Herausgeber: Institut für Gesellschaftswissenschaften DIE NEUE Walberberg e.V.

Redaktion: ORDNUNG Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Wolfgang Hariolf Spindler OP begründet von Laurentius Siemer OP Bernd Kettern und Eberhard Welty OP Redaktionsbeirat: Stefan Heid Nr. 6/2012 Dezember 66. Jahrgang Martin Lohmann Andreas Püttmann Herbert B. Schmidt Manfred Spieker Horst Schröder Editorial Wolfgang Ockenfels , Redaktionsassistenz: Andrea Wieland und Hildegard Schramm Ärmeres Deutschland 401 Druck und Vertrieb: Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 Norbert Blüm , Zurück ins Neandertal? Ein 53708 Siegburg Plädoyer für Ehe und Familie 404 Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891

Ralph Weimann, Das Jahr des Glaubens zur Die Neue Ordnung erscheint alle 2 Monate Überwindung der Glaubenskrise 417 Bezug direkt vom Institut oder durch alle Buchhandlungen Hans Braun, Kommunikation in der Jahresabonnement: 25,- € Mediengesellschaft 429 Einzelheft 5,- € zzgl. Versandkosten

Hans-Peter Raddatz , Macht und Gegen- ISSN 09 32 – 76 65 macht des Christentums (I) 439 Bankverbindung: Deutsche Bank, Bonn Bericht und Gespräch Konto-Nr.: 0575670 (BLZ 380 700 59) Christoph Böhr, Metaphysik in neuer Anschrift der Perspektive. Ein Trierer Kolloquium 454 Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 Andreas Püttmann, „Spezielle Bedürfnisse D-53113 Bonn hinsichtlich des C“. Zu einer neuen Studie 458 e-mail: [email protected] Tel.: 0228/21 68 52 Ansgar Lange , Die CDU und „ihre“ Konser- Fax: 0228/22 02 44 vativen. Thesen und Ausblicke 462 Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt. Rita Anna Tüpper , Über Menschenwürde Verlag und Redaktion übernehmen keine (Walter Schweidler) Haftung 472

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Editorial

Ärmeres Deutschland

Deutschland ist nicht arm, aber ärmer geworden. Mit diesem Komparativ wird keine absolute Steigerung, sondern ein statistischer Vergleich zwischen armen und reichen Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck gebracht. Nach den Regeln der statistischen Armutsmessung würde eine Stadt wie Berlin im Durchschnitt noch mehr Arme aufweisen, wenn ein Milliardär wie Bill Gates eingebürgert würde. Ohnehin fühlen sich die Deutschen lieber als arm denn als reich. Und viele wol- len als arm gelten, ohne am eigenen Leib erfahren zu müssen, was materielle Not bedeutet. Merkwürdig auch, daß in der öffentlichen Wahrnehmung des Armuts- diskurses der breite Mittelstand ausgeblendet bleibt, wenn von einer sich öffnen- den „Schere“ von arm und reich die Rede ist. Die Schere scheint hier vor allem in den Köpfen zu walten. Abgeschnitten wer- den qualitative Formen der Armut, die als geistig-moralische Defizite in Er- scheinung treten, aber nicht so leicht quantifizierbar und statistisch erfaßbar sind. In diesem Sinn- und Wertemangel liegt vielleicht der tiefere Grund dafür, daß es auch ökonomisch bergab geht. Und daß die heilsökonomischen Wachstumsträu- me in einer demographisch ausgedünnten und rapide alternden Gesellschaft nicht in Erfüllung gehen können. Es gehört sich nicht, über die „wirklich“ Armen zu spotten oder sie auszubeuten. Es verstößt aber nicht gegen ihre Würde, einmal zu fragen, wer alles zu diesem Personenkreis zählt, was Armut hier und heute bedeutet und wie sie zu überwin- den sei. Habt Erbarmen mit den Armen! Dieser christliche Aufruf zur Barmher- zigkeit mit den „Geringsten der Brüder“ läßt sich freilich leicht manipulieren und mißbrauchen. Vor allem im säkularisierten Deutschland, wo die Mitleidsreligion Friedrich Nietzsches besonders die Tiere schützt, im Nazireich die Euthanasie legitimierte und im „Winterhilfswerk“ nur die bedürftigen, eugenisch einwand- freien „Volksgenossen“ unterstützte. Der Mißbrauch mit dem Mitleid zeigt sich bei einigen florierenden Spenden- sammelorganisationen und nimmt gelegentlich groteske Formen an, auf die Sati- riker wie Henryk M. Broder gerne hinweisen. Von dieser Sorte in der Tradition des Karl Kraus gibt es leider nur wenige, die in Zeiten der political correctness Dinge kritisch aufspießen, die vom mainstream kaum als problematisch empfun- den werden. Broder hat sich erlaubt, ein Exponat der Plakat-Ausstellung „Mut zur Wut“, organisiert von der Kunsthalle Heidelberg, zu entlarven. Es stellt einen gelben Davidstern dar, in dessen Mitte „Hartz IV“ geschrieben steht. Was bedeu- ten soll: „Die Sozialhilfeempfänger werden heute so behandelt wie die Juden im Dritten Reich.“ Dieser verrückte Vergleich schädigt das Ansehen unseres Sozial- staats und beleidigt die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Der Sozialstaat bundesdeutscher Prägung gehört zur Substanz dessen, was man immer noch eine soziale Marktwirtschaft nennen darf. Bei aller Kritik, die sich

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gegen einzelne sozialpolitische Reformen richtet, ist es ihm doch weithin gelun- gen, materielle Massenarmut zu vermeiden und „das Soziale“ im Sinne der Ge- rechtigkeit und der Solidarität auszulegen. Damit wurden Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit angeregt und „das System“ insgesamt stabilisiert. Wenn nun die sozialen Sicherungen trotz gegenteiliger politischer Wahlkampf- Versprechungen abzubröckeln beginnen, so hat das mehrere Ursachen - und auch Wirkungen, auf die man – vorsorglich klagend – hinweisen muß. Zu den Ursachen gehört jedenfalls die vermaledeite Schuldenmacherei, bei der man sich nicht auf die Soziale Marktwirtschaft und auch nicht auf Keynes beru- fen kann. Schulden machen bedeutet, Armut auf später zu verschieben, weil man sich jetzt ein üppiges Leben gönnen will, das man sich aber nicht leisten kann. Was ist, wenn die ökonomisch-ökologischen Wachstumsgrenzen, die man immer weiter vor sich hergeschoben hat, plötzlich ganz nahekommen? Dann „schlägt des Erwachens qualvolle Stunde“ ( Johannes Maria Verweyen ). Dieser Ernstfall ist in einigen europäischen Staaten bereits eingetreten, nicht nur in Griechenland. Wenn er das überforderte Deutschland erreicht, das sich noch als Retter Europas gebärdet, gibt es auch bei uns Massendemonstrationen und Generalstreiks. Weil unsere Demokratie legitimatorisch vor allem von einem funktionierenden Sozialstaat abhängt, könnte sie in dem Maße delegitimiert werden, wie seine Wohlfahrtsverheißungen sich nicht mehr erfüllen lassen. Und weil unsere Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Rentner sich nicht hilfesu- chend nach Brüssel wenden, sondern Berlin zur Verantwortung rufen, könnten die Anforderungen an einen sozialen Nationalstaat stark anwachsen. Am europä- ischen Krisenhorizont bahnt sich die Wiedergeburt eines - hoffentlich geläuterten - Nationalstaatsbewußtseins an, das aber mit einigen nationalistischen Exzessen zu rechnen hat. In dieser Lage wird man grundsätzlich neu über die Erblast der französischen Revolutionsparole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ reden müssen. Ist Ge- rechtigkeit mit Gleichheit gleichzusetzen? Was bedeutet die realsozialistische Regel „But some are more equal” aus George Orwells „Animal farm“? Christen geht es um quality, not equality . Es geht überdies um eine Freiheit, die sich nach stabilen ethischen Maßstäben messen lassen muß, um nicht beliebig zu werden. Und um eine Solidarität, der die Frage nach der echten Hilfsbedürftigkeit der „Armen“ und nach der Zumutbarkeit (vor allem der Hilfeleistenden) ans Herz gewachsen ist. Christliche Sozialethiker werden sich, wenn sie eine tragfähige Antwort auf diese Fragen suchen, gewiß an das Prinzip der Subsidiarität erin- nern. Das aber ist ziemlich in Vergessenheit geraten. Schließlich werden wir durch die Wirklichkeit belehrt, wie eng soziale Struktur- fragen mit moralischen Problemen verknüpft sind. Die Lockerung der Ehemoral hat zur Auflösung der Familien beigetragen und kann schließlich zur Kern- schmelze der Gesellschaft führen. Kinderreichtum ist nicht erwünscht, er führt heute zur Verarmung der Kinder. Die Kinderarmut wird man freilich durch Ökonomisierung und Verstaatlichung der Familien eher verstärken als beheben. Wolfgang Ockenfels

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Norbert Blüm

Zurück ins Neandertal?

Ein Plädoyer für den Schutz von Ehe und Familie

Eine der schönsten Geschichten von der Liebe zwischen Mann und Frau wird in Platons Symposion erzählt. Einst lebten die Menschen als „Mannweiber“ unent- schieden nach Geschlecht. Die „Mannweiber“ waren mächtige Wesen; „an Kraft und Stärke waren sie gewaltig und hatten auch noch große Gedanken“. Für Zeus und die Götter wurden die Menschen zu gefährlichen Konkurrenten. Also schwächten die Götter die „Mannweiber“ und Zeus zerteilte sie eigenhändig in zwei Hälften: „wie wenn man Früchte zerschneidet, um sie einzumachen“. Die Götter hatten jedoch ihre Rechnung ohne die Anhänglichkeit der getrennten Hälften gemacht. Fortan suchte die eine Hälfte die andere und kam erst zur Ru- he, wenn sie andere gefunden hatte. Conclusio : Liebe ist das Heimweh nach dem verlorenen Gegenteil. Glücklich ist, wer sein Gegenstück findet und es ein Leben lang festhält. Die Ehe ist das „happy end“ einer mythischen Suchaktion. Die triviale Realgeschichte der Geschlechterbeziehungen verlief allerdings nicht nach platonischem Vorbild. Am Beginn der Evolution stand nicht die Ehe. In den Wildnissen der Vorzeit herrschte die Promiskuität. Man kann auch ohne Ehe Kinder in die Welt setzen. Das klappte damals so wie heute. Damals aber war es allgemeine Sitte. Die Fortpflanzung kommt also ohne Ehe aus. Schon früh gab es jedoch kulturelle Anstrengungen, die schweifende menschliche Sexualität, die nicht durch periodische Instinktsteuerung gebändigt wird, durch die Ehe zu for- men und durch Liebe zu besänftigen. Die Ehe ist also ein Kulturprodukt. Wie aber auch immer – ob wild oder gezähmt – die Sexualität war immer im Spiel zwischen Mann und Frau. Die Sexualität ist der Triebstoff, der Mann und Frau zusammenführt. Immanuel Kant , unser großer Vernunftphilosoph, gründete die Eheschließung sogar schlicht und ergreifend auf Geschlechtlichkeit: „Die Ehe ist ein Vertrag zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaft.“ Kant war ein theoretisches Genie. Er schrieb über vie- les, z.B. über Länder, die er nie gesehen, von denen er aber viel gelesen hatte. Seine Junggesellenbetrachtungen über die Ehe entnahm der Königsberger Stu- bengelehrte wahrscheinlich auch dem Bücherschrank. Die „bürgerliche“ Ehe ist ein Produkt der Neuzeit und auf Besitz und Bildung gegründet. Nicht mehr Blutsverwandtschaft oder Stand steuerten im bürgerlichen Zeitalter die Gattenwahl, sondern vor allem die Eigentumsverhältnisse. Die Erb- schaft ist der Kitt des bürgerlichen Generationszusammenhangs. Das Erbe ist das Disziplinierungsmittel, das die Sorge der Kinder für die Eltern aufrecht erhält, selbst wenn diese Kinder aus dem Hause sind.

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Es gehört zu den oft übersehenen Tatsachen, daß bis weit in das bürgerliche Zeitalter hinein nicht jede Frau und jeder Mann zur Ehe zugelassen worden war. Ohne Nachweis, die Ehefrau unterhalten zu können, gab es keinen Trauschein. Das öffentliche Aufgebot vor der Eheschließung diente zur allgemeinen Begut- achtung dieser Ehevoraussetzung. Diese materiellen Ehehindernisse waren der Grund, weshalb vom Gesinde nur wenige den Weg zum Traualtar fanden und diese auch nur mit gütiger Erlaubnis der Herrschaft. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählte in Preußen jeder Siebte zum Gesinde. Zählt man mittellose Handwerksgesellen und Soldaten hinzu, erkennt man, wie schmal der Zugang zur Ehe damals war. Die industrielle Revolution löste den bürgerlichen Heiratscomment auf. Die aus den Zünften entlassenen Handwerksgesellen und die von Gütern und von Höfen entlaufenen Bauernsöhne strömten als Proletarier, die nichts besaßen außer ihrer Arbeitskraft, in die Fabrikhallen. Auf diese Armee der Industriearbeiterschaft war das Fabriksystem angewiesen. Nachschub war gefragt. Kinder wurden ge- braucht – auch in den Fabrikhallen. So fielen die bürgerlichen Ehehindernisse. Es gehört zu den Emanzipationsbestrebungen dieser Zeit, daß sie die Arbeiter zur Ehe befreite. Von der alten innerfamiliären Fürsorge des großen Hauses, die lebensumfassend gewesen war, – Familie und Produktion unter einem Dach versammelte – blieb nur der Patriarch übrig, der die Familie kommandierte und ernährte. Die Haus- frau und treusorgende Mutter war als abhängig Beschäftigte untergeordnet. Die bürgerliche Familie wie ihr Stiefkind, die proletarische, bildeten die autoritären Strukturen der Gesellschaft ab. Der Mann war der Chef, die Frau der Untertan. Basta! Wenn später Friedrich Carl von Savigny , Rechtsgelehrter und preußischer Staatsminister, die Ehe als „Keimzelle des Staates“ definiert, dann hatte er diese autoritären Strukturen von Familie und Staat vor Augen. Das 1900 entstandene Bürgerliche Gesetzbuch und sein Eherecht atmeten diesen Geist.

Der doppelte Boden der bürgerlichen Emanzipation

Doch die bürgerliche Emanzipation selbst unterspülte fast lautlos die institutio- nellen ständischen Sicherheiten. Die alte Gesellschaft löste sich auf und mit ihr Bindungen und Beziehungen. „Alles Ständige und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebens- stellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen.“ Schreibt hellsichtig Karl Marx 1848 im Kommunistischen Manifest. Die bürger- liche Gesellschaft wurde langsam aber sicher von der Arbeitsgesellschaft ver- drängt. Die Erwerbsarbeit sollte das Gesicht des Industriezeitalters prägen. Die Befreiung der Arbeiter hinterließ jedoch eine hinterlistige Falle für Ehe und Familie. Wenn die Produktivität wächst, die Löhne steigen, die Arbeitszeit sinkt: warum sollte der Ernährer seinen Lohn mit Ehefrau und Kindern teilen? Die Nur-Hausfrau brachte keinen Spareffekt mehr. Der Mann will sein Geld für sich und die Frau ihr eigenes. Sie wird in der Fabrik mehr gebraucht als im Haus.

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„Jeder sorgt für sich“ - dieses liberal-kapitalistische Credo ist das Gesinnungs- fundament des modernen Eheverständnisses. Der Verselbständigung der Kernfamilie wurde durch die Sozialversicherung der Weg geebnet. Die Sozialversicherung ersetzte die traditionelle Fürsorgepflicht der Kinder für die Eltern. Hinzu kam, daß die Sozialversicherung die Marktwirt- schaft überhaupt erst funktionsfähig macht. Die Sozialversicherung befreite nämlich die Betriebe vom Invaliditäts-, Unfall- und Krankheitsrisiko. Erst nach- dem diese Risiken aus dem Zuständigkeitsbereich der Betriebe externalisiert worden waren, konnte sich eine unternehmerische Ratio entfalten, die sich im Wettbewerb behauptete und am Gewinn orientiert. Die Wirtschaft verselbstän- digte sich also zu einem eigenen Sektor der Gesellschaft und machte so die Trennung vom Staat möglich. Die Ehe geriet in den Sog der Wirtschaftsgesell- schaft, deren integrierter Bestandteil sie inzwischen ist.

Die Ehe gerät in die Klemme

Die bürgerliche Ehe unterwarf sich der neoliberalen Maxime der Vorteilssuche, deren Leitfigur der homo oeconomicus ist. Herausgekommen ist ein Ehever- ständnis, das dem Arbeitsvertrag nachgebildet ist. Beide, Ehe- und Arbeitsver- hältnis, werden zusammengehalten durch ein jederzeit kündbares Bündnis. Die Ehe ist ein Austausch-Vertrag zwischen Mann und Frau. Das Eherecht übernahm eine Vorreiterrolle im neoliberalen Projekt Deregulierung. Der Kündigungs- schutz im Eherecht ist inzwischen niedriger als im Arbeitsrecht. Es ist leichter, die Ehefrau oder den Ehemann loszuwerden als den Arbeitnehmer. Im Eherecht sind wir inzwischen bei der einfachen Zerrüttung als Scheidungsgrund ange- kommen. Soweit sind wir im Arbeitsrecht noch nicht. Im neuen Arbeitsvertragsrecht wird allerdings über eine Variante der Beendi- gung des Arbeitsvertrages nachgedacht, der im Eherecht schon allenthalben empfohlen wird: Vor Beginn der Modalitäten die Beendigung vertraglich festzu- legen. In beiden Fällen wird das Ende am Anfang antizipiert. Das Eherecht ver- innerlicht die Mobilitäts- und Flexibilitätsgebote der freizügigen Gesellschaft. Vom Mietrecht könnte sich allerdings das Scheidungsrecht noch eine Scheibe abschneiden. Dort gibt es Eigenbedarf als Kündigungsgrund. Das ist der seltene Fall, wo das Eherecht in Sachen Kündigungserleichterung nachhinkt. Der Gatte der einen neuen Eigenbedarf nach neuer Liebe spürt, muß im Eherecht noch den Weg über fristgeregelte Zerrüttung gehen, um zur Trennung zu gelangen. Bedarf reicht noch nicht, um „abhauen“ zu können. Was bleibt als Kern des neuen Eheverständnisses? Die Ehe wandelt sich zum Bündnis zweier Lohnempfänger zur wechselseitigen Optimierung ihrer Freizeit- gewohnheiten. Zur Fortpflanzung ist Ehe nicht mehr „notwendig“. Sexualität wird mit und ohne Kindersegen inner- und außerhalb der Ehe „normal“. Wir entwickeln uns also wieder zurück ins Neandertal. Elternschaft beginnt unmo- dern zu werden. Schon sind „Alleinerziehende“ von einem gewissen Nimbus der Fortschrittlichkeit umgeben. „Uneheliche“ Väter und Mütter genießen im Unter- haltsrecht bereits Vorzüge gegenüber ehelichen.

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Alleinsein und Selbständigsein werden synonym. Der tiefere Grund der Auflö- sung von Ehe und Familie ist die Aushöhlung jedweder sittlichen Bindungskraft. Ethik wird so etwas wie Hobby für den Hausgebrauch - etwa so wie die Einla- dung zu einem Loriot schen Jodelkurs oder Teilnahme an einem Häkelkurs in der Volkshochschule. Das Leben zerbröselt in eine Summe von zusammenhanglosen Augenblicken. Wir zappen als Beziehungsvagabunden durchs Leben. Schalten mal hier aus und dort mal wieder ein.

Maximaler Freiheitsgenuß in der Tauschgesellschaft

Wenn Freiheit lediglich die Optimierung von Wahlchancen ist, wird jede Ehe und jedes Kind zur Freiheitseinschränkung. Denn Kinder wie Ehepartner min- dern die Optionen. Schon so einfache Sachen wie z.B. die Urlaubsplanung wer- den mit Kindern schwieriger als ohne - und als Single leichter als für Eheleute. Alle Lebensverhältnisse geraten so unter das Diktat der solistischen Selbstbe- stimmung. Existenz wird permanenter Wahlakt. „Der Mensch, das ist seine Wahl“ proklamierte Jean Paul Sartre in hybrider existentialistischer Selbstüber- schätzung. Die Ehe und die Familie ist in ihrem Wesen das existentialistische Antiprojekt. In Ehe und Familie schafft sich der Mensch nicht selber, sondern durch und mit anderen. Die Familie ist die „zweite Geburtsstätte der Menschen“ ( Rene König ). Die moderne Ehe gerät in Gefahr, so vorübergehend zu werden wie eine Fahrt mit der U-Bahn: Einsteigen-Aussteigen-Umsteigen mit kurzen Haltezeiten zwi- schen zwei Lebensabschnittspartnerschaften. Diese Ehe als Abenteuerurlaub mit Fahrt ins Blaue bietet maximale Abwechslung. Die Endstation bleibt allerdings unbekannt. Auf dem Zielbahnhof stehen relativ viele traurige Singles herum. Daran ist die Ankunft auf der Endstation erkennbar: Nach maximalem Freiheits- genuß endet das Finale in der Einsamkeit. Wir kehren zur Polygamie der Vorzeit zurück. Unsere unterscheidet sich von den früheren, daß wir Polygamie in den Zeitverlauf eingebaut haben, also nacheinan- der die Partner aufreihen, während früher „Vielweiberei“ oder „Vielmännerei“ gleichzeitig genutzt wurden. Beim polygamen Wechselspiel stören vorerst noch die Kinder wie beim Umsteigen die Gepäckstücke. Denn Kinder sind Lasten. Das unterscheidet die neue von der alten Polygamie. Auch im Innenverhältnis der ehelichen Zweisamkeit drängen sich die wirtschaft- lichen Gesichtspunkte vor. Es gelten in dem modernen Familienrecht bevorzugt die Gesetze der Äquivalenz, also Leistung für Gegenleistung, die in der Tausch- gesellschaft zu Hause sind. Der Tausch ist allerdings entgegen den Lehrbüchern der Ökonomie nicht die Ursprungskonstellation der menschlichen Gesellung. In der Familie war das Tauschprinzip ursprünglich nicht zu Hause. Wie soll sich denn der Tausch in der Urgesellschaft vollzogen haben? Wie soll unter den No- maden und wie zwischen Nomaden und den ersten Seßhaften getauscht worden sein? Wenn einer des Pfeiles bedurfte und ihn gegen Fleisch eintauschen wollte, mußte er jemanden finden, der einen Pfeil zuviel besaß und ihn gegen Fleisch tauschen

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wollte, obwohl der den Pfeil wollte, nur Felle hergeben konnte. Solch kompli- zierte Austauschprozesse „über vier Ecken“ waren erst nach Erfindung des Gel- des möglich. Tausch ist also nicht die Quelle der ursprünglichen menschlichen Sozialität.

Gabe statt Tausch

Die Sippe wurde eher durch die „Sitte der Gabe“ zusammengehalten als durch das Geschäft des Tausches. Gabe folgt nicht der Solidaritätsform, „wie Du mir, so ich Dir“, welche die Äquivalenz bestimmt, sondern eher der Maxime „Einer für alle – alle für einen“. Der ursprüngliche familiäre Austausch hat mehr mit Geben und Schenken zu tun als mit Tauschen und Vergelten. Die Gabe ist zwar auch auf Gegengabe angelegt. Diese ist aber nicht das Ergebnis des Tausches, sondern eines grundlegenden Anerkennungsverhältnisses, das davon ausgeht, daß das Wohl ein allgemeines Gut ist. Das WIR steht am Anfang. Zum ICH führt der Zugang über das DU. Das ist der Gang der Evolution, die auch in ihrer letzten Vollendung ihren Ursprung nie gänzlich eliminieren kann. Der Tausch als Gründungsmythos der Ökonomie ist, wie neue Forschungen von Maus und ande- ren nachgewiesen haben, eher das Konstrukt ökonomischer Lehrbücher im Ge- folge von Adam Smith als das Ergebnis anthropologischer Forschung. Die Kultur der Gabe ist mit dem zivilisatorischen Fortschritt keineswegs aus der Welt verschwunden. Jedes Fest ist ein Fest des Schenkens. An Weihnachten beschenken Eltern Kinder. An Allerseelen gedenken Kinder der Eltern. Wahr- scheinlich haben die Menschen erst Feste zu feiern verstanden, bevor sie die Kunst der Erwerbstätigkeit lernten, und wahrscheinlich haben sie singen können, bevor sie mit der Steinaxt die Welt bearbeiteten. Die ursprünglichen Feste sind „Auszeiten“ an den Knotenpunkten des Lebens, wie beispielsweise Geburt und Tod. Die familiäre Festlichkeit bewahrt die Erinnerung an diese Ursprünge der Kultur auf, in denen auch die Religion entstand. Das Fest und die Familie sind älter als „die Wirtschaft“. Die letzte Bastion der Gabe ist die Familie. Sie ist der Rest der Kultur des Schenkens, der unter dem verschärften Ansturm des homo oeconomicus steht, der seinen Vorteil sucht, sonst nichts! Für diese Theorie hat der neoliberale Vor- denker Garry S. Becker sogar den Nobelpreis erhalten. Ehe und Familie folgen nicht den Gesetzen der wechselseitigen Vorteilssuche. Die familiäre Fürsorge ist nicht das Ergebnis rechnerischer Gegenseitigkeit. Die eheliche Treue entspringt keiner Kosten-Nutzen-Analyse. Die Verläßlichkeit ist kein Rechenexempel. Die Beziehungen in den Familien sind asymmetrisch und diskontinuierlich. Wir geben mehr als wir nehmen und wir nehmen mehr als wir geben. Und wir wissen, biblisch gelehrt: Geben ist seliger denn nehmen. Eltern schenken Kin- dern das Leben. Mütter gebären ihre Kinder unter Schmerzen. Für diese Gaben gibt es keine Abrechnung. Und würde ein Mensch am Ende seiner Kindheit eine Abrechnung verlangen, um seinen Eltern auf Euro und Cent die Leistung zu vergüten, welche diese für ihn aufgebracht haben, so wäre diese marktwirtschaft-

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liche Reziprozität eine Perversion des familiären Zusammenhaltens und das Ende des Generationenzusammenhangs. Später freilich treten die Kinder für die Lebenssicherung der Eltern ein. Das ist freilich kein Tauschgeschäft, sondern eine Art von Wiedergutmachung. Deshalb steht das Umlagesystem unserer Rentenversicherung dem familiären Generatio- nenzusammenhalt näher, als die private kapitalgedeckte Privatversicherung, in der jeder angeblich für sich selber sorgt. „Jede Generation sorgt für sich selber“ (Junge Liberale). Auch das vierte Gebot der Ehrung von Vater und Mutter ver- kündet seine Zusage „auf daß es Dir wohl ergehe und Du lange lebst auf Erden“ nicht als ein Tauschgeschäft sondern als göttliche Verheißung.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Seit längerer Zeit wird die familienpolitische Diskussion durch die Forderung von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dominiert. Die Diskussion ist je- doch gar keine Diskussion, sondern eher eine einstimmige Kundgebung. Ich kenne niemanden, der gegen „die Vereinbarkeit“ ist. Die Schuldigen stehen auch fest. Erstens: Väter, die keine Familienarbeit leisten. Zweitens: Betriebe, die keine familienfreundliche Arbeitsverhältnisse (Arbeitszeit etc.) anbieten und drittens: der Staat, der nicht Betreuungsangebote flächendeckend bereitstellt. Alles gut und recht. Aber wollen wir überhaupt perfekte Vereinbarkeit? Und um welchen Preis? Die moderne Familie war das Ergebnis einer Trennung von privatfamiliärer und ökonomisch öffentlicher Sphäre. Die moderne Familie ist nicht wie in Agrarzei- ten Wohnarbeitsstätte. Betrieb und Familie trennten sich. Familienpolitik wurde auf die Pflege und Bewahrung der Intimität der Kernfamilie von Eltern und Kin- dern konzentriert. Vereinbarkeit stand gar nicht auf dem Programmzettel der Emanzipation der familiären Privatsphäre. Im Gegenteil. Es ging im Familienlas- tenausgleich zunächst um die Selbständigkeit der Familie gegenüber der Wirt- schaft. Die auf dem Markt erzielten Einkommensunterschiede zwischen Familie und Kinderlosen sollten kompensiert und die Belastungsdifferenzen ausgegli- chen werden. Das Programm Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist gar nicht so „einwandfrei“, wie es dargestellt wird. Familienarbeit und Erwerbsarbeit folgen unterschiedlichen Lebensmaximen. Wer nicht versteht, daß Arbeit nicht erst Sinn fürs Leben macht, wenn sie „für sich“ geschieht, sondern daß arbeiten „mit und für andere“ die ursprüngliche Konstante unserer Menschwerdung ist, wird für den Eigenwert der Familienar- beit kein Verständnis aufbringen. Der Eigensinn der Familie ist das „Füreinan- der“ und deshalb der Antipode des Konkurrenzprinzips „Gegeneinander“. Diese Eigenständigkeit der Familie muß verteidigt werden, wenn wir der totalen Ver- wirtschaftung des Lebens entgehen wollen. Selbst der Wirtschaft bekäme dieser Totalitarismus nicht, weil es der Mensch nicht aushält, nur an sich zu denken. Autismus ist eine Krankheit. Die Programme zur Vereinbarung von Familie und Beruf stehen bei Licht be- trachtet unter dem Verdacht, wie ein sanftes Unterwerfungsmittel der Familie

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unter die Knute der Erwerbsgesellschaft zu wirken. Es handelt sich um ein „Unterstützungsprogramm“ für die Familie, das die volle Einbeziehung beider Ehepartner in die Lohnarbeit zum Ziel hat. Das vorerst noch störende Element Kind soll durch frühestmögliche Überführung in die staatliche Erziehungsarbeit stillgelegt werden. Anstelle der Amateure „Mama und Papa“ tritt eine professio- nalisierte Elternschaft namens „Schule“, die für das ganze Kind zuständig ist. Mutterarbeit wird erst anerkannt, wenn sie für die Nachbarkinder eingesetzt wird, wenn die Mütter ihre Kinder austauschen, werden sie bezahlt. Das ist das System „Tagesmutter“, in dem Erziehungsarbeit nur als Fremdbetreuung „ge- zählt“ wird. Die Anstrengung zur Abschaffung der Elternschaft könnte konse- quenterweise bis zum staatlichen Brutkasten vorwärts getrieben werden. Dann würden auch Schwangerschaft und Mutterschutz nicht mehr die Vereinbarkeit stören. Die Familie soll sich der Ratio des Erwerbs unterwerfen, weil in ihr nur, wer am Erwerb teilnimmt, anerkannt wird. Der Imperialismus der Erwerbsge- sellschaft schickt sich an, die Familie zu erobern. Schon Emil Durkheim , ein Bahnbrecher der Soziologie, schwärmte von dem Ersatz der Familie durch die Schule. „Erziehung ist dann selbst Teil der entlohn- ten Erwerbsarbeit.“ Wir haben hier also einen entscheidenden einzigartigen und unersetzlichen Augenblick, wo wir das Kind erfassen können, wo die Lücken unserer sozialen Institutionen noch nicht zu tief seine Natur verändert und seine Gefühle haben erwecken können. Die Enteignung der Kindheit durch Verschu- lung hat eine doppelte Funktion: Vereinbarkeit von Familie und Beruf heißt erstens Entlastung der Eltern von der unentgeltlichen Arbeit für Kinder und zweitens Konditionierung der Kinder für den maximalen Berufseinsatz. Mit dem Programm Kinderhort, Kindertagesstätte, Kindergarten, Ganztagsschule, schuli- sche Ferienbetreuung sind die Lücken der Verstaatlichung der Kindheit schon fast geschlossen. Die Schlafzeit ist noch in festen Händen der Familie. Wahr- scheinlich kommt der aufgeregte Eifer der Schulreformen erst dann zur Ruhe, wenn die ganze Kindheit – von der Wiege bis zur Berufsrente in ein staatliches Rund-Um-Internat gezwängt ist.

Flexibel, mobil, ungewiß

Jede 8. Ehe in Deutschland lebt in einer Fernbeziehung. Liebe wird zu Telepa- thie. Es geht von der Seßhaftigkeit, die wir uns über Jahrtausende mühsam an- gewöhnt hatten, wieder zurück zum Nomadentum. Mit Green-Card sogar global. Die Informatiker kommen aus Bangalore und die Krankenschwester aus Mali, allerdings allein, „ohne Familienballast“. Die Ehe folgt der Platzanweisung, die durch die imperiale Wirtschaft gesetzt wird. Flexibel und mobil, am besten auf Abruf, befristet, ausgeliehen, arbeitet der moderne Jobhopser. Die beiden Ehe- partner sollen dort arbeiten, wo sie Arbeit finden. So werden Trennwände zwischen Familie und Erwerbsarbeit geschliffen. Der Unterschied zwischen Privat und Öffentlich wird niedergewalzt. Die Erwerbsge- sinnung nistet sich in jede Nische der Gesellschaft ein. Der moderne Arbeitneh- mer ist immer im Dienst, abrufbar: mit Handy am Gürtel und dem Computer auf

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dem Nachttisch jederzeit erreichbar. Feierabend und Familie sind Nostalgie. Familien sind in vielen Fällen längst zu Filialen der Betriebe mutiert. Die so bewunderte Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit wird jedoch von einer geheimen Traurigkeit erfaßt, die aus dem Verlust der eigensinnigen Familienwelt besteht.

Die Paradoxien des „Fortschritts“

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß ausgerechnet die linke Arbeiter- bewegung eingeschwenkt ist auf das Programm der rücksichtslosen Integration auch der letzten Frau in die von ihr als repressiv bekämpften Leistungsgesell- schaft. Offenbar sollen Frauen zusammen mit den Männern erst unterdrückt werden, um sich sodann leichter zusammen mit diesen aus dem Elend zu befrei- en. Das ist eine Dialektik von der feinsten Art, nämlich der spitzfindigsten. Auf der anderen Seite machte die feministische Bewegung von jeher die Hausarbeit als Ursprungsland der Unterdrückung aus. Sie erkennt in der Fabrikarbeiterin, die in einer Schicht am Fließband 2.000 Schrauben anzieht, immer noch mehr Emanzipation als in der Arbeit der Mutter. Sie übersieht allerdings, daß der An- teil der Freiwilligkeit an der Fließbandarbeit unvergleichlich geringer ist als bei der Arbeit der Mutter. Die spätbürgerliche Verniedlichung des Spannungsfeldes Wirtschaft-Familie leidet unter einer gewissen Lebensferne. Prototyp der Verehrung ist die Frau, die mühelos Familie und Beruf vereinen kann. Die gehobene sechsfache Mutter mit Kinderfrau und Reitlehrern eignet sich jedoch nicht zur Ikone, vor welcher die gerade zur Pflegerin umgeschulte ehemalige Schlecker-Mitarbeiterin mit Ehe- mann im Niedriglohnsektor drei Kinder knien soll. Es ist eben nicht alles nur eine Organisationsfrage. Wenn im Erwerbssektor ordentlich verdient wird, muß die Familienzone nicht auf gnädige Häppchen und organisatorisches Entgegenkommen der Wirtschaft hoffen. Die Synergie, welche aus einer echten Kooperation von Familie und Beruf geschöpft werden kann, ist eine von Niedriglöhnen und „burn out“ befreite Berufswelt. Die optimal „Vereinbarten“ sind Leiharbeiter, befristet Beschäftigte. Auf Abruf Tätige, die erst gar keine Familie gegründet haben, um sich so unbe- schwert der Berufsarbeit zu widmen. Ein geordnetes Nebeneinander von Familie und Beruf, das beiden ihr eigenes Terrain beläßt, bedeutet allerdings nicht, daß Familie für den Vater „arbeitsfreie“ Zone ist. Die Trennung von privater und ökonomischer Sphäre hat keineswegs zur Voraussetzung, daß die Mutter allein für Familienarbeit zuständig ist. Fami- lienarbeit ist Teil einer partnerschaftlich familiären Arbeitsteilung. Die Vereinbarkeitsrhetorik verdeckt eine Reihe von strukturellen Problemen. Dazu gehört die Frage, ob das Erwerbseinkommen nur dem Ehepartner zuge- rechnet wird, der es „verdient“, oder auch dem, der es mit seiner Familienarbeit ermöglicht. In die Fragestellung geht auch ein, wie sich Mutter und Vater eine gute Kindheit ihrer Kinder vorstellen. Die Frage ist also nicht nur, wie Frauen ein chancengleicher Zugang zur Erwerbsarbeit eröffnet wird, sondern wie unter

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dem Ansturm des globalen Ökonomismus die Familienarbeit der wechselseitigen Sorge (ohne Entgelt) ein Lebensraum erhalten bleiben kann, in der die Aufgaben herrschaftsfrei, nämlich partnerschaftlich zwischen Mann und Frau und Kindern geteilt werden. Was auf der großen Bühne des kulturellen Wandels und der gesellschaftlichen Strukturprozesse geschieht, findet sein Echo in den konkreten Veränderungen des Familienrechts. Das Scheidungsrecht antizipiert den Verfall des Familien- rechtes. Wie so oft in Umbruchzeiten nimmt die Ausnahme von heute die Nor- malität von morgen vorweg.

Von Schuld zur Zerrüttung

Bis 1977 galt das Schuldprinzip in Sachen Ehescheidung. Es wurde durch das Prinzip Zerrüttung ersetzt. Damit folgt das Eherecht einem allgemeinen Trend der Rechtsentwicklung. Schuld und Sühne traten zugunsten von Resozialisierung und Rehabilitation zurück. Strafe verwandelt sich in Therapie. Sichtbar wird das an der Veränderung der Unterhaltsregelungen im Scheidungsrecht. Es spiegelt ungewollt die familiäre Kulturrevolution. Der Unterhaltsanspruch hat sich inzwi- schen zu einer Art Eingliederungshilfe mit begrenzter Dauer entwickelt. Die Leistungen für die geschiedene Mutter, die sich in der Ehe „hauptberuflich“ den Kindern und dem Haushalt gewidmet hat, ähneln immer stärker dem Charakter nach den Einarbeitungszuschüssen für Langzeitarbeitslose. Für die feministische Bewegung ist die nicht erwerbstätige Mutter sowieso eine Arbeitslose, die sich von den übrigen Arbeitslosen nur dadurch unterscheidet, daß sie als Mutterarbei- terin dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Im Betreuungsunterhalt soll die geschiedene Mutter das Kind ab dem dritten Lebensjahr in die „Fremdbetreuung“ übergeben. So will es neuerdings der Bun- desgerichtshof. Die geschiedene Mutter mit Kind soll also im gleichen Umfang erwerbstätig sein wie der geschiedene Vater ohne Kind. Erziehungsarbeit ist nämlich in diesem höchstrichterlichen Verständnis keine Arbeit. Als Arbeit gilt offenbar nur die Erwerbsarbeit des Vaters. In dem Streit um den Betreuungsun- terhalt des Kindes taucht das Wohl des Kindes gar nicht oder nur am Rand auf. Im Zentrum stehen Erwerbszumutungen der einen Seite gegen Unterhaltspflich- ten der anderen. Es streiten zwei, was für sie gut sei, ohne zu fragen, was für das Kind das Beste ist. Ein mir bekannter Ehemann, der in Saus und Braus im Ausland lebt, verlangt von seiner mit drei Kindern zurückgelassenen Ehefrau, daß sie ihre Stundenzahl als Lehrerin erhöht, damit er seinen Betreuungsunterhalt senken kann. Weiß der entlaufene Vater, der in Moskau einen Porsche als Zweitwagen fährt, wie der Schulalltag heutzutage organisiert sein muß, um die Kinder „mütterlich“ zu be- treuen? Der dazu gehörige Rechtsanwalt setzt der Frivolität die Krone auf, indem er generös vorschlug, die Lehrerin solle auf ihre besondere Lehr-Qualifikation verzichten und zum einfachen Unterricht zurückkehren, dann könne sie mehr Stunden mit weniger Vorbereitungszeit geben. Das ist ein sonderbares Emanzi-

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pationsverständnis, indem von der Frau verlangt wird, auf selbst erworbene Qua- lifikation zugunsten der Kasse des Mannes zu verzichten.

Paradigmenwechsel im Eherecht.

Das alte Eherecht hatte den schuldig geschiedenen Vater im Visier. Er zahlte alles und zwar nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten. Der Unterhalt war eine Art Schadensersatz. Die schuldig geschiedene Ehefrau zahlte dagegen nur „angemessenen Unterhalt“. Bei beiderseitigem Verschulden zählte die Billigkeit. Zusammengefaßt läßt sich behaupten: „Das alte Recht gab der unschuldig ge- schiedenen Frau fast alles, der schuldig geschiedenen allerdings nichts“ ( Dieter Schwab ). Im Hintergrund dieses Denkschemas steht der schuldige Patriarch, der „gestraft“ werden soll. An der Korrektur dieser geschlechtsspezifischen Einsei- tigkeiten setzt die Eherechtsreform 1977 zurecht an, schüttete jedoch das Kind mit dem Bade aus. Gewinner der neuen Regel war die Ehefrau, die, ihres Ehe- mannes überdrüssig, sich einen neuen Liebhaber besorgt und sich vom alten Ehegatten mit Zugewinn, Versorgung und Unterhalt ein Leben lang gut aushal- ten läßt. Als Phantomgestalt erschien zu Abschreckungszwecken die „flotte Chefarztgat- tin“ in der Eherechtsdebatte, die aus Gründen attraktiverer Alternativen ihren zermürbten Ehemann verlassen hat, ihn aber weiterhin finanziell auslaugt. Das maskuline Rückspiel setzte 1986 ein. Die Unterhaltsansprüche wurden zeitlich begrenzt und an die das „Eheleben prägenden Lebensverhältnisse“ gebunden. Das waren zwei wesentliche Einschränkungen des Unterhaltsrechts. Gewinner waren jetzt die „flotten Männer“ im zweiten Frühling ihres Lebens, die zuguns- ten ihrer neuen Liebe die alte verstoßen hatten. Jetzt waren die Frauen, die mit der Ehe eine dauerhafte familiäre Lebensplanung verbunden hatten, die „Dum- men“ des neuen Scheidungsrechts. Sie nämlich hatten ab sofort die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt war der allein – oder höher verdienende Ehemann. Ihm und den Kindern zuliebe hatte sich die Mutter auf den zweiten Platz in der familiären Einkommensbe- schaffung eingelassen. Das entsprach ihren gemeinsamen Vorhaben. Jetzt nach- dem das Projekt gescheitert war, stand die „Hausarbeiterin“ da, als hätte sie in der Ehe nur Ferien gemacht. Nach der Trennung und einer Übergangszeit be- ginnt für die „Zurückgebliebene“ die Neuregelung des Lebensstatus bei Null. Die gemeinsam der Ehe prägenden Erwartungen landen irgendwann in Nirwana. Jeder sorgt für sich. „Du bekommst nicht mein russisches Geld“ stellte einer lapidar fest, der Haus, Hof, Ehefrau und Kinder Hals über Kopf verlassen hatte, um im Ausland reich zu werden. Es ist „sein Geld“, von dem die ehemalige Ehefrau gnädig vorübergehend, wenn sie Glück vor Gericht hat, etwas abbe- kommt. Wie „sein Geld“ zustande kam und welchen Beitrag die verlassene Ehe- frau dazu geleistet hat, geht offensichtlich niemand etwas an. Wenn die Ehe wie eine Aktiengesellschaft betrachtet wird, in die man Anteile einbringt, abzieht und an neuer Stelle wieder unterbringt, dann ist das neue Ehe- recht konsequent. Das kann man nicht bestreiten. Nur wollen wir das so? War

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das beabsichtigt? Was wäre aber gewesen, wenn seine Ehefrau ihn nicht geheira- tet hätte, keine Kinder erzogen und nicht seine Karriere gefördert hätte? Solche nachträglichen Rechnungen lassen sich gar nicht aufmachen. In unserem Fall hat die berufstätige Ehefrau und Mutter sogar die langzeit-dilettierende, mühsame Promotion ihres Gatten mitfinanziert und sogar sein Bafög mit zurückgezahlt. Aus dem Ehe- und Familienrecht schwindet offenbar jedweder Gedanke der Kontinuität und nach wirkender gemeinsame Verantwortung füreinander. Die gemeinsame Verantwortung aus gemeinsamer Lebenszeit mit dem Partner läßt sich nur mit einem gesetzlich erzwungenen Gedächtnis-Schwund ausschlies- sen. Dazu muß man noch Moralität aus allen Bindungen und Beziehungen elimi- nieren. Denn Moral gilt nicht nur augenblicklich, und Verantwortung ist kein Event. Die Leitfigur des neuen Scheidungsrechts ist ein Kunstmensch ohne Ge- dächtnis und Moral. Er ist vergleichbar der Existenz eines Idioten. Das moderne Scheidungsrecht ist ein idiotisches Eherecht. Auf was lassen sich die Ehepartner bei der Heirat eigentlich ein? Was in der Zeit ihrer Scheidung gilt, war bei der Hochzeit noch gar nicht bekannt. Das moderne Eherecht ändert sich mit einer Wechselhaftigkeit, die bei Moden und dem Wech- sel zwischen kurzen und langen Röcken üblich ist. Vertrauensschutz ist jedoch eine rechtsstaatliche Elementarvoraussetzung. Man muß wissen, was nicht nur heute gilt. Im Eherecht ist Vertrauensschutz Begleitung von auf Dauer angeleg- ten Eheverhältnissen. Aber wie soll auf Dauer angewiesenes Vertrauen entste- hen, wenn alles im Fluß ist? Die „sich verändernden Lebensverhältnisse“ als Maßstab des neuen Scheidungsrechtes offenbaren ungewollt die Konfusionen des Familienrechtes. Die Veränderungen werden an den Veränderungen gemes- sen. Das ist die große Kehre von Verläßlichkeit zur Unberechenbarkeit. Der Orientierungswechsel gleicht dem Versuch des Skifahrers, der sich die Slalom- fahnen auf den Rücken gebunden hat, um nicht anzustoßen. Die Familiengerichte ebnen im vorauseilenden Gehorsam die Bahnen, zu denen dem Gesetzgeber noch der Mut fehlt. Der Bundesgerichtshof entwickelt sich zur selbstreferentiellen Behörde eines familienfeindlichen Eherechtes. Er entzieht Ehe und Familie den besonderen Schutz des Grundgesetzes (Art. 6). Das Bun- desverfassungsgericht legte zwischenzeitlich dem Übereifer des Gerichtes bereits Zügel an. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß eine Große Koaliti- on des vermeintlichen Fortschritts mit enormem Fleiß die Ehe und die Familie zermürben, auf daß die ungebremste neoliberale Verwirtschaftung das ganze Leben in seinen Strudel reißt.

Woher kommt Rettung?

Von der feministischen Bewegung ist keine Lebenshilfe für Ehe und Familie zu erwarten. Die Hausfrau und Mutter war nie die Klientel der modernen Frauen- bewegung. Gewinner der emanzipativen Entkoppelung der Ehepartner sind die älteren Herren, die in einem zweiten juvenilen Frühling ihre alten Ehefrauen entsorgen und gegen eine junge frische tauschen. Mehr alleinstehende Frauen im Alter sind das traurige Ergebnis dieser Art der Emanzipation.

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Gibt es nicht doch eine Kraft, welche die Ehe gegen alle wirtschaftlichen Nut- zenerwägungen und Individualisierungsfixierungen am Leben erhält? Wieso ist die Ehe nicht längst vor die Phalanx mächtiger ökonomisierten Interessen in die Knie gegangen? Ist die Liebe nur eine Sentimentalität und die Ehe nur eine lieb- liche Nostalgie? Was war der Grund, daß in den Wirren des Krieges und den Turbulenzen der Nachkriegszeit die Frauen ihre vermißten Männer und die Män- ner ihre vertriebenen und geflüchteten Frauen in ganz Deutschland suchten und fanden. Ist in der Ehe und Familie doch eine anthropologische Konstante einge- baut, die gegen alle Widerstände auf evolutionäre Entfaltung drängt? Und hier taucht unvermutet mein platonisches „Märchen“ wieder auf. Ist in dem Mythos vom ursprünglichen „Mannweib“ nicht die Erinnerung erhalten, daß sich weder der Mann noch die Frau alleine genügen? Von der Sehnsucht nach dem anderen berichten viele alte Geschichten. „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt“. (Gen. 2,18) Deshalb ersehnt er den „als Mann und Frau“. (Gen 1,27) Ist die menschliche Person auf Dualität ausgelegt? Ist das Ich nur über das Du erreichbar, wie es die Buber ‘sche Dialogphilosophie vermutet? Erschüttern die großen Lebenstragödien von Anna Karenina, Madame Bovary und Effie Briest nicht gerade deshalb unsere Gemüter, weil wir uns einfühlen können in die Kata- strophen der unerfüllten oder gar zerstörenden Liebe. Heloise und Abelard , Tris- tan und Isolde , Romeo und Julia haben im anderen nicht sich selbst gesucht, sondern die Vollendung des Menschen, der aus Frau und Mann besteht (siehe Platon ). Die Zweisamkeitsidee beunruhigte schon früh die gesellschaftliche Entwicklung und unterspülte bisweilen harte Herr- und Gefolgschaft. Penelope hält dem ab- wesenden Abenteurer Odysseus zehn Jahre in großer Bedrängnis die Treue. Ilias und Odyssee sind auch Geschichten großer Liebe. Die Idee der ehelichen Treue ist eine starke kulturelle Kraft. Selbst brutale Kollektivierungen haben die Idee der Ehe und Familie als Zufluchtsort des Widerstandes gegen die Vermachtung des Menschen nie gänzlich auslöschen können. Französische Revolution wie sowjetische versuchten vergebens, Ehe und Familie zu zerstören. Die Maoisten waren die letzten in der Reihe der großen Familienruinierer. Bisher sind diese Modernisierer mit ihren gewaltsamen Versuchen gescheitert. Werden es die neoliberale Softies auf leisen Sohlen schaffen, was den Gewaltsystemen mißlun- gen ist? Könnte die Ehe, gereinigt von historischen Verirrungen, sozialen Verengungen und wirtschaftlichen Verkümmerungen, befreit von autoritären Strukturen nicht der Nukleus einer herrschaftsfreien partnerschaftlichen Gesellschaft sein? Also einer Gesellschaft, in der nicht nur „Oben und Unten“, „Leistung und Gegenleis- tung“, „Geld und Geltung“ gilt, sondern – man traut es sich kaum zu sagen – auch Sympathie und Liebe. Vielleicht lassen sich dann die unvermeidlichen Gesetze der Biologie (Alter) und vermeintlichen Zwänge der Ökonomie (Abhän- gigkeit) nicht nur leichter ertragen, sondern sogar mildern oder gar zurückdrän- gen.

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Ist in der partnerschaftlichen Ehe vielleicht ein utopisches Moment enthalten, auf das wir evolutionär angelegt sind? Freilich ist dieses Ideal immer vom Scheitern bedroht. Das Scheitern einer Idee ist jedoch noch nicht ihr Dementi. Muß es für den Fall der Ehescheidung und des Scheiterns nicht doch ein human geregeltes Nachwirken geben, das den Versuch, zusammen zu leben, nicht wie ein Verse- hen oder gar Versagen bewertet? Läßt sich der Kairos der Liebe (der im „Die oder Keine/ Der oder Keiner“ gipfelt) einfach annullieren und spurlos beseiti- gen? Ist die Amnesie amtliche Scheidungsbedingung? Wenn die Ehe die inten- sivste und intimste Sozialbeziehung ist, dann ist sie auf Dauer angelegt. Die Dauer ist die säkulare Variante der Ewigkeit. Das Dauerhafte steht über dem Vorübergehen.

Die sichtbare Transzendenz der Ehe

Die Dauerhaftigkeit der Ehe wird im Kind anschaulich. Eltern leben in deren Kinder weiter. Kinder sind die Brücke der Ehe zur Transzendenz, die sich in der Familie in der horizontalen Dimension erstreckt. Horizontale und vertikale Transzendenz kreuzen sich in der Familie. Die Folge einer Horizontverengung des individuellen Lebens ist die kinderlose Gesellschaft. Ihr Preis ist die Zu- kunftslosigkeit. Die Kinder sind die ersten, welch die Folgen der Kurzweiligkeit der modernen Lebensabschnittpartnerschaft tragen. Demographie ist nicht ledig- lich Biologie, sondern auch die Futurologie einer kinderlosen Gesellschaft, der die Zukunft ausgegangen ist. Mit der Verteidigung der Familie wird Privatheit verteidigt. Die private Sphäre ist das Ergebnis eines jahrhundertlangen Zivilisationsprozesses der Emanzipation von der Allzuständigkeit der Macht. „Privatheit“ mußte Wirtschaft und Gesell- schaft und Staat abgerungen werden. Soll dieser Emanzipationsgewinn jetzt zurückgeholt werden? Die Ehe als Dependance der Wirtschaft und die Kindheit als Filiale des Staates? Es könnte sein, daß mit dem Schicksal der Familie auch freiheitliche Traditionen abgebaut werden. Denn die Trennung von Privat und Öffentlich gehört zu modernen Gewaltenteilen, die uns vor dem Totalitarismus einer allgegenwärtigen Öffentlichkeit schützt. Die staatliche Familienpolitik hat inzwischen eine Art von Modernität erreicht, in der niemand recht weiß, welche Funktion die Familie im Zusammenleben der Menschen „spielen“ soll. Die Frage läßt sich nur beantworten, wenn man „sich Gedanken macht“, wie eine gute Gesellschaft eingerichtet sein soll, in der ein gelungenes Leben möglich ist. Wir müssen unsere Hoffnung auf Verfassung und Verfassungsgericht setzen, daß sie den grundgesetzlichen besonderen Schutz von Ehe und Familie notfalls auch gegen den Bundesgerichtshof und den Zeitgeist verteidigen wird. Ohne eine Gesinnungsreform jedoch wird es auch keine „Zuständereform“ geben. Nur wo bleibt meine CDU?

Dr. Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozial- ordnung in der Regierung Kohl.

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Ralph Weimann

Der Glaube verdunstet in den Seelen

Das Jahr des Glaubens zur Überwindung der Glaubenskrise

Ein Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt

1920 trieb es Romano Guardini im ersten von fünf Vorträgen zu einer Aussage, die in den folgenden Jahren zu großer Popularität gelangte, er schrieb: „Ein reli- giöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“ 1 Gut 10 Jahre später ergänzt er dazu: „‚Die Kirche wird lebendig in den Seelen‘, hat der Verfasser vor zehn Jahren geschrieben. Heute fügt er hinzu: Dann, wenn Christus in den Seelen lebendig wird; Er, wie er ist, aus der Sendung des Vaters an den Menschen herantretend.“ 2 Von diesem Vorgang ist in vielen Teilen der westlichen Welt nur noch wenig zu spüren. Es ließe sich in Umkehrung an Guardini durchaus formulieren: „Ein Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Der Glaube verdunstet in den Seelen.“ Dieser Vorgang ist in der Tat von unabsehbarer Tragweite, denn immer dann, wenn der Glaube an Gott schwindet, tritt an dessen Stelle ein Ersatzglaube. Der Volksmund drückt es so aus: „Wo der Glaube schwindet, breitet sich Aberglaube aus.“ In Anlehnung an Papst Leo XIII. schrieb der selige Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Veritatis splendor : „Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, in deren Gefolge der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleis- tet. […] Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt darum in der Verneinung der transzendentalen Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtba- ren Gottes ist.“ 3 Das Verdunsten des Glaubens führt zu einer Entchristlichung der Gesellschaft, deren Konsequenzen unabsehbar sind. Als Lehrstuhlinhaber für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie hat Romano Guardini scharfsinnige Analysen der geistesgeschichtlichen Ent- wicklung gezogen, in denen er die Gründe darlegt, warum ganze Nationen in die Netze der Diktaturen des 20. Jahrhunderts getrieben wurden. 1952 schrieb er: „In der Neuzeit zeigt sich etwas Eigentümliches, das jeden betroffen machen muß, der fähig ist, Wesentliches zu sehen. Der Mensch – richtiger gesagt, viele Men- schen; jene, die geistig Maß und Ton bestimmen – lösen sich von Gott ab. Sie erklären sich für autonom, das heißt für fähig und befugt, sich selbst das Gesetz ihres Lebens zu geben. […] Diese Haltung geht immer entschiedener darauf zu, den Menschen absolut zu setzen.“ 4 Diese Analyse erhält eine besondere Gewich- tung dadurch, daß Guardini diese Zeilen noch geprägt vom Schrecken der natio- nalsozialistischen Diktatur und unter der Bedrohung durch Kommunismus und Kalten Krieg verfaßte. Heute sind diese Bedrohungen zwar gewichen, doch hat sich die Entwicklung „Loslösung von Gott“ noch weiter beschleunigt. Das Euro-

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pa bewußt auf einen Gottesbezug in seiner Verfassung verzichtet hat, zeigt nur zu deutlich, wie Recht Guardini gehabt hat. So wird das Fundament brüchig, auf dem diese Gesellschaft steht. Der Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Di Fabio schreibt in der „Ein- führung in das Grundgesetz“: „Jede geistige und politische Konstruktion, die diese Demut vor Gott verlacht, die die Symbole einer zweitausendjährigen Kul- turgeschichte mißachtet und sich allein auf die Evidenz ihrer jeweiligen tagesak- tuellen Überzeugungen verläßt, führt die Menschen in gefährliche Irrtümer.“ 5 Wohin diese Irrtümer eine demokratische Gesellschaft führen können, verdeutli- chen auf dramatische Weise die Ergebnisse dessen, was sich beispielsweise unter dem weiten Begriff der Bioethik versteckt. Von assistierter Reproduktion menschlichen Lebens über die Selektion (vgl. Family balancing ) des Ge- schlechts bis hin zum Klonen und zur Züchtung von Chimären ist vieles möglich geworden, Formen der Euthanasie eingeschlossen. Ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, wird es schwer umzukehren, die Entwicklung zu korrigie- ren. Andreas Püttmann hat dies in seinem Buch Gesellschaft ohne Gott treffend zum Ausdruck gebracht, wenn er bereits im Vorwort schreibt: „Noch nie in der Menschheitsgeschichte haben ganze Gesellschaften dauerhaft – um eine aktuelle Atheisten-Parole aufzugreifen – ‚gottlos glücklich‘ gelebt; die letzten Versuche in Deutschland und Europa, mehr staatlich oktroyiert als frei gewählt, endeten katastrophal in Tyrannei, Massenmord, Krieg, Zusammenbruch, Vertreibung, Hungersnot.“ 6

„Unweltlicher Gott“ und „entweltlichte“ Kirche

Von diesem die ganze Gesellschaft betreffenden Vorgang – wie könnte es anders sein – ist auch die Kirche nicht verschont geblieben, eine „Verweltlichung“ wie sie der Papst in seiner Ansprache in Freiburg nannte, hat die Kirche erfaßt. 7 Nach Guardini liegt die Ursache für diesen zunächst schleichenden, dann aber gewal- tig an Fahrt gewinnenden Prozeß in der Gottvergessenheit begründet, die es in Konsequenz mit sich brachte, den Menschen nun entweder absolut zu setzen, oder dazu führte, daß der Mensch sich preisgab. „Die Ursünde bestand darin, daß der Mensch nicht mehr Ebenbild sein wollte, sondern selbst Urbild; wissend und mächtig wie Gott. Damit fiel er aus der Beziehung zu Gott heraus. Die Brücke ging ins Leere.“ 8 Diese Leere zeigt sich inzwischen immer deutlicher und man muß schon den Blick für die Wirklichkeit verschließen, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Am 21. August 2005 kam Papst Benedikt XVI. mit dem deutschen Episkopat im erzbischöflichen Palais in Köln zusammen und hielt eine Ansprache, die eben diesen Aspekt zur Sprache bringt. Nachdem er eine Reihe positiver Aspekte der Kirche in Deutschland angeführt hat, fügt er hinzu: „Wir wissen, daß die Säkula- risierung und Entchristlichung vorangehen, daß der Relativismus wächst, daß der Einfluß der katholischen Ethik und Moral immer geringer wird. Nicht wenige Menschen verlassen die Kirche, oder, wenn sie bleiben, akzeptieren sie doch nur ein Auswahlchristentum, einen Teil der katholischen Lehre.“ 9 Diese Analyse

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bezieht sich nicht nur auf die Gesellschaft, sondern vor allem auf die Kirche. So ist es kein Geheimnis, daß auch in Teilen der Kirche sich relativistische Tenden- zen ausgebreitet haben, die den Glauben verwässern und teilweise zu ersticken drohen. Viele Gläubige akzeptieren, wie der Papst treffend konstatiert, nur noch eine Art „Auswahlchristentum“. Jene Glaubensinhalte, die den eigenen Kriterien, den eigenen Vorlieben, ja dem eigenen Lebensstil entsprechen werden akzep- tiert. Was aber Schwierigkeiten bereitet oder gar eine Veränderung des eigenen Lebens, ja den Worten des Herrn entsprechend, eine „Umkehr“ mit sich bringen könnte, wird hingegen abgelehnt. Nicht man selbst, sondern die Kirche müsse sich ändern, so wird behauptet; die Art und Weise wie viele Diskussionen um die sogenannten Dialogprozesse ge- führt werden, bestätigen diese Tendenz nur allzu deutlich. Der Glaube selbst wird vor allem da, wo er fordernd und hart erscheint – man denke beispielsweise an die Rede von den letzten Dingen – zur Diskussion gestellt oder einfach über- gangen. Das Licht, daß in der Finsternis leuchten soll, scheint die Finsternis kaum mehr zu erhellen, weil es – aus unterschiedlichen Gründen – versteckt wurde. Dabei heißt es doch so trefflich im Evangelium: „Niemand zündet ein Licht an und deckt es mit einem Gefäß zu oder stellt es unter das Bett, sondern man stellt das Licht auf den Leuchter, damit alle, die eintreten, es leuchten se- hen“ (Lk 8,16). Der Glaube verdunstet in den Seelen, eben weil das Licht des Glaubens – vor allem in Teilen der westlichen Welt – dämmrig geworden ist. Dies zeigt sich deutlich im Rückgang der Glaubenspraxis und in einer zuneh- menden Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben. Der Papst hat das in seiner Rede in Freiburg deutlich herausgestellt. Muß sich also, um die Frage noch einmal aufzugreifen, die Kirche ändern, muß sie sich weiter anpassen, um den zweifelnden Menschen von heute entgegenzukommen? Die Antwort von Papst Benedikt ist denkbar einfach und biblisch zugleich, er antwortete: „Die selige Mutter Theresa wurde einmal gefragt, was sich ihrer Meinung nach als erstes in der Kirche ändern müsse. Ihre Antwort war: Sie und ich! […] Jeder Christ und die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes sind zur stetigen Änderung aufgerufen.“ 10 Änderung im christlichen Sinn ist zunächst und vor allem Umkehr (vgl. Mk 1,15; Lk 3,3; Lk 15,10), darin bestand die Mission der zwölf Apostel, sie riefen die Menschen zur Umkehr (vgl. Mk 6,12) auf, und darin besteht auch die Aufgabe der Kirche aller Zeiten. Johannes Paul II. hat schon 1984 einen Säkularismus, einen von Gott getrennten Humanismus, einen Konsumismus und Relativismus im Apostolischen Schreiben Reconciliatio et Penitentia als Ursache dafür festgestellt, daß das Sündenbewußtsein geschwun- den sei und der Mensch dadurch dem biblischen Ruf zur Umkehr kaum mehr entspreche. Er schrieb in Anlehnung an Papst Pius XII. , daß „‚die Sünde des Jahrhunderts der Verlust des Bewußtseins von Sünde ist.‘“ 11 Clive Staples Lewis bemerkt dazu: „Das Christentum fordert die Menschen zur Reue auf und sagt ihnen Vergebung zu. Einem Menschen jedoch, der nicht ein- mal weiß, daß er etwas getan hat, was er bereuen müßte, und der infolgedessen auch keine Vergebung braucht, hat das Christentum nichts zu sagen.“ 12 Daher forderte Johannes Paul II. in besagtem Apostolischem Schreiben dazu auf, wie-

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der neu ein echtes Sündenbewußtsein zu formen, um den Menschen zu helfen die geistige Krise zu überwinden. Wenn also Papst Benedikt von einer „Verweltli- chung“ der Kirche spricht, dann ist das ein Weckruf, wieder auf das Eigentliche der Kirche zu blicken. Würde die Kirche etwa bemüht sein, Arbeitsverhältnisse und Strukturen aufrechtzuerhalten, dabei aber dem ihr eigenen Auftrag nicht mehr gerecht werden – wie es beispielsweise im Verkauf pornographischer und esoterischer Artikel im Weltbildverlag 13 geschehen ist – dann verlöre sie bald und zu Recht ihre Daseinsberechtigung. Es geht bei der ganzen Debatte um die „Entweltlichung“ vor allem darum, die Kirche neu zu sensibilisieren, der ihr eigenen Aufgabe zu entsprechen, nämlich die Menschen zur Bekehrung aufzurufen und selbst wie „Bekehrte“ zu leben, Kompromisse mit der Sünde kann und darf es nicht geben. Guardini hat 1943, also mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, mit großer Weitsicht be- schrieben, was unter einer „unweltlichen Kirche“ zu verstehen ist: „Menschen, Dinge, Geschehnisse sind weltlich, irdisch, diesseitig, da und vorhanden; Gott hingegen ist unweltlich, unirdisch, entrückt, vorbehalten und geheimnishaft. […] Die Dinge der Religion können eine Ahnung davon geben; eine Kirche etwa, die nicht nur praktisch oder stattlich oder schön, sondern fromm ist. In ihr fühlt man das andere; jenes, das macht, daß man alles Weltliche draußen läßt, still wird und niederkniet.“ 14 Eine „unweltliche“ oder „entweltlichte Kirche“ ist eine Kirche, die allein Gott zum Maßstab erhebt, an dem alles gemessen wird, wie Guardini im weiteren Verlauf ausführt. Die Forderung des Papstes nach einer „entweltlichten Kirche“ ist viel tiefgrei- fender, als in vielen der anschließenden Debatten beschrieben. Es geht letztlich um die Frage nach Sein oder Nicht-Sein der Kirche, denn ihre Daseinsberechti- gung steht und fällt zusammen mit der ihr eigenen Aufgabe, das Evangelium der Umkehr zu verkünden. Eine mit sich selbst zufriedene Kirche, die sich in dieser Welt selbstgenügsam eingerichtet hat und sich zunehmend den Maßstäben der Welt angleicht, 15 verschließt – um es mit den Worten Guardinis zu sagen – sich dem „unweltlichen Gott“. Sie wäre nicht mehr das Salz der Erde (vgl. Mt 5,13), weil sie selbst zu irdisch geworden ist. Von daher ist auch die Forderung des Papstes zu verstehen, der im Konzerthaus in Freiburg diesbezüglich ausführt: „Um ihren eigentlichen Auftrag zu genügen, muß die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. Sie folgt damit den Worten Jesu: ‚Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin‘ (Joh 17,16) und gerade so gibt er sich der Welt.“ 16 Die Kirche hat die Aufgabe den „unweltlichen Gott“ der Welt zu verkünden und braucht eine gewisse Distanz zur Welt, oder – vielleicht besser ausgedrückt – sie braucht einen Freiraum für den Glauben. Denn der Glaube ist nicht immanent und geht in der Welt auf, sondern Glaube ist: „Feststehen in dem, was man er- hofft, überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Demnach bedeutet die Forderung nach einer Entweltlichung der Kirche vor allem, den Blick auf Gott zu richten, der unweltlich ist. Das bedeutet, die Dimension des Glaubens wiederzugewinnen und nicht menschlichen Satzungen und Kompro-

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missen zu folgen (vgl. Mt 15,9). Dazu kann und muß gehören, daß sich die Kir- che von Unnötigem und Überflüssigem befreit, Dinge also, die sie daran hindert, ihrem Auftrag nachzukommen und die das Zeugnis verdunkeln. In dieser Per- spektive ist es nur konsequent, daß Papst Benedikt ein Jahr des Glaubens ausruft. Durch die Tür des Glaubens zu gehen bedeute, einen Weg einzuschlagen, der ein Weg der Reinigung, der Buße und der Erneuerung ist und letztlich Umkehr be- deutet: „Aus dieser Sicht ist das Jahr des Glaubens eine Aufforderung zu einer echten und erneuerten Umkehr zum Herrn, dem einzigen Retter der Welt.“ 17

Wiederentdecken des Glaubens

Im Motu proprio Porta fidei hebt Papst Benedikt die tiefgreifenden Veränderun- gen hervor, denen die ganze Menschheit ausgesetzt ist. Ein einheitliches kultu- relles Gewebe, „das in seinem Verweis auf die Glaubensinhalte und die von ihnen inspirierten Werte weithin angenommen wurde, scheint es heute in großen Teilen der Gesellschaft aufgrund einer tiefen Glaubenskrise, die viele Menschen befallen hat, nicht mehr so zu“ (PF 2) geben. Die Gesellschaft ist längst nicht mehr christlich, ganz im Gegenteil wird es immer schwieriger, in der Gesell- schaft christlich zu leben. Ein eindeutiges Bekenntnis zum katholischen Glauben und damit zum Papst als „immerwährende[s], sichtbare[s] Prinzip und Funda- ment für die Einheit der Vielfalt von Bischöfen und Gläubigen“ 18 erschwert die Situation zusätzlich und wird selbst unter einigen katholischen Gruppierungen als Provokation gedeutet. Auch wenn hier nicht der Ort ist, die Ursachen, die zur Entstehung dieser Situa- tion geführt haben, darzulegen, so ist zweifellos eine Hermeneutik der Diskonti- nuität dafür verantwortlich zu machen, wie an anderer Stelle eingehend gezeigt. 19 Die von der Kongregation für die Glaubenslehre verfaßte „Note mit pastoralen Hinweisen zum Jahr des Glaubens“ bestätigt diese Annahme, dort heißt es Bezug nehmend auf die erste Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die römische Ku- rie: „Er [der Papst] wies die so genannte ‚Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruchs‘ als irrig zurück und förderte die von ihm so bezeichnete ‚Hermeneu- tik der Reform‘, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität“. 20 Damit ist eine wichtige Klärung für das Verständnis der heiligen Texte sowie kirchlicher Dokumente getroffen, die interpretatorische Mißverständnisse aus- schließt und die Vielfalt der Methoden in der Einheit des Glaubens und unter der Führung des Lehramtes garantiert. Der Glaube setzt nämlich – wie weiter oben bereits angeführt – einen „neuen Maßstab für das Denken und Tun, der das ganze Leben des Menschen verändert“ (PF 6). Weil der Mensch nicht Urbild, sondern Abbild Gottes ist, kann und darf er sich nicht selbst zum Maßstab werden, son- dern er muß sein Tun und Denken dem Maßstab des Urbildes (Gottes) unterwer- fen. Die Mahnung des Römerbriefes ist eindeutig: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und voll- kommen ist“ (Röm 12,2). Glaube an Gott ist ein Vorgang, der eine

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Entweltlichung voraussetzt, zumal Gott unweltlich ist. Dabei ist christlicher Glaube nicht irrational, er „appelliert an die Vernunft, an die Transparenz der Schöpfung auf den Schöpfer hin. Die christliche Religion ist Logos-Religion“. 21 Allerdings stellt diese Vernünftigkeit des Glaubens in einem Zeitalter der Ver- nunftgläubigkeit auch ein Risiko dar. Wenn nicht mehr berücksichtigt wird, daß der Glaube letztlich auf dem Zeugnis Gottes gründet und der übernatürlichen Hilfe durch Gnade bedarf, somit also einer anderen Ordnung als der philosophi- schen Erkenntnis angehört, 22 dann übernimmt sich die Theologie. Verstärkend hinzu kommt das säkulare, zu großen Teilen auf positivistischen Grundpositio- nen beruhende Wissenschaftsverständnis. Joseph Ratzinger hat dies bereits in seiner Einführung in das Christentum mit der Gleichung verum quia factum und verum quia faciendum zusammengefaßt. 23 Das Faktum stehe für die Geburt des Historismus, wonach die Welt nur noch als vom Menschen gemachte wißbar sei. Das Faciendum hingegen bezeichne die Wende zum technischen Denken, das mit dem Primat des Machbaren einherge- he. Diese Reduktionismen haben auch vor dem Glauben nicht halt gemacht, vielmehr haben zahlreiche und namhafte Theologen den Glauben selbst diesen Kriterien unterworfen, in der Absicht, vor dem säkularen Wissenschaftsver- ständnis bestehen zu können. Dadurch sind auch positive Ergebnisse zustande gekommen, doch aufs Ganze gesehen muß ein Glaube, der sich an die Welt und ihre Kriterien angepaßt hat, auf Dauer auch weltlich werden, sich den Kriterien des Faktum und Faciendum verschreiben. In der Tat verdeutlichen die vor allem in Österreich und Deutschland erhobenen Forderungen nach „Reform“ und „Dia- log“, wie sehr man sich in der Welt eingerichtet hat. Von den biblischen Katego- rien wie „Umkehr“ und „Buße“ hört man freilich wenig, dafür umso mehr von Strukturdebatten und Dialogprozessen. Doch vermag nur eine Erneuerung des Glaubens, ein Wiederentdecken des Glaubensweges – wie es Papst Benedikt im Motu proprio Porta fidei anregt (vgl. PF 2) – die tiefe Glaubenskrise zu über- winden. Kein soziales, kulturelles, politisches oder strukturelles Engagement vermag dies zu bewirken, sondern allein eine Rückbesinnung auf den Maßstab des Glaubens. Wie aber soll diese Rückbesinnung aussehen, nach welchen Kriterien und grund- legenden Prinzipien hat sie sich zu richten? In den vergangenen Jahren und Jahr- zehnten bestand eine Schwäche päpstlicher Dokumente in einer fehlenden Konk- retisierung der dargelegten Inhalte. Dieses Mal scheint der Papst daraus eine Lehre gezogen zu haben, so daß bereits kurz nach der Veröffentlichung des Motu proprio eine „Note mit pastoralen Hinweisen zum Jahr des Glaubens“ veröffent- licht wurde, die die Kriterien und grundlegenden Prinzipien für ein Wiederentde- cken bzw. eine Erneuerung des Glaubens in konkreten Schritten anschaulich darstellt.

Katechismus als Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils

Die von der Kongregation für die Glaubenslehre erstellten pastoralen Hinweise sollen der schwierigen Situation Rechnung tragen, in der sich die Gläubigen

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befinden. Wie bereits angeführt besteht eine tiefe Glaubenskrise, ein einheitli- ches kulturelles Gewebe fehlt, große Umwälzungen, schwere Probleme der Zeit stehen bevor und der Glaube wird zunehmend in Frage gestellt. Diese Schwie- rigkeiten, zu denen sicher noch andere hinzuzufügen wären, wiegen so gravie- rend, weil sie dazu beitragen, den Glauben, der für das ewige Heil notwendig ist – wie Papst Benedikt in Anlehnung an den Römerbrief anführt (vgl. PF 15) – „verdunsten“ zu lassen. Angesichts dieser Herausforderungen sei ein tieferes Erfassen der Glaubensinhalte notwendig, eine bloße Kenntnis der zu glaubenden Inhalte genüge nicht, vielmehr müsse sich das Herz auf die Gnade hin öffnen um die Tiefe des Wortes Gottes zu ergründen und all das soll sich auch im Zeugnis des Lebens reflektieren (vgl. PF 9-10). Damit sind die Ziele abgesteckt, die der Papst sich für das Jahr des Glaubens erhofft. Dem muß allerdings die Verkündi- gung des Glaubens vorausgehen, denn wie „sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt?“ (Röm 10,14). Schon in den Psalmen spiegelt sich die flehentliche Bitte um Einsicht wider, um aus ganzem Herzen der Weisung des Herrn zu folgen (vgl. Ps 119,34), um die Gebote Gottes zu kennen (vgl. Ps 119,73), um zu verstehen, was der Herr gebietet (vgl. Ps 119,125), um zu leben (vgl. Ps 119,144). Verkündigung und Mission sind also notwendig, will man den Menschen die frohe Botschaft, die zum ewigen Heil führt, nicht vorenthalten. Nicht ohne Grund rief Paulus aus: „Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ (1 Kor 9,16). An Verkündigern mag es auch in der heutigen Zeit – trotz der wenigstens in vielen Teilen Westeuropas unberech- tigten Rede vom Priestermangel – nicht fehlen, doch fehlt es an authentischen Verkündern. Wer immer das Evangelium verkündet, darf und kann es nicht im eigenen Namen tun, sondern er stellt sich in den Dienst des Evangeliums, daß seine authentische Interpretation durch die Kirche erhält, in dessen Schoß es entstanden ist. Die Realität sieht allerdings anders aus. Eine falsch verstandene Mündigkeit hat viele mit der Verkündigung Betraute dazu getrieben, die sichere Lehre des Evangeliums mit eigenen, persönlichen Meinungen und Ansichten, teilweise auch Ideologien zu vertauschen. So geschieht es nicht selten, daß ein gläubiger und verunsicherter Mensch, der zwei Priester oder qualifizierte Laien in Bezug auf eine Sache um Rat bittet, völlig entgegengesetzte und sich wider- sprechende Antworten erhält. Auch diese Problematik hat sich Papst Benedikt als „oberster Brückenbauer“ zu eigen gemacht und einen Weg aufgezeigt, um Versöhnung zu stiften und die Vielfalt in der Einheit wieder herzustellen. Sein Versöhnungsvorschlag gründet in den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils und dessen authentischen Früchten, zu denen der Katechismus der Katholischen Kirche gehört, „als siche- rer und authentischer Bezugstext für die Darlegung der katholischen Lehre“. 24 Der vom Weltepiskopat erbetene und unter dessen Mitarbeit entstandene Kate- chismus soll zur Erneuerung des gesamten kirchlichen Lebens beitragen, denn er zeigt den „Reichtum der Lehre auf, die die Kirche in den zweitausend Jahren ihrer Geschichte empfangen, gehütet und dargeboten hat“ (PF 11). Doch stieß

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dieser Weltkatechismus vor allem in Deutschland – verstärkt durch den Einfluß der Theologie Karl Rahners , der den Versuch, einen überall geltenden Weltkate- chismus zu schaffen, bereits 1976 für gescheitert erklärte 25 – auf Widerstände. Die Gründe dafür sind vielfältiger Art und können hier nicht im einzelnen wie- dergegeben werden, doch mag die Grundproblematik in einer mangelnden „Entweltlichung“ begründet liegen. Kardinal Ratzinger hat darauf in einem Vor- trag beim Herbstpriestertreffen der Erzdiözese Paderborn am 25. Oktober 1993 hingewiesen, wobei er anstelle des Wortes Entweltlichung das Wort „Entprivati- sierung“ bzw. „Enteignung“ gebraucht, was die folgenden Auszüge aus besag- tem Vortrag verdeutlichen: „Alle, die an seiner [des Katechismus] Redaktion in vielen Arbeitsgängen gearbeitet haben, wollten nicht ‚sich einbringen‘, sondern sich als Ohr und Mund der Gemeinschaft der Kirche zur Verfügung stellen. Die- se Entprivatisierung des Denkens, diese Enteignung ins Ganze hinein wurde dann eine große und beglückende Erfahrung. Für jeden galt das Gesetz: Meine Lehre ist nicht meine Lehre … Theologien, die den Katechismus nur auf die Akzeptanz ihrer Hypothesen abklopfen, bemerken das offenbar nicht.“ 26 Allein diese Entprivatisierung des Glaubens vermag jene Offenheit zu gewähr- leisten, die für die Annahme des Glaubens erforderlich ist, denn die Wahrheit des offenbarten Glaubens stützt sich auf die „Autorität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch täuschen kann“27 und der durch die Kirche vermittelt wird. Tritt dagegen an die Stelle des objektiven Glaubensinhaltes das protestantische Konzept der Autopistie, dann würde – wie bei den kirchlichen Gemeinschaften allgemein feststellbar – sich der Glaube nur zu schnell in Grup- pen und Meinungen auflösen. Um der von der Reformation hervorgerufenen Subjektivierung und Relativierung des Glaubens entgegenzutreten, wurde unter dem Pontifikat von Pius V. ein Katechismus verfaßt, der die Glaubenswahrheiten darlegte und inmitten der Wirren der Zeit Orientierung schenkte. Durch die Wendung zum Historismus und technischen Denken verbunden mit den bereits erwähnten Reduktionismen, wurde vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein vergleichbarer Prozeß der Subjektivierung und Relativierung des Glaubens losgetreten, wie in Zeiten der Reformation. 28 Angesichts dieser Situation empfiehlt Papst Benedikt XVI. mit Nachdruck den Katechismus, zu dessen Entstehen er maßgeblich mit beigetragen hat, er schreibt: „Um zu einer systematischen Kenntnis der Glaubensgeheimnisse zu gelangen, können alle im Katechismus der Katholischen Kirche ein wertvolles und unentbehrliches Hilfsmittel finden. Er ist eine der wichtigsten Früchte des Zweiten Vatikanischen Konzils“ (PF 11). Die Art und Weise, wie die dort darge- stellten Inhalte präsentiert werden, kann variieren, dies bezeugt nicht zuletzt das inzwischen erschienene Kompendium des Katechismus so wie der „Youcat“, doch die Inhalte können und dürfen nicht variieren. Die Annahme bzw. Nichtan- nahme dieser Inhalte wird somit zum Indikator für den Glauben. Papst Johannes Paul II. betonte daher: „Ich erkenne ihn [den Katechismus] als gültiges und legi- times Werkzeug im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft an, ferner als sichere Norm für die Lehre des Glaubens.“ 29 Dieses Zitat wird auch von Papst Benedikt aufgegriffen, der der Kirche und allen Menschen guten Willens damit ein In-

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strument an die Hand gibt, das einen authentischen Blick auf die frohe Botschaft ermöglicht.

Orientierungen zum Jahr des Glaubens

Zum Teil herrscht noch immer ein falsch verstandenes Konzept vom Glauben als ein System von Vorschriften und Verboten vor. Doch der Glaube, wo er wirklich gekannt und damit auch gelebt wird, besteht nicht primär aus Vorschriften und Verboten, sondern er wirkt befreiend, weil er von der Sünde und damit vom ewigen Tod befreit. In eben diese Richtung zielen die Worte des Johannesevan- geliums: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8, 31f.). Eine Freiheit losgelöst von der Wahrheit würde früher oder später in die Sklaverei führen, nur die Wahrheit befreit. Kardinal Ratzinger stellte dazu fest: „Die Frage der Freiheit ist untrennbar mit der Frage nach Wahrheit verknüpft.“ 30 Daher sind auch die im Katechismus dargestellten Glaubenswahrheiten im grö- ßeren Zusammenhang zu sehen, es geht also nicht um bloße Theorie oder eine Reihe von Vorschriften, sondern um die Begegnung mit einer Person, die in der Kirche lebt (vgl. PF 11). Daher kann der Glaube nur als ganzer angenommen werden, so wie man eine Person nur als ganze wirklich annimmt, und daher muß der Glaube vollständig sein (vgl. PF 9). Zugleich gehört das Zeugnis des Lebens zum Glauben, die „Inhalte des Glaubens müssen bekannt, gefeiert, gelebt und im Gebet ausgedrückt“ (PF 9) werden. Der Katechismus folgt einer bewährten Struktur, die das Ganze des Glaubens tatsächlich berücksichtigt. „Auf das Glaubensbekenntnis folgt nämlich die Erklä- rung des sakramentalen Lebens, in dem Christus gegenwärtig ist, wirkt und fort- während seine Kirche aufbaut. Ohne die Liturgie und die Sakramente hätte das Glaubensbekenntnis keine Wirkkraft, denn es würde ihm die Gnade fehlen, die das Zeugnis der Christen unterstützt. In gleichem Maße gewinnt die Lehre des Katechismus über das moralische Leben seine volle Bedeutung, wenn sie in Beziehung zum Glauben, zur Liturgie und zum Gebet gesetzt wird“ (PF 11). Der Katechismus – in Anlehnung an den Katechismus Pius V. – gliedert sich in vier Teile: das Credo; die heilige Liturgie mit den Sakramenten; das christliche Han- deln auf Grundlage der Gebote und das christliche Gebet. Diese vier Teile be- dingen einander, sie sind untrennbar ineinander verwoben und sobald ein Aspekt vernachlässigt würde, droht das Glaubenszeugnis unglaubwürdig zu werden. Das lex credendi (Bekenntnis) erhält seinen Ausdruck im lex celebrandi (oder ars celebrandi ), beide sind nicht zu trennen vom lex vivendi (dem Leben nach den Geboten) und bedürfen des Gebetes, der lex orandi . Demnach bedeutet das Jahr des Glaubens nicht nur eine Erneuerung der Glau- benserkenntnis, sondern eine Erneuerung des Glaubens als Ganzem in all den erwähnten Aspekten. Die abschließenden Ausführungen orientieren sich an der von der Kongregation für die Glaubenslehre erlassenen „Note mit pastoralen Hinweisen“. Das Dokument unterscheidet vier verschiedene Ebenen, für die es konkrete Orientierungen bietet. Zunächst die weltkirchliche Ebene, die Ebene

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der Bischofskonferenzen, dann die Ebene der Diözesen und schließlich die Ebe- ne der Pfarreien, Gemeinschaften, Vereinigungen und Bewegungen. Trotz der unterschiedlichen Ebenen, bleibt die Grundstruktur ähnlich: a) lex credendi : Der Glaube setzt einen neuen Maßstab für das Denken und Tun, daher wird ein Studium der Konzilsdokumente und des Katechismus der katholi- schen Kirche angeregt. 31 Symposien und ähnliche Veranstaltungen sollen abge- halten werden, um die Inhalte der katholischen Lehre bekannt zu machen und zu vertiefen, der Päpstliche Rat zur Förderung der Neuevangelisierung wird eine eigene Internetseite erstellen, Bischöfe mögen sich für eine Verbreitung der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils und des Katechismus einsetzen; Universitäten sowie lokale Katechismen sollen sich in voller Übereinstimmung mit dem Katechismus der katholischen Kirche befinden; leichtverständliche apologetische Hilfsmittel sollen erstellt werden; Studientage zum Katechismus sollen abgehalten werden; Katechesen werden empfohlen, eine korrekte Rezepti- on des Zweiten Vatikanischen Konzils und des Katechismus soll sichergestellt werden; Weiterbildungen des Klerus zu den entsprechenden Themen werden angeregt sowie eine Orientierung des Schulunterrichts am Katechismus, Kom- pendium oder „Youcat“. Für alle Gläubigen aber gilt, die katholische Lehre zu vertiefen „in Treue zum Heiligen Vater und zur gesunden Lehre“. 32 b) lex celebrandi : Das Jahr des Glaubens soll mit einer feierlichen hl. Messe eröffnet und abgeschlossen werden; auf eine liturgische Sensibilität wird wertge- legt; ferner wird besonders für die Fastenzeit angeregt, Bußgottesdienste abzu- halten, es soll um Vergebung für die Sünden gebetet werden und mit einem fes- teren Glauben und größerer Häufigkeit soll das Sakrament der Buße empfangen werden; die Feier des Glaubens in der Liturgie und besonders in der Eucharistie soll verstärkt werden. 33 c) lex vivendi : Die Weitergabe des Glaubens, eine neue Evangelisierung steht im Mittelpunkt; dazu wird eine Orientierung an Maria – dem Urbild der Kirche – angeregt, um ihren Tugenden zu folgen; an den Heiligen und Seligen gilt es Maß zu nehmen, als den authentischen Zeugen des Glaubens; jungen Menschen soll Orientierung geboten werden, um den Sinn des Lebens und die Schönheit des Glaubens zu erkennen; wünschenswert ist es, Volksmissionen und andere Initia- tiven abzuhalten, die den Taufglauben und die Verantwortung davon, Zeugnis zu geben, fördern; alle „Gläubigen sind gerufen, das Geschenk des Glaubens neu zu verlebendigen.“ 34 d) lex orandi : Pilgerfahrten, Gottesdienste und Begegnungen sollen gefördert werden; die Hauskirchen, als primäre Orte der Weitergabe des Glaubens, sollen den unveränderten Glauben weitergeben; kontemplative Gemeinschaften sollen besonders für die Erneuerung des Glaubens im Volk Gottes beten. 35 Es bleibt zu hoffen, daß das Jahr des Glaubens auch in den Ländern deutscher Sprache wohlwollend angenommen und umgesetzt wird. Der Heilige Vater hat dazu den Bischöfen und allen Gläubigen ein effizientes Instrumentarium an die Hand gegeben. Dabei geht es um die Notwendigkeit, „den Weg des Glaubens wiederzuentdecken, um die Freude und die erneute Begeisterung der Begegnung

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mit Christus immer deutlicher zutage treten zu lassen“ (PF 10). Auf diese Weise ließe sich ein wichtiger und dringend erforderlicher Beitrag leisten, einem weite- ren Verdunsten des Glaubens in den Seelen entgegenzuwirken. Dann läßt sich vielleicht bald schon wieder sagen: Ein Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt, der Glaube erwacht in den Seelen.

Anmerkungen 1) R. Guardini, Vom Sinn der Kirche. Fünf Vorträge. Die Kirche des Herrn. Meditationen über Wesen und Auftrag der Kirche, F. Henrich (Hg.), Mainz u. a. 1990, 19. 2) R. Guardini, Die religiöse Offenheit der Gegenwart. Gedanken zum geistigen und religiösen Zeitgeschehen (1934), Mit einer Einführung von S. Waanders, Paderborn 2008, 86. 3) Johannes Paul II., Litterae Encyclicae Veritatis Splendor, in: AAS 85 (1993) 1211. 4) R. Guardini, Die Annahme seiner selbst. Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, Kevelaer 2010, 53. 5) U. Di Fabio, Einführung in das Grundgesetz, in: Grundgesetz mit Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, Menschenrechtskonvention, Verfah- rensordnung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Bundesverfassungsgerichts- gesetz, Parteiengesetz, Untersuchungsausschußgesetz und Gesetz über den Petitionsaus- schuß, Textausgabe mit ausführlichem Sachverzeichnis und einer Einführung von Profes- sor Dr. Dr. Udo Di Fabio, München 40 2005, VII. 6) A. Püttmann, Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristli- chung Deutschlands, München 32011, 9. 7) Vgl. Benedikt XVI., Ansprache von Papst Benedikt XVI. am 25. September, in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 30. September 2011, Nr. 39, 19. Papst Benedikt definiert das Wort „Entweltlichung“ nicht, gibt jedoch einige Hinweise, die auf seine Bedeutung schließen lassen. Entweltlichung versteht er als Be- freiung, als Offenheit und Öffnung auf Gott hin, das schließt die Wendung zum anderen und auf die Welt nicht aus. Damit wird die Welt nicht pauschal als gottwidrige Macht verurteilt, wohl aber jene „Welt“, die sich Gott und damit ihrem eigentlichen Sinn entge- genstellt. Dem Papst geht es darum, den Primat Gottes wieder zu entdecken, von dem her auch die Welt ihren Sinn und Wert erhält. 8) R. Guardini, Annahme, 54. 9) Benedikt XVI., Ad Episcopos Germaniae, in: AAS 97 (2005) 921. 10) Benedikt XVI., Ansprache, 19. 11) Johannes Paul II., Adhortatio Apostolica Reconciliatio et paenitentia, in: AAS 77, I (1985) 225. Guardini sagte diesbezüglich: „Nach Gott zu verlangen und nicht um die Sünde zu wissen, würde zum Frevel werden.“ R. Guardini, Vorschule des Betens, Pader- born 2010, 81. 12) C. S. Lewis, Pardon, ich bin Christ. Meine Argumente für den Glauben, aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Bernard-Salin, Basel 19 2008, 41. 13) Dazu vgl. beispielsweise den am 21.11.2011 verfaßten Artikel von: D. Deckers, Von der Moral und der Qual, in: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/verlagsgruppe-weltbild- von-der-moral-und-der-qual-11536514.html (12.02.2012). Oder vgl. den Artikel vom 24.11.2011 von: I. Grabitz und A. Tauber, Weltbild-Verlag wird zum Objekt der Begier- de, in: http://www.welt.de/wirtschaft/article13731874/Weltbild-Verlag-wird-zum-Objekt- der-Begierde.html (12.02.2012). 14) R. Guardini, Vorschule, 44.

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15) Vgl. Benedikt XVI., Ansprache, 19. 16) Ebd. 17) Benedikt XVI., Motu proprio Porta fidei, in: Kongregation für die Glaubenslehre. Note mit pastoralen Hinweisen zum Jahr des Glaubens, Anhang Motu proprio Porta fidei, Vatikanstadt, 2012, 6. Im Folgenden wird das Motu Proprio Porta fidei mit „PF“ und der entsprechenden Nummer zitiert. 18) LG 23. 19) R. Weimann, Hermeneutik der Reform als Erneuerung, in: MIPB 4(2011) 59-82. Zu dieser Thematik ausführlicher vgl. R. Weimann, Dogma und Fortschritt bei Joseph Rat- zinger. Prinzipien der Kontinuität, Paderborn 2012. 20) Kongregation für die Glaubenslehre, Note mit pastoralen Hinweisen zum Jahr des Glaubens, in: Note mit pastoralen Hinweisen zum Jahr des Glaubens, Anhang Motu proprio Porta fidei, Vatikanstadt, 2012, 7. 21) J. Ratzinger, Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als Communio, Schülerkreis (Hg.), Augsburg 2002, 253. 22) Vgl. Johannes Paul II., Litterae Encyclicae Fides et Ratio, in: AAS 91 I (1999) 12f. 23) Vgl. J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem neuen einleitenden Essay, 6. Auflage der völlig unverän- derten, mit einer neuen Einführung versehenen Neuausgabe, München 2005, 52-59. 24) Johannes Paul II., Constitutio Apostolica Fidei depositum, in: AAS 86 I (1994) 117. 25) Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christen- tums, Debrecen/Ungarn 11 2005, 432. 26) J. Ratzinger, Evangelisierung, Katechese, Katechismus, in: ThGl 84 (1994) 273-288, hier 282. 27) DH 3008. 28) Auf die augenscheinlichen Parallelen hat vor allem der bekannte Kirchenhistoriker Hubert Jedin aufmerksam gemacht, er schrieb bereits 1968: „Die gegenwärtige Kirchen- krise in Deutschland ist, wie im 16. Jahrhundert, in ihrem inneren Wesen Unsicherheit und Desorientierung im Glauben. […] Die Desorientierung macht von Monat zu Monat Fortschritte. Je länger sie dauert, desto größer wird, wie im 16. Jahrhundert, die Gefahr der Kirchenspaltung oder – was noch schlimmer wäre – einer vollständigen Kirchenent- fremdung, so wie einzelne Wassertropfen sich im trockenen Sande verlaufen.“ H. Jedin, Lebensbericht, K. Repgen (Hg.), Mainz 31984, 268f. 29) Johannes Paul II., Fidei depositum , 117. 30) J. Ratzinger, Grundsatz-Reden aus fünf Jahrzehnten, F. Schuller (Hg.), Regensburg 2005, 144. 31) Kongregation für die Glaubenslehre, Note, 6. Im Folgenden wird das Dokument direkt im Text mit „Note“ und der entsprechenden Nummer zitiert. 32) Dazu vgl. Note I.9; II.2; II.7+9; II.8; III.2; III. 5; III.10; IV.7. 33) Dazu vgl. Note I.1+10; III.2; III.7; IV. 2. 34) Dazu vgl. Note I.1; I.3; II.5; III.4; IV.6; IV.10. 35) Dazu vgl. Note I.4; IV.5; IV.8.

Dr. Ralph Weimann ist Gastprofessor für Dogmatik an der Päpstlichen Hoch- schule Regina Apostolorum in Rom.

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Hans Braun

„Nah bei den Menschen“

Kommunikation in der Mediengesellschaft

1. Die Fokussierung auf Kommunikation

„Wir hatten ein Kommunikationsproblem“ ist heute eine gern gebrauchte For- mel, wenn es darum geht zu erklären, weshalb ein in den Augen eines Politikers oder Unternehmensvertreters gutes Programm oder gutes Produkt nicht erfolg- reich war. Und tatsächlich haben wir alle schon einmal den Eindruck gehabt, eine im Grunde zukunftsweisende Idee, eine innovative Lösung oder ein klären- des und damit die Gemüter beruhigendes Wort seien nicht zuletzt deshalb wir- kungslos geblieben, weil es nicht gelang, das jeweilige Anliegen verständlich und überzeugend der Öffentlichkeit zu vermitteln. Dies gilt im übrigen nicht nur für die Verbreitung politischer oder wirtschaftlicher Konzepte, sondern auch für die öffentliche Vertretung sozialethischer oder religiöser Positionen. Auf der anderen Seite erklärt der Verweis auf eine „nicht optimale“ Gestaltung oder einen unglücklichen Verlauf des Vermittlungsprozesses natürlich bei weitem nicht jedwedes Scheitern eines Anliegens. Ein Programm oder ein Produkt kann ganz einfach auch schlecht sein. Dies einzugestehen fällt den Verantwortlichen in Ministerien, Parteien, Verbänden, Unternehmen und kulturellen Einrichtungen verständlicherweise schwerer als der Verweis auf Schwächen bei der Vermitt- lung oder auf eine abwertende Behandlung des Themas in den Medien. Wie immer Fehlschläge im einzelnen auch begründet werden, tief verwurzelt ist heute die Überzeugung, der Erfolg oder Mißerfolg eines Vorhabens hänge in hohem Maße von der Art und Weise ab, wie es kommuniziert werde. Nicht von unge- fähr unterhalten deshalb nahezu alle großen Unternehmen, Ministerien und Ver- bände Kommunikationsabteilungen. Selbst Bischöfe vertrauen heute die Verbrei- tung ihrer Verlautbarungen einem Kommunikationsdirektor an. Nun gehört es natürlich zu unserer Alltagserfahrung, daß es nicht nur darauf ankommt, daß man etwas zu sagen hat, sondern daß man es auch zu sagen ver- mag. Nahezu jeder hat als Schüler die Erfahrung gemacht, daß es manchen Leh- rern nur mit Mühen gelang, einfache Sachverhalte zu vermitteln, während andere in der Lage waren, auch komplizierte Zusammenhänge anschaulich und auf eine für die Zuhörer spannenden Weise zu erschließen. Und an den Hochschulen dürfte die Spreizung der kommunikativen Fähigkeiten der Lehrenden noch grö- ßer sein, spielt doch die in den letzten Jahren offiziell so in den Vordergrund gerückte Qualität der Lehre in der Praxis nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle! Daß die Wirkung einer Botschaft auch von der Art und Weise abhängt, wie sie vermittelt wird, ist deshalb eine Erkenntnis, die seit der Antike Aus- gangspunkt der Rhetorik ist und in den Werken von Aristoteles , Cicero und

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Quintilian oder in der „Rhetorica ad Herennium“ ihren Niederschlag gefunden hat. 1 Über Jahrhunderte hinweg befaßten sich Schriften zur Theorie der Rhetorik und Anleitungen zur rhetorischen Praxis allerdings vornehmlich mit der Vermitt- lung von Botschaften in Situationen, in denen Orator und Rezipient bzw. Rezipi- enten persönlich anwesend sind. Es sind dies Situationen, in denen allerdings auch die Ambivalenz von „Rede“, auf die Arnd Morkel verweist, besonders deut- lich wird. „Sie vermag die Urteilskraft der Hörer zu stärken, wie zu lähmen. Sie appelliert an den Verstand des Auditoriums, aber sie stachelt auch seine Ressen- timents auf. Sie überzeugt durch Argumente oder überredet durch Erzeugung von Emotionen […] Kurzum: Die Kunst der Rede ist zum Guten wie zum Bösen zu gebrauchen.“ 2 Die gleichzeitige Präsenz von Orator und Auditorium spielt natürlich auch heute noch eine Rolle, etwa bei Wahlveranstaltungen, Vorträgen oder eben auch Vorlesungen an einer Hochschule. Kennzeichen moderner Ge- sellschaften ist aber die Vermittlung von Botschaften über die Massenmedien, also Presse, Rundfunk und Fernsehen. 3 Dazu kam in den 90er Jahren das Inter- net. 4 In jüngster Zeit gewannen schließlich „social media“, wie etwa Facebook, an Bedeutung.

2. Was ist gemeint, wenn wir von Kommunikation sprechen?

Sieht man einmal von der radikalen Position ab, alles menschliche Handeln und dessen Objektivationen – Haushaltsgeräte oder Autos ebenso wie Kunstwerke oder Fabrikhallen – seien Kommunikation, dann verbindet sich mit dem Begriff gewöhnlich die Vorstellung einer intendierten Vermittlung einer Botschaft, wie sie in der bekannten Lasswell -Formel zum Ausdruck kommt: Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welcher Wirkung? Diese Formel hat über die Jahre hinweg zwar eine ganze Reihe von Verfeinerungen erfahren, so wurde etwa auf die Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger und auf die Mehrstufigkeit des Wirkungsprozesses abgehoben,5 doch entspricht sie immer noch einem weitverbreiten Verständnis von Kommunikation. Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang bleiben, daß, wie Joachim Knape anmerkt, die Lasswell -Formel schon in der Rhetorik der Spätantike eine Entsprechung hat in der „inventiven Suchformel“ „quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando?“ 6 Wichtig erscheint auch die Feststellung, daß Kommunikation nicht nur vermittels der gesprochenen und geschriebenen Sprache erfolgt, sondern sich auch auf Bilder stützt. Nicht von ungefähr ist heute ja allenthalben von der Macht der Bilder die Rede. Versucht man, die Besonderheiten des heutigen Kommunikationsgeschehens sichtbar zu machen, so erweist sich eine von Knape entfaltete Unterscheidung als hilfreich, die auf den „kommunikativen Kanal“ abhebt. Knape unterscheidet in der „Medialrhetorik“ zwischen drei Formen der Kommunikation. Bei der „pri- märmedialen“ Kommunikation sind Kommunikator und Rezipient, Redner und Zuhörer persönlich anwesend. Es ist dies die Form der Kommunikation, welche die klassische Rhetorik vor allem im Blick hatte. Bei ihr verfügt der Redner über „Interventionspräsenz“, kann also aus den verbalen, mimischen und gestischen Reaktionen seines Publikums sofort Konsequenzen im Hinblick auf die weitere

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Gestaltung des Kommunikationsprozesses ziehen, indem er etwa seine Argu- mentation variiert, Wortwahl, Satzbau oder Lautstärke verändert, zusätzliche Pausen einlegt oder gestische Mittel anders einsetzt. Eine solche Interventions- präsenz fehlt bei den beiden Kommunikationsformen, die in unserer heutigen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen, nämlich der „sekundärmedialen“ und der „terziärmedialen“ Kommunikation. Um „sekundärmediale“ Kommunikation handelt es sich da, wo die physische Präsenz eines oder mehrerer Sprecher nicht mehr vorgesehen ist, diese Präsenz aber simuliert wird. 7 Dies ist etwa beim Fernsehen gegeben. Auch hier kann der Redner unterschiedliche rhetorische Mittel einsetzen, er kann aber in der Situati- on selbst nicht auf die Reaktionen des Publikums reagieren. Dies ist allenfalls in gewissem Umfang bei einem späteren Auftritt und einer dazwischen liegenden Zuschauerbefragung möglich. Kann im Hinblick auf die „sekundärmediale“ Kommunikation von einer „Präsenzverfremdung“ gesprochen werden, haben wir es bei der „terziärmedialen“ Kommunikation, wie sie etwa im Falle der Publizis- tik gegeben ist, nicht einmal mehr mit einer simulierten Präsenz des Kommuni- kators zu tun. Dieser kann nur vermittels eines verbalen (Leitartikel, Essay, Le- serbrief) und/oder nonverbalen (Foto, Karikatur, Schaubild) Textes informieren und überzeugen. Die Wirkung hängt also, von durch den Autor nicht beeinfluß- baren Bedingungen des Umfeldes einmal abgesehen, nahezu ausschließlich von der Qualität der vorausgegangen Textarbeit ab.

3. Inszenierung und Authentizität

Wie wichtig für die Wirkung einer Botschaft über den Inhalt des Gesagten hin- aus dessen sprachliche Ausgestaltung sowie das Auftreten des Sprechers und seine Erscheinung sind, wußten Kommunikatoren und deren Unterstützer schon in der Vergangenheit. Auch solche Aspekte waren ja Gegenstand der praktischen Rhetorik. Insofern ist öffentliche Kommunikation auf die eine oder andere Weise nahezu immer inszeniert. Und in manchen Fällen gilt dies ja auch für die Kom- munikation im privaten Rahmen. Angesichts der Reichweite der audiovisuellen Medien, insbesondere des Fernsehens, erhält die Inszenierung des Kommunika- tionsgeschehens aber noch einmal ein besonderes Gewicht. Wer sich als Politiker im Rahmen einer Veranstaltung des politischen Aschermittwochs an Anhänger, als Vorsitzender bei einer Jahrestagung an Verbandsmitglieder oder als Wissen- schaftler bei einer Fachkonferenz an Kollegen wendet, weiß bis zu einem gewis- sen Grad, wen er vor sich hat. Er kann Wortwahl, Sprechweise, Gestik und äuße- re Erscheinung, etwa Trachtenjacke, dunkler Anzug oder Rollkragenpullover, 8 den Erwartungen und dem Geschmack des Publikums anpassen. Dies ist weitaus schwieriger, wenn ein Auftritt über das Fernsehen ausgestrahlt wird und man es mit einer, um einen Terminus von Wilhelm von Humboldt zu verwenden, „ge- mischten Menge“ zu tun hat, 9 bei der man damit rechnen muß, daß es Gruppen gibt, die eine bestimmte Wortwahl plump, eine Sprechweise arrogant, eine Ges- tik affektiert oder eine Trachtenjacke lächerlich finden.

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Bei der Aufgabe, eine „gemischte Menge“ zu erreichen, kann sich ein Kommu- nikator angesichts der zahlreichen Gesichtspunkte, die zu berücksichtigen sind, schnell überfordert fühlen. Hier kommen die Kommunikationsberater ins Spiel. Sie sind Teil des immer differenzierteren Beratungswesens in unserer Gesell- schaft. 10 Kommunikationsberater versuchen nicht nur die rhetorischen Kompe- tenzen von Politikern, Managern oder Verbandsvertretern zu erhöhen, sie geben auch Empfehlungen zum Verhalten in komplexen kommunikativen Konstellatio- nen. So gehen etwa den Fernsehduellen zwischen den Bewerbern um politische Spitzenämter gewöhnlich umfangreiche Strategieüberlegungen und Planspiele der Politik- und Kommunikationsberater voraus: Auf welche Themenfelder soll der Gegner unter allen Umständen gelenkt werden, welchen Themen ist nach Möglichkeit auszuweichen, soll die Rolle des Angriffslustigen oder eher die des Nachdenklichen eingenommen werden, in welchem Mischungsverhältnis sollen die Rollen gegebenenfalls stehen, bei welchen Themen ist es angezeigt, den „Staatsmann“, bei welchen den „Kümmerer“ herauszustellen, welche gestischen Mittel sind einzusetzen, welchem Stil soll die Kleidung folgen, welche Farben fördern eine besonders positive Ausstrahlung? Bei Interviews nach Koalitionsverhandlungen und Aufsichtsratssitzungen oder am Rande von Katastropheneinsätzen ist natürlich ein intensives „Briefing“ durch Kommunikationsberater nicht möglich. Zwar haben Kommunikationsbera- ter auch für solche Fälle allgemeine Empfehlungen parat, doch ist es immer wieder erstaunlich, wie etwa Politiker in derartigen Situationen dazu neigen, in eine hölzerne Sprache mit inhaltsleeren Wendungen zu verfallen, die denen ähn- lich sind, die man als Bahnreisender zu hören bekommt, wenn eine Verspätung mit einer „Verzögerung im Betriebsablauf“ begründet wird. So fühlt sich die Fernsehmoderatorin Marietta Slomka , die am 5. Mai 2012 den Medienpreis für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache erhielt, gerade bei Äußerun- gen von Politikern irritiert durch eine „anti-emotionale, selbstdistanzierte und substantivistische Gremiensprache“. Die von ihr angeführten Zitate sind in der Tat beeindruckend. Da heißt es „Die Wiedervereinigung ist gelingbar und gelun- gen“. Da wird festgestellt „Bei Kampfhandlungen ist darauf zu achten, daß die Zivilbevölkerung nicht einbezogen wird, weil das kontraproduktiv ist“. Und da müsse man darüber reden, „wie die soziale Dimension des Lebens realistisch und nicht nur illusionistisch in die Zukunft getragen werden könne“. 11 Formulierun- gen dieser Art sind gewiß nicht dazu angetan, die Glaubwürdigkeit der Akteure und damit das Interesse der Bürger am politischen Geschehen zu erhöhen. Schließlich ist es nun einmal eine Tatsache, daß die große Mehrheit der Men- schen Urteile über Sachfragen in starkem Maße anhand der Beurteilung der Per- sonen trifft, welche die jeweiligen Positionen vertreten und die man angesichts ihrer Medienpräsenz auch zu kennen glaubt. Angesichts der Komplexität der meisten politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Sach- verhalte ist ein solches Verhalten in gewisser Weise auch nachvollziehbar. Verständlich ist auch, daß unter diesen Umständen jene Anliegen die besten Chancen der Umsetzung haben, deren Vertreter beim Publikum am besten an- kommen. Und wer kommt gut an? Die naheliegende Antwort lautet: derjenige,

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der sympathisch wirkt. Heute kommt allerdings noch hinzu: derjenige, der „au- thentisch“ ist. Nach Auffassung von Timo Frasch kann vor allem in der Politik derzeit geradezu von einem „Kult der Authentizität“ gesprochen werden. 12 Bei näherem Zusehen geht die Beliebtheit des Begriffs der Authentizität allerdings mit einer bemerkenswerten Unbestimmtheit seiner Bedeutung einher, was seine Zuspitzung in der Formulierung findet: „Authentisch ist, wer sonst nichts kann.“ 13 Authentisch ist für die einen derjenige, der seine Aussagen möglichst auf persönliche Erfahrungen gründet, für die anderen eher derjenige, dessen Ausdrucksweise so ist, „wie wir alle sprechen“. Letztlich geht es wohl um den Eindruck, daß das, was eine Person sagt und die Art und Weise, wie sie es sagt, dem entsprechen, was sie tatsächlich denkt und wie sie sich für gewöhnlich äus- sert. Darüber hinaus, so Alois Hahn , werde „ glaubwürdiger Ausdruck verlangt und zwar im Sinne maximaler Korrespondenz zwischen unterstellter Empfin- dung und ihrer Äußerung“. Es werde erwartet, „daß man in bestimmten Situatio- nen bestimmte Gefühle hat“. 14 Sicherlich stellt das Gewicht, das heute auf Authentizität gelegt wird, eine Reak- tion auf die verbreitete Inszenierung medial vermittelter Auftritte und auf die formelhafte Sprache der Akteure dar. Die Menschen wollen das, was sie berührt, von glaubwürdigen „Mitmenschen“ und nicht von gestylten und gecoachten „Kommunikatoren“ erläutert und erklärt bekommen. Und sie wollen dies in einer Sprache vermittelt bekommen, die sie verstehen. Indessen dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, daß auch Authentizität bis zu einem gewissen Grad inszeniert werden kann. Marietta Slomka spricht in diesem Zusammenhang von „Pseudo-Authentizität“. 15 Eine Inszenierung ist zumindest im Hinblick auf einige der Merkmale möglich, an denen Authentizität gewöhnlich festgemacht wird, etwa eine an der Umgangssprache orientierte Wortwahl und Grammatik, 16 die Bekundung von Betroffenheit, der dosierte Verweis auf gelegentliche Selbst- zweifel, Verhaltensweisen also, die in der Botschaft zusammenlaufen: Ich bin (natürlich nur fast) einer wie ihr! Gewiß wäre es für die Kommunikationskultur in unserer Gesellschaft verhängnisvoll, unterstellte man jedem, der sich über die Medien an uns wendet und der uns so, wie er sich sprachlich, mimisch und ges- tisch äußert, als natürlich und unverstellt erscheint, es handle sich um eine insze- nierte Authentizität. Gänzlich unkritisch sollten wir als Mediennutzer in diesen Fällen aber auch nicht sein.

4. Mediale Kommunikation als Gesprächsillusion

Großer Beliebtheit erfreut sich eine Form der medialen Kommunikation, die dem Zuschauer den Eindruck vermittelt, er sei Zeuge eines Gesprächs. Wer sich als Fernsehzuschauer durch die abendlichen Programme zappt, kann ziemlich sicher sein, auf eine Talkshow, meist sogar auf mehrere, zu stoßen. Unter Leitung eines Moderators diskutieren Interessenvertreter, Experten oder ganz einfach Promi- nente über ein als aktuell eingestuftes Thema, wobei die Runde unter Umständen durch „Vorbilder“, „Betroffene“ oder „Reumütige“ ergänzt wird. Der Moderator ist dabei gewöhnlich nicht nur Diskussionsleiter, sondern auch mehr oder weni- ger provokanter Fragesteller und Impulsgeber. Manche Moderatoren erreichen

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auf diesem Wege einen hohen Bekanntheitsgrad und können damit rechnen, von konkurrierenden Sendern attraktive Angebote zu erhalten. Ihre Qualität mißt sich nicht zuletzt daran, in welchem Maße es ihnen gelingt, die Gesprächsteilnehmer dazu zu bringen, aus sich herauszugehen und andere Teilnehmer zu provozieren bzw. deren Argumente zu zerpflücken. Bemerkenswert ist in diesem Zusammen- hang, wie in einer Gesellschaft, die vom Thema „Datenschutz“ besessen ist, Millionen von Zuschauern es goutieren, wenn Teilnehmer von Talkshows ihr Innerstes nach außen kehren. Auch wenn sich die diejenigen, die an einer Talkshow teilnehmen, aufeinander beziehen, wie es in einem Gespräch üblich ist, so ist ihnen in der Regel bewußt, daß ihr eigentlicher Adressat der Zuschauer am heimischen Fernsehgerät ist. Dies gilt insbesondere für diejenigen unter ihnen, die als Politiker, Unterneh- mensvertreter oder Verbandsfunktionäre ohnehin das Bedürfnis haben oder sogar verpflichtet sind, sich der Öffentlichkeit mitzuteilen. Schließlich ermöglicht es die Talkshow als medial vermitteltes Gespräch den Teilnehmern, über den Inhalt des Gesagten hinaus Eigenschaften zur Geltung zu bringen, die für das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht, wichtig sein können: Schlagfertigkeit und Durchsetzungsvermögen, aber auch die Bereitschaft, Emotionen zuzulassen und Betroffenheit zu zeigen. Neben Fernsehinterviews und Videobotschaften sind es heute vor allem Talkshows, die uns das Gefühl geben, die Größen des Showgeschäfts, Wirtschaftsbosse und Gewerkschaftsführer ebenso wie Sportler, Politiker und Kirchenvertreter so gut zu kennen, daß wir uns ein Urteil über sie als Person zutrauen können: „U weiß die Menschen zu erreichen“, „X ist unseri- ös „Y kann man vertrauen“, „Z ist ein kalter Prinzipienreiter“. Dabei übertragen wir Muster der Einschätzung anderer, die wir in unserem Alltag anwenden, auf Menschen, die uns nur über die Medien nahegebracht werden. Während wir aber im Alltag unseren Eindruck durch eigene Interventionen, etwa durch Herstellung von Blickkontakt, Nachfragen oder Formulierung von Einwänden, teilweise überprüfen können, sind wir bei den medial vermittelten Eindrücken auf das angewiesen, was uns die Bilder liefern. Wie die Teilnehmer einer Talkshow beim Publikum ankommen, hängt allerdings nicht nur vom Inhalt des Gesagten und von ihrer Selbstinszenierung ab, sondern auch von der Bildregie, „die Bild- ausschnitt, Einblendung, Ausblendung oder Zeitdauer der medialen Präsenz bestimmt.“17

5. Wenn es darauf ankommt: Kommunikation in Krisensituationen

Manches von dem, was uns im Rahmen medial vermittelter Kommunikation erreicht, hat mit der Selbstdarstellung der Kommunikatoren zu tun. Erhöhung des Bekanntheitsgrades, Verbesserung des Images, Darstellung der eigenen Le- bensumstände oder Offenbarung der persönlichen Befindlichkeit können dabei die Ziele sein. Selbstverständlich beinhaltet die medial vermittelte Kommunika- tion aber auch Informationen über politische, wirtschaftliche und technische Neuerungen sowie über kulturelle Entwicklungen und wissenschaftliche Entde- ckungen. Verbunden ist solches Informieren oftmals mit dem Versuch, Neuerun- gen, Entwicklungen und Entdeckungen zu deuten und zu erklären, was insbe-

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sondere dann ein heikles Unterfangen sein kann, wenn es nicht um die Verbesse- rung von Lebensbedingen geht, sondern um Einschränkungen, Zumutungen und Unsicherheiten. Dennoch verfügen erfahrene Kommunikatoren auch in solchen Fällen über gewisse Routinen der Vermittlung. Aber auch sie stehen gewöhnlich vor einer gewaltigen Herausforderung, wenn es gilt, in Krisensituationen vor die Öffentlichkeit zu treten. Dies gilt insbesondere da, wo es um ein mögliches Scheitern von Personen oder Institutionen geht. 18 Krisen können einzelne Personen oder Institutionen betreffen. Personen können sich mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, grob fahrlässig Entscheidungen getrof- fen, gegen geltendes Recht verstoßen oder weithin geteilte Vorstellungen von Anstand und gutem Geschmack mißachtet zu haben. Um ihr Verhalten zu erklä- ren, zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, können sie sich, sofern ihr Fall den Programmverantwortlichen hinreichend interessant erscheint und sie sich einen entsprechenden Auftritt zutrauen, persönlich über die Medien an die Öffentlich- keit wenden. Die Möglichkeit hierzu wird Politikern, Wirtschaftsführern und den Größen der Unterhaltungsindustrie in der Regel auch eingeräumt. Das entspre- chende Format ist das Interview, unter Umständen auch die Talkshow. Mitunter überlassen Personen in Führungspositionen das Geschäft des Erklärens und Rechtfertigens von Handlungen auch ihren Pressesprechern oder anderen profes- sionellen Kommunikatoren. Allerdings ist da, wo Menschen qua Person Vorwür- fen ausgesetzt sind, die Delegation des Erklärens, Rechtfertigens oder gar Ent- schuldigens selten der geeignete Weg, um Vertrauen in der Öffentlichkeit zu- rückzugewinnen. Eine solche Delegation findet sich denn auch eher im Umgang mit Krisen, wel- che Institutionen, also Ministerien, Verwaltungen, Unternehmen, Verbände oder Religionsgemeinschaften betreffen. Krisen in dem hier gemeinten Sinn können politischer, wirtschaftlicher, ökologischer oder moralischer Art sein: Einschüch- terung von Abgeordneten zur Herbeiführung eines bestimmten Abstimmungser- gebnisses, Verstrickung von Unternehmen in großangelegte Korruptionsprakti- ken, auf technischen Pannen beruhende oder gar systematisch herbeigeführte Umweltschäden, unwürdige Behandlung von Schutzbefohlenen. Gewöhnlich geht den Krisen, in welche Institutionen geraten, eine über die Massenmedien verbreitete Skandalisierung von „Fehlverhalten“ voraus. Die Skandalisierung kann aber auch „nachlaufend“ sein und an einem unzureichenden Krisenmana- gement und dabei insbesondere an einer unzureichenden Kommunikationspolitik festgemacht sein. Krise und Skandalisierung sind also eng miteinander verbun- den. Entgegen einer verbreiteten Sichtweise stellt der Wirtschaftsethiker Ingo Pies fest, Skandale seien nicht mit Sittenverfall gleichzusetzen. Eine Skandalisierung mache vielmehr deutlich, daß eine Norm verletzt worden sei. Die Skandalisie- rung ist also, so ließe sich der Gedanke weiterführen, gerade an der Geltung der Norm festgemacht. Pies zufolge können und sollen Skandale zu gesellschaftli- chen Lernprozessen beitragen. Dies sei allerdings nur möglich, wenn ein Skandal institutionelle Vorkehrungen nach sich ziehe, die in Zukunft ein bestimmtes Fehlverhalten systematisch erschweren. Ein (scheinbares) Paradox der Skandali-

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sierung bestehe darin, daß sich einerseits Mißtrauen gegenüber einer Person (hinzuzufügen wäre: oder einer Einrichtung) aufbaue, der ein Fehlverhalten zur Last gelegt werde. Andererseits könne aber auch das Systemvertrauen gestärkt werden, sofern die Geltung der verletzten Norm institutionell akzentuiert wer- de. 19 Dies gilt insbesondere für das Vertrauen in den Journalismus, das Recht und die Politik. Im Normalfall werden allerdings Privatpersonen oder die Vertre- ter einer Institution, die Gegenstand einer Skandalisierung sind, in dieser Tatsa- che nicht einen heroischen Beitrag zur Erhöhung des Systemvertrauens sehen. Für sie handelt sich um den Beginn einer möglichen Krise oder um die Verstär- kung einer bereits als krisenhaft eingestuften Entwicklung. Und hierzu gilt es, in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen. Eine der in diesem Zusammenhang gewählten Strategien besteht darin, ange- prangertes Fehlverhalten schlichtweg zu leugnen. Wo die Strategie „Leugnen“ verfolgt wird, geschieht dies vermutlich häufig in Situationen, in denen man von den erhobenen Vorwürfen völlig überrascht wurde und noch keine Überlegungen im Hinblick auf ein planvolles Vorgehen anstellen konnte. Dessen ungeachtet kann Leugnen natürlich auch das Ergebnis mehr oder weniger systematischen Abwägens sein. Eine solche Reaktion läge dann auf der Linie der dem früheren französischen Staatspräsidenten François Mitterand zugeschriebenen Devise: Nie etwas zugeben! Da konsequentes Leugnen allerdings nur schwer durchzuhal- ten ist, findet sich häufiger eine Reaktion, bei der auf anfängliches Leugnen ein Herunterspielen des öffentlich thematisierten Fehlverhaltens folgt, dem sich dann eine Serie von Eingeständnissen anschließt, die in dem Maße stattfinden, wie neue Sachverhalte publik werden oder bisherige „Gewährsleute“ ihre Unterstüt- zung einstellen. Diese Scheibchentaktik findet sich in der Reaktion auf Plagiats- vorwürfe bei wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten ebenso wie beim Um- gang mit dem Vorwurf illegaler Parteispenden oder bei der eingeforderten Unter- suchung von Schadstoffimmission. Ein der Scheibchentaktik folgendes Kommu- nikationsverhalten, das weltweit Aufmerksamkeit fand, war der Umgang mit den Folgen der Reaktorkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011, bei dem nur immer das von den Verantwortlichen vor der Presse und den Medien eingeräumt wurde, was partout nicht mehr zu leugnen war. Wie die Reaktionen gezeigt ha- ben, war dies selbst für eine Gesellschaft zuviel, in der Konsens und das Ver- trauen in Autoritäten nach wie vor eine große Rolle spielen. Eine andere Kommunikationsstrategie, auf die zurückgegriffen wird, wenn Insti- tutionen Gegenstand einer Skandalisierung sind, ist die Präsentation eines Hauptverantwortlichen, eines Sündenbocks also. Diese Strategie kommt der weitverbreiteten Neigung entgegen, Verantwortung zu personalisieren. 20 Natür- lich ist es immer möglich, daß sich ein Mitarbeiter in einer Weise verhält, welche die Institution in Mißkredit bringt, ohne daß dies von denjenigen, welche die Institution nach außen repräsentieren, rechtzeitig bemerkt worden ist. Allerdings ist auch das Nicht-Bemerken von Fehlverhalten etwas, das den Letztverantwort- lichen zur Last gelegt werden kann und das gegenüber der Öffentlichkeit erklärt werden muß. Konnten sie unter Erfüllung der üblichen Sorgfaltspflichten tat- sächlich nichts bemerken, dann ist dies im allgemeinen auch plausibel zu vermit-

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teln. Die Benennung von „Übeltätern“ ist aber in vielen Fällen zunächst einmal dem Verdacht ausgesetzt, Funktionsträger wollten sich der Verantwortung für Fehlentwicklungen in ihrer Institution entziehen. Zum Reputationsverlust auf- grund des bekannt gewordenen Fehlverhaltens kommt dann noch der Image- schaden, der aus einer vermeintlichen oder auch tatsächlichen Illoyalität gegen- über den eigenen Mitarbeitern resultiert. Schließlich findet sich noch die Kommunikationsstrategie der ostentativen Zer- knirschung. Gewiß ist das öffentliche Eingeständnis eines selbst begangenen, geduldeten oder angesichts nicht ausreichend wahrgenommener Sorgfaltspflicht nicht verhinderten Fehlverhaltens ein positiv zu bewertendes Unterfangen, insbe- sondere dann, wenn es mit einer glaubhaft vorgebrachten Entschuldigung ver- bunden ist. Problematisch ist die öffentlich zelebrierte Entschuldigung freilich dann, wenn auf diese Weise eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem skan- dalisierten Sachverhalt verhindert wird, etwa weil man darauf vertraut, daß die Formel greift, denjenigen, der schon am Boden liegt, nicht auch noch zu treten. Dadurch verringert sich aber die Chance, daß Personen, Institutionen und die Öffentlichkeit aus dem bekannt gewordenen Fehlverhalten und aus dem Umgang damit für die Zukunft lernen können.

6. Perspektiven

Mediale Kommunikation ist zu einem Bestandteil unseres Alltags geworden. Dies zu beklagen mag als Ausweis kulturkritischer Kompetenz gelten, geht aber an der Realität vorbei. Schließlich wenden sich über die Massenmedien ja nicht nur Politiker mit mehr oder weniger phrasenhaltigen Botschaften und Angehöri- ge der Unterhaltungsindustrie mit Einblicken in ihr Privatleben an uns, sondern auch Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und aus dem kirchlichen Bereich, die nicht nur etwas zu sagen haben, sondern die es auch auf eine eindrucksvolle Weise und in rhetorisch gelungener Form tun. Und auch wer als Freund des gedruckten Wortes den audiovisuellen Medien eher distanziert gegenübersteht, hat sich wohl kaum der Wirkung entziehen können, die etwa von der über das Fernsehen ausgestrahlten Rede des Papstes am 22. September 2011 im Deutschen ausging. Nicht um Verteufelung medialer Kommunikation kann es deshalb gehen, son- dern um den kritischen Umgang mit medial vermittelten Aussagen und Bildern. Diese geben nämlich nicht die Wirklichkeit schlechthin wider, sondern stellen eine Realität eigener Art dar, die nicht zuletzt dadurch bestimmt wird, daß den Akteuren die mediale Verbreitung bewußt ist und daß Ton- und Bildregie Ein- fluß auf die Wirkung beim Publikum haben. Das heißt, Akteure setzen sich un- bewußt, oftmals aber auch bewußt und sogar mit professioneller Unterstützung von Kommunikationsberatern in Szene. Wie sie beim Publikum ankommen, hängt indessen auch von der Professionalität und dem Berufsethos der Medien- gestalter ab. Schließlich können Sympathiewerte einer Persönlichkeit des öffent- lichen Lebens sehr wohl durch die Art und Weise der Vermittlung gesteigert oder verringert werden. Für uns als Mediennutzer bedeutet dies, daß wir uns

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nicht der Illusion hingeben sollten, die Personen, die sich über die Medien an uns wenden, nach einiger Zeit wirklich zu kennen. Und wir tun gut daran, Aussagen zu allererst nach ihrem Inhalt zu bewerten und nicht so sehr danach, ob diejeni- gen, von denen sie stammen, uns sympathisch sind oder nicht bzw. uns als sym- pathisch oder unsympathisch vermittelt werden. Sind wir uns dessen bewußt, ist schon viel gewonnen.

Anmerkungen 1) Siehe hierzu etwa Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriege- schichte. Stuttgart 2000, S. 27-173. 2) Arnd Morkel: Marcus Tullius Cicero. Was wir heute noch von ihm lernen können. Würzburg 2012, S. 88. 3) Zur Entwicklung der Massenmedien siehe Michael Jäckel: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung. Wiesbaden 42008, S. 27-47. 4) Zur rasanten Ausweitung der Internetnutzung siehe Sebastian Czaika, Udo Kleinegees, Kristina Kott: Freizeit und Mediennutzung. In: Statistisches Bundesamt (Destatis), Wis- senschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) (Hrsg.): Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2011, S. 344-349. 5) Michael Jäckel, a.a.O., S. 70f. 6) Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 89. 7) Ebd., S. 100. 8) Grundsätzlich zur Bedeutung von Kleidung als Medium der Kommunikation siehe Cornelia Bohn: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 95-125. 9) Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. 2. Auflage, Leipzig o.J., S. 33f. 10) Siehe hierzu Hans Braun: Immer gut beraten? Zur Rolle des Beratungswesens in unserer Gesellschaft. In: Die Neue Ordnung, 4/2012, S. 188-198. 11) Marietta Slomka: Die Kunst der klaren Rede. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Mai 2012, Nr. 113. S. 29. 12) Timo Frasch (tifr.): Authentisch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juli 2012, Nr. 168, S. 2. 13) Ebd., S. 2. 14) Alois Hahn: Soziologie der Emotionen. Luzern 2010, S. 22. 15) Marietta Slomka, a.a.O., S. 29. 16) Allerdings scheint die notorische Verwechslung von „nachhaltig“ und „nachdrück- lich“, die inflationäre Verwendung des Plusquamperfekts, die Vorliebe für den Konjunk- tiv II statt des in den meisten Fällen korrekten Konjunktivs I und der Verzicht auf die richtige Plazierung des Verbs bei mit „weil“ eingeleiteten Nebensätzen weniger eine bewußte Anpassung an umgangssprachliche Gepflogenheiten zu sein als vielmehr Aus- druck einer auch bei „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ verbreiteten mangelhaf- ten Beherrschung der deutschen Sprache. 17) Joachim Knape, a.a.O., S. 101. 18) Zum öffentlichen Umgang mit Scheitern siehe Hans Braun: Scheitern als persönliche Erfahrung und als Ereignis. In: die Neue Ordnung, 1/2011, S. 35-38. 19) Ingo Pies: Skandal! Warum nicht? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. März 2012, Nr. 77, S. 9. 20) Hierzu Hans Braun: „Verantwortung“. In: Die Neue Ordnung, 4/2009, S. 245f.

Prof. em. Dr. Hans Braun lehrt Soziologie an der Universität Trier.

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Hans-Peter Raddatz

Macht und Gegenmacht des Christentums

I. Epochenkampf gegen das trinitarische Gottesbild

1. Einstieg in die Langzeitperspektive

Im Rahmen des politkulturellen Diskurses im Westen, speziell in Europa, gibt es keine Religion, keine Ideologie, kein Weltbild, das sich einer so massiven Kritik gegenübersieht wie das Christentum. Im Gegenteil: Obwohl sich der „interreligi- öse Dialog“ seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil als Einrichtung etablierte, die das Gemeinsame zwischen den Christen und den nichtchristlichen Religionen suchen und möglichst auch finden sollte, entpuppte er sich in den nachfolgenden Jahrzehnten als eine überinstitutionelle, interkulturelle Organisation, die es sich zur Pflichtaufgabe machte, die offen zutage liegende Masse der trennenden Fak- toren unter hohem Aufwand an Kapital, Personal und Rabulistik in Aspekte der Gemeinsamkeit und Harmonie umzumünzen. Unter der Leitkultur des Islam hat dieser Prozeß inzwischen alle Institutionen der EU-Staaten und der EU selbst erfaßt und dabei auch Methoden entwickelt, die sich zunehmend aggressiv gegen die Kirche, deren Vertreter und die christlich Glaubenden wenden. Dieser Vorgang macht eine Renaissance des modernen Gewaltpotentials deutlich, die das Erbe der links-rechten, antichristlichen Extre- me aktiviert und sich über den „Dialog“ mit der Gewalttradition der nichtchrist- lichen Religionen legitimiert, weil sie durch die Religionsfreiheit geschützt ist. Besonders profitiert davon der Islam, der sich schon im Koran gegen die Juden und Christen definiert (9/29). Seine Praxis der Eroberung und Kolonisierung nichtislamischer Gebiete dauert bis heute an und verfolgt unter EU-Ägide eine umfassende Strategie der Zuwanderung und Propaganda, die weite Teile Europas islamisiert (NO 5/12). Da der islamische Anspruch auf Unterwerfung des Nichtislam, speziell der Juden und Christen, in der Glaubensbasis wurzelt und die EU-Staaten scheindemokrati- sche Kollaborationsformen mit den islamischen Dachorganisationen entwickeln, gibt es offenbar keine Veranlassung, die Expansion in Europa zu beschränken. Dabei bleibt es indes nicht, weil sich zugleich die politische Feindseligkeit gegen die jüdisch-christlich grundierte Altkultur verstärkt, und ein Schweigegebot über die weiter laufende Tradition des Schleichgenozids im Islamraum verhängt, über den Organisationen wie „Kirche in Not“, „Open Doors“ und andere zwar regel- mäßig berichten, ohne allerdings besondere Resonanz in der Öffentlichkeit zu bewirken. Denn die durchaus verfügbare, historisch korrekte Information wird in einer konzertierten Medienstrategie des „Dialogs“ unterdrückt und in eine islamische Toleranz gewandelt, an die nicht zu glauben den Tatbestand der Islamphobie

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begründet. Dazu wird ein Christentum in Kontrast gesetzt, dem die Dialogisten eine fortdauernde Mentalität der Kreuzzüge und Inquisition sowie eine mittelal- terliche Moral vorwerfen und der Öffentlichkeit als möglichst konsequent zu bekämpfendes Gegenprogramm präsentieren. Dieses Verfahren ist neu, nicht wegen seiner Geschichtsfälschung, die zum Standardrepertoire jeder Machtform gehört, sondern wegen des tiefgreifenden Angriffs auf die historisch gewachsene Kulturbasis und deren Menschen, die mit wachsender Radikalität diskriminiert und verdrängt werden. Dabei bleibt die übergeordnete Dimension des Moderneprozesses unbeachtet, nicht nur weil sie den Intellekt der meisten Akteure übersteigt, sondern weil sie aus machttechnischen Gründen verschwiegen werden muß. Hier kann ein Blick in die Geschichte helfen, denn der Vorgang reicht in die europäische Geistesent- wicklung zurück, die seit der Aufklärung das Christentum, speziell dessen kleri- kalistische Version, verwirft und die anderen Religionen, allen voran Islam und Buddhismus, verklärt. Mit der Verdrängung alles Christlichen geht nun ein fun- damentaler Abbau der Kultur einher, der sich geistig in der Abwehr von Bildung und biologisch in der Abwehr von Reproduktion, primär in der Abtreibung und Erosion der Familie ausdrückt. Hinzu kommt der Abbau der Sozialethik, der einen Raubkapitalismus mit betrügerischen Finanzinstrumenten und steuertrei- bende „Rettungsschirme“ in Billionenformat hervorbrachte, welche die Banken sanieren und damit auch Teile der Börsenverluste anderskultureller Investoren wiederbeschaffen soll. Da die Aufklärer und schon die Renaissance-Denker die christliche Besonderheit des trinitarischen Gottesbegriffes und speziell dessen offizielle Vertreter angrif- fen, aber in ihrer Abfolge eine weltumspannende Kultur hervorbrachten, ist es die These dieses Beitrags, daß letztlich auch die Moderne wie ihre Vorgänger ein Produkt der christlichen Kultur ist. Es vollzieht sich ein epochaler Emanzipati- onsprozeß, der parasitäre Züge annimmt, weil er ohne die Aufgabe des christli- chen, seiner selbst bewußten Menschenbildes, d.h. ohne die Entfesselung der Macht nicht lebensfähig ist. Dem Christlichen und seinen jüdischen Wurzeln wohnt mit der Aufwertung des denkenden Menschen eine singuläre Kraft inne, ohne die es weder den ebenso einmaligen Aufschwung der europäischen Kultur und Wissenschaft, noch deren dunkle Seiten gäbe, die nun mit dem Christlichen das Menschliche abbauen. Wer wissen will, wie solches zustande kommt, muß logischerweise auch an die Wurzeln des Christentums und seine geistige Entwicklung gehen, weil sonst nicht verständlich wird, wieso eine Kultur, die mit dem Juden Jesus die Freiheit des individuellen Bewußtseins begründet, in einem historischen Prozeß der christlichen Orden ein einzigartiges Wirtschafts-, Sozial- und Bildungssystem entwickelt und der Wissenschaft wichtigste Impulse gegeben hat, nicht fähig ist, sich unberechtigter Kritik zu stellen und Alternativen zu menschenfeindlichen Ideologien wie der globalen Arbeitsoptimierung und Religionen wie den Islam abzuwehren, die ihr gemeinsames eschatologisches Ziel im Verschwinden eben dieser Kultur erkennen.

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Der notwendigen Beschränkung dieser Thematik kommt das Faktum entgegen, daß die christen- bzw. kirchenkritische Seite des laufenden Meinungsdrucks nicht eigens bearbeitet zu werden braucht, weil sie im herrschenden Mainstream tagtäglich mit diffamierenden und drohenden Untertönen zu Wort kommt und auch in dieser Zeitschrift eingehend diskutiert wurde. In der folgenden Betrach- tung soll es daher um den christlich bedingten Makrotrend gehen, also um die Faktoren christlicher Herkunft, ohne die es weder die Kultur Europas, noch de- ren Freiheit geben könnte. Mit der modernen, anti-jüdisch-christlichen Front pervertiert sie nun zum Angriff auf sich selbst, wobei es nach dieser Ideologik immer öfter heißt, daß sich die Kultur Europas exklusiv dem tausendjährigen Einfluß des Islam verdanke. Im ersten Teil der Untersuchung werden geistesgeschichtliche Phasen und Ein- flüsse im Christentum vorgestellt, um einen differenzierteren Blick auf das Ent- stehen der vielschichtigen Kräfte zu öffnen, die eine unvergleichliche Dynamik in den Wissenschaften und bildenden Künsten ermöglicht, aber auch die Per- spektive auf die vernachlässigte, politische Bedeutung Jesu verstellt haben. Sie ist entscheidend, weil sie den Gedanken der Machtbeschränkung und Selbstprü- fung enthält, der dem Machtimpuls zu Ausuferung und Totalitarismus, sei er religiös oder säkular bedingt, systematisch entgegensteht. Der zweite Teil befaßt sich mit wesentlichen Aspekten des Kulturprozesses, dessen Ergebnisse im Recht, in der Bildung, Wissenschaft und Sozialmoral auch heute noch die christ- liche Handschrift erkennen lassen. Umso offener kommt der Zwang der Moderne zum Vorschein, sich immer aggressiver gegen die Altkultur abgrenzen zu müs- sen. Für die Christen ist es daher an der Zeit, dieser Gewalttendenz mit klaren Worten zu begegnen, mit hörbaren Signalen, die den modern codierten, geistig desensibilisierten Menschen erreichen. Dies bedingt, daß man die Lebenslüge diktierter Dialog-Kompromisse und Scheinharmonie aufgibt und darüber alterna- tiv informiert, daß der „Dialog“ eine Mißbrauchsform der europäischen Frei- heitstradition ist, die sich seinem christlichen Feindbild verdankt.

2. Frühes Christentum und Gnosis

Um der kulturbildenden Komplexität und Dynamik des Christentums auf be- grenztem Raum und dennoch plausibel näher zu kommen, muß sich auf einige wenige, umso prägnantere Aspekte und Phasen der Entwicklung beschränkt werden. Dabei können wir uns nicht auf theologische Dispute einlassen, sondern sollten „nur“ deren Resultate und Auswirkungen auf den Kulturtrend als akzep- tierte und empirisch erkennbare Tatsachen in Betracht ziehen. So wird die Dis- kussion sowohl aus Sicht der Offenbarung als auch der riesigen theologischen Literatur vermieden, denn wie der halbjahrhundertjährige „Dialog“ mit stereotyp christophoben Ergebnisse beweist, sind beide Bereiche offenbar für eine objekti- ve Untersuchung unbrauchbar. Ein kurzer Überblick über die Faktoren, die religionsgeschichtlich als für das Entstehen des Christentums wesentlich gelten, kann diese keineswegs polemi- sche Aussage verdeutlichen. Das Neue Testament als die primäre Heilige Schrift

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des Christentums erscheint als eine komplexe Mischung aus ihrerseits schwieri- gen Strömungen, über die indessen weitgehende Übereinstimmung besteht. Da- nach sind hier Einflüsse des hellenisierten Judentums, des iranischen Lichtglau- bens und der griechischen Philosophie eingegangen, die mit anderen Schwer- punkten auch in der gleichzeitig entstehenden Gnosis wirken. Diese Variante eines kosmisch entrückten Gottes hat sich mit dem Erlösungsglauben des frühen Christentums verähnlicht und einige Kirchenväter, vor allem Irenäus , Tertullian , Clemens und Origines , dazu gebracht, von der „gnostischen Häresie“ zu spre- chen. Die entscheidenden Unterschiede zum Christentum, das sich natürlich auf Jesus Christus als Mensch gewordene Offenbarung Gottes und dessen liebende, also akosmische Zuwendung zu jedem seiner Geschöpfe beruft, bestehen in der mate- riellen Welt als mißlungener Schöpfung und Manifestation des Bösen sowie im „göttlichen Funken“, den besonders Erleuchtete durch ihnen gewährte Gnosis (Erkenntnis) zur Veränderung des – mißlungenen – Diesseits aktivieren können. Daraus ergibt sich ein Dualismus zwischen Gut und Böse, der sich in der anthro- pologischen Machtschere zwischen Herrschern und Knechten scharf ausprägt. Er verlangt nach Kontrolle der Menschen, aber auch nach Gerechtigkeit, eine quasi- göttliche, aber mißbrauchsgefährdete Mittlerfunktion. Sie taucht gleichermaßen in den Magiern Irans, in den Philosophen Griechenlands und in den Pharisäern Israels auf, wobei stellvertretend letztere von Jesus die „Leviten“ gelesen be- kommen. Unterschiedlich intensiv wirken sich die hellenischen Mysterien aus, deren My- then vom auferstehenden Gottessohn die platonische Philosophie, die iranischen Vorstellungen vom göttlichen Heiland und den jüdischen Messianismus beflü- geln. Während sie in der hermetischen Gnosis auch den ägyptischen Sonnenkult integrieren, halten sie an der gnostischen Weltveränderung fest, die als alchemis- tische Arkandisziplin in den elitären Machtorden der Renaissance und Aufklä- rung bis heute fortwirkt, und finden auf andere Weise auch Eingang in das Chris- tentum. Dort konzentrieren sie sich in der Gestalt des Jesus Christus, der nun allerdings die Menschen auf eine im Guten gestaltbare Welt vorbereitet. Denn er wirkt Wunder, treibt Dämonen aus, heilt Kranke und empfiehlt den Herrschern, den „ersten Stein“ nur dann zu werfen, vor allem auf Frauen, wenn sie glauben, selbst ohne Schuld zu sein. Indem er mit dem Kreuzestod die Schuld der Welt tilgt, schafft er einen neuen Bund mit Gott, bricht den Unschuldsanspruch der Macht und öffnet die Zeit von der unbewußten Zyklik in den bewußten Ge- schichtsprozeß, der umso offener wird, je weiter die Erwartung seiner Wieder- kunft in den Hintergrund tritt. In den Vordergrund rückt zugleich der Glaube des Menschen, der mit dem Wun- derglauben auch der an sich selbst sein kann, weil mit der Abwehr des „ersten Steins“ auch die Fähigkeit zur Einordnung in und Kritik an der Welt aktiviert wird. Immer deutlicher wendet sich die Zeit, weil Jesus das individuelle Bewußt- sein weckt, durch das überhaupt erst subjektive Zeit entsteht, die als Paradox den autonomen Menschen schaffen und zugleich die Macht beschränken kann. Damit lockert sich auch das orientalische Prinzip der Versklavung und Vermassung, an

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dem schon die Perser gearbeitet hatten, als sie die Juden aus dem Exil entließen. Im weiteren Verlauf entspannten sich ihre Magier zu Priestern, die mit Taufe, Weihe und heiligem Mahl das persische „Geheimnis“ (raz ) zwischen Gott, Mensch und Kult lüfteten und somit eine Vorstufe zur christlichen Trinität bilde- ten (vgl. Alexander Böhlig, Mysterion und Wahrheit, 16 – Leiden 1968). Inso- fern ist es kein Zufall, daß deren Rituale um den Glaubensvermittler Mithras in der römischen Diaspora mit Jesus als Vermittler des christlichen Heils konkur- rierten, das Kaiser Konstantin zur Staatreligion als historische Ausgangsbasis der Römischen Kirche erklärte. Ebensowenig zufällig etablierte sich im Iran die islamische Abspaltung der Schia mit der Vorstellung vom „Verborgenen Imam“, der als letzter in einer Kette messianischer Imame – ausgehend vom ersten Märtyrer Ali (Schwiegersohn Muhammads) – über den Schutz der Gerechten vor den Mächtigen wacht (vgl. Raddatz, Iran, 54 – München 2006). Hinzu kommt das Prinzip des idjtihad , das eigene, individuelle Urteil über die Führung der Menschen, das an die jesuani- sche Machtkritik erinnert und in der arabischen Orthodoxie ( sunna ) verboten ist. Hier wuchs den Schiiten eine geistige Flexibilität zu, die in Philosophie, Mystik, Esoterik, Literatur, Dichtung, Malerei gegenüber dem arabischen Islam eine reichere Denkwelt, nicht zuletzt auch die Revolution ermöglicht hat, die somit weniger eine islamische, sondern eher eine iranisch-schiitische ist. Für beide Bereiche ist Allah der scheinbar gleiche Gott, der die iranischen Gerechten indes eher erlöst als die arabischen. Hier werden Reste der Rechtstradition erkennbar, die im alten Iran die Lüge verbot, während sie der orthodoxe Islam ( sunna ) ge- bietet. Dabei praktiziert sie Allah sogar selbst, wenn sie dem „Glauben“ dient. Im islamischen Iran lebte die Lüge zunächst nur fort ( taqiyya ), um sich gegen die sunnitische Verfolgung zu schützen, die dann das Prinzip ihrerseits übernahm, um die westlichen Kolonisatoren zu täuschen. Es läßt sich festhalten, daß sich frühes Christentum und Gnosis auf der Basis gemeinsamer, jüdisch-persisch-griechischer Wurzeln etwa vom 2. bis 4. Jahr- hundert parallel entwickelten und miteinander interagierten, bis sich Jesus mit der Abwertung elitärer Macht und der Aufwertung des einzelnen Menschen als der diametrale Unterschied begründet und die Alleinstellung des Christentums gegenüber den anderen Religionen bestätigt hatte. Obwohl einzelne Kirchenleh- rer weiterhin gnostische Aspekte einfließen lassen, so bildet sich die Gnosis in der Geschichte der Religion, Philosophie und Politik gleichwohl zur antichristli- chen Kraft heraus, die sich, wie noch zu zeigen ist, bis in die Moderne fortsetzt. In diesem Kontext ist der Manichäismus wichtig, der unter Verschärfung der Gegensätze christliche Inhalte übernimmt und Jesus zweiteilt, in einen kosmi- schen Statthalter und einen „Zweiten Menschen“, welcher der Gemeinde er- scheint. Eine Sonderrolle spielt der Gnosisprophet Marcion , der auch Gott ver- doppelt und in ein schöpferisches Prinzip des Guten und ein erlösendes der Ge- rechtigkeit auftrennt. Er bekämpft das Alte Testament und die Juden und ist für den religiösen Antijudaismus, die euro-islamische Strategie gegen die jüdisch- christliche Kultur sowie die gegen Israel gerichtete Ideologie vom palästinensi- schen Opfervolk von großer Bedeutung. Alle antichristlichen Strömungen tragen

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gnostische Züge und konvergieren in einem zentralen Punkt: Das trinitarische Gottesprinzip muß beseitigt werden, weil es die Herrschaft des Menschen über den Menschen unter Berufung auf Gott behindert.

3. Christliche und ketzerische Vordenker

Das von Jesus gestiftete Prinzip der grundsätzlichen Machtbegrenzung wurde zwar von der klerikalen Herrschaft, der zufolge der „Heilige Geist weht, wo er will“, oft mißbraucht, hat aber seine epochale Wirkung auf das Bewußtsein der Menschen, die Autonomisierung des Denkens und die Kulturkraft der Kirche nicht verfehlt. Als wichtigste Phase des Prozesses gilt der Übergang vom Mittel- alter zur Neuzeit, der mit Renaissance, Reformation und Aufklärung in die Mo- derne führt. Damit geht eine Anti-Erlösung einher, die sich nach elitär- gnostischem Muster nicht auf das Jenseits vertrösten, sondern mit der Verände- rung bzw. Neugestaltung der Welt schon im Diesseits realisieren läßt. Je deutli- cher die Regelhaftigkeit der Natur und die Gesetzmäßigkeit des Kosmos erkannt wurden, desto mehr mußten sich die Vertreter des christlichen Gottes befragen lassen, warum sie sich auf die Schöpfung als Offenbarung zurückzogen und der Erforschung der Naturgesetze verweigerten. Denn Jesu Regel, sich die Welt „untertan zu machen“, bezog sich gerade nicht auf platte Machtausübung, son- dern konnte sich durch deren Beschränkung über den Glauben hinaus auch auf die Erkenntnis der Welt als Dienst am Schöpfer ausdehnen. Damit trat das Vexierproblem zutage, das Gott und Mensch als wechselseitige Schöpfer und Produkte ineinander spiegelt und den Menschen umso größer er- scheinen läßt, je größer sein Gott ist. Indem der Gottmensch dies bewußtmachte und der Macht systemgerechte, d.h. menschenverträgliche Grenzen zog, setzte er den Ausgangspunkt der Zeitenwende und den zeitlosen Prüfstein für alle Herr- schaftsformen. Es dauerte über ein Jahrtausend nach dem Wandel zur römischen Staatsreligion, bis die christliche Theologie ihre philosophischen Mittel zur aris- totelisch geprägten Scholastik entwickelt und mit dieser Erkenntnismethode zu einer maßstäblichen Relation zwischen dem Geist des Menschen und der Schöp- fung Gottes kam. Damit war ein wichtiger Schritt getan, denn da die Möglichkei- ten der Schöpfung unendlich und die Grenzen des Menschengeistes als deren Teil nicht definierbar sind, war auch die Erkenntnis als nicht grenzenloses, aber aktives Vermögen zu spekulativem Denken anzunehmen, das auch dem Glauben entsprach. Eindeutig aus der christlichen Religionsphilosophie wuchs der Mensch nun zum Selbstgestalter, der sich von der passiven Weltbetrachtung löste und zum Weltbemächtiger aufschwang. Wichtige Vorbereiter dieses Strukturwandels sind Kirchenleute wie Nikolaus Oresmius (gest. 1382) und Nikolaus Cusanus (gest. 1464), die über mathematische und geometrische Überlegungen dem naturge- setzlichen Denken starke Impulse gaben. Dabei griffen beide weit über ihre Zeit mit Relevanz auch für die Gegenwart hinaus. Cusanus , der alle Gegensätze in Gott vereinigt sah, schwebte eine Weltreligion um einen gemeinsamen Kern vor,

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der sich in der Moderne in der Tat verwirklichen könnte, allerdings anders, als er sie sich vorstellte. Für ihn war alles Sein in der complicatio Gottes eingefaltet, das sich in der explicatio der Welt unter Mitwirkung des schöpferischen Menschen entfaltete. Im Rahmen der sich selbst steuernden Handlungssysteme der modernen Arbeits-, Konsum- und Kulturdynamik ist oft von einer mysteriösen „Komplexität“ des Weltprozesses die Rede, die durchaus Eigenschaften eines gnostischen Kosmo- Gottes aufweist, weil sie in unerreichbare Sphären entrückt ist, die nicht nach ihrem Sinn befragt werden dürfen ( Norbert Bolz ). Die ungeheure Vielfalt der Rollen und Labels täuscht dem modernen Menschen eine Wahlfreiheit vor, die indes zum Käfig gerät, weil alle auf dieselben „Optionen“ verwiesen sind. Auch dies ist bereits bei Cusanus angelegt, indem er erkannte, daß die Individualität des Menschen ein illusionäres Ideal ist, weil sie in der Unendlichkeit der Welt- vorgänge nur eine Winzigkeit darstellt, während sich die erdrückende Menge des Möglichen verwirklicht und dabei die Individuen verarbeitet – nichts anderes als die Omnipotenz der Macht. Die Gegenwart liefert die Bestätigung, denn was die „Gemeinschaft“ hier ge- meinsam hat, sind ihre systemgerechten Funktionalitäten, die sich aus der Viel- falt der individuellen Talente und dem geldnormierten Verzicht auf eigenes Den- ken ergibt, der die Abhängigkeit der Menschen vom System verstärkt und der Moderne einen totalitären Anstrich gibt. Daß das Geld eine auflösende Wirkung auf die Gesellschaft allgemein und die Sozialmoral speziell haben kann, wußte schon Oresmius , der vor über 600 Jahren die erste Geldtheorie verfaßte. Mit dem Übergang in die Neuzeit geht ein weiterer Wandel von immenser Bedeutung einher, nämlich derjenige vom Leitmedium Eucharistie zum Leitmedium Geld (Jochen Hörisch ), der die Spaltung des Strukturwandels weiter vertiefte, „in die radikale Selbstentmächtigung einerseits, in die ebenso entschlossene Selbster- mächtigung andererseits“. Letztere Aussage stammt von Hans Blumenberg (gest. 2002), der sich wie kaum ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller um die „Legitimität der Neuzeit“ auf Kosten des Christentums bemüht hat. Als logischer Gewährsmann dient ihm Giordano Bruno von Nola , der im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, weil er den trinitarischen Gott und seine Inkarnation in Jesus Christus geleugnet und damit das Zentrum des Christentums und die Machtbasis der Kir- che angegriffen hatte. Er starb nicht, wie oft kolportiert und von den Inquisiti- onsakten widerlegt, wegen seines Eintretens für die kopernikanische Wende, die ihm gleichwohl den Impuls zu seiner umstürzenden Kosmologie gab. Nach Kopernikus gibt es keinen bevorzugten Punkt in Raum und Zeit, der sich irgendwie als Basis für ein besonderes Ereignis, geschweige denn eine besondere Welt definieren ließe. Da Gott allmächtig ist, hat er Bruno zufolge auch eine ubiquitäre Schöpfung mit unendlichen Welten realisiert, denen nichts mehr, somit auch keine Inkarnation, hinzugefügt werden kann. Das Universum des Nolaners wird vom gnostischen Prinzip der Weltseele erfüllt, die einem kos- misch entrückten Vernunftgott folgt und von keiner Philosophie oder Theologie erreichbar ist. Mit einem undurchsichtigen Pantheismus aus Lichtmetaphern und

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esoterischer Mystik trat er in Gegensatz nicht nur zur Kirche, sondern auch zu Galileis Empirismus, der sich 1591 gegen ihn im Wettbewerb um den Lehrstuhl für Mathematik in Padua durchsetzte. Trotz einiger Logikschwächen übt dessen Kosmologie eine nachhaltige Wirkung auf Aufklärung und Moderne aus. Für das Licht der Vernunft und den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum benutzt Bruno – sozusagen als Meta-Irrtum – die Me- tapher vom Tag-Nacht-Wechsel, dessen Regelmäßigkeit mit Wahrheit und Irr- tum natürlich nichts zu tun hat. Die Wiederkehr des Gleichen entspricht zwar der Ablehnung prominenter Raum-Zeit-Punkte, nicht aber der zukunftsgerichteten Grenzenlosigkeit, deren Impetus nicht nur das Christentum, sondern im Grunde jede Religion, die sich auf ein Gründungsereignis beruft, erledigen soll. Insofern liefert der Brunismus die Basis für einen esoterischen Atheismus, den die Auf- klärung in der Tat aufgriff. Auch hier spielt das Licht der Vernunft die zentrale Rolle, doch lehnt sie kosmische Hilfe ab, weil sie sich selbst zum Leuchten brin- gen und die Finsternis auf Abstand halten will. Dies bedingt, daß die neue Epoche nicht nur ein Glied in der Kette der Kultur- evolution ist und ihrerseits ins Vergessen zurücksinkt, sondern ständig neu bleibt. Eben dies ist das Prinzip der Moderne, die sich ohne Anfang und Ende aus sich selbst heraus entwickelt, solange sie die „Fakten“, also die Unendlich- keit der Dingwelt, hinreichend gestalten kann. Dabei hilft Brunos Gott, der sich in der Schöpfung total verausgabt hat, auf zweierlei Weise: Er macht nicht nur dem schöpferisch erleuchteten Menschen Platz, sondern wandelt sich auch zum Naturprinzip, das wissenschaftlich erforschbar und berechenbar wird. Die systemische Auswirkung auf die Anthropologie könnte moderner nicht sein. In einer Welt ohne Zentrum und Ereignis gibt es auch kein Individuum in der Masse. „Den Menschen“ gibt es nur als Gattung, die mit allen anderen Gattun- gen Teil einer kosmo-darwinistischen Evolution ist und sich in der Arbeit erlösen soll. Mit der aktuellen Sozialkybernetik ( Luhmann ), die mit strikten Arbeits-, Konsum- und Kontrollcodierungen in die transhumane Phase des Globalismus eingetreten ist, hat sich Brunos Vision frappierend bestätigt, was auch seinen Erfolg erklärt. Und nicht nur das: Die Ereignislosigkeit des gnostischen Konfor- mismus provoziert einen suchtartigen Massendrang nach Abwechslung, die stän- dig neue events mit sich bringen soll und den Euphemismus von der Ereignisge- sellschaft erzeugt hat. Die christliche Theologie muß hier nicht unbedingt an Grenzen stoßen, denn Brunos System steht und fällt mit der Totalschöpfung, die er zur Bedingung der Allmacht Gottes macht. Eine Schöpfung mit Inkarnation scheint demnach eines Gottes zu bedürfen, der seine Allmacht nicht ausschöpft, was sich in Jesus aus- drückt. Mit seinen Warnungen an die Mächtigen und die Geldwechsler im Tem- pel macht der Gottmensch deutlich, daß die Allmacht Gottes nicht ohne Mitwir- kung der (elitären) Menschen gedacht wird. Der gängige Einwand geht dahin, daß ein Gott, der sich zur Ausübung der Allmacht zwingen läßt, nicht allmächtig ist. Wie Blumenberg anmerkt, müßte er sich immer wieder neu in Gänze repro- duzieren, sobald der Durchlauf einmal begonnen hat. Dieser Vorgang ähnelt nicht nur dem aktuellen Weltprozeß der globalen „Komplexität“, sondern auch

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der Praxis Allahs, der sich zugunsten seiner Gläubigen in permanenter Welt- schöpfung auch selbst reproduziert. Beide Prozeßformen sind von technischer Art, während der christliche Gott mit einem zeitenwendenden Schöpfungsakt in Gestalt Jesu auf jeden Menschen zu- geht. Indem Blumenberg dies als „menschliches Maß der Sukzessivität“ ablehnt, verfängt er sich in der Aporie desjenigen, der die Macht interessengeleitet ver- schweigt. Er und viele seiner Kollegen reden unentwegt über die Genese von Gottesbildern, ohne auf das Spiegelspiel zwischen Gott und Mensch einzugehen, der zwangsläufig der Elitenmensch ist. Der zeitlose Imperativ der Diskurspraxis verlangt, über Aspekte der Macht zu schweigen, um die Gunst der Herrschenden zu sichern. Nichts anderes als eine übergeschichtliche Selbstanzeige mißbrauc- hter Macht Gottes kommt daher in der Inkarnation des Gottmenschen zum Vor- schein, der eben nicht den Eliten dient, sondern sich als „Décadent“ ( Nietzsche ) an die Beladenen der Welt wendet. Alles, was Blumenberg über die Wandlung des Göttlichen berichtet – Bewußtwerden, Gegenständlichwerden, Sich-selbst-aufdringlich-Werden etc. (vgl. Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt 1976) – sind Spiegelungen des menschlichen Ringens um die Rettung der Seelen, deren machttechnischer Aspekt erst durch Jesus und den „ersten Stein“ auf die Agenda der Geschichte gesetzt wird. In deren Verlauf formiert sich der so politische wie eschatologische Gegensatz zwischen gnostischer Technizität und christlicher Humanität, der in der Moderne eine totalitäre Dimension erreicht hat. Dieser Prozeß schreitet solange weiter fort, wie es gelingt, die göttliche Personalität in der trinitarischen Reflexion zu destruieren, die bewußte Existenz des denkenden Menschen aufzulösen, als Funktionsmodule und nützliche Körper in den Prozeß der globalen Vernetzung einzuspeisen und die Zerfallsprodukte der Armut, Krankheit und Entwürdigung problemfrei zu entsorgen. Damit ist die janusköpfige Konstellation christlicher Macht und ihrer Gegen- macht umrissen, die nach zweitausendjähriger Praxis auf einen gewachsenen Bestand der kulturbildenden Kraft und machtdienlichen Gegenkraft zugreifen kann. Das erstere Potential, das im zweiten Teil des Beitrags vorgestellt wird, setzt sich aus den Faktoren der Politik, Wissenschaft, Bildung, Ethik etc. zu- sammen, deren christliche Herkunft unumstritten ist, die Gegenkraft betreibt den empirisch nachvollziehbaren, anti-jüdisch-christlichen Trend, der auch die inner- kirchlichen, gegen den Stifterwillen gerichteten Machtansprüche umfaßt. Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, bedeutet Christentum „nichts anderes“ als einen Maßstab der Macht, der sowohl transzendent als auch polithistorisch an- wendbar ist. Indem die Gegenkraft alle Gewalt auf das Christentum projiziert, zielt sie zunächst nicht auf die Masse, sondern auf den Klerus, der sich über die Dogmen indirekt wieder in jene Macht einsetzte, die Jesus verwarf und zum übergeschichtlichen Machthindernis werden ließ. Daraus ergibt sich die systemische Konsequenz, daß eine christliche Elite, wel- che die politische, historisch bestätigte Ethik Jesu hervorhebt und zugleich die empirisch erfahrbare Gewaltpathologie und Amoralität der gnostischen Gegen- kraft thematisiert, die sich aus der Triade des rechtslinken Extremismus, des

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Islam und der radikalen Kapitallogik bildet, ein Doppelinstrument von kaum überschätzbarer Wirkung aktiviert. Solange dies nicht geschieht und unter „Dia- log“ eine einseitige Aufgabe der rechtlichen, finanziellen und spirituellen Besitz- stände verstanden wird, setzt sich die laufende Spirale aus Demutsforderungen an die eigene Klientel und steigenden Machtansprüchen der Gegenkraft fort, die den islamischen Schleichgenozid sowie den Antichristismus und Antisemitismus im Westen weiter antreibt (vgl. NO 6/11).

4. Angriff auf das trinitarische Prinzip

Die Geschichte des Antichristismus läßt sich in drei Stufen einteilen, auf denen sich die zunehmend aggressive Emanzipation von Gott und Kirche vollzog. Die Renaissance markierte den Aufschwung des Menschen zum genialen Weltschöp- fer, der sich noch mit der Kirche arrangierte, aber in der bald folgenden Refor- mation klare Front gegen den Machtklerus bezog. Die bekanntesten Exponenten sind Martin Luther (gest. 1546) und Johannes Calvin (gest. 1564), deren Ge- meinsamkeit darin besteht, der Kirche durch Kontakte zu antikatholischen Fürs- ten beizukommen und dabei Affinitäten zur Gewalt zu entwickeln. Calvin , des- sen Rechtfertigungslehre auf der Basis von Eigentum – vor allem in Amerika – große Bedeutung erlangte, fällte 50 Todesurteile in Genf gegen Geistliche und Gläubige, die sich angeblich „nicht jesusgerecht“ verhalten hatten. Luther wurde nicht nur durch seine Rechtfertigung allein durch den Glauben und die Schrift bekannt ( sola fide – sola scriptura ), sondern auch durch seine Ausfälle gegen die Bauern und Juden, die aus seiner Sicht kein vollwertiges Leben darstellten und daher einfach totzuschlagen waren. Nicht zuletzt zeigt sich Luthers Denken von gnostischen Aspekten beeinflußt, indem er Jesus aus der Trinität herausnimmt und ihr von außen anfügt ( additus ad eam ) sowie einen „Verdienstschatz“ Jesu kreiert, dessen von jedem aktivierbare „Gnade“ den Gläubigen nun zu einem Gerechten macht, der zu- gleich auch Sünder sein kann ( simul iustus et peccator ). Damit war der individu- elle Bedeutungsgehalt der Offenbarung aufgehoben und die durch Werke er- reichbare Erlösung auf eine kollektive Erwartungsebene herabgestuft, die in eine radikale Prädestination und den Lutherismus in die Nähe des Islam führte. Deka- log und Christi Gebote begannen, ihren ethischen Charakter zu verlieren, die Freiheit des Christenmenschen hatte sich im Vertrauen auf das hoch belastbare Sündenkonto der Zumutungen des Gewissens entledigt. Wie der Gnostiker durch den Vorstoß zum Höchsten geadelt wird, so steht der lutherisch reformierte Christ auf einer verantwortungsfreien Glaubensstufe, die keine Sünde beflecken kann, weil sie in der Rechtfertigung durch Gott steht. Nachdem die ersten Breschen in das trinitarische Prinzip geschlagen waren, setzte sich ein konsequenter Abbau der kirchlichen Deutungsmacht in Gang, der vom herkömmlichen Gottesbild über den Theismus der neuzeitlichen Wissen- schaft und den Deismus der gelehrten Aufklärung mit ansteigend antichristlicher Note in die agnostische bzw. atheistische Christenfeindschaft der Moderne führ- te. Allerdings ließ ein „mündiger Atheismus“ ( Winfried Schröder ), der den Anti-

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klerikalismus überstieg, bis in die Neuzeit auf sich warten. Ein Bewußtsein für die Nichtexistenz Gottes kam nur langsam auf, weil dies dem sozialen Konsens schlicht abwegig erschien. Erst mit der zweiten Stufe der säkularen Emanzipation weitete sich das Denken in Dimensionen, die eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen ließen. Dies wird wesentlich markiert von Descartes und Leibniz , die die philosophisch- mathematische Moderne anschoben sowie Hobbes und Spinoza , die deren philo- sophisch-politischen Merkmale entwickelten. Zwar halten sie alle noch an einem Gottesbegriff fest, der bei den ersten drei mehr oder weniger christlich und bei letzterem jüdisch konnotiert ist, doch spielt die trinitarische Besonderheit keine wesentliche Rolle mehr. Eher kommt die Frage nach Gut und Böse hoch, die Leibniz die Theodizee schreiben ließ und Hobbes’ Staatsmodell des Leviathan zur Kampfarena der Machtinteressen machte. Descartes nimmt eine Sonderstellung ein, weil er mit dem Cogito das Denken mit dem Sein verknüpfte sowie Zweifel und Prüfung als Wissenschaftskriterien einführte, um die Erkenntnis vor den möglichen Täuschungen durch einen genius malignus zu schützen. Damit schuf er einen Typus des denkenden Menschen, der politische Willkür zwar säkular, aber ähnlich behindert wie die jesuanische Machtblockade. Der aktuelle Diskurs macht ohnehin keinen Unterschied mehr zwischen Politik und Religion, indem hier eine neognostische Gottesversion des „ganz Anderen“ kultiviert wird und die Protagonisten des politkulturellen Mainstream das cartesische und trinitarische Prinzip in ein vergleichbar aggres- sives Fadenkreuz nehmen. So verschieden die führenden Köpfe der Neuzeit sind, so gemeinsam führten ihre Denksysteme in die Gewöhnung an den Atheismus als eine gesellschaftliche Kraft, die mit dem Aufkommen antikirchlicher Geheimbünde auch politische Bedeutung gewann. Die Entwicklung beunruhigte die Zeitgenossen umso mehr, als sich ihre Vernunft, die auf Gottes Existenz beruhte, nun mit einer natürlichen Vernunft konfrontiert sah, die sich aus Mathematik und Naturwissenschaft her- leitete und dennoch nicht unbedingt atheistisch sein mußte. Aus dieser Dialektik folgte der Deismus als die offenbarungsfreie Naturreligion der Aufklärer. Sie wollten fest an das glauben, „was allen Menschen guten Willens gemeinsam ist“, konnten dies nicht näher bezeichnen, scheuten aber den ultimativen Absprung ins Nichts, in die von Gott zu räumende Leere. Zum Ausgleich dieses Dilemmas hielten sie an einer anonymen Kraft fest, die Kosmos und Natur steuern und den Menschen einsetzen sollte, deren Potentiale zu nutzen – die moderne Fassung der Gnosis. Das Tandem aus Gnosis und Atheismus entpuppte sich als intrinsisches Merkmal der antikirchlichen Säkularisierung, die nicht nur von der Bibelkritik weiter vo- rangetrieben wurde. Von ganz besonderer Wirkung erwiesen sich allerdings die Schriften von Kant, Fichte und Hegel , die der Moderne einen enormen Impetus verliehen. Der Zwiespalt zwischen wissenschaftlicher Ratio und dem Gottesbe- griff als Basis der natürlichen Vernunft, wie er in Nietzsches „Gottesmord“ durchbricht, schürte existentielle Ängste. Daran ist bemerkenswert, daß die neu- en Ketzer dennoch nicht umgebracht, sondern diskutiert wurden, während man

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zugleich den Islam als Kulturspitze verklärte, der seine Ketzer und Christen bis heute umbringt. Hier kam eine neue Qualität moderner Gewaltneigung zum Vorschein, die Schuldzuweisungen mit Freiheit verwechselt. Seither ist es der „Blick auf Kreuzzüge und Inquisition“, flankiert durch den aktuellen „Blick nach Rechts“, der die Lizenz zu schuldfreier Diffamierung und Gewalt gegen Christen erteilt. Natürlich darf bei diesem Thema der Kirchenfeind Voltaire nicht fehlen, dessen Anfrage jeden Glaubensfanatiker und ideologischen Atheisten, mithin auch die radikale Avantgarde des Kulturdialogs betrifft: „Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals ab- schneidet?“ Der große Praxisphilosoph war nicht der erste, der die Austausch- barkeit jeglicher „Vernunft“ erkannte, welche die Vernichtung des Mitmenschen mit der gleichen Begründung fordern kann wie der religiöse Fanatiker. Der Un- terschied war und ist rein machttechnischer Art und besteht darin, die Erfüllung strikter Gottesregeln durch die Befolgung eines Säkularprinzips zu ersetzen, das wie die Jakobiner und westlichen Extreme der Klasse und Rasse bewiesen, oft selbst gottähnliche Formen annimmt. Da dies wiederum von der politischen Relevanz des „ersten Steins“ in Frage gestellt wird, ist der trinitarische Gott das Feindbild einer jeden gewaltorientierten Ideologie, die sich nun in Gestalt der euro-islamischen Allianz im Orient und in Europa gegen die Christenheit richtet. Dabei spielt der Begriff der Islamophobie eine Schlüsselrolle, weil er sich per- fekt eignet, als verbaler gelber Stern die Fanatiker des herrschenden Trends in die Doppelfunktion des Anklägers und Richters über jüdisch-christliche Lebens- formen einzusetzen. Hermann Reimarus (gest. 1768), Kritiker des klerikalen Christentums und des Materialismus zugleich, beharrte gleichwohl auf Kernpunkten der Religion wie Gott und Auferstehung, weil ihm die willkürlichen „Erdichtungen“ der Atheisten suspekt waren. In der Tat liegt hier eine der Gnosis verwandte Schwäche, die den dualistischen Abgleich zwischen Natur und Abstraktion meidet und auf dem einbahnigen „Weg als Ziel“ zu utopischem Denken zwingt. Darin entstehen Vorstellungen, die sich je nach Machtlage auch zu „Fakten“ verdichten, so daß Wunschwelten neue Wirklichkeiten erzwingen und reflexhafte Gedanken zu blindem Handeln führen können. Hier vollzieht sich gnostisches Denken, das machtbedingte Erfolge zeitigt, aber da es ablehnt, sich überprüfen zu lassen, oft genug in Ideologie und Gewalt umschlägt. „Durch unleugbare Beobachtungen in die Enge getrieben‘ ... geben sie ihren Standpunkt nicht auf, sondern verlegen sich auf wissenschaftlich unseriöse Ausweichmanöver“ (Schröder, a.a.O., 84), ein Verfahren, das auf alle Ideologen, damit auch auf die Neognostiker des 21. Jahrhunderts zutrifft.

5. Die strategische Alternative

Die Zahl der kirchenfeindlichen Mainstream-Profiteure ist inzwischen Legion, wobei sie ihre Deutungshoheit über den modernen Gesellschaftsprozeß ständig

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weiter ausbauen. Wie die hier vorgelegten Betrachtungen belegen und die kirch- lichen Kulturimpulse und ihre Gegner im zweiten Teil erhellen werden, gibt es keine Beweisnot dafür, daß sie alle – intellektuelle Gnostiker, klassische Atheis- ten oder einfache Kirchenkritiker – auf unterschiedlichem Niveau und mit ver- gleichbar wachsender Radikalität einen gemeinsamen Kampf gegen die Kirche führen. Dieser unter Schwankungen ablaufende, ungebrochene Trend ist wesent- licher Träger des herrschenden Meinungsprozesses und läßt zwei Abteilungen erkennen. Die erste konzentriert sich auf die Destruktion des trinitarischen Prinzips als Feindbild der von der links-rechten Nachfolge geprägten, zunehmend undemo- kratischen EU-Staaten und ihrem islamischen Partner, die zweite arbeitet an der Diffamierung und Destabilisierung des Klerus, die umso rascher voranschreiten, je eilfertiger die Forderungen der Gegenseite erfüllt werden. Nach dem Steige- rungsprinzip der Moderne ist der „Dialog“ als Teil der kybernetischen Sozial- technik nicht abschließbar, sondern erzeugt mit jeder Erfüllung weitere Forde- rungen und Drohungen, die ihrerseits weitere Gehorsamshorizonte öffnen und so fort. Dieser sich selbst verstärkenden Spirale, die vom konformen, oft vorausei- lenden Unterwerfungsdrang aller Institutionen gestützt wird und sich mit den Expansionsinteressen der islamischen Organisationen vernetzt (s.o.), kann nur mit dem dargelegten Verfahren begegnet werden. Nur wer sich außerhalb des Systems stellt, von Reaktion zu Aktion übergeht, eigene Kommunikationswege schafft und eine offensive, nachhaltige Informationsstrategie entwickelt, wird rasch auf Aufmerksamkeit stoßen, nicht nur weil das christliche Konzept zeitlos konstruktiv und gemeinwohlfördernd wirkt, sondern weil sich die Fehlentwick- lungen des antichristlichen Systems in Wirtschaft, Arbeit, Politik, Bildung, Fi- nanzen und Kultur exponentiell aufstauen. Im Zentrum einer solchen Strategie steht das Alleinstellungsmerkmal des Chris- tentums, das als einzige Religion auf das Gründerprinzip der Machtbegrenzung verweisen kann und daher auf dem trinitarischen Gottesbegriff als deren logi- scher Struktur beruht. Kaum zufällig bildet dieses Prinzip das wichtigste An- griffsziel der antichristlichen Aggression, die ihrerseits auf eine lange Tradition esoterischer Machtorden zurückgreifen kann. Hier läßt sich wieder an Bacon anschließen, dem mit dem „Haus Salomon“ eine elitäre, staatsfinanzierte Organi- sation vorschwebte, „um die Ursachen, Bewegungen und verborgenen Kräfte der Natur zu erkennen, die menschliche Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen zu erweitern“. Damit war bereits der Funktionszweck der modernen Machtmaschine umrissen, die heute in der Tat die Belastungsgrenzen der Masse austestet. Auch an die notwendige Täuschungsroutine hatte Bacon gedacht, die jede Herrschaftsform beachten muß, um die Masse unter Kontrolle und sich selbst an der Macht zu halten.. „Wir haben … ein Haus der Blendwerke, wo wir alle möglichen Gauke- leien, Trugbilder, Vorspiegelungen und Sinnestäuschungen hervorrufen“ (zitiert im Metzler Philosophen-Lexikon, 78). Der Vertrauensbonus der Beherrschten bzw. das Lügenprivileg der Eliten bildet einen integralen Bestandteil des anthro- pologischen Gefälles zwischen den Wenigen und den Vielen. Dazu gehören

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nicht zuletzt auch die Hofschreiber aller Zeiten, die Intellektuellen, Professoren, Experten sowie sonstigen Profiteure und Trittbrettfahrer, die heute den riesigen Troß des „interkulturellen Dialogs“ bilden und dessen Täuschungstaktik mit gleichgerichteten Medien und Zitierkartellen ständig weiter ausbauen. Einer aus der gehobenen Sparte ist Rainer Marten , ein Heidegger -Schüler, der versucht, vom philosophischen Welterfolg des Meisters zu profitieren, aber nicht ganz an dessen so schwer verständliche wie täuschende Sprache heranreicht. Während zu letzterem noch einiges im zweiten Teil zu sagen ist, bietet Martens Sujet den Vorteil, den neueren Stand der Praxisphilosophie und deren Christen- feindschaft zu studieren. Dieser Autor erweist sich als talentierter Destrukteur, der nicht nur bei Heidegger , sondern offenbar auch bei Derrida gelernt hat. Der stellt selektiv negative Aspekte eines Sachverhalts konzentriert dar, um den Ge- samtkomplex zu verwerfen und den Diskurs in die Gegenposition zu lenken. Martens Bücher drehen sich um die Nähe von Philosophie und Religion, deren Gemeinsamkeit darin bestehe, Unmögliches zu behaupten, was der radikalen Aufklärung neue Impulse geben könne, weil die Festlegung auf das Mögliche als das Wirkliche den Menschen allzusehr einenge. (Die Möglichkeit des Unmögli- chen, Freiburg 2006). Damit ist das Programm des autonomen Menschen beschrieben, wozu Martens Heidegger -Zitat paßt, daß eine Rechtfertigung des Menschen weder nötig noch möglich sei. Warum das so ist, sucht er an einer derridaesken Verzeichnung des jesuanischen Ereignisses festzumachen, wobei angejahrte Stereotypen der Bibel- kritik Verwendung finden. Jesus wird als läßlicher Scharlatan beschrieben, der Scheinwunder vollbringt sowie Scheinlohn und Scheinstrafe im Jenseits für das Verhalten im Diesseits in Aussicht stellt. Maßstab dafür ist der Glaube, dessen Mangel auch schon die diesseitige Existenz ins Defizitäre verschiebt. Das habe nun zur Folge, so Marten , daß sich der Christ spalte zwischen den Extremen der Jenseitssucht und der Omnipotenz, weil die Wunder immer Glauben, der Glaube immer Lohn und der Unglaube immer Strafe erzeuge (Radikalität des Geistes, 99ff. – Freiburg 2012). Indem er nun eine Wunschstruktur vor sich hat, zieht Marten als geschulter Philosoph daraus die richtige Konsequenz: „Was schlecht- hin unglaublich ist, das läßt sich, um ein fruchtbares Paradox zu formulieren, nunmehr glauben. Damit der Glaube das aushält, bleibt er seinen eigensten Mög- lichkeiten entrückt. Wenn es nämlich gelänge, ohne jede Kleingläubigkeit zu glauben, würde Jesus an Macht gleich “ (Hervorh. v. Verf.). Diese Quintessenz entspricht auffallend genau der politischen Logik des Jesuser- eignisses, nach welcher der Gottmensch nicht nur die Macht seiner Zeit in die Schranken weist, sondern auch die Inhumanität übergeschichtlicher Macht sicht- bar macht, indem er sie mit der Kreuzigung des Machtlosen zur Selbstoffenba- rung zwingt. Diese Spiegelseite der Offenbarung kommt nicht zum Austrag, weil der Autor auf den zentralen Aspekt des „ersten Steins“ verzichtet. Das hat zur ebenso logischen Folge, daß ihm die Hinwendung Jesu an die Schwachen und die Sünder wie Zöllner und Huren fremd bleibt, gerade weil der „erste Stein“ sich auf letztere bezieht. Gleichwohl leistet er keinen kleinen Beitrag zu unserer Untersuchung, weil die stimmige Destruktion die konstruktive, trinitarisch abge-

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sicherte Gegenkraft des christlichen Glaubens zum Vorschein bringt. Insofern kann auch keinerlei Rede von irgendeiner „Selbstentrückung“ des Glaubens sein, weil die politische Relevanz Jesu ein empirisch nachprüfbares Faktum ist, das wie hier vorgestellt, durch mehrere Epochen antichristlicher Strömungen mit bedrohlich ansteigender Tendenz bestätigt wird.

Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist und Finanzanalytiker, ist Autor zahlreicher Bücher über die moderne Gesellschaft, die Funktionen der Globalisierung und den Dialog mit dem Islam.

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Bericht und Gespräch

Christoph Böhr

Metaphysik in neuer Perspektive

Ein Trierer Kolloquium zu Ehren von Rémi Brague

Am Ende einer ontologisch abspenstigen und metaphysisch unterbestimmten Postmoderne ist es an der Zeit, die Frage nach der ontologischen Fundierung des Menschen und seines Denkens neu aufzurollen. Ein Trierer Kolloquium hat dazu eine erste Sichtung vorgenommen und widmete sich der unsterblichen Frage nach dem Grund und der Gründung des Seins. Dabei wurden erste Ansätze einer Metaphysik in neuer Perspektive sichtbar, und zwar im Blick auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit des heute so vielfach gefährdeten menschlichen Lebens wie seines fraglich gewordenen Überlebens – im Ausgang also von der Anthropolo- gie. Was auf den ersten Blick weit hergeholt erscheint, nämlich die Frage nach dem Grund des Seins mit jener nach dem Recht des Menschen zu verbinden, zeigt sich bei näherem Hinsehen als unabdingbar, in den Worten Rémi Bragues : als „überlebensnotwendig“. Denn wenn es gute Gründe für das Leben des Menschen und das Überleben der Menschheit gibt – Gründe, die jede Neigung zur Selbst- zerstörung überwiegen, dann können das keine vom Menschen selbst erschaffe- nen Gründe sein. Andernfalls wären sie nicht mehr wert und nicht gewichtiger als die vom Menschen gegen sich selbst gewandte Verneinung seines Seins. Fragen muß der Mensch also, ob es Gründe außerhalb seiner selbst gibt, die ihn ins Recht setzen. In diesem Sinne ist – in Bragues Worten – der Glaube an Gott heute „zur Lebensnotwendigkeit für den Menschen“ geworden. Unversehens schaut sich mithin die Anthropologie hilfesuchend nach der Metaphysik um, wenn sie nach den unbedingten Gründen eines nicht mehr selbstverständlichen Zieles sucht: einer Begründung nämlich der Rechtmäßigkeit des Menschen, seiner Wertschätzung und der ihm eigenen Lebensform. Nun gibt es heute eine Metaphysik, die sich mit diesem Namen nur noch dem Schein nach schmückt, weil sie in der Behandlung ihres Sachverhaltes ausdrück- lich antimetaphysisch gestimmt ist. Sie, die als Wissenschaft künftig kaum wird bestehen können, greift zurück auf die Begriffe der klassischen Metaphysik, ohne aber diese Begriffe wirklich ernst zu nehmen. Wahrheit, Sein und Wirk- lichkeit sind solche Begriffe. Werden sie zu Worten, über deren Sinn beispiels- weise nur noch akademische Konventionen und logische Konstruktionen ent-

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scheiden, verlieren sie jede Belastbarkeit. In diesem Fall geben sie allenfalls noch Auskunft über die Befindlichkeit ihrer Benutzer, nicht aber über das, was ist. Begriffe verlieren, wenn ihnen ihre Bedeutung als Notation im Zugriff auf das Sein abhanden kommt, ihr Widerlager in der Wirklichkeit, so daß sie in ihrer dann nur noch verbleibenden Bedeutung als Konnotat verschwimmen – mit der Folge einer mehr oder weniger radikalen Subjektivierung, der gemäß einer jed- weden Redewendung lediglich zugebilligt werden kann, Auskunft über das Den- ken dessen zu geben, der sie im Munde führt. Die Frage nach dem Sein erschöpft sich dann in der Frage nach den Bedingungen und Umständen des Denkens. Diesem Nominalismus ist die Moderne nicht selten gefolgt. Wenn aber die Frage nach dem Sein verbunden bleiben will mit jener Wirklichkeit, die außerhalb des Denkens liegt und auf die das Denken ausgreift, geht es um mehr als nur um die Bedingungen eben dieses Denkens – so wichtig der Blick auf diese Bedingungen auch ist. Nach Jahrzehnten ihrer Dekonstruktion muß heute um die Frage nach dem Sein und seinen Gründen als einer jenseits des Denkens vorfindbaren, also im Denken auffindbaren Wirklichkeit neu gerungen werden. Brague gehört zu jenen Philo- sophen, die sich dieser Aufgabe in besonderer Weise Zeit seines Lebens gestellt haben, als Hochschullehrer an der Sorbonne in Paris, zuletzt als Inhaber des Romano-Guardini-Lehrstuhls in München. Dort nahm er jetzt Abschied. Dem Dank für sein Schaffen galt ein Reigen von Vorträgen auf einem Kolloquium der Katholischen Akademie Trier unter dem Thema „Mensch und Gott. Zum Grund des Seins“ im Kreis von Kollegen, die sich ihm und seiner Forschung besonders verbunden fühlen. Gemeinsam dachten sie über die Frage nach, wie man sich der Frage nach der Gründung des Seins nähern kann.

Is there any place for Freddy Schiller?

Richard Schaeffler (München) bediente sich bei seiner Antwort auf die Frage nach dem Grund allen Seins eines Vergleichs: Wer den Wallenstein von Fried- rich Schiller liest, sucht in sämtlichen Aufzügen vergeblich nach dem Namen des Verfassers, geschweige denn, daß dieser ihm im Schauspiel von Angesicht zu Angesicht begegnet. Der Verfasser taucht, ohne daß es den Leser oder Zu- schauer des Stückes überrascht, in seinem Buch gar nicht auf. Weder als Charak- ter noch als Kommentator erscheint Schiller im eigenen Werk, es scheint ihn gar nicht zu geben. Keine persona dramatis trägt seine Gesichtszüge. Dennoch ist er in jeder Zeile unverkennbar anwesend – als ihr allgegenwärtiger Urheber. Und würde jemand fragen: ‚Is there any place for Freddy Schiller in Wallenstein?‘, so könnte er kaum damit rechnen, Verständnis für seine Frage zu finden. Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn die Lektüre dem Buch der Welt gilt. Dann findet die Frage: ‚Is there any place for a creator?‘ allenthalben großen Anklang. Aber ist diese Frage nach der Erkennbarkeit Gottes in der Welt tatsäch- lich sinnvoller gestellt als die nach der Anwesenheit Schillers im Wallenstein? Schaeffler wandte in seinem Vortrag „Lesen im Buch der Welt: ein Weg des philosophischen Sprechens von Gott“ dieser Frage zu. Er bediente sich der auf

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Hans Blumenberg zurückgehenden Metapher im Lichte der Aufforderung Imma- nuel Kants , die Phänomene zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können. Der Verfasser des Buches der Welt, so Schaeffler , zeigt sich uns auf eine zwar implizite, gleichwohl omnipräsente Weise. Im Buch der Welt spricht Gott – wie Schiller im Wallenstein – zwischen den Zeilen und ist gerade deshalb als Verfasser allgegenwärtig. Das Buch nötigt den Leser, sein Denken offen zu halten und immer wieder umzugestalten, weil er beim Lesen unaufhörlich auf Überraschungen stößt, die er bis dahin nicht bedacht hatte, weil er sie gar nicht erahnen konnte. Von der Offenheit und Überraschungsträchtigkeit als einem begriffsekstatischen Gesichtspunkt von ‚Existenz‘ handelten dann auch Thomas Buchheims (Mün- chen) „Überlegungen zu einem Begriff, der keiner ist“, dem Begriff der Existenz nämlich. Buchheim entwickelte die These, daß der Mensch mit Existierendem konfrontiert ist, sich also selbst in eine Beziehung auf Existierendes gestellt ansieht, und zeichnete ein Verständnis von ‚Existenz‘ entsprechend in den Um- rissen eines konfrontativen Begriffs. Als „Grund der Wirklichkeit“ wandte sich Hans Otto Seitschek (München) dem Gottesbegriff als dem stärksten der in Frage kommenden Gründe für das Sein des Seins zu, so daß die gesamte Philosophie, so seine Forderung, unter einer religionsphilosophischen Perspektive gesehen werden müsse. In zwei Sektionen widmete sich das Kolloquium zwei klassischen Formulierun- gen der Metaphysik: der auf Anselm von Canterbury zurückgehenden Aussage über Gott, über den Größeres hinaus nicht gedacht werden kann, sowie den von Jean-Luc Marion stammenden Satz, daß über Gott hinaus nichts Größeres ‚ge- geben‘ werden kann. Marion, Jacques Derrida und Michael Henry standen im Mittelpunkt der Überlegungen von Rolf Kühn (Freiburg im Breisgau), der zum Verhältnis von Metaphysik, Phänomenologie und Mystik sprach. Als ‚mystisch‘ benannte er jenes Gottesdenken, das Derrida als die Ortlosigkeit Gottes und Henry als dessen Selbstvergessenheit beschreibt. Markus Enders (Freiburg im Breisgau) gab dem ontologischen Gottesbeweis eine ganz neue Deutung, indem er ihn als einen ontologischen Gottesbegriff auslegte: Anselm beschreibe jene Denkhandlung, die einem Begriff von Gott am nächsten komme – als Inbegriff schlechthinniger Unübertrefflichkeit: ein, wie man mit Enders sagen könnte, noologischer Gottesbegriff. Daran schloß William J. Hoye (Münster) an, der im Rückgriff vor allem auf Thomas von Aquin Gottes Unerkennbarkeit als die letzte, das heißt vollkommene Erkenntnis deutete: In diesem Sinne ist Gott der voraus- gehende Grund des Seins; er kann mit den Mitteln menschlicher Erkenntnis nie in Besitz genommen werden.

Der Mensch – nur ein Störenfried?

Brague selbst setzte einen anthropologischen Akzent: „Der Mensch, ins Sein gesetzt – Gott als Grund“ war sein Thema. Ausgehend von den heute verfügba- ren Möglichkeiten einer Auslöschung der Menschheit müsse gefragt werden, ob wir das Überleben des Menschen aus vernünftigen Gründen wollen können.

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Denn sieht sich der Mensch heute nicht immer häufiger selbst als ein – wie Jo- seph Ratzinger schon 1989 den Befund dieser Denkhaltung zutreffend beschrieb – mißratenes Geschöpf, als den gewalttätigen Störenfried in einer ansonsten friedlichen Welt? Und sind nicht Selbstverneinung und Selbstzerstörung die Folgen dieses Selbstverständnisses, so daß der Mensch unserer Moderne selbst darüber im Zweifel gerät, ob es vielleicht besser wäre, wenn es ihn gar nicht gäbe? Dazu lieferte Brague eine neue, philosophische Deutung des Schöpfungsberich- tes der Genesis, der zu einer Zeit verfaßt wurde, als die Juden im Exil Kenntnis von den blutrünstigen Kosmogonien der Babylonier erhielten. Im schroffen Ge- gensatz zu diesen Vorstellungen entgegnet das abschließende Wort des bibli- schen Schöpfergottes dem Blutbad, das die Babylonier an den Anfang der Welt setzten, mit aller Entschiedenheit: „Und siehe, es war gut.“ Nicht ein abscheuli- ches Gemetzel steht am Anfang des Seins, sondern das unbegrenzt Gute schafft das Sein. Gottes letztes Wort zur Schöpfung ist sein Hinweis auf ihre Güte. Brague zufolge ist mit dieser Behauptung des Guten am Beginn des Seins keine metaphysische, sondern eine moralische Güte gemeint. Das Böse ist nicht in die Welt eingewirkt, sondern kommt allein durch das Handeln des Menschen ins Spiel. Die Schöpfung ist nichts anderes als eine Bühne für dieses Handeln. Aus dem Imperativ des Schöpfers „Es sei!“ folgen alle weiteren Gebote der hebräi- schen Bibel. Sie lassen sich zusammenfassen in der Aufforderung: Sei ein Sei- endes und kein Nichts. Das Sein ist ein Gebot, dem Indikativ geht ein Imperativ voran: Das Sein ist das, was sein soll, das Gute nämlich. Brague zeigte mit seinen Ausführungen, daß sich an der heute fragwürdig ge- wordenen Feststellung der Konvertibilität von Sein und Gut die Geister scheiden. Eine ‚neue‘ Metaphysik zum Eingang des 21. Jahrhunderts scheint gefordert, eine zeitgenössische Begründung für eben dieses Verständnis von ‚Sein‘ und ‚Gut‘ zu entwickeln. Zunehmend beginnt die Philosophie, sich in der Vergewis- serung ihrer europäischen Tradition dieser Aufgabe anzunehmen. Die antimeta- physische Postmoderne ist an ihr Ende gelangt.

Christoph Böhr doziert am Institut für Philosophie der Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz/Wien und ist Herausgeber der Reihe „Das Bild vom Men- schen und die Ordnung der Gesellschaft“ im Verlag Springer.

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Andreas Püttmann

„Spezielle Bedürfnisse hinsichtlich des C“

Eine neue empirische Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung

Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat deren Teamleiterin Empirische Sozialforschung, Viola Neu , unter dem Titel „Religion, Kirche und Gesellschaft“ vorgelegt. Leider wurden die Daten schon im Dezember 2009, also vor dem Mißbrauchsskandal und dem Rücktritt der EKD-Vorsitzenden Margot Käßmann durch eine Telefonbefragung der For- schungsgruppe Wahlen erhoben. Doch die nach dem Einbruch der Vertrauens- werte 2010 bereits im Folgejahr beobachtete „Erholung“, etwa in Allensbacher Umfragen zum Berufsprestige und zur Kompetenz in moralischen Fragen, legt es nahe, die Daten von 2009 im Wesentlichen noch als aktuell aussagefähig zu betrachten. Ausgangspunkt der KAS ist die Feststellung einer nachlassenden Wirkung tradi- tioneller Konfliktlinien (Cleavages) auf die Wahlchancen der Parteien: Seit 1969 sank der Anteil der kirchennahen Katholiken an der CDU-Wählerschaft von rund 40 auf 11 Prozent, jener der gewerkschaftsorientierten Arbeiter an der Wähler- schaft der SPD von 25 auf 9 Prozent. Individualisierung und gesellschaftliche Mobilität haben „das Gruppenbewußtsein geschwächt. Daher hat die Gruppen- norm für immer weniger Angehörige dieser Milieus eine bindende Wirkung“. Konfessionell gebundene, speziell evangelische Wähler sind in dieser Umfrage unter wahlberechtigten Deutschen im Vergleich zur Bevölkerung überrepräsen- tiert: 37 Prozent sind evangelischen, 33 Prozent katholischen Glaubens, 24 Pro- zent konfessionslos, und 5 Prozent gehören einer anderen christlichen Glaubens- richtung oder Religion an. In der Bevölkerung hingegen stellen die Konfessions- losen mit über 34 Prozent bereits die relative Mehrheit, und konfessionell sind die Katholiken knapp in der Mehrheit (31,2 zu 30,5%). Anfang der 70er Jahre stellten die Kirchenmitglieder noch 94 Prozent der Wählerschaft, mit dem Bei- tritt der DDR zur Bundesrepublik fiel ihr Anteil von 92 auf 80, seitdem weiter auf 70 Prozent. Der Schwund (nominell) christlicher Wähler in den letzten vier Jahrzehnten resultiert also schon jetzt nur noch zur Hälfte aus der Wiederverei- nigung. Die andere Hälfte geht auf das Konto der ermatteten missionarischen Kraft der Kirchen und einer massenhaft mißlungenen Tradierung des Glaubens in den christlichen Familien. Mittlerweile stammen 58 Prozent der Wähler aus einem nicht religiösen Elternhaus; „der Anstieg ist im Zeitverlauf, wie auch bei allen anderen Indikatoren, moderat, aber stetig“. Und er hat Wirkungen: Immer- hin doch zwei Drittel derer, die aus einem religiösen Elternhaus stammen, glau- ben an Gott, während 83 Prozent der Nichtgläubigen auch ihr Elternhaus als nicht religiös bezeichnen.

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Nur noch etwa ein Zehntel der Wahlberechtigten besucht regelmäßig den Got- tesdienst; 7 Prozent sind Katholiken und 3 Prozent Protestanten. Über 60-jährige und Frauen sind dabei überrepräsentiert. Ein interessanter Nebenbefund: Nicht nur der Anteil der Kirchenmitglieder, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, ist seit 1971 gesunken (von 23 auf 13 Prozent), sondern auch der Prozentsatz derer, die „selten/nie“ daran teilnehmen (von 25 auf 21). Aus ihren Reihen kommen nämlich fast alle Austretenden, die fortan nicht mehr in die Zählung eingehen. Der gläubige, zur Teilnahme eigentlich bereite Gläubige, der seine Kirche nur aus Ärger über „Gottes Bodenpersonal“ verläßt und „sein Glaubens- leben privatisiert, um es vor der Institution zu schützen“ (Theologen- „Memorandum“ 2011) ist eine Fiktion interessierter Kirchenkritiker. Studien zum Kirchenaustritt zeigen, daß dem Abschied von der Institution in der Regel ein Verlust des christlichen Glaubens vorausgeht. Zum heutigen Mehrheitsmo- dell „praktizierter“ Kirchenmitgliedschaft entwickelte sich angesichts des Ader- lasses der anderen beiden Frequenzgruppen (durch Tod bzw. Austritt) der gele- gentliche Gottesdienstbesuch: Sein Anteil stieg seit 1971 von 48 auf 66 Prozent. Die Ursachen hierfür – also katholischerseits einer Erosion der „Sonntags- pflicht“-Norm – sind eher auf der „Nachfrage“- als auf der „Angebotsseite“ zu suchen, denn (Allensbacher) Umfragen zur zuletzt erlebten Liturgie fallen recht positiv aus. Konkurrierende Freizeitangebote, Bequemlichkeit und nachlassende Glaubensintensität lassen die Teilnahme am Gottesdienst zunehmend als „optio- nal“ erscheinen. Damit wiederum schwindet die Prägekraft des Christentums im individuellen, sozialen und letztlich auch politischen Leben, denn: „Wird Gott nicht mehr im lebendigen Zusammenhang einer kirchlichen Gemeinde erfahren, verschwindet auch das Bewußtsein, ihm sittliche Rechenschaft zu schulden, in einem Dämmerlicht. Auch wer an den Lehren des Christentums (…) als den für unsere Kultur prägenden sittlichen Weisungen festhalten möchte, fühlt sich über- fordert, wenn er sie als einzelner in den (…) Alltag übersetzen und dort verwirk- lichen soll“ ( Walter Kerber ). In konfessioneller Betrachtung könnte der weit zahlreichere katholische Gottes- dienstbesuch zugleich Ausdruck und Ursache der geringeren Bindekraft des deutschen Protestantismus sein. Von den konfessionslosen Bürgern gehörten 36 Prozent früher der evangelischen, 19 Prozent der katholischen Kirche an. Trotz des freundlicheren Images der protestantischen Konfession verlor sie in den letzten Jahrzehnten auch unabhängig von den Folgen der DDR-Diktatur in ihren Stammlanden weit mehr Mitglieder als die katholische. Selbst 2010, im (skan- dalbedingt) ersten Jahr mit mehr katholischen als evangelischen Kirchenaustrit- ten, erklärten laut Allensbach die Protestanten häufiger (38 zu 30 Prozent), schon einmal mit dem Gedanken an Kirchenaustritt gespielt zu haben. Der Rückweg in die Kirche ist schwer: Nur jeder zehnte Konfessionslose kann sich vorstellen, wieder einer Glaubensgemeinschaft beizutreten. Zu den interessantesten Befunden der Studie gehört die Zunahme derer, die an ein Leben nach dem Tod glauben: Ihr Anteil an der Wahlbevölkerung stieg seit 1991 im Westen – bei einem stark (22 auf 8) gesunkenen Anteil Unentschiedener – von 37 auf 49 und im Osten von 10 auf 24 Prozent. Der Gesamtwert bleibt

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zwar weit hinter dem Anteil der Kirchenmitglieder zurück und läßt sich zudem, wie die Autorin im Blick auf „Wiedergeburt (im Sinne der östlichen Religio- nen)“ betont, nicht einfach der christlichen Auferstehungshoffnung zurechnen. Doch weise der Trend zur Annahme einer jenseitigen Lebenswirklichkeit auf eine „Sehnsucht nach Spiritualität“ hin – die ausgerechnet dort eine religiöse Offenheit aufscheinen läßt, wo sich viele Prediger und Theologen jahrzehntelang eher „bedeckt“ hielten und das christliche Credo defensiv, rationalistisch und weltimmanent ausdeuteten. In Jugendmesslyrik übersetzt: „Manchmal feiern wir mitten im Streit ein Fest der Auferstehung/Waffen werden umgeschmiedet, und ein Friede ist da.“ Diskret zugenommen haben seit 1991 auch der Glaube an einen „lebendigen Gott“, von 29 auf 31 Prozent im Westen und von 8 auf 15 im Osten, sowie der an eine „geistige Macht“ (27 auf 35, 13 auf 17). Das atheistische Bekenntnis: „Glaube an keinen Gott, keine geistige Macht“ blieb im Westen stabil unter 20 Prozent und sank im Osten von 59 auf 47 Prozent der Wahlbürger (also ohne die jüngste Alterskohorte). Beim Glauben an einen „lebendigen Gott“ weisen die Anhänger der C-Parteien mit 38 Prozent einen Wert klar über dem Durchschnitt (28%) auf, ebenso bei der Bekundung einer „starken Kirchenbindung“ (31%, Durchschnitt: 17%). Ihre stärkere Glaubensaffinität zeigt sich auch in der Frage: „Ziehen Sie aus Ihrem Glauben Trost und Kraft?“ (wobei Nichtgläubige nicht in die Zählung eingingen): Eine Zweidrittelmehrheit der Unionsanhänger, aber nur gut die Hälfte der gläubigen SPD-, Grünen- und FDP-Anhänger und ein Drittel der Linke-Sympathisanten bejahten dies. Beim Glauben an ein Leben nach dem Tod sind die Unterschiede weniger ausgeprägt; bei der Union bejaht ihn die Hälfte, bei den Grünen 47 Prozent. Anhänger der drei anderen Parteien bekunden mehrheitlich keine Jenseits-Hoffnung, am schwächsten ist sie bei den Linken (33:61%), in der Minderheit aber auch bei FDP (41:56%) und SPD (43:51%). Insgesamt hat „Religion kein negatives Image“ bei den deutschen Wahlbürgern. Daß die Welt friedlicher wäre, wenn es keine Religion gäbe, fand im Jahr 2009 Zustimmung nur bei 26 Prozent der West- und 28 Prozent der Ostdeutschen. 2002 (also im Jahr nach „9/11“) lagen die Werte noch erheblich höher. Die An- hänger der Parteien unterscheiden sich hier nur geringfügig, am ehesten verfängt die religionskritische Idee noch bei den Linken mit 34 Prozent. Die Zustimmung zur Parole „Religion ja, Kirche nein“ sank seit 1991 im Westen von 44 auf 40 Prozent und blieb im weitgehend areligiösen Osten stabil bei 30 Prozent. Nur bei den Grünen-Anhängern erreicht sie eine knappe Mehrheit (49:47%). „Mit Kirche und Religion habe ich nichts im Sinn“ sagen 31 Prozent der Westdeutschen (1991: 38%) und 54 Prozent der Ostdeutschen (1991: 52%). Nur Linke-Sympathisanten stimmen mehrheitlich mit 57 Prozent zu. Insgesamt lautet das Fazit der Studie: „Die säkularisierte Gesellschaft ist also mitnichten religions- oder kirchenfeindlich“. Die weltanschaulich-religiöse Prägung der Unionsanhängerschaft sei zwar im Vergleich zu den anderen Parteien „nicht außerordentlich groß“, doch habe das „C“ für die Anhänger der Union „eine größere Bedeutung als für die Anhängerschaften anderer Parteien. Somit haben sie auch spezielle Bedürfnisse hinsichtlich des ‚C‘ an die Partei“. Eine starke

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Minderheit von 37 Prozent der CDU/CSU-Anhänger meint: Es wäre besser für Deutschland, wenn mehr Menschen mit einer starken religiösen Überzeugung öffentliche Ämter inne hätten“, und 38 Prozent finden: „Die Standpunkte der Kirchen sollten in der CDU stärkeres Gewicht haben“. Daß „Kirchenoberhäupter nicht versuchen sollen, die Entscheidungen der Regie- rung zu beeinflussen“, meinten 1993 noch fast drei Viertel, 2009 nicht einmal mehr zwei Drittel der Wahlbürger (72 auf 63). Die Trennung von Kirche und Staat wird von einer breiten Mehrheit befürwortet, aber offenbar auch nicht als gefährdet angesehen und zunehmend entspannt betrachtet. Nach der zukünftigen Bedeutung der Religion für die Menschen in Deutschland gefragt, erwarten die meisten Befragten keine Veränderung (53%), Prognosen zunehmender und ab- nehmender Bedeutung halten sich etwa die Waage (21:23%). Abschließend noch drei interessante Nebenbefunde: Erstens bestätigt die Studie durch Fragen zu Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Familien-Leitbild („schlecht für ein Kind, wenn es bei einem alleinerziehenden Elternteil auf- wächst“) und Sorge um einen Werteverlust, daß Religiosität, Kirchennähe und ethische Überzeugungen stark miteinander zusammenhängen. Bei Christen mit hoher Kirchgangsfrequenz findet sich „eine besonders starke Zustimmung zum Abtreibungsverbot“, eine „deutlich skeptischere“ Einstellung zur Sterbehilfe, und mehr als die Hälfte sind „sehr über den Verlust von traditionellen Werten besorgt“. Bemerkenswert, nachdem der bekannte katholische Soziologe Hans Joas in der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ (5/2012) und seinem neuen Buch „Glaube als Option“ gerade einen Zusammenhang von Säkularisierung und Wer- teverfall verneint hat. Zweitens gibt es auffällige konfessionelle Unterschiede: Während 55 Prozent der kirchennahen Katholiken auch für einen Islamunterricht in der Schule votieren, sind es bei den kirchennahen Protestanten nur 27 Prozent. Diese stimmen auch weit häufiger als regelmäßige katholische Gottesdienstbesucher der Aussage zu, es gäbe nur „eine wahre Religion“ (36:17%). Warum man die Toleranz gegen- über muslimischer Glaubensunterweisung allerdings bei Katholiken, „und hier besonders Katholiken mit einer starken Kirchenbindung“, „vielleicht am wenigs- ten erwarten würde“, wird wohl das Geheimnis der Autorin bleiben. Zumal aus- gerechnet die Studie „Religion und Politik“ der Adenauer-Stiftung (2003) ein konfessionell ähnliches Muster ergab. Das Klischee von der spezifisch katholi- schen Intoleranz ist halt robust. Ansonsten gilt aber drittens, „daß sich die Unterschiede zwischen den Konfessi- onen im Zeitverlauf nivelliert haben. Die ursprünglich konfessionelle Konfliktli- nie hat sich über die Jahrzehnte zu einer religiösen entwickelt“. Entsprechend ist auch für das Wahlverhalten „weniger die Konfession ausschlaggebend denn die religiöse Grundeinstellung und die Intensität des Glaubens“. Für Christen erfreu- lich: Gute Bedingungen für eine Ökumene des alltäglichen Lebens.

Dr. phil. Andreas Püttmann arbeitet als Politikwissenschaftler und Publizist in Bonn.

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Ansgar Lange

Die CDU und „ihre“ Konservativen

Thesen und Ausblicke

1. These: Der CDU ist die Laufkundschaft wichtiger als die Stammkundschaft Seit einiger Zeit wird lebhaft darüber diskutiert, inwiefern die CDU noch eine konservative Partei sei. Dieser Frage liegt ein Mißverständnis zugrunde, denn die CDU war zu keinem Zeitpunkt eine ausschließlich konservative Partei, sie hatte nur einen konservativen Flügel, der durch kantige Persönlichkeiten repräsentiert wurde. Der Publizist hat darauf hingewiesen, daß die Grün- dung der Christlich-Demokratischen Union nach 1945 keine konservative Par- teigründung sein konnte, da mit dem Widerstand gegen Hitler zugleich der preu- ßisch-deutsche Konservatismus zugrunde gegangen sei. „Und er ist auch nicht wieder heraufzurufen, da seine Voraussetzungen mit ihm untergegangen sind“, schreibt Gauland in seinem Buch „Anleitung zum Konservativsein“. Im Gegensatz zur CDU im Jahre 2012 hatten Konservative aber immer eine Heimat in Deutschlands erfolgreichster Volkspartei. Es wirkt daher geradezu grotesk, wenn die Parteivorsitzende vor einiger Zeit in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu Protokoll gab, sie zu- vörderst gebe den Konservativen in der CDU eine politische Heimat. Ferner nannte sie , der als Fraktionsvorsitzender eine Art „Vollstrecker“ des „Modernisierungskurses“ der Partei ist, Volker Bouffier , der erst noch aus dem Schatten des Schein-Konservativen Roland Koch treten muß sowie den Innenpolitiker Wolfgang Bosbach , der längst an den Rand gedrängt wurde. Daß Jörg Schönbohm, Friedrich Merz, Roland Koch oder Erika Steinbach mehr oder minder aus Frustration über den politischen Kurs der Kanzlerin und Parteivorsit- zenden „hingeschmissen“ haben, perlt an der kühlen Machttechnikerin ab. Sie haben sich allesamt nicht als hart genug entpuppt, um es mit der Pastorentochter politisch aufzunehmen. Solange sich keine konservative oder rechte Alternative zur CDU gebildet hat, so mag Frau Merkel denken, ist sie wenigstens ein paar Kritiker ihres Kurses los. Wenn ein CDU-Politiker sich genötigt sieht, etwas Programmatisches in die Mikrophone zu sprechen, dann flüchtet er sich in der Regel in die gängigen All- gemeinplätze, wonach die Partei Konrad Adenauers konservative, christlich- soziale und liberale Wurzeln habe. Letztlich ist Merkel selbst dafür verantwort- lich, daß ihr ihre Kritiker einen Zick-Zack-Kurs vorwerfen. „Mal bin ich liberal, mal christlich-sozial, mal konservativ“, sagte sie am 24. März 2009 gegenüber der FAZ. Beliebiger geht es kaum. Und eine Politik der Beliebigkeit führt ins Nirwana. Schaut man sich die Partei in ihrem derzeitigen Zustand an, dann haben viele den Eindruck, daß alle Wurzeln verdorrt sind, nicht nur die konservativen und

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ordoliberalen. Denn es gibt keinen Kanther und Dregger , keinen Blüm oder Katzer , keinen Biedenkopf oder Erhard mehr. Mit den kantigen Persönlichkeiten verschwand auch das Profil. Dies betrifft nicht nur den konservativen oder wirt- schaftsliberalen Flügel. Studien weisen zur Irritation der jetzigen Parteiführung nach, daß es sich bei den Stammwählern der CDU immer noch um die „ollen Langweiler“ (so der Meinungsforscher Klaus-Peter Schöppner ) handelt, also um Menschen, die ganz „normal“ leben, brav zur Arbeit gehen, Steuern zahlen oder von ihrer hart verdienten Rente leben. Eine Untersuchung der Konrad-Adenauer- Stiftung, wonach jedes zweite CDU-Mitglied praktizierender Katholik sei, ver- schwand schnell wieder in der Versenkung. Die heutigen Christdemokraten erinnern sich nicht mehr an die kluge Devise ihres konservativen Haudegens Alfred Dregger : „Zuerst kommt die Stammkund- schaft, dann die Laufkundschaft“. Der „Markenkern“ der Union wird zusehends verwässert, weil Konservative und Katholiken bewußt an den Rand gedrängt werden, so zumindest die Wahrnehmung durch diese Gruppen. Werner Münch , im Februar 2009 aus der CDU ausgetretener ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hält eine Erneuerung der CDU von innen heraus mit der jetzi- gen Parteiführung daher auch nicht mehr für möglich. Wie war es früher? Der „Gründungskanzler“ Konrad Adenauer , stark geprägt vom rheinisch-katholischen Milieu, war unzweifelhaft ein Konservativer. „Ade- nauer hat wie kaum ein anderer Staatsmann bewiesen, wie revolutionär ein Kon- servativer sein kann“, so Wolfgang Ockenfels . Nach der Überwindung der Nazi- Diktatur ging es in erster Linie um die Bewahrung der Bundesrepublik vor einer stalinistisch-kommunistischen Diktatur. Adenauer sorgte als konservativer Patri- arch für politische Stabilität, ökonomischen Wohlstand und sozialgerechten Ausgleich. Auch in der Zeit der Parteivorsitzenden Strauß und Kohl wurden Konservative wie der Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, Karl Cars- tens oder Alfred Dregger zumindest noch geduldet. Da aber die von Kohl ver- sprochene „geistig-moralische Wende“, eine Art Tendenzwende zur Neutralisie- rung der 68-er Kulturrevolution, nicht eingelöst wurde, wandten sich etliche Konservative in der CDU enttäuscht von Kohl ab. Vielleicht sollten sich Deutschlands Konservative endgültig von dem Irrglauben lösen, die Union sei „ihre“ Partei, meinen diejenigen, die sich mittlerweile von der Union abgewandt haben oder ihr schon immer kritisch gegenüber standen. Dies ist früher von CDU-Intellektuellen wie Klaus Hornung oder Ludolf Herr- mann zwar immer behauptet worden, doch Armin Mohler meldete im Jahr 1974 in der Zeitschrift „Criticón“ bereits starke Zweifel an dieser Sichtweise an. Der Konservative, so Mohler damals, könne sich „nur mit Mühe des unbehaglichen Gefühls erwehren, die wichtigste Funktion von Dregger und Strauß innerhalb der CDU/CSU könnte sein, konservative Wähler an das christdemokratische Lager zu binden“. Daß diese Funktion heute von politisch in einer anderen Liga spielenden Persönlichkeiten wie Wolfgang Bosbach oder Norbert Geis wahrge- nommen wird, sagt viel über die Marginalisierung des konservativen Flügels in der derzeitigen Union aus. Haben Bosbach und Geis – um Mohlers Gedanken- gänge aufzunehmen – auch nur „in peinlicher Weise das Aussehen von Geiseln

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(…), mit denen man die Konservativen bei der Stange halten will“? Eine An- merkung am Rande: Norbert Geis fiel bei der Kandidatenaufstellung für die nächste Bundestagswahl durch und wird dem Hohen Haus in Berlin nicht mehr angehören, Bosbach ist schwer krank. Mohler wollte mit seiner Polemik gegen den Eindruck anschreiben, als stünden die Konservativen der „Partei der Niederlage“ (polemisch auf die CDU gemünzt) näher als der SPD. Das beste Drohmittel, um die Konservativen bei Laune zu halten, war über viele Jahre das Raunen von der „Gefahr“ einer „Rechtspartei“. Doch kann Strauß’ Diktum noch gelten, jenseits der Union dürfe sich im demo- kratischen Spektrum keine konservative oder rechte Parte neben CDU/CSU ansiedeln, wenn eine ideologisch beliebig gewordene Union im konservativen Bereich nur verbrannte Erde hinterlassen hat? Am kalten Feuer der Ideologie- freiheit können sich Christen, Konservative und Wirtschaftsliberale jedenfalls langfristig nicht wärmen.

2. These: Die CDU ist auf dem Weg zur Wohlfühl- und Wellnesspartei Die CDU konnte sich immer darauf verlassen, daß nur sehr wenige frustrierte Stammwähler ihr Kreuz beispielsweise bei der NPD machen würden. Wenn sich selbst die linksliberale „Zeit“ auf mehreren Seiten mit der Möglichkeit beschäf- tigt, daß dieses konservative Vakuum demnächst durch eine Parteineugründung geschlossen werden könnte, dann zeigt dies, daß Teile der bundesdeutschen Medienwelt und der Politik durchaus aufgeschreckt sind. Denn der Aderlaß, der der Union dann bevorstehen könnte, wäre vielleicht ungleich größer als der Ab- fluß frustrierter Gewerkschafter von der SPD an die Linkspartei. Schaut man sich die Entwicklung bei unseren europäischen Nachbarn an, so könnte eine konservativ-liberale Parteigründung, die sich gegen die Ausplünde- rung der Mittelschicht, eine rein humanitär gemeinte Einwanderungspolitik und für eine stärker an Werten orientierte Politik ausspricht, sogar als Akt der Nor- malisierung angesehen werden. Denn viele haben die Hoffnung aufgegeben, daß die derzeitige Parteiführung der CDU das konservative Tafelsilber wieder aus dem Schrank holen und auf Hochglanz polieren wird. Doch nicht nur die Partei- vorsitzende trägt Schuld daran, daß sie – nach Ansicht des Stern-Journalisten Hans Peter Schütz – „eine Partei ohne Seele“ führt. Auch wenn die CDU unter ihrer Führung beliebiger geworden ist – fälschlicherweise halten dies manche Schwarmgeister für eine „liberale“ Handschrift – muß sie als Vorsitzende doch den Spagat zwischen den unterschiedlichen Interessen und Richtungen der Partei versuchen. Doch an klarer Kante ist die Partei nicht mehr interessiert, wie der Journalist Ulrich Reitz schreibt: „Die CDU möchte eine Wohlfühl-Partei sein. Eine fröhliche Formation ohne störende Eigenschaften.“ „Es fehlt nicht an Konservativen, sondern an Mut“, befindet Alexander Gauland . Denn jeder C-Politiker weiß, daß es der eigenen Karriere nicht förderlich ist, wenn er sich gegen das Afghanistan-Abenteuer, gegen die Mißachtung von Ehe und Familie oder für konsequenten Embryonenschutz einsetzt. Und mutige Aus- sagen zur Integrationspolitik darf er schon gar nicht machen. Daß sich Ole von Beust 24 Tage nach seinem Rücktritt als Hamburger Bürgermeister mit seinem

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19-jährigen Freund, der ein Praktikum in Hamburg absolvierte, bei einer Arma- ni-Shop-Eröffnung gezeigt hat, sagt vielleicht einiges darüber aus, warum sich die CDU von ihren konservativen Wurzeln mittlerweile meilenweit entfernt hat. Ein Christdemokrat in Winterhude mag eine solche Performance vielleicht noch schick finden, ein Christdemokrat im Sauerland allerdings schon wesentlich weniger.

3. These: In Deutschland fehlt die politische Balance, da die Diskrepanz zwi- schen der Meinung der Bevölkerung und der etablierten Parteien immer grös- ser wird Die mangelhafte Vertretung konservativer oder wirtschaftsliberaler Positionen weist aber auf ein grundsätzliches Problem hin. Sie ist nicht nur ein Problem von Union und FDP. In Deutschland fehlt die politische Balance. Konservative, marktwirtschaftliche, christliche, europa-, islam- oder einwanderungskritische Positionen werden von den etablierten Parteien kaum noch vertreten. Ein gutes Beispiel für das Nicht-Ernst-Nehmen der Mehrheitsmeinung sind die permanen- ten Vorstöße von Finanzminister Schäuble in Sachen Europa. Dieser leiden- schaftliche Rettungseuropäer fordert öffentlich immer mehr Europa, obwohl die Deutschen mehrheitlich mit diesem Kurs nicht einverstanden sind. CDU, SPD, Grüne und Teile der FDP scheren sich mittlerweile augenscheinlich wenig da- rum, was die Bürger europapolitisch denken und wollen, so die Wahrnehmung vieler. Zur Not wird auch der Holzhammer herausgeholt, um die unmündigen Bürger zu ermahnen. Die Art der Währung in Griechenland entscheidet nach dieser Logik offensichtlich darüber, ob es einen dritten Weltkrieg gibt. Konservative und Nationalliberale fühlen sich im politischen Diskurs bewußt ausgegrenzt. Eine unheilige Allianz aus öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Fernsehen, zahlreichen Printmedien und den tonangebenden Parteien will mit aller Macht verhindern, daß sich in unserem Land eine konservative oder natio- nalliberale Partei etabliert. Woran liegt das? In einem Diskussionspapier für die Stresemann Stiftung hat der junge Politikwis- senschaftler André Freudenberg parteipolitische Perspektiven des freiheitlichen Konservatismus ausgelotet.1 Freudenberg zufolge verhalten sich FDP- und Uni- onsführung wie ein Monopolist, der weiß, daß der Kunde auf sein Produkt drin- gend angewiesen ist. Im Anhang seiner Studie liefert der Autor zahlreiche un- schöne Beispiele innerparteilicher Sanktionen in der Union, von Heitmann bis – der Name fehlt hier allerdings – Saskia Ludwig. Insbesondere in der CDU könnte es brodeln, wenn sich der Machtzugriff von Merkel dereinst lockern sollte oder eine charismatische konservative Person die Bühne betritt. Bisher gern ins Feld geführte Heilsbringer wie Friedrich Merz, Stefan Mappus, Roland Koch oder der Freiherr zu Guttenberg haben sich als ziemliche Lachnummern erwiesen. Jeder weiß, wie es um CDU und FDP im Bund bestellt ist. Jeder sieht, daß diese Konstellation, die sich gern bürgerlich nennt, nicht vernünftig zusammenarbeitet und zu einer programmatischen Erneuerung auf freiheitlich-konservativer Grundlage nicht in der Lage zu sein scheint. Trotzdem geschieht nichts. Über konservative Parteigründungen wird zwar gelegentlich geredet und geschrieben,

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doch dies bleibt folgenlos. Einige Unverzagte üben sich in Nibelungentreue und können sich einen Parteiaustritt nicht vorstellen. Andere verhalten sich pragmati- scher und warten ab, ob sich die Union doch wieder wandelt oder eine annehm- bare politische Alternative auf den Markt kommt. Ein kleinerer Teil hat der CDU aus persönlicher Frustration bereits endgültig den Rücken gekehrt. Damit die politische Balance wieder hergestellt wird – so wie in anderen europä- ischen Ländern auch – müssen nach Ansicht von Freudenberg verschiedene Dinge geschehen. Hierzu gehört eine Wahlrechtsreform, z.B. die Senkung der Sperrklausel auf vier Prozent wie in Österreich. Hierzu gehört sicher auch mehr Fairneß in der politischen Berichterstattung. Letztlich wird sich dies als frommer Wunsch erweisen. Und zuletzt müßten CDU und CSU ihren Alleinvertretungs- anspruch auf die demokratische Rechte aufgeben, was ebenfalls nicht geschehen wird. Die demokratische Rechte muß sich also schon selbst helfen, wobei der Begriff „Rechte“ eigentlich nicht richtig ist, denn derzeit wird die politische Mitte nicht mehr besetzt, weil alle Parteien – vielleicht mit Ausnahme der CSU – in linken Gewässern fischen. Welche Varianten kommen ins Spiel? Eine bundesweite Ausdehnung der CSU, eine schwer zu bewerkstelligende parteiübergreifende Neugründung, eine Umgestaltung der Freien Wähler zu einer landes- und bun- despolitischen Kraft oder auch eine nationalliberale Neuausrichtung der FDP. Doch auch Freudenberg ist klar: „Damit die genannte Entwicklung (hin zu einer politischen Balance mit einer demokratischen Rechten; A.L.) eintritt, muß noch etwas hinzukommen, nämlich eine krisenhafte Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Um für diesen Fall gewappnet zu sein – dessen Eintreffen nie- mand wünschen kann –, müßten Strukturen geschaffen werden. Insbesondere im Bereich der politischen Schulung und bei der Etablierung neuer konservativer Print- und Onlinemedien ist in letzter Zeit viel geschehen, obwohl Konservative an sich zur Gutmütigkeit und programmatischen Denkfaulheit neigen.

4. These: Der konservative Flügel der Union ist lendenlahm Freiheit, Eigenverantwortung, Familie, Gottesglaube, Ordnung, Sicherheit, Be- wahrung der Schöpfung: Die Liste konservativer Topoi ließe sich fortsetzen. Wer tritt heute noch für diese Begriffe ein? Es ist schon auffällig, daß ausgerech- net Bundesaußenminister Guido Westerwelle von der FDP zwischenzeitlich und folgenlos eine „geistig-politische Wende“ ausgerufen hatte. Der Verdacht liegt nahe, daß er damit nur die politisch Korrekten provozieren und eine kleine Knallbombe loslassen wollte. Doch es ist bemerkenswert, daß innerhalb der Unionsparteien kaum jemand den Mut findet, den Bürgern ein klares konservati- ves Konzept zu präsentieren, welches als Zielvorstellung für die nächsten Jahre gelb-schwarzer Regentschaft dienen könnte. Daß auch der größere Koalitions- partner nicht alles durchsetzen kann, was er sich vornimmt, liegt auf der Hand. Daß die CDU in weiten Teilen aber noch nicht einmal den Versuch dazu unter- nimmt, muß bedenklich stimmen. Mehr Fröhlichkeit, Witz und Schlagfertigkeit würde den Konservativen gut zu Gesicht stehen. 1986 erschien ein Buch aus der Feder des „CDU-Intellektuellen“

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Ludolf Herrmann mit dem Titel „Die neue Zuversicht. Über den Erfolg der poli- tischen Erneuerung“. Herrmann glaubte damals wirklich daran, daß eine geistig- moralische Wende in unserem Lande Platz greifen könne. Er kritisierte nicht nur die linken Kulturkritiker, sondern auch die „konservative Selbstbeschimpfung“. „Die sozialliberale Säuerlichkeit, die sich seit 1969 mit ranzigem Moralin in alle Gesellschaftsfugen ergossen hatte, kann nun endlich ausgeputzt werden. Zukunft – man darf wieder daran glauben. Freiheit – sie wird wieder verstanden. Daß man sich auch einmal freuen darf – die Deutschen werden es hoffentlich endlich wieder lernen.“ Eins ist klar: Die Berliner Tigerenten-Koalition hat diesen Mut und diese Zuversicht bisher nicht ausgestrahlt. Doch auch innerhalb der CDU – so der Politikwissenschaftler Freudenberg – verhalten sich Konservative in der Regel defensiv. „Ein offensiver Konservatis- mus innerhalb dieser Strukturen ist von Politikern, die etwas zu verlieren haben, nicht zu erwarten“, so sein Fazit. Hin und wieder gibt es noch Überraschungen. Im August dieses Jahres übte der Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, Josef Schlarmann , beißende Kritik an der Parteichefin, ihren „Strelitzen“ und dem ganzen „zentralistischen System“. In der CDU gehe „es zu wie am Zarenhof, auch Merkel hat ihre Strelitzen“, so Schlarmann . Die Strelitzen waren die Pa- lastgarde Iwans des Schrecklichen – „eine Elitetruppe, die sich bei der Wahl ihrer Mittel nicht immer zimperlich zeigte“ (SZ). Nach einem Bericht der „Süd- deutschen Zeitung“ fand die Kritik des MIT-Chefs diesmal mehr Gehör, weil er Namen nannte. Die Strelitzen Merkels seien vor allem drei Männer: „Kanzler- amtsminister Ronald Pofalla hat die Aufgabe, die Ministerien auf Linie zu brin- gen. Volker Kauder muß die Fraktion auf Kurs halten. Und Generalsekretär Hermann Gröhe hat den Regierungskurs in der CDU durchzusetzen.“ Doch für mehr als einen Sturm im Wasserglas sorgt solche Kritik nicht, obwohl der „Parlamentskreis Mittelstand“ (PKM) mit gut 140 Abgeordneten die größte Gruppe in der Unionsfraktion darstellt. Andere Gruppierungen wie die „Aktion Linkstrend stoppen“, der „Berliner Kreis“, der „Arbeitskreis Engagierter Katho- liken“ etc. können ebenfalls keine rechte Strahlkraft entfalten. Kein Wunder, daß Christiane Florin in „Christ & Welt“ zu folgender Schlußfol- gerung kam: „Das Konservative in der CDU verdunstet so schnell wie das Kühlwasser in schadhaften Atomreaktoren. Ob Wehrpflicht, Kernkraft oder Libyen-Einsatz: Die Partei gibt innerhalb kurzer Zeit Positionen auf, die sie jahrelang gegen alle Anfechtungen verteidigt hat.“

5. These: Die Wahlniederlage der CDU in Nordrhein-Westfalen hat viele Väter Werfen wir einen Blick in das bevölkerungsreichste Bundesland. Die CDU in Nordrhein-Westfalen liegt am Boden. Damit die Union bei der Bundestagswahl im Herbst 2013 eine Chance hat, wieder den Kanzler zu stellen, müssen die Christdemokraten an Rhein, Ruhr und Wupper so schnell wie möglich aus die- sem historischen Tief heraus. Bescheidene „30 Prozent plus X“ hat der neue Landeschef Armin Laschet als Ziel vorgegeben. Gerade Volksparteien haben heute allen Grund, kleine Brötchen zu backen. Nach der Landtagswahl im Mai dieses Jahres gaben selbst höherrangige Parteifunktionäre zum Besten, die Wahl

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sei nur wegen des Spitzenkandidaten Norbert Röttgen verlorengegangen. Allen- falls zu wenig Wirtschaftskompetenz habe noch eine Rolle gespielt. Und hierfür wurde natürlich auch der Pechvogel Röttgen haftbar gemacht, der dann ja be- kanntlich auch sehr schnell von „Muttis Hof“ vertrieben wurde. Die Vermutung liegt nahe, daß konservative Wähler, die Röttgen vielleicht nicht mögen, über den würdelosen Umgang mit dem früheren Energieminister empört waren. Und die Begeisterung für eine Landespartei, die gestern noch Hosianna gerufen hatte, wenn der smarte Rheinländer zugegen war, anderntags aber zum „Kreuziget ihn“ übergegangen ist, dürfte ebenfalls nicht sehr groß sein. Schon im Umgang mit dem abgewählten Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers hatte es die CDU NRW nach Meinung vieler an dem nötigen menschlichen Anstand fehlen lassen. Nach einer Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat die krachende Wahlniederlage in NRW mehrere Väter, sie trägt nicht nur das Antlitz des Juristen aus Meckenheim. Ganz aus der Verantwortung entlassen darf man Röttgen aber nicht. Schließlich führte seine Weigerung, ob er auch als Oppositi- onsführer nach Düsseldorf gehen würde, zu viel Verdruß bei den Wählern. Ein zaudernder Spitzenkandidat lähmt, er mobilisiert nicht. Zudem stand „Muttis Klügster“ für die allzu verkopften Themen, mit denen die CDU im Wahlkampf durchdringen wollte. Der sogenannte „Schulfrieden“, der zwischen CDU sowie Rot-Grün abgeschlos- sen wurde, hat der Union nichts gebracht. Früher konnten die Wähler mobilisiert werden, indem bildungspolitisch klare Kante gezeigt wurde – gegen die Gesamt- schule und für die Hauptschule. Die Christdemokraten in NRW konnten sich gerade noch aufraffen, sich für einen Bestandsschutz der Gymnasien auszuspre- chen. Hauptschulen haben sie abgeschrieben, die neue Sekundarschule könnte eine Art Gesamtschule light werden. Die bildungspolitischen Leisetreter, die einen schulpolitischen Wandel durch Anbiederung betreiben, dürften diese Er- kenntnis der KAS nicht gerne lesen. Während eine schulpolitische Rolle rückwärts für die Christdemokraten ausge- schlossen ist, haben sie in Zukunft die Möglichkeit, ihr wirtschaftliches Profil zu schärfen. Im Wahlkampf beschimpften sie Hannelore Kraft zwar als Schulden- königin, doch eigene Sparvorschläge blieben Mangelware. Einer immer mehr verweichlichenden und verweiblichenden CDU sind Kita-Fragen, das kostenlose Schulmittagessen oder Ganztagsbetreuung heute ohnehin wichtiger als der Kampf um mehr Arbeitsplätze, monieren Kritiker. Zumindest kam das Thema Wirtschaft im Wahlkampf so gut wie nicht vor. Die Quittung: 2005 lag die CDU bei diesem Thema in NRW 12 Punkte vor der SPD, 2012 zwei Punkte dahinter. Gleichzeitig werde die Partei, so die KAS-Analyse, auch nicht mehr als Interes- senvertreterin der „kleinen Leute“ verstanden. Hierbei handelt es sich nicht nur um Arme, schließlich definieren sich 62 Prozent der Deutschen als zu dieser Gruppe zugehörig. Die „Volkspartei“ CDU spricht also nicht mehr die Sprache der Unternehmer, aber auch nicht der Arbeitnehmer. Dies könnte langfristig zu einem Problem werden. Im Mai entschieden sich 450.000 ehemalige CDU- Wähler für eine andere Partei; 110.000 blieben den Urnen fern. Besonders stark profitierte die SPD von dem Wechsel. 190.000 CDU-Wähler wechselten zu den

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Roten. Als die Schwarzen 2005 die Wahl gewonnen hatten, entschieden sich 290.000 Wähler, die im Jahr 2000 für die SPD gestimmt hatten, für einen Wech- sel zur CDU. Am Ende seiner Studie kommt Studienautor Michael Borchard , Leiter der Hauptabteilung „Politik und Beratung“ bei der KAS, zu dem wenig originellen Fazit, die CDU müsse sich wieder stärker als Volkspartei profilieren. Dazu emp- fiehlt er ihr, über ein neues Grundsatzprogramm nachzudenken. Für „die Image- bildung nach außen und die Selbstvergewisserung nach innen“ sei dieser Schritt unerläßlich. Die CDU wird sich für solche wohlfeilen Hinweise bedanken, die erfolgen, nachdem das Kind (CDU) bereits in den Brunnen (Wahlniederlage) gefallen ist. Sie wird sich vielleicht eine moderne Politikberatung wünschen, die Handlungsempfehlungen im Vorfeld einer Wahl gibt.

Weg von den Orchideenthemen Der zur Zeit zu beobachtende Linksrutsch in Europa stellt insbesondere eine Herausforderung für die christlichen Volksparteien dar, die nach 1945 ihren Siegeszug antraten. In Belgien waren 45 Jahre Christdemokraten an der Macht, die Bundesrepublik wurde knapp zwei Drittel ihrer Geschichte von CDU/CSU regiert. Der Parteienforscher Karsten Grabow schreibt in einer weiteren aktuel- len Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über die christlich-demokratischen Parteien in Westeuropa zu Recht, diese hätten sich seit 1945 „zu politischen Schwergewichten in Europa“ entwickelt. Zum christlich-demokratischen Selbst- verständnis gehört daher weniger eine akribische Programmarbeit, sondern in erster Linie die Regierungsbeteiligung. Doch da sich die C-Parteien seit etwa Mitte der 1980er Jahre im Abwind befinden, wird es immer schwieriger, dieses Ziel zu erreichen. Die stärksten Verluste seit 1990 hat der Christen Democratisch Appèl in den Niederlanden zu verzeichnen. Der CDA verlor in dieser Zeit bei Wahlen 21,6 Prozent. An zweiter Stelle folgt schon die Union, die immerhin rund zehn Pro- zent Stimmverluste hinnehmen mußte. Die stärksten Zugewinne konnte Fine Gael mit plus 11,6 Prozent in Irland verzeichnen, gefolgt von plus 7,3 Prozent bei den Christdemokraten in Portugal. Grabow zufolge werden die christlich- demokratischen Parteien in Westeuropa möglicherweise frühere Mitgliederstärke und Organisationskraft verlieren, doch nicht zwangsläufig ihre politische Bedeu- tung. „Beim Blick auf die aktuelle Situation der westeuropäischen Christdemo- kratie fällt eine recht hohe Erfolgsvarianz auf, wobei noch immer eine Exekutiv- beteiligung dominiert: In Deutschland, Irland, Luxemburg und in Malta stehen christlich-demokratische Parteien gegenwärtig an der Spitze der Regierung. In Belgien, Finnland, den Niederlanden, Österreich, Portugal und Schweden sind sie als Juniorpartner an Koalitionsregierungen beteiligt“, so Grabow . Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) kämpft sogar um ihren Status als Volks- partei, da sie zuletzt nur im 20er-Prozentbereich angesiedelt gewesen sei (als „magische“ Grenze für eine Volkspartei gelten 30 Prozent plus x). Doch wie soll die Wende gelingen? Die Antworten Grabows fallen vage aus. Die von ihm genannten möglichen Zukunftsthemen christlich-demokratischer Parteien wie

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innerer Zusammenhalt, Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit, Umweltpo- litik, Familienförderung und Bildungspolitik, werden auch von anderen politi- schen Parteien besetzt. Allein die Forderung, die C-Parteien müsse sich für die weitere Gestaltung der EU als „Regel- und Stabilitäts-Union“ einsetzen, könnte ein Alleinstellungsmerkmal sein, da die politische Linke in Europa andere Ziele verfolgt. Doch es bleibt die Frage, ob die EU nicht längst vom Pfad der Tugend abgewichen ist – und mit welchen christlich-demokratischen, konservativen oder rechtsliberalen Partnern Angela Merkel mühsam Kurs in Richtung Schulden- bremse halten will. Um die Kapitänin auf der deutschen und europäischen Brü- cke wird es zusehends einsamer. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Der Bonner Politikwissenschaftler Tilman Mayer sieht die CDU als „Erfolgs- und Volkspartei in der bundesdeut- schen Geschichte“ jedenfalls noch nicht am Ende. Mayer hält es für bedenklich, daß immer mehr Bürger, die eigentlich zur CDU tendieren, aus Frust der Wahl- urne fern bleiben. Sie fallen in Apathie. Daß der offensichtlich überforderte Ge- neralsekretär Hermann Gröhe dem etwas entgegenzusetzen hätte, bleibt fraglich. Zu deutlich ist die „Mobilisierungsschwäche“ der Union mittlerweile geworden. Mayer empfiehlt der CDU, sie müsse den Gedanken der Leistungsgesellschaft wieder stärker betonen: „Das betrifft sowohl die Familien, die Kinder haben, als auch die arbeitende Bevölkerung, als auch Unternehmerinnen und Unternehmer, die Eigeninitiative zeigen und Verantwortung übernehmen.“ Im nordrhein- westfälischen Landtagswahlkampf mußte man hingegen bisweilen den Eindruck gewinnen, daß es in der Politik zusehends darum geht, welche politische Kraft mehr Kita-Plätze schafft. Ähnlich wie Mayer argumentiert Dietmar Halper von der Politischen Akademie der ÖVP. Die Zeiten „postmaterialistischer Nabelschau und skurriler Orchideenthemen“ seien vorbei. Politik müsse sich wieder den harten ökonomi- schen Realitäten stellen: „Ein neues Prekariat ist entstanden, die Mittelschicht schmilzt ab, Zuwanderung kostet den Staat mehr als er davon profitiert, Reallöh- ne der Erwerbstätigen stagnieren, die österreichische Bevölkerung wird älter, die langfristig Finanzierung der sozialen Sicherungssystem ist nicht gesichert.“ Sol- che klaren Worte wären aus dem Munde eines Wissenschaftlers der KAS oder eines C-Politikers in Deutschland allerdings mittlerweile fast undenkbar. Aller Voraussicht nach wird sich am Kurs der Union in den nächsten Monaten – insbesondere im Vorfeld der Bundestagswahl – nicht viel ändern. CDU /CSU und FDP haben es verpaßt, mit konservativ-liberaler Handschrift zu regieren. Die meisten der sogenannten Konservativen in der CDU, die sich jetzt in ir- gendwelchen Kreisen organisieren, sich aber noch nicht einmal auf ein paar Grundsätze einigen können, sind jenseits der 70 und standen einst an den Hebeln der Macht. Sollte Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin werden und einer wie auch immer gearteten Koalition vorstehen, dann werden die Karten neu gemischt. Denn dann könnte die CDU erkennen, daß sie um den Preis der permanenten Regierungsfä- higkeit zugesehen hat, wie sie personell und programmatisch zusehends entkernt wurde. Die SPD hat dies schon hinter sich. Sie hat den Preis für die in Teilen

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erfolgreiche Wirtschaftspolitik Gerhard Schröders bezahlt und befindet sich mittlerweile im 20-Prozent-Turm. Entscheidend wird auch sein, welchen Weg in der Europapolitik die CDU be- schreiten wird. Der ehemalige FAZ-Redakteur Konrad Adam fürchtet bereits um die Demokratie, falls die „Politik des Weiter so“, wie sie von CDU /CSU, SPD und Grünen betrieben werde, fortgesetzt würde. Adam hat – neben den Euro- Klägern Karl Albrecht Schachtschneider, Wilhelm Hankel und Joachim Starbatty sowie dem ehemaligen BDI-Chef Hans-Olaf Henkel die Wahlalternative 2013 gegründet. Nach Lage der Dinge wolle man 2013 mit einer Partei kooperieren, die sich wie der Bundesverband der Freien Wähler ebenfalls gegen einen Weg in die europäische Schuldenunion stemmen. Ob hier langfristig eine Gefahr für die Union erwachsen könne, kann heute noch nicht beantwortet werden. Um den historischen Bogen zu schließen: Der Adenauer-Enkel Stephan Werhahn tritt bei den Bundestagswahlen im Herbst 2013 als Spitzenkandidat für die Freien Wähler an. Werhahn wurde in Wolfsburg auf der Bundesmitgliederversammlung per Akklamation als Kandidat bestimmt, wie die Wählervereinigung mitteilte. Der Enkel des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer soll Anfang 2013 bei einer Mitgliederversammlung in geheimer Wahl endgültig gekürt wer- den.

Anmerkung 1) http://www.stresemann-stiftung.de/2012/10/05/diskussions-papier-zur-lage-freiheitlich- konservativer-politik.

Ansgar Lange ist im Hauptberuf CDU-Fraktionsgeschäftsführer in Remscheid und schreibt für verschiedene Zeitungen.

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Rita Anna Tüpper

Über Menschenwürde

Je mehr die Begriffe der Menschenrechte und Menschenwürde nicht nur global verbreitet werden, sondern auch weltweit Geltung beanspruchen, um so mehr scheint der Terminus des christlichen Menschenbildes zu verblassen. Dabei sind seine politischen Implikationen weit über die christdemokratische Bewegung hinaus ursächlich und wesentlich an der Genese, Verbreitung und schließlich Etablierung eines weltumspannenden Menschenrechtsgedankens beteiligt. So leicht die „Menschenwürde“ heute über die Lippen nahezu aller politischen Amtsträger geht, so atemberaubend ist die Geistesgeschichte, die den praktisch paradoxen Gedanken eines unantastbaren – und doch allzuoft grob angetasteten – Kerns des Menschseins hervorbrachte und ihn zum Zentrum politischer Ord- nungsvorstellungen machte.

Walter Schweidler: Über Menschenwürde. Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, 180 S.

Mit diesem bescheidenen Titel überschreibt Walter Schweidler , Professor der Philosophie der Katholischen Universität Eichstätt, seine Abhandlung, die in erstaunlicher Dichte die philosophisch-politischen Brennpunkte unserer Zeit in die Achse der philosophiegeschichtlichen Entwicklung seit Aristoteles stellt. In der von Christoph Böhr herausgegebenen Reihe „Das Bild des Menschen und die Ordnung der Gesellschaft“ bildet sie den Auftakt und mag in ihrer außerge- wöhnlichen Gleichzeitigkeit von tiefster begrifflicher Durchdringung und emoti- onalem Engagement für die praktischen Konsequenzen des Denkens ein Herz- stück bilden. In angemessener Distanz zum politischen Tagesgeschehen geht Böhrs Reihe darauf aus, ein neues Selbstverständnis öffentlichen Handelns zu entwickeln, in dem die Grundlagen des Handelns durchdacht werden, anstatt sie dem Sog des Zeitgeistes anheimzugeben. Erst so wird eine Orientierung auf bewußt gesetzte Ziele möglich, wie es nach Schweidler die Hinwendung zum Lebendigen sein sollte und einer dieses schützenden und pflegenden Kultur. In sieben jeweils dreigeteilten Kapiteln legt Walter Schweidler jene sieben Be- griffe aus, die das Verständnis von „Menschenwürde“, ihre Genese, ihre Rolle im Staatsverständnis und ihre Rolle im menschlichen Selbstverhältnis prägen: Mensch, Natur, Pflicht, Gesetz, Recht, Person, Leben. Die schöne Schlichtheit des Aufbaus faßt einen hoch komplexen Text, der den sorgfältigen Leser in viel- facher Weise belohnt und sein hinterfragendes Mitdenken befriedigt. Seine Einleitung beginnt mit dem scheinbar Selbstverständlichen: Die Men- schenwürde ist in ihrer Unantastbarkeit dem deutschen Grundgesetz vorange-

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stellt. Allein diese Tatsache aber verweist schon auf eine entscheidende Diffe- renzierung: Die Menschenwürde bildet nämlich nicht ein Menschenrecht unter anderen, sondern beschreibt den Grund , aus dem diese Menschenrechte dem Staat vorgegeben sind „und damit eigentlich den Grund der Menschenrechte selbst“. Wäre die Menschenwürde nicht sozusagen als eigentlicher Grund anerkannt, „würde das Verbot der Unantastbarkeit der Menschenwürde auf nichts anderem aufruhen als allein auf der Macht, es auch durchzusetzen; der Staat wäre Macht- staat“ und nicht Rechtsstaat. Dieser Brückenschlag zwischen Faktizität und Anspruch, den der Begriff der Menschenwürde ausführt, ist jener zwischen „sein“ und „sollen“, wie ihn einst der Naturrechtsgedanke leistete. Nicht mehr und nicht weniger als diese Würde des Menschen begründet somit die gesetzliche Ordnung, nach deren Vorschriften sich unser Leben auszurichten hat. Mit dieser Gedankenführung gelingt Walter Schweidler ein philosophischer Paukenschlag in einer Zeit, die das Verstummen der naturrechtlichen Argumen- tation aus guten, philosophiegeschichtlich konsequenten und logisch zwingenden Gründen in der Partitur der denkenden Stimmen festgeschrieben hatte. Der Nachhall wird auch schlafende christliche Geister wecken, die das Menschliche und seinen Ursprung nun neu und noch tiefer denken müssen, als es der Natur- rechtsgedanke – der Mensch als Teil der Schöpfung – einerseits und der Auto- nomiegedanke – der Mensch als selbstbestimmtes Vernunftwesen – andererseits je vermochten. Die Würde des Menschen, so wird schon zu Beginn des Buches deutlich, ist unabhängig von all seinen spezifischen Eigenschaften; sie bezieht sich allein auf seine Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht. Der gebotene Respekt vor der Unantastbarkeit von ‚etwas‘ am und im Menschen unterstellt dieses, ja er muß es unterstellen, damit es sich zeigen kann. Diese Unterstellung ist viel mehr als eine lebensdienliche Fiktion, sie schafft vielmehr tatsächlich den Hohlraum, in den hinein das wesentlich Menschliche wachsen und in Erscheinung treten kann. Dieses ‚etwas‘ ist mehr noch als das je Individuelle, es ist – um einen anderen zentralen Begriff der Schweidler schen Philosophie heranzuziehen – das „Unein- holbare“ am Menschen. Mit dem Schutz seiner unterstellten Würde erst schafft sich der Mensch die ontologische Bühne seiner ‚Epiphanie‘. Die Dignität seines Wesens muß sich zeigen und kann nicht näher definiert werden, da jede Be- schreibung wiederum eine unbotmäßige Eingrenzung und damit zugleich auch Ausschließung bestimmter Weisen des Menschseins wäre, das doch eben allum- fassend zum Ausdruck kommen soll. Mit diesem großartigen, hier nur holzschnittartig angedeuteten Gedankengang ist Walter Schweidler dem Paradox des Unantastbaren, das die ‚Antastung‘, die Verletzung der Menschenwürde erst zum rechtskräftigen Skandalon macht, nicht nur ein großes Stück näher gekommen, wie es im Buch heißt, er hat den philoso- phischen Kern der Unantastbarkeit der Menschenwürde herausgeschält.

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Die streng philosophische, durch Transzendental- und Sprachphilosophie geläu- terte Argumentation, führt in überraschende, ja erstaunliche Nähe zum Geist christlichen Glaubens, der in der Geburt eines Kindes die Inkarnation Gottes erkennt und Grundlage der metaphysischen Sicht auf den Menschen „als Reprä- sentanten des Unbedingten in der Welt des Bedingten“ wurde. Einer der spannendsten Passagen des Buches begegnet der Leser unerwartet in Kapitel V „Das menschliche Recht“, in dem sich der Autor nach eigenem Be- kunden „ins Auge des Taifuns der modernen Idee von staatlicher Souveränität“ begibt: zu den zentralen Passagen von Thomas Hobbes „Leviathan“ und damit zum absoluten Gegenpol aristotelischer bis spätscholastischer Lehre über das Verhältnis von Mensch und Staat. Nach Hobbes gehört der Staat gerade nicht zur Natur und Ihren Gesetzmäßigkeiten, sondern hat den Sinn, sie zu überwinden. Allein die menschliche Vernunft kann die Basis eines soliden Rechtsbegriffes sein und mit diesem auch Basis des Staates. In dieser Bindung des Rechtsbegrif- fes an die menschliche Vernunft aber – eine Revolution in ihrer Zeit –, wird ein Recht des Menschen begründet, „das ontologisch dem Staat und damit auch allen Gesetzen vorausgeht“ (Seite 105). Der Legitimationsgrund des „Leviathan“ ist mithin nicht die Macht, sondern von nun an das – neu verstandene – Recht. Hobbes hat in der wunderbaren Lesart Walter Schweidlers gezeigt, wie das Recht des einzelnen Menschen als eines verstanden werden muß, das die staatli- che Ordnung erst begründet; er hat damit die ethische Legitimation unserer heu- tigen staatlichen Ordnung geschaffen. Nur mit ihr ist nun eine Differenz zwi- schen Macht und Recht, zwischen Rechts- und Unrechtsstaat zu benennen, ist letzten Endes die Überzeugung der Existenz einer Menschenwürde in Menschen- rechten zu fassen. Walter Schweidler ist kein christlicher Denker, der von theologischen Vorausset- zungen ausginge, er ist ein höchst eigenständiger und großer Philosoph der Ge- genwart mit einem zukunftsweisenden Verständnis der Verwobenheit des christ- lichen Menschenbildes mit dem Autonomieanspruch und Freiheitspathos der abendländischen Geistesgeschichte, der er heute mit gebotener Skepsis und im vollen Bewußtsein stark gegenläufiger Zeitströmungen eine bewegende Perspek- tive aufzeigt.

Rita Anna Tüpper ist verantwortliche Redakteurin der Monatszeitschrift „Die Politische Meinung“ in Sankt Augustin.

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Clemens Breuer

Christentum und säkularer Staat

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann.“ Dieser Satz, den der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vor einigen Jahrzehnten erstmals aussprach, ist ein bis heute bekannter und immer wieder zitierter. Daß dieser Satz sich unausge- sprochen auf christliches Gedankengut bezieht, kann angenommen werden. Be- trachtet man das Verhältnis von Christentum und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, so erleben wir seit einigen Jahrzehnten – gestützt durch zahlreiche Konkordate – eine nicht spannungsfreie, aber grundsätzlich kooperative Bezie- hung zwischen Kirchen und Staat. Dieses Verhältnis in seiner Nähe und Distanz für die heutige Zeit verständlich zu machen, ist das Anliegen der vorliegenden Schrift.

Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Ge- genwart – Zukunft. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Herder Verlag, Freiburg 2012

Der in Rom lehrende katholische Theologe und Philosoph Martin Rhonheimer stellt mit seiner neuen Schrift bereits in seiner Einleitung eine für viele Ohren erstaunliche These auf. „Gerade weil die Kirche jeden ideologischen und religi- onsfeindlichen ‚Laizismus‘ ablehnt, ist sie die zuverlässigste Verbündete einer wohlverstandenen ‚gesunden Laizität‘ des modernen säkularen demokratischen Verfassungsstaates.“ Die Geschichte zeigt, so führt er aus, daß „das Christentum (…) letztlich Bedingung der Möglichkeit der säkularen politischen Kultur des demokratischen Verfassungsstaates“ ist. Christentum und säkulare politische Kultur gehören wesentlich zusammen, „da sie eine geistig-moralische und zivili- satorische Symbiose bilden“. In drei ausführlichen Kapiteln (Geschichte, Ge- genwart und Zukunft) versucht Rhonheimer diese zentrale These zu belegen. Geschichtlich führt er dazu an, daß das Christentum die erste Religion gewesen sei, welche das Recht nicht von der Religion abhängen lassen wollte. Der Dua- lismus von geistlicher und weltlicher Gewalt hat wesentlich zur Ermöglichung der modernen säkularen Staatsidee beigetragen. Als ein Argument führt er die Wandlung der Einschätzung der Arbeit und der Arbeitenden an. Die bis zum Beginn des Christentums vorherrschende negative Einschätzung der Arbeit hat sich unter dem Einfluß des Christentums radikal geändert. Rhonheimer schildert zahlreiche Versuche, die weltliche Gewalt in das Fahrwas- ser des Sakralen zu überführen: das Königsamt wird bisweilen zu einer kirchli- chen Funktion. Indem der Kaiser den Titel eines Vicarius Christi annimmt, wird er als Gewalt innerhalb der Kirche gesehen. Allen Absorptionsversuchen ist gemeinsam, so Rhonheimer , daß sie darin endeten, daß es mit der Freiheit der Kirche vorbei war. Große Teile des Klerus versanken im Sumpf irdischer Ge-

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schäfte. Erst die Zweischwerterlehre im Hochmittelalter hat die Trennung beider Gewalten wieder befördert. „Das Wesen, die Idee des Christentums, ist dualis- tisch, es unterscheidet und trennt Politik und Religion.“ Während für das Mittel- alter vielfach der Primat des Spirituellen charakteristisch war, sollte sich die Neuzeit durch den Primat des Politischen ( Hobbes etc.) auszeichnen. Rhonheimer scheut sich nicht, zahlreiche Vorbehalte der katholischen Kirche gegenüber der Religions- und Kultusfreiheit anzusprechen. Dies war noch bei Leo XIII . am Ende des 19. Jahrhunderts so, dem bekanntlich große Verdienste in Bezug auf die Entwicklung der katholischen Soziallehre zukommen. Die Erklä- rung „Dignitatis humanae“ des II. Vatikanums aufgreifend, weist der Theologe darauf hin, daß damit die Kirche nicht ihren Wahrheitsanspruch aufgegeben hat, sondern darauf verzichtete, „diesen in einer Weise geltend zu machen, die eine rechtlich-politische Unterordnung des Staates unter ihre geistliche Gewalt ver- langt“. Damit überwindet die Kirche den „politischen Augustinismus“ und stellte die Weichen für eine positive Lehre über die Demokratie, die bei Pius XII . be- gann und mit der Enzyklika „Centesimus annus“ 1991 zu einem Abschluß kam. Rhonheimer weist darauf hin, daß „Dignitatis humanae“ eine Zäsur darstellte, weswegen er Auffassungen skeptisch gegenübersteht, welche eine vollkommene Harmonie gegenüber der früheren Tradition belegen wollen. In den Texten des II. Vatikanums ist kein Wort mehr „vom Staat als dem weltlichem Arm der Kir- che, der mit staatlichem Zwang die ´Rechte der Wahrheit´ zu schützen und auf diese Weise in der menschlichen Gesellschaft die Königsherrschaft Christi zu errichten hat.“ Das Konzil löste die theologische Verknüpfung zwischen Religi- onsfreiheit und Wahrheit und deren gegenseitigem Bedingungsverhältnis. Inso- fern ist der religiös neutrale Staat „agnostisch“, weil er als Institution sich in religiösen Fragen eines Wahrheitsurteils enthält. „Staatlich religiöse Neutralität heißt (…) Freiheit für die Religion, Freiheit der Religion und ihrer Ausübung von staatlicher Bevormundung.“ Wenngleich der säkulare Staat – so der Theolo- ge – nichts spezifisch Christliches ist, sondern ein Produkt der Neuzeit, so grün- det der Säkularisierungsprozeß dennoch auf „dem Humus des Gründungscharis- mas des Christentums: der Scheidung von Politik und Religion“. Christliche Werte haben jedoch für die westlichen Gesellschaften eine fundamentale Bedeu- tung. „Die christlichen Wurzeln liefern dem freiheitlichen, säkularen westlichen Staat in Wirklichkeit den lebensnotwendigen Sauerstoff.“ Die Gegenwart betreffend, greift Rhonheimer den seit zwei Jahrzehnten gepräg- ten Begriff der „Neuevangelisierung“ auf. Das Bestreben um Neuevangelisie- rung kann nicht bedeuten, daß die Kirche „die Fundamente der Laizität des mo- dernen Staates zerstören und den Prozeß, der in die politische Moderne führte, rückgängig machen wollte.“ Eine „neuevangelisierte“ Gesellschaft meint viel- mehr eine von christlichem Geist durchwirkte Gesellschaft, die zugleich auf dem Boden der politischen Kultur der Moderne steht. Eine Anerkennung der Eigen- gesetzlichkeiten und Zwänge des politischen Prozesses ist notwendig. In glei- chem Maße ist es jedoch für einen christlichen Politiker unumgänglich, bestimm- te Schwellen – z.B. in Fragen des Lebensschutzes – nicht zu überschreiten. Der politische Kompromiß wird in vielen Fällen angesagt sein, der verhindern soll,

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„daß noch schlechtere Gesetze erlassen werden“. Als wahren Gegenspieler des säkularen Staates sieht Rhonheimer nicht das Christentum, sondern den Islam als Religion, welcher die Idee des säkularen Staates ablehnt. Der Islam versteht sich selbst als Teil des Staates: Die religiösen Institutionen im Islam „verstehen auch Staatlichkeit und Politik – Regierungs-, Gesetzgebungs- und Rechtsprechungs- gewalt, rechtliche und soziale Gestaltung der Gesellschaft – als Bestandteil der Religion und als religiöse Funktion“. Den Islam dürfen wir nicht so verstehen, wie wir ihn gerne verstehen würden, oder westlich orientierte, säkulare Muslime verstehen, sondern „wie er sich selbst versteht“. Es gab zwar ansatzweise immer wieder „islamische Aufklärungen“, doch waren „diese stets zum Scheitern verur- teilt, weil sie sich letztlich immer gegen zentrale Wesensbestände der religiösen Substanz des Islam richteten“. Die islamischen Gelehrten, der Arzt Avicenna und der Richter Averroes , haben sich um eine Ausbreitung der Philosophie bemüht, doch wurde diese „Aufklärung“ vom Islam nicht weiterverfolgt. Säkularität und Laizität in einem modernen Staat können sich nur innerhalb des Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt entfalten. Daß die Kirche diese Dualität lange nicht hinreichend ernstgenommen hat, ist bekannt. Noch das „Dekretum Gratianum“ verlangte, daß man Häretiker gegen ihren Willen zum Heil zwingen müsse. Somit weist Rhonheimer auch auf das Versagen der Kirche hin. Mit Johannes Paul II . hat die Kirche die Vergebungsbitte im Jahr 2000 gesprochen, mit der sie sich vor den Opfern ihrer eigenen Geschichte verbeugte. Indem das II. Vatikanische Konzil das irrende Gewissen anerkannt hat, da es in seiner subjektiven Würde geachtet werden muß, ist der Weg unumkehrbar be- schritten, daß es nicht die Aufgabe des Staates ist, der Garant der religiösen Wahrheit zu sein. Eine zentrale These Rhonheimers ist es, zu belegen, daß eine säkulare politische Kultur nur bestehen kann, wenn sie sich nicht von ihren christlichen Wurzeln trennt. Nur das Christentum ist die Religion, welche die Säkularität des Staates aus ihrer religiösen Substanz heraus zu begründen ver- mag. Dagegen ist die „Stärke des Islam auf westlichem Boden und seiner genau gegenläufigen Stoßrichtung … die Schwäche des westlichen Wertebewußtseins“. Wenn derzeit – 50 Jahre nach dem Beginn des II. Vatikanischen Konzils – über die Frage nach der Verbindlichkeit dieses Konzils bzw. nach einzelnen Doku- menten in der Kirche diskutiert wird, so wird damit deutlich, daß bis heute nicht einhellig akzeptiert wird, daß alle Texte des Konzils Verbindlichkeit beanspru- chen. Gerade die beiden Konstitutionen über die Kirche („Lumen gentium“ und „Gaudium et spes“) können nicht von den beiden Erklärungen („Dignitas humanae“ und „Nostra aetate“) getrennt betrachtet werden. Martin Rhonheimer hat mit seinen Ausführungen dazu beigetragen, daß das eingangs zitierte Diktum von Böckenförde argumentativ in einer schlüssigen Art und Weise vermittelt werden kann. Damit hat er dem Christentum und der katholischen Kirche einen wertvollen Dienst erwiesen.

Dr. theol. habil. Clemens Breuer ist Mitarbeiter beim Katholischen Bildungs- werk Köln und außerordentlicher Professor für Moraltheologie in St. Pölten.

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Gesetz und dem Privateigentum ist das Besprechungen Erbe. Das antike Griechenland, das in so vielfacher Weise unsere Denktradition Ökonomie und Moral und Lebensweise beeinflußt hat, brachte

In seiner tschechischen Heimat erhielt die ersten Wirtschaftsbücher: so die das umfangreiche Buch eine erstaunli- Gespräche über die Haushaltsführung che Aufmerksamkeit; in den USA wurde (Oeconomicos) von Xenophon . Dem es zum Buchtip weit über ökonomische asketischen Platon wird Aristoteles Kreise hinaus. Tomás Sedlácêk , Chef- gegenübergestellt, der sich mit vielen ökonom und Wirtschaftsphilosoph, legt wirtschaftlichen Fragestellungen befaß- ein geistes-/ kulturgeschichtliches Werk te, wie der Rolle des Geldes, dem Wu- vor, das in seiner Spannweite wohl nur cher, sogar mit der Bedeutung von Mo- von einem der so selten gewordenen nopolen. Seine Überlegungen zum Nut- „mittel-europäischen“ Humanisten kom- zen und zu einer glücklichen Lebensfüh- men kann. rung ( eudaimonia ) führen über die

Tomás Sedlácêk: Die Ökonomie von Grenzen der Ökonomie hinaus, bilden Gut und Böse. Hanser, München, im heutigen Verständnis eine Metaöko- 2012, 447 S. (Übersetzung aus dem nomie. Der zwischen Stoikern und He- Amerikanischen) donisten ausgebrochene Widerstreit hat in der Neuzeit mit der Gleichsetzung Im Vorwort stellt Vaclav Havel heraus, von Nutzen mit dem Guten geendet. daß in diesem Buch auf eine bescheide- ne Weise grundlegende Fragen der Mit dem Christentum zog die Spirituali- Ökonomie gestellt werden: Seit wann tät ein, die die Welt schließlich auch gibt es sie, die Ökonomie? Welchen ökonomisch veränderte. Das Neue Tes- Zweck erfüllt sie? Welche menschlichen tament ist mit seinen vielen Gleichnis- Eigenschaften treiben sie voran? Was ist sen und Beispielen Jesu - von den 30 Fortschritt und warum unablässiges haben 19 einen ökonomischen Bezug - Wachstum? Ist gutes (ökonomisches) ein Leitentwurf wirtschaftlichen und Verhalten lohnend? sozialen Verhaltens. Erlaß der Schulden, das Liebesgebot, die Einordnung der Im ersten Teil wird die Ökonomie aus Arbeit als Segen und Fluch gehören Mythen, Geschichten, den Lehren und dazu. Das Gleichnis vom Unkraut unter Traditionen der Religionen herausgefil- dem Weizen konfrontiert die Christen tert: beginnend beim Gilgamesch-Epos, mit dem Unausrottbaren des Bösen. dem frühesten literarischen Werk der Menschheit, und dem Alten Testament. Eingehend behandelt werden die Be- Das Konzept des Fortschritts, die Ver- gründung des Privateigentums und seine bindung von Konjunkturzyklus und Begrenzung in den Lehren von Thomas Moral (mit Bezug zum Traum des Pha- von Aquin . Seine ausgeprägte Betonung rao), das Prinzip des Sabbats als Jahr der der Vernunft für die Lehre des Glaubens Ruhe, das Verbot von Zinsen und die wird erläutert sowie der Zusammenhang Geschichte der Schulden sind die be- von persönlicher Autonomie und gesell- sonders beleuchteten Themen. Im jüdi- schaftlichem Fortschritt hergestellt. schen Denken ist der Mensch als Vol- Descartes wird als Vertreter der Ratio- lender der Schöpfung angehalten, Pau- nalität und eines mechanischen Men- sen in seinem wirtschaftlichen Walten schenbildes dargestellt. einzulegen und mit seinem Besitz sorg- Die erste Beschreibung des Homo sam umzugehen. Die Achtung vor dem oeconomicus wird auf Mandeville zu-

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rückgeführt. Seine schonungslose Schil- ßigen Verbrauch verschließen. Daß derung des Ursprungs von Wohlstand ist dieses Buch über Jahre hinweg gewach- in die Form der Bienenfabel (1723) sen ist, merkt man; und daß namhafte gekleidet, deren Titel Private Laster, Mitautoren beteiligt waren, wirkt berei- öffentliche Vorteile die Antwort bereits chernd. Es kann auch als eine Samm- beinhaltet. Daran schließt sich die Aus- lung von Aufsätzen gelesen werden, einandersetzung mit den beiden ambiva- beispielsweise die Ausführungen zur lenten Werken von Adam Smith (Wohl- Rolle der Ökonomen als Propheten oder stand der Nationen und Theorie der die Schönheit der Ökonomie. Es ist gut ethischen Gefühle ). Berühmt geworden geschrieben und gut zu verstehen. Was ist er für die Vorteilhaftigkeit des Ei- lehrt dieses lehrreiche Buch im Kern? Es gennutzes. Dagegen ist die Einführung führt den Beweis, daß Gut und Böse moralischer Erwägungen vom schon immer unabdingbare Dimensio- Mainstream der jüngeren Ökonomie nen der Ökonomie waren. Darum gehö- unbeachtet geblieben. ren moralische Fragen wieder in ihre Im zweiten Teil werden „Blasphemische Mitte. Manfred J. Hoefle Gedanken“ - so nennt der Autor seine zahlreichen Betrachtungen - ausgebrei- Schlesische Kulturgeschichte tet. Der Kreis der Themen ist groß: die Verengung auf eine positivistische Die verlorenen deutschen Ostgebiete Grundeinstellung und die mathematisch- sorgen bis heute für politischen und modellbezogene Reduzierung der Öko- historischen Streit. Meistens geht es um nomie, ihre Verarmung dadurch, daß der die Umstände der Vertreibung. Die Mainstream sich kaum oder gar nicht für Geschichte des deutschen Ostens steht Geschichte, Kultur, Religion und andere nicht im Mittelpunkt des Interesses, Sozialwissenschaften interessiert. Die schon gar nicht der Einfluß des Chris- angemaßte Beherrschung wirtschaftli- tentums und der Kirchen im Osten. Für chen Geschehens und die behauptete Schlesien hat jetzt der aus Schlesien Fähigkeit zur Prognose ist Anlaß zu stammende Regensburger Pastoraltheo- einer grundsätzlichen Kritik. loge eine gründliche und umfangreiche Arbeit zu diesem Thema vorgelegt: Zum Schluß kommt die Rede auf die Angst, daß der „Marktkapitalismus“ Wolfgang Nastainczyk: Wie die Schle- (nicht die Soziale Marktwirtschaft!) in sier Christen wurden, waren und seiner exzessiven Form in eine Sackgas- sind. Ein Beitrag zur schlesischen se führt und mancherorts bereits geführt Kulturgeschichte, Schnell & Steiner hat. Die augenfälligste Erscheinung Regensburg 2011, 276 S. dafür ist die Überschuldung vieler Staa- Die Arbeit besticht durch eine Fülle von ten. Die Formulierung „sündige Struktu- historischen Details, alle von Quellen ren“ erscheint im Zusammenhang mit belegt und in einem vorzüglichen Regis- der Generationenverantwortung pas- ter auffindbar. Sie zu recherchieren send. Der Ausweg aus der systemischen erforderte ungeheuer viel genaue Arbeit. Mißlichkeit kann nur über ein Wiederer- Ein weiterer Vorzug ist die übersichtli- starken von Verantwortung und die che Einteilung des Stoffes in einer heute Durchsetzung von Haftung gelingen. selten gewordenen Klarheit. Die ge- Dazu müssen wir alle uns auf das „In schichtlichen Perioden vom frühen uns selbst“ besinnen und den Zwängen Mittelalter bis zur Gegenwart sind je- ständigen Wachstums und dem übermä- weils gegliedert in die Abschnitte: Poli-

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tische, Soziokulturelle, Religiöse Ent- sien, sondern paßte sich in der Seelsorge wicklungen, danach zusammengefaßte ohne Überlegenheit an diese an. Kennzeichnungen der Periode als „Mar- Unter preußischer Herrschaft und im 19. kierungen“, gefolgt von Kurzbiogra- Jahrhundert hatte die Kirche es nach phien bedeutender Persönlichkeiten der außen hin nicht leicht. Klöster und Bib- Epoche. Am meisten interessieren natür- liotheken wurden aufgehoben, die Steu- lich die religiösen und kirchlichen Ent- ern erhöht, mißliebige Kleriker drangsa- wicklungen, die einerseits sehr turbu- liert und anderes mehr. Aber nach innen lent, auch innerkirchlich, waren, aber wuchs die Zusammengehörigkeit der auch in der Reformations- und Gegenre- Katholiken und das kirchliche Leben formationszeit nach anfänglichen Kon- sogar mehr. Große Verdienste um den flikten mit Unterdrückung einigermaßen Zusammenhalt der Katholiken erwarben friedlich verliefen. Erstaunlich ist, wie sich die Zentrumspartei und der „Volks- sehr gerade Kleriker ihre Bildung aus verein für das katholische Deutschland“ den Universitäten Italiens und West- mit seinem Bildungsangebot (der Vater deutschlands bezogen, auch polnischer des Rezensenten leitete ihn in Ober- Einfluß spielte eine Rolle, wenn auch schlesien bis 1933). Eine überaus große nach der Piastenzeit nicht mehr vorherr- Zahl von Priestern und Ordensniederlas- schend. sungen in der ersten Hälfte des zwan- Der neuzeitliche Charakter des schlesi- zigsten Jahrhunderts förderten einen schen Katholizismus verdankt sich vor kirchlichen Aufbruch. Hervorragend allem der zweihundert Jahre währenden gelungen ist die Darstellung des kirchli- habsburgischen Herrschaft. Auffällig in chen Lebens in der Nazizeit, im Krieg dieser Zeit die große Zahl florierender und bei der Vertreibung. Die Nazis Ordensgemeinschaften besonders der konnten den besonders von der Jugend Jesuiten, Zisterzienser und Kapuziner getragenen Aufbruch nicht unterdrü- mit ihren höheren Bildungsanstalten (so cken. „Gottbekenntnistage“ am Dreifal- z.B. der Universität Breslau). Aus dieser tigkeitssonntag und Christkönigsfest, Periode stammen auch die herrlichen Wallfahrten, charismatische Jugendseel- Barockbauten und Barockkirchen Schle- sorger, Kinderseelsorgestunden, Jugend- siens. Bis zur Vertreibung nach dem arbeit, teils im Geheimen und mit Laien- Zweiten Weltkrieg unterschied sich der führern sorgten bis Kriegsende für ein schlesische Katholizismus deutlich vom reges Leben. Schmerzlich die Auseinan- rheinischen oder bayerischen, nicht dersetzungen der deutschen Diözesanlei- zuletzt in den Formen und der Mentalität tung und ihrer Priester mit der polni- der katholischen Jugendbewegungen. schen Hierarchie 1945. Man merkt an Der in Neisse gegründete Quickborn diesen Schilderungen die eigenen Erfah- war wohl die erste Gruppierung dieser rungen und Erlebnisse des Autors, die Bewegungen überhaupt. Gemüt, Fried- vom Rezensenten bestätigt werden kön- fertigkeit, Volksfrömmigkeit, Liebe zum nen. Schlesische Christen trugen auch Lied (auch in der Kirche) kennzeichne- nach 1945 nicht nur zu den Kirchen in ten die Schlesier, die sich aber vom Westdeutschland das Ihre bei, sondern Mittelalter an als Ober- und Nieder- auch zur Aussöhnung mit Polen und schlesier in Sprache, Nationalgefühl und Tschechen. Das Buch ist mit seinem Frömmigkeit unterschieden. Das Fürst- Thema ein Solitär der Kirchenge- erzbistum Breslau kannte bis zum schichtsschreibung für ein Publikum Schluß keinen Nationalismus gegenüber außerhalb der Fachkreise. der polnischen Minderheit in Oberschle- Hans Joachim Türk

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