SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Eine possierlich-musikalische Zoologie (1)

Mit Jan Ritterstaedt

Sendung: 5. Februar 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler

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SWR2 Musikstunde Jan Ritterstaedt 05. Februar – 09. Februar 2018 Eine possierlich-musikalische Zoologie (1)

Dazu begrüßt sie ganz herzlich Jan Ritterstaedt. In dieser Woche lassen wir es in der Musikstunde einmal ordentlich zwitschern, tirilieren, gurren, blöken, bellen, miauen, quaken, summen, und vieles mehr.

"Expeditionen ins Tierreich" - erinnern sie sich noch an diese Sendung mit dem bekannten Tierfilmer Heinz Sielmann? Ich weiß noch genau, dass ich sie damals als Kind immer sehr gerne abends um 20 Uhr 15 in der ARD verfolgt habe. Dann durfte ich auch mal etwas länger aufbleiben. Ausdrücke wie "dieses possierliche Tierchen" haben bei mir und sicher auch bei vielen von ihnen inzwischen so etwas wie Kultstatus. "Expeditionen ins Tierreich" - die Sendung gibt es heute noch regelmäßig im Fernsehprogramm des NDR zu erleben - allerdings längst ohne ihren Erfinder Heinz Sielmann. Der verstarb nämlich am 6. Oktober 2006 im Alter von 89 Jahren in München. Von ihm habe ich mir das Motto für diese Musikstunde ausgeliehen: wir machen ein paar musikalische Ausflüge in die Welt der Tiere. Und zuerst schwingen wir uns mal in die Lüfte hinauf zu den Vögeln. Oder auf niederländisch: De Vogels.

Musik 1 10'01'' Alphons Diepenbrock: Ouvertüre "De Vogels" Royal Concertgebouw Orchestra Leitung: Riccardo Chailly Etcetera KTC 1435, LC 14750

Klingt ein bisschen nach Richard Strauss, ist aber Musik des niederländischen Komponisten Alphons Diepenbrock: das war die Ouvertüre "De Vogels" zum Schauspiel "Die Vögel" des Aristóphanes. Es musizierte das Concertgebouw Orchestra unter Riccardo Chailly.

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"Die Vögel" oder auf griechisch "Ornithes", diesen Titel trägt die wahrscheinliche beste Komödie des antiken Dichters Aristóphanes. Ein utopischer Vogelstaat wird darin der expansiven und verdorbenen Gesellschaft des Athenischen Stadtstaates gegenübergestellt. Diepenbrock schrieb diese Ouvertüre nebst dazu gehörender Schauspielmusik im Kriegsjahr 1917 für die Schüler des Amsterdamer Stedelijk Gymnasium. Ein dortiger Lateinlehrer hatte die Komödie ins Niederländische übersetzt und wollte das Stück so mit seinen Schülern aufführen. Und dazu bestellte er diese Musik beim damals vor allem in Laienkreisen sehr beliebten und bekannten Komponisten Alphons Diepenbrock. Gehalten hat sich davon bis heute allenfalls noch die eben gehörte Ouvertüre mit ihren zahlreichen Anklängen an diverse Vogelstimmen im Mittelteil.

Eine dieser Stimmen gehörte sicher auch dem Vogel, dem wir uns als erstes in der heutigen Musikstunde widmen wollen: es ist natürlich die Nachtigall. Warum natürlich? Sicher gibt es keinen Vogel, dessen komplexer Gesang so stark die Kunst- und auch die Popularmusik beeinflusst hat. Und das schon seit hunderten von Jahren! Barocke Kostprobe gefällig? Bitteschön:

Musik 2 4'05'' Johann Ludwig Krebs: Nachahmung einer Nachtigall Felix Friedrich an der Hildebrandt-Orgel der Kirche St. Wenzel in Naumburg Querstand VKJK 0203, LC 03722

Schon erstaunlich: ein Krebs imitiert den Gesang einer Nachtigall. Dieses kleine Stückchen trägt den Titel "Eine Nachahmung der Nachtigall" auf der Orgel. Komponiert hat es wahrscheinlich der Bachschüler Johann Ludwig Krebs und gespielt wurde es von Felix Friedrich auf der Hildebrandt-Orgel der Kirche St. Wenzel in Naumburg.

Den Nachtigallengesang dieses Stückes haben wir übrigens dem Oberwerk dieses Instruments und dem dortigen 2-Fuß-Octav-Register zu verdanken.

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Und während der Organist für solche Klänge ein riesiges, Kirchenraum-füllendes Instrument benötigt, reicht den Nachtigallen selbst eine winzige Lunge und ein entsprechender Kehlkopf völlig aus. Außerdem singen sie meistens dann, wenn in der Kirche gähnende Leere und Dunkelheit herrscht. Denn Nachtigallen sind - wie es der Name ja schon andeutet - Nachtvögel. Ihren Gesang zu charakterisieren ist gar nicht so einfach. Es gibt zwischen 120 und 260 verschiedene Strophenformen mit einer Länge von jeweils zwei bis vier Sekunden. Ein durchaus beachtliches Repertoire! Dazu kommen dann noch diverse regionale Dialekte, denn die Vögel passen ihren Gesang auch den akustischen Eindrücken aus ihrer Umgebung an. Und so kann das dann klingen:

Geräusch Nachtigallengesang

Anders als in der Menschenwelt singen bei den Nachtigallen nur die Männchen. Das macht ja auch Sinn, denn der Gesang ist ja eigentlich auch nicht für unsere Ohren, sondern für die des Weibchens bestimmt. Das möchte Herr Nachtigall schließlich mit seinem virtuosen Gesang anlocken. Ist es nicht bei uns Menschen manchmal ganz ähnlich? Einen geradezu becircenden Nachtigallengesang hat beispielsweise der französische Komponist François Couperin erfunden bzw. den Vögeln abgelauscht. Welche Madame er konkret damit beeindrucken wollte, ist allerdings nicht überliefert.

Musik 3 3'13'' François Couperin: Le Rossignol en amour Dorothee Oberlinger, Blockflöte Ensemble 1700 DHM 88697735092, LC 00761

Bis hierher war ja vor allem von dem wunderschönen Gesang der Nachtigall die Rede, der selbst unsere menschlichen Ohren schon seit Jahrtausenden beglückt und die Fantasie von Musikern und Dichtern so stark inspiriert hat. Was ist aber, wenn so eine Nachtigall einmal krank wird, sich z.B. so stark erkältet, dass sie nicht mehr richtig singen kann? Diese Frage lässt sich natürlich nur schwer beantworten,

4 denn welcher Ornithologe konnte schon eine solche Erkrankung bei einem Singvogel nachweisen und das Ganze dann auch noch akustisch dokumentieren? Vermutlich keiner. Die Fantasie ist also gefragt, wenn man sich den Gesang dieses edlen Vogels mit einer verschnupften Nase einmal anhören möchte.

Der argentinisch-deutsche Komponist Maurizio Kagel hat sich auf dieses Experiment eingelassen. Allerdings im Rahmen einer völlig unornithologischen Arbeit. Für seinen Zyklus mit dem wohlklingenden Namen "Rrrrrrr..." (ein großes R, sechs kleine "r" und drei Punkte) hat er sich zunächst in einem französischsprachigen Musiklexikon Begriffe herausgesucht, die mit dem Buchstaben "R" beginnen. Dann hat er sie in Töne verwandelt und in den Jahren 1980-81 daraus eine Radiokomposition für den WDR geschrieben - durchaus mit humoristischem Einschlag. Beim Begriff "Rossignols" - also Nachtigallen - kam ihm dann der Gedanke an eine Nachtigall, die nicht mehr so schön singen kann, wie man das sonst von ihr gewohnt ist. Das Stück "Rossignols enrhumés" - erkältete Nachtigallen - entstand und ich bin mir sicher: diese armen Vögel werden mit ihrem Lied nicht so leicht eine Partnerin finden. Wir hören diesen Satz aus der "Rrrrrrr..."- Suite von Maurizio Kagel in einer Klavierfassung mit dem Pianisten Alexandre Tharaud.

Musik 4 4'39'' : Rossignols enrhumés aus: Rrrrrrr... Alexandre Tharaud, Klavier Aeon AECD 0311, LC 19608

"Rossignols enrhumés" - erkältete Nachtigallen, einer von fünf Sätze aus der Suite "Rrrrrrr..." von Maurizio Kagel, gespielt von Alexandre Tharaud in der SWR2 Musikstunde.

"Expeditionen ins Tierreich" stehen in dieser Woche an - heute erkunden wir schon einmal musikalisch den Luftraum mit allen seinen zwitschernden und tirilierenden Bewohnern - und allem was damit zu tun hat. Kennen sie beispielsweise diesen Vogel hier: Johann Christoph Vogel. Das war ein deutscher Komponist, der im

5 gleichen Jahr wie Mozart in Nürnberg geboren wurde. Bei der Thurn und Taxisschen Hofkapelle in Regensburg begann er seine Karriere als Hornist. Ihn zog es dann bald nach Paris, wo er Mitglied der Hofkapelle des Herzogs von Montmorency wurde. Dort fing er auch schon bald an zu komponieren: zunächst Holzbläserquartette und Solokonzerte, später dann zwei große Opern und insgesamt drei Sinfonien im Stil der Wiener Klassik. Vor allem mit denen muss er sich einen exzellenten Ruf in der Pariser Musikszene er-komponiert haben, denn findige Verleger nutzten fortan seinen guten Namen, um unter ihm auch Werke anderer, weniger guter Komponisten zu veröffentlichen.

Ich habe jetzt natürlich ein TÜV-geprüftes Originalwerk von Johann Christoph Vogel für sie ausgesucht: wir hören den Kopfsatz "Allegro moderato" aus dessen zweiter Sinfonie Es-Dur. Erstmals wurde sie gemeinsam mit den beiden anderen Werken dieser Gattung von Reinhard Goebel und der Bayerischen Kammerphilharmonie im Jahr 2008 auf CD eingespielt. Viel Vergnügen!

Musik 5 6'43'' Johann Christoph Vogel: Allegro moderato (1) aus: Sinfonie Nr. 2 Es-Dur Bayerische Kammerphilharmonie Leitung: Reinhard Goebel Oehms OC 735, LC 12424

Nun aber zurück zu den "echten" Vögeln: ein ganz besonderer dieser Art war sicherlich der französische Komponist und anerkannte Vogel-Experte . Bis zu 700 verschiedene Rufe der Tiere soll er erkannt haben können und viele davon haben natürlich auch in seiner Musik ihre Spuren hinterlassen. In seiner in den 1950-er Jahren entstandenen Komposition "Catalogue d'oiseaux" - Vogelkatalog - hat er dann versucht, einige spezielle Vogelrufe in Musik auf dem Klavier zu verwandeln.

Messiaen hat sich dabei aber nicht damit begnügt, einen Vogelruf immer zu wiederholen oder zu variieren. Ihm ging es vielmehr um ein Portrait der Landschaft, innerhalb der der Vogelruf ertönt. Diese Rufe sind also für den Komponisten immer

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Bestandteil ihrer natürlichen akustischen Umgebung und damit der Schöpfung. Das geht auch aus den Begleittexten hervor, die Messiaen den einzelnen porträtierten Vogelarten seines "Catalogue" mit auf den Weg gegeben hat. Über die Heidelerche heißt es da etwa:

Berg Grand Bois bei Saint-Saveur-en-Rue. Rechts des Weges Kieferngehölz, links Weiden. Aus den Höhen des Himmels, in der Finsternis, leiert die Lerche ihr "Zwei und zwei" herunter: chromatische und fließende lallende Läufe. Eine im Gebüsch der Waldlichtung verborgene Nachtigall antwortet. Gegensatz zwischen den durchdringenden Tremoli der Nachtigall und jener geheimnisvollen Stimme des Himmels, sichtbar nähert und entfernt sich die Lerche. Die Bäume und Felder sind schwarz und still. Es ist Mitternacht.

Musik 6 8'05'' Olivier Messiaen: L'Alouette Lulu (Die Heidelerche) aus: Catalogue d'oiseaux Anatol Ugorski, Klavier DGG 439 214-2, LC 00173

Die Heidelerche - ihr Name ist eigentlich selbsterklärend. Es handelt sich dabei um einen Vogel aus der Familie der Lerchen, der vor allem an sonnigen Offenflächen anzutreffen ist, also z.B. in einer Heidelandschaft am Rand eines Waldes. Sie ist auch in Mitteleuropa anzutreffen, so etwa in der Gegend um Lyon in Frankreich, wo Messiaen gerne unterwegs war. Die Heidelerche ist relativ klein, versteht es aber als Singvogel durchaus durchdringende, rhythmische Laute von sich zu geben. Das tun sie meist aus dem Flug heraus, um damit entsprechende Weibchen anzulocken.

Welche Unterart der Lerchen der russische Komponist Michail Glinka im Ohr hatte, als er sein Lied "Die Lerche" vertont hat, hätte Messiaen wahrscheinlich sofort herausbekommen. Ich kann es ihnen leider nicht sagen. Die Musik aber scheint auf jeden Fall einen bestimmten Vogel und seinen Gesang zu imitieren. Natürlich passiert das im oberen Register des Flügels in der rechten Hand. Und noch deutlicher kommt das Tirilieren heraus, wenn man den Text von Njestor Kukolnik

7 einfach weg- und nur das Klavier alleine sprechen lässt. In dieser Transkription von Mili Balákirew ist Glinkas Lied dann auch erst richtig bekannt geworden. So hat es das Stück auch auf das "Russische Album" der Pianistin Olga Scheps geschafft.

Musik 7 6'27'' Michail Glinka/Mili Balakirew: Die Lerche Olga Scheps, Klavier Sony classical 88697780682, LC 06868

In der morgigen Musikstunde verweilen wir dann noch ein wenig in den Lüften und nehmen uns u.a. einen besonders charakteristischen, aber auch ein bisschen gemeinen Vogel vor. Bis morgen bedankt sich bei ihnen fürs Zuhören Jan Ritterstaedt.

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