1

Musikstadt

Folge 1

Der erste Gipfel: Heinrich Schütz in Dresden

Autor: MARKUS SCHWERING Redaktion/Produktion: DIETER GLAVE

Ausgestrahlt in „Klassik und mehr“ / DW-Radio am 3. April 2005

Heinrich Schütz, 1585 geboren und 1672 gestorben, war der größte deutsche Komponist des 17. Jahrhunderts.

Musik Heinrich Schütz (1585-1672) Psalmen Davids „Singet dem Herrn ein neues Lied“ SWV 35, Beginn (bis ca. 2´20) Dresdner Kreuzchor L: LC 06203 (BC 0094492, CD 1, Take 1

„Singet dem Herrn ein neues Lied“ – diese Motette, deren An- fang wir hier hören, gehört zu jener umfangreichen Vertonung der Psalmen Davids, mit der Heinrich Schütz sozusagen seinen Einstand in Dresden feierte. Als sie dort 1619 mit der Widmung an den Dienstherrn Johann Georg I. im Druck erschien, war der damals 34-jährige gerade einmal zwei Jahre kurfürstlich- sächsischer Kapellmeister. Und just in diesem Jahr wurde seine anfangs provisorische Stellung in eine Dauerposition umgewan- delt. „Singet dem Herrn ein neues Lied“ – die Devise konnte durchaus auch im übertragenen Sinne gelten, denn es waren in der Tat neuartige Klänge, die die Gottesdienstbesucher da in der Dresdner Schlosskirche, wo die Vertonung mit Sicherheit bereits vor der Drucklegung erklang, zu hören bekamen. Schütz hatte einen Teil seiner Lehrzeit in Italien verbracht – genauer: in Ve- nedig, wo er in die Schule Giovanni Gabrielis gegangen war, des berühmten Markusdom-Kapellmeisters. Der hatte, die räumli- chen Verhältnisse der Kirche ausnutzend, eine ausgefeilte Praxis des Musizierens mit mehreren Chören entwickelt – und genau die brachte Schütz nach Dresden mit. Auch er verteilte seine Musi 2 ker in der Kirche – unten im Schiff wie auf den Emporen –, so dass wundersame quadrophone Effekte entstanden. Kontrapunk- tisches Gegeneinander, machtvolle akkordische Ballungen, E- chowirkungen – und das alles im Dienst einer minutiösen Aus- deutung des biblischen Textes. Fürwahr, hier gab es viel zu be- staunen. Hören wir einen zeitgenössischen Bericht, aus dem üb- rigens auch die reiche Besetzung der Hofkapelle hervorgeht – Schütz konnte regelrecht aus dem Vollen schöpfen:

Zitat: „Obgesetzte Musik ist von des Kurfürsten zu Sachsen, unseres gnädigsten Herrn bestellten Musicis als nämlich: von 11 Instru- mentalisten, 11 Cantoribus, 3 Organisten, 4 Lautenisten, 1 The- orbisten, 3 Organistenknaben, 5 Discantisten mit Abwechslung allerlei Sorten von herrlichen Instrumenten mit zweien Orgel- werken, 2 Regalen, 3 Clavicymbeln, nebst 18 Trompetern und zwei Heerpauken feierlich gehalten und ausgeführt worden unter der Leitung von Heinrich Schütz.“

Nun beginnt die Musikgeschichte Dresdens keineswegs mit Schütz. Kunst- und musikliebende Landesfürsten aus dem Ge- schlecht der Wettiner hatten bereits 1464 eine Hofkapelle ins Le- ben gerufen und sie dann 1548 neugegründet. Und sie holten auch Musiker mit klangvollen Namen in die Stadt an der Elbe, in der mit dem Umbau der mittelalterlichen Burg zum prachtvollen Residenzschloss die Renaissance ihr Haupt erhob. Johann Wal- ter, Michael Praetorius, Hans Leo Hassler, Antonio Scandello waren einige von ihnen. Aber auch dies ist richtig: Heinrich Schütz war nicht nur der bis dato bedeutendste Musiker, der am Dresdner Hof wirkte und den größten Teil seines ohnehin langen beruflichen Lebens verbrachte – er wurde schließlich 87 Jahre alt; sondern er war überhaupt der größte deutsche Komponist des 17. Jahrhunderts. Im ersten Dresdner Jahrzehnt entfaltete Schütz, der damals auch heiratete und sich bürgerlich etablierte, neben den zahlreichen Auftritten mit seiner Kapelle eine staunenswerte Produktivität. Sie galt nahezu allen damals gebräuchlichen Genres und Gattun- gen. Hören Sie einen Ausschnitt aus der Auferstehungshistorie von 1623. Schütz vertont den Text überaus anschaulich und prägnant. Wenn in den Dialogpartien die jeweiligen Sprecher zweistimmig singen, so mutet das merkwürdig an, entspricht freilich der Tradition der Historienkomposition, die Schütz hier aufgriff. 3

Musik Heinrich Schütz Auferstehungshistorie SWV 50 „Und als sie das saget“ (Ausschnitt) , Hans-Jürgen Wachsmuth, Egbert Junghanns (Ges.) Capella Fidicinia L: Martin Flämig LC 06203 (BC 0094492, CD 2, Take 8)

Heinrich Schütz wurde rasch zum kulturellen Aushängeschild des Dresdner Hofes, das man auch gern herzeigte. Hier eine Schilderung der Schriftstellerin Ricarda Huch über den Besuch des habsburgischen Kaisers Matthias in Dresden 1617. Der Text mutet romanhaft an, ist es wohl auch. Aber im Kern könnte sich die Szene durchaus so abgespielt haben.

Zitat: „Während der Kurfürst und sein Hof sich bei Tische nicht son- derlich um die Kapelle bekümmerten, horchten die Gäste zuwei- len erstaunt und freudig auf. Fürst Eggenberg stand sogar mehrmals auf, brachte dem Kapellmeister ein Glas voll Wein, stieß mit ihm an und beglückwünschte ihn wegen der Kunst, mit der er die Kapelle leitete. Als der Kurfürst dies bemerkte, er- zählte er lachend, dieser Kapellmeister, namens Heinrich Schütz, habe einen besonderen Wert für ihn, weil er ihn dem Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel abgejagt habe. Dieser habe den Schütz als einen talentvollen Knaben entdeckt, ihn im Gesang unterrichten lassen und später an seinen Hof gezogen. Als er ge- hört habe, was für ein großes Wesen der Landgraf aus dem Schütz machte, habe er ihn sich einmal schicken lassen und ihn dann ganz für sich behalten wollen, was der Landgraf Moritz sehr ungern vernommen habe. Er bekomme zuletzt immer, was er wolle, sagte der Kurfürst behaglich, und zwar ohne sich zu rüh- ren.“

Wie gesagt: Im Kern ist dieser fiktive kurfürstliche Bericht zu- treffend: Tatsächlich hat es zwischen dem hessischen Landgrafen – dem Entdecker und Förderer von Schütz, der diesem auch sei- nen Italienaufenthalt finanzierte – und dem sächsischen Kurfürs- ten ein mehrjähriges Gezerre um den Musiker gegeben. Der mächtigere Sachse entschied es schließlich für sich. Und noch etwas anderes lässt sich dem Zitat entnehmen: Während Schütz der Nachwelt nahezu ausschließlich als erzfrommer Komponist protestantischer Kirchenmusik geläufig ist, erscheint er hier als 4 jemand, der zur Tafel aufspielen lässt. Tatsächlich beschränkten sich seine Dresdner Aufgaben durchaus nicht auf die geistliche Musik. Er hatte zahlreiche Huldigungs- und Glückwunschmusi- ken, Ballette, Lieder, Tafelmusik zu schreiben. Wenn hoher Be- such – wie besagter Kaiser Matthias – nahte, war Schütz stets eine sichere Bank. Und der Landesherr nahm ihn und seine Ka- pelle auch mit, wenn er auf Reisen ging. Leider ist das aller- meiste aus dieser vielfältigen weltlichen Produktion verlorenge- gangen – die Einseitigkeit des geläufigen Schützbildes hängt so- mit zu einem Gutteil mit der einseitigen Quellenlage zusammen. So gerät auch leicht ins Hintertreffen, dass Schütz mit seiner Dafne die mutmaßlich erste deutsche Oper komponiert hat. 1627 ist sie anlässlich der Heirat der ältesten kurfürstlichen Tochter aufgeführt worden. Leider ist nur das gedruckte Textbuch erhal- ten geblieben. Nun also aufs neue ein „geistlicher Schütz“: Hören Sie aus dem 1639 veröffentlichten zweiten Teil der Kleinen geistlichen Kon- zerte das Stück „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes“:

Musik: Heinrich Schütz Kleine geistliche Konzerte, Teil 2 „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes“ SWV 330 (Beginn) Dresdner Kreuzchor Rudolf Mauersberger LC 06203 (BC 0094492, CD 5, Take 1)

Kleine geistliche Konzerte: Der Titel kommt nicht von ungefähr. „Klein“ sind diese vokalen Sätze in der Geringstimmigkeit ihrer Besetzung und der Sparsamkeit des instrumentalen Schmucks. Der Grund für diese äußere Reduktion ist sehr handfester Art: Die Furie des 30-jährigen Krieges hat längst auch Sachsen heim- gesucht und das Kulturleben dort nahezu zum Erliegen gebracht. Sparmaßnahmen führen die Hofkapelle an den Rand ihrer Exis- tenzfähigkeit. Die Besoldung bleibt aus, teilweise sieht man die Musiker in den Straßen Dresdens betteln. Wieder und wieder schreibt Schütz Bittgesuche an seinen Dienstherrn. Bereits 1625 gibt es Grund zu eindringlicher Klage:

Zitat: „Euer kurfürstlichen Durchlauchtigkeit geben wir hiermit un- tertänigst höchst dringender Notdurft nach supplicando zu er- kennen, welchergestalt wir eine geraume Zeit hero und nunmehr künftig in das siebende Quartal nicht ausgezahlet werden. Und 5 ob wir zwar anitzo der untertänigsten Hoffnung und Zuversicht gelebet, Euer kurfürstliche Durchlaucht würden sich über uns und derer unsrigen Weib und armen kleinen Kinderlein, mit wel- chen wir mehrenteils große Not leiden müssen, gnädigst erbar- men. So ist doch solches über Zuversicht abermals verblieben. Derowegen wir ferner nicht wissen, wie wir uns mit denen Uns- rigen, welche essen wollen und sollen, erhalten werden.“

Schütz zieht aus der Misere für sich selbst die Konsequenzen und kehrt Dresden immer wieder für längere Zeit den Rücken. Er reist mehrfach an den Hof in Kopenhagen, wo er ein fruchtbares musikalisches Betätigungsfeld findet, sodann nach Hannover, Braunschweig und Wolfenbüttel, auch noch einmal nach Vene- dig. Als der 30-jährige Krieg 1648 an seiner eigenen Erschöp- fung eingeht, ist Schütz 63 Jahre alt und nach damaligen Maßstä- ben ein Greis. Mehrfach bittet er Kurfürst Johann Georg um sei- ne Pensionierung. Der lehnt aber ab, Schütz soll die Reorganisa- tion der Kapelle bewerkstelligen. Erst sein Nachfolger Johann Georg II. gewährt weitgehenden Ruhestand. Nur noch gelegent- lich wird der inzwischen zum „Oberkapellmeister“ Ernannte zu Hofdiensten herangezogen. Schütz siedelt nach Weißenfels zu seiner Schwester Justina über – die meisten anderen aus seiner Familie einschließlich der beiden Töchter sind schon vor ihm ge- storben. In Weißenfels entsteht das umfangreiche Spätwerk – darunter für die Dresdner Hofgottesdienste die Weihnachtshistorie und die drei Passionen nach Lukas, Johannes und Matthäus. Diese Musik offenbart keinerlei Altersermüdung, die Harmonik etwa zeigt Schütz auf der Höhe der Zeit. Hier erklingt ein besonders fes- selnd-dramatischer Ausschnitt aus der Johannes-Passion.

Musik: Heinrich Schütz Johannes-Passion SWV 481 „Da nahm Pilatus Jesum und geißelte ihn“ (Ausschnitt) Peter Schreier, (Ges.) Dresdner Kreuzchor Martin Flämig LC 06203 (BC 0094492, CD 10, Take 8) ab 0´39, bis 11, 0´42

Obwohl seine Schaffenskraft also alles andere als erlahmt war, kam Schütz doch in Dresden allmählich außer Mode. Der Kur- fürst war ein Freund der neuen konzertanten Musik aus Italien, italienische Musiker dominierten die Hofkapelle. Schütz zählte 6 man zum alten Eisen – ausgerechnet ihn, der seine entscheiden- den Anregungen dereinst in Italien empfangen hatte. So etwas verbittert. Aber der hochbetagte Meister setzte noch einmal sei- nen ganzen Ehrgeiz an die Vollendung eines großen Werkes, ei- ner Reihe von Psalmmotetten, die als Schwanengesang in die Musikgeschichte eingegangen sind. Als er sie 1671 vollendete und die Stimmbücher dem Kurfürsten überreichte – schließlich sollte auch sein letztes Werk in der Dresdner Hofkirche erklingen – war er 86 Jahre alt und hatte noch ein Jahr zu leben. Das hört man der Komposition nicht an. Sie ist eine kraftvoll- selbstbewusste Summa, die sich in einer Klangfülle präsentiert, die alles andere als asketisch erscheint. Hören Sie zum Schluss der Sendung einen Ausschnitt aus der zwölften Motette, der Vertonung des 100. Psalms. „Jauchzet dem Herrn alle Welt“ – mit diesen Worten beginnt der Text. Was man in Dresden seiner- zeit nicht wahrhaben wollte, zeigt sich hier erneut: Schütz war bis zuletzt bemerkenswert modern. Wer denkt bei den jubelnden Koloraturen nicht bereits an seinen großen Erben und Nachfolger – und weiteren Höhepunkt der sächsischen Musikgeschichte: an ?

Musik: Heinrich Schütz Der Schwanengesang Psalm 100: „Jauchzet dem Herrn, alle Welt!“ (SWV 493) (Mittelteil) The Hilliard Ensemble, Knabenchor Hannover, London Baroque L: Heinz Hennig (Veritas 7243 5 61306 2, CD 2, Take 5) Mitte (2´13 bis 6´10) LC 7873