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114. Ma r c e l l u s Em p i r i c u s (o d e r Burdigalensis )

Marcellus2021 Empiricus oder Burdigalensis – beide auch mit dem in der Suda (s. v. Μάρκελλος) erwähnten Beinamen sind nicht antik2022 – ist der Verfasser einer Re- μάγιστρος Ἀρκαδίου, der Verwaltungsaufgaben im zeptsammlung, für die sich der gleichfalls moderne Titel Osten wahrnahm, identisch sein. Marcellus bekleidete also, de medicamentis eingebürgert hat. Das seinen Söhnen ge- wenn die Identifikation richtig ist, noch unter . widmete Werk gliedert sich in 36 umfangreiche Kapitel, in und zu Beginn der Herrschaft des Honorius und Arcadius denen die Rezepte „von Kopf bis Fuß“ (a capite usque ad (394/395) in Konstantinopel das einflußreiche Hofamt des pedes) aufgelistet werden. Vorangestellt sind dem ganzen . Da er von Arcadius den Auftrag er- eine Dedikationsepistel, eine kurze Abhandlung über me- hielt (Cod. Theod. 16, 5,29), gegen Nichtchristen im Hof- dizinische Maße und Gewichte (de mensuris et ponderibus dienst einzuschreiten, scheint er selbst Christ gewesen zu medicinalibus) sowie ein Corpus von sieben (teils echten, sein. Ferner hat man aus der Angabe Theodosii sen(ioris) teils fiktiven) Briefen von Ärzten. Den Abschluß bildet ein im Widmungsbrief den (freilich nicht zwingenden) Schluß 78 Hexameter umfassendes Gedicht über Medizin. Marcel- gezogen, daß de medicamentis zu einem Zeitpunkt fertig- lus war aller Wahrscheinlichkeit nach kein Arzt. Über ihn gestellt wurde, als zwischen Theodosius I. und II. unter- erfahren wir aus dem das Werk einleitenden Brief, der mit schieden werden mußte, d. h. nach dem Regierungsantritt den Worten beginnt: Marcellus vir inluster (sic!) ex ma- von Theodosius II. am 1. April 408. Marcellus war zwar als gno officio (sic!) Theodosii sen(ioris) filiis suis s(alutem) Beamter in Ostrom tätig, er dürfte aber wahrscheinlich aus d(icit). Bereits Pierre Pi t h o u (1539–1596) hat erkannt, daß Gallien (vermutlich aus , daher der neuzeitliche das sinnlose ex magno officio als eine falsche Auflösung Beiname Burdigalensis) stammen und sich dort auch wie- der Abkürzung EX MAG. O. (= ex magistro officiorum) der im Ruhestand aufgehalten haben. Grundlage für diese erklärt werden muß. Auf der Basis dieser Konjektur wur- allgemein akzeptierte, wenngleich letztlich nicht stringent de unser Autor von Jacques Go d e f r o y (1587–1652) mit beweisbare Annahme ist zum einen, daß Marcellus im Vor- dem magister officiorum Marcellus gleichgesetzt, an den wort bei Angabe seiner Quellen unter den cives ac maiores zwei ins Jahr 395 n. Chr. datierte Erlässe des Codex Theo- nostri einen Arzt nennt, in dem man gemeinhin dosianus (6, 29,8 und 16, 5,29) adressiert sind. Er dürfte den Vater des berühmten Dichters Ausonius aus Bordeaux

2021 Zu seinem Leben und Werk s. die Bemerkungen von Martin ren des Altertums und des Mittelalters, ³München 1982, 501, Sc h a n z – Carl Ho s i u s – Gustav Kr ü g e r , Geschichte der rö- Klaus-Dietrich Fi s c h e r , Marcellus, LMA VI (1993) 221 f., mischen Litteratur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Alain To u w a i d e , Marcellus [8] Empiricus, DNP VII (1999) Justinian, IV.2. Die Litteratur des fünften und sechsten Jahr- 851 f., Ma i e r (2001a) 120, Me i d – An r e i t e r [2005] 6–8 und hunderts, München 1920, 278–282, Ju l l i a n (1926) VIII 245 Bl o m [2007] 58–64. + A. 4, 280, Ernst Ki n d , Marcellus (58.), RE XIV.2 (1930) 2022 Zum Beinamen Burdigalensis vgl. weiter unten. Zu Empiricus 1498–1503, Ve t t e r (1957) 271, Du v a l (1971) 630–632, s. To u w a i d e , a.a.O. 851: „Die Bezeichnung empiricus stammt PLRE I 551 f., Fridolf Ku d l i e n , Marcellus (14.), KlP III aus der Renaissance und verweist auf den Begriff expertum (1979) 993 f., Wolfgang Bu c h w a l d – Armin Ho h l w e g – Otto (»geprüft«), der sich auf die von M[arcellus] erwähnten Me- Pr i n z , Tusculum-Lexikon griechischer und lateinischer Auto- dikamente bezieht.“ Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 357

(vgl. [107]) erblickt. Zum anderen werden in de medica- wie Kaspar Ze u s s , Henri d’Ar b o i s d e Ju b a i n v i l l e und Jo- mentis ein Dutzend gallischer Pflanzennamen erwähnt und seph Ve n d r y e s äußerten ihre Zweifel.2027 Für letzteren etwa vom Autor auch ausdrücklich als solche (gallice) gekenn- präsentieren die Zauberformeln im allgemeinen nicht mehr zeichnet.2023 als „une succession de mots barbares; il est peut‑être oiseux Verwiesen wird in diesem Zusammenhang zudem auf d’y chercher un sens […]. Les formules de Marcellus pour- eine Reihe iatromagischer Zaubersprüche in de medica- raient bien n’appartenir à aucune langue parlée.“2028 Zwi- mentis, welche nach Ansicht einiger Forscher (zumindest schen diesen beiden Positionen bewegt sich die Forschung teilweise) gallisches Sprachgut enthalten. Diese Beschwö- im Prinzip bis heute. Die von Gr i mm inaugurierte Ansicht rungsformeln haben aber nicht nur die Aufmerksamkeit wurde von Wolfgang Me i d weiterverfolgt, wenngleich in der keltischen Philologie auf sich gezogen, sondern wur- vielen Details grundlegend modifiziert. Wie schon andere den auch als Zeugnisse für eine lokale, spezifisch gallische vor ihm verweist er auf die Aussage des Marcellus, der im Volksmedizin verwertet.2024 So hat auch Johannes Zw i c k e r Vorwort bekennt, daß er für seine Rezeptsammlung nicht sechs Stellen aus Marcellus in die Sammlung der Fontes nur die medizinische Fachliteratur2029 verwendet habe, son- Historiae Religionis Celticae aufgenommen.2025 Allerdings dern darüber hinaus auch bei Landleuten und einfachen ist seine Auswahl an Texten zum einen unvollständig, zum Menschen durch Zufall gefundene und einfache Heilmittel anderen erfolgte sie auf der Basis von nicht immer nach- kennengelernt habe, die sie aufgrund ihrer Erfahrungen für vollziehbaren Kriterien oder heute veralteten Forschungs- gut befunden hatten.2030 „Zu diesen remedia fortuita atque positionen. Daraus ist ihm schwerlich ein Vorwurf zu ma- simplicia, gewissermaßen ärztlich nicht approbierten, wis- chen, denn erst Untersuchungen der letzten Jahrzehnte und senschaftlich nicht garantierten Heilverfahren gehörten Jahre haben zu einer Neubewertung dieser incantamenta offenbar auch die zitierten Besprechungsformeln.“2031 Der magica geführt. Als wegweisend sind hier die Arbeiten überwiegende Teil dieser Formeln in de medicamentis ist von Wolfgang Me i d und Alderik H. Bl o m zu nennen, deren in lateinischer Sprache. Bei denjenigen Texten, die nicht in Ausführungen ich primär folgen werde, die freilich bei der normaler lateinischer Sprache abgefaßt oder nicht aus dem Beurteilung dieser Texte zu sehr unterschiedlichen Ergeb- Lateinischen verständlich sind, liegt nach Me i d „die Vermu- nissen gelangt sind. Diese kontroversen Interpretationen tung nahe, daß es sich um Gallisch handelt, aber bei nähe- müssen hier etwas näher vorgestellt werden, da sie von rem Hinsehen stellt sich – wie bei anderen volkstümlichen zentraler Bedeutung für unser Thema sind. Texten aus spätgallischer Zeit – heraus, daß die gallische Die Idee, daß einige der magischen Formeln des Marcel- Sprache nicht die einzige Komponente dieser Texte ist, son- lus in gallischer Sprache verfaßt seien, ist keineswegs neu, dern daß sich in ihnen auch Griechisches findet bzw. daß sondern wurde bereits von Jacob Gr i mm vertreten.2026 Sie sie in gewissem Grad mischsprachlich sind. Dazu kommt blieb freilich nicht unwidersprochen. Namhafte Gelehrte noch bei Zaubersprüchen die verbreitete Tendenz zum spie-

2023 Diese Pflanzennamen werden ausführlich behandelt von Me i d 2026 Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen formeln, in: Kleinere (1996a) 8–32 [wiederabgedruckt und um phytologische, phar- Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, makologische und pharmakotherapeutische Erläuterungen Berlin 1865, 152–172. Vgl. auch Sc h a n z – Ho s i u s – Kr ü g e r , erweitert in: Me i d – An r e i t e r [2005] 8–38] und in der leider a.a.O. 279 f., Du v a l (1971) 630 f. unpublizierten Dissertation von Bl o m [2007] 103–123 [die mir 2027 S. dazu den Forschungsüberblick bei Bl o m [2007] 66. Dr. David St i f t e r dankenswerterweise zur Verfügung gestellt 2028 Joseph Ve n d r y e s , Chronique, RC 38 (1920–1921) 67–69, hat], wobei gerade dieses Kapitel seit kurzem erfreulicherweise spez. 68. separat ediert vorliegt: Bl o m [2009/10] 3–24. Vgl. dazu auch 2029 Zu den literarischen Quellen des Marcellus (Scribonius Lar- meinen Kommentar zu Marc. Emp. de med. 3, 9 [114 T 1]. gus, Plinius, die sog. medicina Plinii, Ps.‑ u. a. m.) 2024 Ich zitiere exempli gratia Hö f l e r (1911/12) 4: „Wenn Ma r - vgl. Sc h a n z – Ho s i u s – Kr ü g e r , a.a.O. 278 f., Ki n d , a.a.O. c e l l u s auch das meiste aus den antiken Werken der Griechen 1500 f., Me i d – An r e i t e r [2005] 6 A. 4, Bl o m [2007] 62, und Römer übernahm, so haben doch seine Eintragungsvor- Bl o m [2009b] 14 + A. 8. schriften, seine Verwendungsformen, die Pflanzennamen 2030 Marc. Emp. de med. prol. 2: nec solum veteres medicinae artis vielfachen Wert für unsere diesbezüglichen Forschungen über auctores […] lectione scrutatus sum, sed etiam ab agrestibus die volksmedizinische Botanik der Gallo-Kelten.“ et plebeis remedia fortuita atque simplicia, quae experimentis 2025 Zw i c k e r 114 f. hat folgende Stellen aufgenommen: Marc. probaverant, didici. Emp. de med. 3, 9 [114 T 1]; 8, 28 [114 T 2]; 8, 64 [114 T 3]; 2031 Me i d (1996a) 5 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 6. 8, 193 [114 T 5]; 12, 24 [114 T 9]; 20, 66 [114 T 12]. 358 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen lerischen oder manipulativen Umgang mit der Sprache, was falls zu dem Schluß: „The charms have often been regarded zu Reimbildungen, sprachlichen Entstellungen und letzt- as derived from Gallic popular medicine, even if Marcel- lich zu Kauderwelsch („Abracadabra“) führt, und was auf lus never indicates the formulae with gallice or any simi- der Überlieferungsseite die zusätzliche Entstellung solcher lar term. The assumption that they are (partly) Gaulish is nichtverstandener Texte durch den Prozeß des wiederhol- modern: the strong element of popular medicine in the text ten Abschreibens zur Folge hat, wodurch sich korrumpierte combined with ideas about Marcellus’ provenance must Texte ergeben, bei deren Sanierung die gewöhnlichen Mittel have given rise to this idea. However, it appears as if Mar- der Textkritik versagen müssen.“2032 Trotz dieser Schwierig- cellus drew on a more universal (Graeco-Roman) tradition keiten hält es Me i d für möglich, daß sich aus den Formeln of (popular) medicine. Comparison with material in similar des Marcellus einiges für das Gallische gewinnen läßt.2033 antique and mediaeval texts in this tradition shows that we Diese eher positive Einschätzung2034 wurde jüngst von Al- have to be wary of identifying Gaulish elements on the basis derik H. Bl o m einer gründlichen Kritik unterzogen.2035 In of assumptions about Marcellus’ provenance alone. Charms Bezug auf die Selbstaussage des Marcellus vertritt Bl o m die in this type of text abound with deliberately corrupted and Ansicht, „that he derived some of his cures ab agrestibus et fantastical terms used specifically within the context of ri- plebeis forms part of the general orientation towards prac- tual language (voces magicae) and the presumed Gaulish is tical and simple cures expounded by the tradition in which very likely to be exactly that. Even if scattered Gaulish re- he stands, and we may question the litteral truthfulness of mains were actually taken into the language of the charms, his statement. Also, even if Marcellus did derive some of they were most likely intended as voces magicae. Within his remedies directly ab agrestibus et plebeis, it is not at the Latinate context of DM [= de medicamentis] they were all clear whether these were necessarily collected in . probably meant to be rather obscure than understandable. It In fact, it has not proved possible to identify any of this is highly unlikely that Gaulish elements survived uncorrup- remedies as typically Gallic. This is not surprising consi- ted in such an environment.“2038 Folgt man Bl o m s skepti- dering the fact that medicinal customs and recipies tend to scher Position, wozu ich neige, dann könnte man die Zeug- migrate.“2036 Den Versuchen Me i d s und anderer Forscher, nisse des Marcellus aus einer Sammlung wie der meinen die Marcellischen Formeln als Quelle für das Gallische zu eigentlich ausscheiden. Da aber die Diskussion um diese verwenden, kann Bl o m nur sehr wenig abgewinnen, denn: iatromagischen Beschwörungsformeln noch keineswegs „establishing the Gaulish identity of most of these charms is abgeschlossen ist und hier die Pluralität der Meinungen zu problematic in the extreme, especially because they should Wort kommen soll, habe ich die von Zw i c k e r 2039 berück- not be treated as ‘normal’ language, but as ritual or magical sichtigten Texte und darüber hinaus weitere, von anderen language, a distinction which has important consequences Forschern für relevant erachtete Passagen als (vermutliche) for the interpretation of the formulae.“2037 Er kommt jeden- Falsa aufgenommen und kommentiert.2040

2032 Me i d (1996a) 6 = Me i d – An r e i t e r [2005] 6 f. 2038 Bl o m [2007] 124. 2033 Vgl. seine abschließende Bemerkung: Me i d (1996a) 63 = 2039 Bereits Rudolf Th u r n e y s e n , ZcPh 20 (1936) 524 hat in sei- Me i d – An r e i t e r [2005] 68. ner Rez. von Zw i c k e r vermerkt: „Die Grenzen sind möglichst 2034 Sie wird auch, wenngleich mit einer gewissen Zurückhaltung, weit gesteckt, z. B. […] aufgenommen […] die Heilformeln von La mb e r t (1997) 177 f. und James Noel Ad a m s , Bilingua- bei Marcellus Empiricus (S. 114 f.) und ähnliches mehr. Aber lism and the Language, ²Cambridge 2005, 191–196 ge- besser zu viel als zu wenig!“ teilt; s. dazu Bl o m [2007] 66 + A. 52. 2040 Ich habe freilich nur jene voces magicae aufgenommen, für die 2035 Und zwar in der bereits genannten unpublizierten Cambridger Erklärungen aus dem Gallischen vorgeschlagen wurden. Un- Dissertation: Bl o m [2007] 58–126. Die Marcellus betreffen- berücksichtigt bleiben daher unklare Kurzformeln wie ουβαικ den Ergebnisse dieser Arbeit hat Bl o m im Juli 2007 auf dem (de med. 8, 56) und καραβραωθ (de med. 26, 44) oder grie- XIII. International Congress of Celtic Studies in Bonn unter chisch anklingende Lautfolgen wie φυρφαραη (de med. 8, 57) dem Titel Gaulish in the Formulae of Marcellus of Bordeaux? und ουρω ουρωδη (de med. 8, 59); s. dazu die Bemerkun- Methodological Considerations als Vortrag präsentiert, der gen von Me i d – An r e i t e r [2005] 52 f., Bl o m [2007] 68 f., 80, eben erschienen ist: Bl o m [2009b] 13–24. Vgl. auch Al- 98 f. Ebensowenig berücksichtigt sind die Formeln καρυανκω derik H. Bl o m , Keltische Forschungen 4 (2009) 245–248 καρυανκων καρυανκωυ (de med. 21, 8), adam bedam alam [= Rez. von Me i d – An r e i t e r [2005]]. betur alam botum (de med. 28, 72), alabanda alabandi alambo 2036 Bl o m [2007] 64. (de med. 28, 73), absi absa phereos und absis paphar (de med. 2037 Bl o m [2007] 64 f. 31, 33); s. dazu Bl o m [2007] 80 f., 94, 97–99. Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 359

114 T 1 [F] Marcellus Empiricus de medicamentis 3, 9 p. 80,4; 28–30 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n 2041 = Zw i c k e r 114: ad vertiginem capitis. […] trifolium herbam, quae gallice Gegen Schwindel im Kopf. […] Weiche Klee, der auf gal- dicitur visumarus, aqua frigida macerato et eam aquam die- lisch visumarus genannt wird, in kaltem Wasser ein, trinke bus decem bibito, sed ut herbam cotidie mutes. dieses Wasser zehn Tage lang, aber in der Weise, daß du den Klee täglich auswechselst.

Dies ist eine von insgesamt zwölf Stellen aus de medi- virus, griech. ἰός, aind. viṣám ‚Gift‘) im Vorderglied und camentis, an denen Marcellus einen ausdrücklich als gal- māros ‚groß‘ (vgl. air. már, kymr. mawr) im Zweitglied. lisch (gallice) gekennzeichneten Pflanzennamen angibt. Das zugrundeliegende Benennungsmotiv ist die Saftigkeit Neben visumarus (Klee) sind dies noch odocos (Attich), des deswegen als Viehfutter sehr geschätzten Klees.2045 An- vernetus (?), blutthagio (?), gigarus (Drachenwurz), gila- ders deutet Pierre-Yves La mb e r t den Namen visumarus: rus (oder -um) (Feldthymian), calliomarcus (Huflattich), „comme la longueur du i est incertaine, je me demande si calocatanos (wilder Mohn), ratis (Wurmfarn), bricumus le premier élément ne serait pas uesu- «bon; valeur» (v.irl. (oder -um) (Beifuß), halus (Beinwell) und baditis (Seero- fiu, gall. gwiw «qui a de la valeur»,̑ adjectifs uniquement se).2042 Wie Alderik H. Bl o m zeigen konnte, sind diese von employés comme prédicats, donc certainement d’anciens Marcellus mit gallice bezeichneten Wörter nicht als Belege substantifs invariables).“2046 Wie dem auch sei, der in Was- für das Fortbestehen des Gallischen zu interpretieren, son- ser eingeweichte Klee soll nach Marcellus gegen Schwindel dern vielmehr „words in local/regional Latin usage which wirksam sein. Da der gewöhnliche Klee pharmakologisch are still recognised as of non‑Latin origin, and peculiar to indifferent ist, hat Helmut Bi r k h a n vermutet, daß „vielleicht (parts) of Gaul.“2043 Der nur hier belegte Name visumarus an den Fieber- oder Bitterklee (Menyanthes trifoliata) ge- für den dreiblättrigen Ackerklee (daher auch der lateinische dacht [war], der an feuchten Stellen wächst und durch seinen Name trifolium) wurde verschieden etymologisiert.2044 Für hohen Chiningehalt tatsächlich fiebersenkend wirkt.“2047 Das Wolfgang Me i d ist das Wort als *uīsu‑māros ‚groß an Saft‘ vorliegende Rezept wurde jedenfalls von Johannes Zw i c k e r ̑ = ‚saftreich‘ anzusetzen, mit *uīsu‑ ‚Saft‘ (vgl. mir. fí, lat. in seine Sammlung aufgenommen, da er der Meinung von ̑

2041 Ich verwende hier und im folgenden die Ausgabe von Max Ni e - 281 [= Rez. von Me i d (1996a)], Bl o m [2007] 103 A. 275 = d e r m a n n – Eduard Li e c h t e n h a n , Marcellus. Über Heilmittel, Bl o m [2009/10] 5 A. 10. – Skeptisch ist De l a m a r r e (2001) übersetzt von Jutta Ko l l e s c h und Diethard Ni c k e l (= Corpus 271 = (2003) 323: „Cette étymologie n’est possible que si Medicorum Latinorum V), 2 Bde., ²Berlin 1968. Meine Überset- l’on admet dans cette forme a priori tardive ou dialectale de zungen schließen sich eng an diejenigen dieser Edition an. Auch gaulois, le maintien du s intervocalique qui disparaît ailleurs: bei der Wiedergabe der unverständlichen Beschwörungsformeln suiorebe < *swesorebi, sioxti < *sesok‑t- etc.“ – Dieses Argu- (die in Großbuchstaben gedruckt sind) folge ich dieser Ausgabe. ment ist freilich nicht stichhaltig, wie mir Dr. David St i f t e r Alternative Lesarten und Deutungen werden in den jeweiligen mündlich mitteilte, der gegen diesen angeblichen s‑Schwund Kommentaren besprochen. im Gallischen einen im Druck befindlichen Beitrag geschrie- 2042 Zu diesen gallischen Pflanzennamen bei Marcellus s. ausführ- ben hat: David St i f t e r , Lenition of *s in Gaulish?, in: Be- lich Me i d (1996a) 8–32 [wiederabgedruckt und um phytologi- nedicte Nielsen Wh i t e h e a d – Birgit Anette Ol s e n – Jens El- sche, pharmakologische und pharmakotherapeutische Erläute- megård Ra s m u s s e n – Thomas Ol a n d e r (Hgg.), The sound of rungen erweitert in: Me i d – An r e i t e r [2005] 8–38] und Bl o m Indo-European: Phonetics, phonemics and morphophonemics [2007] 103–123 = Bl o m [2009/10] 3–24. (= Proceedings of the conference held at the University of 2043 Bl o m [2007] 123 = Bl o m [2009/10] 21. Copenhagen, 16–19 April 2009), Kopenhagen [i. D.]. 2044 Vgl. auch die älteren und heute überholten Deutungen bei 2046 Pierre-Yves La mb e r t , BSL 93.2 (1998) 247 [= Rez. von Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen formeln, in: Kleinere Me i d (1996a)]. Ähnlich etymologisiert auch schon Hö f l e r Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, (1911/12) 253. Berlin 1865, 152–172, spez. 171 f., Do t t i n (1920) 300, An d r é 2047 Bi r k h a n (1997) 632 A. 4. – Peter An r e i t e r , in: Me i d – An r e i - (1985) 197. t e r [2005] 12 vermerkt freilich, daß der Ackerklee (Trifolium 2045 S. dazu ausführlicher Me i d (1996a) 10–13 = Me i d – An r e i t e r campestre Schreb.) „pharmakologisch noch nicht zur Genüge [2005] 9–13. Zustimmung gefunden hat dieser Vorschlag bei erforscht [ist]; es läßt sich noch kein vollständiges Wirkprofil Bi r k h a n (1997) 632 A. 4, Karl Horst Sc h m i d t , ZcPh 51 (1999) angeben. Gesichert ist die leicht diuretische Wirkung.“ 360 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen

Georges Do t t i n folgend hierin ein Heilmittel der Druiden aber keineswegs spezifisch gallische oder gar druidische An- sehen wollte.2048 Diese Ansicht ist jedoch unbegründet. Es wendung.2049 Gleiches gilt auch für das folgende von Zw i c - handelt sich um eine für die Volksmedizin ganz typische, k e r berücksichtigte Rezept (de med. 8, 28 [114 T 2]).

114 T 2 [F] Marcellus Empiricus de medicamentis 8, 28 p. 122,18–21 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n = Zw i c k e r 114: herbam, quae appellatur peristereon, discoques, ut made- Das peristereon genannte Kraut läßt man in Quellwasser, scat, ex aqua fontana ad tertias et inde oculos fovebis im- damit es weich wird, auf ein Drittel einkochen und behan- petu laborantes; intra triduum persanabis. delt damit die an Fluß leidenden Augen; binnen drei Tagen ist man völlig geheilt.

Mit peristereon (περιστερεών) ist das Eisenkraut (Ver- schen Heilmitteln zuzurechnen sei.2051 Für diese Einschät- bena officinalis L.; auch Taubenkraut genannt) gemeint, zung gibt es jedoch nicht die geringsten Anhaltspunkte. das in der Pflanzenheilkunde vieler Völker zum Einsatz Wie im Fall der oben besprochenen, aus Klee hergestellten kam.2050 Das Rezept hat Johannes Zw i c k e r in seinen Fontes Arznei (de med. 3, 9 [114 T 1]) so weist auch die vor- Historiae Religionis Celticae berücksichtigt, weil es nach liegende volksmedizinische Anwendung keinen spezifisch Ansicht von Georges Do t t i n möglicherweise den druidi- gallischen (oder gar druidischen) Einschlag auf.

114 T 3 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 8, 64 p. 128,31–34 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n = Zw i c k e r 114: qui crebro lippitudinis vitio laborabit, millefolium herbam Wer häufig an Triefäugigkeit leidet, soll das Kraut Tau- radicitus vellat et ex ea circulum faciat, ut per illum aspici- sendblatt mit der Wurzel ausreißen und daraus einen Ring at et dicat ter: excicvm acriosos et totiens ad os sibi machen, durch diesen hindurchblicken und dreimal sagen: circulum illum admoveat et per medium expuat et herbam EXCICVM ACRIOSOS, sich jenen Ring ebensooft an den rursus plantet. Mund führen, mitten hindurch ausspucken und das Kraut wieder einpflanzen.

Diese magische Handlung verspricht Heilung bei lippi- nem Ring geflochten werden, durch den unter dreimaliger tudo, also bei triefenden oder entzündeten Augen.2052 Dabei Aufsagung eines Zauberspruches hindurchzuschauen und soll die millefolium ‚Tausendblatt‘ genannte Pflanze – wo- dreimal hindurchzuspucken sei. Die Krankheit wird auf mit die Gemeine Schafgarbe (Achillea millefolium L.) ge- diese Weise auf die Pflanze übertragen. Es kommt also eine meint ist2053 – mitsamt den Wurzeln ausgerissen und zu ei- in iatromagischen Riten gängige transplantatio morbi zur

2048 Zw i c k e r 114 app. crit.: „Haec medicamenta ad druidar- dans la Rome antique, Paris 1985, 193 und den Kommentar um medicinam spectare videntur, cf. Dottin, Manuel de zu Plin. nat. hist. 25, 106 [48 T 17]. l’antiquité celtique² p. 368.“ – Do t t i n (1915) 368 schreibt: 2051 Zw i c k e r 114 app. crit.: „Haec medicamenta ad druidarum me- „Peut‑être faut-il rattacher à la médicine druidique les remè- dicinam spectare videntur, cf. Dottin, Manuel de l’antiquité des populaires usités en Gaule d’après Pline, Apulée et Mar- celtique² p. 368.“ – Do t t i n (1915) 368 schreibt: „Peut‑être cellus: […] le trèfle (visumarus) qui est bon contre le vertige faut-il rattacher à la médicine druidique les remèdes popu- …“. laires usités en Gaule d’après Pline, Apulée et Marcellus: […] 2049 Vgl. dazu die oben in der Einführung zu Marcellus zitierten la verveine qui est un remède contre l’ophthalmie …“. Bemerkungen von Bl o m [2007] 64. – Zur volksmedizinischen 2052 S. dazu die Anmerkung von Alf Ön n e r f o r s , Antike Zauber- Verwendung des Klees s. Hö f l e r (1911/12) 253 f. und Peter sprüche, Stuttgart 2003, 68. An r e i t e r , in: Me i d – An r e i t e r [2005] 12 f. 2053 S. dazu Hö f l e r (1911/12) 268, Jacques An d r é , Lexique des 2050 S. dazu Jacques An d r é , Lexique des termes de botanique en termes de botanique en latin, Paris 1956, 209 und http:// latin, Paris 1956, 243, Jacques An d r é , Les noms de plantes de.wikipedia.org/wiki/Gemeine_Schafgarbe (05.08.2010). Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 361

Anwendung. Das Spucken durch die Mitte des vegetabilen cicuma crissōs zu restituieren und mit „Hinaus, Augenfluß, Rings ist als eine Analogiehandlung für das Hinaustreiben aus dem Kreis!“ zu übersetzen. Durch den Vergleich mit 2054 des Augenflusses aufzufassen. Nach Otto Hö f l e r hat anderen Sprüchen bei Marcellus2058 gelangt Me i d schließ- dieser Ritus „nichts spezifisch Gallisches an sich, scheint lich zu der Überzeugung, daß das gall. Wort für die aus- vielmehr aus der griechischen Antike zu stammen.“2055 zutreibende Flüssigkeit (hier konkret der ‚Augenfluß‘) als Eine Herkunft aus dem griechischen Bereich vermutet er *suc(u)mā oder ähnlich anzusetzen sei und die vorliegende deswegen, weil (nach einem von Friedrich Vo l l m e r geäu- Formel „als *ex sicuma (für συκυμα) crisos interpretiert ßerten Vorschlag) der unverständliche Spruch als verderbt und als *ex sucumā crissōs restituiert werden [kann], oder aus ἐξ κίρκου μάκαρ σῶς („durch den Ring glückselig möglicherweise als *exī sucuma crissōs.“2059 gesund“) zu interpretieren sei.2056 Dagegen ist Wolfgang Allein dieses Beispiel zeigt m. E. sehr schön, mit wel- Me i d für eine Deutung aus dem Gallischen eingetreten.2057 chen Unsicherheiten jegliche Deutung der Marcellischen Die Handschriften überliefern die Beschwörungsformel in Formeln verbunden ist. Wie ich bereits in den einleitenden den zwei Lesarten excicum acriosos (Parisinus Lat. 6880) Bemerkungen zu Marcellus gesagt habe, vermögen mich und excicuma crisos (Laudunensis 420), die sich in der Me i d s zweifellos scharfsinnige Bemühungen, diese Texte Worttrennung und durch ein weiteres o in der ersten Va- als (teilweise) gallisches Sprachgut zu erweisen, aber nicht riante unterscheiden. Me i d vermutet, daß der Spruch die wirklich zu überzeugen. Seine Rekonstruktionen bleiben magische Handlung reflektiere, weswegen die Ausdrücke jedenfalls hypothetisch, basieren sie doch auf mehr oder für ‚hinaus‘ (= ex), ‚Kreis‘ und ‚Augenfluß‘ zu erwarten minder massiven Eingriffen in die handschrifliche Überlie- seien. Theoretisch könnte man zwar cicum als *circum ferung sowie einem gerüttelten Maß an Spekulation. Man (lat. circus ‚Kreis‘) verstehen, es sei aber vorzuziehen, den wird sich wohl damit begnügen müssen, auch in excicum Begriff ‚Kreis‘ in crisos zu suchen, was als *crissōs Gen. acriosos (oder excicuma crisos) unverständliche Zauber- sg. von *crissus (vgl. air. criss, kymr. crys ‚Gürtel‘) sein worte (sogenannte Ἐφέσια γράμματα2060) zu sehen, die könnte. Weiters schlägt er vor, den Text vorläufig als *ex sich einer sinnvollen Deutung entziehen.

114 T 4 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 8, 170 f. p. 156,16–22 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : digitis quinque manus eiusdem, cuius partis oculum sordi- Während man mit den fünf Fingern eben der Hand, an cula aliqua fuerit ingressa, percurrens et pertractans ocu- deren Seite irgendein Schmutzteilchen in das Auge einge- lum ter dices: TETVNC RESONCO BREGAN GRESSO, drungen ist, über das Auge fährt und es betastet, soll man ter deinde spues terque facies. (171) item ipso oculo clau- dreimal sagen: TETUNC RESONCO BREGAN GRESSO,

2054 Vgl. dazu Me i d (1996a) 47 = Me i d – An r e i t e r [2005] 55 und 2059 Me i d (1996a) 51 = Me i d – An r e i t e r [2005] 58. Hö f l e r (1911/12) 269, letzterer mit Angabe interessanter 2060 Unter dieser Bezeichnung sind bei Clemens von Alexand- volkskundlicher Parallelen. reia und Hesychios folgende sechs, angeblich aus Ephesos 2055 Hö f l e r (1911/12) 269. stammende Wörter überliefert: ἄσκιον, κατάσκιον, λίξ, 2056 Diese Deutung ist verzeichnet bei He i m [1892] 531 A. 1 (zu τετράξ, δαμναμενεύς, αἴσιον (oder αἴσια). Ihnen wurde Nr. 181), vgl. Hö f l e r (1911/12) 269 und Me i d (1996a) 47 A. eine unbeschränkte und sprichwörtliche Macht, etwa beim 94 = Me i d – An r e i t e r [2005] 55 A. 100. Austreiben von Dämonen, zugeschrieben. Heute versteht 2057 S. dazu ausführlich Me i d (1996a) 47–51 = Me i d – An r e i t e r [2005] man unter Ἐφέσια γράμματα ganz allgemein alle unver- 55–58 sowie das Referat bei Bl o m [2007] 69. – Nur verwiesen ständlichen Zauberworte, wie sie in großer Zahl vor allem sei an dieser Stelle auf die veraltete Deutung von Adolphe Pi c t e t , durch die griechischen Zauberpapyri bekannt geworden in: Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen formeln, in: Kleinere sind. S. dazu Alf Ön n e r f o r s , Zaubersprüche in Texten der Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Ber- römischen und frühmittelalterlichen Medizin, in: Guy Sa b - lin 1865, 152–172, spez. 159: „… je divise la formule ainsi: exci b a h (Hg.), Études de médecine romaine (= Centre Jean-Pa- cuma criosos et je traduis: vois la forme de la ceinture.“ lerne. Mémoires VIII), Sainte-Étienne 1988, 113–156, spez. 2058 Vgl. dazu die Kommentare zu Marc. de med. 10, 34 [114 T 6]: 114 f., Alf Ön n e r f o r s , Antike Zaubersprüche, Stuttgart sicycuma cucuma ucuma cuma uma ma a und de med. 10, 69 2003, 7 f., Bl o m [2007] 88–90. [114 T 8]: σοκσοκαμ συκυμα. 362 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen so, qui carminatus erit, patentem perfricabis et ter carmen danach dreimal ausspucken und (das ganze) dreimal tun. hoc dices et totiens spues: INMON DERCOMARCOS (171) Ebenso reibt man – während das Auge, das bespro- AXATISON; scito remedium hoc in huiusmodi casibus chen wird, geschlossen ist – das geöffnete Auge, sagt drei- esse mirificum. mal folgenden Spruch und spuckt ebensooft aus: INMON DERCOMARCOS AXATISON; wisse, daß dieses Mittel bei Fällen dieser Art wunderbar ist.

Marcellus beschreibt an dieser Stelle ein volksmedizi- standen, syntaktisch ein lat. Abl. instrumentalis, der aus nisches Verfahren, das bei der Entfernung von Fremdkör- einem gall. Verbalnomen im Dat. instrumentalis *crissū pern aus dem Auge hilfreich sein soll. Dabei mußten zwei ‚durch Reiben‘ (vgl. mir. cressaim ‚ich schüttle, schwin- iatromagische Beschwörungsformeln gesprochen werden, ge‘) abzuleiten sei.2067 Als Übersetzung der ganzen Formel deren Sprache von der modernen Forschung als (zumin- schlägt Me i d vor: „dich, somit, Partikel, schwemme ich dest teilweise) gallisch interpretiert wurde.2061 Die erste heraus durch massierendes Reiben“.2068 Diese Deutung hat ernstzunehmende Deutung des ersten Spruchs stammt von bei einigen Forschern Zustimmung gefunden, während sie Wolfgang Me i d 2062, der in diesem Text lateinisch-gallische andere für recht spekulativ erachten.2069 Auch mir erscheint Mischsprache vorliegen sah. Das tetunc (= te tunc)2063 zu Me i d s Versuch, diesem Zauberspruch einen klaren Sinn ab- Beginn ist wohl Latein oder allenfalls latinisiertes Gal- zuringen, trotz aller Gelehrsamkeit etwas gezwungen. lisch2064; resonco wird als eine hybride latinisierte Verbal- Um einiges kontroverser ist die Diskussion um die zwei- form betrachtet, bestehend aus einem lateinischen Praeverb te Beschwörungsformel.2070 So hat etwa Léon Fl e u r i o t für (re-) und einem gallischen Lexem *su‑n‑k‑ū (1. Person sg. die in den Handschriften überlieferte Form inmon derco- mit Nasalinfix von einer Verbalwurzel seu* k̑, vgl. lat. su- marcos axatison die Trennung *in mon derco marcos axat gere ‚saugen‘, lat. sucus ‚Saft‘, kymr. sugnȏ ‚saugen‘, bret. ison vorgeschlagen, was er mit „que Marcos emmène cela sun ‚Saft‘).2065 Die beiden verbleibenden Wörter werden (qui est) dans mon œil“ oder wörtlich „dans mon œil que als gallisch interpretiert: bregan sei ein Substantiv im Acc. Marcos emmène cela“ übersetzen möchte.2071 Gemäß die- sg. und bedeute ‚Partikel‘, ‚Fremdkörper‘ (

2061 Die Formeln sind aufgenommen bei He i m [1892] 531 Nr. 182 daß mit **cressaim vermutlich cresaigid gemeint sein dürfte, und Do t t i n (1920) 214 (Nr. 2 [ohne tetunc] und Nr. 3). welches aber ganz offensichtlich eine späte, interne irische Bil- 2062 Me i d (1980) 11 f., 30 AA. 19–25 [erneut abgedruckt in dung ist. Es heißt ‚schütteln‘ im Sinne von ‚brandishing‘ und hat ANRW II 29.2 (1983) 1026–1028], Me i d (1996a) 49 f. = wohl nichts mit ‚reiben‘ zu tun. Me i d – An r e i t e r [2005] 57 f. – Nicht aufzuhalten brauchen 2068 Me i d – An r e i t e r [2005] 58. wir uns mit der heute veralteten Interpretation der Formel bei 2069 Vgl. die neutralen bis positiven Urteile in den Rez. von Karl- Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen formeln, in: Kleinere Horst Sc h m i d t , IF 88 (1983) 336, Léon Fl e u r i o t , ZcPh 39 Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, (1982) 298, Fritz Lo c h n e r v o n Hü t t e n b a c h , Kratylos 44 Berlin 1865, 152–172, spez. 161 f. (1999) 220. – Zurückhaltender ist James Noel Ad a m s , Bilin- 2063 Für Fl e u r i o t (1974/75a) 63 ist es nicht sicher, ob tetunc als Teil gualism and the Latin Language, ²Cambridge 2005, 193: „This des Spruches oder des Haupttextes zu betrachten sei. Bereits Do t - interpretation is somewhat speculative …“. t i n (1920) 214 druckt nur resonco bregan gresso. Ich sehe jedoch 2070 S. dazu den guten Forschungsüberblick bei Bl o m [2007] 70 f. keinen plausiblen Grund, das tetunc von der Formel zu trennen. 2071 Fl e u r i o t (1974/75a) 63–66. 2064 Vgl. auch La mb e r t (1997) 178: „La première formule compor- 2072 Sogar Joseph Ve n d r y e s , der ansonsten die Marcellischen Formeln te sans doute des éléments (te ? tunc ? gresso ?).“ nicht als Zeugnisse für das Gallische gelten lassen will, räumt ein 2065 Me i d – An r e i t e r [2005] 57 f., vgl. dazu Bl o m [2007] 69 f. – Die [Chronique, RC 38 (1920–1921) 68 f.]: „Une exception au moins von Me i d angeführten britannischen Formen sind freilich kaum est permise, en faveur du passage VIII, 171 où se lit la formule: relevant, da sie Entlehnungen aus dem Lateinischen sein müssen. inmon dercomarcos axatison. A vrai dire, le premier mot et le der- 2066 S. dazu Me i d – An r e i t e r (2005) 57 + A. 106 und Bl o m (2007) 70 nier ne se laissent pas aisément interpréter. Mais, la formule étant + A. 63. – Nach Dr. David St i f t e r (mündliche Mitteilung) dürfte destinée à combattre une affection de l’œil, le second mot contient es sich bei **brigaim um eine vox nihili handeln, gemeint ist certainement le même radical que l’irlandais derc « œil ».“ – Zu wohl braigid ‚furzen‘ (vgl. LIV² 91 f.), was seiner Ansicht nach gall. *derko- vgl. auch Do t t i n (1920) 251, Me i d (1996a) 45 = aber zu einer anderen Wurzel gehört. Me i d – An r e i t e r [2005] 54 und Karin St ü b e r , Schmied und Frau. 2067 S. dazu Me i d – An r e i t e r (2005) 57 f. + A. 107 und Bl o m (2007) Studien zur gallischen Epigraphik und Onomastik (= Archaeolin- 70 + A. 66. – Hierzu teilte mir Dr. David St i f t e r mündlich mit, gua. Series Minor 19), Budapest 2005, 77 f. Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 363 sg. und das Subjekt zu *axat aufgefaßt wird, zieht Fl e u - mo, kymr. fy < *mon), *dercom der Acc. sg. des gall. Wor- r i o t mehrere (mir sehr unwahrscheinliche) Deutungen in tes für ‚Auge‘ (vgl. air. derc ‚Auge‘, griech. δέρκομαι ‚se- 2078 Erwägung. Es könnte etwa das Wort für ‚Pferd‘ oder der hen, blicken‘) , *argos ein von der Wurzel *h2erg̑ - ‚hell‘, Name einer (sonst nicht belegten!) Gottheit dahinter stec- ‚klar‘, ‚glänzend‘, ‚weiß‘ (vgl. griech. ἀργός) abgeleite- ken.2073 Ferner wird *axat (< *ag‑āt) als ein von der Wurzel tes Abstractum im Nom. sg.2079, *axati‑son schließlich sei

*ag- (< *h2eg̑ -) ‚treiben‘, ‚bringen‘, ‚führen‘ abgeleiteter eine Verbalform mit verstärkender pronominaler Partikel ā‑Konjunktiv verstanden – vergleichbar air. agaid, ·aga, im Konjunktiv der 3. Person sg., gebildet mit ‑sā- von der 2074 dem ā‑Konjunktiv von agaid, ·aig ‚(an)treiben‘ ; *ison Wurzel *h2eg̑ - (die im Britannischen die Bedeutung ‚ge- schließlich sei ein Demonstrativpronomen.2075 Diese Analyse hen‘ hat, wie kymr. agit ‚geht‘ zeigt), also *ag‑sā‑ti, womit Fl e u r i o t s wurde von Pierre-Yves La mb e r t im wesentlichen angeblich die kymrische Futur- und Konjunktivbildung übernommen, wenngleich in einem Punkt modifiziert.2076 Er auf ‑haw(d) zu vergleichen wäre.2080 Als Übersetzung des spekuliert, daß der Spruch das Element *amarcos (vgl. air. Zauberspruches schlägt Me i d vor: „in mein Auge (oder: „in amarc ‚Blick‘ und das gall. Theonym Amarcolitanos) ent- meinem Blick“) soll Klarheit gehen“. Zusammenfassend halte. Freilich müsse man dazu das handschriftliche derco- läßt sich sagen: Keine dieser Deutungen vermag restlos zu marcos emendieren, und zwar entweder in das Kompositum überzeugen, keine kommt ohne Eingriffe in die handschrift- derc[a]marcos oder zu derco[n a]marcos. Unter Zugrunde- lich überlieferte Lesart aus, eine jede hat Schwachpunk- legung der zweiten Konjektur übersetzt La mb e r t den Spruch te. Wenigstens besteht in der Forschung dahingehend ein mit „qu’Amarcos (dieu de la vue ?) emporte cela dans mon Konsens, daß zumindest in dieser einen Formel gallische œil“. Wieder eine andere Deutung stammt von Wolfgang Sprachelemente enthalten sein dürften. Allerdings muß es Me i d 2077, der die überlieferte Formel mit geringfüger Emen- angesichts der Schwierigkeiten, die die Überlieferung dieser dation als *in mon dercom argos axati‑son [oder axat‑ison] Zaubertexte bereitet2081, doch sehr fraglich bleiben, ob sich lesen möchte und folgendermaßen analysiert: *in sei die über die Worte „in mein(em) Auge“ hinaus noch andere For- Präposition ‚in‘, *mon das Possessivum ‚mein‘ (vgl. air. men bestimmen lassen.

114 T 5 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 8, 190–193 p. 160,6–24 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n ; Zw i c k e r 1152082: varulis, id est hordiolis oculorum, remedium tale facies: Bei varuli, d. h. bei Gerstenkörnern an den Augen, bereitet anulos digitis eximes et sinistrae manus digitis tribus ocu- man folgendes Heilmittel: Man zieht die Ringe von den lum circum tenebis et ter despues terque dices: RICA RICA Fingern ab, hält sie mit drei Fingern der linken Hand um

2073 Fl e u r i o t (1974/75a) 65: „On peut poser une autre question : 2078 Dazu vermerkt Pierre-Yves La mb e r t , BSL 93.2 (1998) 248 MARCOS serait-il le nom d’une divinité mineure comme la [= Rez. von Me i d (1996a)]: „Il suppose un ‑m final dans der- déesse Murcia chez les Latins dont le nom serait d’ailleurs com, ce qui est peu probable en gaulois tardif.“ apparenté ? L’hypothèse est peut‑être hardie, mais on peut au 2079 Nach Bl o m [2007] 71 A. 78 wäre im Keltischen eigentlich moins la formuler …“. eine Form *argios zu erwarten (vgl. kymr. eiry, altkorn. irch, 2074 Fl e u r i o t (1974/75a) 65, vgl. La mb e r t (1997) 178. – S. dazu bret. erc’h < *arg‑io-). Dieser Einwand ist für Dr. David St i f - jedoch Stefan Sc h u m a c h e r , Die keltischen Primärverben. t e r (mündliche Mitteilung)̑ nicht wirklich schlagend, da das Ein vergleichendes, etymologisches und morphologisches eine ein abgeleitetes Adjektiv, das andere ein Abstractum ist. Lexikon (= IBS 110), Innsbruck 2004, 750 A. 47, wonach 2080 Me i d – An r e i t e r [2005] 54. – Dagegen stellt Sc h u m a c h e r , Fl e u r i o t s Gleichsetzung von *axat mit dem air. Konjunktiv a.a.O. 750 A. 47 [gefolgt von Bl o m [2007] 71 A. 79] fest, verfehlt sei, „da gerade dieser ā‑Konjunktiv eine sekundäre „dass das hypothetische Suffix *‑sā- kein Gegenstück im In- Entwicklung des Altirischen ist …“. Diesem Einwand folgt selkeltischen hat: Die mittelkymrischen Formen auf ‑(h)aw- auch Bl o m [2007] 71 A. 71. […] erlauben […] nicht die Rekonstruktion eines Suffixes 2075 Fl e u r i o t (1974/75a) 65. Nach Bl o m [2007] 71 A. 72 ist die *‑asā-.“ sonstige Evidenz für dieses Pronomen unsicher. 2081 Vgl. dazu die allgemeinen Bemerkungen in der Einführung zu 2076 La mb e r t (1997) 178; vgl. auch Pierre-Yves La mb e r t , BSL Marcellus [114] und bei Sc h u m a c h e r , a.a.O. 750 f. 93.2 (1998) 248 [= Rez. von Me i d (1996a)]. 2082 Zw i c k e r hat hiervon nur den letzten Satz von § 193 (item di- 2077 Me i d (1996a) 44–46 = Me i d – An r e i t e r [2005] 53 f. gito – ures) aufgenommen. 364 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen

SORO. (191) si in dextro oculo varulus erit natus, manu das Auge herum, spuckt dreimal aus und sagt dreimal: sinistra digitis tribus sub divo orientem spectans varulum RICA RICA SORO. (191) Wenn sich am rechten Auge ein tenebis et dices: Gerstenkorn gebildet hat, hält man mit drei Fingern der nec mula parit nec lapis lanam fert linken Hand das Gerstenkorn, schaut unter freiem Him- nec huic morbo caput crescat aut, si creverit, ta- mel nach Osten und sagt: „Die Mauleselin gebiert nicht bescat. und der Stein trägt keine Wolle, dieser Krankheit soll kein cum haec dixeris, isdem tribus digitis terram tanges et Kopf wachsen, wächst er aber doch, soll er schwinden.“ despues idque ter facies. (192) efficax hoc remedium hor- Wenn man diese Worte gesagt hat, berührt man mit den- diolis: novem grana hordei sumes et de singulis varum pun- selben drei Fingern die Erde, spuckt aus und tut das drei- ges; per quae singula puncta carmen dices. proiectis novem mal. (192) Folgendes Heilmittel ist bei Gerstenkörnern granis septem alia corripies et similiter de singulis punges wirksam: Man nimmt neun Gerstenkörner und sticht mit et carmen septies dices, abiectis etiam his quinque sumes et jedem einzelnen das Gerstenkorn; bei jedem einzelnen idem quinquies facies, idem de tribus granis similiter, idem dieser Stiche sagt man einen Spruch. Nachdem man die de uno similiter. carmen autem hoc est: ΚΥΡΙΑ ΚΥΡΙΑ neun Körner fortgeworfen hat, nimmt man sieben andere, ΚΑΣΣΑΡΙΑ ΣΟΥΡΩΡΒΙ. (193) item hoc remedium sticht in ähnlicher Weise mit den einzelnen und sagt den efficax: grana novem hordei sumes et de eorum acumine Spruch siebenmal, nachdem man auch sie fortgeworfen varolum punges et per punctorum singulas vices carmen hat, nimmt man fünf und tut dasselbe fünfmal, ebenso mit hoc dices: φεῦγε φεῦγε κριθή, 〈κριθή〉 σε διώκει. item drei Körnern in ähnlicher Weise, ebenso mit einem in ähn- digito medicinali varum contingens dices ter: vigaria licher Weise. Man sagt aber folgenden Spruch: ΚΥΡΙΑ gasaria varumque grano hordei ardenti aut stipula faeni ΚΥΡΙΑ ΚΑΣΣΑΡΙΑ ΣΟΥΡΩΡΒΙ. (193) Ebenso ist fol- aut palea ures. gendes Heilmittel wirksam: Man nimmt neun Gerstenkör- ner, sticht mit ihrer Spitze das Gerstenkorn und sagt jeweils beim Wechsel des Stiches folgenden Spruch: „Flieh, flieh, Gerstenkorn, 〈ein Gerstenkorn〉 verfolgt dich.“ Ebenso sagt man, indem man mit dem Ringfinger das Gerstenkorn be- rührt, dreimal VIGARIA GASARIA, und man brennt das Gerstenkorn mit einem brennenden Gerstenkorn, einem Heuhalm oder mit Spreu.

Dieser längere Abschnitt ist volksmedizinischen Be- wie häufig bei iatromagischen Beschwörungsformeln, die handlungsmethoden des landläufigGerstenkorn genannten Krankheit ausgetrieben werden (sog. evocatio morbi). Er Augenleidens gewidmet, einer (meist eitrigen) bakteriellen gehört zu einer speziellen Art des Analogiezaubers, näm- Infektion der Drüsen der Augenlider.2083 Nicht nur im Deut- lich zu der ἀδύνατα genannten Kategorie von Zauber- schen ist die Bezeichnung dieser Erkrankung vom Wort für sprüchen, die durch Parallelisierung von etwas Unmögli- ‚Gerste‘ abgeleitet, sondern auch im Griechischen (κριθή chem und dem erwünschten Nicht-Entstehen eines Unheils ‚Gerste‘ und ‚Gerstenkorn‘) und Lateinischen (hordiolus, dasselbe fernzuhalten suchen.2086 So wird hier mit nec mula hordeolum von hordeum ‚Gerste‘).2084 Zur Entfernung des parit auf das sprichwörtliche ἀδύνατον cum mula pepe- Gerstenkorns führt Marcellus insgesamt fünf incantamenta rit angespielt, was soviel wie „niemals“ bedeutet und der an. Zwei davon sind ohne weiteres verständlich, da sie in Redewendung ad Kalendas Graecas entspricht.2087 Der lateinischer respektive griechischer Sprache verfaßt sind. griechische Spruch in § 193 ist in den Handschriften als Mit dem lateinischen Spruch (in metrischer Form2085) soll, ΦΕΥΓΕ ΦΥΓΕ ΚΡΕΙΘΗΣΕ ΑΙΩΚΕΙ überliefert. Da

2083 S. dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Hordeolum (05.08.2010). 2086 S. dazu mit Beispielen He i m [1892] 491–495, Alf Ön n e r f o r s , 2084 Vgl. He i m [1892] 480 (zu Nr. 58), Me i d (1996a) 51 f. = Me i d Antike Zaubersprüche, Stuttgart 2003, 21 f. – An r e i t e r [2005] 59. 2087 S. dazu die Anmerkungen von He i m [1892] 493 f. A. 1, Alf 2085 Zum Versmaß s. die Bemerkungen bei He i m [1892] 545, 550 Ön n e r f o r s , Zaubersprüche in Texten der römischen und früh- und Max Ni e d e r m a n n – Eduard Li e c h t e n h a n , Marcellus. mittelalterlichen Medizin, in: Guy Sa bb a h (Hg.), Études de Über Heilmittel, übersetzt von Jutta Ko l l e s c h und Diethard médecine romaine (= Centre Jean-Palerne. Mémoires VIII), Ni c k e l (= Corpus Medicorum Latinorum V), 2 Bde., ²Berlin Sainte-Étienne 1988, 113–156, spez. 125 f., 144 A. 69, Alf 1968, 160 app. crit. Ön n e r f o r s , Antike Zaubersprüche, Stuttgart 2003, 21 A. 11. Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 365 in der magischen Begleithandlung das Gerstenkorn im daß air. regaid selbst kein Imperativ ist (die Befehlsform zu Auge mit echten Gerstenkörnern pungiert wird, hat Karl regaid lautet eirg).2094 Als halbwegs gesichert kann m. E. Di l t h e y die sehr plausible Emendation φεῦγε φεῦγε nur die Deutung von soro betrachtet werden. κριθή, 〈κριθή〉 σε διώκει vorgeschlagen.2088 Die drei an- Im Spruch κυρια κυρια κασσαρια σουρωρβι hat Hen- deren Sprüche (rica rica soro, κυρια κυρια κασσαρια ri d’Ar b o i s d e Ju b a i n v i l l e die griech. Wörter κυρια κυρια σουρωρβι und vigaria gasaria) hat man schon seit länge- κάσσα ῥία σου ὀρώρυγε erkennen wollen und diese mit rem für gallisch erachtet.2089 „madame, madame la courtisane, déchirez vos sommets“ Bereits 1930 hat Paul Ma r c h o t in soro das gall. Wort für übersetzt.2095 Ernstzunehmender als diese Deutung ist jene ‚Gerstenkorn‘ identifiziert, das in den romanischen Spra- von Ma r c h o t , der in σουρωρβι die Bezeichnung für ‚Ger- chen Fortsetzer gefunden hat (altwallonisch suron, frz. seu- stenkorn‘ (s. dazu oben) erkennt, hinter κασσαρια (das ron, frz. Dialekte Luxemburgs swaron, swaran, soiron).2090 dem gasaria der anderen Formel entspricht) ein gall. Wort Aufgrund dieser Formen sei für das Gallische ein n‑Stamm in der Bedeutung ‚agrément‘, ‚plaisir‘, ‚amusement‘ (vgl. *suron-, Nom. sg. *surū anzunehmen, und das σουρωρβι air. cas ‚agréable‘) vermutet und den Spruch als „bonjour, des in griechischen Lettern geschriebenen Spruches sei ein bonjour, [bien] du plaisir aux orgelets“ übersetzt.2096 Wie- aus σουρωνβι (*suron‑bi) verderbter Dat. pl.2091 In rica der eine andere Interpretation stammt von Me i d 2097: Das erkennt Ma r c h o t das gall. Wort für ‚Furche‘, ‚Streifen‘, griech. Wort κυρια habe hier die Bedeutung ‚Herrin‘ (= die ‚Strich‘ (> altfrz. roie, frz. raie; vgl. kymr. rhych, lat. por- wirkende Göttin) oder auch nur ‚mächtig‘, ‚zauberkräftig‘ ca < *pr̥kā) und übersetzt folglich den ganzen Spruch mit oder beides zugleich.2098 κασσαρια sei als eine hybride „une raie [et] une raie, orgelet“, was soviel wie „je te ‚si- Bildung anzusehen, mit dem lat. Suffix ariā ‑ und einem gne‘, orgelet“ bedeute.2092 Anders interpretiert rica Wolf- gall. Stamm *kass- (vgl. air. casair ‚Dorn‘, ‚Nadel‘, ‚klei- gang Me i d , der hierin eine funktional und semantisch dem ner Spieß‘ und lat. castrum, castrāre, aind. śástra- ‚Mes- griech. φεῦγε entsprechende imperativische Verbalform in ser‘, ‚Instrument zum Schneiden‘ < idg. *k̑ hes-, Ablautva- der Bedeutung ‚geh!‘, ‚geh weg!‘ sehen will. Er setzt eine riante *k̑ has- ‚schneiden‘ [recte: *k̑es- respektive *k̑as-; Imperativform *rigā an, die im Stamm der im Altirischen LIV² 329]). Der Spruch wäre in etwa mit „Herrin, Heraus- als Futur fungierenden Verbalformen regaid ‚er wird ge- stecherin der Gerstenkörner“ oder „mächtige, wirksame hen‘ < *rig‑ā‑ti eine Entsprechung finde. Die als *rigā rigā Herausstecherin der Gerstenkörner“ zu übersetzen. Entge- surū restituierte Formel wird von Me i d mit „geh, geh, Ger- gen diesen Deutungen, die in der Formel einen konkreten stenkorn“ übersetzt.2093 Wie Alderik H. Bl o m zu Recht fest- Sinn suchen, hat Alderik H. Bl o m darauf hingewiesen, daß stellte, hat diese Erklärung freilich den Schönheitsfehler, in Zauberpapyri die Anrufung κυρία häufig sinnlosen vo-

2088 Karl Di l t h e y , Drei Votivhände aus Bronze, Archaeologisch- 2091 Ma r c h o t , a.a.O. 349 f., vgl. We i s g e r b e r (1931a) 156, 209, Epigraphische Mittheilungen aus Österreich 2 (1878) 44–65, Me i d (1996a) 52 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 59 f. und Bl o m spez. 49 A. 10; vgl. dazu Ni e d e r m a n n – Eduard Li e c h t e n h a n , [2007] 72. a.a.O. 160 + app. crit. und Me i d (1996a) 52 + A. 107 = Me i d – 2092 Ma r c h o t , a.a.O. 350 mit Verweis auf Do t t i n (1920) 281 für An r e i t e r [2005] 59 + A. 113. – Anders He i m [1892] 480, der die Etymologie von rica. Vgl. auch We i s g e r b e r (1931a) 156, zu φεῦγε φεῦγε κριθή, κρείων (oder: κρείττων) σε διώκει 208, La mb e r t (1997) 198. verbessern wollte. 2093 Me i d (1996a) 53 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 60 f. 2089 So bereits Adolphe Pi c t e t , in: Jacob Gr i mm , Über die Mar- 2094 Bl o m [2007] 98 mit Verweis auf Stefan Sc h u m a c h e r , Die kelti- cellischen formeln, in: Kleinere Schriften II: Abhandlungen schen Primärverben. Ein vergleichendes, etymologisches und mor- zur Mythologie und Sittenkunde, Berlin 1865, 152–172, spez. phologisches Lexikon (= IBS 110), Innsbruck 2004, 548–550. 162–164, dessen Etymologien freilich völlig unhaltbar sind. 2095 Henri d’Ar b o i s d e Ju b a i n v i l l e , J. Grimm et Marcellus de Bor- – Die drei Formeln entsprechen den Nr. 183–185 bei He i m deaux, Mémoires de la société de linguistique de Paris 2 (1875) [1892] 531 und den Nr. 4–6 der als gallisch betrachteten For- 66–69, spez. 68 [non vidi!, ich referiere nach Bl o m [2007] 72]. meln des Marcellus bei Do t t i n (1920) 214. Verwunderlich ist 2096 Ma r c h o t , a.a.O. 350; s. dazu auch Ha a s (1949) 52 A. 5, Bl o m es daher, daß Zw i c k e r 115 nur den Spruch vigaria gasaria be- [2007] 72. Skeptisch hinsichtlich der Deutung von κασσαρια/ rücksichtigt hat. – Zur Be- und Verwertung dieser und anderer gasaria ist We i s g e r b e r (1931a) 156. magischer Formeln als Zeugnisse für die gallische Sprache 2097 Me i d (1996a) 54 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 61; s. dazu und Volksmedizin s. die prinzipiellen Bemerkungen in der James Noel Ad a m s , Bilingualism and the Latin Language, Einleitung zu Marcellus [114]. ²Cambridge 2005, 194 f., Bl o m [2007] 72 f. 2090 Paul Ma r c h o t , Les formules de Marcellus de Bordeaux pour 2098 Zu vergleichen ist potnia ‚Herrin‘ in einem anderen Spruch les orgelets, Zeitschrift für romanische Philologie 50 (1930) bei Marc. Emp. de med. 29, 45 [114 T 13]: potnia trebio 348–350, spez. 349. telepaho. 366 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen ces magicae vorangestellt ist.2099 Er vertritt m. E. zu Recht Wolfgang Me i d übernimmt Ma r c h o t s Gleichsetzung von die Ansicht, daß in κυρια κυρια κασσαρια σουρωρβι ein gasaria mit κασσαρια. Für vigaria seien zwei Deutungen Fall von „gradual ‘magicalisation’ (‘corruption on purpo- denkbar, entweder eine Beziehung zu lat. vigor – was eine se’) of (an) existing element(s)“ vorliege, „with repetition, Bedeutung ‚kräftig‘ suggerieren würde – oder aber eine variation, and sudden ‘alienation’ in the fourth term“2100, Femininbildung zu lat. ‚der den Platz einnimmt‘, vergleichbar dem absi absa phereos und absis paphar ‚Stellvertreter‘ mit Lenierung des c wie in gasaria. Frei- (Marc. Emp. de med. 31, 33). lich räumt Me i d ein, daß ihn diese Interpretation wegen des Die letzte Beschwörungsformel lautet vigaria gasaria. Reimwortcharakters des Spruches nicht ganz befriedigt.2103 Ma r c h o t hat gasaria mit dem κασσαρια des Spruches Zu bedenken ist ferner, daß es sich um ein typisches Bei- in § 192 gleichgesetzt, für vigaria die Bedeutung ‚force‘, spiel für einen zweiteiligen Zauberspruch handelt, bei ‚vigeur‘, ‚santé‘ (von einem Stamm vig-, wie in lat. vigere, dem eine vox magica in geringfügiger Variation wieder- vigor) erwogen und den Spruch mit „bonne santé, [bien] holt wird. Vergleichen lassen sich andere incantamenta du plaisir [aux orgelets]“ übersetzt.2101 Dagegen verbin- wie σοκσοκαμ συκυμα bei Marcellus (de med. 10, 69 det Otto Ha a s vigaria mit air. frecre ‚Antwort‘ (recte: [114 T 8]) oder λαμψουρη λαμψουχνι und νεννανα frecra(e), dem Verbalnomen von fris·gair) sowie air. focre σεννανα (auf Papyri).2104 Ich denke, daß man vigaria ga- ‚Verkündigung‘ (recte: fócra(e), fúacra, dem Verbalnomen saria als sinnlose Worte der magischen Sprache (Ephesiae von fo·ócair, fúacair) und deutet *ui‑gariā (mit einem litterae) zu betrachten hat, die sich einer Erklärung aus Prefix ui ‚auseinander‘) als ‚Weg-Spruch‘,̑ ̑ ‚Absage‘.2102 dem Gallischen (oder dem Lateinischen) entziehen. ̑

114 T 6 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 10, 34 p. 196,13–16 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : scribes carmen hoc in charta virgine et linteo ligabis et me- Man schreibt folgenden Spruch auf ein unbeschriebenes dium cinges eum vel eam, quae patietur de qualibet parte Blatt Papyrus (das man mit einem Faden zusammenbindet corporis sanguinis fluxum: SICYCVMA CVCVMA VCV- und in der Taille dem Mann oder der Frau umbindet, die an MA CVMA VMA MA A. Blutfluß aus einem beliebigen Körperteil leidet): SICYCV- MA CVCVMA VCVMA CVMA VMA MA A.

Dieser bei Blutfluß wirksame Spruch bedient sich der *exī cycuma etc. [C]ycuma selbst ist, wie die folgenden Ver- auch aus anderen voces magicae bekannten Technik der Re- kürzungen zeigen, als *cucuma zu interpretieren.“2106 Der duktion auf Null.2105 In Analogie zum sukzessive geringer Wechsel von y und u (und i bei cicuma im Spruch Marc. werdenden Wortkörper soll auch die Krankheit schwinden de med. 8, 64 [114 T 3]) deute auf griechischen Einfluß in und schließlich ganz verschwinden. Wolfgang Me i d hat nun der Schrift hin, was durch eine andere Formel bei Marcel- vermutet, daß das erste Wort in dieser Formel „als si cycuma lus (de med. 10, 69 [114 T 8]: σοκσοκαμ συκυμα) bestä- zu verstehen ist, worin si den Befehl enthielte. si könnte, un- tigt werde, in der dasselbe Wort enthalten zu sein scheint. ter gleichzeitiger Annahme einer Lautentwicklung ks > s(s), Me i d folgert aus dem letztgenannten Text, „daß das Wort als eine verkürzte Form von *exī aufgefaßt werden; folglich eigentlich mit s- anlautet: *sucuma, und daß die Varianten

2099 Bl o m [2007] 98 + A. 261 mit Verweis auf die Untersuchung von 2102 Ha a s (1949) 53 f.; die Korrekturen an den air. Formen ver- Richard He i m , De rebus magicis Marcelli medici, in: Schedae danke ich Bl o m [2007] 73 und mündlichen Mitteilungen von philologae Hermanno Usener a sodalibus seminarii regii Bon- Dr. David St i f t e r . nensis oblatae, Bonn 1891, 119–137, spez. 134. 2103 Me i d (1996a) 55 = Me i d – An r e i t e r [2005] 61 f.; vgl. dazu 2100 Bl o m [2007] 98 = Bl o m [2009b] 18. Bl o m [2007] 73. 2101 Ma r c h o t , a.a.O. 350. Für We i s g e r b e r (1931a) 156 „schwe- 2104 S. dazu Bl o m [2007] 97. ben die Deutungen von κασσαρια/gasaria und vigaria in der 2105 S. dazu He i m [1892] 491 Nr. 97, Me i d (1996a) 48 = Me i d – Luft.“ An r e i t e r [2005] 56. 2106 Me i d (1996a) 48 = Me i d – An r e i t e r [2005] 56. Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 367 cicuma, cycuma, cucuma auf der Mißdeutung eines griechi- de med. 8, 64 [114 T 3]) wurde, ein hypothetisches gall. schen lunaren Sigma ( ) als lateinisch C beruhen.“2107 Je- Wort *suc(u)mā, mit dem in den iatromagischen Formeln denfalls rekonstruiert er, wie bereits oben vermerkt (Marc. die auszutreibende Flüssigkeit bezeichnet sei.

114 T 7 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 10, 55 f. p. 198,14–20 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : carmen ad profluvium sanguinis ex quocumque membro Ein Spruch gegen den Fluß von Blut, das aus jedem belie- manantis: locum, ex quo defluit, digito medicinali tanges bigen Glied fließt: Die Stelle, aus der es fließt, berührt man et vicies septies dices et quotiens volueris repetes, donec mit dem Ringfinger, sagt siebenundzwanzigmal und wie- fluorem pervincas: SOCNON SOCNON; mire prodest. derholt es, sooft man will, bis man den Fluß völlig gestillt (56) pollicem et medicinalem digitum a fronte usque ad ce- hat: SOCNON SOCNON; es nützt wunderbar. (56) Man rebrum et inde usque ad cervicem duces et nonagies novies führt Daumen und Ringfinger von der Stirn zum Schädel dices: SIRMIO SIRMIO; quod ad aurem eius partis dici und von da bis zum Nacken und sagt neunundneunzigmal: oportet, de qua nare sanguis propensius fluit. SIRMIO SIRMIO; das muß zum Ohr auf der Seite gesagt werden, auf der aus dem Nasenloch das Blut stärker fließt.

In diesem Abschnitt werden zwei incantamenta2108 ge- schon vorkeltisch, da gleiche oder ähnliche Bildungen nannt, die zwecks Stillung von Blutfluß gebetsmühlenar- nicht nur im keltischen Einzugsbereich, sondern auch wei- tig aufzusagen waren. Das socnon des ersten Spruches hat ter gestreut vorkommen“2111 (genannt werden als Beispiele Wolfgang Me i d als *sok‑n‑on analysiert und darin einen der oberitalische ON Sirmio, der pannonische ON Sirmi- gallischen Imperativ auf -on2109 in der Bedeutung ‚versie- um und der thrakische FlN Σέρμιος). Es muß wohl kaum ge!‘ oder ‚es (das Blut) versiege!‘ sehen wollen, wobei das betont werden, daß diese Deutungen sehr spekulativ sind. Wort von derselben Wurzel wie cycuma = *sucuma (de med. Wie Alderik H. Bl o m zu Recht vermerkt hat, liegen hier 10, 34 [114 T 6]) und συκυμα (de med. 10, 69 [114 T 8]) zwei typische Zauberformeln mit wörtlicher Wiederholung abzuleiten sei. Der folgende Spruch sirmio sirmio kann einer vox magica vor, weswegen zu bedenken sei: „This in für Me i d „nichts anderes als ‘Fließen, Fließen’ bedeuten itself may not render full translation and straightforward […], zu verstehen als eine nachdrückliche Beschwörung meaning impossible, but a good deal of imagination has to des Fließens aufzuhören.“2110 Freilich ist das Wort sirmio, be used for the etymology proposed for sirmio as an Old das für eine Bildung von der Wurzel *ser- ‚fließen‘ an- European root *ser- ‘flow’, which is not attested in any gesehen wird, „nicht notwendigerweise keltisch, sondern known Celtic language.“2112

2107 Me i d (1996a) 49 = Me i d – An r e i t e r [2005] 57. 2110 Me i d (1996a) 51 = Me i d – An r e i t e r [2005] 58. – In seiner Rez. 2108 Sie finden sich unter den von He i m [1892] 531 f. Nr. 186 f. von Me i d (1996a) vermerkt hiezu Fritz Lo c h n e r v o n Hü t t e n b a c h , zusammengestellten Beispielen für Ἐφέσια γράμματα. – Kratylos 44 (1999) 220: „Den Spruch Marc. X [scil. 56] sirmio Do t t i n (1920) 214 hat sie nicht aufgenommen. sirmio erklärt M[eid] als „Fließen, Fließen“ (zu *ser-), „als eine 2109 Me i d (1996a) 49 A. 99 = Me i d – An r e i t e r [2005] 57 A. 105 nachdrückliche Beschwörung des Fließens, aufzuhören“ (51); verweist auf extincon und bataron auf dem Teller von Lezoux kann es sich aber nicht eher, besonders im Hinblick auf Marc. als mögliche Imperativformen. Dazu vermerkt Bl o m [2007] VIII 170 tetunc resonco bregan gresso „dich, somit, Partikel, 74 A. 96 einschränkend, „that one of the few attested impera- schwemme ich heraus durch massierendes Reiben“ (so M[eid] S. tives in ‑on, bataron, is now thought to be a gen. pl. noun with 50 sehr plausibel), um eine Aufforderung zum Fließen handeln, agent noun-suffix […]. In fact, the idea of Gaulish imperati- um einen Fremdkörper, etwa aus dem Auge, zu entfernen?“ ves in ‑on was probably triggered by the Greek imperatives 2111 Me i d (1996a) 51 = Me i d – An r e i t e r [2005] 58 f. 3pl. in -ων or by 2sg. aorist imperatives in ‑σον.“ 2112 Bl o m [2007] 97. 368 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen

114 T 8 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 10, 69 p. 200,13–15 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : ad aurem eisdem partis, de qua per narem sanguis fluit, dici Zum Ohr auf der Seite, auf der aus der Nase Blut fließt, oportet ter novies: ΣΟΚΣΟΚΑΜ ΣΥΚΥΜΑ; etiam po- muß dreimal neunmal gesagt werden: ΣΟΚΣΟΚΑΜ stea similiter dices. ΣΥΚΥΜΑ; auch später sagt man es in ähnlicher Weise.

Marcellus bringt hier eine weitere Beschwörungsfor- riation wiederholt. Dieses Muster läßt sich auch bei ande- mel2113, mit der Blutfluß gestillt werden soll (vgl. de med. ren Zaubersprüchen in de medicamentis (8, 193 [114 T 5]: 10, 34 [114 T 6] und 10, 55 f. [114 T 7]). Die in griechi- vigaria gasaria), in defixiones und Papyri (etwa λαμψουρη schen Buchstaben geschriebenen Zauberworte σοκσοκαμ λαμψουχνι, τουχαρ σουχαρ (σαβαχαρ) und νεννανα συκυμα hat Wolfgang Me i d als gallisch analysiert, eine sehr σεννανα) beobachten.2115 Die Formel σοκσοκαμ συκυμα hypothetische und mich keineswegs überzeugende Deutung, ist jedenfalls ein typisches Beispiel für magische Sprache; die bereits weiter oben diskutiert wurde.2114 In vorliegendem hieraus gallisches Sprachmaterial gewinnen zu wollen, muß Spruch wird eine vox magica einmal mit geringfügiger Va- m. E. ein hoffnungsloses Unterfangen bleiben.2116

114 T 9 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 12, 24 p. 218,15–17 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n ; Zw i c k e r 115: carmen ad dentium dolorem mirificum de experimento. Ein Spruch gegen Zahnschmerzen, der nach gemachter Er- luna decrescente die Martis sive die Iovis haec verba dices fahrung wunderbar ist. Man sagt bei abnehmendem Mond septies: argidam margidam stVrgidam. am Tag des Mars oder am Tag des Iuppiter folgende Worte siebenmal: ARGIDAM MARGIDAM STVRGIDAM.

Marcellus empfiehlt hier als probates Mittel gegen Zahn- ten möchte, mit lat. margidus (= marcidus) ‚morsch‘, ‚welk‘ schmerzen einen Zauberspruch, der an einem Dienstag oder zu verbinden. Für das letzte Wort sturgidam zieht er das Donnerstag bei abnehmendem Mond siebenmal aufzusagen sizilianische sturnari ‚betäuben‘ zum Vergleich heran. Au- war. Auch diese Beschwörungsformel wurde unterschied- ßerdem hält es Kn o b l o c h für möglich, daß die Dreierformel lich gedeutet.2117 Eine Erklärung aus dem Lateinischen hat aus einer ursprünglichen Viererformel argidam margidam Johann Kn o b l o c h versucht.2118 Das erste Element argidam turgidam sturgidam entstanden ist, wobei mit turgidam auf stellt er zu lat. argūtāre ‚bedrängen‘, argūtārī ‚mit den Fü- die Schwellung der Backe (turgida bucca) Bezug genom- ßen stampfen (vom Walker)‘, wozu ein (sonst nicht beleg- men werde. All diese Überlegungen sind natürlich höchst- tes!) Adjektiv *argidus denkbar sei, das auf den drückenden, gradig spekulativ. Der Annahme eines vierteiligen Spruchs stumpfen Zahnschmerz hinweise. Das zweite Wort margi- steht übrigens entgegen, daß die Beschwörungsformeln in dam sei, sofern man es nicht als sinnloses Reimwort betrach- der Regel aus drei Elementen bestehen.2119 Eine etwas ande-

2113 He i m [1892] 532 Nr. 188 hat die Formel unter den Beispielen 2117 Sie findet sich unter den Beispielen für Ἐφέσια γράμματα für Ἐφέσια γράμματα angeführt. – Bei Do t t i n (1920) ist in der Sammlung von He i m [1892] 532 Nr. 190 und bei Do t t i n die vorliegende Stelle zwar nicht unter den für gallisch erach- (1920) 214 (Nr. 7) unter den für gallisch erachteten Formeln teten „Formules de Marcellus de Bordeaux“ (S. 214), dafür des Marcellus. – Nur als Kuriosum sei die veraltete Deutung aber im „Glossaire gaulois“ (S. 288) zu finden. von Adolphe Pi c t e t , in: Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen 2114 S. dazu Me i d (1996a) 48 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 56 f. formeln, in: Kleinere Schriften II: Abhandlungen zur Mytho- und die Kommentare zu Marc. Emp. de med. 8, 64 [114 T 3] logie und Sittenkunde, Berlin 1865, 152–172, spez. 165 zi- und 10, 34 [114 T 6]. tiert: „Je divise argi dam. margi dam. sturgi dam. et je traduis: 2115 Die genannten Beispiele entnehme ich Bl o m [2007] 97 = chasse la douleur, déplore (ou maudis) la douleur, dissipe la Bl o m [2009b] 18. douleur!“ 2116 Zur Be- und Verwertung dieser und anderer magischer Formeln 2118 Johann Kn o b l o c h , Ein lateinischer Zauberspruch bei Marcel- als Zeugnisse für die gallische Sprache und Volksmedizin s. die lus Empirius, RhM 132 (1989) 408 f. prinzipiellen Bemerkungen in der Einleitung zu Marcellus [114]. 2119 So der berechtigte Einwand von Bl o m [2007] 97 f. Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 369 re Interpretation hat Wolfgang Me i d vorgeschlagen. Für ihn beweisbare Hypothesen nicht hinauskommen. Zu bedenken macht der reimhafte Spruch „den Eindruck gallisch-lateini- ist vor allem, daß es sich bei argidam margidam sturgidam scher Mischsprache2120: margidam wahrscheinlich ‘morsch, um Wörter der magischen Sprache handelt, für die Wort- faul’, zu lateinisch marcēre ‘welk, schlaff sein’, marcidus wiederholung mit geringfügiger Alternation, Assonanz und mit Verwandten in mehreren Sprachen, darunter Keltisch Reimbildung ganz typisch ist (man vgl. etwa Marc. Emp. und Germanisch; sturgidam erinnert an lateinisch turgēre de med. 14, 24 [114 T 10]: crissi crasi cancrasi; de med. ‘schwellen’, turgidus. Das erste Wort vielleicht zu lateinisch 28, 73: alabanda alabandi alambo).2122 Da diese voces ma- arcēre, so daß der Sinn wäre, Fäulnis und Schwellung ab- gicae nicht den Regeln kolloquialer Sprache gehorchen, las- zuwehren, fernzuhalten. Aber das ist bei dem Charakter des sen sie sich, wenn überhaupt, nur unter großen Vorbehalten Spruches Spekulation.“2121 In der Tat wird man hier über un- als Zeugnisse für die gallische Sprache heranziehen.2123

114 T 10 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 14, 24 p. 236,3–5 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : carmen ad uvae dolorem, quod ipse sibi qui dolet praecan- Ein Spruch gegen Zäpfchenschmerz, den sich derjenige, tat, et manus supinas a gutture usque ad cerebrum coniunc- der Schmerzen hat, selbst vorsprechen soll, und zwar soll tis digitis ducens dicat: CRISSI CRASI CANCRASI. er, während er die Hände mit dem Rücken nach unten mit verschränkten Fingern von der Kehle bis zum Schädel führt, sagen: CRISSI CRASI CANCRASI.

Dieser gegen Schmerzen am Zäpfchen (lat. uva) wirksa- bleiben, ob sich aus diesen Ἐφέσια γράμματα keltisches me Spruch wurde bereits von Adolphe Pi c t e t für gallisch Sprachgut gewinnen läßt.2127 Jedenfalls weist die Bespre- erklärt und auch in Georges Do t t i n s La Langue Gauloise chungsformel crissi crasi cancrasi einige Elemente auf, unter den einschlägigen Zeugnissen verzeichnet.2124 Für die für Zaubersprüche (aber auch für Kinderverse) typisch Wolfgang Me i d schließlich ist die Grundlage der Formel sind: Reimbildung, Wortwiederholung, Assonanz, Allite- crissi crasi cancrasi das gallische „lexematische Element ration und spielerische Vokalalternation von i und a (wie *kriss- für Vibrieren, massierendes Reiben2125 […]. Im in den deutschen Wortbildungen zick‑zack, misch‑masch, Ablaut mag noch ein assoziativer Anklang an lateinisch pitschi‑patschi usw.).2128 Alderik H. Bl o m hat in diesem crassus ‘dick, derb’ dazukommen (das Zäpfchen ist ja Zusammenhang auf vergleichbare voces magicae in Zau- geschwollen), und in das letzte Wort ist zweifellos latei- berpapyri (etwa λαμψουρη λαμψουχνι oder μελιβου nisch cancer ‘Krebs’ eingeblendet, das Wort, das außer μελιβου μελιβαυβαυ) oder bei Marcellus (etwa de med. dem Tier Krebs ja auch ein Geschwür oder Geschwulst 12, 24 [114 T 9]: argidam margidam sturgidam; de med. bezeichnet.“2126 Allerdings muß es m. E. doch sehr fraglich 28, 73: alabanda alabandi alambo) hingewiesen.2129

2120 Bereits Ho l d e r hat die Wörter sturgidam (II 1641) und ar- freilich – aus heutiger Sicht – abenteuerlichen Etymologien), gidam (III 682; mit Fragezeichen) in seinen Alt-celtischen Do t t i n (1920) 214. Sprachschatz aufgenommen. Im Glossaire gaulois von Do t - 2125 Vgl. dazu auch Me i d s Interpretation von gresso in einem an- t i n (1920) findet sichargidam (228) und sturgidam (289: „lat. deren Spruch bei Marcellus (de med. 8, 170 [114 T 4]: tetunc turgidam ?“). resonco bregan gresso) sowie die dort gegen diese Deutung 2121 Me i d (1996a) 56 = Me i d – An r e i t e r [2005] 62 f. (es folgen S. vorgebrachten prinzipiellen Einwände. 63 A. 121 weiterführende Überlegungen zum aus dem Galli- 2126 Me i d (1996a) 55 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 62. schen entlehnten lat. Wort marga ‚Mergel‘). 2127 Zur Be- und Verwertung dieser und anderer magischer For- 2122 S. dazu Bl o m [2007] 97 f. meln als Zeugnisse für die gallische Sprache und Volksme- 2123 S. dazu die prinzipiellen Bemerkungen in der Einleitung zu dizin s. die prinzipiellen Bemerkungen in der Einleitung zu Marcellus [114]. Marcellus [114]. 2124 Adolphe Pi c t e t , in: Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen for- 2128 Vgl. dazu Ha a s (1949) 52, Me i d (1996a) 55 = Me i d – An r e i - meln, in: Kleinere Schriften II: Abhandlungen zur Mytholo- t e r [2005] 62, Bl o m [2007] 75, 97. gie und Sittenkunde, Berlin 1865, 152–172, spez. 165 f. (mit 2129 Bl o m [2007] 97, Bl o m [2009b] 18. 370 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen

114 T 11 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 15, 105 f. p. 266,18–23 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : omnia, quae haeserint faucibus, hoc carmen expellet: Alle Fremdkörper, die im Rachen hängengeblieben sind, HEILEN PROSAGGERI VOME SI POLLA NABVLIET vertreibt folgender Spruch: HEILEN PROSAGGERI ONODIENI IDEN ELITON. hoc ter dices et ad singula VOME SI POLLA NABVLIET ONODIENI IDEN ELI- expues. (106) item fauces, quibus aliquid inhaeserit, conf- TON. Dies sagt man dreimal und spuckt bei jedem Mal ricans dices: XI EXVCRICONE XV CRIGLIONAISVS aus. (106) Ebenso sagt man, indem man den Rachen, in SCRISVMIOVELOR EXVCRICONE XV GRILAV. dem etwas hängengeblieben ist, reibt: XI EXVCRICONE XV CRIGLIONAISVS SCRISVMIOVELOR EXVCRI- CONE XV GRILAV.

An dieser Stelle werden zwei längere Besprechungsfor- Deutungsversuch gleichwohl sehr skeptisch gegenüber. meln gebracht, die beide der Entfernung von Fremdkörpern So bemerkt James Noel Ad a m s dazu, „that a good deal of aus dem Rachenbereich dienen. Für den ersten Spruch hei- imagination must be used to establish connections between len prosaggeri vome si polla nabuliet onodieni iden eliton2130 some of the terms in the text and the classical languages, and hat Wolfgang Me i d den Versuch einer Deutung unternom- I would not wish to press these interpretations.“2132 Ähnlich men.2131 Seiner Ansicht nach liegt hier griechisch-lateinische äußert sich auch Alderik H. Bl o m , für den „Meid’s analysis oder griechisch-lateinisch-gallische Mischsprache vor. Als of the other terms as (admittedly considerably corrupted) re- lateinisch wird die Imperativform vome ‚spei aus‘ identifi- sidual lexemes from (a possibly obsolete) Gaulish, certainly ziert; prosaggeri verrate griechischen Einfluß: pros = πρός; demands some stretch of imagination. None of the suggested die Schreibung mit gg deute auf ursprüngliches γγ mit dem etymologies are plausibly Gaulish. Additionally, Meid’s ob- Lautwert ng /ŋ/ hin, wobei in diesem Fall aggeri (= ange- servation that this charm bears a closer resemblance to ‘eine ri) als entstellte Form von lat. angor ‚Enge‘ interpretiert therapeutische Anweisung’ rather than to a ‘Besprechungs- werden könne. Als weitere griech. Elemente werden polla formel’ also speaks against interpreting it as a meaningful (= πολλά), heilen und eliton (vgl. ἑλεῖν, Aorist von αἱρέω whole. To the best of my knowledge no other charm from ‚(weg)nehmen‘, respektive dem davon abgeleiteten ἑλετόν) the antique corpus takes the form of such a ‘therapeutische bestimmt; nabuliet sei als eine Verbalform zu betrachten; Anweisung’. In all, it seems wiser to reject Meid’s ‘trans- onodieni und iden schließlich könnten gallisch sein, ersteres lation’ altogether.“2133 Diesen Vorbehalten ist m. E. nur zu- vielleicht eine Zeit- oder Ortsangabe, zweiteres ein dem lat. zustimmen. Gallisches Sprachgut sucht man in diesem Text idem entsprechendes Pronomen. Der Sinn des Spruches wird wohl vergeblich.2134 folgendermaßen paraphrasiert: „Entfernung (des Fremdkör- Ähnliche Probleme bereitet der zweite Spruch, der frei- pers). Speie ihn aus durch die Kehle; wenn viel drinnen lich ungleich mehr Aufmerksamkeit als der erste Spruch steckt, muß man dies herausholen.“ Freilich räumt Me i d ein, erfahren hat und von allen Formeln des Marcellus vermut- daß es sich hierbei nicht um eine vollschlüssige Interpreta- lich am intensivsten untersucht wurde. Erstaunlich viele tion oder gar eine Übersetzung handelt. Außerdem weist er Sprachwissenschaftler haben sich bemüht, diesen Worten darauf hin, daß nach seiner Analyse der Text weniger einer einen Sinn abzuringen. Zu nennen sind die Arbeiten (in Beschwörungsformel als vielmehr einer therapeutischen chronologischer Folge ihres Erscheinens) von Adolphe Pi c - Anweisung entspricht. Die jüngere Forschung steht Me i d s t e t , Otto Ha a s , Emil Ve t t e r , Gustav Mu s t , Vittore Pi s a n i ,

2130 Er ist aufgenommen bei He i m [1892] 532 Nr. 192 und Do t t i n the Latin Language, ²Cambridge 2005, 195 und Bl o m [2007] (1920) 214 Nr. 9. – Nur verwiesen sei auf die aus heutiger 75, Bl o m [2009b] 15. Sicht unhaltbare Ausdeutung des Spruchs durch Adolphe 2132 Ad a m s , a.a.O. 195. Pi c t e t , in: Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen formeln, in: 2133 Bl o m [2007] 100; vgl. Bl o m [2009b] 19. Kleinere Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie und Sit- 2134 So auch La mb e r t (1997) 178 über den vorliegenden Spruch: tenkunde, Berlin 1865, 152–172, spez. 167–169. „La première phrase ne paraît pas du tout celtique.“ 2131 Me i d (1996a) 58–60 = Me i d – An r e i t e r [2005] 64 f.; vgl. dazu die Referate bei James Noel Ad a m s , Bilingualism and Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 371

Léon Fl e u r i o t , Wolfgang Me i d , Pierre-Yves La mb e r t und Patient die als *exucri con‑exucri glion. Aisus, scrisumio Alderik H. Bl o m .2135 Es würde hier zu weit führen, diese velor! exugri con‑exugri lau („Fuis, va‑t‑en, chose collan- teilweise beträchtlich voneinander abweichenden Deutun- te! Aisus, je veux cracher! Fuis, va‑t‑en, mal!“) restituierte gen im Detail zu besprechen.2136 Ich beschränke mich daher Formel aufsagen.2141 Zu keiner eindeutigen Lösung kommt auf einige wesentliche Bemerkungen. Betont werden muß Wolfgang Me i d , der aber dennoch (unbeschadet etwaiger zunächst, daß der in der maßgeblichen Marcellus-Edition innerer Variationen und kleinerer Korruptelen) eine klare gedruckte Text xi exucricone xu criglionaisus scrisumiove- Gesamtstruktur erkennen möchte. Er sieht eine gegliederte lor exucricone xu grilau auf einer Konjektur von Max Ni e - Abfolge vorliegen, mit dem (gall. oder lat.) Imperativ *exī d e r m a n n beruht. Statt exucricone xu hat die Überlieferung ‚gehe hinaus!‘ „an erster Stelle und dann wiederholtem exu (Parisinus Lat. 6880 und Laudunensis 420) nämlich exu- ‚heraus‘ + Nomen in wiederholter Folge, wobei hinsichtlich gri conexu.2137 Darüber hinaus waren die modernen Inter- dieses Nomens, das für den affizierten Bereich der Luftröh- preten des Spruchs gezwungen, noch andere Emendationen re steht, entweder variierende (teilsynonyme) Termini oder und vom handschriftlichen Befund divergierende Worttren- jeweils ein und dasselbe Wort (cricon), durch Verderbnisse nungen vorzuschlagen, um die vorliegenden voces magicae teilweise entstellt, angenommen werden können. Also wir überhaupt als sinnvolle Worte deuten zu können. Otto Ha a s hätten entweder die variierende Abfolge *exi exu cricon/ exu beispielsweise bringt den Text als *xi e xu cricone/ xu crig- grilon (o.ä.)/ exu scrissum … und dann wieder exu cricon/ lionai sus scrisu miovelore/ xu gricone/ xu grilau und die exu grilon oder eine einheitliche Abfolge mit ständiger Wie- approximative Übersetzung „tfi-e-tfui dem Hals/ (Spucken) derholung von exu cricon, nur einmal unterbrochen durch dem Schlund …/ (Spucken) dem Hals/ (Spucken) der Keh- mio oder io velor: *exi exu cricon/ exu cricon usw.“2142 Sehr le.“2138 Gustav Mu s t separiert dagegen *xi exu cricon, exu zurückhaltend urteilt Alderik H. Bl o m , der nur wenige Ele- criglion, Aisus, scri-su mio velor exu gricon, exu grilau, was mente für halbwegs sicher identifizierbar hält: „It is possible in etwa folgende Bedeutung haben soll: „Rub out the throat, to separate out a Latin impv. (e)xī, which fits the general out of the gullet, Aisus, remove thou thyself my evil out of pattern of performative verb forms (such as fuge, etc.) at the throat, out of the gorge.“2139 Wieder anders Vittore Pi s a n i , the start of an incantation. A second recognisable element der *xi exu cricon exu criglion; aisus scrisu mi ovelor; exu is the repeated exu, which Vetter and Meid2143 identified as cricon, exu griglion liest und mit „Go forth out of the neck, an (otherwise unattested) Gaulish preposition ‘out (of)’ or out of the throat; I flee to the Gods in order that they help adverb ‘outside’. More likely it is an alternation of Lat exī as me; out of the neck, out of the throat“ übersetzt.2140 Léon in exi exu … exu along the linges of absi absa … absis [bei Fl e u r i o t interpretiert das XI zu Beginn der Formel als rö- Marc. Emp. de med. 29, 33]. Apart from the repeated word misches Zahlzeichen ‚elf‘; so viele Male soll nämlich der cricon2144 the other words are even more difficult to seperate

2135 Adolphe Pi c t e t , in: Jacob Gr i mm , Über die Marcellischen for- Leipzig erschienene) Ausgabe dessen neue Lesungen nicht meln, in: Kleinere Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie übernommen hat. – Zur handschriftlichen Überlieferung s. und Sittenkunde, Berlin 1865, 152–172, spez. 169 f., Ha a s auch Fl e u r i o t (1974/75a) 58 f. (1949) 50–53, Ve t t e r (1957) 271–275, Mu s t (1960) 193–197, 2138 Ha a s (1949) 53. Pi s a n i (1961) 49–51, Fl e u r i o t (1974/75a) 57–63, Me i d (1996a) 2139 Mu s t (1960) 197. 60–63 = Me i d – An r e i t e r [2005] 65–68, La mb e r t (1997) 177 f., 2140 Pi s a n i (1961) 50. Bl o m [2007] 76–80, 100, Bl o m [2009b] 19. 2141 Fl e u r i o t (1974/75a) 59, 63. – Die Annahme, daß in XI das rö- 2136 Ich referiere nur die Ergebnisse dieser Analysen, die auf zum mische Zahlzeichen zu suchen sei, ist sehr unwahrscheinlich. Wie Teil sehr komplexen sprachlichen Überlegungen beruhen, auf Bl o m [2007] 76 A. 112 zu Recht vermerkt, sind diese Angaben bei die hier aber nicht eingegangen werden kann. Eine sehr gute Marcellus sonst immer ausgeschrieben; vgl. etwa nur die hier auf- Zusammenfassung der diversen Interpretationen bietet Bl o m genommenen Stellen de med. 8, 64 [114 T 3]; 8, 170 f. [114 T 4]; [2007] 76–80. 8, 191–193 [114 T 5], 10, 55 [114 T 7]; 10, 69 [114 T 8]; 12, 24 2137 Max Ni e d e r m a n n – Eduard Li e c h t e n h a n , Marcellus. Über [114 T 9]; 29, 45 [114 T 13]. Heilmittel, übersetzt von Jutta Ko l l e s c h und Diethard Ni c k e l 2142 Me i d (1996a) 62 f. = Me i d – An r e i t e r [2005] 67. (= Corpus Medicorum Latinorum V), 2 Bde., ²Berlin 1968, 2143 Ve t t e r (1957) 273, Me i d (1996a) 61 = Me i d – An r e i t e r 266 + app. crit. – Sowohl He i m [1892] 532 Nr. 192 wie auch [2005] 66. Do t t i n (1920) 214 Nr. 10 geben den Spruch in der Form 2144 Daß das Wort ‚Hals‘ (< *kṛko-, vgl. aind. kṛkas, tschech. krk xi exucrione xu criglionalsus [sic!] scrisu miovelor exugri ‚Hals‘) bedeuten muß, hat bereits Pi c t e t , a.a.O. 170 erkannt; conexu grilau wieder. Es ist verwunderlich, wie bereits We i s - vgl. weiters Ha a s (1949) 51–53, Ve t t e r (1957) 272 f., Mu s t g e r b e r (1931a) 156 zu Recht feststellte, daß Do t t i n trotz des (1960) 193 f., Pi s a n i (1961) 49, Me i d (1996a) 61 = Me i d – Verweises (S. 28 A. 4) auf Ni e d e r m a n n s (erstmals 1916 in An r e i t e r [2005] 66, Bl o m [2007] 77. 372 Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen out and are likely to be voces magicae. Perhaps criglion is an Aisus interpretiert.2147 Demnach würde Marcellus einen extension of cricon through accumulation: (e)xi exu cricon/ weiteren Beleg für den berühmten Keltengott liefern, exu criglion-.“2145 dessen Name in verschiedenen Varianten (Esus, Aesus, Allein die Vielzahl der möglichen (und zum Teil un- Aisus, Haesus, Hesus) durch einige wenige literarische möglichen) Deutungen sollte zur Vorsicht bei der Auswer- und epigraphische Zeugnisse überliefert ist.2148 Persönlich tung dieser Formel gemahnen. Meiner Ansicht nach ist erachte ich diese Deutung der Marcellischen Formel für der skeptischen Position von Bl o m zu folgen.2146 Wie aus verfehlt.2149 In jedem Fall ist sie aber sehr problematisch der obigen Zusammenstellung zu ersehen ist, haben Mu s t und sollte daher nicht, wie gelegentlich geschehen, vorbe- und Fl e u r i o t das Wort *aisus isoliert und als Götternamen haltlos und unkritisch übernommen werden.2150

114 T 12 [F] Marcellus Empiricus de medicamentis 20, 66 p. 346,14–18 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n = Zw i c k e r 115: remedium physicum magnum adversum dolorem stomachi. Ein großartiges natürliches Heilmittel gegen Magen- in lamina argentea scribes et dices: „Aritmatho, aufer dolo- schmerz. Man schreibt auf ein silbernes Plättchen und sagt: res stomachi illi, quem peperit illa.“ eandem laminam lana „Aritmatho, vertreibe die Magenschmerzen bei dem und ovis vivae involutam collo de licio suspendes et id agens dem, den die und die geboren hat.“ Eben dieses Blättchen dices: „aufer mihi vel illi stomachi dolorem, Aritmatho.“ hängt man, nachdem man es in Wolle von einem lebenden Schaf eingewickelt hat, mit einem Faden an den Hals, und während man dies tut, sagt man: „Beseitige bei mir oder bei dem und dem den Magenschmerz, Aritmatho.“

Marcellus bringt hier eine Beschwörungsformel, mit arduus summus und math bonum. dem ir. und gal. vocativ der Magenschmerzen vertrieben werden sollen. Die ange- wird heute ein a oder o vorgesetzt, hier scheint es suffi- rufene Person/Gottheit (?) Aritmatho2151 wurde von Jacob giert. ob dem schreiber, als er arith für arth setzte, das gr. Gr i mm als Arithmato gelesen und folgendermaßen interpre- ἀριθμός vorschwebte oder arith der alten sprache gemäsz tiert: „arithmato ist das gal. [= kymr.] ardhmhath summum war, weiß ich nicht.“2152 Dieser durch und durch falschen bonum, das als δαιμόνιον angerufne τὸ ἀγαθόν, von ard Deutung wird heute wohl niemand mehr Folge leisten, sie

2145 Bl o m [2007] 100. probablement aussi en Gaule. Ainsi, on retrouve sans doute 2146 Zur Be- und Verwertung dieser und anderer magischer For- son nom dans une formule magique à vocation médicale no- meln als Zeugnisse für die gallische Sprache und Volksme- tée au IVe siècle par le médecin Marcellus de Bordeaux […]. dizin s. die prinzipiellen Bemerkungen in der Einleitung zu Esus, sous la forme Aisus, est invoqué pour chasser quelque Marcellus [114]. chose coincé dans la gorge du malade.“ 2147 Mu s t (1960) 195 f., Fl e u r i o t (1974/75a) 59 f., so jetzt auch 2151 Bei der zweiten Nennung bietet der cod. Parisinus Lat. 6880 jüngst d e Be r n a r d o St e m p e l [2010] 123. – Pi s a n i (1961) 50 die Form Ariomatho, der cod. Laudunensis 420 dagegen Ario- setzt zwar auch ein *aisus an, interpretiert dies aber als einen tho. Acc. pl. des gall. Wortes für ‚Gott‘ (vergleichbar der itali- 2152 Jacob Gr i mm , Über Marcellus Burdigalensis, in: Kleinere schen Wurzel *aiso- mit der Bedeutung ‚Gott‘). Schriften II: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, 2148 Die antike Evidenz zu Esus ist behandelt im Kommentar zu Berlin 1865, 114–151, spez. 150; vgl. dazu auch die Bemer- Comm. Bern. ad . 1,445 [45 T 7]; vgl. ferner Lucan. kung von Adolphe Pi c t e t , in: Jacob Gr i mm , Über die Marcel- 1,445 [45 T 2], Petron. 104,5 [46 T 2], Adnot. super Lucan. lischen formeln, in: Kleinere Schriften II: Abhandlungen zur ad 1,445 [45 T 9], Glossen ad Lucan 1,445 [45 T 11]. Mythologie und Sittenkunde, Berlin 1865, 152–172, spez. 2149 Skeptisch auch La mb e r t (1997) 198. 163: „je crois donc que dans la forme arithmato […] que 2150 Einzig auf Fl e u r i o t s Interpretation basieren St e r c k x (1990) Grimm a interprété par ardmath, summum bonum […], il 34, De l a m a r r e (2001) 280 = (2003) 332, Ma r c o Si m ó n faut voir aussi un vocativ égal au thême primitif, et non une [2002b] 197 und La j o y e [2008] 161. Bezeichnend ist die Äu- transposition de l’o vocative que ordinairement précède le ßerung bei letzterem: „… Cuchulainn est magicien. Esus l’est nom.“ Marcellus Empiricus (oder Burdigalensis) 373 ist allenfalls von forschungsgeschichtlichem Interesse. Be- denke, daß wir hier vor einem non liquet stehen. Für die reits Richard He i m hat sie nicht gelten lassen, bemerkt er keltische Religion sollte man die vorliegende Stelle jeden- doch, daß ihm der Name Aritmatho unklar sei.2153 Auch ich falls nicht vereinnahmen.

114 T 13 [F ?] Marcellus Empiricus de medicamentis 29, 45 p. 516,16–22 ²Ni e d e r m a n n – Li e c h t e n h a n : lacertum viridem, quem Graeci sauron vocant, capies Man fängt eine grüne Eidechse, die die Griechen sauros perque eius oculos acum cupream cum licio quam longo nennen, sticht durch ihre Augen eine Kupfernadel mit ei- volueris traicies perforatisque oculis eum ibidem loci, ubi nem beliebig langen Faden hindurch, läßt sie, nachdem ceperas, dimittes ac tum filum praecantabis dicens: TRE- ihre Augen durchstochen worden sind, an eben der Stelle, BIO POTNIA TELAPAHO. hoc ter dicens filum munditer wo man sie gefangen hatte, frei und bespricht dann den recondes cumque dolor colici alicuius urguebit, praecin- Faden, indem man sagt: TREBIO POTNIA TELEPAHO. ges eum totum supra umbilicum et ter dices carmen supra Wenn man dies dreimal gesagt hat, bewahrt man den Faden scriptum. sauber auf, und wenn bei jemandem, der am Grimmdarm erkrankt ist, Schmerz auftritt, wickelt man ihn ganz über den Nabel hin um und sagt dreimal den oben angegebenen Spruch.

Marcellus führt hier eine Behandlungsmethode an, die und dann im Norditalienischen und Galloromanischen häufig Heilung bei Darmkoliken verspricht. Die dabei verwende- zu beobachtenden r/l‑Wechsel.2156 Als gallisch bestimmt wird te iatromagische Beschwörungsformel hat unterschiedliche das erste Element in dieser Formel, das als tre bio (< *trē bi- Deutungen erfahren. Richard He i m vermutete hinter potnia von oder bivū; vgl. air. tre, tri, kymr. trwy < *trē [älter *trei] 2157 ̑ telepaho die griech. Wörter πότνια τῆλ᾽ ἄπαγε („Herrin, ‚durch‘ und air. béo, kymr. byw ‚lebendig‘ ) ‚durch Leben- [sei] fern, fort mit dir!“) und meinte, daß mit trebio entwe- diges‘ interpretiert wird. Gemeint sei damit die Heilkraft der der eine Göttin oder die zu vertreibende Krankheit bezeichnet lebenden Eidechse, die bei der magischen Begleithandlung werde.2154 Ein anderer Vorschlag stammt von Wolfgang Me i d , zu Einsatz kam. Der Spruch läßt sich folglich mit „Durch der hierin einen mischsprachlichen Spruch mit griechisch- Lebendiges, Herrin, heile ich“ übersetzen. Diese Interpreta- gallischen Elementen erkennen wollte.2155 Zweifelsfrei grie- tion Me i d s hat auch in der jüngeren Forschung Zustimmung chisch ist die Anrede potnia (= πότνια), während telepaho als gefunden.2158 Das ändert freilich nichts an den prinzipiellen Verballhornung von griech. θεραπεύω ‚ich heile‘ (oder einer Bedenken an der Verwertbarkeit der Marcellischen Formeln ähnlichen Form) anzusehen sei, mit einem im Vulgärlatein als Zeugnisse für die gallische Sprache und Volksmedizin.2159

2153 He i m [1892] 483 A. 2 (Nr. 73): „Aritmatho quid sit, mihi 2156 S. dazu mit Beispielen Me i d – An r e i t e r [2005] 63 f. A. 122. clarum non est; Grimm l. c. p. 150, qui arithmato legit, e gal- 2157 Dazu vermerkt Me i d – An r e i t e r [2005] 64 freilich einschrän- lico ‘ardhmhath’­ verbo = τὸ ἀγαθὸν δαιμόνιον vel summum kend: „Natürlich wirkt in der halbgriechischen Formel auch bonum intellegi vult.“ – Diese Aussage wird auch von Zw i c - der Anklang an griechisch βίος.“ k e r , der die vorliegende Stelle aufgenommen hat (S. 115), im 2158 Karl Horst Sc h m i d t , IF 88 (1983) 335–337 [= Rez. von Me i d app. crit. zitiert. (1980)], spez. 336 erachtet dies für eine „überzeugende Ana- 2154 Richard He i m , De rebus magicis Marcelli medici, in: Schedae lyse“. Sie wird auch von James Noel Ad a m s , Bilingualism philologae Hermanno Usener a sodalibus seminarii regii Bon- and the Latin Language, ²Cambridge 2005, 195 übernom- nensis oblatae, Bonn 1891, 119–137, spez. 134 [non vidi!]; men. – Bl o m [2007] 81 referiert die Deutungen von He i m und ich referiere nach Bl o m [2007] 81. Me i d , ohne jedoch eine Entscheidung zu treffen. 2155 Erstmals geäußert in Me i d (1980) 10 f. [erneut abgedruckt in: 2159 Vgl. dazu die Vorbemerkungen in der Einführung zu Marcel- ANRW II 29.2 (1983) 1025 f.], dann wieder in Me i d (1996a) lus [114]. 58 = Me i d – An r e i t e r [2005] 63 f.