Abruzzen – im Land des südlichsten Gletschers Europas Hilke Steinecke & Peter Schubert

Abstract is a region in the heart of the Apennines. It is mainly characterized by high mountains. Te Abruzzo National Park, Majella National Park and Gran Sasso e Monti della Laga National Park are situated in Abruzzo. Te landscape with the mas- sif of Gran Sasso and the immense pastures of , their plants and animals are described.

Zusammenfassung Die Abruzzen sind eine Region im Herzen der Apenninenhalbinsel mit überwiegend Hochgebirgscharakter. Es gibt dort drei Nationalparks, von denen vor allem der Gran Sasso beschrieben wird. Die Landschaft dort mit der Hochebene Campo Impe- ratore und dem höchsten Berg Corno Grande sowie die Pfanzen- und Tierwelt werden vorgestellt.

1. Abruzzen, eine landschaftliche Perle Europas Die italienische Region Abruzzen (ital. Abruz- zo) befndet sich auf der Adriaseite (also im Os- ten) der Apenninenhalbinsel etwa in Höhe von Rom. Durch die langjährige Verbindung mit dem Königreich Sizilien werden die Abruzzen trotz ihrer relativ nördlichen Lage zu Süditalien gezählt. Landschaftlich haben sie eine große Vielfalt zu bieten, die von den Küsten der Adria mit langen, fachen Sandstränden über das küstennahe Hügelland bis in ein fast 3 000 m aufragendes Hochgebirge reicht. Der größte Flächenanteil der Abruzzen hat Hochgebirgs- charakter. Für Italiener sind die Abruzzen ein beliebtes Urlaubsgebiet: im Sommer zum Ba- den oder Bergwandern und im Winter zum Skifahren. Ausländische Urlauber sind deutlich 2. Nationalparks in den Abruzzen in der Minderheit. Glücklicherweise ist dieses Für den Natur- und Wanderfreund sind die Ab- einzigartige und landschaftlich äußerst attrak- ruzzen mit ihrer atemberaubenden Schönheit tive Gebiet bisher vom Massentourismus weit- und ihrer großen Artenvielfalt ein äußerst loh- gehend verschont geblieben. Außerhalb Italiens nenswertes Ziel. Von Deutschland kommend wird dieses Naturparadies als Urlaubziel nur ist das Gebiet gut von Westen her über Rom wenig beachtet und ist noch fast ein Geheim- oder von Osten über den Badeort Pescara er- tipp. Etwas bekannter geworden sind die Ab- reichbar. Im Gebiet gibt es drei große National- ruzzen vermutlich eher durch das verheerende parks. Der älteste und südlichste ist der Natio- Erdbeben von L ’Aquila im April 2009. nalpark Abruzzen. Der Nationalpark Majella umfasst das Majella-Massiv, dessen höchster Berg Amaro 2 795 m Höhe erreicht. Hier sind Braunbär, Apennin-Wolf und Steinadler an- Abb. 1: Im Nationalpark Majella; die Buchen in den zutrefen. Der Nationalpark Majella genießt unteren Lagen sind bereits grün, darüber in braun die noch kahlen Buchen; auf der dunkelgrünen Fläche einen ganz besonderen Status, denn er wurde wachsen Latschen-Kiefern. als PAN (Protected-Area-Network)-Park zerti-

37 fziert. Durch Kombination von Naturschutz Arten davon sind Endemiten. Einige von ihnen und nachhaltigem Tourismus sollen hier groß- sind in den Abruzzen sehr häufg, kommen fächige europäische „Wildnisgebiete“ dauer- aber nur im zentralen Apennin vor. Andere da- haft geschützt werden. Aktuell wurden bisher gegen sind sehr selten wie das auf die Majella- 13 Gebiete als PAN-Parks ausgewiesen, die Gruppe beschränkte Kleine Alpenglöckchen meisten davon befnden sich in Osteuropa. Im (Soldanella minima subsp. somnitica; exakte sys- Nationalpark Gran Sasso liegt der markante tematische Zuordnung muss noch geklärt wer- Berg Corno Grande. Mit 2912 m Höhe ist er den) oder ein nur zwischen 2 400 und 2 700 m annähernd so hoch wie Deutschlands höchster Höhe wachsendes winziges Adonisröschen Berg, die , und gleichzeitig der höchs- (Adonis distorta). te Berg Italiens zwischen Alpen und Ätna. Um den Rahmen dieses Beitrages nicht zu Aufgrund der großen Höhenunterschiede sprengen, soll nachfolgend genauer nur auf den und des ausgeprägten Landschaftsreliefs gibt es Nationalpark Gran Sasso eingegangen werden. in den Bergen der Abruzzen ähnlich wie in den Alpen eine deutliche Vegetationszonierung und 3. Gran Sasso, der „große Stein“ dementsprechend eine reiche Flora. Hinzu Der Nationalpark Gran Sasso und Monti della kommt, dass sich hier biogeographische Regio- Laga (kurz Gran Sasso, übersetzt „Großer nen wie Alpen, Apenninen und Balkan über- Stein“) hat Hochgebirgscharakter, wurde 1991 lappen. Viele der in den Abruzzen vorkommen- eingerichtet und umfasst eine Fläche von rund den Arten bzw. Unterarten sind Relikte der 1 500 km2. Er ist eines der artenreichsten Ge- Eiszeiten, als in dem kalten Klima das Areal biete Europas überhaupt. Wie auch im Natio- vieler Sippen von den Alpen bis nach Südeuro- nalpark Majella gibt es besonders an den Nord- pa reichte. Nach den Eiszeiten wurden die Po- fanken der Berge beeindruckend ausgedehnte pulationen der Hochgebirgspfanzen in den Buchenwälder, die bis rund 1 800 m Höhe rei- Abruzzen isoliert und es gab keinen genetischen Austausch mehr mit den Populationen der Al- pen. Aufgrund dieser Trennung konnten sich Abb. 2 (links): Adonis distorta. im zentralen Apennin neue Arten bzw. Unter- Abb. 3 (rechts): Majestätisch thront die mittelalterliche arten entwickeln. Für den Nationalpark Majel- Burg Rocca Calascio über dem Tal. la sind gut 2 100 Pfanzenarten bekannt, das Abb. 4 (Seite 39): Blick über die Ebene Campo entspricht etwa der Zahl von Deutschland. 142 Imperatore mit Schmelzwasserfüssen.

38 chen und in denen der Apeninnen-Wolf sein grün; er spielt auch eine wichtige Rolle in der Zuhause hat. Für die Buchenwälder steht mit Versorgung der umliegenden Städte mit Trink- einer durchschnittlichen Jahresniederschlags- wasser. menge von 1 300 mm in den subalpinen Regio- Die drei Bergketten des Parks sind Gran Sas- nen ausreichend Feuchtigkeit für ein üppiges so d’Italia, Laga und die Monti Gemelli. 57 Ge- Wachstum zur Verfügung. In der Buchenwald- meinden liegen im Gebiet, die z. T. mittelalter- zone fühlt sich der mitteleuropäische Botaniker lichen Ursprung haben. Imposant thront über fast wie zu Hause, denn kurz vor dem Laubaus- den Bergen in etwa 1 500 m Höhe die Burgrui- trieb blühen hier Geophyten, die auch in Mit- ne Rocca Calascio, deren Ursprünge auf das 10. teleuropa heimisch sind wie Leberblümchen Jh. zurückgehen (Touring Club Italiano 2003). (Hepatica nobilis), Waldmeister (Galium odora- Die ehemalige Verteidigungsburg zierte 1980 tum), Primel (Primula elatior) und Blaustern auch eine 50-Lire-Briefmarke. Idealer Aus- (Scilla siberica). Daneben gibt es aber auch Ar- gangspunkt für botanische Wanderungen ist ten, die ihren mitteleuropäischen Verwandten der auf 1 250 m Höhe gelegene kleine mittelal- ähneln, entsprechende Lebensräume besiedeln, terliche Bergort Santo Stefano di Sessanio. Bis aber eben nur südlich der Alpen vorkommen. in heutige Zeit sind Stadtmauer und Medici- Dazu gehören die Neunblättrige (Dentaria Palast Zeugnisse der einst strategisch wichtigen enneaphyllos) und die Vielblättrige Zahnwurz Lage und des Reichtums des Ortes. Nach dem (Cardamine kitaibelii) sowie Apenninen-Ane- schweren Erdbeben von L ’Aquila allerdings ist mone (Anemone apennina). Sie sind auch bei ein großer Teil der Häuser baufällig, von einem uns winterhart und attraktive Frühblüher für Stützgerüst umgeben und unbewohnbar. Auch den Garten. Aufgrund des Wasserreichtums ist der Turm des Medici-Palastes, einst Wahrzei- hier nicht nur die Vegetation so üppig und chen des Ortes, wurde durch das Erdbeben zer-

39 stört und im Jahr 2011 nur noch durch ein Ge- herumstreifende Pferde sind hier anzutrefen. rüst in Turmform symbolisch angedeutet. Auf einer Alm kann man frischen Käse erste- Mitglieder der Familie Medici zogen sich in hen. Der Pecorino-Käse vom Campo Imperato- den heißen Sommermonaten in die kühleren re soll der beste ganz Italiens sein; kein Wunder, Berge zurück. Auf den umliegenden ausge- denn die Weidetiere können sich hier von vielen dehnten Trockenrasen ließen sie Schafe halten. verschiedenen aromatischen Wildkräutern er- Ihre Wolle gilt bis heute als besonders hochwer- nähren. Die Schäfer kommen heute meist als tig; in der Renaissance-Zeit konnten mit der Saisonarbeiter aus Albanien. Wolle gute Gewinne erzielt werden. Noch heu- Die beeindruckende Landschaft diente ver- te erstrecken sich weitläufg um den Ort ausge- schiedensten Filmen wie Western und „Im Na- dehnte artenreiche Trockenrasen, die für Bota- men der Rose“ als Kulisse. Die Ebene ist so gut niker äußerst lohnenswert sind. wie unbesiedelt, wenige Camping- und Rast- plätze laden zum Picknick ein. Am Fuße des 4. Campo Imperatore, das „kleine Tibet“ Corno Grande befndet sich das Hotel Campo Weiter aufwärts schließt sich eine beeindru- Imperatore, das Ausgangspunkt für viele Wan- ckende Hochebene (Campo Imperatore) an. Sie derungen einschließlich der Besteigung des ist die zweitgrößte Hochebene Europas nach Corno Grande ist. Seit den 1920er-Jahren ist der Hardangervidda in Norwegen, ist rund die Ebene für Italiener auch ein wichtiges Win- 20 km lang und etwa 8 km breit. Benannt wur- tersportgebiet. Es gibt dort einzelne Lifte und de das Kaiserfeld, was die wörtliche Überset- Skipisten, besonders beliebt ist aber auch das zung bedeutet, nach dem Stauferkaiser Fried- Langlaufen. Der Schnee hält sich bis in das spä- rich II. (1194-1250), der sich häufg im te Frühjahr hinein. Um den 1. Mai sind die nahegelegenen L ’Aquila aufhielt. Mit dem sich Wiesen auf der Ebene gerade schneefrei, wäh- steil darüber wie ein riesiger Kalkklotz erheben- rend die Nordlagen der höheren Berge dann den Corno Grande („Großes Horn“) erinnert meist noch große, dicke Schneefelder aufwei- das grasbewachsene, z. T. verkarstete und baumlose Hochland an Landschaften im Hi- malaya, weshalb Italiener es auch als „Klein- Tibet“ bezeichnen. Das Grasland wird als Wei- Abb. 5 (links): Campo Imperatore mit Corno Grande und deland genutzt; die Hochebene wird intensiv Weidevieh. von Rindern und Schafen beweidet, auch frei Abb. 6 (rechts): Bunte Blumenwiesen am Corno Grande.

40 sen, sodass dort stellenweise immer noch Ski gefahren werden kann. Die Hochebene spielte auch in der Geschich- te des letzten Jahrhunderts eine Rolle, denn im Hotel Campo Imperatore wurde 1943 der ge- stürzte Diktator Mussolini für zwei Monate gefangen gehalten. Hier befndet sich zudem eine Außenstelle des Observatoriums von Rom, das seit 1997 mit einem großen Spiegelteleskop ausgestattet ist. In direkter Nachbarschaft gibt es einen kleinen botanischen Garten (gegrün- det 1952), in dem die wichtigsten Arten der Re- gion kultiviert werden. Der Garten wird von der Universität L ’Aquila betreut und ist einer von acht botanischen Gärten in den Abruzzen (Parco Nazionale della Majella 2005).

5. Wilde Bergwelt Die Hochebene wurde in den Eiszeiten durch Gletscher geformt, wovon auch kleinere Schot- terhügel, ehemalige Moränen, zeugen. Wie in einem Gletschervorfeld durchziehen noch heu- te mäandrierende Schmelzwasserfüsse mit ständig wechselndem Bett die Ebene. Diese wird wannenartig von Bergen umschlossen, de- ren Höhen etwa zwischen 2 000 und 2 500 m liegen. Markante Berge, über denen sich der Corno Grande wie ein gewaltiger Kalkklotz er- hebt, sind Monte Stella (in manchen Karten auch als Monte Siella bezeichnet, 2 027 m), Monte Tremoggia (2 331 m), Monte Canucia (2 564 m), Monte Brancastello (2 385 m), Mon- te Camicia (2 564 m) und Monte Aquila (2 494 m). Auf manche Gipfel führen gut mar- kierte Wanderwege, einige sind nur von Klette- rern erreichbar. Auf dem Campo Imperatore und dem Corno Grande herrscht ein Klima mit viel Wind, reichlich Niederschlägen und viel Schnee im Winter, der sich bei Schneeverwehungen durch- aus mehrere Meter auftürmen kann, was auch die an den Straßenrändern aufgestellten Schnee-

Abb. 7 (links): Helleborus bocconei. Abb. 8 (rechts): Gentiana dinarica.

41 messstäbe erkennen lassen. Die mittlere Jah- Frühlings-Enzians (Gentiana verna) und die resniederschlagsmenge an der Klimastation Alpen-Anemone (Anemone alpina). Etwas spä- Campo Imperatore (2 137 m ü. NN) beträgt ter escheinen hier zudem die Blüten von Genti- 1 143 mm, die Jahresdurchschnittstemperatur ana dinarica, einem Trichter-Enzian, der bei beträgt 3,7 °C und das absolute Minimum uns als eine beliebte und gut blühende Steingar- beträgt –27 °C. Kaum ist aber der Schnee ten-Art kultiviert wird. Er ist auf dem Apennin verschwunden, erscheinen auf den Wiesen un- und dem Balkan in Höhen von 1 500-2 600 m glaublich üppige Blütenteppiche. Eine der heimisch. Bevorzugt gedeiht er oberhalb der aufälligsten Pfanzen ist Viola eugeniae. Das Baumgrenze, an seiner unteren Verbreitungs- 5-15 cm hohe Veilchen wächst dort in Massen grenze ist er gelegentlich aber auch im Unter- und kommt in Höhenlagen zwischen 1 000 wuchs von Buchenwäldern anzutrefen und hat und 2 600 m vor. Seine Blüten können creme- dann nicht so gedrungenen Wuchs wie in den farben, zitronengelb, violett, hellblau oder alpinen Lagen. mehrfarbig gefärbt sein und erinnern an die der bei uns beliebten Hornveilchen. Es ist mit dem in den Alpen heimischen Gespornten Veilchen Abb. 9 (oben): Millionen Krokusse färben nach der (Viola calcarata) eng verwandt und ein Endemit Schneeschmelze die Berge rund um die Hochebene des Zentralapennins. Bei den Einheimischen ist violett. es Tradition, am 1. Mai bei schönem Wetter Abb. 10 (Seite 43 oben): Viola eugeniae in verschiedenen zum Picknick in die Hochebene aufzubrechen Blütenfarben. und sich dort üppige Veilchensträuße zu pfü- Abb. 11 (Seite 43 Mitte): Viola magellensis. cken. Zwischen den Veilchen blühen um diese Abb. 12 (Seite 43 unten): Calderone-Gletscher am Jahreszeit auch schon die ersten Polster des Nordgipfel des Corno Grande.

42 Die botanische Hauptattraktion im Gran Sasso aber ist im Frühling zur Zeit der Schnee- schmelze die Massenblüte der Krokusse (meist Crocus vernus). Abermillionen Blüten färben dann die Berge leuchtend violett. Etwa zeit- gleich mit den Krokussen erscheinen bis auf 1 700 m Höhe auch die grünen Blüten einer auf dem Apennin endemischen Nieswurz (Hellebo- rus bocconei). Ebenfalls zu den ersten Blühern gehört eine Hundszunge (Cynoglossum magel- lense), deren dunkel violettrote Blüten von weiß-flzigen Hochblättern umgeben werden, sodass die jungen, noch gedrungenen Blüten- stände an große Edelweiß-Köpfchen erinnern. Der Artbeiname magellense, den so manche Art der Abruzzen trägt (z. B. Galium magellense, Viola magellensis), bezieht sich auf das Majella- Gebirge (vgl. Tavano 2002). Im Sommer blühen auf den Wiesen der Ebe- ne dort, wo Schafe und Rinder nicht alles abge- fressen haben, mitunter massenweise Orchi- deen wie z. B. die Pyramiden-Orchis (Anacamptis pyramidalis). Aufgrund des Weidedrucks wer- den hier besonders solche Arten gefördert, die aufgrund ihrer stechenden Blätter vom Vieh gemieden werden (z. B. die im Gebiet häufge Distel Carduus chrysacanthus) oder wie der Gel- be Enzian (Gentiana lutea) giftig sind.

6. Alpine Kostbarkeiten in den höchsten Lagen Erst ab Juli sind auch auf dem Corno Grande die letzten Schneefelder geschmolzen, sodass der Gipfel bestiegen werden kann. Bergwande- rer sollten früh aufbrechen, denn gegen Mittag ziehen häufg Wolken auf, die den Berg umhül- len. Ähnlich wie bei der Passatwolke auf den Kanaren trefen die von der nur 30 km entfern- ten Adriaküste aufsteigenden feuchten Luft- massen auf die steilen Berge, sodass es zur Wol- ken-, Nebel- und Niederschlagsbildung kommt. Nach eigenen Beobachtungen schafen es die Wolken aber wohl oft nicht, über die Gipfel he- rüberzusteigen, sodass eine klare Grenze zwi- schen den dem Meer zugewandten Osthängen und den sonnigen, zur Ebene hin orientierten Bergseiten entsteht. Landschaftlich besonders reizvoll ist der zwar nur noch ziemlich kleine,

43 aber immerhin südlichste Gletscher Europas (Calderone-Gletscher) auf der Nordseite unter- halb des Gipfels des Corno Grande. Im Juli und August liegt hier die Hauptblü- tezeit der zahlreichen alpinen Pfanzen. In dem Kalk- und Dolomitgeröll der Gipfellagen gedei- hen vor allem viele Polsterpfanzen, wie es auch für andere Hochgebirge typisch ist. Die ge- drungenen Pfanzen sind im Winter von Schnee bedeckt und dadurch vor Kälte geschützt. Be- sonders aufällig ist das Apenninen-Manns- schild (Androsace villosa). Die jungen, etwa 0,5 cm breiten Blüten überziehen das Polster so dicht, dass keine Blätter mehr zu erkennen sind. Die weißen Blüten tragen um den Blüten- schlund ein gelbes, ringförmiges Saftmal. Mit zunehmendem Alter verfärben sich die Blüten und auch das Saftmal rosarot. Blütenbesuchen- de Insekten lernen, Blüten welcher Farbe den meisten Nektar liefern. Gelb blüht dagegen An- drosace vitalina, ein im zentralen Apennin häu- fger Endemit. Die Blüten sind nie richtig weit geöfnet. Kaum mehr als 5 cm hoch werden die gedrungenen Polster von Myosotis ambigens mit ihren relativ großen, bis 8 mm breiten himmel- blauen Blüten. Die kleinen Blütenkissen erin- nern an den seltenen Himmelsherold (Eritrichum nanum) aus den Hochlagen der Zentralalpen. Typische Schuttstauer, die an schotterigen Hängen mitunter dichte Bestände bilden, sind z. B. Steinkraut (Alyssum cuneifolium), Waid (Isatis allionii) und Gamswurz (Doronicum co- lumnae). Der Alpen-Mohn (Papaver alpinum subsp. ernesti-mayeri) ist ein Eiszeitrelikt. Es gibt Populationen mit gelben bzw. weißen Blüten. Immer wieder wird diskutiert, ob es sich bei den Individuen mit unterschiedlicher Blütenfarbe um eine oder zwei verschiedene Ar-

Abb. 13 (oben): Isatis allionii. Abb. 14 (Mitte): Androsace villosa. Abb. 15 (unten): Androsace vitalina. Abb. 16 (Seite 45 rechts): Leontopodium nivale subsp. nivale. Abb. 17 (Seite 45 links): Papaver alpinum subsp. ernesti-mayeri.

44 ten handelt. Im Schotter und bis auf 2 600 m reichen alpinen Matten überzogen sind. Vor Höhe gedeiht auch das Majella-Veilchen (Viola allem auf dem Adlerberg (Monte Aquila) sind magellensis), ein seltener Endemit, der ein nur diese niedrigen Wiesen extrem buntblühend. sehr kleines Verbreitungsgebiet aufweist (Gran Hier gedeihen üppig Händelwurz (Gymnadenia Sasso, Majella, Monte della Laga, Monte Vetto- conopsea), Großes Kreuzblümchen (Polygala re). Im Gegensatz zu Viola eugeniae sind seine major), Kugelblume (Globularia meridionalis), Blüten stets blau bis violett gefärbt mit einem Alpen-Aster (Aster alpinus var. alpinus) und Bü- zentralen gelben Saftmal. Das untere Kronblatt schelglocke (Edraianthus graminifolius). Wo der ist leicht zweilappig ausgerandet. Boden unter Einfuss von Frostsprengung stark In Gesteinsritzen oder an steilen Felsen sie- verwittert ist und sich Vegetationslücken gebil- deln sich Steinbrech-Arten an. Unverkennbar det haben, siedeln sich Steinbrech (Saxifraga ist der ebenfalls im Zentral-Apennin endemi- exarata subsp. ampullacea) oder Hauswurz sche Saxifraga porophylla. Den fachen Blattro- (Sempervivum riccii) an. Gar nicht selten ist hier setten entspringen nach unten gekrümmte, rot das Weiße oder Schnee-Edelweiß (Leontopodi- überlaufene und drüsige Blütenstände. An um nivale subsp. nivale). Auf dem trefend be- Kalkfelsen bis auf 1 800 m Höhe fndet man zeichneten Monte Stella (ital. Stella alpina = eine Felsen-Glockenblume (Campanula fragi- Edelweiß) wachsen sie auf ebener Fläche und lis). Ihre tassenförmigen Blüten erreichen einen deshalb bequem beobachtbar zu Hunderten, Durchmesser von 3 cm und sind himmelblau wenn nicht sogar zu Tausenden. Je nach Autor bis weißlich gefärbt. Bei uns lässt sich diese at- werden das Weiße und das Alpen-Edelweiß als traktive Glockenblume im Alpinhaus kultivie- zwei verschiedene Arten angesehen oder für ren (vgl. auch Galetti 2008). Unterarten (nivale und alpinum) von L. nivale Gut bekannte Arten aus den Alpen sind hier eingestuft. Die Verbreitung des Weißen Edel- z. B. Silberwurz (Dryas octopetala, ein klassiches weiß reicht östlich bis nach Monte Negro. arktisch-alpines Florenelement und hier ein Auch der Tierfreund kommt in den Bergen Eiszeitrelikt), Gegenblättriger Steinbrech (Saxi- der Abruzzen auf seine Kosten. Die scheuen fraga oppositifolia), Stängelloses Leinkraut (Sile- und nachtaktiven Wölfe, Bären oder Wildkat- ne acaulis) und Zwerg-Weide (Salix retusa). Be- zen wird der Wanderer wohl kaum zu Gesicht sonders bunt blüht es auf den „Randbergen“ der bekommen, viel wahrscheinlicher aber im Ebene, die nur im Gipfelbereich nacktes Geröll schrofen Gelände Pyrenäen-Gämsen (Rupicap- aufweisen, ansonsten von niedrigen, blumen- ra pyrenaica). Ihr Name ist verwirrend, denn

45 diese Gämsen kommen auch in Nordspanien und im Apennin vor, wo es sich um eine eigene Unterart handelt (Abruzzen-Gämse, Rupicapra pyrenaica ornata). Abruzzen-Gämsen sind selten und im Bestand bedroht. Während des zweiten Weltkrieges hatte sich ihre Zahl auf un- ter 100 Tiere verringert. Durch besonderen Schutz konnten sich glücklicherweise die Be- stände erholen, sodass es heute wieder um die 1000 Gämsen in drei unterschiedlichen Popu- lationen gibt. Erstaunlich auch, wie viele Schmetterlinge noch in Höhen über 2000 m anzutrefen sind. Vor allem Kleine Füchse (Aglais urticae) tum- meln sich oft zu mehreren auf den Polstern des Stängellosen Leinkrautes. Hoch hinaus kommt auch der Distelfalter (Vanessa cardui), der als Wanderfalter ja auch über die Alpen von Süd- nach Nordeuropa eingefogen kommt.

Literatur Galetti, G. 2008: Abruzzo in fore. Ambienti e fora montana della regione dei parchi. – Caramanico Terme. Parco Nazionale della Majella (Hrsg.) 2005: La biodiversità vegetale nelle aree protette in Abruzzo: studit ed esperienze a confronto. – Guardiagrele. Tavano, G. (Hrsg.) 2002: Guida all‘ alta via della Majella. Natura e presenza umana in un ambiente estremo. – Pescara. Touring Club Italiano (Hrsg.) 2003: Ferien in den Abruzzen. Natur, Kultur, Gastronomie. – Milano.

Karte Gran Sasso D’Italia. Carta escursionistica, Edizioni il Lupo, 1:25 000.

Abb. 18 (oben): Abruzzen-Gämse. Abb. 19 (Mitte): Wetterscheide. Abb. 20 (unten): Saxifraga porophylla.

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