich groß.
3.3 Bernoulli-Theorem
Wir betrachten jetzt eine stationäre Strömung, das heißt
qv ¼ 0, ðGleichung 3:25Þ qt
bringen alle Terme in Gl. (3.16) auf die linke Seite und berechnen das Linienintegral dieses Ausdrucks über ein Stück einer Stromlinie. Da v × rot v normal auf v steht, verschwindet dieser Teil des Linienintegrals. Die explizite Zeitableitung verschwindet wegen der Voraussetzung (3.25) eben- falls. Alle anderen Terme können wir als Gradienten schreiben. Damit haben wir
ZB v2 1 1 grad þ p þ r gz v dt ¼ 0: ðGleichung 3:26Þ 2 r r A
Da das Linienintegral über einen Gradiententerm das Potenzial als Stamm- funktion hat, von dem der Gradient genommen wurde, ist der Ausdruck in der runden Klammer entlang der Stromlinie konstant, und nach Multi- plikation mit der Dichte erhalten wir
r v2 þ p þ r gz¼ const: ðGleichung 3:27Þ 2
(Bernoulli-Theorem).10)
10) Nach Daniel Bernoulli (1700–1782), dessen Hauptwerk Hydrodynamica 1738 erschien.
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Abb. 3.3 Prandtl’sches Staurohr Der linke Flüssigkeit (Staupunkt S). Die Differenz Schenkel ist mit der strömenden Flüssigkeit der Flüssigkeitsstände links und rechts verbunden, der rechte mit der ruhenden entspricht der Druckdifferenz Dp = r v²/2.
Diese Gleichung enthält den für die Berechnung der Luft- und Wasser- kräfte, die auf ein Segelschiff wirken, wichtigen Zusammenhang zwischen Binnendruck und Strömungsgeschwindigkeit. Auch wird sie uns für die Berechnung der Eigenschaften von Schwerewellen von Nutzen sein. Neh- men wir zunächst an, die Strömung verläuft in einer waagerechten Ebene (z = const.). Dort, wo sie auf einen Körper trifft und die Geschwindigkeit auf null herunter gebremst wird (Staupunkt), erscheint der Druck in der Flüssigkeit um den Betrag r v2=2 erhöht. Misst man diesen Staudruck an einem sogenannten Prandtl’schen Staurohr (Abb. 3.3), dann kann man damit die Strömungsgeschwindigkeit bestimmen.
3.4 Die ebene Potenzialströmung
Eine besondere Bedeutung in der Geschichte der Hydrodynamik hat die Behandlung einer zweidimensionalen, rotationsfreien Strömung in einer idealen, inkompressiblen Flüssigkeit. Wir nehmen an, dass die Strömung vor Einführung des Körpers bzw. in unendlich großer Entfernung keine Wirbel aufweist. In der idealen Flüssigkeit können dann nach Helmholtz auch keine Wirbel entstehen. Wenn rot v ¼ 0, dann kann man die Strö- mung als Gradienten eines Potenzials F ansetzen. Da die Divergenz in einer inkompressiblen Strömung ebenfalls verschwinden muss, gilt
div v ¼ divðÞ¼gradF DF ¼ 0: ðGleichung 3:28Þ
3.4 Die ebene Potenzialströmung 45 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:50 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Das Problem der Strömung lässt sich demnach lösen, wenn man eine Funktion F finden kann, welche die Potenzialgleichung DF ¼ 0 und gleichzeitig die Randbedingungen erfüllt. Das Problem der Strömungs- berechnung ist in diesem Fall völlig analog zur Berechnung des Potenzials in der Elektrostatik. Diese Analogie kann man auch zur experimentellen Ermittlung von Stromlinien mithilfe eines elektrolytischen Troges verwen- den (siehe Kapitel 4, Abb. 4.5). Wie sich zeigt, wird die Potenzialgleichung (3.28) von Realteil f und Imaginärteil c von analytischen11) komplexwerti- gen Funktionen erfüllt:
f ðzÞ¼fðx þ iyÞþicðx þ iyÞ: ðGleichung 3:29Þ
Dies lässt sich leicht aus den für solche Funktionen geltenden Cauchy- Riemann’schen Differenzialgleichungen
qf qc qf qc ¼ , ¼ ðGleichung 3:30Þ qx qy qy qx
ableiten. Ferner folgt aus ihnen, dass r’ rc ¼ 0 und daher das Ge- schwindigkeitsfeld v ¼r’ parallel zu den Linien c ¼ const: liegt. Die Äquipotenziallinien von c stellen daher die Stromlinien für das Strö- mungsfeld v ¼r’ dar. Als Beispiel ist in Abb. 3.4a die Umströmung eines Zylinders mit Radius 1 dargestellt. Die entsprechende analytische Funktion ist
f(z)=z +1/z =(x + iy)+1/(x + iy). (Gleichung 3.31)
In Abb. 3.4b ist dieselbe Situation in bestmöglicher Annäherung experi- mentell dargestellt. Eine solche glatte Umströmung tritt bei sehr niedriger Strömungsgeschwindigkeit in genügend zähen Medien oder ganz zu Be- ginn der Bewegung auf, wenn sich noch keine Wirbel gebildet haben. Die Verwendung von analytischen Funktionen hat den Vorteil, die ganze Palette der Möglichkeiten der komplexen Funktionentheorie verwenden zu können. Es ist dann sinnvoll, statt im realen zweidimensionalen Raum die Rechnung gleich in der komplexen Zahlenebene durchzuführen. Man erhält dann als komplexwertige Ableitung einer analytischen Potenzial- funktion eine ebenfalls analytische komplexwertige Geschwindigkeitsfunk- tion: w = df / dz12), und die Zirkulation kann als komplexes geschlossenes
11) Analytische oder holomorphe Funktionen sind im Komplexen differenzierbar. 12) Zu beachten ist zwar, dass dann grale, z. B. für die Zirkulation G, das – Re w =vx, jedoch Im w = vy. Es gilt aber Gleiche wie im reellen Fall, was diese – wdz=(vx ivy)(dx+idy)=vxdx+vydy=v·ds. Berechnungsmethode sehr praktisch Damit ergeben komplexe Kurveninte- macht.
46 3 Grundlagen der Strömungslehre Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:51 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 3.4 Potenzialströmung in einer idealen rv2/2 gegen den Winkel. Der gestrichelte Flüssigkeit. a) Zylinderumströmung mit Ge- Kreis hat den Staudruck als Radius, ent- 2 schwindigkeitspotenzial nach Gl. (3.31), spricht also rv0 /2. Wo er sich mit der b) experimentell (L. Prandtl) für kleine Strö- Kurve schneidet, ist v = v0, daher herrscht mungsgeschwindigkeit (laminare Strö- dort der gleiche Druck wie in unendlicher mung) oder Anfangsphase der Strömung, Entfernung vom Körper. Wo die Kurve in- c) Polardiagramm der Druckverteilung nach nerhalb des Kreises verläuft, ist der Druck dem Bernoulli-Theorem. Aufgetragen ist erhöht, außerhalb verringert.
Kurvenintegral über diese Geschwindigkeitsfunktion geschrieben werden. Aus der Theorie komplexer Funktionen weiß man aber, dass das Ergebnis eines solchen Kurvenintegrals mit Hilfe des Residuensatzes leicht ausgewer- tet werden kann, denn es gilt
G ¼ 2pia 1, ðGleichung 3:32Þ
– −1 wobei a−1 der Koeffizient des Terms der Ordnung (z z0) in der Laurent- Reihenentwicklung der Funktion w = df/dz ist. Will man also ein Strö- mungsfeld mit einer Zirkulation G beschreiben, dann muss man die Potenzialfunktion so wählen, dass sie einen logarithmischen Term mit dem Koeffizienten G/(2pi) hat. Die Geschwindigkeitsfunktion w hat denn – −1 13) eine Singularität der Ordnung (z z0) mit dem passenden Vorfaktor .
13) Siehe auch Ableitung der Kutta-Jou- profil abbildet (Joukowski-Transformati- kowski-Gleichung in Anhang A5. Das on). Eine detaillierte Behandlung dieser Strömungsbild um ein Tragflächen- Methoden sprengt den Rahmen dieser profil kann dargestellt werden, indem Darstellung. Der interessierte Leser sei man es um ein exzentrisch angeord- dazu auf die angegebene Literatur aus netes Zylinderprofil beschreibt und der Hydrodynamik verwiesen, z. B. dieses mit Hilfe einer geeigneten kon- Fuchs und Hopf (1922) oder Hughes formen Abbildung auf das Tragflächen- und Brighton (1967).
3.4 Die ebene Potenzialströmung 47 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:52 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Ein Beispiel stellt die Abb. 4.3 dar, die das Strömungsfeld um einen Zylinder gemäß Gl. (3.31) mit einem solchen zusätzlichen Term zeigt. Es entspricht einem rotierenden Zylinder (Flettner-Rotor).
3.5 Dynamik von Fluiden mit innerer Reibung
Durch molekulare Wechselwirkungen werden zwischen benachbarten Strömungsschichten, die sich verschieden schnell bewegen, Scherkräfte übertragen. Im Gegensatz zu reinen Druckkräften geschieht dies nicht- reversibel, also unter Dissipation von Energie. Die innere Reibung wird normal zur Richtung des Geschwindigkeitsgradienten, also parallel zu den verschieden schnell bewegten Flüssigkeitsschichten übertragen. Aus Sym- metrieüberlegungen (bei starrer Rotation wird keine innere Reibung wirk- sam) lässt sich zeigen, dass der Spannungstensor bei inkompressiblen Fluiden folgende symmetrisierte Gestalt haben muss: ÀÁ qvi qv s ¼ d þ Z þ k ¼ d þ Z þ 14) ik p ik p ik vi,k vk, i . qxk qxi ðGleichung 3:33Þ
(Wenn das Fluid kompressibel ist, tritt noch ein weiterer Reibungskoeffi- zient hinzu). Der Koeffizient Z wird dynamische Zähigkeit genannt und hat im SI-System die Einheit [Pa s] = [kg m−1 s−1] (ältere Einheit 1 Poise = 0,1 kg m−1 s−1). Formal kann dieser Koeffizient als die Kraft angesehen werden, welche tangential pro Flächeneinheit von einer Flüssig- keitsschicht auf eine parallel dazu bewegte übertragen wird, wenn der Geschwindigkeitsunterschied 1 ms−1 bei einer Distanz der Flüssigkeits- schichten von 1 m beträgt. Die Kraftübertragung folgt gemäß Gl. (3.9) wieder aus der Divergenz des Spannungstensors,
X q ÀÁ s ¼ s ¼ þ Z þ : ð : Þ ik ik,k p, i vi, kk vk, ik Gleichung 3 34 qx k k ¼ ¼ Da für inkompressible Fluide div v vk, k 0, verschwindet auch der Gradient dieses Ausdrucks und, da es auf die Reihenfolge der Differentia-
tion in diesem Fall nicht ankommt (vk,ik =vk,ki), auch der zweite Term in der Klammer in (3.34). Wir erhalten somit in Analogie zu den Gleichungen (3.14) und (3.16), ohne Schwerkraftterm,
14) Die Schreibweise ,k bedeutet Differenziation nach der k-ten Koordinate, ,ik heißt dann Differenziation zuerst nach der i-ten und dann nach der k-ten Koordinate.
48 3 Grundlagen der Strömungslehre Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:53 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
qv 1 Z þ ðÞv:r v ¼ grad p þ D v ðGleichung 3:35Þ qt r r
bzw. nach Anwendung der Beziehung (3.15) qv v2 1 Z þ grad v rot v ¼ grad p þ D v, qt 2 r r ðGleichung 3:36Þ
die sogenannten Navier-Stokes-Gleichungen15). Die Zähigkeit kommt hier dividiert durch die Dichte vor. Da der Reibungskoeffizient nur in dieser normierten Form für die Lösungen der Navier-Stokes-Gleichungen maß- geblich ist, also den inneren Bewegungszustand des Fluids bestimmt, bezeichnet man Z / r = v als kinematische Zähigkeit. Ihre SI-Einheit ist [m²s−1] (ältere Einheit 1 Stokes = 10−4 m2s−1). In Tabelle 3.1 sind für verschiedene Flüssigkeiten sowie für Luft bei 20 °C dynamische und kinematische Zähigkeiten angegeben. Anzumerken ist, dass Zähigkeits- werte stark temperaturabhängig sind und bei Flüssigkeiten generell mit der Temperatur abnehmen und bei Gasen zunehmen. Für die Praxis ist auch bedeutsam, dass die Zähigkeit des Meerwassers vom Salzgehalt abhängt. Bemerkenswert ist hier, dass Luft bei 20 °C eine etwa 14-mal höhere kinematische Zähigkeit als Wasser besitzt, also das im Sinne des Strö- mungsbildes wesentlich zähere Medium ist. Quecksilber besitzt wegen seiner hohen Dichte eine sehr kleine kinematische Zähigkeit.
Tabelle 3.1 Dynamische und kinematische Zähigkeiten verschiedener Medien (20 °C, wenn nicht anders angegeben, bei 1 bar).
Z [Pa s] v[10−6 m2s−1] Wasser 0,0018 0°C 0,0013 10 °C 0,0010 20 °C 1,008 0,0008 30 °C Luft 1,8·10−5 14,6 Äthanol 0,0012 1,5 Glyzerin 1,52 1200 Quecksilber 0,00156 0,12
15) Nach Claude Marie Louis Henri Navier (1785–1836) und Sir George Gabriel Stokes (1819–1903).
3.5 Dynamik von Fluiden mit innerer Reibung 49 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:54 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Wiederum lassen sich Gradiententerme durch Rotationsbildung aus (3.36) eliminieren, und in Erweiterung zu Gl. (3.17) haben wir jetzt
q ðÞ¼rot v rotðÞþ v rot v nDrot v: ðGleichung 3:37Þ qt
3.6 Dissipation von Wirbeln
Gleichung (3.37) stellt eine Entwicklungsgleichung für die Wirbelstärke O ¼ 1=2 rot v dar. Da auch in Medien mit innerer Reibung die Divergenz- freiheit der Wirbelstärke div(rot v) = 0 gilt, stellt sich die Frage, wie in einem solchen Medium ein Wirbel aufgelöst (dissipiert) wird. Betrachten wir dazu einen klassischen Wirbel mit zylindersymmetrischer Konfigura- tion (Abb. 3.1). Gleichung (3.37) kann auch als
q ðÞ¼Ω rotðÞþ v Ω nDΩ ðGleichung 3:38Þ qt
geschrieben werden. Da das Geschwindigkeitsfeld in einem solchen Wirbel stets tangentiale Richtung hat, ist v×O radial nach außen gerichtet und daher ein reines Quellenfeld, dessen Rotation verschwindet. Der erste Term auf der rechten Seite in Gl. (3.38) ist daher null. Es verbleibt die Entwick- lungsgleichung q ðÞ¼Ω nDΩ: ðGleichung 3:39Þ qt
Diese hat aber die Form einer Diffusions- oder Wärmeleitungsgleichung. Wir können dies so interpretieren, dass die Wirbelstärke radial nach außen diffundiert wie etwa Wärme von einem heißen Draht. Der Wirbel im unendlich ausgedehnten Medium wird also dadurch dissipiert, dass sich die Wirbelstärke auf ein immer größeres Gebiet verteilt (zumindest bei Vorliegen idealer Zylindersymmetrie).
3.7 Ableitung der Reynoldszahl
Zur Lösung eines Strömungsproblems Gl. (3.37) benötigen wir wie bei den Euler’schen Gleichungen die Randbedingungen. Eine Flüssigkeit mit innerer Reibung haftet auf Grund molekularer Wechselwirkungskräfte an der Oberfläche eines umströmten Körpers, sodass dort das Verschwinden
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der Normalkomponente nicht genügt, sondern die Geschwindigkeit iden- tisch null sein muss. Eine Lösung von Gl. (3.37) mit diesen Randbedingun- gen ist wegen des nichtlinearen Charakters im Allgemeinen nur numerisch zu bewerkstelligen. Man kann sich aber das Skalierungsverhalten zunutze machen, etwa für den Vergleich mit Modellversuchen. Wir wollen dazu eine Skalenrelation ableiten. Zu diesem Zweck schreiben wir Geschwindig- keit und Länge in dimensionsloser Form, indem wir sie auf eine charakte- ristische Geschwindigkeit u und eine charakteristische Länge L beziehen:
~ v ¼ uf * ðGleichung 3:40Þ x ¼ Lx
~ ~ wobei u und L nun dimensionsbehaftete Skalare, f und x dimensionslose Vektoren sind. Die Operation rot beinhaltet einmalige, die Operation D zweimalige Differenziation nach den Ortskoordinaten. Verwenden wir statt ~ x die dimensionslose Koordinate x und statt v die dimensionslose Ge- ~ schwindigkeit f, dann wird vom ursprünglichen Ausdruck für jede Ablei- tung ein Faktor 1/L, und für jedes Vorkommen von v ein Faktor u abge- spalten. In den neuen Koordinaten lautet Gl. (3.37) für eine stationäre Lösung (qv=qt ¼ 0) nunmehr u2 ~ ~ u ~ 0 ¼ rotx f rotx f þ nDx rotx f ðGleichung 3:41Þ L2 L3
oder uL * ~ * 0 ¼ rotx f rotx f þ Dx rotx f, ðGleichung 3:42Þ |{z}n Re
wobei wir durch den Index x angedeutet haben, dass alle Ortsdifferenzia- tionen jetzt nach der neuen, dimensionslosen Ortskoordinate erfolgen. Gleichung (3.42) hat folgende Bedeutung: In dimensionslosen Koordinaten sieht die stationäre Lösung für das Geschwindigkeitsfeld gleich aus, wenn uL die Konstante Re = v (Reynoldszahl, eingeführt von Osborne Reynolds, 1883) den gleichen Wert hat. Voraussetzung ist natürlich, dass auch die Randbedingungen in den dimensionslosen Koordinaten gleich aussehen. Wenn man ähnliche Körper unter der gleichen Reynoldszahl anströmt, dann sieht das Strömungsbild gleich aus. Möchte man also die Strömung an einem Tragflügelmodell im Maßstab 1:100 studieren, dann ist eine charakteristische Länge (z. B. die Sehnenlänge des Profils) 0,01-mal so groß wie das Original. Verwendet man zum Testen das gleiche Fluid, dann
3.7 Ableitung der Reynoldszahl 51 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:54 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
muss die Geschwindigkeit 100-mal so groß sein wie im Original, um gleiche Strömungsverhältnisse zu erzielen. Testet man das gleiche Flugmo- dell statt in Luft in Wasser, muss es nur etwa 7-mal so schnell bewegt werden (vgl. die n-Werte in Tabelle 3.1). Die Reynoldszahl gibt das Verhältnis der Trägheitskräfte in einer Strö- mung (~ ru2) zu den Reibungskräften (~ Zu/L) an. Bei einer bestimmten Reynoldszahl, die je nach Geometrie experimentell ermittelt werden muss, ändert sich der Strömungscharakter drastisch. Bei kleinen Reynoldszahlen ist die Strömung laminar (schlicht), wobei die Stromlinien glatt neben einander liegen, bei großen Reynoldszahlen ist die Strömung turbulent mit ständiger Wirbelbildung. Turbulenz ist ein Beispiel für deterministi- sches Chaos und tritt wegen des nichtlinearen Charakters der hydrodyna- mischen Gleichungen auf. Der Übergang zur Turbulenz kann leicht am Rauch einer Zigarette beobachtet werden, der nach einer bestimmten Länge des Aufsteigens von laminar auf turbulent umschlägt. Diese kriti- sche Reynoldszahl beträgt für eine Strömung durch ein Rohr etwa 1500– 2000, für angeströmte Profile (Segel, Rumpf) etwa 5·105–106. Diese unter- schiedlichen Reynoldszahlen für das Auftreten der Turbulenz sind nicht verwunderlich, da es sich um ganz verschiedene Strömungssituationen handelt und die charakteristische Länge im einen Fall der Innenradius des Rohres, im anderen Fall die Sehnenlänge des aerodynamischen Profils ist. Typische Reynoldszahlen sind 1000 für eine Honigbiene, 3400 für das Blut, das durch die menschliche Aorta strömt, und 2·109 für eine Boeing 747. Wenn wir typische Verhältnisse betrachten, mit denen wir beim Segeln konfrontiert sind, dann würde einer mittleren Windstärke von 3 Bft (siehe Anhang A2, Windstärken nach Beaufort) oder etwa 5 ms−1 (10 kn) Wind- geschwindigkeit und einer Profil-Sehnenlänge des Segels von 3 m eine Re =106 entsprechen. Im Unterwasserbereich hätte man bei einer Boots- geschwindigkeit von 3 ms−1 (6 kn) und einer Rumpflänge von 6 m eine Reynoldszahl von Re = 1,8·107. Man hat es beim Segeln daher fast immer (auch) mit turbulenter Strömung zu tun. Mit sehr kleinen Reynoldszahlen sind hingegen mikroskopische Tierchen konfrontiert, sie leben in einer besonders „zähen“ Welt, für die sie spezielle Fortbewegungsmechanismen entwickelt haben16).
3.8 Der Strömungswiderstand von Körpern
Aus dem Ansatz Gl. (3.31) und Abb. 3.4c geht hervor, dass die Druck- verteilung um einen von einer idealen Flüssigkeit umströmten Zylinder
16) Vergleiche dazu: Life at low Reynolds number (Purcell, 1977).
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(Potenzialströmung) symmetrisch ist, es wird also auf den Körper keinerlei Kraft ausgeübt. Es lässt sich sogar zeigen, dass die Resultierende der Druckkräfte auf jeden Körper, der von einer ebenen Potenzialströmung umflossen wird, null ist17). Er erfährt also weder Auftrieb noch Widerstand. Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass in einer Flüssigkeit ohne innere Reibung kein Impuls auf den umströmten Körper übertragen wird. In einem Kaffee ohne innere Reibung könnten wir zwar umrühren, aber die Bewegung würde sich nicht auf die Flüssigkeit übertragen, und die Zuckerkristalle würden sich nicht vom Boden erheben. Dieser Befund steht im Gegensatz zur Erfahrung. In Wirklichkeit gibt es in jedem (von uns betrachteten) Fluid innere Reibung. Eine Schicht haftet unmittelbar am umströmten Körper, und es bildet sich eine Grenzschicht (Prandtl’sche Grenzschicht18)) mit einem starken Geschwindigkeitsgradienten normal dazu aus. Durch die innere Reibung in dieser Schicht werden Tangen- tialkräfte auf die Körperoberfläche übertragen, deren Summe nicht ver- schwindet. Dieser Anteil wird oft als Reibungswiderstand bezeichnet. Die Scherkräfte verändern auch die Geschwindigkeits- und damit die Druck- verteilung, also die Kräfte normal auf die Körperoberfläche, sodass es auch hier eine nicht verschwindende Resultierende gibt, den reibungsbedingten Druckwiderstand. Ist die Reynoldszahl klein, dann ist die Umströmung schlicht = laminar. Das bedeutet, dass die Stromlinien glatt verlaufen wie in Abb. 3.4. In einer aufwändigen Rechnung (für die auf die einschlägige Literatur der Hydrodynamik verwiesen wird z. B. Joos (1964)) kann aus einer angenäherten Lösung der Gleichung (3.35) bzw. (3.36) die berühmte Stokes’sche Widerstandsformel für eine laminar umströmte kleine Kugel vom Radius r abgeleitet werden:
D ¼ 6pZr v0, ðGleichung 3:43Þ
wobei v0 die Geschwindigkeit der Anströmung (in großer Entfernung von der Kugel) ist. Gleichung (3.43) ist charakteristisch für die Abhängigkeit des Widerstandes, der bei laminarer Strömung proportional zu Geschwin- digkeit und linearer Abmessung des Körpers ist. In Abb. 3.5 ist die reale (turbulente) Umströmung eines Zylinders als Gegensatz zur Abb. 3.4 dargestellt: Die Strömung und damit die Druckverteilung ist asymmetrisch, und die Grenzschicht löst sich hinter dem Körper unter Wirbelbildung bei
17) Sogenanntes d’Alembert’sches Parado- strömung um einen Körper mit sich xon. Man beweist das Verschwinden führt, konstant ist (siehe z. B. Hydrody- der Kräfte, indem man zeigt, dass der namik (Landau und Lifschitz, 1991). Impuls, den die stationäre Potenzial- 18) Nach dem Pionier der Strömungsforschung, Ludwig Prandtl (1875–1953).
3.8 Der Strömungswiderstand von Körpern 53 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:55 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 3.5 Strömungsverlauf um einen Zylin- diagramm der Druckverteilung (nach C. A. der in realer (zäher) Flüssigkeit: a) Ablösung Marchaj, 1991). Der gestrichelte Kreis gibt der Strömung bei P unter Wirbelbildung das Druckniveau in der ungestörten Strö- (schematisch), b) experimentelles Strö- mung (ohne Widerstandskörper bzw. in mungsbild (nach L. Prandtl, 1961), c) Polar- unendlicher Entfernung davon) an.
der Stelle P ab. Insbesondere liegt statt eines hinteren Staupunktes eine Wirbelzone19) vor. Diese übt mit der darin herrschenden größeren Strö- mungsgeschwindigkeit eine „Saugwirkung“ aus, die wesentlich zum rei- bungsbedingten Druckwiderstand beiträgt. Bei turbulenter Strömung zeigt sich folgendes allgemeine und wohl- bekannte Widerstandsgesetz, das für makroskopische, verhältnismäßig schnell bewegte Körper wie Segelboote, Autos, Flugzeuge etc. Anwendung findet (Newton’sches Widerstandsgesetz):
1 D ¼ r v2 c A, ðGleichung 3:44Þ 2 0 D
wobei cD eine empirisch ermittelte Konstante (Widerstandsbeiwert) und A die Fläche der Projektion des angeströmten Körpers normal zur Strö- mungsrichtung ist. Hier wurde der Luftwiderstand mit der englischen Bezeichnung drag abgekürzt. Im deutschen Sprachraum ist die Bezeich-
nung cW für Luftwiderstandsbeiwert, insbesondere als Qualitätsmerkmal strömungsgünstiger Autokarosserien, geläufig. Dieser Widerstand ist also r 2 dem aus der Bernoulli-Gleichung (3.27) bekannten Staudruck ½ v0 pro-
19) Wie diese im Detail aussieht, hängt von Re = 2000 gibt es turbulentes asym- der Reynoldszahl ab. Es bildet sich zu- metrisches Ablösen von Wirbeln ab- nächst ein Paar stationärer Wirbel, die wechselnden Vorzeichens. für Re = 10 bereits ausgeprägt sind. Für
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portional. Die gleiche Formel gilt auch für den Unterwasserbereich. Refe- renzfläche muss nicht immer die in Anströmungsrichtung projizierte Fläche sein. Je nach Anwendung kann sie z. B. bei Tragflächen gleich der Tragflügel-Grundfläche sein oder beim Reibungswiderstand von Schiffs- körpern gleich der benetzten, gekrümmten Oberfläche. Der Druckanteil des Widerstandsbeiwertes hängt wesentlich davon ab, wie weit die Grenzschicht der Oberfläche des Körpers folgt, bevor sie sich ablöst. Hinter den Ablösestellen werden laufend Wirbel beiderlei Vorzei- chen gebildet, die im Kielwasser des Körpers zurückbleiben (turbulentes Totwasser, Kármán’sche Wirbelstraße20)). Da die Erzeugung dieser Wirbel Rotationsenergie kostet, trägt sie erheblich zum Widerstand bei. Der sogenannte Stromlinienkörper (torpedoförmig, mit abgerundeter Spitze und schmal auslaufendem Hinterende) zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Ablösung spät erfolgt und die Wirbelstraße schmal ist. Je länger der Körper, desto größer wird allerdings der Reibungswiderstand. Mög- lichst kleiner Gesamtwiderstand ist daher eine Optimierungsaufgabe, de- ren Lösung von der Reynoldszahl abhängt. Bei anliegender Strömung ist der Geschwindigkeitsgradient quer zur Strömungsrichtung in der Grenzschicht besonders groß. Das Strömungs- verhalten innerhalb dieser Schicht ist zunächst laminar, schlägt aber in turbulent um, sobald sich die Querinstabilitäten bei Erreichen der kriti- schen Reynoldszahl genügend aufgeschaukelt haben. Das bedeutet aller- dings noch nicht, dass sich die Strömung vom Körper ablösen muss. Im Gegenteil: gelingt es, die Strömung bis nach dem Umschlag in turbulenten Charakter am Körper zu halten, dann kann die Ablösung noch weiter hinausgezögert werden. Grund dafür ist der stärkere Impulsübertrag zwi- schen den turbulenten Flüssigkeitsschichten, der die höhere Geschwindig- keit der äußeren Flüssigkeitsschichten nach innen überträgt und die ermüdete Grenzschicht „auffrischt“. In Abb. 3.6 ist oben der Geschwindigkeitsverlauf in Wasser für eine turbulente Grenzschicht bei einer Strömungsgeschwindigkeit von 2 ms−1 und im gleichen Maßstab für eine laminare Grenzschicht dargestellt, unten für eine turbulente Grenzschicht in Luft bei einer Strömungsgeschwindig- keit von 7 ms−1. Die dargestellte laminare Grenzschicht ist im angegebenen Geschwindigkeits- und Ortsbereich nur etwa 2 mm dick. Im laminaren – – 2 Bereich ist das Geschwindigkeitsprofil parabolisch (v ~ v0 (d y) ), im turbulenten Bereich (Re ≈ 106) kann es zunächst mit einem Potenzgesetz (v ~ y1/7), bei höheren Reynoldszahlen (Re ≈ 107) mit einem logarithmischen Verlauf wiedergegeben werden. Die laminare Grenzschicht ist viel dünner
20) Nach Theodore von Kármán (1883–1961), Pionier der Aerodynamik und Luft- fahrtforschung.
3.8 Der Strömungswiderstand von Körpern 55 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c03.3d from 13.04.2012 15:38:56 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 3.6 Schematischer Geschwindigkeits- keitsverlauf für eine laminare Grenz- verlauf in einer turbulenten Grenzschicht schicht im gleichen Maßstab aufgetragen. a) in Wasser bei 2 ms−1, Re ffi 106 und b) in x bezeichnet den Abstand von der Vorder- Luft bei 7 ms−1, Re ffi 5.105. y ist der Abstand kante des Profils, bei dem die Grenz- von der Oberfläche des Körpers. Gestrichelt schicht gemessen wurde. (nach R. Garrett, ist in (a) zum Vergleich der Geschwindig- 1996)
als die turbulente, allerdings steigt bei der turbulenten Grenzschicht die Geschwindigkeit in unmittelbarer Nähe der Körperoberfläche viel rascher an. Grund dafür ist die Impulsübertragung quer zur Strömungsrichtung, die
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sich aus der „Querdurchmischung“ im turbulenten Zustand ergibt. Außer- halb der Grenzschicht und der Wirbelstraße lässt sich der Strömungsverlauf mit guter Näherung durch eine Potenzialströmung beschreiben. Die unter „Ebene Potenzialströmung“ für eine ideale Flüssigkeit beschriebenen Me- thoden (Abschnitt 3.4) sind daher nicht nur von rein akademischem Interes- se. Sehr aufschlussreich ist der Verlauf von Reibungs- und Druckanteil des Widerstandsbeiwertes bei der Umströmung eines Kreiszylinders (Abb. 3.7). Bei schleichender (laminarer) Strömung (entspricht der experimentel- len Situation von Abb. 3.4b) ist der Reibungswiderstand relativ bedeutend, verliert aber gegenüber dem Druckwiderstand, sobald laminare Ablösung eintritt. Wie in den schematischen, eingefügten Darstellungen zu sehen, verlagern sich oberhalb der kritischen Reynoldszahl die Ablösungspunkte infolge des nunmehr turbulenten Strömungscharakters weit nach hinten, die Breite des Totwassers (Wirbelzone) verringert sich, und der Druck- widerstand sinkt drastisch. Es kann also in einem bestimmten Bereich der Reynoldszahl vorteilhaft sein, durch Einbau künstlicher Turbulenzerreger die Grenzschicht bewusst turbulent zu halten, die Ablösung zu verzögern und dadurch den Druckwiderstand klein zu halten. Im Experiment kann die Turbulenz künstlich mit einem sog. Stolperdraht ausgelöst werden. Bei Golfbällen macht man sich diesen Effekt zunutze, indem man diese mit kleinen Grübchen versieht. Während der soeben genannte Effekt auf die Verminderung des Druckwiderstands zurückzuführen ist, steigt der Rei-
Abb. 3.7 Umströmung eines Kreiszylinders kritischen Reynoldszahl (Übergang zu tur- bei verschiedenen Reynoldszahlen (nach bulenter Strömung) an, bleibt aber ins- C. A. Marchaj, 1991): Druck- und Reibungs- gesamt noch so klein, dass er in diesem anteil am Widerstandsbeiwert. Der Beiwert Diagramm nicht mehr dargestellt ist. des Reibungswiderstandes steigt bei der
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bungswiderstand pro Flächeneinheit grundsätzlich bei Übergang zum turbulenten Bereich stark an. In Abb. 3.8 ist der Reibungswiderstandsbeiwert ebener Platten für lami- nare und turbulente Strömung als Funktion der Reynoldszahl wiederge- geben. Je nach Oberflächenrauheit zweigen die strichlierten Kurven von der Hauptkurve für turbulente Strömung ab, die den Verlauf für eine hydrodynamisch glatte Oberfläche wiedergibt. An einem Bootsrumpf findet der Übergang laminar-turbulent bei „nor- malen“ Geschwindigkeiten relativ bald statt, so bei den zitierten 6 kn (≅ 3ms−1) Geschwindigkeit 0,4 m vom Bug entfernt. Unterhalb der turbulenten Grenzschicht bildet sich eine laminare Unterschicht aus. Eine besonders glatte Gestaltung des Bootsrumpfes ist in der Nähe des Bugs und der Eintrittskante der Kielflosse (laminare Grenzschicht) sinnvoll. Dahinter darf eine Rauheit die laminare Unterschicht nicht überragen, um keinen Einfluss auf den Reibungswiderstand zu haben. Die laminare Unterschicht wird generell mit steigender Geschwindigkeit dünner. Die turbulente Grenzschicht ebenso wie die laminare Unterschicht wachsen gegen das Bootsende hin an. Welchen Einfluss eine Oberflächenrauheit auf den Reibungswiderstand hat, hängt somit empfindlich von der Bootsgeschwin- digkeit und von der Lage der Stelle entlang dem Bootsrumpf ab. Eine
Abb. 3.8 Reibungswiderstandsbeiwert an die ganze (hydrodynamisch glatte) Ober- einer ebenen Platte gegen Re. Gestrichelt: fläche laminare bzw. turbulente Strö- Verlauf für verschiedene Rauheitshöhen k, mungsverhältnisse herrschen. (nach bezogen auf Länge der Platte L. Die beiden R. Garrett, 1996) durchgezogenen Kurven gelten, wenn über
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Abb. 3.9 Zulässige Rauheitshöhe in µm Geschwindigkeiten (nach L. Larsson und vom Bug bis zum Heck für eine klassische R. E. Eliasson, 2000). Yacht mit 7,6 m Länge bei verschiedenen
Illustration dieses qualitativen Verhaltens und einen Überblick über die zulässigen Rauigkeiten bei einer traditionellen Yacht gibt Abb. 3.9. Als ungefähre Faustregel für die zulässige Rauheitshöhe kann in SI- Einheiten auch genommen werden (Schlichting, 1968):
n kzul 100 : ðGleichung 3:45Þ v0
Dabei bedeutet v0 die Strömungsgeschwindigkeit und v die kinematische Zähigkeit. Für eine Wasserströmung gilt
½ 0,1 : ð : Þ kzul mm 1 Gleichung 3 46 v0½ms
Bei 6 kn (≈ 3ms−1) Fahrt darf man sich demnach Unebenheiten von 0,03 mm (30 mm) erlauben. Ein glatter Unterwasser-Anstrich hat etwa 0,005–0,05 mm (5–50 mm) Rauheitshöhe, eine verzinkte Blechoberfläche 0,15 mm (150 mm), eine geschliffene Holzoberfläche ca. 0,5 mm, ein mittelmäßig bewachsener Kiel ca. 5 mm (5000 mm). Für Luft mit einer etwa 14mal größeren kinematischen Zähigkeit ist auch eine 14mal größere Oberflächenrauheit erlaubt. Wird die zulässige Rauheit überschritten, dann ist der Reibungswiderstandsbeiwert über einen großen Bereich von Reynoldszahlen konstant und wird eine Funktion der relativen Rauheits-
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höhe k / L (L = Bootslänge), siehe dazu die gestrichelten Linien, die in Abb. 3.8 waagerecht von der Kurve für turbulenten Verlauf weg laufen. Streng genommen gilt der in Abb. 3.8 wiedergegebene Verlauf nur für eine ebene Platte, er wird jedoch auch für gewölbte Rumpfoberflächen verwendet, wenn es gilt, den Reibungswiderstand rechnerisch zu erfassen. Das ist dann notwendig, wenn Modellversuche nicht in Reynolds’scher Ähnlichkeit durchgeführt werden können, also wenn sie z. B. in Froude’scher Ähnlich- keit (gleiches Wellenbild, siehe Kapitel 6) gemacht werden.
Zentrale Aussagen
Für kleine Geschwindigkeiten können Wasser und Luft als inkom- pressible Fluide betrachtet werden →div v ¼ 0 (quellenfreies Feld).
Ideale Flüssigkeiten
• Dynamik einer idealen Flüssigkeit (ohne innere Reibung)→ Eu- ler’sche Gleichungen der Hydrodynamik, nichtlinearer Term in- folge substanzieller Zeitableitung! • Erhaltung der Zirkulation in mitbewegter Flüssigkeit (Satz von Thomson = Kelvin). • Typischer Wirbel: Starr rotierender Kern, außerhalb fällt Ge- schwindigkeit mit 1/r ab. divðrot vÞ¼0 → Wirbellinie kann nicht im Volumen der Flüssig- keit enden (Helmholtz). Beständigkeit von Wirbeln. Zirkulation um Wirbelröhre konstant, je enger, desto schneller muss sie sich drehen. • Energieerhaltung entlang der Stromlinie bei stationärer Strö- mung: Bernoulli-Theorem. r v2=2 þ p þ r gz¼ const: Staudruck ½rv2, kann damit Geschwindigkeit messen. • Ebene Potenzialströmung einer wirbelfreien idealen Flüssigkeit: Strömungsgeschwindigkeit als Gradient eines Potenzials F mit DF ¼ 0. Realteil und Imaginärteil analytischer Funktionen sind Lösungen für F → Methoden der komplexen Funktionentheorie. • Strömungswiderstand: in idealer Flüssigkeit nicht vorhanden (d’Alembert’sches Paradoxon).
Reale Flüssigkeiten
• Reale Flüssigkeiten: Fluide mit innerer Reibung (Zähigkeit): Ein Term kommt zu den Euler-Gleichungen dazu → Navier-Stokes-
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Gleichungen. Entscheidende Eigenschaft des Fluids: kinemati- sche Zähigkeit n ¼ Z=r. Luft ist kinematisch zäher als Wasser. • Navier-Stokes-Gleichungen: Schwierig zu lösen, daher sucht man die Analogie zu Modellversuchen aus einer Skalenrelation → Strömungsbild ist gleich, wenn Reynoldszahl Re = uL/ n gleich. • Strömungswiderstand in realen Flüssigkeiten: Zwei Anteile: – Reibungswiderstand im eigentlichen Sinn über nicht-diagonale Anteile des Spannungstensors (Kräfte parallel zur Oberfläche), – zähigkeitsbedingter Druckwiderstand über Diagonalelemente des Spannungstensors (Kräfte normal auf die Oberfläche). • Widerstand D insgesamt: – laminare Strömung: Stokes D ∝ v, l; – ∝ 2 2 r 2 turbulente Strömung: Newton D v , l (D =½ v cD A) • Kármán’sche Wirbelstraße: Wirbel mit abwechselndem Vorzei- chen lösen sich ab. • Zähigkeit wirkt sich in Prandtl’scher Grenzschicht in der Nähe des Körpers aus, außerhalb entspricht der Strömungsverlauf einer Potenzialströmung. Laminare und turbulente Grenzschicht: Tur- bulente Grenzschicht ist dicker, bringt aber Strömungsgeschwin- digkeit näher an die Oberfläche, daher spätere Ermüdung und Ablösung. Kann wegen kleinerem Druckwiderstand Vorteile brin- gen (Golfball). • Einfluss der Oberflächenrauheit auf den Reibungswiderstand: Beiwert bewegt sich auf Hauptkurve, solange zulässige Rauheits- höhe nicht überschritten wird, und zweigt ab bestimmter Rey- noldszahl in einen horizontalen Verlauf ab (Abb. 3.8).
3.8 Der Strömungswiderstand von Körpern 61 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:33 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften)
Damit es möglich ist, (hart) am Wind zu segeln, muss das Segel, das man als Tragflügel betrachten kann, eine genügend große Kraft normal zur Anströmungsrichtung entwickeln, den Auftrieb. Wie kommt es zur Ent- stehung dieser Komponente?
4.1 Irrlehren der Auftriebsentstehung
In der Geschichte der Theorie des Segelns gab es dazu verschiedene falsche oder nur teilweise zutreffende Erklärungen (Rank, 1984). Eine klassische Irrlehre, die noch lange durch viele populäre Bücher geisterte, lautet folgendermaßen: Das Segel sei als schräg in die Strömung gestelltes Brett betrachtet. Die Luftteilchen prallen wie kleine Kügelchen darauf und übertragen ihre „Kraft“ nur normal auf die Fläche, während die Kom- ponente parallel zum Segel unwirksam ist. Vom physikalischen Standpunkt könnte man dies noch eventuell so formulieren, dass die Luftteilchen einen elastischen (oder inelastischen) Stoß mit dem Segel vollführen und dabei die zweifache (einfache) Normalkomponente ihres Impulses abgeben. Die Stoßvorstellung findet sich bereits bei Pardies (1673), die Vorstellung von der Komponentenzerlegung einer Luftkraft in Bezug auf das Segel und dann noch einmal in Bezug auf die Fahrtrichtung des Bootes ebenfalls im 17. Jahrhundert bei Sir Christopher Wren (dem Architekten der St. Pauls’s Cathedral in London), der dazu einen Demonstrationsapparat gebaut hat (Abb. 4.1): Die ursprüngliche „Windkraft“ TA kann in zwei aufeinander normal stehende Komponenten zerlegt werden, von denen die eine, WA, „wirkungslos am Segel vorbei streicht“, die andere, RA, wirksam wird (Abb. 4.1a). Die Kraft RA wird nun weiter zerlegt (Abb. 4.1b). Eine Komponente, SA, wird durch die Abdrift verhindernde Zwangsbedingungen, in Wrens Demonstrationsapparat eine mechanische Führung, neutralisiert, die zwei- te, FA, wird schlussendlich für den Antrieb genützt. Sie ermöglicht ein Aufkreuzen gegen den Wind.
Physik des Segelns: Wie Segeln wirklich funktioniert, 1. Auflage. Wolfgang Püschl. 63 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:33 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.1 Christopher Wrens Demonstrati- tenzerlegung der Windkräfte. a) Zerlegung onsversuch (17. Jahrhundert, wiederge- der primären Windkraft, b) weitere Zerle- geben von L. Rank, 1984) mit Komponen- gung der wirksamen Normalkomponente.
Diese Vorstellungen, Übertragung von Impulskomponenten der Luft- teilchen bei Stoßvorgängen bzw. Komponentenzerlegung von Kräften (die der Übertragung von Impuls pro Zeiteinheit entsprechen) sind in dieser einfachen Weise jedoch nicht zutreffend. Der Mechanismus der Kraftent- stehung am Segel könnte eventuell so verlaufen, wenn sich das Boot in einem extrem verdünnten Gas (etwa unter Weltraumbedingungen) be- wegte und nur hie und da ein Gasmolekül vorbei käme. In Wirklichkeit stehen die Luftteilchen auch miteinander in ständiger Wechselwirkung, sodass sich Druck und Reibungskräfte fortpflanzen. Die Luft ist somit ein kontinuierliches Fluid, das das Segel in komplizierter Weise umströmt. Insbesondere kommt es auch darauf an, wie die Strömung im Lee des Segels verläuft. Wir werden noch sehen, dass gerade dort der Großteil des Auftriebs entsteht. Das Problem muss daher im Rahmen der Strömungs- lehre behandelt werden. Eine viel gebrauchte Erklärung der Auftriebsentstehung, die sich auf die Strömungslehre beruft, argumentiert folgendermaßen: Ein Tragflügel ist oben (in Lee) stärker gewölbt als unten (in Luv), die Flüssigkeit muss daher oben schneller strömen als unten, damit sie sich am Ende des Flügels wieder vereinigen kann. Wenngleich der Auftrieb tatsächlich dadurch entsteht, dass die Strömung an der Oberseite (Leeseite) des Tragflügels (Segels) schneller ist und daher dort nach dem Bernoulli-Theorem geringe- rer Druck herrscht, ist die Begründung falsch. Es gibt keinen Lehrsatz, der fordert, dass zwei Flüssigkeitsteilchen, die sich vor der Tragfläche neben- einander in benachbarten Stromlinien befinden, die dann auf verschiede- nen Seiten der Tragfläche verlaufen, gleichzeitig am Ende der Tragfläche ankommen. Typischerweise kommen an einer Auftrieb erzeugenden Trag- fläche Flüssigkeitsteilchen in der Strömung auf der Oberseite viel früher an
64 4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften) Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:34 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
der Hinterkante an. Außerdem kann dieser Ansatz nicht die Tatsache erklären, dass auch ein symmetrisches Profil Auftrieb liefert, wenn es mit einem Anstellwinkel in die Strömung gestellt wird, oder eine dünne Platte, denn hier sollten ja die Wege gleich groß sein.
4.2 Wie entsteht der Auftrieb wirklich?
Experimentell wird bei (symmetrischen und asymmetrischen) Tragflä- chenprofilen beobachtet, dass sich bei geeigneten Anstellwinkeln die Stromlinien an der Hinterkante des Profils wieder parallel zusammenfü- gen und die Strömung dort mehr oder weniger glatt abfließt, allerdings nach verschiedenen Laufzeiten entlang dem Profil (Kutta’sche Abflussbedin- gung). Zwischen den wieder zusammen geführten Stromlinien gibt es eine schmale Wirbelzone, auch turbulentes Totwasser oder Nachlauf genannt. Von einer idealen Flüssigkeit würde ein Tragflügelprofil allerdings so umströmt werden, wie es in Abb. 4.2a dargestellt ist. Fügt man aber zu dieser Strömung noch eine passende Zirkulation rund um den Tragflügel hinzu (Abb. 4.2b), dann bekommt man eine Strömung, die dem tatsächlich beobachteten Verlauf entspricht (Abb. 4.2c). Ist aus welchem Grund auch immer eine Zirkulation um die Tragfläche vorhanden, dann führt sie zu einem Auftrieb, denn die Strömungsgeschwindigkeit an der Oberseite des Profils ist erhöht (kleinerer Abstand der Stromlinien). Nach dem Bernoulli- Theorem führt dies zu einem verringerten Druck. An der Unterseite des Profils verringert sich durch die Zirkulation hingegen die Geschwindigkeit
Abb. 4.2 Umströmung eines Tragflügels einer realen Flüssigkeit, nachdem eine (hier: gewölbte Platte, entspricht einem Se- Zirkulation hinzu gekommen ist, mit der gel) a) durch eine ideale Flüssigkeit und in die Kutta’sche Abflussbedingung erfüllt
der Anfangsphase durch eine reale Flüssig- wird. SP1 und SP2 sind der vordere und keit, b) Hinzufügen einer Zirkulation c) in hintere Staupunkt.
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(größerer Abstand der Stromlinien), und der Druck wird erhöht. An dieser Druckdifferenz hat allerdings der Unterdruck an der Tragflächenoberseite in der Regel den wesentlich größeren Anteil, wie aus der Druckverteilung am Tragflügel (Abb. 4.8) ersichtlich ist. Mit den erwähnten Methoden aus der komplexen Funktionentheorie kann man den Auftrieb berechnen, der auf Grund einer solchen Zirkulati- onsströmung entsteht (siehe Anhang A5). Das Ergebnis ist die Auftriebs- formel von Kutta-Joukowski (N. E. Joukowski, 1906).
L ¼ r v G: ðGleichung 4:1Þ b 0
Das Vorzeichen hat mit Orientierungskonventionen zu tun und bedeutet, dass der Auftrieb positiv ist, also nach oben zeigt, wenn die Anströmung in positiver x-Richtung erfolgt und die Zirkulation (wie in unserer Abbildung) im Uhrzeigersinn, also in mathematisch negativer Richtung, läuft. Der Auftrieb pro Spannweite b des Tragflügels ist gleich der Dichte des G Mediums mal der Anströmgeschwindigkeit v0 mal der Zirkulation und ist ansonsten unabhängig von der Form des Profils. Wie kommt es aber überhaupt zu einer Zirkulation? Ist der angeströmte Körper ein Zylinder, dann lässt sich eine Zirkulation relativ leicht erzeugen, indem man den Zylinder rotieren lässt. Der entstehende Auftrieb normal zur Anströmungsrichtung ist als Magnus-Effekt bekannt. Bei Golf- und Tennisbällen mit „Spin“ lassen sich auf diese Weise im Ballsport Quer- kräfte erzeugen, die außer der Wechselwirkung beim Aufprall mit dem Boden auch die Luftbahn verändern (Effet). Das Stromlinienbild eines rotierenden Zylinders ist in Abb. 4.3 wiedergegeben, in Abb. 4.3a aus der
Abb. 4.3 Stromlinienbild eines rotierenden und SP2: Staupunkte. Der Auftrieb ist nach Zylinders (Flettner-Rotor) a) von der Nähe oben gerichtet (berechnete Stromlinien für gesehen, b) aus größerer Entfernung. SP1 idealisierten, laminaren Verlauf).
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Abb. 4.4 a) Mit Flettner-Rotoren ausgerüs- experimentelle Besegelung auf einer Fahr- teter Frachter „E-Ship 1“ (Foto: Wikimedia tenyacht auf dem Mondsee, Oberöster- Commons, Carschten) b) Flettner-Rotor als reich (Foto: Autor).
Nähe, in Abb. 4.3b aus größerer Entfernung1). Man erkennt die weiträu- mige Umlenkung der Luftströmung. Vor einem Körper, der mittels gebun- dener Zirkulation Auftrieb erzeugt, kommt es zu einem Aufwind (für den Segler fällt dort der Wind weniger spitz von vorne ein), dahinter zu einem Abwind (der Wind fällt spitzer von vorne ein). Mit einem rotierenden Zylinder lässt sich durchaus ein Segelschiff betreiben. Versuche dazu wurden von A. Flettner 1925/26 durchgeführt. Das mit zwei Rotoren ausgerüstete Schiff „Buckau“ überquerte damit 1925 erfolgreich den Atlantik. Zu einer weitergehenden kommerziellen Verwer- tung dieses Antriebs kam es damals jedoch nicht. Dabei weisen Flettner- Rotoren gegenüber herkömmlichen Segeln einige Vorteile auf. Einer davon ist die leichte Beherrschbarkeit der Windkraft durch Wahl einer entspre- chenden Umdrehungszahl. Weiters ist der Auftrieb proportional zur Wind- geschwindigkeit und nicht zum Quadrat der Windgeschwindigkeit wie bei normalen Segelschiffen. Dadurch werden gefährliche Windspitzen besser toleriert. Die Wirksamkeit pro Flächeneinheit ist wesentlich größer als bei einer klassischen Besegelung. In jüngster Zeit wurde das Prinzip wieder aufgenommen. Abb. 4.4 zeigt den mit vier Flettner-Rotoren ausgerüsteten Frachter „E-Ship 1“ 2010 im Hafen von Emden, sowie eine mit Flettner- Rotor ausgerüstete Segelyacht. Da die Stromlinien einer Potenzialströmung v = ∇j als Äquipotenzial- linien c = const. dargestellt werden können (siehe Kapitel 3.4, ebene
1) Dieses Bild gilt allerdings nur idealisiert für schleichende Strömung. Bei realen Verhältnissen bildet sich bei SP2 eine Wirbelstraße.
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Abb. 4.5 Bestimmung der Stromlinien mit einem elektrostatischen Analogon (elektroly- tischer Trog) (R. Garrett, 1996).
Potenzialströmung), ist es möglich, sie experimentell mit einem elektrolyti- schen Trog zu ermitteln. Die Anordnung ist in der Abb. 4.5 dargstellt. Zwischen zwei Leiterplatten wird ein Potenzialunterschied gelegt, dazwi- schen befindet sich eine elektrisch leitende Flüssigkeit oder auch leitendes Kohlepapier. Die Äquipotenziallinien, die mit einem Spannungsmessgerät als Sonde ausgemessen werden können, stellen die Stromlinien dar. Ver- bindet man den Stromlinienkörper mit einem geeigneten Potenzial, dann kann man erreichen, dass die Kutta’sche Abflussbedingung erfüllt ist. Der über diese Verbindung abfließende elektrische Strom ist dann gerade der Zirkulation um das Profil proportional, die dazu dient, die Abflussbedin- gung zu erfüllen (Abb. 4.5). Grundsätzlich ist die Erklärung des Auftriebs aus der höheren Luft- geschwindigkeit an der Oberseite des Tragflügels, die sich aus der Zirkula- tion ergibt, richtig, denn die Kutta-Joukowski-Formel beschreibt genau diesen Effekt. Die Frage ist nur: Wie kommt es zur Entstehung der Zirkulation bei einem normalen Segel (gewölbte Platte) oder einem trop- fenförmigen Tragflächenprofil? Bringt man den Körper in die glatte Strö- mung ein (äquivalent dazu: setzt sich ein Körper in einem ruhenden Medium in Bewegung), dann versucht das Fluid die Hinterkante des Profils zu umströmen, das die Strömung teilt und damit eine hydrodyna- mische Trennfläche darstellt. Dabei haften in der zähen Flüssigkeit die inneren Schichten am Körper, während die äußeren ihre Bewegungsrich- tung entlang einer Bahn mit sehr kleinem Krümmungsradius ändern2). Dadurch wird ein ausgeprägter Wirbel erzeugt, der Anfahrwirbel (Abb. 4.6). Da die gesamte Zirkulation um das Gebiet erhalten bleiben muss (Thom- son-Gleichung Gl. (3.20)), wird im Gegensinn eine Zirkulation um den
2) Der Vorgang ähnelt grob dem Schleudern eines Autos, wenn man in einer engen Kurve die Handbremse zieht.
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Abb. 4.6 Entstehung der Zirkulation durch kulation um den Tragflügel. Zwischen Flü- die Bildung des Anfahrwirbels. a) zu Beginn gelende und Anfahrwirbel Straße kleinerer der Strömung: Umströmung des Endes Wirbel, welche die Feineinstellung der Zir- ähnlich wie bei einer Potenzialströmung, kulation bewirken (unter Verwendung von b) der Anfahrwirbel entsteht, c) der Anfahr- Strömungsaufnahmen von L. Prandtl, wirbel ist abgegangen, es besteht eine Zir- 1961)
Tragflügel erzeugt. Infolge von Trägheitseffekten und durch die Wirkung des vorbeiströmenden Fluids wird der Anfahrwirbel von der Strömung fortgespült, während die Zirkulation um den Tragflügel ortsfest bleibt (gebundene Zirkulation) und nach der Kutta-Joukowski-Formel Auftrieb erzeugt. Die Zirkulation wird dabei vom System durch eventuelles Abge- hen weiterer kleiner Wirbel laufend fein eingestellt, sodass die Kutta’sche Abflussbedingung stets erfüllt ist. Jede kleine Abweichung von dieser Bedingung führt sofort wieder zu einem ansatzweisen Umströmen der Tragflächenhinterkante und zur Wirbelbildung. Der gesamte Vorgang ist in der folgenden Abb. 4.6 durch Experimente illustriert. Wir sehen also, dass die „böse“ Reibung, welche einerseits den Widerstand verursacht, andererseits dadurch, dass sie die Bildung von Wirbeln veranlasst, zur
4.2 Wie entsteht der Auftrieb wirklich? 69 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:41 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Zirkulation und damit zum „guten“ Auftrieb führt3). Wir erinnern uns daran, dass in einer idealen (reibungsfreien) Flüssigkeit bei einer rotations- freien Potenzialströmung auf einen umströmten Körper überhaupt keine Kraft ausgeübt wird, weder Widerstand noch Auftrieb. Die Stromlinienbilder in Abb. 4.6a und 4.6c sehen qualitativ verschieden aus, da in Abb. 4.6a die Kamera relativ zum bewegten Körper ruht, während sie in Abb. 4.6c relativ zur Flüssigkeit ruht. Ein Tragflügel, um den sich eine Auftrieb erzeugende Zirkulation gebildet hat, lenkt die Luftströmung weiträumig ab. Analog zur Situation des rotierenden Zylinders (Abb. 4.3) tritt vor dem Tragflügel ein Aufwind auf (engl. upwash, Ablenkung der Luftströmung nach Lee), dahinter ein Abwind (engl. downwash, Ablenkung der Luftströmung nach Luv) auf. Dieser Einfluss erstreckt sich auf ein relativ großes Gebiet rund um die umströmte Tragfläche. Die Zirkulation, die sich nach der Kutta’schen Abflussbedingung ergibt, erzeugt also eine zusätzliche Geschwindigkeitskomponente, die bewirkt, dass die Stromlinien am Profilende (Flügelhinterkante) parallel verlaufen, mit einer Wirbelfläche dazwischen. Grundsätzlich darf man sich die Zirku- lation nicht so vorstellen, dass tatsächlich die Strömung rund um das Profil läuft. Es handelt sich nur um eine zusätzliche Tendenz, welche die vor- handene, allgemeine Strömung modifiziert. Es erhebt sich nun die grund- sätzliche Frage, wie die sich einstellende Zirkulation von den Profileigen- schaften und dem Anstellwinkel abhängt. Für bestimmte, ausgesuchte Profilformen lässt sich diese Frage klären, indem man einen gegen den Ursprung verschobenen Kreis mithilfe einer konformen Abbildung (mittels einer analytischen komplexwertigen Funktion) auf das Tragflächenprofil projiziert (Joukowski-Transformation) und die Bedingung des glatten Strö- mungsabflusses an der Profilhinterkante anwendet. Ohne diese Rechnung durchführen zu wollen, für die wir auf die einschlägige Literatur verweisen (z. B. Hughes und Brighton, 1967), stellen wir hier nur fest, dass die Zirkulation bei anliegender Strömung der Profilsehnenlänge c, dem An-
3) Die Wirbelbildung an der Hinterkante hen kann, wenn man einen Körper in des Tragflügelprofils erfolgt nicht „aus eine vollkommen wirbelfreie (rot v =0) dem Nichts“, da im zähen Medium Strömung einbringt. In diesem Fall auch einer laminaren Grenzschicht eine werden aber nicht-konservative Kräfte Rotation (rot v) innewohnt. Diese wird (außer der inneren Reibung) auf die dann gewissermaßen zu einem Wirbel Flüssigkeit ausgeübt, sodass die Vo- aufgerollt, etwa wie man ein dünnes raussetzungen für die Gln. (3.36) bzw. Vlies, das an der Unterlage haftet, durch (3.37) nicht mehr gelten. Ein krasses heftiges Reiben zusammenrollt. Des- Beispiel der Erzeugung von Rotation halb wird auch Gl. (3.37) nicht verletzt, bzw. Turbulenz durch Einwirkung die ja besagt, dass die Rotation stets 0 nicht-konservativer Randbedingungen bleiben muss, wenn die Strömung völ- wäre das „Umrühren“ in einer Flüssig- lig rotationsfrei ist. Die Frage ist dann keit. nur noch, wie die Grenzschicht entste-
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a stellwinkel und der Anströmgeschwindigkeit v0 proportional ist. Tatsäch- lich ist es vernünftig, dass die Zirkulation eine monoton wachsende Funktion all dieser Einflussgrößen ist, denn sie muss ja eine Abweichung von der Kutta’schen Abflussbedingung gewissermaßen „nachkorrigieren“. Trivialerweise ist der gesamte Auftrieb der Länge des Tragflügels propor- tional. Damit ergibt sich ein prinzipieller Zusammenhang, wie er auch beim Newton’schen Widerstandsgesetz (Gl. (3.44)) zu finden ist:
1 L ¼ r v2 c A.4) ðGleichung 4:2Þ 2 0 L
Dabei kann man den Auftriebsbeiwert für symmetrische Flügelprofile mit guter Näherung durch die Beziehung t c ¼ 2 pa 1 þ ðGleichung 4:3Þ L c
mit a im Bogenmaß angeben, wobei t die Profildicke und c die Sehnenlänge ist. Sehen wir einmal vom Einfluss der Profildicke ab, so lässt sich aus Gl. (4.3) eine einfache Faustregel ableiten, indem wir den Winkel a nicht im
Bogenmaß, sondern im Gradmaß darstellen: der Auftriebsbeiwert cL wächst pro Grad Anstellwinkel um 0,11 an. Dieser lineare Zusammenhang wird von realen Tragflächen erstaunlich genau befolgt (siehe Abb. 4.10). Die Eigen- schaften eines Tragflügels unter bestimmten Verhältnissen lassen sich somit
dimensionslos durch die beiden Koeffizienten cL (Auftriebsbeiwert) und cD (Widerstandsbeiwert) beschreiben. Was macht nun ein gutes Profil aus? Um ein möglichst wirksames Segel (eine möglichst wirksame Form der Kiel- flosse) zu besitzen, ist man an folgenden Eigenschaften interessiert: 1. Viel
Auftrieb bei gegebener Anströmungsgeschwindigkeit, also großes cL,2. hohes Verhältnis L/D = cL/cD von Auftrieb zu Widerstand, gleichbedeutend mit möglichst kleinem aerodynamischem (hydrodynamischem) Gleitwinkel, 3. Ablösen der Strömung an der Oberseite (Leeseite) erst bei möglichst großen Anstellwinkeln, was zum Teil mit der Forderung großer Auftriebs- beiwerte konform geht. Der gesamte Vorgang der Bildung eines Anfahrwirbels und des Aufbaus der Zirkulation benötigt eine gewisse Zeit. Als Regel kann gelten, dass 90 % des stationären Wertes des Auftriebs erreicht sind, wenn der Flügel sechs Flügelbreiten (Sehnenlängen des Profils) zurückgelegt hat, was nach H. Wagner Wagner-Effekt genannt wird. In Abb. 4.7 ist das Anwachsen des Auftriebs und der Zirkulation nach der Theorie von H. Wagner und des
4) Bei Auftriebskörpern ist es üblich, auf die Grundfläche und nicht auf die normal zur Anströmrichtung projizierte Fläche zu beziehen.
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Abb. 4.7 Anwachsen von Auftrieb L und RAF 30-Flügelprofil mit 7,5° Anstellwinkel Zirkulation G auf die jeweiligen Endwerte (nach C. A. Marchaj, 1991). nach Wagner. Experimentelle Daten für ein
Auftriebs nach einer Messung an einem Flügelprofil aufgetragen. Die Hälfte des Auftriebs ist sofort verfügbar, was einem anfänglichen Impuls- übertrag zuzuschreiben ist. Das zeitliche Verhalten bei der Einstellung der „richtigen“ Zirkulation nach der Kutta’schen Abflussbedingung ist nicht nur beim Anfahren von Geschwindigkeit null weg von Bedeutung, sondern nach jeder Änderung von Anstellwinkel oder Geschwindigkeit. Dann muss stets in einem nicht- stationären Übergang die Zirkulation auf den neuen stationären Wert gebracht werden, indem Wirbel des einen oder anderen Vorzeichens im Kielwasser zurückgelassen werden. Dieser Effekt muss etwa beim Ruder- legen berücksichtigt werden: Die volle Ruderwirkung setzt erst mit einem gewissen Zeitverzug ein. Dabei gilt: Je geringer die Profilsehnenlänge, desto schneller wird die neue Zirkulation eingestellt und der Auftrieb aufgebaut. Möchte man schnelles Ansprechen z. B. bei einem Ruder, dann sollte man also ein (von der Seite gesehen) schmales Profil wählen. Umgekehrt führt ein besonders schmales Kielprofil bei modernen Hoch- leistungsyachten zu einer gewissen „Nervosität“, weil sich bei Änderung der Anströmungsverhältnisse die hydrodynamische Seitenkraft sofort mit ändert. Die klassische Yacht mit langer Kielflosse zeigt sich dagegen kurs- stabil, weil die Zirkulation ein gewisses Beharrungsvermögen aufweist.
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4.3 Druckverteilung am Tragflügel
Im Folgenden wollen wir uns mit einigen Details der Strömung am Tragflügel beschäftigen, woraus dann wichtige Konsequenzen für die Leis- tungsfähigkeit eines Segelschiffes folgen. Die Abb. 4.8a zeigt die Druck- kräfte an einem typischen Tragflügelprofil als Vektoren. Durch die starke Beschleunigung entlang der Stromlinien an der Oberseite (Leeseite) ist der Unterdruck dort besonders ausgeprägt und beträgt typischerweise ein Mehrfaches des Überdrucks an der Unterseite (Luvseite), eine weithin bekannte Tatsache.5) Bei einer gewölbten Platte fällt der Unterdruck in Lee nicht so extrem aus, ist aber dennoch dem Betrag nach größer als der Überdruck in Luv. Man vergleiche die Druckkurven Abb. 4.14 für ein „realistisches“ Segel (gewölbtes Plattenprofil incl. Störung durch den Mast, an dem es befestigt ist). Setzen wir ein symmetrisches Profil voraus, dann ist bei Anstellwinkel null auch der Auftrieb null. In der Nähe der Profilhinterkante kommt es zur Ablösung von Wirbeln beiderlei Vorzeichens, die im Kielwasser eine Kármán’sche Wirbelstraße bilden und zum Widerstand beitragen (Abb. 4.9a). Erhöhen wir den Anstellwinkel a, so wird mit zunehmendem a immer mehr Zirkulation und damit Auftrieb ausgebildet. Die Druckdifferenz zwischen der Lee- und Luvseite nimmt dementsprechend zu. Sie erreicht ein Maximum bei einem bestimmten Grenzwinkel. Danach bricht der Auftrieb zusammen. Grund dafür ist, dass die Strömung nicht mehr dem Profil folgt, sondern abreißt (Abb. 4.9b). Dieser Strömungsabriss (engl. stalling) ist besonders in der Fliegerei gefürchtet, wo er zum Absturz führen kann. Die Konsequenz beim Segeln ist nur, vom Konkurrenten überholt zu werden. Bei welchem Winkel die
5) Bei Umströmung durch eine Flüssig- Wechselbelastung (Vibrationen) und keit ist der Druck allerdings durch das Erosion der Oberfläche des umström- Phänomen der Kavitation begrenzt. Es ten Körpers. Das geschilderte Phäno- handelt sich um das Entstehen von men stellt ein praktisches Problem bei Dampfblasen, sobald der Druck in der Schiffspropellern dar. Die bei der Um- Flüssigkeit unter den Gleichgewichts- strömung von Segelschiffrümpfen auf- Dampfdruck bei der herrschenden tretenden (im Ruhesystem des Wassers Temperatur absinkt. Die entstehende gemessenen!) Geschwindigkeiten sind Gasphase (Wasserdampf) kann im Ge- jedoch zu gering, um Kavitation hervor- gensatz zur Flüssigkeit relativ leicht ex- zurufen. Ein reales Problem bei Segel- pandieren, was zu einem Druckaus- yachten stellt jedoch das Ansaugen von gleich und Anstieg des Drucks führt. Es Luft von der Wasseroberfläche dar, etwa strömt Flüssigkeit nach, sodass sich der bei (Steuer-) Rudern. Diese uner- Unterdruck wieder aufbauen kann. Die wünschte Querströmung kann durch wiederholten Druckschwankungen Anbringen von hydrodynamischen Zäu- durch Bildung und Verschwinden von nen, das sind seitlich angebrachte hori- Dampfblasen führen zur mechanischen zontale Platten, verhindert werden.
4.3 Druckverteilung am Tragflügel 73 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:43 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.8 Druckverteilung an einem Tragflü- gegeben. In a) sind die Druckkraftvektoren gel (schematisch). Über- und Unterdruck eingezeichnet, in b) nur die Absolut- sind in Einheiten des Staudrucks rv2/2 an- beträge angegeben.
Strömung abreißt, hängt wesentlich davon ab, wie rund die Nase des Profils ist. Bei Profilen mit schärferer Nase tritt naheliegender Weise Strömungsablösung früher auf, wie aus den experimentellen Kurven der Abb. 4.10 hervor geht. Je nach Verwendungsart wird man sich für verschiedene Profile ent- scheiden. Eine Kielflosse wird in der Regel nur unter einem kleinen Anstellwinkel von ≤ 5° angeströmt. Hier ist es wesentlich, guten Auftrieb bei möglichst kleinem Widerstand zu haben, wobei die erste Forderung bei hohen Windstärken und Bootsgeschwindigkeiten in den Vordergrund tritt.
Abb. 4.9 a) symmetrische Strömung (a = 0°), b) Abreißen der Strömung (a = 20°) (C. A. Marchaj, 1991).
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Abb. 4.10 Lineares Anwachsen des Auf- Committee on Aeronautics zusammen- triebs mit dem Anstellwinkel für verschie- gestellt wurden (nach C. A. Marchaj, dene Profile. Die Kürzel beziehen sich auf 1991). Profilfamilien, die vom National Advisory
Also ist ein schlankes Profil mit vergleichsweise kleinem Nasenradius angezeigt. Bei einem Ruder hingegen soll die Strömung auch bei etwas größeren Anstellwinkeln (Ruderausschlägen) nicht abreißen, um im Not- fall ausreichend Ruderwirkung zu haben. Dort empfiehlt sich ein etwas dickeres Profil mit größerem Nasenradius.
4.4 Ablösungsverhalten und Wirbelbildung an Tragflügelprofilen
Die Strömung auf der Profiloberseite (Leeseite) wird bis zum Unter- druckmaximum beschleunigt, danach verzögert. Durch die Reibung an der Oberfläche des umströmten Körpers „ermüdet“ die Strömung zuse- hends, bis sie schließlich in Körpernähe ihre Richtung umdreht, wodurch die Entstehung eines Wirbels eingeleitet wird und sich schließlich die Strömung ablöst (Abb. 4.11). Es ist im Prinzip möglich, diese Rückwärtsbewegung der Strömung aufzufangen und dadurch frühzeitige Strömungsablösung hintanzuhalten.
4.4 Ablösungsverhalten und Wirbelbildung an Tragflügelprofilen 75 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:48 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.11 Ermüdung der Grenzschicht mit Strömungsumkehr und Ablösung unter Wirbelbildung (nach Fuchs und Hopf, 1922).
Vögel können dazu einzelne Deckfedern aufstellen. In der Fliegerei erfül- len Rückstromklappen in der Nähe der Flügel-Hinterkante die gleiche Funk- tion. Wir erinnern uns daran, dass turbulente Grenzschichten durch den Impulstransport quer zur Strömungsrichtung eine höhere Strömungs- geschwindigkeit ganz nahe am Körper aufweisen und daher nicht so rasch zum Ermüden neigen wie laminare Grenzschichten. Je nach Profilform, Reynoldszahl und Anstellwinkel kann das Ablöseverhalten eine Reihe verschiedener Varianten aufweisen. Bei dickeren Profilen mit abgerundeter Nase neigt die Strömung zum Umschlag in den turbulenten Charakter, bevor sie sich ablöst. Bei dünnen, gewölbten Plattenprofilen, wie sie her- kömmliche Segel aufweisen, kommt es oft nach Ablösung der laminaren Grenzschicht zu einem Wiederanlegen unter Bildung einer Ablösungsblase, bis sich die in turbulentes Verhalten umgeschlagene Grenzschicht in der Nähe der Profilhinterkante erneut ablöst. Um den Widerstand möglichst klein und den Auftrieb groß zu halten, ist man natürlich bemüht, den Punkt der Strömungsablösung so weit wie möglich an die Profilhinterkante zu verlegen, was durch Wahl eines günstigen Anstellwinkels (Segelstel- lung), Profilform (Kielflosse, Segelform und ‐trimm) und Verringerung von Störeinflüssen (Mast, stehendes Gut) erzielt werden kann. Nachdem wir hier asymmetrische und symmetrische Tragflügelprofile betrachtet haben, erhebt sich die Frage, wie die bei einem Segelboot tatsäch- lich auftretenden Profile beschaffen sind. Während ein symmetrisches Strom- linienprofil bei der Kielflosse einer Kielyacht und bei modernen Jollen gut zu erzielen ist (die gerade Platte älterer Jollen ist nicht so günstig, da sie stark zur Wirbelbildung neigt), ist das Segel typischerweise als gewölbte Platte anzuse- hen. Das Strömungsverhalten einer dünnen, gewölbten Platte ist gekenn- zeichnet von einem sehr schmalen Bereich von Anstellwinkeln, bei denen keine Strömungsablösung stattfindet. Der günstigste Winkel ist dabei derje- nige, bei dem die Strömung etwa tangential zur Vorderkante des Segels
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einfällt (stoßfreier Eintritt), was der Segler am parallelen Anliegen von Wind- fäden, auch Spione genannt (engl. telltales) feststellen kann, die in der Nähe der Vorderkante an der Luv- und Leeseite des Segels befestigt sind. Bei größeren Anstellwinkeln tritt ein Bereich abgelöster Strömung auf, wobei sich die Strömung hinter einer Ablösungsblase wieder anlegt, vorausgesetzt, dass ein kritischer Anstellwinkel nicht überschritten wird. Ist dem Segel ein Profilvor- stag vorgelagert, dann ist vollständige Ablösung der Strömung nicht mehr so leicht möglich, und die Eigenschaften des Profils verbessern sich. Wenn der Anstellwinkel vergrößert wird, dann bedeckt die Ablösungsblase einen immer größeren Teil der Profillänge, bis sie das Profil schließlich ganz überdeckt und der maximale Auftrieb erreicht ist. Die Dicke der Blase beträgt in einem typischen Versuch dann etwa 3 % der Profillänge (C. A. Marchaj, 1991). Der Mast als Störeinfluss vor dem Großsegel wirkt sich so aus, dass es an seinen relativ starken Krümmungen besonders leicht zu Strömungsablösung kom- men kann. Je nach Mastform kann dies sowohl an der Luv- als auch an der Leeseite zur Bildung von Ablösungsblasen führen (Abb. 4.12a). Das traditio- nelle Gaffelsegel einer Rennjolle wird an einer schraubenförmig verlaufenden Leine (Reihleine) am Mast gehalten und rutscht an dieser idealerweise an die jeweilige Leeseite des kreisrunden Mastprofils, sodass wenigstens dort ein glatter Strömungsabfluss gewährleistet ist (Abb. 4.12b). Der Störeinfluss des Mastes führt zu einem typischen, wellenförmigen Verlauf der Druckverteilung, weil in der Ablösungsblase die Strömung umge- kehrt bzw. stark verlangsamt verläuft. Dies wurde bereits sehr früh experi- mentell verifiziert. In den Abb. 4.13 und 4.14 sind die berühmten Druck- messversuche von Warner und Ober (1925) am Großsegel der Yacht
Abb. 4.12 Störung durch den Mast: a) üb- fahren wird, b) älteres Gaffelsegel, das an liches Segel, das in Schiene oder Nut (Keep) einer Reihleine an die Leeseite des kreis- an einem tropfenförmigen Mastprofil ge- runden Mastes rutscht.
4.4 Ablösungsverhalten und Wirbelbildung an Tragflügelprofilen 77 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:51 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.13 Druckmessschläuche im Segel der Yacht „Papoose“ (Warner und Ober, 1925).
„Papoose“ wiedergegeben (Warner und Ober, 1925). Dazu wurde das Segel nach dem in Abb. 4.13 dargestellten Schema mit Druckschläuchen versehen. Eine ähnliche Druckverteilung kann auch an dünnen Plattenprofilen fest- gestellt werden.
Abb. 4.14 Messung der Druckverteilung an einem Großsegel (Warner und Ober, 1925).
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Abb. 4.15 Profilmast auf einer 20 m²-Rennjolle (Konstruktion Brenneis, Wörther See ca. 1930, Nachlass Breuneis, Sammlung W. Püschl).
Zu beachten ist, dass die Messungen der Abb. 4.14 alternativ mit und ohne Segellatten gemacht wurden, wobei sich die Achterkante ohne Latten nach innen rollte, was den relativ großen Überdruck in Luv erklärt. Die Bemühungen, das Segel einem Tragflügelprofil anzunähern und dabei die störende Wirkung des Mastes zu verringern, sind zahlreich. Die erfolgreichsten sind drehbare Profilmasten, die bereits einen Teil des Segelprofils darstellen (vor allem große Rennkatamarane, wie sie in jüngs- ter Vergangenheit im America’s Cup eingesetzt werden. Beachte auch das Versuchsrigg auf einer 20 m²-Rennjolle aus den 1930er Jahren – Abb. 4.15), und Segel, die sackförmig ausgeführt sind und in die der Mast eingeführt wird (Laser-Klasse, Windsurfer). Versuche wurden auch mit Schaumstoff gefütterten Segeln gemacht.
4.4 Ablösungsverhalten und Wirbelbildung an Tragflügelprofilen 79 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:54 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
4.5 Gewölbte Platte verglichen mit dickem Flügelprofil
Die Frage stellt sich nun: Ist ein Flügelprofil einer gewölbten Platte tatsächlich überlegen? Um diese Frage zu beantworten, wurde eine ge- wölbte Platte hinsichtlich ihres Auftriebs- und Widerstandsbeiwertes un- tersucht und mit einem Flügelprofil verglichen (Abb. 4.16). Die gewölbte Platte zeigt durchwegs höhere Auftriebsbeiwerte, aber auch höhere Wider- standsbeiwerte. Die Ursache für diesen höheren Widerstand stellt die Ablösungsblase mit dem darin befindlichen Wirbel dar, in dessen Auf- rechterhaltung die Strömung dauernd zusätzliche Energie investieren muss. Das Verhältnis Auftrieb zu Widerstand L / D (oder äquivalent dazu
cL /cD) ist in einem gewissen Bereich für das Flügelprofil wesentlich größer. Das bedeutet einen kleineren aerodynamischen Gleitwinkel und damit die Fähigkeit, höher am Wind zu segeln. Im Vergleich dicker und dünner Profile ist jedoch stets die Abhängigkeit von der Reynoldszahl im Auge zu behalten, also von der Größe des betrachteten Segels und von der Windgeschwindigkeit. Dicke Flügelprofile können ihre vorteilhaftes Wider- standsverhalten allerdings erst bei höheren Reynoldszahlen oberhalb von Re ≅ 105 ausspielen. Untersucht man weiters die Frage, ob ein schwächer oder stärker gewölb- tes Segel bessere Eigenschaften hat, dann weisen die Versuche mit gewölb- ten Platten eindeutig darauf hin, dass bereits bei relativ kleinen bis mitt- leren Reynoldszahlen die stärkere Wölbung den höheren Auftrieb bringt
Abb. 4.16 a) Auftriebs- und Widerstands- Flügelprofils, b) Auftriebs-Widerstandsver- beiwert (letzterer 10fach vergrößert dar- hältnis für beide Profile. Re = 2,5·105 gestellt) einer gewölbten Platte und eines (adaptiert nach C. A. Marchaj, 1991).
80 4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften) Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:55 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.17 Auftriebsbeiwerte gewölbter Plat- theoretischen Auftriebsanstieg an, das ten mit verschiedener Wölbungstiefe (engl. sind 0,11 pro Grad Anstellwinkel ( nach camber). Die gestrichelte Linie gibt den C. A. Marchaj, 1991).
(Abb. 4.17), wobei sowohl der Anstellwinkelbereich, über den dieser Auf- trieb erbracht wird, als auch der maximal erzielbare Auftrieb größer aus- fallen. Bemerkenswert ist, dass bereits bei negativen Anstellwinkeln erheb- licher Auftrieb gemessen wird (ein Phänomen, das ja auch bei der über eine Wäscheleine nach oben flatternden Wäsche beobachtet werden kann). So wird im Allgemeinen das stärker gewölbte Segel den größeren Auf- triebsbeiwert haben. Allerdings ist neben dem größeren Widerstand damit auch eine größere aerodynamische Seitenkraft SA verbunden, die bei höheren Windstärken zu Stabilitätsproblemen führen kann.
4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen
Es gibt viele Situationen, wo ein Tragflügelprofil in einem Strömungsfeld arbeitet, das von einem anderen, in der Nähe befindlichen Profil beein- flusst und verändert wird. In der Aeronautik musste man sich schon frühzeitig mit diesem Fall beschäftigen, der zum Beispiel bei Mehrdecker- Flugzeugen und Vorflügelklappen Anwendung findet. Bei vielen Segel- yachten arbeiten Vor- und Großsegel überlappend, zweimastige Takelun- gen (Ketsch, Schoner, Yawl) sind bei größeren Fahrtenyachten durchaus
4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen 81 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:57 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.18 Siebenmast-Gaffelschoner „Thomas W. Lawson“, Segelriss.
üblich, und die Seefahrtsgeschichte kennt Beispiele von bis zu siebenmas- tigen Schonern (Abb. 4.18) und fünfmastigen Rahseglern. Um 1920 untersuchte der Aerodynamiker F. Handley-Page mehrfach unterteilte Flügelanordnungen aus bis zu acht Segmenten. Damit konnte eine erhebliche Steigerung der Auftriebsbeiwerte erzielt werden (Abb. 4.19), jedoch um den Preis stark vergrößerten Widerstandes und dadurch verringerten L / D-Verhältnisses. Die schlechteren Amwind-Eigenschaften mehrmastiger Besegelungen wie Schonerriggs sind ja durchaus bekannt. Durch die Hintereinanderschaltung vieler Einzelflügel wird eine sehr starke Windumlenkung (und ein sehr großer induzierter Widerstand, vgl. Kapitel 5) erzeugt.
Abb. 4.19 Auftriebsbeiwerte verschiedener Flügelprofile mit unterschiedlicher Anzahl von Schlitzen (Zahlen bei den Kurven) nach Handley-Page (Fuchs und Hopf, 1922).
82 4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften) Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:39:59 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.20 Strömungsverlauf a) für ein Vor- Die gestrichelte Linie gibt die Richtung des segel allein und b) in Kombination mit ei- Windeinfalls an der Vorderkante des Vor- nem Großsegel ( nach A. Gentry, 1973–74). segels an.
Die ursprüngliche (falsche) Erklärung für die Auftriebssteigerung bei unterteilten Profilen war, dass durch den verengten Spalt zwischen zwei Tragflächen die Luft schneller strömt und daher für eine verstärkte Sog- wirkung sorgt. Diese Vorstellung von der „Düsenwirkung“, die sich etwa bei Altmeister Curry in großer Ausführlichkeit findet, erfreute sich in Seglerkreisen noch lange großer Beliebtheit, selbst dann noch, als sie in der Fliegerei schon längst durch die richtige Interpretation ersetzt worden war. Eine Untersuchung der Strömungsverhältnisse an einer Vorsegel- Großsegel-Kombination mit einem elektrostatischen Analog-Plotter (vgl. Abb. 4.5) und der daraus resultierenden Druckverteilung zeichnet ein anderes Bild. In der Abb. 4.20 ist der Stromlinienverlauf, in 4.21 und 4.22 ist jeweils der Überdruck in Luv (positive Werte) und der Unterdruck in Lee (negative Werte) dargestellt. Aus der Druckverteilung in Abb. 4.21 folgt, dass das Hinzufügen eines Großsegels den Unterdruck im Lee des Vor- segels stark erhöht, der Überdruck in Luv ist dort, wo sich die „Düse“ befindet, reduziert bzw. abgebaut. Weiters fällt auf, dass der Einfluss des Großsegels für einen starken Aufwind an der Vorderkante des Vorsegels sorgt, wodurch das Vorsegel höher an den Wind gehen kann (Abb. 4.20). Betrachten wir die entsprechende Abbildung (Abb. 4.22) für ein Groß- segel mit und ohne Vorsegel. Das Vorsegel macht mit dem Großsegel jetzt genau das Gegenteil: Die Wirksamkeit des Großsegels wird durch Zerstö- rung des Unterdrucks in seinem Lee stark reduziert. Der Anströmwinkel an der Vorderkante wird ebenfalls stark verringert (Wind kommt vorlicher).
4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen 83 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:40:00 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.21 Druckverlauf für ein Vorsegel allein (gestrichelt) und ein Vorsegel in Ver- bindung mit einem Großsegel (durchgezogen) (nach A. Gentry, 1973–74)
Abb. 4.22 Druckverlauf für ein Großsegel allein (gestrichelt) und ein Großsegel in Verbindung mit einem Vorsegelsegel (durchgezogen) ( nach A. Gentry, 1973–74)
84 4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften) Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:40:04 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Das hat auf der einen Seite den Vorteil, dass die Strömung an der Großsegel-Vorderkante (wo sich der störende Mast befindet) nicht mehr so leicht abreißt, kann aber andererseits ein Einfallen des Großsegels nahe der Vorderkante bewirken (engl. backwinding). Der Vorteil, den das Groß- segel dem Vorsegel verschafft, ist aber so groß, dass dieser Nachteil bewusst in Kauf genommen wird, und es gibt Bootsklassen, bei denen standardmäßig, besonders bei höheren Windstärken, hart am Wind mit leicht eingefallenem Großsegel gefahren wird. Die Wirkung des Vorsegels auf das Großsegel muss aber nicht nur nachteiliger Art sein: Die Strömung glättende Wirkung eines kleinen Vorflügels und damit die Verzögerung von Turbulenz und Ablösung ist unbestritten und wird im Flugzeugbau in Form von Klappen am vorderen Flügelrand ausgenützt. Ein schmales Vorsegel, wie es zum Teil bei frühen Segelyachten gefahren wurde, übt die gleiche Wirkung aus. Das Zusammenwirken von Vor- und Großsegel kann also folgenderma- ßen resümiert werden: Durch die Zirkulationsströmung im Lee des Groß- segels wird an der Hinterkante des Vorsegels ein gewisser „Saugeffekt“ erzeugt und die Luftströmung im Lee des Vorsegels zusätzlich beschleu- nigt. Ein Teil der Luft, die im Lee eines ohne Vorsegel gefahrenen Groß- segels vorbeistreicht, legt nun einen weiteren Weg um das Vorsegel herum zurück. Die Strömungsgeschwindigkeit im Spalt zwischen Vor- und Groß- segel ist zwar größer als in der ungestörten Strömung weit weg vom Boot (sonst würde ja dort gar kein Unterdruck auftreten), aber lange nicht so groß, als wenn das Vorsegel nicht vorhanden wäre und das Großsegel allein die Zirkulation erzeugen würde. Die gleiche Wechselwirkung, wie sie zwischen zwei Segeln des gleichen Boots besteht, tritt auch bei verschiedenen Booten auf, wenn sie zueinander in geeigneter Stellung segeln. Dies ist die Grundlage für die bereits von M. Curry propagierte „Sichere Leestellung“ (engl. safe leeward position, Abb. 4.23). Boot A, das sich in derselben befindet, profitiert von Boot B genauso wie das Vorsegel oben vom Großsegel. Es wird vom Wind räumlicher (weniger spitz) angeströmt, wofür der Aufwind durch die Zirkulation von Boot B verantwortlich ist. Selbst hat es vergrößerte Zirkulation und mehr Vortrieb. Boot B kann nicht mehr so hoch an den Wind, da es den Abwind von A verspürt, und ist obendrein durch die von A erzeugten Wirbel benachteiligt. Der erfahrene Regattasegler wird, wenn er in die Lage von Boot B kommt, nur dann nicht sofort wenden, wenn er aus taktischen Gründen (z. B. mangelndes Wegerecht gegenüber einem dritten Boot etc.) dort verbleiben muss. Noch nachteiliger wirken sich Windablenkung und Wirbelbildung für ein Boot aus, das hart am Wind im Kielwasser eines anderen segelt. Man spricht dann von der hoffnungslosen Stellung nach Curry, und man wird erst recht über Stag gehen (wenden), wenn es möglich ist.
4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen 85 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:40:04 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.23 Boot A befindet sich in der Si- A erfährt mehr Windkraft (Stromlinien lie- cheren Leestellung. Es läuft höher am Wind gen in Lee dichter = schnellere Strömung) als B (strichpunktierte Linien). Der Wind als B ( nach R. Garrett, 1996). fällt räumlicher ein (gestrichelte Linien).
Ein eklatanter Fall von gegenseitiger Beeinflussung von Booten liegt auch dann vor, wenn sie hintereinander vor dem Wind fahren. Die Strömung ist dann in Lee abgelöst, und es bilden sich große Wirbel. Das benachteiligte Boot ist nun das vordere (in Lee befindliche). Das achteraus (hinten) liegende Boot schädigt nicht nur das andere durch diese Wirbelstraße, es kann auch unter Umständen einen zusätzlichen Vorteil daraus ziehen, dass es vom Rückstrom (Abb. 4.25) der Wirbel nicht mehr getroffen wird. Diese Abdeckungsstellung ist ein häufig angewendetes Kampfmittel, wenn ein Gegner auf einem Spinnakerkurs verfolgt wird.
Abb. 4.24 Gegenseitige Beeinflussung von Zirkulation und Luftkraft (Meisterschaft Booten, Beispiele für Sichere Leestellung. der 20 m²-Rennjollen 2005, Ratzeburger Die in Lee liegenden Boote haben mehr See, Fotos: Gudrun Wigger).
86 4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften) Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:40:07 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 4.25 Wirbelbildung hinter einer von links angeströmten Platte mit Rückstrom in der Mitte (modifiziertes Anstrichbild, Oertel 2001).
Die Grenze der gegenseitigen Beeinflussung auf Vorwindkurs wurde von M. Curry mit einer Entfernung von etwa der vierfachen Masthöhe angege- ben. Er hat dazu bereits 1925 Versuche im Windkanal mit aus Blech gefertigten Segelmodellen gemacht (siehe dazu die Darstellung in seinem Originalwerk „Die Aerodynamik der Segel und die Kunst des Regatta- Segelns“).
Zentrale Aussagen
Stoßprozesse einzelner Luftmoleküle sind kein zutreffendes Modell für die Entstehung des aerodynamischen Auftriebs. Luft (und Was- ser) sind Fluide und müssen strömungsmechanisch behandelt wer- den.
Wie entsteht der Auftrieb?
• Tragflächenprofile werden so umströmt, dass Stromlinien an der Hinterkante parallel anschließen (Kutta’sche Abflussbedingung), dazwischen Wirbelzone. Jedoch keine gleichen Wegzeiten ober- halb und unterhalb der Tragfläche. • Um die Abflussbedingung zu erfüllen, muss sich der Potenzial- strömung (ideale Flüssigkeit) eine Zirkulation um die Tragfläche überlagern. • Wenn Zirkulation vorhanden, erhöht sie die Strömungsgeschwin- digkeit auf der Oberseite und verringert sie auf der Unterseite. Aus dem Bernoulli-Theorem folgt daher → Druckdifferenz: Auftrieb.
4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen 87 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c04.3d from 13.04.2012 15:40:08 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
• Kutta-Joukowski-Gleichung: L=b ¼ r v0 G: Der Auftrieb ist der Zirkulation und der Anströmungsgeschwindigkeit proportional. • Zirkulation kann mit rotierendem Zylinder „künstlich“ hergestellt werden → Flettner-Rotor, ein wirksamer Schiffsantrieb. • Entstehung der Zirkulation bei einem Tragflügelprofil: An der Hinterkante bildet sich durch Zusammenspiel von Reibung und Trägheit der Anfahrwirbel. Erhaltung der Gesamtzirkulation → Zir- kulation in der Gegenrichtung um Flügel.
Verhalten des Auftriebs bei verschiedenen Profilen
• Größe der Zirkulation um ein Tragflügelprofil kann mit Metho- den der komplexen Funktionentheorie berechnet werden. Daraus ¼ = r 2 folgt: Auftriebsformel L 1 2 v0 cLA. Beiwert cL über weite Bereiche dem Anstellwinkel proportional. • Zirkulation braucht Zeit, um sich aufzubauen. Etwa sechs Flügel- breiten müssen zurückgelegt werden. • Zirkulation und Auftrieb wachsen mit dem Anstellwinkel an, bis die Strömung bei einem Grenzwinkel abreißt. Wann das passiert, hängt von Profilform und Reynoldszahl ab. • Ablösung bei dünnen Platten (Segel!) unter Ausbildung einer Ablösungsblase. Störeinfluss des Mastes und des Stehenden Gu- tes: Wirbelbildung und typischer wellenförmiger Druckverlauf (Warner und Ober, 1925). • Was ist besser, dünne Platten oder Tragflügel: Dünne Platten erzeugen insgesamt mehr Vortriebskraft, aber auch mehr Wider- stand. L / D-Verhältnis bei Flügelprofil besser → bessere Kreuz- eigenschaften.
Wechselwirkung mehrerer Profile
• Maximaler Anstellwinkel und damit Gesamtauftrieb steigt mit Anzahl der Profile, aber auch Widerstand. • Vorsegel-Großsegel-Kombination ist deswegen vorteilhaft, weil Vorsegel stark vom Großsegel profitiert. Großsegel wäre allein besser als mit Vorsegel („Düsenwirkung“ ist falsche Erklärung)! Analog dazu Wechselwirkung zwischen parallel segelnden Boo- ten: Sichere Leestellung. • Vor dem Wind hintereinander segelnde Boote: Schädigung des vorausfahrenden Bootes durch Wirbelstraße und Rückströmung.
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5 Der dreidimensionale Tragflügel
Alle in Kapitel 4 angestellten Überlegungen in Bezug auf Auftrieb und Widerstand von Tragflügeln in Abhängigkeit von ihrer Form und der Reynoldszahl bezogen sich auf ebene, zweidimensionale Strömungen ohne Abhängigkeit von der Koordinate in Richtung der Spannweite. Wir betrachteten also unendlich lange bzw. durch parallele Wände begrenzte Flügel. Wenn sich das auch in einem Windkanal oder Strömungskanal mit prismatischen Profilen einigermaßen gut simulieren lässt, so hat doch jedes Segelfahrzeug nur endliche Masthöhe und endlichen Tiefgang der Kielflosse. Daher haben wir uns mit den Auswirkungen von Form und endlicher Länge des Tragflügels zu beschäftigen. Zunächst eine kleine Anmerkung zur Bezeichnungsweise: In der Aero- dynamik ist es üblich, die Auftriebs- und Widerstandsbeiwerte, die sich auf die Profileigenschaften beziehen (unendlich lange, prismatische Tragflü- gel) mit kleinen Buchstaben zu bezeichnen, und solche, die sich auf dreidimensionale, reale Tragflügel beziehen, mit großen Buchstaben, also
cL, cD Profilbeiwerte; CL, CD Flügelbeiwerte.
5.1 Randwirbel und induzierter Widerstand
Da zwischen der Oberseite des Tragflügels und der Unterseite ein Druck- gradient besteht, hat das Fluid die Bestrebung, diesen Druck auszuglei- chen, indem es über das Ende des Flügels von unten (Luv) nach oben (Lee) strömt. Diese Bewegung überlagert sich mit der vorbeifließenden Strö- mung und bildet zusammen mit dieser einen schraubenlinienförmigen sog. Zopfwirbel. In Abb. 5.1 ist dieser Tragflächen-Randwirbel im Experi- ment sichtbar gemacht. Er tritt beim Segelboot nicht nur an der Mastspitze (und gegebenenfalls am unteren Rand des Segels) auf, sondern auch an der Spitze des Schwerts (Kiels) und des Ruderblatts. Besonders eindrucksvoll ist eine Aufnahme vom Volvo Ocean Race 2001–2002, bei der die Mast-
Physik des Segelns: Wie Segeln wirklich funktioniert, 1. Auflage. Wolfgang Püschl. 89 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:38 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.1 Randwirbel an einer rechteckigen Tragfläche, mit Rauch sichtbar gemacht. Anstellwinkel a = 24°, Re =105 (Foto M. R. Head, 1982).
spitzenwirbel der aus Kapstadt auslaufenden Yachten Bahnen in eine Nebeldecke zeichnen (Abb. 5.2) Entsprechend den Helmholtz‘schen Wirbelsätzen kann der Zopfwirbel des Flügelrandes nicht irgendwo frei in der Flüssigkeit enden (div(rot v) = 0). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Flügelrandwirbel zusam-
Abb. 5.2 Volvo Ocean Race 2001–2002: Spuren von Mastspitzenwirbeln in einer Nebel- decke bei Kapstadt. Foto: Copyright Daniel Forster.com.
90 5 Der dreidimensionale Tragflügel Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:41 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.3 Geschlossenes Wirbelsystem, bestehend aus gebundener Zirkulation, Tragflü- gel-Randwirbeln (Zopfwirbeln) und Anfahrwirbel.
men mit der Zirkulation um die Tragfläche und mit dem Anfahrwirbel ein ringförmiges geschlossenes Wirbelsystem bilden (Prinzipdarstellung in Abb. 5.3). Bei einem üblichen Tragflügel nimmt die Sehnenlänge des Profils all- mählich zu den Flügelspitzen hin ab. Aufgrund dieser geometrischen Vorgabe und wegen der seitlichen Umströmung der Flügelenden nehmen die Zirkulation und damit der Auftrieb zu den Flügelenden beim Fort- schreiten entlang der Spannweite entsprechend ab. Wegen der Helm- holtz‘schen Wirbelsätze, die die Erhaltung der gesamten Wirbelstärke an Verzweigungspunkten verlangen, muss der Anteil an gebundener Zirkula- tion, der beim Fortschreiten entlang dem Flügel verloren geht, nach hinten als Zopfwirbel abgehen. Von dem gesamten Flügel wird also eine Wirbel- fläche (Wirbelschleppe) zurückgelassen. In Abb. 5.4 ist dieser Zusammen- hang schematisch dargestellt.1) Die einzelnen Wirbelfäden, die hinter der Tragfläche zurückgelassen werden und zunächst eine flächige Wirbelschleppe bilden, bewegen sich jeweils in den von den anderen Wirbeln erzeugten Strömungsfeldern und rollen sich dadurch zu einem großen Randwirbel zusammen. Abbildung 5.5 zeigt einen solchen ausgeprägten Randwirbel hinter einem niedrig fliegenden Flugzeug, mit einer Rauchpatrone auf dem Boden sichtbar gemacht (NASA Langley Research Center). Diese Wirbel bleiben hinter
1) Die Verzweigung der Wirbelfäden hat ke, die Rolle des Geschwindigkeitsfel- ein Analogon in der Elektrodynamik, wo des die magnetische Feldstärke H.So sich Ströme nach der Kirchhoff’schen gilt für das Geschwindigkeitsfeld in der Knotenregel verzweigen. Man kann Nähe eines Wirbelfadens das gleiche viele Beziehungen, die in der Strö- Biot-Savart-Gesetz wie in der Elektrody- mungslehre gelten, aus elektrodyna- namik für die magnetische Feldstärke mischen Analoga ableiten. Die Rolle der in der Nähe eines Stromfadens. Zirkulation spielt dabei die Stromstär-
5.1 Randwirbel und induzierter Widerstand 91 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:42 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.4 Zusammenhang zwischen abnehmender Zirkulation und abgehenden Zopfwirbeln.
großen Flugzeugen kilometerlang bestehen und stellen für kleinere, nachfolgende Maschinen eine potenzielle Gefahr dar. Die innere Reibung sorgt dafür, dass sich diese Wirbel allmählich auflösen. Da die Beziehung div(rot v)=0auch in Medien mit innerer Reibung gilt, darf man sich den Vorgang allerdings nicht so vorstellen, dass dabei Wirbelstärke „ver- schluckt“ wird. Sie wird vielmehr nach außen hin verteilt. Siehe dazu den Anschnitt „Dissipation von Wirbeln“ in Kapitel 3.6. Verschiedene Instabili- täten und Störungen sorgen jedoch dafür, dass keine hochsymmetrische Konfiguration aufrechterhalten bleibt, sodass das Problem der Dissipation, dem besonders in der Luftfahrt große Bedeutung zukommt, in der Praxis
Abb. 5.5 Flügelrandwirbel, durch Rauchpatrone sichtbar gemacht (Foto: NASA).
92 5 Der dreidimensionale Tragflügel Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:45 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
sehr komplex ist (Mager, 1972). Wie in Abb. 5.5 zu erkennen ist, bewirkte der Tragflächen-Randwirbel einen Aufwind außerhalb der Flügelspitze und einen Abwind direkt hinter der Tragfläche. Zugvögel machen sich den Aufwind des vor ihnen fliegenden Vogels zunutze, wenn sie in keilförmi- ger Formation fliegen. Beim Segelboot kommt diesem Aufwind im All- gemeinen keine Bedeutung zu, da er oberhalb der Mastspitze liegt. In Abb. 5.6 sind zur besseren Orientierung Tragfläche und Wirbel so eingezeichnet, wie sie bei einem Segelboot liegen. Die Anordnung ist gegenüber derjenigen bei einem Flugzeug um 90° gedreht. Die „Oberseite“ des Tragflügels entspricht nun der Leeseite, und der „Abwind“ hinter dem Flügel ist in diesem Fall eine Ablenkung nach Luv, die den Anstellwinkel des Segels verringert. Außerhalb der Flügelspitze wird ein Aufwind indu- ziert (beim Segelboot: Ablenkung der Luftströmung nach Lee). Der indu- zierte Abwind kommt noch zu jenem hinzu, der auf Grund der Zirkula- tionsströmung hinter dem Tragflügel auch bei zweidimensionaler Umströmung besteht. Durch diese Windablenkungen wird die Strömung mehrere Bootslängen vor und hinter einem segelnden Boot beeinflusst. Insbesondere erreicht der Abwind nicht an der Hinterkante des Flügels, sondern einige Profilsehnenlängen dahinter seinen größten Wert.
Abb. 5.6 Orientierung des Flügelrandwirbels (= Mastspitzenwirbel) bei einem Segelboot (nach R. Garrett, 1996).
5.1 Randwirbel und induzierter Widerstand 93 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:48 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.7 v0 ungestörte Anströmung, veff gezogen: zweidimensionales Tragflügel- durch induzierten Abwind w veränderte An- profil, gestrichelt: dreidimensionaler Flü- strömung. Reduktion durch induzierten Ab- gel. Di induzierter Widerstand (modifiziert wind des Anstellwinkels a um den Winkel ai nach C. A. Marchaj, 1991). zum effektiven Anstellwinkel aeff. Durch-
Die durch den induzierten Abwind erzeugte Geschwindigkeitskom- ponente w hat die Wirkung, den effektiven Anstellwinkel der Tragfläche zu verringern, wie aus der Abb. 5.6 ersichtlich ist. In Abb. 5.7 ist diese Verkippung noch einmal im Detail dargestellt. Durch die Reduktion des a a a Anstellwinkels um i zum effektiven Anstellwinkel eff verringert sich der Auftrieb, der ja in weiten Bereichen dem Anstellwinkel proportional ist, entsprechend2). Möchte man wieder den gleichen Auftrieb erreichen, muss a die Tragfläche um i nachgedreht werden (das Segelboot muss um einige Grad abfallen oder das Segel muss entsprechend dichter genommen werden), sodass wieder der ursprüngliche Anstellwinkel und damit der ursprüngliche Auftriebswert erreicht wird. Der Auftrieb wird aber jetzt in der neuen, verkippten Richtung wirksam (Abb. 5.7), was als zusätzliche
Widerstandskomponente, der induzierte Widerstand Di, gedeutet werden kann. Durch die Änderung der Anströmungsrichtung befindet sich der Tragflügel in einem effektiven Steigflug, für den Leistung aufgebracht werden muss. Der induzierte Widerstand lässt sich auch ganz direkt so interpretieren, dass pro Meter zurückgelegten Weges 1 m Wirbelschleppe produziert werden muss. Deren Energieinhalt (Rotationsenergie) ist dann
a 2) Der induzierte Anstellwinkel i und da- konstant, sondern nur im weiter unten a mit auch eff sind freilich im allgemei- besprochenen Spezialfall der ellipti- nen Fall über die Spannweite nicht schen Auftriebsverteilung.
94 5 Der dreidimensionale Tragflügel Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:49 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
die pro Längeneinheit aufzubringende Arbeit, also eine Kraft, nämlich der induzierte Widerstand. Es ist an dieser Stelle angebracht, ein paar grundsätzliche Überlegungen zum Thema Impulsübertrag, Kraft, Arbeit und kinetische Energie anzu- stellen. Wenn von einer Strömung auf einen umströmten Körper eine Kraft ausgeübt werden soll, dann müssen die vorbeiströmenden Flüssigkeits- teilchen Impuls auf diesen Körper übertragen. Ebenso wie Impuls durch eine Kraftwirkung über einen gewissen Zeitraum entsteht, so entspricht die Impulsübermittlung pro Zeiteinheit einer Kraft. (Vergleiche dazu die Ableitung des Drucks im Rahmen der kinetischen Gastheorie aus der Impulsübertragung vieler einzelner Gasmoleküle, die pro Zeiteinheit auf 1 m² einer Wand auftreffen.) Also muss der Vektor der Strömungs- geschwindigkeit hinter einer Tragfläche eine andere Richtung haben, wenn diese einen Auftrieb erfahren soll (das gilt bereits für die „zweidi- mensionale“ Tragfläche). Solange die Tragfläche ruht, wird aber keine Arbeit an ihr geleistet, und die Flüssigkeit verliert, abgesehen von der Dissipation infolge innerer Reibung, keine kinetische Energie. Der Vektor der Strömungsgeschwindigkeit ist vor der Tragfläche und dahinter gleich lang. Wenn sich die Tragfläche in der Richtung des Auftriebs nach oben bewegt, dann wird Arbeit geleistet, indem etwa das Gewicht des Flugzeugs im Schwerefeld gehoben wird oder ein Segelschiff gegen den Wasserwider- stand des Rumpfes auf seinem Kurs fortbewegt wird. In diesem Fall hat sich der Betrag der Strömungsgeschwindigkeit hinter dem Flügel verrin- gert. Der Verlust an kinetischer Energie der Strömung ist dann genau gleich der Arbeit, die an der Tragfläche geleistet wird. Dieser Zusammen- hang ist an einem einfachen Rechenbeispiel in Anhang A7 erläutert. Durch diese Überlegung scheint es so zu sein, dass die alten „Stoßtheorien“ der
Abb. 5.8 Winglet an der Spitze eines Flügels einer Windkraftanlage zur Verminderung der Endumströmung (FuSystems Windkraft GmbH).
5.1 Randwirbel und induzierter Widerstand 95 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:50 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.9 Der Flügelkielder der 12 m-R- Yacht „Australia II“ (S. Crepaz, 1986 nach F. Chevalier ).
Windkraftentstehung doch einen gewissen Wahrheitsgehalt haben. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass die Richtung und der Betrag der Ablenkung durch das gesamte, komplexe Strömungsverhalten am Trag- flügel bestimmt werden und nicht durch einen simplen Stoßprozess an einer Fläche, die unter einem bestimmten Anstellwinkel in die Strömung gestellt wird. Im Sinne der Impulsbilanz ist das Segel eine „Black Box“, die eine bestimmte Gesamtwirkung erzeugt, die in relativ großem Abstand festgestellt wird. Das Segel wirkt wie eine effektive, virtuelle Umlenkungs- fläche, deren Lage man aber zunächst nicht kennt. Sie wird erst durch die komplette Lösung des strömungsmechanischen Problems der Tragflächen- umströmung festgelegt. Insbesondere ist ihre Lage im Allgemeinen nicht identisch mit der Position des Segels. Der induzierte Widerstand ist unvermeidlich, wenn mit einem dreidi- mensionalen Tragflügel Auftrieb erzeugt werden soll. Die Frage ist nur, wie man ihn möglichst klein halten kann. Eine Möglichkeit ist es, die Umströ- mung der Tragflächenenden durch Endplatten (winglets) zu vermindern. F. W. Lanchester hat schon 1897 ein Patent für diese Methode angemeldet. Bei Flugzeugen findet sie inzwischen weit verbreitete Anwendung, ebenso bei den Flügeln der Rotoren von Windkraftanlagen (Abb. 5.8), bei Kielen von Segelyachten erst in neuerer Zeit, da aber mit teilweise großem Erfolg. Australien gelang es 1983 mit einer so ausgerüsteten 12 m-R-Yacht, die 132-jährige Folge amerikanischer Siege im America’s Cup zu durchbre- chen (Abb. 5.9).
5.2 Elliptische Auftriebsverteilung
Für die Mastspitze von Yachten sind Endplatten nicht praktikabel. Man kann sich aber die Frage stellen, ob es eine bestimmte Auftriebsverteilung in Spannweitenrichtung gibt, welche den induzierten Widerstand bei gege- benem Gesamtauftrieb minimal werden lässt. Dies ist dann der Fall, wenn überall entlang der Spannweite der gleiche Abwind erzeugt wird. Wenn
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nämlich vielen Teilchen ein bestimmter Gesamtimpuls vermittelt werden soll, dann geschieht dies mit dem geringsten Aufwand an kinetischer Energie, wenn alle die gleiche Geschwindigkeit erhalten3). Dieser Grund- satz hat bei allen Antriebssystemen Bedeutung, bei denen der Vortrieb durch Impulsübertrag an ein bestimmtes Medium erfolgt, z. B. Propeller. Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Eine Galeere wird dann am effektivsten gerudert, wenn alle die Riemen gleich schnell bewegen. Welche Auftriebsverteilung erfüllt nun diese Bedingung? Der Abwind an jeder Stelle hinter dem Flügel ergibt sich als Überlagerung der Geschwindig- keitsfelder aller einzelnen Wirbelfäden, die als Wirbelschleppe abgehen und wegen der Erhaltung der Wirbelstärke gerade so groß sein müssen wie die Abnahme der Zirkulation in Spannweitenrichtung (Abb. 5.4). Jeder einzelne (nur halb-unendlich lange) Wirbelfaden liefert bei Wirbelstärke O im Abstand r vom Wirbelkern einen Beitrag von
O w ¼ : ðGleichung 5:1Þ 4p r
Wenn b die gesamte Flügelspannweite ist und Z =2y / b die normierte Koordinate in Spannweitenrichtung, dann setzt sich der gesamte Abwind an der Stelle Z aus den infinitesimalen Beiträgen der Wirbelfäden zusam- men, die links und rechts von ihr abgehen, und insgesamt haben wir 2 3 Z1 0 dGðZ Þ 1 0 wðZÞ¼K CH4 dZ54) ðGleichung 5:2Þ dZ0 Z Z0 1
mit einer Konstante K. Die Forderung nach konstantem Abwind heißt mathematisch, dass w(Z) vom Ort Z unabhängig ist. Man kann zeigen
3) Dieser Satz lässt sich leicht beweisen: Bei gegebenem Gesamtimpuls P ¼ Mv Die kinetische EnergieP einer Teilchen- ist die kinetischeP Energie dann am ge- ¼ 2 ðÞ 2 ¼ menge beträgt 2Ekin P mivi . Be- ringsten, wenn mi vi v 0, d. h. zeichnen wir mit v ¼ mivi=M die wenn alle Teilchen die gleiche Ge- Schwerpunktgeschwindigkeit und mit schwindigkeit haben. M die Gesamtmasse, dann gilt X X X 2 2 2 2 2 2Ekin ¼ miðÞv þðvi vÞ ¼ Mv þ 2v mivi 2Mv þ miðÞvi v ¼Mv X 2 þ miðÞvi v :
4) CH steht hier für den Cauchy’schen Hauptwert, da das Integral wegen der Unste- tigkeitsstelle bei Z = Z′ ein uneigentliches Integral ist. Siehe dazu auch Anhang A8.
5.2 Elliptische Auftriebsverteilung 97 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:51 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.10 Elliptische Auftriebsverteilung bewirkt konstanten Abwind (nach C. A. Mar- chaj, 1991).
(Anhang A8), dass diese Bedingung erfüllt ist, wenn die Auftriebsverteilung folgende Form hat: pffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi GðZÞ/ ðÞ1 Z2 , ðGleichung 5:3Þ
was als Kurve aufgetragen der Form einer (Halb-)Ellipse entspricht. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Auftriebsverteilung ellip- tisch sein muss (engl. elliptic loading) und nicht notwendigerweise die Flügelform. Beide Forderungen sind insbesondere dann nicht identisch, wenn der Flügel Verwindung aufweist und/oder sich die Anströmung über die Spannweite ändert, beides realistische Bedingungen bei einem Segel (siehe weiter unten). Da bei elliptischer Auftriebsverteilung die geringste Energie in den Abwind gesteckt werden muss, ist in diesem Fall auch der induzierte Widerstand am geringsten. Dem wird bei modernen Segelfor- men entsprechend Rechnung getragen (Abb. 5.11). Der induzierte Widerstand beträgt für elliptische Auftriebsverteilung, ausgedrückt in Beiwerten (Anhang A8)
2 ¼ CL ð : Þ CDi p L , Gleichung 5 4
wobei
b2 L ¼ ðGleichung 5:5Þ A
das Seitenverhältnis (engl. aspect ratio) des Flügels ist und A seine Grund- fläche. Das Ergebnis stellt eine wichtige Erkenntnis dar: Bei vorgegebenem
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Abb. 5.11 Ellipsenähnliche Abrundung eines Großsegels (20 m²-Rennjolle, Foto: Hen- rike Kiewert).
Auftrieb ist der induzierte Widerstand umso geringer, je größer das Seiten- verhältnis des Tragflügels ist. Ein kaum überraschendes Resultat, denn je lang gestreckter der Flügel ist, umso geringeren relativen Einfluss haben die Flügelenden, und das Umströmen der Flügelenden ist ja die eigentliche Ursache für den induzierten Widerstand. Die Abhängigkeit nach Gl. (5.4) wird mit großer Konsequenz bei Hochleistungs-Segelflugzeugen befolgt, deren Flügel ein sehr hohes Seitenverhältnis aufweisen. Bei einem Segel- schiff sind der Flügellänge aber Grenzen gesetzt, da die Windkraft nicht in zu großer Höhe angreifen darf, weil dann Stabilitätsprobleme auftreten. Extremformen mit hohem Seitenverhältnis sind bei modernen Rennyach- ten allerdings immer häufiger bei der Kielflosse zu beobachten. Die Formel (5.4) für den induzierten Widerstand gilt, wie gesagt, für einen Flügel mit idealer (elliptischer) Auftriebsverteilung. Für Flügel mit einer Auftriebs- verteilung, die von der elliptischen abweicht (zugespitzte, verwundene etc., siehe Abschnitte 5.4, 5.5), ist statt L in Gl. (5.4) ein kleineres Seitenver- L hältnis eff einzusetzen. Soweit die idealisierten Aussagen aus der Flugzeug-Aerodynamik. Bei einem Segelschiff treten aber noch einige Komplikationen hinzu.
5.2 Elliptische Auftriebsverteilung 99 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:52 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
5.3 Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche
Das Segel hat nicht nur ein oberes Ende (Topp), sondern auch ein unteres Ende (Unterliek am Großbaum). Auch hier können sich Randwirbel bilden, es sei denn, Groß- und Vorsegel sitzen praktisch auf dem Deck auf, wie bei einigen Rennbooten. Ist das der Fall, dann kann man einen Trick anwen- den, der aus der Elektrostatik und anderen Bereichen der Physik bekannt ist: Man ergänzt die Besegelung um ihr Spiegelbild in Bezug auf die Wasseroberfläche. Das Strömungsverhalten ist dann gleich wie bei einem Doppelflügel. Gibt es aber einen Spalt, dann müssen die dort entstehenden Randwirbel berücksichtigt werden. Ist er sehr breit, dann verhält sich das Segel wie ein einzelner Flügel, der unabhängig von der Wasseroberfläche bewegt wird. In Abb. 5.12 ist dargestellt, wie sich das Verhältnis von induziertem Widerstand eines Großsegels zum induzierten Widerstand eines Einzel- flügels verhält, wenn der Abstand h des Großbaums von der Wasserober- fläche variiert wird. Die Ergänzung eines Tragflügels durch sein an der Trennfläche gespie- geltes Bild erweist sich jedoch problematisch für den Unterwasserteil, also für das aus Rumpf und Kielflosse gebildete Ensemble. Grund ist hier die Beeinflussung der Trennfläche selbst durch die Wirbelbildung, wie sie schematisch in Abb. 5.13 dargestellt ist: Nicht die idealisierte Vorstellung a) mit einer Spiegelung an der Wasseroberfläche ist anzuwenden, sondern das Szenario b). Die induzierten Wirbel beeinflussen die Trennfläche selbst, indem sie Wellen erzeugen. Insgesamt resultiert ein höherer induzierter Widerstand, als aus einem idealisierten Tragflügel mit der Länge des doppelten Tiefgangs folgen würde. In Abb. 5.14 ist die gleiche Situation in Querschnitt dargestellt.
Abb. 5.12 Induzierter Widerstand, normiert in Abhängigkeit vom Abstand h des Groß- auf jenen eines frei stehenden Einzelflügels
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Abb. 5.13 Induzierte Wirbel im Unterwas- serbereich. a) unzutreffende Spiegelungs- vorstellung, b) realistisches Szenario mit Wellenbildung an der Wasseroberfläche (adaptiert nach R. Garrett, 1996).
Man sieht, wie durch die (nicht vollständige) Umströmung des Flossen- profils an der Wasseroberfläche diese angehoben bzw. abgesenkt wird. Die Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche führt dazu, dass die Wirksamkeit des Kielprofils für die Seitenkraft in der Nähe der Wasser- oberfläche abgeschwächt wird, ein Effekt, der umso stärker ausgeprägt ist, je höher die Bootsgeschwindigkeit wird. Dies ist ein Argument für einen tief reichenden Kiel mit hohem Seitenverhältnis, und auch ein Argument für ein gewisses Ausmaß an Pfeilung der Kielflosse (siehe Abschnitt 5.6).
Abb. 5.14 Querschnitt: induzierter Wider- oberfläche liegende Ende des Kielprofils stand durch Wellenbildung an der Wasser- zu umströmen. Die Oberfläche wird in Lee oberfläche. a) nicht zutreffende Vorstellung angehoben, in Luv abgesenkt (nach Mor- einer starren Trennfläche, b) Die Strömung chaj, 1991). versucht ansatzweise, das an der Wasser-
5.3 Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche 101 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:55 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
5.4 Verwindung (Twist)
Die Verwindung (Abb. 5.15) ist bei einem Tuchsegel nicht zur Gänze vermeidbar und hat, wenn sie zu groß ist, einen nachteiligen Effekt. Es entsteht ein zusätzlicher induzierter Widerstand. Hingegen ist aber zu berücksichtigen, dass der Scheinbare Wind sich mit der Höhe in Richtung und Stärke ändert (vertikaler Windgradient). Grund dafür ist die Reibung an der Wasseroberfläche, die den Wahren Wind in niedrigen Schichten abschwächt. Der Verlauf der Stärke des Wahren Windes mit der Höhe über dem Wasser ist von mehreren Faktoren abhängig. Einer davon ist die Aufrauung der Wasseroberfläche durch Wellen. Wichtig ist aber auch, ob die Luftschichten stabil oder labil in Bezug auf Konvektion sind (Bénard-Instabilität), was wiederum von der Temperatur des Wassers und der Luft abhängig ist. Bei labiler Schichtung ist der vertikale Luftaustausch stärker, und der Wahre Wind behält seine Geschwindigkeit bis in tiefere Schichten, ähnlich einer turbulenten Grenzschicht (vgl. Kapitel 3). In Abb. 5.16 ist der Geschwindigkeitsverlauf des Wahren Windes bei verschiedenen Schichtungen in Abhängigkeit von der Höhe dargestellt. Da der Fahrtwind von der Höhe unabhängig ist, fällt der Scheinbare Wind, der für die Segelstellung maßgeblich ist, in der Nähe der Wasser-
Abb. 5.15 Verwindung (Twist) von Tuchsegeln Foto: W. Einfalt.
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Abb. 5.16 Höhe, bezogen auf die Mast- keit an der Mastspitze für stabile, labile spitze (hier: 15 m) gegen Windgeschwin- und neutrale Luftschichtung (nach R. Gar- digkeit in Bruchteilen der Windgeschwindig- rett, 1996).
oberfläche spitzer ein als weiter oben. Bei einer 12 m-R-Yacht am Wind beträgt diese Winkeländerung als Richtwert etwa 3–4° über die gesamte Masthöhe. Eine gewisse Verwindung ist daher von Vorteil, um das Segel dieser veränderten Windrichtung anzupassen. Diese Verwindung kann sehr schön bei rahgetakelten Großseglern beobachtet werden, bei denen die unteren Rahen stets härter gebrasst werden (das bedeutet, dass die
Abb. 5.17 Verwindung einer Gesamtbesegelung: absichtliche Verdrehung der Rahen mit der Höhe am Schulschiff „Eagle“ der US-Küstenwache (Foto: US Coast Guard).
5.4 Verwindung (Twist) 103 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:40:59 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Rahen mehr in Längsrichtung des Schiffes stehen und entspricht einem größeren Anstellwinkel) als die oberen (Abb. 5.17, zum Teil hat das allerdings auch damit zu tun, dass untere Rahsegel bauchiger geschnitten sind als obere). Verwindung kann auch im Zusammenhang mit einer zugespitzten Segelform Vorteile bringen (siehe Abschnitt 5.5).
5.5 Flügelform
Bei Segelschiffen, besonders bei solchen mit mehreren Masten, können die verschiedensten Segelformen Anwendung finden. Ebenso gibt es bei den Formen der Kielflosse bzw. des Schwertes eine beträchtliche Varia- tionsbreite. In Abb. 5.18 ist schematisch für drei Haupttypen von Doppel- flügeln die Verteilung von Auftrieb und induziertem Anstellwinkel ai über die Spannweite dargestellt. Der effektive Anstellwinkel ergibt sich zu aeff ¼ a ai (Abb. 5.7). Ist bei vorgegebenem (nominellem) Anstellwinkel a an einer Stelle des Flügels ai klein – das ist dann der Fall, wenn sich die Zirkulation in Spannweitenrichtung nur wenig ändert – dann ist aeff relativ groß. Bei Vergrößerung des Anstellwinkels a ist daher dort zuerst mit Strömungsablösung zu rechnen. Beim rechteckigen Flügelgrundriss ist das in der Mitte des Doppelflügels, beim zugespitzten an den Enden. Man ist aus Stabilitätsgründen daran interessiert, die Windkraft nicht in zu großer Höhe angreifen zu lassen. Daher sind Yachtsegel oft nach oben hin zugespitzt. In der Abb. 5.19 ist schematisch dargestellt, wo sich die Strömung bei einem zugespitzten bzw. bei einem rechteckigen Flügel bei
Abb. 5.18 Verteilung von Auftrieb und indu- Anstellwinkel, d) effektiver Anstellwinkel ziertem Anstellwinkel für verschiedene Flü- aeff = a – ai (adaptiert nach C. A. Marchaj, gelformen: a) Flügelform, b) Auftriebsver- 1991). teilung, c) daraus resultierender induzierter
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Abb. 5.19 Ablösungsverhalten (schema- fierten Gebieten ist die Strömung bei ei- tisch) bei einem zugespitzten (oben) und nem kritischen Anstellwinkel abgelöst. rechteckigen Flügel (unten). In den schraf-
Überschreitung eines kritischen Anstellwinkels abzulösen beginnt. Beim a zugespitzten Segel ist eff an der Spitze (Topp) am größten, daher beginnt a sich die Strömung zuerst dort abzulösen. Beim rechteckigen Flügel ist eff in der Flügelmitte am größten, und dort löst sich die Strömung zuerst ab. Das ist bei einem Flugzeug der direkt am Rumpf anschließende Teil des Flügels und bei einem tief gesetzten Segel im untersten Teil in der Nähe des Decks. Die vorzeitige Strömungsablösung am Topp eines zugespitzten Segels kann dadurch verhindert werden, dass man in oberen Abschnitten des Segels etwas mehr Wölbungstiefe und Verwindung vorsieht. Da die Strömungsablösung in einem Bereich des Tragflügels insgesamt eine erhebliche Auftriebsverminderung zur Folge hat, sind zugespitzte Segelformen unter diesem Aspekt und unter dem des induzierten Wider- standes äußerst ungünstig. Schon eine geringfügige Abrundung des Topps verbessert die Eigenschaften erheblich (vgl. Abb. 5.11). Peitschenmasten (weisen eine Krümmung im oberen Abschnitt auf), kurze Gaffeln oder ausstellen des Segeltopps mit Kopfbrett und Spreizlatten sind dazu geeig- nete Maßnahmen.
5.6 Pfeilung
Die Pfeilung (engl. sweep) eines Tragflügels hat erheblichen Einfluss auf die aerodynamischen Eigenschaften. Sie wird definiert als die Neigung der
5.6 Pfeilung 105 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:41:01 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Viertel-Punkt-Linie (engl. quarter chord line), welche die Punkte verbindet, die ¼ der Sehnenlänge von der Flügel-Vorderkante entfernt liegen. Die Bedeu- tung dieser Linie besteht darin, dass mit sehr guter Näherung der Schwer- punkt der Auftriebskräfte auf ihr liegt, sogar in einem weiten Anstell- winkel-Bereich. Ist die Viertel-Punkt-Linie gegenüber der Anströmung zurückgeneigt, also die Flügelenden nach hinten versetzt, so spricht man von einer Rückwärtspfeilung beziehungsweise einem positiven Pfeilwinkel f. Rückwärtspfeilung führt dazu, dass auf der Saugseite des Flügels eine Querströmung zur Tragflächenspitze hin entsteht. Der Mechanismus ist in Abb. 5.20 erläutert. Der Druckverlauf an der Tragflügel-Oberseite bildet einen Trog, der schräg zur Anströmung verläuft. Indem die Strömung versucht, dem Druckminimum zu folgen, wird sie in Richtung Flügelspitze hin abgelenkt. Dadurch wird Fluid aus der Grenzschicht dorthin trans- portiert, verdickt die Grenzschicht am Flügelende und erhöht dadurch die Bereitschaft der Strömung, sich abzulösen. Man kann sagen, dass die Wirkung einer Rückwärtspfeilung (positiven Pfeilung) darin besteht, die Eigenschaften des Flügels den Eigenschaften eines zugespitzten Flügels ähnlicher zu machen. Umgekehrt kompensiert eine Vorwärtspfeilung (negative Pfeilung) die Eigenschaften eines zugespitzten Flügels und macht ihn einem Flügel mit elliptischer Auftriebsverteilung ähnlicher. Vorwärtspfeilung kann den ma- ximal möglichen Anstellwinkel erhöhen. Daher wird sie bei Flugzeugen angewandt, die besonders wendig sein sollen. Rückwärtspfeilung hingegen
Abb. 5.20 Positiv gepfeilter Flügel: Ablenkung der Strömung Richtung Flügelspitze.
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hat in der Flugtechnik den Vorteil, das Widerstandsverhalten im oberen Unterschallbereich und Überschallbereich zu verbessern (was natürlich für das Segeln ohne Belang ist). Es stellt sich heraus, dass für Tragflügel mit größerem Seitenverhältnis (schlanke Flügel) die Verluste durch induzierte Wirbel mit größerer Vor- wärts- oder Rückwärtspfeilung stark ansteigen5) (ein Minimum wird für leichte Rückwärtspfeilung erreicht). Lange, schmale Kiele sollten also nur wenig gepfeilt sein. Eine gewisse Pfeilung von etwa 30° erweist sich für Kiele mit niedrigem Seitenverhältnis als vorteilhaft. Durch die zur Flügel- spitze hin gerichtete Querströmung wird nämlich der Schwerpunkt der Seitenkraft gegen die Kielspitze (nach unten) verlegt, und die störende Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche (siehe Abschnitt 5.3, Abb. 5.13 und 5.14) wird dadurch weniger bedeutend. Dieser Vorteil wird haupt- sächlich bei größeren Bootsgeschwindigkeiten wirksam. Bei niedrigen Geschwindigkeiten überwiegt der erhöhte induzierte Widerstand, der sich aufgrund der Pfeilung ergibt. Wie viele Eigenschaften von Segelyachten, so ist auch die Kielform stets Ergebnis eines Kompromisses.
5.7 Auftriebsverhalten von Tragflügeln mit niedrigem Seitenverhältnis
Wir hatten bisher die Entstehung des Auftriebs und des induzierten Widerstandes im Rahmen der klassischen Traglinientheorie (Prandtl, Lan- chester) erörtert. Sie geht von der Annahme aus, dass eine gleichförmige Anströmung normal zu einer tragenden Linie besteht, die mit gebundenen Wirbeln (Zirkulation) versehen ist. Die Flügelrand-Umströmung wird da- bei als Störung behandelt. Diese Theorie funktioniert gut für Flügel mit großem Seitenverhältnis und gleichmäßiger Strömung bei nicht zu großen Anstellwinkeln. Sie versagt bei
• gepfeilten Flügeln (infolge der Querströmung), • teilweise abgelöster Strömung, • Tragflächen mit kleinem Seitenverhältnis (starker Einfluss der Randwir- bel), • über die Spannweite stark variierenden Anströmungsbedingungen.
5) Darüber hinaus wird auch der Auftrieb komponente normal auf den Tragflügel, verringert, weil für das Entstehen der genauer auf die ¼-Punkt-Linie, wirksam Zirkulation nur die Geschwindigkeits- wird.
5.7 Auftriebsverhalten von Tragflügeln mit niedrigem Seitenverhältnis 107 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:41:04 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.21 Wenig wirksame Teile des Late- ralplans (grau).
Um diese Fälle behandeln zu können, wurden im Lauf der Zeit verschie- dene aufwändige Theorien entwickelt wie erweiterte Traglinientheorie, Trag- flächentheorie, Theorie schlanker Körper etc. Eine ausführliche Erörterung sprengt den Rahmen unserer Betrachtung. Diese Theorien sind diskutiert in Incompressible Aerodynamics (Thwaites, 1960). In der Theorie schlanker Körper wird die Wechselwirkung des Boots- rumpfes mit der Kielflosse berücksichtigt. Bezeichnet man den Tiefgang
des Rumpfes ohne Kielflosse (engl. canoe body) mit TR, den Tiefgang des gesamten Bootes mit Kielflosse mit T, dann ergibt sich unter gewissen Annahmen für den Auftrieb die interessante Beziehung T L ¼ C R rpv 2 T 2b ðGleichung 5:6Þ T S
mit einer vom Verhältnis TR/T (schwach) abhängigen Konstante C, der b Anströmungsgeschwindigkeit vS und dem Anstellwinkel (aus Konsistenz-
Abb. 5.22 Historische Entwicklung der La- (1895), d) Volvo Ocean Race – Teilnehmer teralpläne. a) Kutter des 17. Jahrhunderts, „UBS Switzerland“ (1985) (nach b) Schoner „America“ (1851), c) „Defender“ S. Crepaz, 1986).
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Abb. 5.23 Polardiagramme der aerodyna- wert. Die bei den Messkurven angeführten mischen Eigenschaften von Segeln ver- Parameter sind die Anstellwinkel. Alle schiedener Form und verschiedener Seiten- Segel haben die gleiche Wölbungstiefe verhältnisse L. x-Achse: t/c = 1/13,5 (nach Eiffel, 1913). Widerstandsbeiwert, y-Achse: Auftriebsbei-
gründen). Das Verblüffende ist, dass die Seitenkraft in erster Näherung nicht von der Fläche des Kiels, sondern nur vom Quadrat des Tiefgangs abhängt. Diese Abhängigkeit trifft mit der Feststellung zusammen, dass die Seitenkraft hauptsächlich im vorderen Teil des Kiels erzeugt wird, und weiter hinten liegende Teile ohne große Beeinträchtigung weggelassen werden können (Abb. 5.21). Der Vorteil dabei ist ein verminderter Rei- bungswiderstand. Diese Erkenntnis führte bereits im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zur sukzessiven Beschneidung der Lateralpläne (Abb. 5.22). Man erkauft sich aber dadurch geringere Stabilität gegenüber Gier- momenten, also ein etwas „nervöseres“ Verhalten am Ruder. Eine bemerkenswerte Eigenschaft, die von der klassischen Traglini- entheorie nicht vorhergesagt wird, sind die großen Maximal-Auftriebsbei- werte von Flügelprofilen mit sehr kleinem Seitenverhältnis. Dazu betrach-
5.7 Auftriebsverhalten von Tragflügeln mit niedrigem Seitenverhältnis 109 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:41:08 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
Abb. 5.24 Gennaker, Wikimedia Commons, Autor VollwertBIT.
ten wir eine Sammlung von Polardiagrammen der Auftriebs- und Wider- standsbeiwerte von Segeln verschiedener Form und Seitenverhältnisse, die in mehreren Büchern über Segeltheorie zu finden ist und im Wesentlichen auf Messungen von Eiffel zu Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeht (Abb. 5.23). Ein hochgetakeltes Segel mit hohem Seitenverhältnis weist dabei den kleinsten aerodynamischen Gleitwinkel auf (maximales L/D-Verhältnis, entsprechend einer vom Ursprung aus an die Polarkurve gelegten Tangen- te) und verfügt damit über besonders gute Kreuzeigenschaften. Das Gaffel- segel mit Seitenverhältnis L = 1 entwickelt demgegenüber eine viel größere maximale Gesamtkraft, ja selbst das traditionelle Rahsegel mit L = 1/3 schneidet unter diesem Gesichtspunkt gut ab. Für elliptische ebene Platten gleicher Fläche bekommt man bei Kreisform den größten Auftriebsbeiwert (an den Fliegenden Untertassen scheint also doch etwas dran zu sein!). Der Grund für die hohen Gesamtkraftbeiwerte von Flügeln mit sehr kleinem Seitenverhältnis ist hauptsächlich darin zu sehen, dass das starke Über- greifen der Randwirbel die Strömungsablösung zu höheren Anstellwinkeln hin verzögert. Entscheidend für geringe Wirbelverluste und verzögerte Strömungsablösung sind in jedem Fall möglichst abgerundete Ecken. Für die Segelpraxis bedeuten diese Erkenntnisse, dass eine Yacht hart am Wind eine Besegelung mit großem Seitenverhältnis (unter Beachtung der Stabilität) und auf raum-achterlichen Kursen Segel mit geringerem Seiten- verhältnis und stärkerer Wölbung haben sollte. Dem wird üblicherweise durch das Setzen von besonderen Raum- und Vorwindsegeln wie Reacher, Gennaker (Abb. 5.24), Spinnaker (Abb. 5.25) Rechnung getragen.
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Abb. 5.25 Spinnaker, Foto: E. Bräuer.
Zentrale Aussagen
Induzierter Widerstand
• Jeder reale Tragflügel hat ein Ende. Um dieses Ende herum strömt das Fluid von der Überdruckseite (Luv) zur Unterdruck- seite (Lee) → Zopfwirbel. • Tragflügel-Randwirbel (Zopfwirbel) bildet zusammen mit der gebundenen Zirkulation um die Tragfläche und mit dem Anfahr- wirbel einen geschlossenen Wirbelring (Helmholtz!). • In dem Ausmaß wie die Zirkulation entlang der Tragfläche abnimmt, gehen nach hinten Zopfwirbel ab. Diese bilden eine Wirbelschleppe (Wirbelfläche), die sich hinter der Tragfläche zu großen Wirbeln aufrollt. • Wirbelschleppe bewirkt hinter der Tragfläche induzierten Ab- wind. Führt zu einer Verringerung des Anstellwinkels aeff ¼ a ai. • Wird der Anstellwinkel nachgeführt, entsteht der Auftrieb in ungünstigerer Richtung → induzierter Widerstand.
5.7 Auftriebsverhalten von Tragflügeln mit niedrigem Seitenverhältnis 111 Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c05.3d from 13.04.2012 15:41:12 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
• Elliptische Auftriebsverteilung gibt konstanten Abwind über die Spannweite und minimalen induzierten Widerstand. • Bei elliptischer Auftriebsverteilung hängt induzierter Widerstand L ¼ p 2=L vom Seitenverhältnis des Flügels ab: CDi CL .
Impulsübertrag, Kraft, Leistung
• Das Segel kann durch eine virtuelle Umlenkungsfläche ersetzt gedacht werden. Die Reflexion der Luft an dieser Fläche erzeugt über den Impulsübertrag die Windkraft. • Bewegt sich das Boot unter dem Einfluss dieser Kraft, dann entspricht die erbrachte Leistung genau dem Verlust an kineti- scher Strömungsenergie pro Zeiteinheit.
Randbedingungen, Einfluss der Flügelform
• Wechselwirkung der Luftströmung mit der Wasseroberfläche: Se- gel kann um sein Spiegelbild ergänzt gedacht werden. Verschwin- det der Spalt unter dem Segel, dann bildet sich nur im Masttopp ein Randwirbel (wirkt wie die Hälfte eines Doppelflügels). • Wechselwirkung der Wasserströmung (um die Kielflosse) mit der Wasseroberfläche ist qualitativ anders, da durch Druckunter- schiede an der Wasseroberfläche Wellen erzeugt werden. Daher Ergänzung zu einem Doppelflügel nicht möglich. • Verwindung des Flügels (Twist) erzeugt zusätzlichen induzierten Widerstand. Gewisse Verwindung aber erwünscht, um Richtungs- änderung des Scheinbaren Windes mit der Höhe zu kompensieren. • Tragflügelform: elliptischer Flügel: kritischer Anstellwinkel für Strömungsablösung wird überall gleichzeitig erreicht, zugespitz- ter Flügel: an der Flügelspitze zuerst, rechteckiger Flügel: an der Flügelwurzel zuerst. • Pfeilung: Positive Pfeilung (Rückwärtspfeilung) führt zu Quer- strömung und Strömungsablösung an der Flügelspitze, negative Pfeilung macht das Verhalten eines zugespitzten Flügels dem eines elliptischen ähnlicher (gleichmäßige Ablösung). Geringe positive Pfeilung kann bei breiten Kielen Vorteile bringen. • Kielflosse zusammen mit Bootsrumpf: Auf den Tiefgang kommt es an, nicht auf die Profilsehnenlänge → Beschneidung der Lateralpläne. • Tragflächen mit geringem Seitenverhältnis vertragen größere An- stellwinkel bis sich die Strömung ablöst, liefern daher höhere Gesamtkraft (bei höherem Widerstand) → Vorwindsegel (Spinna- ker etc.).
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6 Der Bootskörper: Wellenerzeugung und Widerstandskomponenten, Skalierung
Das Segelschiff zeichnet sich vor anderen in Luft- und Wasserströmungen bewegten Körpern (Vögel, Flugzeuge, Fische, Unterseeboote) besonders durch die Tatsache aus, dass es sich an der Grenze zwischen zwei Medien bewegt. Die Erscheinungen an der Grenzfläche (Oberflächenwellen) und die Wechselwirkungen mit ihnen sind wichtige Randbedingungen für die Fortbewegung von Schiffen. Daher wollen wir uns zunächst mit den Eigenschaften von Schwerewellen auseinander setzen.1)
6.1 Wasserwellen (Schwerewellen)
Die an einer Wasseroberfläche laufenden, vom Schwerefeld der Erde getriebenen Wellen stellen ein besonderes Phänomen an der Grenzfläche zweier Medien dar. Durch Beobachtung stellen wir folgenden Sachverhalt fest: Ein Flüssigkeitsteilchen an der Wasseroberfläche, etwa markiert durch einen schwimmenden Korken, vollführt, wenn eine Oberflächenwelle unter ihm durchläuft, eine elliptische Bahn2). Er bewegt sich dabei auf dem Wellenberg in Richtung der Wellenausbreitung, im Wellental gegen die Ausbreitungsrichtung. Neben der Inkompressibilität des Wassers3) wollen wir bei der Behand- lung von Schwerewellen näherungsweise verschwindende innere Reibung
1) Die Oberflächenspannung stellt eben- geschwindigkeit als die Schwerewellen falls eine mögliche Kraftquelle dar, die und sind daher für unsere Betrachtun- Wellen antreiben kann. Diese Wellen gen ohne Bedeutung. Sie spielen jedoch haben jedoch nur bei Wellenlängen un- eine Rolle bei der Erzeugung von Wel- ter etwa 2 cm eine höhere Phasen- len durch den Wind. 2) Dieser ist in der Regel eine kleine Driftbewegung überlagert, die wir jedoch vernachlässigen. 3) Die Kompressibilität von Wasser beträgt Wassertiefe von 1000 m zu einer Volu- etwa 5·10−10 m2N−1. Durch den hydro- menverkleinerung von 0,5 %. statischen Druck kommt es also in einer
Physik des Segelns: Wie Segeln wirklich funktioniert, 1. Auflage. Wolfgang Püschl. 113 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reemers Publishing Services GmbH O:/Wiley/Pueschl_Physik/3d/c06.3d from 13.04.2012 15:42:09 3B2 9.1.580; Page size: 138.00mm x 214.00mm
annehmen. (In einer realen Flüssigkeit führt die innere Reibung zu einer Dämpfung der Welle.) Die ungedämpfte Welle laufe entlang der x-Rich- tung, etwa in einem Kanal der Tiefe h mit Wänden parallel zur x-Achse, sodass eine Abhängigkeit von der y-Koordinate nicht auftritt. Die z-Koor- dinate betrage z = 0 an der Wasseroberfläche und z = –h am Boden des Gewässers. Eine solche Geometrie wird für die experimentelle Unter- suchung von Welleneigenschaften angewendet. Die Kreisfrequenz der fortlaufenden Welle sei o = 2pf mit der Frequenz f und ihr Wellenvektor k =2p / l mit der Wellenlänge l. Wegen der Inkompressibilität muss Wasser vom Wellental in den Wellenberg und zurück befördert werden. Die Wasserteilchen können daher nicht ortsfest bleiben. Aufgrund des beobachteten Verhaltens ist es vernünftig anzunehmen, dass sie Verschie- bungen in x- und z-Richtung mit der Kreisfrequenz und Phase der durch- laufenden Welle erleiden, und dass diese Verschiebungen mit zunehmen- der Wassertiefe immer kleiner werden. Außerdem ist plausibel, dass die c horizontale Verschiebung x dann am stärksten ist, wenn gerade der c Wechsel von Wellental zu Wellenberg erfolgt, also z = 0. Wir machen daher folgenden Ansatz:
c ð Þ¼ ð Þ ðo Þ x x,z,t Ax z sin t kx ð : Þ c ð Þ¼ ð Þ ðo Þ Gleichung 6 1 z x,z,t Az z cos t kx
Wir können uns leicht davon überzeugen, dass dies einer elliptischen Bewegung entspricht. Die Amplituden in x- und z-Richtung sind im Allgemeinen verschieden und von der Wassertiefe z abhängig. In einem ersten Schritt wollen wir diese Abhängigkeit bestimmen.
6.2 Tiefenabhängigkeit der Wellenamplituden
Durch Differenzieren nach der Zeit erhalten wir aus Gleichung (6.1) nun die Geschwindigkeiten
vx ¼ oAxðzÞ cosðot kxÞ ðGleichung 6:2Þ vz ¼ oAzðzÞ sinðot kxÞ
Streng genommen sind das die Geschwindigkeiten am Ort der verschobe- nen Position des Flüssigkeitsteilchens. Wir vernachlässigen diesen Unter-
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schied, indem wir uns auf Wellen kleiner Amplitude beschränken.4) Nun wenden wir die Bedingungen v div =vx,x +vz,z = 0 (inkompressibel, siehe Gl. (3.7))(Gleichung 6.3)
rot v → rot v – 5) =0 ( )y =vx,z vz,x =0(reibungsfrei und daher wirbelfrei) (Gleichung 6.4)
auf Gleichung (6.2) an, was auf die Gleichungen