Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/57

Deutscher

Stenografischer Bericht

57. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- (BÜNDNIS 90/ neten ...... 5219 A DIE GRÜNEN) ...... 5227 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) ...... 5229 B nung ...... 5219 A Dr. (DIE LINKE) ...... 5231 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 9 und 16 5220 A (SPD) ...... 5232 A Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 5220 B Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5233 D (Peine) (SPD) ...... 5234 C Tagesordnungspunkt 4: Katrin Albsteiger (CDU/CSU) ...... 5235 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. (SPD) ...... 5236 D rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) . . . 5238 A des Bundesausbildungsförderungsgeset- zes (25. BAföGÄndG) (SPD) ...... 5239 C Drucksache 18/2663 ...... 5220 D Sven Volmering (CDU/CSU) ...... 5240 C b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Zwanzigster Bericht nach § 35 des Bun- Tagesordnungspunkt 5: desausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibe- Antrag der Abgeordneten , träge sowie Vomhundertsätze und Höchst- Bärbel Höhn, , weiterer Abge- beträge nach § 21 Absatz 2 ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Drucksache 18/460 ...... 5220 D GRÜNEN: Ein Scheitern der nationalen Klimapolitik abwenden und international c) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Drucksache 18/2744 ...... 5242 B Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Sofort besser Dr. (BÜNDNIS 90/ fördern – BAföG-Reform überarbeiten DIE GRÜNEN) ...... 5242 C und vorziehen Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 5244 A Drucksache 18/2745 ...... 5220 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 5246 A Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF ...... 5221 A Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB ...... 5247 D (DIE LINKE) ...... 5224 A Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 5225 D DIE GRÜNEN) ...... 5250 A II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Frank Schwabe (SPD) ...... 5250 C Dr. (DIE LINKE) ...... 5273 D (SPD) ...... 5251 C Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) ...... 5274 C Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5251 D DIE GRÜNEN) ...... 5275 C (CDU/CSU) ...... 5252 B Waldemar Westermayer (CDU/CSU) ...... 5276 C Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 5278 A DIE GRÜNEN) ...... 5253 D Dr. (SPD) ...... 5279 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5254 C Tagesordnungspunkt 27: Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 5255 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Andreas Jung (CDU/CSU) ...... 5255 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 5256 A zes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäi- (SPD) ...... 5257 A schen Auslieferungsübereinkommen vom Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ 13. Dezember 1957 DIE GRÜNEN) ...... 5257 C Drucksache 18/2655 ...... 5280 A Dr. (CDU/CSU) ...... 5258 B b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu (SPD) ...... 5260 B dem Abkommen vom 13. Februar 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- (CDU/CSU) ...... 5261 C land und der Republik Costa Rica zur (SPD) ...... 5263 B Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Ulrich Petzold (CDU/CSU) ...... 5264 D kommen und vom Vermögen Drucksache 18/2659 ...... 5280 B Tagesordnungspunkt 6: c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- a) Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, zes zu dem Protokoll vom 24. Juni 2013 Sabine Weiss (Wesel I), Katrin Albsteiger, zur Änderung des Abkommens vom weiterer Abgeordneter und der Fraktion 4. Oktober 1991 zwischen der Bundes- der CDU/CSU sowie der Abgeordneten republik Deutschland und dem König- Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer (Bochum), reich Norwegen zur Vermeidung der Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Ab- Doppelbesteuerung und über gegensei- geordneter und der Fraktion der SPD: tige Amtshilfe auf dem Gebiet der Steu- Gute Arbeit weltweit – Verantwortung ern vom Einkommen und vom Vermö- für Produktion und Handel global ge- gen sowie des dazugehörigen Protokolls recht werden Drucksache 18/2660 ...... 5280 B Drucksache 18/2739 ...... 5266 A d) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Antrag der Abgeordneten , rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Augsburg), Tom Koenigs, zes zu dem Protokoll vom 11. März weiterer Abgeordneter und der Fraktion 2014 zur Änderung des Abkommens BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sozialöko- vom 1. Juni 2006 zwischen der Bundes- logischen Rahmen für die Aktivitäten republik Deutschland und Georgien zur transnationaler Unternehmen schaffen Vermeidung der Doppelbesteuerung auf und durchsetzen dem Gebiet der Steuern vom Einkom- Drucksache 18/2746 ...... 5266 B men und vom Vermögen Dr. Gerd Müller, Bundesminister Drucksache 18/2661 ...... 5280 C BMZ ...... 5266 C e) Erste Beratung des von der Bundesregie- (DIE LINKE) ...... 5268 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirt- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 5269 D schaftsplans des ERP-Sondervermögens Stefan Rebmann (SPD) ...... 5270 A für das Jahr 2015 – (ERP-Wirtschafts- plangesetz 2015) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/2662 ...... 5280 C DIE GRÜNEN) ...... 5271 A f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Jürgen Klimke (CDU/CSU) ...... 5272 B rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 III

ten Gesetzes zur Änderung des Agrar- Zweiten Zusatzprotokoll vom 8. No- statistikgesetzes vember 2001 zum Europäischen Über- Drucksache 18/2707 ...... 5280 C einkommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksachen 18/1773, 18/2648 ...... 5281 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Erlass und zur Änderung von b) – Zweite und dritte Beratung des von der Vorschriften zur Durchführung unions- Bundesregierung eingebrachten Ent- rechtlicher Vorschriften über Agrar- wurfs eines Sechsten Gesetzes zur zahlungen und deren Kontrollen in der Änderung des Verwaltungs-Vollstre- Gemeinsamen Agrarpolitik ckungsgesetzes Drucksache 18/2708 ...... 5280 D Drucksachen 18/2337, 18/2640 . . . . . 5281 D h) Antrag des Bundesministeriums der Finan- – Bericht des Haushaltsausschusses ge- zen: Durchführungsbestimmungen zum mäß § 96 der Geschäftsordnung Instrument der direkten Bankenrekapi- Drucksache 18/2642 ...... 5282 A talisierung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; Einholung ei- c) Zweite und dritte Beratung des von der nes zustimmenden Beschlusses des Deut- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs schen Bundestages nach § 4 Absatz 1 eines Gesetzes zur Änderung des Um- ESM-Finanzierungsgesetz weltstatistikgesetzes Drucksache 18/2669 ...... 5280 D Drucksachen 18/2135, 18/2664 ...... 5282 A i) Antrag der Abgeordneten , d)–h) Wolfgang Gehrcke, , weiterer Beratung der Beschlussempfehlungen des Abgeordneter und der Fraktion DIE Petitionsausschusses: Sammelübersich- LINKE: Humanitäre Hilfe und Flücht- ten 91, 92, 93, 94 und 95 zu Petitionen lingsschutz für Jesiden, Kurden und an- Drucksachen 18/2631, 18/2632, 18/2633, dere Schutzbedürftige im Norden des 18/2634, 18/2635 ...... 5282 B Irak und Syriens Drucksache 18/2742 ...... 5281 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zusatztagesordnungspunkt 2: schusses für Recht und Verbraucherschutz: zu a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- dem Streitverfahren vor dem Bundesver- brachten Entwurfs eines Gesetzes über fassungsgericht 2 BvE 5/12 und damit zu- Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur sammenhängenden Verfahren Erleichterung der Unterbringung von Drucksache 18/2773 ...... 5282 D Flüchtlingen Drucksache 18/2752 ...... 5281 A Tagesordnungspunkt 7: b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Oliver Krischer, Kai Gehring, weite- Beratung der Vierten Beschlussempfehlung rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- des Wahlprüfungsausschusses: zu Einsprü- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Atommüll- chen gegen die Gültigkeit der Wahl zum Export aus dem Reaktor AVR Jülich in 18. Deutschen Bundestag am 22. Septem- die USA ber 2013 Drucksache 18/2624 ...... 5281 A Drucksache 18/2700 ...... 5283 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Dr. (CDU/CSU) ...... 5283 A Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Echte Wahl- Tagesordnungspunkt 8: freiheit schaffen – Elterngeld flexibler gestalten Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Drucksache 18/2749 ...... 5281 A Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes Drucksache 18/2743 ...... 5284 B Tagesordnungspunkt 28: Wahl ...... 5284 C a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ergebnis ...... 5287 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Tagesordnungspunkt 11: ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewer- CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ berleistungsgesetzes DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Drucksache 18/2736 ...... 5301 A Neunten Gesetzes zur Änderung des Bun- desverfassungsgerichtsgesetzes Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin (9. BVerfGGÄndG) BMAS ...... 5301 B Drucksache 18/2737 ...... 5284 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 5302 A Dr. (SPD) ...... 5284 D Jutta Eckenbach (CDU/CSU) ...... 5303 A (DIE LINKE) ...... 5286 C (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 5287 B DIE GRÜNEN) ...... 5305 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 5306 B DIE GRÜNEN) ...... 5288 C (SPD) ...... 5307 C Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) ...... 5289 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 5291 A Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 10: schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Antrag der Abgeordneten , Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, weite- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- LINKE: Die Abgeltungsteuer abschaffen – NIS 90/DIE GRÜNEN: Das psychiatrische Kapitalerträge wie Löhne besteuern Entgeltsystem überarbeiten und das Ver- Drucksache 18/2014 ...... 5291 D sorgungssystem qualitativ weiterentwi- ckeln Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 5291 D Drucksachen 18/849, 18/1713 ...... 5309 A (CDU/CSU) ...... 5293 A (CDU/CSU) ...... 5309 A Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) ...... 5310 C DIE GRÜNEN) ...... 5294 B Dr. (SPD) ...... 5311 C Dr. (SPD) ...... 5295 B Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) ...... 5296 C DIE GRÜNEN) ...... 5312 D Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 5297 A (CDU/CSU) ...... 5313 C Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5298 A (SPD) ...... 5315 A (Heidelberg) (SPD) ...... 5299 A Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 15: DIE GRÜNEN) ...... 5300 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versor- Tagesordnungspunkt 13: gungsanpassungsgesetzes 2014/2015 Erste Beratung des von der Bundesregierung (BBVAnpG 2014/2015) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Drucksachen 18/1797, 18/2136, 18/2639 . 5316 A Änderung des Asylbewerberleistungsgeset- – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß zes und des Sozialgerichtsgesetzes § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/2592 ...... 5301 A Drucksache 18/2641 ...... 5316 B (CDU/CSU) ...... 5316 B in Verbindung mit Frank Tempel (DIE LINKE) ...... 5318 A Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) ...... 5319 B Zusatztagesordnungspunkt 4: (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 5321 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise Amtsberg, , weiteren Abge- (CDU/CSU) ...... 5322 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 V

Tagesordnungspunkt 14: – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Luise Amtsberg, Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, (Köln), weiterer Abgeordneter und der Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Karenzzeit für ausscheidende Regie- Hunger bekämpfen, Recht auf Nahrung rungsmitglieder stärken Drucksache 18/1482 ...... 5323 C Drucksachen 18/285, 18/292, 18/2762 . . . . . 5335 A (CDU/CSU) ...... 5335 B in Verbindung mit Halina Wawzyniak (DIE LINKE) ...... 5337 B Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) ...... 5338 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN) ...... 5340 B schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Uwe Kekeritz, , Tagesordnungspunkt 18: Claudia Roth (Augsburg), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Zweite und dritte Beratung des von der Bun- GRÜNEN: Weltagrarbericht jetzt unter- desregierung eingebrachten Entwurfs eines zeichnen Zwölften Gesetzes zur Änderung des Bun- Drucksachen 18/979, 18/1788 ...... 5323 C des-Immissionsschutzgesetzes Drucksachen 18/2442, 18/2709, 18/2776 . . . 5341 C Niema Movassat (DIE LINKE) ...... 5323 D Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin (CDU/CSU) ...... 5324 C BMUB ...... 5341 C Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) ...... 5342 B DIE GRÜNEN) ...... 5326 C Karsten Möring (CDU/CSU) ...... 5343 A Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 5327 D Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 5328 D DIE GRÜNEN) ...... 5344 B (SPD) ...... 5345 B Tagesordnungspunkt 17: (CDU/CSU) ...... 5346 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 19: Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäi- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- schen elektronischen Mautdienstes desregierung eingebrachten Entwurfs eines Drucksache 18/2656 ...... 5329 D Gesetzes zur Änderung des Straßenver- kehrsgesetzes und der Gewerbeordnung (CDU/CSU) ...... 5330 A Drucksachen 18/2134, 18/2775 ...... 5347 A (DIE LINKE) ...... 5331 A (SPD) ...... 5331 D Tagesordnungspunkt 20: Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN) ...... 5333 A schusses für Verkehr und digitale Infrastruk- (CDU/CSU) ...... 5334 A tur zu dem Antrag der Abgeordneten , , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Martin Zusatztagesordnungspunkt 6: Dörmann, Kirsten Lühmann, , Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der ausschusses SPD: Moderne Netze für ein modernes Land – Schnelles Internet für alle – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Drucksachen 18/1973, 18/2778 ...... 5347 C Korte, Dr. , Halina Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Karl Holmeier (CDU/CSU) ...... 5347 D DIE LINKE: Gesetzliche Karenzzeit für Herbert Behrens (DIE LINKE) ...... 5348 D ausgeschiedene Regierungsmitglieder ein- führen Martin Dörmann (SPD) ...... 5349 C VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) ...... 5350 A Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgre- miums teilgenommen haben ...... 5356 A Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5351 C (CDU/CSU) ...... 5352 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Nächste Sitzung ...... 5353 D des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der Gewer- beordnung (Tagesordnungspunkt 19) ...... 5358 A Anlage 1 (CDU/CSU) ...... 5358 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5355 A Patrick Schnieder (CDU/CSU) ...... 5359 A (SPD) ...... 5359 D Anlage 2 (DIE LINKE) ...... 5361 A Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ schen Bundestages, die an der Wahl eines DIE GRÜNEN) ...... 5361 B

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(A) (C)

57. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ausschuss für Wirtschaft und Energie begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten, möchte ich der Kollegin Hilde Mattheis mit allen guten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wünschen für die nächsten Jahre nachträglich zu ihrem Dr. , Katja Dörner, Kai 60. Geburtstag gratulieren. Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall) Echte Wahlfreiheit schaffen – Elterngeld Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene flexibler gestalten Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- (B) führten Punkte zu erweitern: Drucksache 18/2749 (D) Überweisungsvorschlag: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschuss für Arbeit und Soziales Reaktion der Bundesregierung auf den Rüs- Haushaltsauschuss tungsbericht und die schwierige Situation des ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- Beschaffungswesens der Bundeswehr sprache (siehe 56. Sitzung) (Ergänzung zu TOP 28) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Verfahren richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- (Ergänzung zu TOP 27) cherschutz (6. Ausschuss) a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- brachten Entwurfs eines Gesetzes über fassungsgericht 2 BvE 5/12 und damit zusam- Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur menhängenden Verfahren Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen Drucksache 18/2773 Drucksache 18/2752 ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeord- Reaktorsicherheit (f) neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Innenausschuss NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten setzes Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Kai Drucksache 18/2736 Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Kein Atommüll-Export aus dem Reaktor Innenausschuss AVR Jülich in die USA Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/2624 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 5220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute vor einem (C) richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Vierteljahrhundert, am 9. Oktober 1989, zogen in Leip- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zig 70 000 Menschen nach einem Friedensgebet in der zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Nikolaikirche über den Innenstadtring – eine machtvolle Friedrich Ostendorff, Claudia Roth (Augsburg), Demonstration für Freiheit, Selbstbestimmung und De- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- mokratie gegen die SED-Diktatur. Es war nicht die erste NIS 90/DIE GRÜNEN der großen Massenkundgebungen, die schließlich zum Mauerfall und zum Ende der DDR führten. Doch an die- Weltagrarbericht jetzt unterzeichnen sem Abend wurde der berühmte Punkt erreicht, von dem Drucksachen 18/979, 18/1788 aus es kein Zurück mehr gab. Es war das doppelte Wun- der von Leipzig: die disziplinierte Friedfertigkeit und ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gewaltlosigkeit der Demonstranten, aber auch die Ein- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) sicht der örtlichen Funktionäre, der unwiderstehlichen – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Kraft von Zehntausenden Menschen mit Kerzen in den Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weiterer Händen, auch entgegen den Anweisungen aus Berlin, Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE nicht mit Waffengewalt zu begegnen. Dieser 9. Oktober 1989 gehört zu den großen, glücklichen Tagen der jün- Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschie- geren deutschen Geschichte. Wir sind allen dankbar, die dene Regierungsmitglieder einführen damals viel riskiert haben, als sie es wagten, für Demo- – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta kratie, Freiheit und Bürgerrechte auf die Straße zu ge- Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck hen. (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall im ganzen Hause) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Karenzzeit für ausscheidende Regierungs- Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei den Men- mitglieder schen in Hongkong und anderswo auf der Welt, die 25 Jahre nach Leipzig wieder mit großem persönlichen Drucksachen 18/285, 18/292, 18/2762 Mut und Risiko für ihre Rechte, für ihre Freiheit, für Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Selbstbestimmung und Demokratie eintreten. Ihnen gel- weit erforderlich, abgewichen werden. ten unser Respekt und unsere Unterstützung. Der Tagesordnungspunkt 9 wird abgesetzt. Die Ta- (Beifall im ganzen Hause) gesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken ent- (B) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: (D) sprechend vor. Der Tagesordnungspunkt 16 wird eben- falls abgesetzt und stattdessen die Beschlussempfehlung a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- des Innenausschusses auf der Drucksache 18/2762 zu gebrachten Entwurfs eines Fünfundzwanzigs- den Anträgen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ ten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbil- Die Grünen zur Einführung einer Karenzzeit für aus- dungsförderungsgesetzes (25. BAföGÄndG) scheidende Regierungsmitglieder aufgerufen. Drucksache 18/2663 Darüber hinaus mache ich Sie noch auf eine nachträg- Überweisungsvorschlag: liche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatz- Ausschuss für Bildung, Forschung und punktliste aufmerksam: Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der am 11. September 2014 (51. Sitzung) überwie- Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- gierung schuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Zwanzigster Bericht nach § 35 des Bun- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes desausbildungsförderungsgesetzes zur Über- zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung ei- prüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie nes Sondervermögens „Energie- und Klima- Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach fonds“ § 21 Absatz 2 Drucksache 18/2443 Drucksache 18/460 Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Haushaltsauschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Haushaltsauschuss Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Ich frage Sie, ob Sie mit diesen vorgetragenen Verän- Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer derungen einverstanden sind. – Das ist offensichtlich der Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Fall. Dann können wir so verfahren. DIE GRÜNEN Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5221

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Sofort besser fördern – BAföG-Reform über- Frauen und jungen Männern ein Studium ermöglicht. (C) arbeiten und vorziehen Schauen wir uns einmal die Zahlen an: Letztes Jahr er- hielten im Jahresdurchschnitt – immer gerechnet auf das Drucksache 18/2745 volle Jahr und nicht darauf, dass jemand 14 Tage oder Überweisungsvorschlag: zwei Monate BAföG bezieht – 620 000 Frauen und Ausschuss für Bildung, Forschung und Männer BAföG. Dies ist eine wirkliche Größenordnung. Technikfolgenabschätzung (f) Haushaltsauschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu Wir können stolz darauf sein, dass wir in Deutschland stelle ich Einvernehmen fest. ein solches Förderungssystem haben und die Finanzie- rung eines Studiums nicht einfach den Eltern oder den Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der betreffenden Studierenden überlassen. Man muss sich Bundesministerin Frau Professor Wanka. immer über die Tatsache im Klaren sein, dass wir mit dieser BAföG-Novelle noch einmal Hunderte von Mil- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lionen Euro Jahr für Jahr zusätzlich ausgeben. Das bringt uns in den Bildungsstatistiken der OECD gar nichts. Es Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung wird nicht als Ausgabe für Bildung gerechnet. Wenn hin- und Forschung: gegen beispielsweise in Großbritannien die Studienbei- Herr Präsident! Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie träge erhöht werden, dann erhöht es die Bildungsausga- zu Beginn dieser Sitzung an den 9. Oktober 1989 erin- ben in Großbritannien. nert haben. Das ist für mich der wichtigste Tag, wichti- ger als der 9. November. Es ist ein Tag, an dem man sich ( [CDU/CSU]: OECD!) immer wieder freut. Ich erinnere mich nicht nur sehr – OECD. Ich sage es an dieser Stelle. Wir sind uns hier gerne daran, sondern mir ist es egal, wie wir heute disku- einig. tieren. Ich rege mich gar nicht auf – vielleicht –, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) Das BAföG wird als Sozialausgabe gewertet, geht aber wesentlich darüber hinaus. Diese Ausbildungsför- weil ich mich freue, dass wir hier diskutieren können derung wollen wir nachhaltig sichern. Mir war es von und demokratische Verhältnisse haben. Wahrscheinlich Anfang an ein ganz wichtiges Anliegen, in dieser Legis- kann nur jemand, der jahrelang nicht in einer Demokra- laturperiode eine BAföG-Reform zu erreichen, die sub- tie gelebt hat, ermessen, wie wichtig sie ist und wie sehr stanziell und strukturell ist. Mit diesem Gesetz sind ganz (B) man sich – aus Ihrer Sicht vielleicht naiv – darüber wichtige Weichenstellungen verbunden. An erster Stelle (D) freuen kann. steht – das ist grundlegend –, dass ab 1. Januar 2015 der Bund die Kosten für das BAföG zu 100 Prozent trägt. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Das sind rund 1,2 Milliarden Euro. Das ist kein Pappen- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stiel. Das ist eine wirklich beträchtliche Größenordnung. Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Her- ren, es wurde in Deutschland noch nie so viel Geld für (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bildung und Forschung ausgegeben wie heute. Das geht Das bringt den Studierenden überhaupt so weiter. Für den Bund kann ich sagen, dass wir in den nichts!) nächsten Jahren dieser Legislaturperiode eine Steigerung – Zuhören, Herr Gehring. – Damit erhalten die Länder des Etats des BMBF um noch einmal 25 Prozent haben ab 1. Januar Geld in dieser Größenordnung, werden. Wir alle wissen, wie schwierig diese Steigerung angesichts der Haushaltssituation des Bundes – ich (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nenne die Stichworte „Konsolidierung“ und „schwarze Das bringt den Studierenden aber nichts!) Null“ – war. Wir haben also nicht viel oder sogar zu viel Geld. Deshalb haben wir schon im Koalitionsvertrag mit um es – das steht im Gesetz – für Bildungsausgaben, ins- zusätzlichen 9 Milliarden Euro für Bildung und For- besondere für Hochschulen, auszugeben. Damit haben schung eindeutige Prioritäten gesetzt. Diese Investitio- wir etwas, was wir die letzten 10, 15 Jahre nicht hatten: nen lohnen sich doppelt: Sie lohnen sich für die Lebens- Wir haben eine dauerhafte Lösung. Es werden jetzt dau- chancen jedes Einzelnen, egal ob er Schüler, Lehrer, erhaft Mittel für die entsprechenden Aufgaben zur Ver- Studierender oder Forscher ist, sie lohnen sich aber auch fügung gestellt, mit denen zum Beispiel Stellen für den für die Volkswirtschaft; denn sie sind der Schlüssel für wissenschaftlichen Nachwuchs an Hochschulen, für Pro- Wohlstand und Lebensqualität. Das wünschen wir uns fessoren oder für Schulsozialarbeiter geschaffen werden für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. können. Die Mittel sind vorhanden und können ab dem 1. Januar unkompliziert abgerufen werden. (Beifall des Abg. [SPD]) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, das Geld ist Ich glaube, dass das 25. Gesetz zur Änderung des quasi vermehrbar!) BAföG-Gesetzes, dessen Entwurf wir heute vorlegen, ein gutes Gesetz ist. Dieses Gesetz gibt es seit über Wir erhöhen vonseiten des Bundes unsere Ausgaben 40 Jahren – über die Historie haben wir schon mehrfach also nicht erst ab 2016, sondern ab 1. Januar des nächs- gesprochen –, und es hat mittlerweile Millionen jungen ten Jahres. Das ist unsere Leistung. 5222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kai (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (C) Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE Studierenden kriegen BAföG, nicht die Län- GRÜNEN]: Wir können rechnen!) der!) Es gibt eine Drucksache. Jeder kann das nachlesen. Im Bundeshaushalt ist für die inhaltliche BAföG-No- velle, die 2016 in Kraft tritt, ein Volumen von 500 Mil- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lionen Euro jährlich eingestellt. Rechnet man die KfW- Da mache ich mir keine Sorgen!) Mittel dazu, dann sind wir bei 825 Millionen Euro. Der Wir brauchen uns also nicht gegenseitig etwas zuzuru- Bund legt also für die Belange der Studierenden Jahr für fen. Jahr eine Dreiviertelmilliarde drauf. Damit werden wir unserem Anspruch, für substanzielle und strukturelle Wir haben in vielen Bereichen Anpassungen vorge- Verbesserungen für die Studierenden zu sorgen, gerecht. nommen. Die Bedarfssätze für die Studierenden steigen um 7 Prozent. Wir erhöhen den Wohnzuschlag auf Mir kam es besonders darauf an, dass wir den Kreis 250 Euro. Das heißt, für diejenigen Studierenden, die die derjenigen, die BAföG erhalten – das wird anhand des maximale Förderung erreichen und auswärts wohnen, Verdienstes der Eltern berechnet –, erweitern. Seit vielen erhöht sich der Betrag, den sie erhalten, um 9,7 Prozent, Jahren ist die Situation so: Wenn ein Studierender also um fast 10 Prozent. Das ist eine gute Größenord- BAföG bezieht, dann bekommt er darüber hinaus viele nung. Gemessen an anderen sozialen Leistungen ist das Vergünstigungen, zum Beispiel die Befreiung von den wirklich beträchtlich. Rundfunkgebühren usw. Diejenigen, die kein BAföG er- halten, weil ihre Eltern ein bisschen zu viel verdienen, Bisher war der Kinderbetreuungszuschlag gestaffelt: können solche Vergünstigungen nicht in Anspruch neh- 113 Euro für das erste Kind, 85 Euro für das zweite. Nun men. Deswegen war es ein ganz wichtiges Element, den wird er einheitlich angehoben. Es spielt keine Rolle Kreis derjenigen, die BAföG-berechtigt sind, zu erwei- mehr, ob man ein, zwei oder mehr Kinder hat. So lassen tern. sich Elternschaft und Studium besser miteinander ver- binden. Wir haben die Freibetragsgrenze um 7 Prozent erhöht, das erreicht nicht nur Geringverdiener. 2012 betrug der Wir haben die Hinzuverdienstgrenze für die BAföG- durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst einer Fa- Empfänger erhöht. So erhalten die Studierenden die milie in Deutschland 4 000 Euro. Die BAföG-Novelle Möglichkeit, die Änderungen im Sozialversicherungs- führt dazu, dass die Grenze für die BAföG-Berechtigung recht voll zu nutzen. Wir haben den Vermögensfreibe- bei 5 390 Euro brutto liegen wird. Gerade den jungen trag erhöht. Ein Auto wird also beispielsweise in der Re- (B) Menschen aus Familien mit mittlerem Einkommen wird gel nicht mehr angerechnet. (D) dadurch in starkem Maße entgegengekommen. Wir haben die Förderungslücke, die sich in der Zeit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zwischen Bachelor und Master ergab, weitgehend ge- Der Kreis derer, die BAföG-berechtigt sind, wird um schlossen. Das haben die Studierenden schon lange ge- 110 000 erhöht. wollt; denn die bisherige Regelung hat die Studierenden hart getroffen. Das war den Studierenden wichtiger als (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Erhöhung von Bedarfssätzen. Die sind vorher alle rausgefallen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dabei geht es um junge Menschen, die wirklich ein gan- zes Jahr lang BAföG bekommen. Wir haben auch die Internationalität des BAföG weiter gestärkt. Das betrifft die Ausweitung der För- Herr Gehring, ich habe Sie heute früh im Radio ge- derungsberechtigung sowohl auf Auszubildende im eu- hört. Ich muss sagen: Sie haben da etwas ganz Falsches ropäischen Ausland als auch auf nichtdeutsche Auszu- erzählt. bildende. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Ein Punkt ist mir besonders wichtig; diesbezüglich der SPD – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ bin ich dem Innenminister, Herrn de Maizière, sehr ver- DIE GRÜNEN]: Das kann ich mir gar nicht bunden: Ich bin sehr froh – das war unser gemeinsamer vorstellen!) Wunsch –, dass wir uns darauf verständigen könnten, – Ja, es ist nicht vorstellbar, war aber so. – Herr Gehring dass diejenigen, die geduldet bei uns leben oder über ei- sagte heute früh: „60 000 fallen dann raus, das hat mir nen humanitären Aufenthaltstitel verfügen, nicht, wie sogar das Ministerium bestätigt.“ – Gucken Sie sich mal bisher, eine Vierjahresfrist abwarten müssen, ehe sie unseren Gesetzentwurf an, das steht da nicht drin. BAföG-berechtigt sind, sofern sie in diese Richtung ge- hen wollen, sondern bereits nach 15 Monaten BAföG- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: berechtigt sein werden. Ich bestehe den Faktencheck! Dann hat Ihnen Ihr Ministerium etwas Falsches aufgeschrie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ben!) Die Abschlagszahlungen werden erhöht. Auch das ist Sie haben aufgrund der Prozentangaben versucht, zu wichtig; denn manchmal dauert es eine Weile, bis über rechnen, und Sie haben falsch gerechnet. die genaue BAföG-Höhe entschieden wird. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5223

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Länder ab dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) 1. August 2016 sicherstellen, dass flächendeckend eine Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: elektronische Antragstellung möglich ist. Das ist unter Ihrem Niveau!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist ein Riesenpaket. Insgesamt geht es um fast der SPD) 2 Milliarden Euro ab 2016, Übernahme der BAföG-Kos- ten plus Novelle. Ein Paket in einer solchen Größenord- Es ist doch ein Witz, wenn gerade Studierende, die alles nung gab es überhaupt noch nicht. Dazu wird aber ge- digital erledigen, ihren BAföG-Antrag nicht elektronisch sagt – das werden wir in den nachfolgenden Reden stellen können. Dies wird ab 2016 möglich sein, und hören –: Ja, mit der BAföG-Reform werden die richtigen auch das ist für die Studenten sehr wichtig. Schritte unternommen, aber schlimm ist, dass das nicht Uns liegt ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vor. schon 2015 in Kraft tritt, sondern erst 2016. Diese For- In diesem Antrag attestieren Sie uns – ich zitiere –, dass derung ist total verständlich. Das fordert jeder Studie- wir „begrüßenswerte Schritte“ in den „zentralen Aspek- rende, und das fordern die Eltern der Studierenden; das ten“ des BAföG unternommen haben. Aber ist doch klar. Es gibt etwas Schönes – sehr viel mehr Geld und Unterstützung für mehr Studierende –, da (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wünscht man sich das doch so schnell als möglich, am der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE besten übermorgen. GRÜNEN]: Das Aber ist groß!) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist nicht dann kommt es: mehr Forderungen. nur schön! Das ist sozusagen eine Lebenssi- cherung!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Inflation berücksichtigt!) Das können Sie als Grüne aber nicht einfach so sagen. Das kann sich jeder wünschen; das ist klar. Aber Sie als Natürlich fordern Sie eine stärkere Erhöhung der För- Grüne können das nicht so sagen; denn Sie sind mittler- dersätze für alle; darüber brauchen wir gar nicht zu dis- weile in sieben Landesregierungen. Ihr Pech! kutieren. Sie fordern eine Vollfinanzierung, wollen den (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kreis der Berechtigten ausweiten etc. Glück! Das ist ein Glück für das Land!) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sind Teil dieser Landesregierungen. Die Regierun- Das heißt, wir finden eine, wie ich finde, ein bisschen gen dieser Bundesländer haben der BAföG-Novelle jah- lieblose Aneinanderreihung von Forderungen vor. Sie relang nicht zugestimmt. Sie haben es abgelehnt, dass (B) sagen, was man alles noch hätte zahlen können. Beson- wir das BAföG überarbeiten. (D) ders traurig finde ich, dass der Antrag keinerlei Konkre- (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring tisierung enthält. Wie stellt man sich das vor? Was [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt wünscht man sich anders? nicht!) ( [Havelland] [DIE LINKE]: Das – Ich war dabei. – Deswegen ist diese Forderung, wenn ist das Niveau der CDU in Brandenburg! – Kai die Grünen sie stellen – ich meine nicht aus Sicht der Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Studierenden –, eine populistische Forderung. können Sie in andere Anträge und Gesetzent- würfe gucken!) Meine Damen und Herren, Sie könnten jetzt sagen: Okay, wir machen das ab 2015. Wir haben diese Es gibt also keine seriöse Konkretisierung dessen, was 825 Millionen Euro ab 2015. Falls die Bundesländer sa- man beabsichtigt. Diese zwei Seiten münden in einen gen: „Okay, der Bund soll das BAföG erst ab dem 1. Juli Prüfauftrag an die Bundesregierung – ich zitiere –: Die nächsten Jahres zu 100 Prozent übernehmen“, könnte Bundesregierung wird aufgefordert, „Vorschläge zu un- man das machen. Aber Politik beginnt beim Betrachten terbreiten, wie das BAföG überarbeitet werden“ kann. der Wirklichkeit. Das ist die Quintessenz des Antrags der Grünen. Genau diese Vorschläge haben wir vorgelegt. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangen Sie an!) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist der Wir haben uns mit den Länden verständigt. Wir haben letzte Punkt der Grünen! Davor stehen zehn eine Win-win-Situation. Deswegen haben wir in der Ko- andere! Das ist ganz schön peinlich!) alition gesagt: Wir akzeptieren das so. Das ist gut für die Opposition kann man unterschiedlich auffassen: Bundesländer, und das ist gut für die Studierenden. Wir starten die Novelle einvernehmlich im Jahr 2016. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Antrag kann ja jeder lesen!) Zusammenfassend kann man sagen, dass wir mit der dauerhaften und vollen Übernahme des BAföG durch Man kann versuchen, konstruktiv mitzugestalten, oder den Bund, glaube ich, in der langen Geschichte des man mäkelt als Opposition und summiert einfach Forde- BAföG ein Zeichen setzen, dass dieses Reformpaket ein rungen und Wünsche. Dass die Grünen Letzteres tun, beispielloses Volumen hat, dass wir die Ausbildungsför- finde ich ein bisschen schade. Ich glaube, Sie können es derung dadurch dezidiert weiter stärken, dass wir ver- besser. lässlich sind und dass wir viel für Bildungsgerechtigkeit 5224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) in der Bundesrepublik Deutschland tun. Ich glaube, der zum Atmen raubt. Die Folgen dieser Politik kann jeder (C) vorgelegte Gesetzentwurf ist so gestaltet, dass Sie mit ganz genau betrachten: Bildung wird kaputtgespart, gutem Gewissen zustimmen können. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Danke. an Hochschulen werden Fächer und Institute weggestri- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) chen, Mensaessen wird teurer, Wohnheimmieten werden erhöht, Gebäude verfallen und die Situation des Lehrper- Präsident Dr. Norbert Lammert: sonals wird immer prekärer. Das Wort erhält nun die Kollegin Nicole Gohlke für Jetzt liegt hier ein neues Paket vor, durch das Abhilfe die Fraktion Die Linke. geschaffen werden soll. Der Bund übernimmt die kom- (Beifall bei der LINKEN) plette Finanzierung des BAföG, im Gegenzug sollen die Länder der Lockerung des Kooperationsverbotes zustim- men, und die frei werdenden Mittel, die dadurch entste- Nicole Gohlke (DIE LINKE): hen, dass der Bund das BAföG übernimmt, sollen die Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Tausende Länder in die Hochschulen stecken. Das hat Frau Wanka Studierende warten auf eine BAföG-Erhöhung. Tau- gerade ausgeführt. So weit die Planungen der Großen sende warten darauf, endlich BAföG zu beziehen, oder Koalition. warten und hoffen, dass sie nicht aus der Förderung he- rausfallen. Tausende warten darauf, dass sie die Mieten Man denkt zuerst, dass jetzt zumindest die richtigen in den Unistädten besser aufbringen können. Zahllose Stellschrauben angepackt wurden. Aber dann schaut Schulen warten darauf, saniert zu werden, Eltern warten man sich das ganze Konstrukt genauer an und stellt fest, auf Kitaplätze und auf Ganztagsschulen, und Lehrerin- dass Schwarz-Rot, wenn es hochkommt, die Stellschrau- nen und Lehrer warten auf kleinere Klassen. ben vielleicht lockert, aber sicherlich nicht wirklich dreht. Sie weigern sich, an die grundsätzlichen Probleme Was macht die Große Koalition? Statt eine schnelle heranzugehen. An die strukturellen Fehlkonstruktionen und unkomplizierte Lösung zu finden, feilt sie an einem und an die chronische Unterfinanzierung gehen Sie nicht Deal aus BAföG-Novellierung und Neuregelung des Ko- ran. operationsverbots und löst am Ende keines der beiden Probleme. Die Studierenden warten jetzt noch einmal (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: 4 Milliarden zwei Jahre, bis die BAföG-Erhöhung endlich wirksam Euro vonseiten des Bundes mehr!) wird. Kein einziges Problem in keinem einzigen Bil- Das, was die Koalition hier als Meilenstein zu feiern ver- dungsbereich ist wirklich und grundsätzlich angepackt sucht, ist in Wirklichkeit die Fortsetzung einer kurzatmi- (B) (D) und gelöst worden. gen und planlosen Politik, leider mit gravierenden Fol- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Özcan gen für Schülerinnen und Schüler, für Eltern und für Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Studierende. Das ist das Verheerende an der Situation. Was die Bundesregierung hier macht, ist gerade ein- (Beifall bei der LINKEN) mal eine kleine Begrenzung des Schadens, den sie selbst Kommen wir einmal zu den Details: Die Länder sol- angerichtet hat. Vor acht Jahren haben Sie sich als dama- len jetzt durch die Übernahme der Kosten für das BAföG lige Große Koalition selbst die Steine in den Weg gelegt, durch den Bund mehr Mittel zur Verfügung haben und die Sie jetzt daran hindern, aktiv zu werden. Denn seit diese in die Hochschulen stecken. Aber die Länder set- der Föderalismusreform von 2006 darf der Bund bei der zen die Gelder doch gar nicht so ein, wie es von Ihnen Finanzierung von Bildung nicht mehr mithelfen. Bil- geplant wurde. dung wurde damals in die alleinige Zuständigkeit der Länder übergeben. In fast allen Bundesländern, die Angaben zur Verwen- dung der Gelder gemacht haben, liegen die Beträge, die ( [CDU/CSU]: Auf jetzt zusätzlich in die Bildung gehen sollen, niedriger, Wunsch der Länder!) als es von der Bundesregierung angekündigt wurde. Of- Nur im Wissenschaftsbereich blieb die Möglichkeit, fensichtlich wird ein Teil der Gelder schlicht dazu ver- zeitlich beschränkt einzelne Projekte zu fördern. wandt, um die klammen Länderhaushalte zu sanieren. Darüber hinaus setzen einige Bundesländer selbst andere Mit der Föderalismusreform II haben Union und SPD Prioritäten als von der Regierung gewollt: Niedersach- noch eins draufgesetzt auf den Quatsch mit dem Koope- sen will jetzt die Gelder lieber in den Kitaausbau und rationsverbot. Allein diese Wortschöpfung hätte übri- Schleswig-Holstein lieber in die Schulen stecken. gens eine Nominierung als Unwort des Jahres verdient gehabt. (Beifall des Abg. Thomas Oppermann [SPD] – Thomas Oppermann [SPD]: Dafür ist es ge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten dacht!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt ist der Aufschrei bei den Hochschulen verständ- Mit der Föderalismusreform II haben Sie den Wettbe- licherweise groß, denn die finanzielle Not ist angesichts werb noch weiter verschärft. Sie haben nach einem Jahr- steigender Studierendenzahlen und jahrelanger Unterfi- zehnt Steuersenkungen für Reiche auch noch die Schul- nanzierung groß. Der Präsident des Deutschen Hoch- denbremse eingeführt, die den Ländern jetzt die Luft schulverbandes, Professor Kempen, nannte die Tatsache, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5225

Nicole Gohlke (A) dass die Gelder nun wohl zu einem großen Teil eben Der Bund muss die Möglichkeit haben, Bildung direkt (C) nicht bei den Hochschulen ankommen werden, schlicht zu finanzieren. Dann bräuchte es kein Feilschen um eine „Schweinerei“. Prioritäten und um Zuständigkeiten, dann bräuchte es keine Deals, und Frau Wanka müsste im Übrigen nicht (Beifall bei der LINKEN) ständig große Ankündigungen machen, für deren Umset- Ich kann seine Wut verstehen; denn die Koalition hat Er- zung sie dann aber gar nicht zuständig ist – der Bund wartungen geweckt, denen sie jetzt gar nicht gerecht hätte schlicht und ergreifend Verantwortung. werden kann. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Völlig fern Es ist doch einfach dilettantisch, wenn die Bundesre- der Realität! Keine Ahnung!) gierung auf meine Nachfrage, welche Ländervertreter ei- Frau Wanka, ich frage mich auch, ob Sie Ihre oft wie- gentlich an dieser Vereinbarung beteiligt waren, antwor- derholte Aussage, wie sehr Sie die Länder finanziell ent- ten muss, dass bis auf den Ersten Bürgermeister von lasten, eigentlich noch selbst glauben. Jetzt ist Ihnen of- Hamburg überhaupt keine Ländervertreter mit am Tisch fenbar übers Wochenende der nächste Einfall saßen, sondern dass diese Vereinbarung einzig durch die gekommen, und Sie fordern, die Länder müssten sich an Koalitionsspitzen im Bund verabredet wurde. Das muss den DFG-Programmpauschalen beteiligen, sonst stünde man erst mal hinkriegen: eine Vereinbarung mit den gar der Hochschulpakt zur Disposition. Ländern zu verkünden, an der die Länder nicht beteiligt waren, und sich dann aber ganz empört zu zeigen, dass (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr rich- die Länder einfach Dinge anders entscheiden, als die tig! 1,2 Milliarden!) Große Koalition sich das ausgedacht hatte. Aber die BAföG-Gelder werden doch nicht mehr, nur (Beifall bei der LINKEN) weil man oft über sie redet. Aber mal ganz ehrlich: Was ist das eigentlich für eine (Beifall bei der LINKEN) traurige Debatte, die wir hier führen müssen? Es ist eine Was Sie da machen, ist nichts anderes, als die Substanz Debatte, in der sich Bundespolitiker mit Landespoliti- der Hochschulen noch weiter anzugreifen und mit den kern darüber streiten, was wichtiger ist und wohin das Perspektiven der jungen Menschen zu spielen. Geld gehen soll: in die frühkindliche Bildung, in die Ki- tas oder zu den Studierenden in die Unis, in gute Schu- Was die Bundesregierung hier mit ihrem „Paket“ auf len oder in gute Arbeitsbedingungen in der Wissen- den Tisch legt, ist am Ende weder eine zufriedenstel- schaft. So ein Gegeneinander-Ausspielen von Bildung lende Lösung für das BAföG – angesichts dessen, dass ist unerträglich. Sie die Erhöhung einfach mal um zwei Jahre aussitzen, (B) scheinen Sie die Lebensrealität der Studierenden nicht so (D) (Beifall bei der LINKEN) richtig vor Augen zu haben –, Wie muss eine solche Diskussion bei den Menschen (Beifall bei der LINKEN) ankommen? Da rügt der Bund die Länder, weil Geld in Schulen investiert wird. Da werde ich als Hochschul- noch präsentieren Sie hier eine Lösung für die Finanzie- politikerin in Interviews gefragt, wie schlimm ich es rung von Bildung insgesamt. Das hätten aber alle, die finde, wenn Kitaplätze statt Studienplätze geschaffen Studierenden genauso wie die Schülerinnen und Schüler werden. Was ist das für eine Frage! und die Kitakinder, verdient. (Zuruf von der SPD: Da muss man vorgrei- Vielen Dank. fen!) (Beifall bei der LINKEN) Natürlich will man beides: gute Studienbedingungen an den Unis und gute Bedingungen in den Kitas und Schu- Präsident Dr. Norbert Lammert: len. Für die SPD-Fraktion hat nun Thomas Oppermann das Wort. (Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das wollen wir auch!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich finde es armselig, wie diese Regierung hier eine Situation konstruiert hat, in der man sich vor lauter Thomas Oppermann (SPD): schlecht gemachter Politik entscheiden muss, ob die Bil- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dung der Dreijährigen oder die der 19-Jährigen Vorrang Herren! Ich möchte mich zunächst einmal bei Bundes- hat. ministerin Wanka und bei den Bildungspolitikern der Koalitionsfraktionen, allen voran Hubertus Heil und (Beifall bei der LINKEN) , dafür bedanken, Und dabei wäre die Lösung denkbar einfach: Wenn wir (Zuruf von der CDU/CSU: Erst danach kommt dieses absurde Verbot, dass Bund und Länder in der Bil- Albert Rupprecht!) dung zusammenarbeiten dürfen, endlich komplett ab- schaffen würden, hätte sich das Problem erledigt. dass es gelungen ist, diesen Gesetzentwurf so zügig zu beraten. Wir erhöhen heute das BAföG. Wir stärken die (Beifall bei der LINKEN) Bildungsfinanzkraft der Länder, und wir lockern das 5226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Thomas Oppermann (A) Kooperationsverbot. Das ist in der deutschen Bildungs- schulzugang nicht nur finanzielle, sondern es gab immer (C) politik ein großer Schritt nach vorne. auch kulturelle Barrieren. In vielen Arbeiter- und Nicht- akademikerfamilien wurde es oft nicht als statthaft ange- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – sehen, Abitur zu machen oder sich gar auf ein Studium Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einzulassen, nach dem Motto: Da gehören wir nicht hin. – Lockern reicht aber nicht!) Das BAföG dagegen hat eine ganz andere Botschaft ver- Wenn Sie sich fragen, warum ich als Fraktionsvorsit- mittelt: Ihr seid hier willkommen. Euch wird geholfen, zender in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs hier wenn ihr Hilfe braucht. – Das hat vielen Eltern die Angst reden darf, dann gibt es dafür eine Erklärung: Für uns vor einem Studium ihrer Kinder genommen. Das hat vie- Sozialdemokraten hat das BAföG eine ganz besondere len jungen Menschen die Tür für eine Hochschulbildung Bedeutung: Das BAföG wurde 1971 von der sozial-libe- geöffnet. ralen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt einge- (Beifall bei der SPD) führt. Es ist bis heute eines der besten Instrumente, um jungen Menschen durch Bildung und Leistung den so- Ich muss sagen: Kaum etwas anderes hat unsere Gesell- zialen Aufstieg in einer modernen Gesellschaft zu er- schaft so positiv verändert wie diese unglaubliche Bil- möglichen. dungsexpansion seit den 70er-Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Vor der Einführung des BAföG war das Studium nur Generationen von Studierenden haben vom BAföG ganz wenigen Auserwählten vorbehalten. Ende der 60er- Gebrauch gemacht. Rund 4,5 Millionen junge Menschen Jahre hatten wir etwa 300 000 Studierende, die Akade- wurden bis heute gefördert. Damit wurde das zentrale mikerquote lag bei 5 Prozent. Damit wäre Deutschland Versprechen der sozialen Marktwirtschaft eingelöst, heute bei weitem nicht mehr wettbewerbsfähig. Aber mit nämlich dass alle, unabhängig von ihrer Herkunft, die der Einführung des BAföG hat sich das schnell geändert: gleichen Chancen auf Bildung und Ausbildung haben Die Anzahl der Studierenden hat sich innerhalb von zehn müssen und darauf, etwas aus ihrem Leben zu machen. Jahren verdoppelt. Heute haben wir 2,6 Millionen Stu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dierende, so viel wie noch nie zuvor. der CDU/CSU) Diese gewaltige Bildungsexpansion hat unser Land In diesem Sinne hat das BAföG lange Zeit unglaub- ökonomisch und sozial von Grund auf verändert. Sie hat lich gut funktioniert. Seit gestern kann ich Ihnen dafür gut ausgebildete Fachkräfte und kaufkräftige Mittel- ein ganz prominentes Beispiel nennen: Nach langer Zeit schichten und den damit verbundenen Wohlstand her- (B) (D) hat Deutschland wieder einen Nobelpreis gewonnen. vorgebracht. Damit hat das BAföG unsere Gesellschaft Der Göttinger Physiker und Max-Planck-Forscher nicht nur sozial gerechter und durchlässiger gemacht, Stefan Hell wurde mit dem Nobelpreis ausgezeichnet: sondern es hat auch ganz maßgeblich zur Modernisie- rung unserer Volkswirtschaft beigetragen. Ohne Bun- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Stipendiat desausbildungsförderung wäre die Entwicklung unseres der Adenauer-Stiftung! – [CDU/ Landes zu einer modernen Industrie- und Dienstleis- CSU]: Adenauer-Stipendiat! – Heiterkeit bei tungsgesellschaft so nicht gelungen. Deshalb, meine Da- der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜND- men und Herren, ist es richtig, dass wir diese Erfolgsge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Ende war es die schichte des BAföG jetzt fortschreiben. Große Koalition und nicht der Mann selber!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) für seine bahnbrechenden Forschungen in der Nano-Bio- photonik, in der Lichtmikroskopie. Frau Wanka hat berichtet, was wir tun. Wir erhöhen die Freibeträge und Bedarfssätze um 7 Prozent. Mich Stefan Hell ist Mitte der 70er-Jahre als 15-Jähriger freut besonders, dass wir dadurch, durch die Erhöhung aus dem rumänischen Banat nach Deutschland einge- der Freibeträge, zusätzlich 100 000 jungen Menschen wandert. Er musste sich hier erst einmal neu orientieren. die Förderung durch BAföG erlauben. Das ist eine ganz Er hat als Schüler BAföG bekommen. Daran können Sie gezielte Förderung für Kinder aus den Mittelschichten, sehen, wie weit es BAföG-Empfänger bringen können. die jetzt stärker gefördert werden. Auch beim Meister- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Schüler-BAföG werden die Bedarfssätze angepasst. der CDU/CSU) Wer über BAföG redet, sollte nicht unerwähnt lassen, dass fast 150 000 junge Menschen an Berufsschulen mit Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Professor Hell BAföG gefördert werden, auch von hier die besten Glückwünsche zu übermitteln. Seine Auszeichnung ist eine große Ehre für den gesam- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Wissenschaftsstandort Deutschland. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie um sich auf ein Fachabitur, ein Wirtschaftsabitur oder des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/ Sonstiges vorzubereiten und möglicherweise dann eine DIE GRÜNEN]) Ausbildung oder ein Studium zu ergreifen. Dabei war die Wirkung des BAföG keineswegs auf Insgesamt ist das die größte BAföG-Anhebung seit das Finanzielle beschränkt; denn es gab beim Hoch- 2008. Indem wir den Kreis der Anspruchsberechtigten Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5227

Thomas Oppermann (A) erweitern, erhöhen wir für viele die Bildungschancen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Das ist auch notwendig, meine Damen und Herren; denn der CDU/CSU) Bildung, Ausbildung, Studium und Weiterbildung sind Die ganze Welt beneidet unsere Wirtschaft um ihre nach wie vor der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. Ein Facharbeiter, für das, was sie heute können, vor allem Blick auf den Arbeitsmarkt belegt das. Die Arbeitslosen- aber dafür, was sie morgen können werden bzw. wie ent- quote bei Akademikern liegt bei ungefähr 2,5 Prozent. wicklungsfähig sie sind. Das spüren wir gerade in der Das ist praktisch Vollbeschäftigung. Bei Arbeitneh- sich durch Vernetzung und Digitalisierung rasch verän- merinnen und Arbeitnehmern mit einer Ausbildung liegt dernden Produktion, Stichwort: Industrie 4.0. Wir brau- sie bei 5 Prozent, und bei Ungelernten liegt sie bei 19, chen Ingenieure. Aber wir brauchen auch exzellent aus- 20 Prozent. Letzteres muss uns natürlich Sorgen ma- gebildete Facharbeiter und Techniker; das ist wichtig. chen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Fast 1,5 Millionen der 20- bis 30-Jährigen in Deutsch- land haben keinen Schulabschluss. Sie werden keine Deshalb werden wir nicht zulassen, dass die berufliche Ausbildung machen können. Die können wir mit BAföG Bildung und die akademische Bildung gegeneinander nicht erreichen; dafür brauchen wir andere Angebote. ausgespielt werden. Aber wir können heute schon dafür sorgen, dass in Zu- kunft alle einen Schulabschluss und eine Berufsaus- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Kai bildung machen. Dafür ist diese BAföG-Reform der Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erste Schritt. Denn wir beschränken uns nicht auf eine sagen Sie mal Ihrem Koalitionspartner!) BAföG-Erhöhung, sondern wir machen eine Reform mit Wir werden dafür sorgen, dass auch der Weg über die be- einem Doppeleffekt. rufliche Bildung attraktiv bleibt und nicht zu einer Sack- Erstens bekommen die aktuell geförderten Studieren- gasse wird. Wir haben die Allianz für Aus- und Weiter- den mehr Geld, und wir erweitern den Kreis der Geför- bildung. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode derten. Aber zweitens entlasten wir die Länder bei den das Meister-BAföG deutlich reformieren und verbes- BAföG-Kosten jährlich um 1,17 Milliarden Euro. Diese sern. Entlastung durch den Bund führt dazu, dass die Länder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden Euro mehr für der CDU/CSU) Bildung zur Verfügung haben: für Kitas, Schulen und Hochschulen. So ist es verabredet, und wir werden ge- Ich bin dafür, dass wir beide Bildungswege gleich nau darauf achten, dass diese frei werdenden Mittel auch wertschätzen und fördern, weil wir beide brauchen, um tatsächlich in die Bildung investiert werden. unsere industriellen Vorteile voll zu nutzen und auszu- (B) bauen. Lassen Sie uns daran arbeiten! (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank. Ich hoffe sehr, dass die Länder jeden Cent dieser frei (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) werdenden Mittel in die Bildung investieren, die früh- kindliche Bildung stärken; Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Kai Gehring für (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Nein! Schu- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. len und Hochschulen ist die Vereinbarung! So geht es nicht!) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): denn die Qualität von Kitas und Grundschulen hat ganz Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die großen Einfluss darauf, wie sich Sprache, Intelligenz Koalition ist selbstzufrieden. Die Studierenden, Schüler und Kreativität bei jungen Menschen entwickeln. und Eltern können es aber nicht sein. Als Arbeiterkind (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was sage ich sehr klar: Das BAföG ist Chancengerechtig- können die Länder denn machen?) keits- und Bildungsaufstiegsgesetz. Deswegen hat es deutlich mehr verdient als das, was Sie als Koalition Viel zu lange haben wir für die frühen Stufen des Bil- heute vorlegen. Herr Oppermann, es ist enttarnend, dass dungssystems, wo am stärksten über die Chancen ent- Sie vor allem über die letzten 40 Jahre referiert haben schieden wird, das wenigste Geld ausgegeben. Das wer- und weniger darüber, was die nun anstehende Novelle den wir jetzt ändern, meine Damen und Herren. bringt. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thomas Oppermann Mit dieser Reform können wir dafür sorgen, dass [SPD]: Das haben Sie wohl komplett ausge- junge Menschen, die heute noch weit von BAföG ent- blendet!) fernt sind, durch einen guten Schulabschluss an BAföG herangeführt werden. Erstmals in Deutschland haben wir Vier Jahre ohne BAföG-Reform haben die Ausbil- genauso viele Studierende wie junge Menschen im dua- dungsfinanzierung für Studierende und Schüler schlicht- len System. Aber das bedeutet nicht, dass die Berufsaus- weg geschwächt. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie bildung in Zukunft weniger wichtig wird, ganz im Ge- als Koalition das BAföG glatt vergessen. Wie peinlich genteil. war das eigentlich? Nun hat die Regierung doch noch er- 5228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Kai Gehring (A) kannt, dass sie beim BAföG nicht untätig bleiben darf. weniger bürokratisch, Bologna- und familiengerechter (C) Mit dieser Fünfundzwanzigsten BAföG-Novelle widmet ist. sich die Bundesregierung sicherlich vielen Baustellen. Auch wenn der Regierungsentwurf dazu einige Schritte Sie geht diese aber überaus halbherzig an. Alle Änderun- enthält, fragen wir uns schon, warum einige wesentliche gen sollen zudem erst in zwei Jahren, also Ende 2016, Punkte fehlen. Warum erhöhen Sie den Kinderzuschlag greifen. Beides ist enttäuschend. für BAföG-berechtigte Eltern erst in zwei Jahren? Wa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rum ermöglichen Sie keine Teilzeitförderung? Warum sowie bei Abgeordneten der LINKEN) erhöhen Sie die Förderdauer für Studierende, die Ange- hörige pflegen, nicht? Und warum sperren Sie sich ge- Das bedeutet: Weil Sie als SPD und Union nicht zügig gen den Grünen-Vorschlag eines Weiterbildungs-BAföG, handeln, werden allein in den nächsten beiden Jahren anstatt endlich gezielt in das lebenslange Lernen zu in- 60 000 junge Menschen aus dem BAföG-Berechtigten- vestieren? kreis herausrutschen. Frau Wanka, wir Grüne beherr- schen die Grundrechenarten und überstehen damit jeden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Faktencheck. Warum halten Sie auch an diesem ungerechten Prestige- projekt und letztlich Ladenhüter „Deutschlandstipen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dium“ fest, anstatt auch diese Mittel endlich ins BAföG Die Zahl von 60 000 Studierenden ist noch tief gestapelt; zu investieren und etwas für Bildungsaufstieg zu tun? denn 2011, 2012, 2013 und 2014 gab es keine BAföG- All diese Punkte könnten Sie doch jetzt in Ihrer No- Reform, velle angehen. Es darf nicht sein, dass die junge Genera- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Taschenspie- tion nach der teuren Rentenreform noch einmal das ler!) Nachsehen hat. Bei der Rente zügig geklotzt und beim BAföG langsam gekleckert: Das ist weder chancen- es gab aber eine Preisentwicklung, eine Inflation, und noch generationengerecht. eine Einkommensentwicklung. Das heißt, aus dem BAföG-Berechtigtenkreis sind noch ein paar Tausend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – mehr herausgerutscht. Dass die Generationen, die zwi- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Rentner gegen schen 2010 und Ende 2016 nicht von einer BAföG-Re- Studis ausspielen, das ist aber sehr fies! Das ist form profitieren konnten, also zwölf Semester studiert fies!) haben, ohne dass sich etwas zu ihren Gunsten verändert Ich will Ihnen noch zu drei zentralen Punkten etwas hat, Nullrunden verordnet bekommen haben, verletzt sagen, (B) den Grundsatz der Chancengerechtigkeit. Das ist ein (D) Rückschlag für Studierende und Eltern. Das können wir (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oma gegen nicht hinnehmen. Junge ausspielen!) wo wir als Grüne Alternativen zur Regierung vorgelegt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben; denn wer das BAföG substanziell verbessern und bei der LINKEN) will, muss erstens den Fördersatz für Studierende und Frau Wanka, Sie verordnen der jungen Generation Schüler deutlich steigern sowie auch die Freibeträge zwei weitere BAföG-Nullrunden; das muss heute so klar deutlich höher schrauben, damit das Mittelschichtsloch ausgesprochen werden. Damit verzögern Sie nicht nur im BAföG nicht weiter wächst, sondern endlich wieder die überfällige soziale Öffnung der Hochschulen. Viel- die Zahl der BAföG-Berechtigten. mehr handeln Sie in Zeiten des Fachkräftemangels öko- Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn Sie als Koali- nomisch kurzsichtig. Ihre BAföG-Novelle bringt zu we- tion in zwei Jahren die BAföG-Sätze um 7 Prozent erhö- nig und kommt viel zu spät. Laut Novelle wird der Bund hen, ignorieren Sie die Preis- und Einkommensentwick- in rund drei Monaten, ab dem 1. Januar 2015, für das lung; dann surfen Sie unter der Inflation durch. Ihre BAföG allein zuständig sein. Das heißt, Sie als Bundes- Erhöhung klingt gut, hält mit der Inflation aber keines- regierung können sich ab sofort nicht mehr hinter den falls Schritt. Ländern verstecken, sondern können das BAföG im Al- leingang ändern. Es gibt deshalb keinen Grund, Studie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN renden und Schülern weitere Warteschleifen zu verord- und bei der LINKEN) nen. Statt eines kleinen Wurfs 2016 brauchen diese Das heißt, 2010 war BAföG mehr wert, als es 2016 wert sofort ein höheres und besseres BAföG. Sie müssen klot- sein wird. Deswegen beantragen wir: Bedarfssätze und zen statt kleckern. Freibeträge müssen um 10 Prozent rauf, und zwar zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nächstmöglichen Zeitpunkt. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das BAföG soll zum Leben reichen und Studieren fi- Zweitens. Wir sehen doch, was in den Universitäts- nanzieren. Es soll insbesondere diejenigen zum Studium städten los ist, wie schwierig es ist, als Student Wohn- ermuntern, deren Eltern wenig verdienen, nicht studiert raum zu finden. Wir wollen deshalb auch, dass Wohn- oder eine Einwanderungsgeschichte haben. Dafür brau- kosten angemessen erstattet werden. Für 250 Euro, die chen wir eine Studienfinanzierung, die deutlich höher, Sie hier als Pauschale ansetzen, gibt es in München, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5229

Kai Gehring (A) Köln oder Hamburg wohl kaum eine Studentenbude. gesetzt hat, den Anteil der Arbeiterkinder unter den Stu- (C) Wir wollen die Mietkostenpauschale staffeln und an die dierenden zu erhöhen. Für all diese Bemühungen gibt es regionalen Durchschnitte anpassen. Die eigene Woh- ein Instrument, ja ein Zauberwort, um das uns viele Staa- nung ist ein wichtiger Schritt zur Selbstständigkeit, die ten beneiden, meine Damen und Herren: BAföG. gerade für Studierende aus einkommensarmen Eltern- häusern leichter zu finanzieren sein muss. Also, auch das Wir haben es gehört: Über 4,5 Millionen junge Men- ist dringend verbesserungsbedürftig. schen, Studierende, Schüler und Meisterschüler, haben bisher von diesem Gesetz profitiert – eine wahre Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) folgsgeschichte. Ich bin Ihnen, lieber Herr Oppermann, dankbar, dass Sie in diesem Zusammenhang explizit auf Drittens. Mich ärgert es seit vielen Jahren, dass im- die Bedeutung der beruflichen Bildung hingewiesen ha- mer wieder viele Jahre bzw. mehrere Studierendengene- ben, die uns in dieser Koalition auch sehr wichtig ist. rationen ins Land gehen, bevor sich beim BAföG etwas tut. Das ist ungerecht und unbefriedigend. Wir fordern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie daher auf, im BAföG Indizes für eine dynamische, neten der SPD) regelmäßige und automatische Erhöhung von Fördersät- zen und Freibeträgen einzuführen. Heute freue ich mich jedenfalls, dass wir in erster Le- sung über unsere große BAföG-Reform debattieren. Da- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für haben wir jahrelang gekämpft. Mit der Finanzie- NEN]: Wie bei den Diäten!) rungseinigung von Schäuble und Scholz, nicht etwa von Die SPD wollte das auch, die CDU offensichtlich nicht. Schulz und Scholz, wie irritierenderweise in der letzten Beim ALG und bei der Rente geht’s, sogar bei den Diä- Haushaltsdebatte gesagt wurde, können wir einen gro- ten geht’s; bei den Studierenden nicht. Sorgen Sie end- ßen Aufschlag für eine Weiterentwicklung des BAföG lich für eine automatische Anpassung. Dann ist nämlich machen. Dass dies nicht früher geschah, lieber Kai Schluss mit Regierungswillkür. Das bringt mehr Be- Gehring, ist allein auf die Blockadehaltung der Länder rechenbarkeit und Verlässlichkeit ins BAföG. Deshalb zurückzuführen. In den Ländern sind die Grünen nun sollten Sie diesen Schritt jetzt tun. einmal auch an sehr vielen Regierungen beteiligt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und bei der LINKEN) Das stimmt nicht!) Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang der – Doch, das stimmt. – Das muss einmal gesagt werden. parlamentarischen Debatte um die Fünfundzwanzigste Die Ministerin hat es gemacht. (B) BAföG-Novelle, und ich bin am Ende meiner Rede an- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) gelangt. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt können Sie sich nicht mehr hinter den Präsident Dr. Norbert Lammert: Ländern verstecken!) Sehr gute Beobachtung. Für meine Partei kann ich sagen, dass dieser große Aufschlag praktisch unsere sämtlichen Forderungen ent- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hält, Forderungen, die wir im guten Einvernehmen mit Nutzen wir die neuen Freiheiten, die darin bestehen, dem Haus in den letzten Jahren bereits eingebracht und dass der Bund ab 2015 das BAföG allein finanziert. angeregt hatten. Was wird beschlossen? Damit es nun Union und SPD können und müssen sich hier im Hohen auch bei der Opposition wirklich ankommt: Eine kräf- Hause einen Ruck geben und die soziale Öffnung der tige Erhöhung der Bedarfssätze um 7 Prozent, für aus- Hochschulen forcieren, statt weiter zu verzögern. Eine wärts wohnende Studierende steigt der Höchstsatz sogar echte BAföG-Reform – die geht besser, und die geht um fast 10 Prozent. Die Freibeträge steigen um 7 Pro- schneller. Das lesen Sie im Grünenantrag. Ich freue mich zent. Damit erhöhen wir den Kreis der Geförderten auf die weiteren Beratungen. – auch das wurde gesagt – um über 110 000 Studierende (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Schülerinnen und Schüler. Der Wohnzuschlag wird um 27 Euro auf 250 Euro Präsident Dr. Norbert Lammert: angehoben. Die Hinzuverdienstgrenze für Minijobber Nächster Redner ist der Kollege Stefan Kaufmann für wird angehoben. Ein Minijob kann künftig wieder bis die CDU/CSU-Fraktion. zur vollen Höhe von 450 Euro ohne Anrechnung auf das BAföG ausgeübt werden. Die Vermögensfreibeträge für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Studierenden werden auf 7 500 Euro angehoben. Die neten der SPD) Kinderbetreuungszuschläge werden vereinheitlicht und auf 130 Euro für alle Kinder angehoben. Die Förderungs- Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): lücke zwischen Bachelor- und Masterstudium – das ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ganz wichtig – wird geschlossen, zum Beispiel indem Meine Damen und Herren! Wir reden auch dieser Tage wir den Zeitpunkt der Notenbekanntgabe als Studienab- viel über Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen. schluss definieren. Zudem wird in Umsetzung der Gerade vorhin hatten wir ein interfraktionelles Gespräch EuGH-Entscheidung die Förderungsfähigkeit für Aus- mit der Initiative „ArbeiterKind.de“, die sich zum Ziel bildungen im Ausland erhöht, und die Vorabzahlungen 5230 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Stefan Kaufmann (A) bei einer verzögerten Antragsbearbeitung werden auf lich die lange stagnierende Grundfinanzierung der (C) 80 Prozent des zustehenden Bedarfs erhöht. Hochschulen erhöhen. Jetzt haben sie die Möglichkeit, dem Lamento der letzten Jahre auch Taten folgen zu las- Was für mich ganz besonders wichtig war, sind die sen. Vereinfachungen – Stichwort: Entbürokratisierung –: weniger Leistungsnachweise und vor allem die elektro- (Beifall bei der CDU/CSU) nische Antragstellung. Dafür habe ich mich persönlich Mit den frei werdenden Mitteln könnte theoretisch an besonders eingesetzt; denn es sollte im Jahr 2014 mög- jeder Universität und jeder Fachhochschule in Deutsch- lich sein, dass Anträge nicht nur in Papierform abgege- land der Grundetat auf einen Schlag um 5 Prozent erhöht ben werden können. Wie bei einer Steuererklärung auch werden. Alternativ wäre auch eine Länderbeteiligung sollte zumindest das Angebot einer Onlinebearbeitung oder eine Zusatzfinanzierung der Länder bei der Pro- gemacht werden. Das hat im Übrigen viele Vorteile, so- grammpauschale wünschenswert. Bisher schlagen sich wohl für die Studierenden als auch für die Ämter, bei- die Länder hier aber leider in die Büsche, und das geht spielsweise durch die sofortige Fehlerkorrektur, wenn et- nicht, meine Damen und Herren. was falsch ausgefüllt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Le- sung debattieren, werden also hohe Summen für Bildung Deshalb werden wir alle Länder mit diesem Gesetz frei, und der Ball kommt in das Spielfeld der Länder. verpflichten, bis zum 1. August 2016 eine elektronische Jetzt sind sie am Zug und können, ja, müssen massive Antragstellung zu ermöglichen. Dies ist mehr als über- Verbesserungen für die Schulen und Universitäten in fällig. Aus vielen Gesprächen mit Studierenden und von Deutschland umsetzen. Ich bin gespannt und hoffnungs- Besuchen von BAföG-Ämtern weiß ich, wie wichtig ge- voll, was diesen Punkt angeht. rade diese nichtmonetären Punkte bei der BAföG-Re- form sind, die wir in unserer Novelle anpacken. Denn Jetzt noch ein Wort zum BAföG-Antrag der Grünen, was nützen 10 Euro mehr im Monat, wenn ich weg von der uns vorliegt. Es ist ja begrüßenswert, dass auch Sie zu Hause bin und monatelang auf meine erste Überwei- sich Gedanken über das BAföG machen, liebe Kollegen. sung warten muss oder in der Prüfungsphase auf einmal (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- der BAföG-Anspruch endet? SES 90/DIE GRÜNEN) Zusammenfassend: Diese große BAföG-Reform von Aber Ihre Forderungen zeigen wenig Weitsicht. Sie for- Union und SPD wird zu massiven Verbesserungen für dern die Trennung der Gesetzgebungsverfahren zum (B) die Studierenden und bei der Chancengerechtigkeit in Fünfundzwanzigsten BAföG-Änderungsgesetz und zur (D) Deutschland führen. Darüber hinaus – auch das haben Verfassungsänderung bei Artikel 91 b Grundgesetz. Wa- wir gehört – wird mit diesem Gesetz der Bund bereits ab rum? Weil Frau Löhrmann von den Grünen in NRW von 1. Januar 2015 die BAföG-Kosten zu 100 Prozent über- einer Erpressung gesprochen hat. Frau Bauer aus Baden- nehmen. In dieser Alleinzuständigkeit des Bundes liegt Württemberg sieht das ganz anders; das wissen Sie sehr eine große Chance. Zum einen wird es zukünftig keine gut. Sie begrüßt unseren Gesetzentwurf ausdrücklich. Zustimmungspflicht der Länder und damit eben auch Mal hü, mal hott, so sind die Grünen derzeit. keine Blockademöglichkeit mehr geben. Der Bund kann künftig diese wichtigste Säule der Studierendenförde- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: So sind rung in Deutschland in Eigenregie weiterentwickeln. sie immer!) Diese Entflechtung der Zuständigkeiten ist ein enormer Von einer konstruktiven Opposition sind sie leider weit Gewinn und vorbildhaft für so manches verschränkte entfernt. Politikfeld in unserer föderalen Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum anderen liegt die große Chance in der unglaub- lich hohen Summe, die damit den Ländern ab Januar Und immer wieder ihr gebetsmühlenhafter Ruf – Sie nächsten Jahres für den Bildungsbereich zusteht. Wir ha- haben es gesagt, lieber Kollege Gehring – nach Einstel- ben es gehört: 1,17 Milliarden Euro jährlich und das lung des Deutschlandstipendiums. Fakt ist: Die Zahl der dauerhaft. Stipendien ist im letzten Jahr um 42 Prozent gestiegen. Mittlerweile gibt es mehr mit einem Deutschlandstipen- Jetzt können die Länder, die verfassungsrechtlich für dium geförderte Studierende als von allen Begabtenför- die Bildung zuständig sind, zeigen, wie viel sie tatsäch- derungswerken zusammen geförderte Studierende. Für lich für die Bildung an Schulen und Hochschulen übrig mich sprechen diese Zahlen eine eindeutige Sprache, haben. nämlich die eines erfolgreichen Programms, lieber Kai (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gehring. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Viele Länder, etwa Bremen, Hessen oder Bayern, wie des Abg. Willi Brase [SPD]) wollen die Mittel ja vereinbarungsgemäß für Schulen und Hochschulen verwenden – und nicht für Kitas, Herr Abschließend möchte ich noch einmal die Gemein- Oppermann. Andere Länder dagegen liebäugeln mit Ki- samkeit mit dem Koalitionspartner betonen. Wir sind taförderung oder mit der Haushaltskonsolidierung. Da- uns sehr schnell über die Reformen einig geworden und bei wäre jetzt der ideale Zeitpunkt, dass die Länder end- haben hier wirklich eine substanzielle Reform vorgelegt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5231

Dr. Stefan Kaufmann (A) Wir zeigen damit, dass wir als Regierungskoalition han- diese Verantwortung haben Sie jetzt auch. Dass 7 Pro- (C) deln und umsetzen, so wie es zu Recht erwartet wird. zent BAföG-Erhöhung dazu nicht reichen, das, glaube ich, liegt auf der Hand, und das können Sie sich eigent- Bedanken möchte ich mich zuallerletzt beim Ministe- lich selber ausrechnen. rium, insbesondere bei Ihnen, Frau Ministerin Wanka, bei Herrn Staatssekretär Rachel und auch bei Herrn (Beifall bei der LINKEN) Schepers für die sehr gute Zusammenarbeit bei dieser Ja, es gibt einige Dinge, die Sie mit dieser BAföG- großen BAföG-Reform. In diesem Sinne, liebe Kollegin- Reform anpacken, einige Lücken, die Sie zu schließen nen und Kollegen, freue ich mich auf eine konstruktive versuchen, aber es sind bei weitem nicht alle, und ich bin Zusammenarbeit im parlamentarischen Prozess. mir nicht einmal sicher, ob wir schon alle Fallstricke ge- Herzlichen Dank. funden haben. Zumindest zwei Lücken, die nach wie vor existieren und die Sie nicht angehen, will ich benennen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Eine Lücke ist das Schülerinnen- und Schüler-BAföG. Schülerinnen und Schüler nach der 10. Klasse, die die Möglichkeit haben, eine gymnasiale Oberstufe zu besu- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen, haben, wenn sie noch bei den Eltern wohnen, was Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein für in der Regel der Fall ist, keine BAföG-Berechtigung, die Fraktion Die Linke. sondern müssen im Prinzip den etwas umständlicheren (Beifall bei der LINKEN) Weg über Berufsfachschulen oder Fachoberschulen ge- hen; dort bekommen sie die Förderung. Ich glaube, dass dadurch gerade Familien mit einem geringen Familien- Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): einkommen deutlich benachteiligt werden. Diese Fehl- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! entwicklung, die es seit Jahren gibt, hätte hier aufgeho- Meine lieben Kollegen von der SPD, Sie haben sich vor- ben gehört. Aber das gehen Sie nicht an. hin so aufgeregt, als sich meine Kollegin Nicole Gohlke vor allen Dingen über die Grundgesetzänderung und den (Beifall bei der LINKEN) Zusammenhang mit dem BAföG geäußert hat. Zum Zweiten bleibt offen, wie Sie zum Beispiel Be- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weil die rufsgruppen wie die der Erzieherinnen und der Erzieher Debatte morgen ist, Frau Hein! Sie verwech- anders behandeln wollen. Vielleicht ist es Ihnen ja nicht seln es! – Zuruf von der SPD: Das war die bewusst, aber Erzieherinnen/Erzieher müssen, bevor sie Rede von morgen!) diese Ausbildung aufnehmen, eine zweijährige Berufs- ausbildung zum Sozialassistenten oder zur Kinderpfle- (B) Aber ich bitte Sie: Sie haben doch ein Koppelgeschäft gerin absolvieren; das ist in nahezu allen Ländern so. (D) daraus gemacht, nicht wir. Das heißt, erst nach zwei Berufsausbildungen erhalten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sie den Berufsabschluss, den sie eigentlich erreichen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wollen. Wenn sie dann noch auf die Idee kommen, stu- dieren zu wollen, haben sie kein BAföG-Anrecht mehr. Sie haben am 19. September 2014 im Bundesrat erst den Auch diese Lücke schließen Sie nicht. Ländern die Zustimmung zur Grundgesetzänderung ab- (Beifall bei der LINKEN) verlangt, und danach kam die BAföG-Entscheidung. Das kann man im Protokoll nachlesen. Daher müssen Sie Das sind nur zwei von vielen Fehlstellen, die es im sich jetzt nicht wundern, dass wir dies auch in diesem Gesetz nach wie vor geben wird und die wir natürlich Zusammenhang behandeln. kritisieren – neben der Höhe der Leistung und den feh- lenden Anpassungen in wichtigen Bereichen. Das muss (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sich ändern. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir wollen, dass Bildung ein wichtiges Gut ist, Ich bin mir im Übrigen überhaupt nicht sicher, ob der wenn wir wollen, dass auch Kinder und Jugendliche aus versprochene Nutzen – der soll ja bei einem Koppelge- sozial schwierigeren Verhältnissen diesen Weg gehen schäft vorhanden sein – tatsächlich eintritt. Aber darüber können, dann müssen wir für sie diese Finanzierung ge- reden wir morgen noch einmal. währleisten. Dieser Ball, liebe Kollegen und Kollegin- (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Eben!) nen von der Koalition, liegt nun bei Ihnen. Das können Sie nicht mehr auf die Länder abwälzen. Die Verantwor- Dass nun der Bund die Kosten für das BAföG voll- tung haben Sie. ständig übernimmt, ist, glaube ich, schon ein richtiger Schritt – endlich; denn das hätte man sicherlich auch Vielen Dank. vorher schon machen können. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir fordern immer, dass der Bund eine höhere Betei- Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek ligung bei der Bildungsfinanzierung übernimmt; also für die SPD-Fraktion. können wir das nicht kritisieren. Dadurch entsteht nun die Möglichkeit, unabhängig von den Ländern eine ent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sprechende BAföG-Finanzierung durchzusetzen. Aber der CDU/CSU) 5232 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Oliver Kaczmarek (SPD): meinen Eltern überhaupt zumuten, auf vieles zu verzich- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im ten, um meine Hochschulausbildung zu finanzieren? Grunde macht es Freude, dieser Debatte heute beiwoh- nen zu können; denn niemand hier im Hause stellt das (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) BAföG mehr grundsätzlich infrage. Das war nicht im- Das wird mit dem BAföG aufgegriffen, indem es ei- mer so. Wir erinnern uns daran: 2005 gab es noch die nen Rechtsanspruch schafft, einen Rechtsanspruch, der Ansage, das BAföG abzuschaffen, sei ein erstrebenswer- gilt, der Sicherheit gibt, und das erleichtert die Auf- tes Ziel. Was für ein Irrglaube war das? Das hat die SPD nahme eines Studiums. Das ist der besondere Wert des in den Koalitionsverhandlungen damals abräumen kön- BAföG. nen. Es ist gut, dass wir heute feststellen können: Das BAföG ist ein über die Parteigrenzen und über die ge- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Claudia sellschaftlichen Grenzen hinaus anerkanntes Instrument Lücking-Michel [CDU/CSU]) der Bildungsfinanzierung. Um wen geht es da? Ich habe mir einmal die durch- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schnittlichen Einkommensgruppen angesehen, weil das der CDU/CSU) dazu beiträgt, noch einmal klarzumachen, über welche Leute wir hier reden. Die Tochter eines Bäckers, der Dass wir heute die Weichen für einen weiteren Schritt Sohn eines Wachmanns, die Zwillinge der Arzthelferin, nach vorne stellen – wir verabschieden das Gesetz ja erst das sind die Berufsgruppen, die beim BAföG mit in die gegen Ende des Jahres –, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, Höchstförderung kommen. Darüber hinaus Schlosser, an der viele hier mitgewirkt haben. Nachdem das BAföG Elektroinstallateure, Physiotherapeuten, Werkzeugma- 1998 ziemlich auf den Hund gekommen war – nur noch cher, Rechtsanwaltsgehilfen. Das BAföG wirkt heute bis 13 Prozent aller Studierenden haben überhaupt BAföG weit in die Mitte der Gesellschaft hinein, und das Wich- bekommen –, ist es in der rot-grünen Regierungszeit ge- tige ist, dass wir heute diesen und anderen betroffenen lungen, die Gefördertenzahl zu verdoppeln. In der Gro- Berufsgruppen sagen: Ihr könnt euch weiterhin darauf ßen Koalition ist es 2008 gelungen, einen großen verlassen, dass das BAföG eine verlässliche, solide Fi- Schluck aus der Pulle zu nehmen. Heute wollen wir an nanzierung für das Studium eurer Kinder bleibt. diese Tradition anknüpfen. Es ist ein gemeinsamer Er- folg, dass wir das BAföG in dieser Form weiterentwi- (Beifall bei der SPD) ckeln werden. Deswegen sage ich auch ganz bewusst: Es gibt viele (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Instrumente der Studienfinanzierung, die alle ihren Platz der CDU/CSU) haben, aber keines erreicht so viele begabte junge Men- (B) schen und keines sorgt für so viel sozialen Ausgleich wie (D) Das wichtigste Argument für uns ist, dass das BAföG das BAföG. Deswegen bleibt es aus unserer Sicht das ein Instrument ist, das Zugänge schafft, das Aufstiegs- wichtigste Instrument der Studienfinanzierung und ge- chancen schafft; denn die Tür zu den Hochschulen ist für nießt zu Recht die höchste politische Aufmerksamkeit. einige weit weniger geöffnet als für andere. Mehr als 70 Prozent der Kinder, deren Eltern einen Hochschulab- (Beifall bei der SPD) schluss haben, studieren. Von denen, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, sind es nur etwa 25 Prozent. Mit dieser 25. Novelle entwickeln wir das BAföG Jetzt kann man sagen: „Vor 50 Jahren waren es nur mutig weiter. Ich glaube, daran kann man gar nicht vor- 10 Prozent“, aber es wird ja offensichtlich, dass es hier beikommen. Die finanziellen Rahmenbedingungen wer- immer noch eine große Chancenungleichheit gibt, an der den sich substanziell verbessern. wir uns bildungspolitisch weiter reiben müssen. Ich glaube, man muss das noch einmal sagen: 7 Pro- Nur zwei Fünftel der Kinder mit Hochschulreife aus zent Erhöhung bei den Bedarfssätzen, 7 Prozent Erhö- Nichtakademikerfamilien entscheiden sich überhaupt für hung bei den Freibeträgen. Das ist schon ein größerer ein Hochschulstudium. Vier Fünftel von denen, deren Schluck aus der Pulle, das ist nicht nichts, wie das hier Eltern einen Hochschulabschluss haben, entscheiden von einigen dargestellt wird. sich für ein Studium; da ist das viel selbstverständlicher. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Kai Wer verstehen will, warum das so ist, warum sich Arbei- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das terkinder – ich nenne sie jetzt einmal so; man kann sie ist zu wenig!) auch anders nennen; es geht jedenfalls um die, die aus Familien kommen, die noch nie eine Hochschule von in- Denn wir mobilisieren damit 1,2 Milliarden Euro nen gesehen haben – oft trotz guter Schulleistungen ge- – 1,2 Milliarden Euro! – jährlich im Bundeshaushalt gen ein Studium entscheiden, muss, glaube ich, die Le- schon ab dem nächsten Jahr durch die Übernahme durch bensrealität in den Blick nehmen. Die Eltern fragen sich: den Bund. Frau Ministerin, ich glaube, dass sich der Was erwartet eigentlich mein Kind an der Hochschule? Wert der Übernahme durch den Bund auch darin aus- Kann ich es finanziell unterstützen, oder muss es viel- drückt, dass wir uns ebendieses Schauspiel, das wir teil- leicht abbrechen, wenn meine finanzielle Unterstützung weise in den vergangenen Jahren erlebt haben – wer nicht mehr reicht? Auch die Kinder fragen sich: Was er- macht einen Vorschlag? wer antwortet auf einen Vor- wartet mich? Können meine Eltern mich unterstützen? schlag? wer ist anscheinend in einer Blockadehal- Aus eigener biografischer Erfahrung kann ich sagen: Die tung? –, einfach schenken können. Die Übernahme schwierigste Frage, die man sich stellt, ist: Kann ich durch den Bund bietet die Chance für die Repolitisierung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5233

Oliver Kaczmarek (A) des BAföG, und zwar hier im Plenum des Deutschen sogar noch ein Stück hinaus, indem wir die Voraufent- (C) Bundestages. So sollten wir es dann auch behandeln. haltsdauer auf 15 Monate senken, und wir erhöhen die Abschlagszahlungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Weiter mobilisieren wir 825 Millionen Euro jährlich Das sind alles Erfolge, die zeigen: Das BAföG muss sich für die Erhöhung und für die strukturelle Modernisie- am Leben der studierenden Menschen messen lassen. rung ab dem Jahr 2016. Das sind 2 Milliarden Euro pro Jahr, die im Bundeshaushalt mobilisiert werden. Wenn Natürlich werden wir mit dem BAföG die Lebens- man da von „kleinem Wurf“ spricht, dann – so muss ich wirklichkeit nicht eins zu eins abbilden können – wel- ganz ehrlich sagen – hat man nur einen ganz schmalen ches Gesetz könnte schon die Lebenswirklichkeit eins zu Bezug zur politischen Realität. eins abbilden? –, aber wir kommen ihr mit dieser No- velle einen deutlichen Schritt näher und modernisieren (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das BAföG so, wie es für das Studium auch notwendig Ich will das mit den angeblich 60 000 Menschen, die ist. aus der Förderung herausfallen, aufgreifen, weil mich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das natürlich auch geärgert hat. Die parlamentarischen Beratungen beginnen; wir (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: müssen sie sorgfältig führen. Was sagen die Experten zu Das ist so!) unseren Vorschlägen? Worüber müssen wir vielleicht Ich will einmal kurz fachlich werden – ich weiß nicht, ob noch einmal nachdenken? Das ist alles wichtig. Der SPD das zu viel ist –: Es geht darum, dass Sie einfach eine ist dabei besonders wichtig: Auch die Betroffenen selbst falsche Bezugszahl gewählt haben. Sie haben die Jahres- müssen zu Wort kommen; das haben wir bei der Aus- fallzahlen gewählt. Die Jahresdurchschnittszahl wäre wahl der Experten für die Anhörung entsprechend be- die, die anzuwenden wäre. Damit ergibt sich eine we- rücksichtigt. Wir nehmen die Vorlage, die die Bundesre- sentlich geringere Fallzahl. Das Eigentliche, das Wich- gierung uns gegeben hat, auf – sie ist gut –; aber auch bei tige ist doch: Wenn Sie es erreichen wollen, dass nie- diesem Gesetz gilt das Struck’sche Gesetz: Wenn wir et- mand aus der Förderung herausfällt – ich sage einmal, was verbessern können, dann wollen wir das auch gerne Lohnerhöhungen, Beförderungen, solche Dinge gibt es tun. immer; das sind Wechselfälle des Lebens, die können Herzlichen Dank. Sie auch mit einem Gesetz nicht verhindern; aber das sind ja Miniförderungen, das sind kleine Förderungen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Kai (B) (D) das sind ja nicht die Höchstfördersätze –, Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ziehen Sie es doch vor!) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Mit einer muti- gen Anpassung würde das schon gehen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: dann müssen Sie dafür sorgen, dass sich die Kurve der Nächste Rednerin für die Fraktion Die Grünen ist die Nettoeinkommen nicht mit der Kurve der Freibeträge Kollegin Katja Dörner. schneidet. Aber das, was Sie eigentlich machen und was ich unredlich finde, ist, dass Sie bis in die Mitte der Stu- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dierendenschaft hinein den Eindruck erwecken, bis 2016 Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe fliegen sie aus dem BAföG heraus, vielleicht sogar mit Kollegen! Die Einführung des BAföG war ohne Zweifel dem Höchstfördersatz. Das ist mit der Realität und mit eine großartige Leistung; aber sie ist mittlerweile über Ihren kruden Berechnungen aber nicht zu belegen. vierzig Jahre her. Wir reden heute darüber, was für die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zukunft geplant ist, Wir wollen das BAföG moderner machen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BAföG soll sich der Lebenswirklichkeit der Studieren- und da ist die große Selbstbeweihräucherung, die wir den annähern. Studieren geht heute anders als zu meiner hier seitens der Koalition erleben, wirklich nicht ange- Zeit und zur Zeit vieler anderer, die hier sitzen. Ich messen. Über was reden wir heute? Wir reden darüber, nenne nur das Stichwort „Bologna-Reform“. Das muss dass Studierende weitere zwei Jahre keine BAföG-Erhö- sich im BAföG niederschlagen. Wir verlegen deshalb hung bekommen werden, wir reden darüber, dass die unter anderem das formale Ende des Bachelorstudiums Große Koalition den Studierenden weitere zwei Nullrun- nach hinten, die Zulassung zum Masterstudium nach den verordnet, wir reden darüber, dass es in Deutschland vorn. Das sind Schritte, die den Studienalltag an der Brü- von 2010 bis 2016 keine BAföG-Erhöhung geben wird. cke zwischen Bachelor- und Masterstudium konkret ver- Ich finde, das ist kein Grund, zu jubeln. bessern werden. Das ermöglicht Studierenden die Kon- zentration auf den Studienabschluss, ohne eben die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Angst zu haben, dass mittendrin die Förderung abbricht. Fakt ist: Sechs Jahre lang soll das BAföG nicht erhöht Wir ermöglichen nichtdeutschen Auszubildenden, ei- werden. In den vier Jahren seit 2010 hat sich die Kauf- nen BAföG-Antrag früher zu stellen. Ich glaube, wir ge- kraft der Studierenden deutlich verschlechtert. Der hen über das, was uns der EuGH hier aufgetragen hat, BAföG-Höchstsatz von 670 Euro monatlich, der seit 5234 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Katja Dörner (A) dem Jahre 2010 gilt, ist heute faktisch nur noch 626 Euro stärker in die Mühlen wechselnder Regierungskonstella- (C) wert. Die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, vor al- tionen gerät. Dass Hubertus Heil in diesem Zusammen- lem die Mieten und die Nebenkosten. Deshalb haben die hang die halbherzigen Bekenntnisse der Union und die Studierenden keine weiteren zwei Jahre Zeit, auf die Luftschlösser der Linken beklagt, nehme ich einmal als nächste BAföG-Erhöhung zu warten, sie ist längst über- Kompliment für das Konzept, das die Grünen hier vor- fällig, sie muss unmittelbar kommen und darf nicht wei- gelegt haben – dies einmal als kleinen Exkurs. ter auf die lange Bank geschoben werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Risiko wechselnder Regierungskonstellationen – Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bundesregie- der Kollege Kaczmarek hat es eben als Repolitisierung rung zeigt leider wenig Herz für die jüngere Generation. bezeichnet – besteht tatsächlich. Sie ist nicht bereit, für die Jüngeren wirklich Geld in die Hand zu nehmen und in die Zukunft zu investieren. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin Dörner, darf der Kollege Heil eine sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zwischenfrage stellen? Das sieht man, wenn man die mickrigen 6 Milliarden Euro, die es insgesamt, über vier Jahre, zusätzlich für Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bildung geben wird, mit den Ausgaben für die Mütter- Selbstverständlich. rente und die Rente mit 63 vergleicht. Ich sage hier ganz klar: Ich gönne jedem und jeder mehr Rente. Wir spielen (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: niemanden gegeneinander aus. Aber das Verhältnis Jetzt sind wir gespannt! – Britta Haßelmann stimmt nicht, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt rechne mir mal vor, dass das mit der Mütterrente nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bis 2017 reicht!) das Verhältnis von 1: 5 in dieser Legislaturperiode zwi- schen Bildung und Rente. Das ist das, was absolut nicht Hubertus Heil (Peine) (SPD): geht, und das zeigt, dass die Bundesregierung nur kurz- – Nein, ich wollte jetzt nicht über die Mütterrente dis- sichtig handelt. kutieren. – Liebe Katja Dörner, weil ich so freundlich zi- tiert wurde und ein bisschen darauf achten muss, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht aus dem Zusammenhang gerissen wird: Man kann (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie- über Konzepte denken, was man will. Ich gebe zu: Die (D) rung zeigt kein Herz für die jüngere Generation; das SPD hätte sich früher auch immer alles wünschen kön- sieht man auch an dieser BAföG-Reform. Die Verbesse- nen. Es ist aber auch eine Frage des Machbaren. rungen für die Rentnerinnen und Rentner kamen sofort Ich will nur auf eins Wert legen. Wir streiten uns, – auch unsere Diätenerhöhung war schwuppdiwupp glaube ich, nicht darüber, dass das Volumen dieser möglich –; aber die Studierenden sollen bitte schön noch BAföG-Reform erheblich ist. Das kann man, glaube ich, zwei Jahre warten, weil es sonst mit der Haushaltskonso- nicht bestreiten. Aber über den Zeitpunkt kann man un- lidierung nicht klappt. Das finde ich den Studierenden terschiedlicher Meinung sein. gegenüber einfach absolut unfair. Wir als Grüne akzep- tieren nicht, dass gerade die Studierenden den Kopf hin- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: halten sollen, damit Herr Schäuble seinen Haushalt kon- Oder beides!) solidieren kann. Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich bitte, zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kenntnis zu nehmen, dass ich immer der Meinung war, und bei der LINKEN) dass es vernünftig ist, dass auch für die Finanzierung des Deshalb noch einmal ganz klar: Die BAföG-Reform BAföG der Bund eine Alleinzuständigkeit erhält, damit muss jetzt kommen, und die Erhöhung muss den Anstieg das endlich aus dem Gezerre zwischen Bund und Län- der Nettoeinkommen vollständig widerspiegeln. Das dern herauskommt. Das wird zu einer Repolitisierung heißt, statt einer 7-prozentigen Erhöhung von Freibeträ- führen; das hat der Kollege Kaczmarek vorhin gesagt. gen und Bedarfssätzen ist eine 10-prozentige Erhöhung (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: absolut notwendig, damit die Studis trotz der Erhöhung Vielleicht zu einer Verhässlichung!) nicht faktisch weniger in der Tasche haben als 2010. Dann haben wir – welche Regierung auch immer zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – künftig in Deutschland regieren mag – die Verantwor- Dr. [CDU/CSU]: Müssen sie tung, aber auch die Pflicht, zu handeln. betteln gehen in der Fußgängerzone?) Weil der Halbsatz lautete, ich hätte das kritisiert, sage Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Hubertus Heil hat ich: Das Gegenteil ist in diesem Brief der Fall gewesen. in einem Brief an die SPD-Fraktion im Mai über die an- Ich finde, es ist in Ordnung, dass der Bund das vollstän- stehenden Neuregelungen beim BAföG informiert. In dig übernimmt. seinem Brief benennt er auch das Risiko, dass das BAföG durch die Alleinzuständigkeit des Bundes noch (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5235

(A) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Der Richtigkeit halber: In dem Brief, der mir vorliegt, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) fällt der Satz, es ist ein Risiko, aber in der Abwägung ist es von Ihnen positiv bewertet worden. Ich glaube, das ist Präsident Dr. Norbert Lammert: kein Widerspruch dazu, wie ich Sie zitiert habe: Es wird Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Albsteiger als ein Risiko, aber in der Abwägung als positiv be- für die CDU/CSU-Fraktion. schrieben. – Auch ich finde das richtig. Auch wir als Grüne sehen dieses Risiko. (Beifall bei der CDU/CSU) In diesem Zusammenhang kann ich an das anschlie- ßen, was Kai Gehring zur Repolitisierung gesagt hat. Für Katrin Albsteiger (CDU/CSU): uns macht es keinen großen Unterschied, ob das BAföG Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der im Geschacher zwischen Bund und Ländern zerrieben uns vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Bun- wird oder ob es ein großes Geschacher hier im Bundes- desausbildungsförderungsgesetzes kann ohne Wenn und tag gibt. Deshalb machen wir gerade den Vorschlag, das Aber als historisch bezeichnet werden. Historisch vor al- BAföG an einen Index zu koppeln und anhand klarer lem deshalb, weil wir endlich den Weg aus der zugege- Kriterien automatisch zu erhöhen. Dann kämen wir näm- benermaßen unproduktiven Mischzuständigkeit zwi- lich auch aus der Rolle heraus, uns hier untereinander schen Bund und Ländern gefunden haben. Es ist darüber streiten zu müssen, und wir hätten einen klaren tatsächlich so: Wenn Bund und Länder miteinander ver- Weg, wie das BAföG automatisch und transparent erhöht handeln müssen, dann wird der Ton manchmal ein biss- würde. chen heftiger. Auch das gehört zum politischen Prozess. Liebe Frau Gohlke, wenn Sie das dann als „traurige De- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) batte“ bezeichnen, dann muss ich sagen, dass es dem Thema BAföG und der Wichtigkeit, die das BAföG für Dann könnte sich nämlich auch keine Partei mehr als die Studenten hat, wirklich nicht gerecht wird. BAföG-Partei profilieren, sondern es ginge wirklich da- rum, etwas für die Studierenden zu tun. Darum sollte es (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. uns eigentlich gehen. Eine automatische Erhöhung auf- [Spandau] [SPD]) grund klarer Kriterien wäre aus unserer Sicht also sach- gerecht. Das würde das BAföG aus dem politischen Ge- Der Bund übernimmt jetzt die volle Finanzierungszu- schacher herausholen. Darum sollte es uns gehen. Das ständigkeit. Ab jetzt gibt es nicht mehr die Schwarzer- schlagen wir auch im Gesetzgebungsverfahren vor. Wir Peter-Spiele, dass der eine den anderen blockiert. Jetzt stehen wir als Bund tatsächlich in der Verantwortung. (B) fänden es sehr positiv, wenn das angemessen gewürdigt (D) und noch in das Gesetzgebungsverfahren aufgenommen Dieser Verantwortung werden wir auch gerecht werden. würde. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieses Verantwortungsbewusstsein – das muss ich an dieser Stelle schon sagen – erwarten wir nicht nur von Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, das BAföG ist ein uns allen, sondern auch von den Ländern. wichtiger Baustein für mehr Chancengleichheit in unse- rem Bildungssystem. 80 Prozent der Studierenden, die (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Genau so ist BAföG bekommen, sagen, dass sie ohne diese Förde- es!) rung nicht studiert hätten. Aber natürlich ist die Frage der sozialen Öffnung der Hochschulen damit noch längst Aus diesem Grund sollten sich die Länder – sicherlich nicht erledigt. Das ist weiter eine große Aufgabe. Ich nicht alle – an der einen oder anderen Stelle ein Stück- will auch sagen, dass ich sehr froh bin, dass die Grünen chen von uns abschneiden. zusammen mit der SPD in drei Bundesländern die Stu- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch Bayern!) diengebühren abgeschafft haben. Das ist nämlich auch wichtig für mehr Chancengleichheit und Aufstiegschan- Die Mittel, die aus der Bildung kommen, die 1,2 Mil- cen in unserem Bildungssystem. liarden Euro jährlich, die der Bund im Bereich des BAföG übernimmt, sollten wieder in die Bildung ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steckt werden. So wurde es vereinbart. Gerade für die und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Hochschulen ist das ein ganz wichtiger Bereich, weil das LINKEN) BAföG hauptsächlich den Studenten zugutekommt. Des- wegen kann ich es leider nicht verstehen, wenn Nieder- Wir Grüne wollen bessere Chancen, gerade für die sachsen damit andere Staatsausgaben finanzieren will. jungen Menschen, denen das Elternhaus – finanziell und vielleicht auch kulturell – nicht so viel mitgeben kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist uns Grünen wirklich eine absolute Herzensange- legenheit. Deshalb sagen wir zu dem Rahmen dieser Ganz im Gegenteil dazu gibt es auch positive Bei- BAföG-Reform, die jetzt zur Entscheidung ansteht: Die spiele, beispielsweise Bayern. Bayern investiert nämlich Erhöhung kommt deutlich zu spät, und sie fällt zu mick- die freiwerdenden Mittel aus dem Bereich des BAföG zu rig aus. 90 Prozent in die Hochschulen und zu 10 Prozent in die Schulen. Das ist auch in Ordnung. Die Bürger werden Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zum Schluss ganz genau hinschauen, wer von uns ver- 5236 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Katrin Albsteiger (A) antwortlich mit den Bildungsausgaben umgeht und wer geschlossen werden. Deswegen reicht nach der BAföG- (C) nicht. Novelle die Zulassung für das Masterstudium aus. (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu Ein weiteres Thema der Debatte waren die steigenden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was würden Mieten. Ja, Studenten, die außerhalb der Heimat, außer- wir ohne Bayern machen?) halb des Elternhauses wohnen, haben mit steigenden Mieten zu tun. Aber auch diese Problematik haben wir Das BAföG ist ein Thema, das ganz nah am Men- erkannt, übrigens nicht nur aufgrund des BAföG, das si- schen ist, und hat – das ist sicherlich unbestritten – eine cherlich kein Instrument ist, um die Mietpreise auszu- unmittelbare Auswirkung auf jeden BAföG-Empfänger, gleichen oder zu steuern. Nein, wir haben aber die Mittel und das vor allem in einer Phase im Leben, die für einen für die Wohnungskostenpauschale überproportional um jungen Menschen sehr wichtig ist. Das BAföG bewegt, 11,6 Prozent erhöht. es wird diskutiert. Dass es wichtig für die Studenten ist, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Unterhalb der sieht man auch daran, dass sie rege im Internet und den Durchschnittsmiete! Jetzt schon!) sozialen Netzwerken diskutieren. Hier wird vor allem ei- nes klar: Es geht nicht nur darum, die Bedarfssätze und So ermöglichen wir es auswärts wohnenden Studenten, Freibeträge zu erhöhen. Genau das tun wir mit den je- den Durchschnittsmietbeitrag für einen Studentenwohn- weils 7 Prozent. Es geht vor allem darum, beim BAföG platz oder ein Untermietverhältnis zu decken. eine strukturelle Veränderung herbeizuführen. So glei- chen wir das BAföG auch an die veränderte Lebenswirk- (Beifall bei der CDU/CSU – Nicole Gohlke lichkeit eines Studenten an. [DIE LINKE]: Eben nicht! Das ist jetzt schon 50 Euro drüber! – Kai Gehring [BÜND- In vielen Gesprächen – das wurde heute schon einmal NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit 250 Euro eine erwähnt – wurde immer wieder das Thema Antragstel- Studentenwohnung in München!) lung erwähnt. Viele Studenten verstehen nicht, warum Die deutliche Steigerung der Wohnkostenpauschale ha- bei der Steuererklärung eine Onlineantragstellung mög- ben wir hinbekommen, ohne gleichzeitig Steuererhöhun- lich ist, beim BAföG aber nicht. Wir haben es mit jungen gen zu fordern oder neue Schulden aufzunehmen. Das ist Menschen zu tun. Auch das wurde heute schon einmal ein wichtiger Punkt: Haushaltskonsolidierung ist kein gesagt. Der Umgang mit dem Computer und dem Inter- Selbstzweck. Es wäre geradezu absurd, wenn wir einer- net ist völlig normal. Heutzutage ist es einfacher, sich an seits mehr Geld reinbuttern, uns andererseits aber dieses den Computer zu setzen und schnell ein paar Zahlen ein- Geld von den Eltern der Studenten durch Steuererhöhun- zutippen. Es ist auch für die Ämter bei der Bearbeitung gen zurückholen. (B) einfacher. Genau deshalb werden wir ab dem 1. Septem- (D) ber 2016 die Länder dazu verpflichten, die flächende- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sa- ckende Onlineantragstellung anzubieten. gen Sie das auch bei der Rentenreform so?) (Beifall bei der CDU/CSU) Zusammenfassend lässt sich feststellen. Wir handeln verantwortungsvoll. Wir erhöhen verantwortungsvoll Damit erreichen wir zweierlei – ich habe es bereits nicht nur die Fördersätze und die Freibeträge, sondern angesprochen –: Einerseits helfen wir den Ämtern bei wir gleichen das BAföG auch strukturell an die Lebens- der Bearbeitung und leisten damit einen wichtigen Bei- wirklichkeit der Studentinnen und Studenten an. trag zum Bürokratieabbau und zur Beschleunigung der Vor kurzem hieß es in der internationalen Presse: Verfahren, andererseits bekommen wir mehr junge Men- Deutschland ist ein Erfolgsmodell. – Genau das soll es schen ins BAföG; denn zugegebenermaßen kann eine auch bleiben. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Er- Papierflut, die bearbeitet werden muss, abschreckend folgsmodells ist unser Bildungssystem. Das BAföG wie- wirken. derum ist ein wesentlicher Teil davon, und so soll es In den letzten Jahren haben sich Studienkultur und auch in Zukunft bleiben. Studienstruktur verändert, beispielsweise durch den Bo- Vielen Dank. logna-Prozess. Wir haben in den vergangenen Jahren be- trachten können, wohin die Reise geht. Die Reise geht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dahin, dass man nicht zwangsläufig mehrheitlich auf- neten der SPD) hört, nach dem Bachelor zu studieren, sondern dass man hinterher noch den Master draufsetzen möchte. Viele Präsident Dr. Norbert Lammert: dieser betroffenen Studenten möchten nicht ewig darauf Die Kollegin De Ridder ist die nächste Rednerin für warten, dass es weitergeht. Nein, sie versuchen ihre Stu- die SPD-Fraktion. dienzeit so zu verkürzen, dass es nicht elendig lange Wartezeiten zwischen Bachelor und Master gibt. Genau (Beifall bei der SPD) deshalb haben sich die Hochschulen ein Instrument der vorläufigen Zulassung zum Masterstudium geschaffen. Dr. Daniela De Ridder (SPD): Um genau dieses Instrument bemühen wir uns bei der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und BAföG-Novelle, und zwar deshalb, weil es nicht Warte- Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Besuchertribünen! zeiten oder unerwünschte Unterbrechungen bei den Liebe Studierende! Liebe Eltern! Mit der Reform des BAföG-Mitteln geben soll. Die Förderungslücken sollen BAföG, mit der der Bund – Sie haben es eben schon ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5237

Dr. Daniela De Ridder (A) hört – nun vollständig die Finanzierung übernimmt, in- 100 000 junge Menschen, denen wir bessere Startchan- (C) vestieren wir in eine verheißungsvolle Zukunft, in unser cen für ihre spätere Berufslaufbahn ermöglichen. Bildungssystem; denn alle Mitglieder unserer Gesell- schaft müssen an Bildung teilhaben können. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zahl ist vorher rausgefallen!) Soziale Gerechtigkeit und Vielfalt, so heißt das Gebot der Stunde. Das gilt – für alle, die Niedersachsen kriti- – Nein, überhaupt nicht. Wir werden das an der Realität sieren, will ich das als Niedersächsin noch einmal deut- messen können. lich sagen – von Anfang an. Das bedeutet auch, dass wir (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in die frühkindliche Bildung investieren müssen. NEN]: Daran messen wir euch!) (Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer – Gerne. [CDU/CSU]: Das kann man als Landesregie- rung ja auch tun, nur nicht mit dem Geld vom Ich möchte mir an dieser Stelle eine Anmerkung er- Bund! – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil lauben. Ich halte nichts davon, akademische gegen be- [Peine] [SPD]: Natürlich! Doch, das dürfen rufliche Bildung auszuspielen. Vielmehr brauchen wir sie!) die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Bildungswege. – Bitte, meine Herren und Damen, was soll die Aufre- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gung? Ja, sagen Sie das der Union!) Wenn wir soziale Gerechtigkeit wollen, dann müssen Mehr als eine verfehlte Debatte brauchen wir deshalb wir in Bildung investieren. Wenn wir über das BAföG Öffnung und Durchlässigkeit im Bildungs- und Hoch- reden, müssen wir auch darüber reden, dass es von An- schulsystem. Über das Meister-BAföG wird gleich mein fang an die Chance geben muss, diesen Weg überhaupt Kollege Rabanus sprechen. Wer jetzt sagt, wir hätten zu zu beschreiten. Deshalb ist die Investition in frühkindli- viele Akademikerinnen und Akademiker, der muss sich che Bildung ein Muss. fragen lassen: Für wen sollen die Tore der Hochschulen wieder geschlossen werden? Nein, Karrierechancen (Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜND- durch Bildung, das darf kein Privileg für Wohlhabende NIS 90/DIE GRÜNEN]) sein. Unabhängig davon, ob jemand an einer Universität oder (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Kai einer Fachhochschule studiert: Nie darf das Portemon- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sa- naie der Eltern wie ein Berufsverbot wirken. Dem kom- gen Sie das Nida-Rümelin!) (B) men wir nun mit der BAföG-Reform nach. (D) Die gute Nachricht: Mit der BAföG-Reform wird das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Matthäus-Prinzip ein wenig korrigiert, das Sie alle ken- der CDU/CSU – Abg. Hubertus Heil [Peine] nen, das da lautet: Wer hat, dem wird gegeben. „Lehr- [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) jahre sind keine Herrenjahre“ – diese halsstarrige Hal- – Meine Redezeit ist knapp. tung können wir uns in unserem rohstoffarmen Land nicht leisten. Unser Potenzial sind unsere klugen Köpfe. Lassen Sie mich kurz drei Punkte hervorheben. Ers- Deshalb müssen sich junge Erwachsene frei entfalten tens. Durch die Verbesserung der Kinderbetreuungszu- können, vor allem frei von wirtschaftlichen Zwängen schläge stärken wir ganz gezielt junge Väter und Mütter, und Abhängigkeiten. Dies sichert am Ende auch den ein Studium aufzunehmen, es mit Familie zu vereinba- Studienerfolg; denn wer weniger jobben muss, kann sich ren und vor allem auch erfolgreich abzuschließen. Ich mehr auf das Studium konzentrieren. Studienerfolg weiß aus eigener Erfahrung, wie hart es als junge Mutter durch die BAföG-Reform, das ist doch unser gemeinsa- sein kann, ein Studium zu organisieren; denn ich habe mes Ziel, verehrte Kolleginnen und Kollegen. selbst mit zwei Kindern studiert. Drittens. Dieser Punkt liegt mir aufgrund meiner eige- Wir reden heute viel über die Realität. Wenn wir uns nen Erfahrung ganz besonders am Herzen. Insbesondere die Realität anschauen, dann stellt man allerdings fest, Flüchtlinge und aus EU-Staaten Zugewanderte werden dass im Jahr 2012 gerade einmal knapp 4 Prozent der jetzt vermehrt von der Ausbildungsförderung profitieren Studierenden ein oder mehrere Kinder hatten. Wir müs- können. Das ist mir schon deshalb wichtig, weil ich als sen den jungen Menschen Mut machen. Das tun wir mit Belgierin für mein Studium in Deutschland seinerzeit der vorliegenden BAföG-Novelle. Studium und Familie keine Ausbildungsförderung erhalten habe. Mit der Re- sind zwei Seiten einer Medaille und gehören zusammen. form werden wir – das heißt „back to reality“ – den Le- (Beifall bei der SPD) bensverhältnissen in unserem Land nach der Bologna- Reform gerechter werden. Das ist nicht nur ein Verspre- Zweitens. Durch die Erhöhung der Einkommens- und chen. Das ist die Realität, und wir werden den Erfolg Vermögensfreibeträge erhöhen wir die Zahl der Förder- prüfen dürfen. Das ist auch eine Aufforderung an die berechtigten. Wir erwarten – denn wir in der SPD haben Opposition, genau hinzuschauen; davor habe ich keine Lese- und Rechenkompetenz, liebe Kolleginnen und Angst. Diese überfällige Änderung ist insbesondere mit Kollegen von den Grünen – knapp 100 000 neue An- Blick auf die EU-Staaten Ausdruck einer Willkommens- tragsbewilligungen pro Jahr. Das sind zugleich knapp kultur in einer globalisierten Hochschulwelt. 5238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Daniela De Ridder (A) Mit der Reform des BAföG machen wir einen wichti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) gen Schritt in die richtige Richtung, hin zu mehr sozialer der SPD) Gerechtigkeit an Hochschulen. Lehrjahre sind keine Herrenjahre? Ich hoffe, dass wir einige besorgte Eltern Aber umgekehrt gilt: Für Studierende mit humanitä- entlasten können, wenn wir sagen: Lehrjahre sind keine ren Aufenthaltsgründen verkürzt sich die Wartezeit bis Hungerjahre! Diesen Eltern sagen wir: Wir haben ver- zur BAföG-Berechtigung von vier Jahren auf immerhin standen, was einst John F. Kennedy sagte: „Es gibt nur jetzt nur noch 15 Monate. Dass mir das zwar auch noch eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung, keine Bil- zu lang ist, will ich sagen, aber es ist ein entscheidender dung.“ Schritt in die richtige Richtung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist doch ein Angebot!) der CDU/CSU) Drittens. Wenn hier immer wieder behauptet wird, Präsident Dr. Norbert Lammert: dass diese Regierung – ich zitiere – billigend in Kauf Die Kollegin Lücking-Michel ist die nächste Redne- nehme, dass Arbeiterkinder in ihrem Bildungsaufstieg rin für die CDU/CSU-Fraktion. blockiert bleiben – Zitat Ende –, dann kann ich nur sa- gen, dass das mit Blick auf BAföG und die vorgelegte (Beifall bei der CDU/CSU) Reform blanker Unsinn ist.

Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe neten der SPD) Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über eine Reform, die diesen Namen wahrlich verdient. Sie Wenn man sich den aktuellen Social Survey des Studen- bringt strukturelle und finanzielle Verbesserungen. Ver- tenwerks ansieht, wird noch einmal deutlich: BAföG ist ehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, und bleibt ein wirksames Instrument der Breitenförde- liebe Katja Dörner, wenn Sie immer wieder monieren, rung. Je niedriger das Bildungsniveau der Eltern ist, diese BAföG-Erhöhung komme zu spät, die jetzige Stu- desto höher ist der Anteil der Studierenden, die durch dierendengeneration profitiere nicht mehr davon, und BAföG gefördert werden. Die anderen Fakten haben wir wenn Sie die Reform gegen die schwarze Null im Haus- schon gehört: Die Zahl der BAföG-Berechtigten erhöht halt ausspielen, dann muss ich sagen: Was kann man im sich durch die höheren Freibeträge. Die Hinzuverdienst- Sinne der Generationengerechtigkeit mehr tun, als, was grenze wird angehoben, sodass man jetzt leichter bis zur (B) (D) wir jetzt zum ersten Mal nach 1969 tun, einen Haushalt Höhe eines Minijobs zum BAföG dazuverdienen kann. ohne neue Schulden aufzustellen? Was kann man denn (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mehr tun, um langfristig Handlungsfähigkeit zu bewah- Alles erst in zwei Jahren!) ren, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – BAföG hilft Bildungsaufsteigern. Es verringert den Zu- Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sammenhang zwischen sozialer Herkunft und gewähl- Bei der Rentenreform haben Sie nicht mit tem Ausbildungsweg. Das sind doch echte Fortschritte. Haushaltskonsolidierung argumentiert!) Wenn ich jetzt an dieser Stelle mit Blick auf die wei- auch und gerade für Investitionen in Bildung? teren Diskussionen eine Ergänzung einbringe, dann ma- che ich dies, weil ich denke, dass diese gute Reform in Von den vielen wichtigen Punkten, die heute schon einem Punkt noch verbessert werden kann. Der Punkt, genannt wurden, möchte ich drei Erfolge, die mit der an den ich erinnern will, ist die Bedeutung ehrenamtli- BAföG-Reform erreicht werden, besonders benennen chen Engagements. Wir sind uns hoffentlich einig, dass – wir haben es schon gehört; aber es ist mir wichtig, das durch ehrenamtliches Engagement Millionen von Men- noch einmal zu betonen –: schen in Deutschland dazu beitragen, dass unsere Ge- Erstens. Das neue BAföG ist familienfreundlicher: sellschaft menschlicher wird, dass es bei uns solidari- 130 Euro für das erste und für jedes weitere Kind. Das scher zugeht, ja, dass ohne Ehrenamt vieles bei uns Signal heißt: Familien sind uns wichtig. überhaupt nicht möglich wäre. Zweitens. Das neue BAföG ist internationaler. Wir Die junge Generation ist besonders stark ehrenamt- haben uns diesbezüglich schon im Koalitionsvertrag am- lich aktiv. 1999 stellten Studierende zwischen 20 und bitionierte Ziele gesetzt. Jede zweite deutsche Studie- 24 Jahren mit einer Quote von 45 Prozent noch die rende soll demnächst studienbezogene Auslandserfah- Gruppe mit dem höchsten Engagement unter den jungen rungen sammeln. Die BAföG-Novelle, die wir jetzt Menschen dar. Nach der Studienreform ist das Engage- diskutieren, erleichtert dies durch ihre neuen Regelun- ment um 5 Prozentpunkte gesunken; dies wurde 2009 gen; denn jetzt gilt das EuGH-Urteil zur Freizügigkeit. festgestellt. Wir haben das Problem, dass die Studien- Jede deutsche Studierende kann, wenn sie ihr Studium strukturreform, dass das neue Bachelor-Master-System im EU-Ausland beginnt, künftig vom ersten Semester an durch die zeitliche Verdichtung und die erhöhten Anfor- BAföG-Förderung in Anspruch nehmen. Das ist doch derungen das Engagement von Studierenden offensicht- ein wichtiger Schritt. lich deutlich einschränkt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5239

Dr. Claudia Lücking-Michel (A) Damit bin ich wieder beim BAföG und meinem Er- Martin Rabanus (SPD): (C) gänzungsvorschlag: Es sollte doch unser Ziel sein, dass Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen freiwilliges Engagement von Studierenden diesen nicht und Kollegen! Wir behandeln heute in erster Lesung die zum Nachteil gereicht und es zu keinem Trade-off zwi- 25. BAföG-Novelle, eine Novelle, die diesen Namen tat- schen Ehrenamt auf der einen Seite und Ausbildung auf sächlich verdient. Das ist gut so, und zwar in mehrerlei der anderen Seite kommt. Es gibt ein Beispiel: Ehren- Hinsicht. Es ist gut für die Länder. 100 Prozent Über- amtliches Engagement in den satzungsmäßigen Hoch- nahme der BAföG-Kosten durch den Bund bedeuten schulgremien wird bei der Höchstdauer der BAföG-För- eine Entlastung von knapp 1,2 Milliarden Euro, 1,2 Mil- derung bisher schon berücksichtigt, in der Regel mit liarden Euro, die die Länder nun für Bildung in ihren einem Semester zusätzlich. Das gilt aber leider nicht für Haushalten zusätzlich zur Verfügung haben. Engagement in anderen Bereichen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier ist mein Ziel: Natürlich ist es richtig – ich habe die mahnenden Worte von Frau Ministerin Wanka im Gut für Länder, auch gut für Studierende!) Ohr –, dass jede Ausweitung des Empfängerkreises beim Damit löst die Koalition das Versprechen ein, das wir im BAföG Geld kostet, aber hier wäre das Geld aus meiner Koalitionsvertrag niedergelegt haben, nämlich dass wir Sicht besonders gut angelegt. den Ländern weitere Spielräume verschaffen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU) Es ist richtig: Wenn wir das berücksichtigen wollen, dann müssen Umfang und Qualität ehrenamtlichen Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aber Engagements natürlich handfest festgehalten werden vor allen Dingen gut für die Schülerinnen und Schüler können. Aber keine Sorge, dafür gibt es bereits Modelle, – das will ich an dieser Stelle betonen; viele Schülerin- die übertragbar wären. nen und Schüler kommen in den Genuss von BAföG- Leistungen –, und es ist auch gut für die Studierenden. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie Wir erhöhen die Bedarfssätze. Wir erhöhen die Einkom- Bayern!) mensfreibeträge. Der Wohnkostenzuschuss ist benannt – Tatsächlich, Bayern ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es worden. Wir erhöhen den Kinderbetreuungszuschuss auf eine Ehrenamtskarte. Auf Initiative von verschiedenen 130 Euro pro Kind – und nicht mehr gestaffelt, sondern Vereinen wurde ein Trägerverein gegründet, durch den pauschal. Das finde ich ganz wichtig. Wir schließen die jetzt der Umfang von ehrenamtlichem Engagement qua- Lücke zwischen Bachelor- und Masterstudium. Wir er- lifiziert und zertifiziert festgestellt wird, ja sogar die reichen 110 000 zusätzliche junge Menschen mit Leis- (B) Kompetenzen festgehalten werden, die man dabei er- tungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. (D) worben hat. Damit hat die Novelle ein Gesamtvolumen von rund 825 Millionen Euro. Das ist in der Tat eine substanzielle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Novelle. Ein anderes Modell wäre die sogenannte Juleica aus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Kai dem Bereich der kirchlichen Jugendarbeit, die Jugend- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Al- leiter-Card. Das kann man alles übertragen. les erst in zwei Jahren!) Wenn uns das gelingen würde, dann wäre das ein wichtiger Schritt in eine richtige Richtung. Ehrenamtli- Nun beginnen die parlamentarischen Beratungen. ches Engagement könnte dann bei der Festlegung der Frau Kollegin Lücking-Michel hat bereits einen Aspekt BAföG-Förderhöchstdauer angemessen berücksichtigt eingebracht, der sicherlich noch eine Rolle spielen wird. werden. Ehrenamt wäre weniger Risiko für die Studie- Auch andere Aspekte werden eine Rolle spielen. Es gilt renden, und die BAföG-Regelungen würden zu einem das berühmte und berüchtigte Struck’sche Gesetz: Kein echten Pluspunkt nicht nur für die engagierten jungen Gesetzentwurf kommt so aus dem Bundestag heraus, Menschen, sondern für unsere gesamte Gesellschaft. wie er eingebracht worden ist. Meine Damen und Herren, die jetzt vorgelegte (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist BAföG-Novelle ist ein wichtiger Schritt in die richtige mehr berühmt als berüchtigt!) Richtung. Ich bin zuversichtlich, dass durch die weiteren Debatten Verbesserungen in die richtige Richtung er- Das ist mal wieder keine Drohung, liebe Frau Ministerin reicht werden können. Wir sollten gemeinsam daran ar- Wanka, sondern es geht darum, im kommenden parla- beiten. mentarischen Beratungsverfahren die guten Dinge noch ein bisschen besser zu machen. Vielen Dank. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) NEN]: „Das ist keine Drohung“! Das nennt man negatives Framing!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Damit haben die SPD und die Koalition zwei zentrale Das Wort hat nun der Kollege Martin Rabanus für die Vorhaben umgesetzt. Das eine zentrale Vorhaben war die SPD-Fraktion. Entlastung der Länder, das zweite zentrale Vorhaben die (Beifall bei der SPD) Stabilisierung, die strukturelle Stärkung und die Anpas- 5240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Martin Rabanus (A) sung des BAföG an die aktuellen Bedürfnisse. Das ist Sven Volmering (CDU/CSU): (C) gut so. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn du kritisiert wirst, dann musst du irgendetwas Natürlich ist der SPD und auch der Koalition bewusst, richtig machen. Denn man greift nur denjenigen an, dass damit das Thema „Ausbildungs- und Fortbildungs- der den Ball hat. förderung“ für diese Legislaturperiode nicht ad acta ge- Dieses Zitat von Bruce Lee passt sehr schön zur heutigen legt werden kann. Ganz im Gegenteil: Wir werden uns Debatte: jetzt sowohl in den einzelnen Fraktionen als auch in der Koalition insgesamt dem Thema Meister-BAföG inten- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) siver zuwenden. Denn wenn wir für Schülerinnen und Die Große Koalition hat den Ball nicht nur gehalten, Schüler sowie Studierende jetzt richtigerweise eine Re- sondern mit Ministerin Wanka als Stürmerin Tore ge- form des BAföG machen, dann ist es nur folgerichtig, schossen. Die BAföG-Reform wird ein großer Erfolg uns in einem jetzt kommenden zweiten Schritt auch um werden. die Meisterschüler zu kümmern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Dabei sind wir von der Überzeugung geleitet, dass es Präsident Dr. Norbert Lammert: eine Gleichwertigkeit der akademischen und der berufli- Wo hat der gerade zitierte Kollege seinen Wahlkreis, chen Bildung gibt, von der Überzeugung geleitet, dass Herr Volmering? sie nicht gegeneinander auszuspielen sind, sondern ge- meinsam gedacht werden müssen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben uns alle an unsere Kung-fu-Zeiten Wenn das so ist, dann müssen wir auch dafür sorgen, erinnert, Herr Präsident!) dass wir vergleichbare Förderbedingungen in den Syste- men BAföG und AFBG, also Aufstiegsfortbildungsför- derung, hinbekommen. Da ist noch eine ganze Menge zu Sven Volmering (CDU/CSU): tun. Gesetzessystematisch werden die Freibeträge und Bruce Lee – für den, der ihn nicht kennt –: amerikani- die Bedarfssätze, insbesondere aus dem BAföG, auch im scher Schauspieler und Kampfkünstler. – Da die Linke Meister-BAföG abgebildet. Aber das ist nur ein Teil des- und die Grünen das aber nicht zugeben können, orientie- sen, was die Förderlogik im Meister-BAföG ausmacht. ren sie sich in ihrer Kritik lieber am ehemaligen Bundes- ligaprofi Rolf Rüssmann, der gesagt hat: „Wenn wir Es gibt den Bereich der Lehrgangs- und Prüfungsge- (B) nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den (D) bühren, der im BAföG in der Regel keine Rolle spielt. Es gibt den Bereich der Prüfungsvorbereitungen, aber Rasen kaputt.“ auch den des Meisterstücks, das in der Meisterausbil- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der dung gemacht und vorgelegt werden muss. Hier gibt es CDU/CSU und der SPD) nach unserer Überzeugung die Notwendigkeit, bedarfs- gerechte Anpassungen vorzunehmen. Selbst das ist Ihnen in der heutigen Debatte nicht gelun- gen. Sie haben argumentativ barfuß in den Rasen getre- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ten und sich dabei wehgetan. CDU/CSU) Die Linke spricht in ihrer Pressemitteilung vom Ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten noch einen 20. August 2014 von einem „unwürdigen Schauspiel“, Satz sagen, nämlich zum Thema der Zuschuss- und Dar- der Kabinettsbeschluss sei unverantwortlich. Die Grü- lehensbedingungen. Diese sind beim BAföG und beim nen sind sich nicht zu schade, in ihren Stellungnahmen Meister-BAföG ganz unterschiedlich. Beim BAföG ist das Wort „Almosen“ in einem Atemzug mit dem Wort es so – das wissen wir alle –: 50 Prozent Zuschuss und „BAföG“ zu nennen. 50 Prozent Darlehen, zinsfrei. Beim Meister-BAföG ist es ein geringerer Zuschuss und ein höherer Darlehensan- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: teil, und das verzinslich. Wenn wir es mit der Gleichwer- Dass es das nicht ist, sondern ein Rechtsan- tigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ernst spruch! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE meinen, wenn wir es damit ernst meinen, gleiche Förder- GRÜNEN]: Richtig lesen!) bedingungen herzustellen, dann müssen wir an dieser Stelle Veränderungen herbeiführen. Seriöse Kritik sieht anders aus. Das Deutsche Studenten- werk jedenfalls begrüßt die Reform und spricht von ei- Herzlichen Dank. ner „guten Nachricht“. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Ich kann nicht verstehen, wie man die Erhöhung der Bedarfssätze um 7 Prozent, die Erhöhung des Wohn- Präsident Dr. Norbert Lammert: geldzuschlags auf 250 Euro, des Förderhöchstsatzes um Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der 9,7 Prozent auf 735 Euro, die Anhebung des Vermögens- Kollege Sven Volmering für die CDU/CSU-Fraktion. freibetrags und des Kinderbetreuungszuschlags als „un- (Beifall bei der CDU/CSU) würdiges Schauspiel“ bezeichnen kann. Durch die sie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5241

Sven Volmering (A) benprozentige Erhöhung der Einkommensfreibeträge der die Förderung von Rückkehrerprogramme für wissen- (C) Eltern erhalten 110 000 mehr Studierende und Schüler schaftlichen Spitzennachwuchs, die Anschubfinanzie- BAföG. rung der dringend nötigen medizinischen Fakultät in Ostwestfalen oder meinetwegen auch die Förderung der An dieser Stelle möchte ich auch einmal den Eltern Schulsozialarbeit. danken: 87 Prozent der Eltern unterstützen ihre Kinder während des Studiums monatlich mit durchschnittlich (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 476 Euro und schränken sich selber ein. Auch das ver- Ist das alles in der Bund-Länder-Vereinbarung dient in dieser Debatte einmal Anerkennung. drin?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auch das ist ein Thema, das meinen Wahlkreis betrifft. neten der SPD) Sinnvoll ist auch die Anhebung der Nebenverdienst- Dann gab es am Dienstag eine große Pressemitteilung möglichkeiten auf 450 Euro. Die Bundesagentur für Ar- der Landesregierung Nordrhein-Westfalen mit Hinweis beit hat im letzten Jahr die „gute Funktion“ der Minijobs auf die BAföG-Mittel: für Studenten und Schüler betont, um Geld zu verdienen. Das Land hat das Geld zur Finanzierung neuer Wenn man bedenkt, dass zwei Drittel der Studierenden Maßnahmen im Bildungsbereich veranschlagt – dies aus unterschiedlichen Gründen tun und der Minijob dabei eine zentrale Rolle spielt, dann ist die Forderung Großer Trommelwirbel. Wir warten alle, was jetzt der Grünen aus dem Bundestagswahlkampf, die Zahl der kommt. Und dann: Minijobs einzudämmen, für die junge Generation kon- traproduktiv und schädlich. unter anderem für den Ausbau des offenen Ganz- tags, weitere Zuweisungen an Kommunen für die Mit großer Sorge verfolge ich – das ist angesprochen Inklusion und für den Kita-Ausbau. worden – die Rolle einiger Bundesländer bei der Ver- wendung der freiwerdenden BAföG-Mittel in jährlicher (Zuruf von der SPD: Das ist doch gut! – Kai Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Als Nordrhein-Westfale Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will ich jetzt gar nicht auf die Situation in – sagen wir – ist doch super!) Niedersachsen eingehen, sondern mich lieber mit mei- nem eigenen Land beschäftigen. Bei allem Respekt: Das sind alles keine neuen Maßnah- men. Alle Ziele sind jetzt schon im nordrhein-westfäli- Meine Landesregierung sagte im Sommer auf An- schen Haushalt haushaltsrechtlich verankert. Die Hoch- frage, dass die freiwerdenden Mittel in Höhe von schulen werden in der Pressemitteilung nicht einmal (B) 279 Millionen Euro im Haushalt eingespeist werden, gab erwähnt; stattdessen wird die vereinbarungswidrige Ki- (D) jedoch nie konkret an, wofür. Vielmehr sprach man da- taförderung aufgeführt. von, dass „angesichts der Konsolidierungsnotwendig- keiten im Landeshaushalt“ NRW die Entlastung eine (Thomas Oppermann [SPD]: Landtagsrede!) Unterstützung im Hinblick auf das Erreichen bildungs- politischer Ziele darstellt. Allein durch die Verwendung Ein paar globale Minderausgaben kommen in Nord- des Begriffs „Konsolidierungsnotwendigkeiten“ ist klar, rhein-Westfalen auch immer noch dazu. Dann wird eine dass das Geld dann doch beim nordrhein-westfälischen Maßnahme nicht komplett abgerufen, und schon ist das Finanzminister landen kann. BAföG-Geld weg. Das ist ein billiger Taschenspieler- trick in Nordrhein-Westfalen. Ich fordere die Landesre- (Willi Brase [SPD]: Quatsch!) gierung auf, die getroffenen Vereinbarungen auch einzu- Verschiedene Seiten haben seitdem an die Landesre- halten. gierung appelliert, im Sinne von Haushaltsklarheit und (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu -wahrheit mit Nachweis anzugeben, wofür das Geld ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es steht doch wendet wird. gar keine Wahl an! Was machst du hier?) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist doch – damit hat Frau Gohlke sogar recht – ein Für Bildung und Hochschulen wird das ver- Alarmsignal, dass der Präsident des Deutschen Hoch- wendet!) schulverbandes, Professor Kempen, mit drastischen CDU-Vorschläge liegen lange vor. Ich habe mich bei- Worten von einer „Schweinerei“ spricht, wenn er an die spielsweise dafür eingesetzt, dass 35 Millionen Euro für BAföG-Mittel-Verwendung durch einige Länder denkt. die digitale Bildung eingesetzt werden. Es steht in der Zukunft noch eine Reihe von Bund- ( [SPD]: Landespolitik Länder-Verhandlungen an. Es kann nicht sein, dass man- machen wir im Landtag!) che Länder ständig trotz verfassungsrechtlicher Nichtzu- – Ich weiß, dass Sie das alles nicht hören wollen. – Wei- ständigkeit den Bund auffordern, immer mehr Aufgaben tere Vorschläge sind zum Beispiel der Ausbau von Mas- zu bezahlen, aber gleichzeitig besonders kreativ darin terstudienplätzen, sind, eigene Hausaufgaben nicht zu erledigen. Das belas- tet für die Zukunft die angesprochenen Verhandlungen (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und schwächt die Länder selbst. Wir beklagen immer NEN]: Ist das jetzt eine Landtagsrede?) wieder die niedrigen Landtagswahlbeteiligungen. 5242 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Sven Volmering (A) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) Das liegt an solchen Reden! Özcan Mutlu die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich stelle kei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Luftnummer!) nen Widerspruch fest. Dann können wir so verfahren. Ein Grund dafür ist, dass den Bürgern eine solche Wahl Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem das nicht so wichtig ist wie die Bundestagswahl. Wir brau- Wort dem Kollegen Anton Hofreiter für die Fraktion chen uns dann nicht zu wundern, dass das bei diesem Bündnis 90/Die Grünen. Verhalten der Länder mit den ständigen selbstschwä- chenden Rufen nach Abgabe von Verantwortung an Ber- Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lin so ist. NEN): Deutschland hat enorm viele gute Erfahrungen mit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dem Föderalismus gemacht. Wir sollten dies nicht durch Kollegen! Der CO2-Gehalt in der Atmosphäre ist im taktische Spielchen ruinieren. letzten Jahr so schnell gestiegen wie in den vergangenen 30 Jahren nicht mehr. Die Ozeane sind sogar so sehr ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sauert wie seit 300 Millionen Jahren nicht mehr. Die Wir sollten vielmehr sehen, dass wir auch künftig ver- Westantarktis hat in diesem Jahr nach Aussage der Wis- nünftige Bund-Länder-Beziehungen gestalten. Ich finde, senschaft unwiderruflich begonnen, zu schmelzen. Die damit habe ich als letzter Redner eine gute Überleitung drohende Klimakatastrophe zu verhindern oder zumin- zur morgigen Debatte über die Grundgesetzänderung dest zu begrenzen, ist eine gigantische Herausforderung. und die Aufhebung des Kooperationsverbotes im Hoch- Klimaschutz ist aber auch eine ganz konkrete, ja klein- schulbereich geschaffen. teilige Aufgabe. Man kann das ganz systematisch be- schreiben. Es geht darum, unsere Stromproduktion unab- (Christine Lambrecht [SPD]: Das war ja eine hängig von den fossilen Energieträgern, unsere Mobilität Rede! Unterirdisch war die!) unabhängig vom Öl und unsere Häuser weg vom Auf- heizen der Umgebung zu bekommen. Das sind ganz Wir sehen uns morgen zur zweiten Halbzeit. Ich bin konkrete Aufgaben. zuversichtlich, dass die Große Koalition ihren Vorsprung noch ausweiten wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Was haben Sie bisher getan? Die Energiewende war (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter einmal der Motor der deutschen Klimapolitik. Sie haben Rossmann [SPD]: Wie war das mit dem Bun- diesen Motor auseinandergenommen, und jetzt ruckelt (B) desligaspieler und dem Rasen?) (D) und stockt es. Dann ist da noch der Kolbenfresser aus Bayern, Herr Seehofer. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen LINKEN) auf den Drucksachen 18/2663, 18/460 und 18/2745 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Er würgt die Energiewende in Bayern komplett ab. Seine schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen- Attacken auf Windkraft und Netzausbau sind absolut un- sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- verantwortlich. Damit stellt Herr Seehofer am Ende so- schlossen. gar den Atomausstieg infrage. Die Bundesregierung ist gefordert, endlich den Geisterfahrer Seehofer zu stop- Darf ich bitten, den Schichtwechsel zügig und mög- pen. lichst geräuschlos vorzunehmen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena Deutschland ist längst nicht mehr Primus beim Kli- Baerbock, Bärbel Höhn, Oliver Krischer, weite- maschutz oder beim Ausbau der erneuerbaren Energien. rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dänemark will bis zum Jahr 2030 den Strom- und NIS 90/DIE GRÜNEN Wärmebedarf vollständig aus erneuerbaren Energien de- cken. China will im kommenden Jahr 30 Prozent seines Ein Scheitern der nationalen Klimapolitik ab- Energiebedarfs aus erneuerbaren Energien decken. Da- wenden und international an Glaubwürdig- mit zieht selbst China an Deutschland vorbei. Die künf- keit zurückgewinnen tige rot-grüne Regierung in Schweden will Vattenfalls Drucksache 18/2744 Braunkohlepolitik beenden. Überweisungsvorschlag: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) und bei der LINKEN) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Auf der einen Seite ist das sehr ermutigend. Auf der an- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung deren Seite ist es schon beschämend, dass es der rot-grü- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nen Regierung in Schweden bedarf, damit in Deutsch- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5243

Dr. Anton Hofreiter (A) land Vattenfall aus der Braunkohle aussteigt. Sind wir Sommerpause wurde dann die lustige Groteske des mit- (C) nicht in der Lage, unsere eigenen Aufgaben zu erledi- telfristigen Sofortprogramms daraus, und jetzt kommt es gen? vielleicht im November, vielleicht auch gar nicht. Frau Hendricks, das ist wirklich das langsamste Sofortpro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gramm, das ich je erlebt habe. und bei der LINKEN) Von den zehn klimaschädlichsten Braunkohlekraft- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werken weltweit steht die Hälfte in einem einzigen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Land. Dieses Land ist Deutschland. Wenn wir endlich Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn schon natio- nur die Grenzwerte für Quecksilber den US-amerikani- nal so wenig passiert: Wie schaut es dann mit Ihrem in- schen Standards anpassten, dann müsste Deutschland ternationalen Engagement aus? Da passiert trauriger- alle seine Braunkohlekraftwerke schließen. Das wäre weise nicht viel mehr. Als vor zwei Wochen auf einmal ein schönes Beispiel. Sie sind doch so große Fans Einladung des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon die von TTIP. Passen Sie die deutschen Umweltstandards Staats- und Regierungschefs der Welt zusammenkamen, denen der USA an! Dann hätten Sie eine vernünftige um neue Impulse für den Klimaschutz zu setzen: Was Aufgabe. machte da die Kanzlerin? Die Kanzlerin machte sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch nicht einmal die Mühe, hinzufahren. Stattdessen sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE war sie beim BDI. Nichts gegen den BDI, aber seien wir LINKE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/ doch einmal ehrlich: Finden Sie nicht selbst, dass es eine CSU]: Sie stimmen TTIP jetzt zu, oder was?) total seltsame Prioritätensetzung ist, eine lokale Lobby- veranstaltung einem internationalen UN-Gipfel vorzu- Um das 2-Grad-Ziel noch zu schaffen, müssen zwei ziehen? Drittel der bekannten fossilen Rohstoffvorräte in der Erde bleiben. Doch kein einziges Land weltweit fördert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so viel Braunkohle wie Deutschland. Im vergangenen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jahr 183 Millionen Tonnen! Das ist doch klimapoliti- scher Wahnsinn! Am nächsten Europäischen Rat wird Frau Merkel – das vermuten wir sehr – teilnehmen. Aus Brüssel hört (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man aber auch nur, dass die europäischen Ziele für Kli- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) maschutz, Energieeffizienz und erneuerbare Energien Eine der wichtigsten Baustellen für den Klimaschutz weiter geschleift werden sollen – und das, obwohl die (B) in Deutschland ist die energetische Gebäudesanierung. Ziele beim Klimaschutz, zum Ausbau der Erneuerbaren (D) Die Sanierungsquote für Gebäude muss dringend erhöht, und zur Energieeffizienz ohnehin schon schwach und am besten verdreifacht werden. zahnlos sind. Zusammen mit der Personalpolitik der Eu- ropäischen Union wird klar: Es besteht die Gefahr, dass (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sich die Europäische Union komplett aus der Klima- und SES 90/DIE GRÜNEN) Umweltpolitik zurückzieht. Und was macht die Kanzle- Das wäre gut fürs Klima, gut fürs Handwerk und gut für rin? Sie macht sich mit ihrem Schweigen de facto zum die Investitionen. Auch wenn man an die momentane Komplizen dieser Wende rückwärts. Krise denkt, wäre das gut; denn so könnten wir unsere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abhängigkeit von russischem Erdgas ganz massiv redu- zieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es entsteht gerade (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine neue weltweite Bewegung für den Klimaschutz. Am 21. September fand die größte Klimademo der Welt Aber in keinem der zentralen Bereiche haben Sie bisher statt. In fünf Kontinenten gingen über 500 000 Men- etwas Substanzielles zustande gebracht. schen auf die Straße, um für den Erhalt ihrer Lebens- grundlagen zu demonstrieren. Sie mahnten entschei- Sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregie- dende Weichenstellungen für den Gipfel in Paris im Jahr rung, Sie haben ein süßes Wappentier, dieses „GroKo“. 2015 an. Leider fallen genau jetzt, wo sich endlich neue Leider ist das kein niedliches Reptil, sondern es kommt daher wie ein überkommenes, träges Fossil mit einem Chancen auftun, Europa und Deutschland als Kämpfer übergroßen, metertiefen ökologischen Fußabdruck. für den Klimaschutz aus. Das schadet nicht nur dem Klima, sondern es gefährdet Arbeitsplätze auch hier bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – uns, und es schadet nachhaltiger Wohlstandsentwick- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die lung. grünen Frösche müssen aufpassen!) Das erste Jahr, Frau Hendricks, haben Sie leider kom- Deutschland wird mit dieser Politik seine selbstge- plett nutzlos verstreichen lassen. Voraussichtlich drei steckten Klimaschutzziele verfehlen. Im letzten Jahr Jahre haben Sie noch. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sind sogar in Deutschland die CO2-Emissionen wieder diese drei Jahre nutzen und endlich in die Gänge kom- gestiegen. Frau Hendricks, sogar Sie selbst haben das men. Problem erkannt. Im Januar haben Sie deshalb ein So- fortprogramm für den Klimaschutz angekündigt. Vor der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 5244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Vizepräsidentin : Es wäre doch viel besser gewesen, wenn Sie stattdes- (C) Als nächster Redner spricht der Kollege Dr. Georg sen der internationalen Dimension Vorrang eingeräumt Nüßlein. hätten. Ich sage Ihnen ganz offen: Klimaschutz wird und muss international entschieden werden, nicht national. (Beifall bei der CDU/CSU) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): GRÜNEN]: Warum ist die Kanzlerin nicht da?) Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Herr Hofreiter spricht von einer gigantischen Herausforde- Bevor Sie jetzt sagen, das sei ein Feigenblatt, um natio- rung im Klimaschutz, womit er unumstritten recht hat, nal nicht handeln zu müssen, möchte ich eines ganz und antwortet dann auf diese gigantische Herausforde- deutlich unterstreichen. rung mit einem oppositionellen Gemäkel und Genöle (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE sondergleichen. GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal etwas zu (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Na, na, na!) Herrn Seehofer! Weitere Zurufe vom BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Er versteigt sich dazu, den bayrischen Ministerpräsiden- ten als das Haupthindernis beim Klimaschutz zu stilisie- – Schreien Sie doch nicht so, sondern hören Sie mir ein- ren. fach einmal zu. Sie haben doch nachher genügend Rede- zeit. Dann können Sie darauf antworten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein, meine Da- men und Herren! Ich glaube, wir sollten diese Diskus- – Ausreichend Redezeit, wie ich meine. – Klimaschutz sion schon mit der nötigen Ernsthaftigkeit führen. wird international entschieden. Klimaschutz funktioniert weltweit nur, wenn das Vorbild Deutschland am Ende National ist es in der Tat so, dass wir zwar sagen Nachahmer findet. könnten, dass wir die Kioto-Ziele erreichen, aber auf der (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE anderen Seite ist es unerfreulich, wenn unsere CO2- Werte steigen. Dann muss man aber auch nüchtern ana- GRÜNEN]: Genau! – Zurufe von der LIN- lysieren, woher das kommt. Das kommt davon, dass wir KEN) aus der Kernenergie aussteigen, Wir werden nur dann Nachahmer finden, wenn wir auf der einen Seite beim Klimaschutz erfolgreich sind, (B) (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) SES 90/DIE GRÜNEN) aber es uns auf der anderen Seite auch gelingt, Wohl- stand und Wachstum in diesem Land zu mehren. Sonst was richtig ist. Auch das könnte man als große Heraus- gibt es keine Nachahmer. forderung hervorheben. Aber Sie antworten auf diese Herausforderung mit einer Beschreibung dessen, was (Beifall bei der CDU/CSU) Sie – typisch grün – nicht wollen, nämlich die Kohle, Ich sage das explizit an die Adresse der Wachstumsskep- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: tiker, der Verzichtseinforderer sowie der Wasserprediger Genau!) und Weintrinker in diesem Haus. Es gibt nämlich eine ganze Menge, die sagen, man müsse gleichzeitig noch ohne auf die Frage zu antworten, wie wir energiepoli- einen Beitrag dazu leisten, dass wir alle ärmer werden tisch an der Stelle weiterkommen, wie wir unsere Ver- und die Arbeitsplätze verschwinden. sorgungssicherheit gewährleisten sollen und wie wir da- für sorgen können, dass wir industriepolitisch diesen (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Umschwung tatsächlich überstehen, und wie wir das GRÜNEN]: So ein Schwachsinn!) Ganze bezahlen sollen. Die Antworten auf all diese Fra- Klimaschutz, der den Industriestandort Deutschland gen geben Sie nicht. gefährdet, kommt für uns nicht infrage. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton (Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: DIE GRÜNEN]) Herr Nüßlein, Sie sind doch von der CSU, oder?) – Da geht es nicht nur um die Arbeitsplätze, Frau Höhn, sondern da geht es insbesondere darum, dass andere uns Nein, Sie sagen, die Situation sei komplex und schwie- auf diesem Weg folgen. Deshalb müssen wir beim inter- rig, und weil die Situation so schwierig und komplex ist, nationalen wie beim nationalen Klimaschutz in Zukunft suchen Sie sich noch eine zusätzliche Schwierigkeit, die Grenzkosten im Blick haben. Was kostet die zusätzli- nämlich die Kohle aus dem Energiemix herauszuneh- che Reduzierung von 1 Tonne CO2, und gibt es nicht bil- men. ligere Alternativen für die Reduzierung? Das ist ganz entscheidend. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt nur einen, der dagegen ist! – Sie haben die Energiepolitik angesprochen. Wir, SPD Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Anton Hofreiter und CDU/CSU gemeinsam, haben im Koalitionsvertrag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) festgeschrieben: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5245

Dr. Georg Nüßlein (A) Die konventionellen Kraftwerke … als Teil des na- Schluss dafür Sorge zu tragen, dass diese Thematik über (C) tionalen Energiemixes sind auf absehbare Zeit un- den Preisdruck an Bedeutung verliert. verzichtbar. Ich finde im Übrigen die in diesem Zusammenhang Wir wollen eben keinem politischen Blütentraum nach- von der Automobilindustrie angestoßene Diskussion hängen, sondern wir sind mit der harten Realität kon- über die Frage, ob es Sinn macht, den Verkehr in das frontiert, bei uns hier im Land tatsächlich dafür Sorge zu Emissionshandelssystem zu integrieren, sehr spannend. tragen, dass zu jeder Sekunde Strom aus der Steckdose Darüber muss man diskutieren. Man muss aber auch kommt. konstatieren, dass die Automobilindustrie diese Debatte anstößt, weil eine solche Integration aus ihrer Sicht das (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: kleinere Übel sein könnte. Denn das, was zusätzlich auf- Och, Herr Nüßlein, das ist ein Argument aus seiten der Europäischen Union droht, führt möglicher- den 70ern!) weise dazu, dass speziell die deutschen Automobilbauer – Nein, das ist kein Argument aus den 70ern. – Wenn in Schwierigkeiten kommen. man aus der Kernenergie aussteigt, wenn man die Erneu- Wir, meine Damen und Herren, produzieren in diesem erbaren ausbaut, und zwar schneller, als Sie sich das je- Land die Premiumautomobile der Welt. Ich möchte ein- mals erträumt haben – denn die Ziele, die Sie einmal for- mal dazusagen: Wir tun das mittlerweile auch sehr stark muliert haben, sind längst weit überschritten –, umweltorientiert, wir tun das mit einer hohen Effizienz, und es entstehen Automobile, die im Vergleich zu früher (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE einen extrem niedrigen Verbrauch haben. Das muss man GRÜNEN]: Dank Ihnen, was?) auch einmal anerkennen. Wir sollten jetzt aufpassen, dann muss man sich vergegenwärtigen, dass wir trotz- dass gerade das, was aus Brüssel unter dem Deckmantel dem die Situation haben, die fluktuierende Einspeisung der Klimapolitik kommt, am Schluss nicht Industriepoli- regenerativer Energien ausgleichen zu müssen. Dazu tik ist, der die Überlegung zugrunde liegt: Wie könnte werden wir Gas und in einem gewissen Umfang auch man das Geschäftsmodell zugunsten des einen oder an- Kohle brauchen. Das ist die Realität, und mit der müssen deren europäischen Automobilherstellers verändern? Sie sich letztendlich abfinden. Das ist entscheidend. Deshalb ist mir persönlich Klima- schutz über den Emissionshandel deutlich lieber als alles (Beifall bei der CDU/CSU) andere, was uns da noch einfällt und was am Schluss den Wettbewerb verändert und die ganze Thematik schwieri- Ich will deutlich machen, dass man sich, wenn man ger macht. die Grenzkosten im Blick haben will, hinsichtlich der (B) Mittel und der Frage, was man tut, verständigen muss. (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Sie haben klare Ziele: Zwang, Vorgaben, Ordnungspoli- tik – das ist das, wofür Sie stehen. Wir wollen die Pro- Das Gleiche gilt für die angekündigte Energieeffi- bleme durch marktwirtschaftliche Anreize lösen. Der eu- zienzoffensive. ropäische Emissionshandel hat immerhin den Vorteil, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass er marktorientiert ist. Nun kann man aus mancherlei NEN]: Wo ist die Ankündigung?) Gründen sagen: Die Zertifikate sind zu billig. Auch hier heißt die Überschrift: Anreiz statt Zwang, (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ja!) Vorrang der Wirtschaftlichkeit. Wir, die Fraktion, für die ich spreche, haben Vorschläge auf den Tisch gelegt. Ich Es kommt darauf an: Wenn man allein auf das Ziel gehe davon aus, dass die Regierung sie aufgreifen wird. schaut, dann entscheidet das Cap, die Mengenbegren- Diese Vorschläge reichen von der Vereinfachung beste- zung. Wenn man allein auf die Einnahmen schaut, dann hender Förderprogramme über die Förderung von KWK, kommt man vielleicht zu dem Ergebnis, dass der Emis- den Abbau von Hemmnissen für Contracting bis hin zur sionshandel dazu nicht geeignet ist. Einnahmen zu erzie- Zusammenführung von Erneuerbare-Energien-Wärme- len, Töpfe zu füllen, das ist nicht die eigentliche Zielset- gesetz und EnEV. zung eines marktwirtschaftlichen, marktorientierten Emissionshandelssystems. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regierung hat davon noch nie Man muss auch noch einmal ganz deutlich unterstrei- was gehört!) chen: Wenn man den Emissionshandel als marktwirt- schaftliches System versteht, dann können wir nicht zu – Sie lesen die Presse nicht, Herr Hofreiter. Das wundert jeder Sekunde in dieses System eingreifen. Wir haben mich. uns entschlossen, das ein Mal zu tun. Im Koalitionsver- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE trag ist ganz klar formuliert: Das ist eine Ausnahme. – GRÜNEN]: Ich glaube nicht, dass Ihr Zeugs in Ich bin sehr kritisch, wenn es darum geht, den Preis der der Presse steht!) Zertifikate zu stabilisieren, gegenüber Ideen, den Markt nicht wirken zu lassen und zu sagen: „Wir schaffen eine Wir haben insbesondere bei der Thematik Gebäude- Marktstabilitätsreserve“, als ob es um Währungen ginge, effizienz den Bereich Neubau im Blick; denn wir den- bei denen die Preisstabilität natürlich einen besonderen ken, dass wir auch da noch einmal die Fragen stellen Stellenwert hat. Darum geht es nicht, sondern es geht da- müssen: Wie kann man den Neubau noch finanzierbar rum, dem CO2-Ausstoß einen Preis zu geben und am halten? Was kann man tatsächlich beispielsweise im Be- 5246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Georg Nüßlein (A) reich der EnEV so gestalten, dass es zu Neubauten Erlauben Sie mir an dieser Stelle, Ihr Kurzzeitge- (C) kommt? Wir werden auch bei dem Thema „Smart Me- dächtnis aufzufrischen. Verbindliche Reduktionsziele hat ter“ dafür sorgen, dass wir alles nutzen, was sich im die SPD in der letzten Legislatur selbst in einen Antrag Kontext der Marktorientierung im Energiebereich anbie- geschrieben. Jetzt frage ich Sie von der SPD: Warum ho- tet, und hier nach vorn kommen. len Sie den Antrag nicht einfach wieder aus der Pro- grammkiste? Aber, meine Damen und Herren, unter dem Strich wird das Entscheidende sein: Was machen wir mit dem (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Gebäudebestand? Da komme ich mir vor wie der alte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Cato mit seinem Ceterum censeo. Wir werden auch noch Oder sitzt da vielleicht der Herr Wirtschaftsminister einmal darüber reden müssen, wie wir über entspre- Gabriel drauf? chende steuerliche Maßnahmen einen Beitrag dazu leis- ten, dass durch Renovierung tatsächlich Klimaschutz im Dieses Zitat will ich Ihnen nicht vorenthalten: Gebäudebereich stattfindet; sonst werden wir das alles Um die Klimaschutzziele zu erreichen, werden wir nicht schaffen. ein verbindliches nationales Klimaschutzgesetz mit In diesem Sinne vielen herzlichen Dank. Zwischenschritten … erarbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Geht doch eigentlich, oder? Das haben Sie Ihren Wähle- neten der SPD – Katrin Göring-Eckardt rinnen und Wählern versprochen – vor einem Jahr im [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwacher Regierungsprogramm, vor der Bundestagswahl. Heute Applaus bei der SPD!) sind Sie an der Regierung. Jetzt frage ich Sie: War das bloß Wahlkampfluft? Also: Tut was!

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Der europäische Emissionshandel – wie im Antrag formuliert, immerhin das zentrale Instrument der EU- Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Eva Klimaschutzpolitik – muss endlich auf die Beine kom- Bulling-Schröter. men. Aber der Praxistest ist eine Katastrophe, die Len- (Beifall bei der LINKEN) kungswirkung absolut schwach. Von Anfang an haben wir gewarnt, es sei blauäugig oder grob fahrlässig, Stahl- und Chemiekonzernen, Bankdirektoren und Börsianern Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): den Klimaschutz zu überlassen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten warnen Bürgerinnen und Bürger, Wis- (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) senschaftler, Umweltpolitikerinnen und -politiker vor Leider haben wir recht behalten; wir haben nicht immer den Folgen des Klimawandels, seit Jahrzehnten trifft gerne recht. Jetzt frage ich Sie: Warum sollte ausgerech- sich die Staatenwelt zu Klimakonferenzen, und seit Jah- net der Markt, der allein dem Gesetz von Wachstum und ren machen sich nach Megaevents wie dem jüngsten Profit folgt, die Erderwärmung aufhalten? Warum? Statt- Ban-Ki-moon-Klimagipfel in New York Enttäuschung dessen haben zehn Firmen wie ThyssenKrupp und und Frustration breit. BASF allein mit überschüssigen Klimazertifikaten bis 2010 über 780 Millionen Euro verdient. Statt CO2 einzu- (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: So sparen, wird der Emissionshandel zum Goldesel für Ak- ist es!) tieninhaber. Die Bilanz für das Klima ist heute weder nachhaltig Verbindliche Reduktionsziele braucht die Wirtschaft; noch wirtschaftlich vernünftig. Die Hälfte aller klima- schließlich sind rund 90 Global Players für zwei Drittel schädlichen Emissionen seit Beginn der Industrialisie- der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. 90 Glo- rung wurde in den letzten 25 Jahren ausgestoßen. Nie bal Players! Wir finden, diese Unternehmen müssen ih- war die CO2-Konzentration in der Atmosphäre so hoch rer Verantwortung endlich gerecht werden. Das müssen wie heute – Tendenz steigend. wir von ihnen einfordern. Auch in Deutschland klafft eine Klimaschutzlücke. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heute befasst sich der Bundestag erneut mit der Forde- Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE rung, das offensichtliche Scheitern der Klimapolitik GRÜNEN]) noch abzuwenden. Die Linke unterstützt natürlich den Antrag der Grünen; das ist für uns keine Frage. Natürlich sind auch die Forderungen nach einem Aus- stieg aus der Kohleverstromung richtig. Dass diese CO2- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Schleudern in Form von Kraftwerken großen Schaden NIS 90/DIE GRÜNEN) anrichten, nicht nur beim Klima, auch am Menschen, ist bekannt. Leider fehlt dem Antrag der Grünen ein kon- Die vielleicht wichtigste Forderung, ein nationales Kli- kretes Ausstiegsdatum. Es wäre sinnvoll gewesen, ein maschutzgesetz mit verbindlichen CO2-Reduktionszie- solches Datum zu benennen. Wir wollen den Kohleaus- len zu schaffen, ist absolut richtig, liebe Kolleginnen und stieg und Strommengenbegrenzungen für Kohlekraft- Kollegen. werke, damit 2040 Kohleschlote Geschichte sind. Ich finde, das ist ein guter Plan. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5247

Eva Bulling-Schröter (A) Die Schweden machen es vor, liebe Kolleginnen und Finanzministerium so stolz ist, ist ökologisch blanker (C) Kollegen. Unsinn. Dass die Schuldenbremse nicht zum Brandbe- schleuniger des Klimawandels werden darf, das müsste Jetzt wird gern mit dem Finger auf die Kohlefans bei doch eigentlich jedem einleuchten, meine Damen und der SPD gezeigt. Das ist auch richtig. Das, was mich är- Herren. gert, ist, in der öffentlichen Wahrnehmung kommt die Union viel zu gut weg. Jetzt noch zum Schluss, Herr Nüßlein, als Vertreter der Kolbenfresserpartei: (Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU]) (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Oh, oh!) Um es hier einmal ganz deutlich zu sagen: Die Bundes- Sie wollen, dass Deutschland Vorbild ist. Es gibt hierfür kanzlerin ist keine Klimakanzlerin, die Union ist eine Alternativen: Energieeffizienz, Kraft-Wärme-Kopp- Partei des Klimawandels. lung. Dazu gab es gestern einen Kongress. Es gibt viele Dinge. Packen Sie es jetzt endlich einmal an, auch das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten mit der Energieeffizienz! Dann wird es auch mit den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kolben besser. Sie will mehr Braun- und Steinkohle – sei es aus Russ- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten land, der Mongolei, dem Bürgerkriegsland Kolumbien – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Und Bran- denburg!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne- oder Teersande aus Kanada. Sie bremst den Ausbau der rin hat Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks das Erneuerbaren, sie verteidigt die fossilen Energieriesen. Wort. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: So (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist es! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Und der CDU/CSU) Brandenburg!) Die Union hat das Klimaschutzversprechen der SPD aus Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- dem Koalitionsvertrag geboxt. Das wart ihr. In Brüssel welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: sperrt sie sich gegen alles, was der Automobilindustrie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schärfere Abgasnormen beschert. Ich habe vor zwei Wochen bei den Vereinten Nationen (B) (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jawohl, gesagt, dass es eine friedliche Welt im 21. Jahrhundert (D) gut!) nur geben kann, wenn die Staaten dieser Erde den Kampf gegen den Klimawandel zügig und entschlossen Da seids’ ihr immer voran. aufnehmen, sofern sie es noch nicht getan haben. Wir Der Kanzlerin hatten wir den alten EU-Energiekom- nehmen vielen Menschen die Chance auf eine friedliche missar Günther Oettinger, einen Klimabremser vor dem Zukunft, wenn wir glauben den Status quo unserer Le- Herrn, zu verdanken. Auch mit dem neuen EU-Kommis- bensweise fortführen zu können. sar für Energie und Klima, Miguel Cañete, der nicht nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im spanischen Ölgeschäft mitmischt, sondern auch noch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des frauenfeindliche Sprüche klopft, hat das Regierungsla- Abg. Andreas Jung [CDU/CSU]) ger kein Problem. Damit habts’ ihr kein Problem. Im Ge- genteil: Der Chef der CDU/CSU-Gruppe in Brüssel, Ich sage nicht zum ersten Mal in diesem Hause: Die Herbert Reul, lobt die Wahl des Öllobbyisten als klug. Wende zu einer Wirtschafts- und Lebensweise, die die Endlich seien Energie und Klima in einer Hand. planetarischen Grenzen der Erde respektiert, ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Also, die Lobby schlägt da ganz schwer zu. Saludos der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Amigos! GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und Sie ist das Fundament für die Zukunft der uns folgenden dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiter- Generationen. Das gilt übrigens nicht nur für das Bun- keit bei Abgeordneten der SPD) desumweltministerium, sondern für uns alle. Und in Berlin kürzt die Union – einmal mit der FDP, Der Klimagipfel in New York war ja erwartungsge- jetzt mit der SPD – bei der nationalen und internationa- mäß kein Beschlussgipfel, aber er hat einen Push im len Klimaschutzfinanzierung. Im Gegenzug entgehen Hinblick auf die vor uns liegenden offiziellen Klimakon- dem Fiskus durch Steuervergünstigungen für Agrodie- ferenzen in Lima und insbesondere in Paris am Ende des sel, kostenfreie CO2-Zertifikate an Unternehmen und In- nächsten Jahres gegeben. Gleichwohl wurde auf dem dustrierabatte bei der Ökostromumlage Milliarden. 2006 Klimagipfel eines erreicht: Es wurde nämlich Staaten lagen umwelt- und klimaschädliche Subventionen noch abverlangt bzw. sie wurden dazu auch gezwungen, Ver- bei 42 Milliarden Euro pro Jahr. Heute sind es 51 Mil- sprechen abzugeben; das bezieht sich insbesondere auf liarden Euro. Die schwarze Null im Haushalt, auf die das die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch auf die 5248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) Volksrepublik China. Deswegen bin ich weiterhin zuver- Staaten, die unserer Hilfe bedürfen, zum Beispiel die (C) sichtlich, dass es uns gelingt, in Paris am Ende des Small Island States, die unsere Freunde sind und die wis- nächsten Jahres die Ziele festzulegen, die wir brauchen, sen, dass sie sich auf uns verlassen können. Und sie kön- damit der Klimawandel tatsächlich nicht weiter fort- nen sich auch auf uns verlassen. schreitet und die Erderwärmung auf maximal 2 Grad im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Verhältnis zur vorindustriellen Zeit beschränkt wird. Das haben wir alle uns vorgenommen, und dieses Ziel ist Ja, es ist so, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wissenschaftlich fundiert; das steht jetzt außer Zweifel. wie vor schaut die Welt auf Deutschland, wenn es darum Es sind vielleicht noch 3 Prozent der Wissenschaftler auf geht, Wohlstand und Wachstum vom Verbrauch fossiler der Erde, die das anders sehen. Es gibt auch noch eine Ressourcen zu entkoppeln. Wir sind das Vorbild, an dem oder zwei Regierungen auf der Welt, die den Klimawan- viele Staaten ihre Klimaschutzpolitik ausrichten. Bei al- del schlankweg negieren. Aber das wird zu überwinden ler Kritik, die es hierzulande gibt: Ein wenig Stolz auf sein. den Weg, den wir in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland zurückgelegt haben, halte ich durchaus für Über 400 000 Bürgerinnen und Bürger waren beim angebracht. Das würde es unseren Bürgerinnen und Bür- People’s Climate March, und es hat weltweit Hunderte ger erleichtern, zu sagen: Ja, wir sind bereit, zum Bei- Veranstaltungen gegeben. Es war in der Tat ein Geist des spiel Zusatzkosten beim Strom zu tragen, weil wir damit Aufbruchs in den Verhandlungen zu spüren. Es gab deut- einen Push für die Entwicklung der Welt geben. Denn liche Bewegungen in den Positionen Chinas und der Ver- wenn die Solarenergie endlich marktfähig ist, sodass sie einigten Staaten. Das Bekenntnis, dass Paris 2015 ein sich auch in den Ländern der Dritten Welt durchsetzt, Erfolg werden soll, wurde von fast allen Staaten abgege- dann ist dies das größte Geschenk, das Deutschland der ben, nicht von allen, aber von fast allen Staaten. Es gab Welt machen kann. auch Zusagen hinsichtlich der Erstauffüllung des Grünen Klimafonds. Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) als erste Regierung schon im Sommer das Signal gege- Und dafür sind wir als Vier-Personen-Familie auch be- ben und gesagt: Wir werden bis zu 750 Millionen Euro reit, im Jahr 70 Euro mehr für Strom zu zahlen. für die Erstauffüllung des Grünen Klimafonds bereitstel- len. Wir können stolz darauf sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird hier zu (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hause manchmal gesagt, wir hätten die Vorreiterrolle NEN]: Ja, wir können stolz darauf sein! Aber beim Klimaschutz verloren. warum machen Sie es denn jetzt mit Ihrer Bundesregierung kaputt? Das ist ganz genau (B) (D) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE die Frage!) GRÜNEN]: Haben wir auch! Das ist die Reali- tät!) Und ich denke, wir sollten endlich auch stolz sein und den Bürgerinnen und Bürgern anhand solcher Beispiele – Ja, das sagen Sie so: „Haben wir auch!“ Ich war beim klarmachen, dass wir positiv voranschreiten, dass es People’s Climate March und hatte Gelegenheit, neben nicht ausschließlich um unsere eigene Stromversorgung Mary Robinson und Gro Harlem Brundtland zu gehen, geht, sondern auch darum, eine saubere und sichere was natürlich, für sich gesehen, schon eine Ehre ist; das Energieversorgung insbesondere für die Menschen in muss man so sagen. Sie hatten Schilder mit ihren Namen den ärmeren Ländern der Welt zur Verfügung zu stellen, – also „Mary Robinson“ und „Gro Harlem Brundtland“ –, was natürlich positive Folgen für die gesamte Welt hätte, und darunter war gedruckt: „says #NowNotTomorrow“, also zum Beispiel auch den Armutsdruck und den also: jetzt handeln, nicht später. Flüchtlingsdruck, mit dem wir sonst auf jeden Fall zu (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) rechnen haben, vermindern würde. Dann konnte auch ich solch ein Schild bekommen, auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem ich meinen Namen „Barbara Hendricks“ und darun- der CDU/CSU) ter „“ eingetragen habe – „says #NowNotTo- Mittlerweile ist es ja so: Der Anteil der erneuerbaren morrow“ konnten die Menschen darunter lesen. Jetzt ha- Energien ist höher als der aller anderen Energieträger. ben die Menschen, die beim People’s Climate March Wir sind Schrittmacher bei der Reduktion der Treibhaus- waren, mich nicht gekannt; aber sie haben das Wort gase. Mit unserer Nationalen und unserer Internationalen „Germany“ gelesen. Das führte dazu, dass unglaublich Klimaschutzinitiative leisten wir einen direkten Beitrag viele Menschen auf mich zukamen und sinngemäß ge- zum Klimaschutz. Der Wandel zu einer nachhaltigen sagt haben: Hey, you are making a great job. Thank you Wirtschafts- und Lebensweise ist eben keine Bürde, son- for that! – Wir werden also in der Welt als diejenigen dern ein Gewinn. Er macht unser Land zukunftsfähig, wahrgenommen, die die Vorreiter sind führt zur Modernisierung unserer Wirtschaft und macht (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE uns unabhängiger von Energieimporten, was natürlich GRÜNEN]: Waren!) schon jetzt für den inländischen Konsum von hoher Be- deutung ist und in Zukunft zunehmend sein wird. Gerade und auf die sich die Menschen verlassen. Das betrifft weil wir international das erste große Industrieland sind, nicht nur die Menschen, die beim People’s Climate das entschlossen auf erneuerbare Energien setzt, dürfen March unterwegs waren, sondern auch die Vertreter der wir in unseren Anstrengungen natürlich nicht nachlas- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5249

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) sen. Deshalb habe ich in New York weitere Maßnahmen (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE (C) auf nationaler und internationaler Ebene in Aussicht ge- GRÜNEN]: Wie denn?) stellt, zum Beispiel die von mir schon erwähnte Auffül- lung des Green Climate Fund. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass in diesem Jahr der CO2-Ausstoß wieder sinken wird. Wir haben im Übrigen beschlossen, jeden Neubau von Kohlekraftwerken kritisch zu überprüfen und in der Es besteht kein Zweifel: Genauso wie sich die Bun- klima- und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit desregierung mit aller Kraft für ein neues internationales keine finanziellen Mittel mehr für den Neubau von Koh- Klimaschutzabkommen einsetzt, wird sie ihre nationalen lekraftwerken zur Verfügung zu stellen. Die Modernisie- Aufgaben erfüllen. Das Bundesministerium für Wirt- rung laufender Kohlekraftwerke werden wir in diesem schaft und Energie arbeitet an einem neuen Strommarkt- Zusammenhang nur noch eingeschränkt und nach klar design. Das Bundesministerium für Umwelt, Natur- definierten Kriterien finanzieren. Auch dies habe ich in schutz, Bau und Reaktorsicherheit arbeitet zusammen New York angekündigt. mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie an der Reform des Emissionshandels, auch auf europäi- Wir haben die Ratifizierung der zweiten Verpflich- scher Ebene. Daneben arbeiten wir an einer Klima- und tungsperiode des Kioto-Protokolls als einer der ersten Energiestrategie 2030 auf europäischer Ebene; auch der Staaten in Angriff genommen, und – auch das durfte ich Treibhausgasausstoß muss natürlich auf europäischer in New York verkünden – wir werden überflüssige, aus Ebene gesenkt werden. Sie wissen aber, dass Politik, ins- dem Kioto-Protokoll resultierende Emissionsrechte besondere auf europäischer Ebene, nicht durch das Be- löschen. In dem Umfang, in dem wir unsere Minde- harren auf Maximalforderungen gelingt, sondern durch rungsverpflichtungen nach EU-Recht bis zum Jahr 2020 kontinuierliche und ausdauernde Überzeugungsarbeit. übererfüllen, werden die nicht benötigten Zertifikate sukzessive gelöscht. Damit verhindern wir, dass zusätz- Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Bundesumwelt- liche Klimaschutzanstrengungen in Deutschland verpuf- ministerin werde ich mich mit aller Kraft dafür einset- fen, weil diese Zertifikate anderswo auf der Welt oder zu zen, dass wir unser Ziel, bis 2020 40 Prozent CO2 weni- einem späteren Zeitpunkt zu zusätzlichem Treibhausgas- ger auszustoßen, auch erreichen. Ich werde deshalb noch ausstoß führen. vor dem Klimagipfel in Lima im Dezember ein Aktions- programm vorstellen. Es heißt auch nicht mehr Sofort- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die logische Konse- programm, sondern Aktionsprogramm quenz aus dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Ener- gien in unserem Land ist ein schrittweise reduzierter An- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- teil an der Kohleverstromung. Wir alle kennen unser NEN) (B) Ziel: Wir wollen den Treibhausgasausstoß bis 2050 um (D) 80 bis 95 Prozent reduzieren, und bis 2050 soll der An- – das tröstet Sie nicht, aber ganz dumm bin ich auch teil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung nicht – und beinhaltet zusätzliche Klimaschutzmaßnah- 80 Prozent betragen. men. Die Bundesregierung zieht hier an einem Strang. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Daneben sollten wir den Blick nicht auf den Energie- NEN]: Ihre Kollegen im Wirtschaftsausschuss sektor verengen. Energetische Sanierung von Gebäuden, haben davon aber noch nichts gehört!) Verkehr und Landwirtschaft: All dies muss mit in das Blickfeld genommen werden. Es liegt doch auf der Hand, dass dies eine weitgehende Abkehr von fossilen Energieträgern bedeutet. Nach der Vorlage eines Aktionsprogramms werden wir im Jahr 2016 einen nationalen Klimaschutzplan be- Ich habe nicht umsonst unsere Ziele noch einmal defi- schließen, der konkrete Reduktionsschritte und Maßnah- niert: Sie richten sich auf das Jahr 2050. Das ist ein Pro- men für die Zeit bis 2050 beinhalten wird. Sie sehen, die zess. Das ist ein Weg dorthin, den wir gemeinsam gehen. Bundesregierung steht zu den beschlossenen Klima- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE schutzzielen und arbeitet an konkreten Schritten in Rich- GRÜNEN]: Dann müssen Sie schon sagen, tung einer weitgehend dekarbonisierten Wirtschafts- und wie!) Lebensweise bis Mitte dieses Jahrhunderts. Insofern ist eine Forderung nach dem Motto „Steigen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns alle wir jetzt aus der Kohle aus!“ einfach unverantwortlich. darüber bewusst sein, dass die ökologische Wende unse- Wir werden aber bis 2050 unsere Ziele erreichen. res Landes unsere gemeinsame Aufgabe ist, die wir den kommenden Generationen schulden und die wir Stück (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für Stück angehen müssen. Dabei müssen wir auch die der CDU/CSU) ökonomischen und sozialen Auswirkungen dieses Pro- zesses im Blick haben. Pragmatische Schritte zu einem Bei einem so komplexen Prozess läuft natürlich nicht festbestimmten Ziel sind deshalb immer besser als große immer alles glatt und nach Plan. Nicht jede Entwicklung Worte. kann vorhergesehen werden. Es ist nicht gut, dass in den vergangenen zwei Jahren der CO2-Ausstoß in Deutsch- Vielen Dank. land wieder gestiegen ist; aber die Bundesregierung hat die Baustellen erkannt und geht sie entschlossen an. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 5250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Bundestages eine Staatssekretärin aus dem Wirtschafts- (C) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annalena ministerium und ein Staatssekretär aus dem Umweltmi- Baerbock das Wort. nisterium auf die Frage: „Ist IPEX auch mit betroffen?“ folgendermaßen: Keine Ahnung, wir wissen es auch Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht. NEN): Herr Schwabe. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Hendricks, bei diesen warmen (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten des Worten wird einem immer ganz kuschelig und warm BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ums Herz. Das Problem ist nur, dass das hier keine Mär- chenstunde ist, sondern dass wir uns im Deutschen Bun- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: destag befinden. Es ist ja nett, dass Sie mir die Arbeit abnehmen wol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len. Aber, Frau Baerbock, das entscheide ich. Trotzdem hat Herr Schwabe jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage. Das Problem ist auch, dass Sie sagen, wie schön es in New York war. Im Europaausschuss mussten wir dann Frank Schwabe (SPD): von Ihrer Chefin hören: Ach ja, es war ganz nett, dass Leonardo DiCaprio dort gesprochen hat. Ein paar Häpp- Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock; Sie sind ja chen gab es auch. – Das ist wirklich zynisch. Das Pro- sehr in Fahrt. – Sie haben von der europäischen Situation blem ist, dass Ihre geplanten Vorhaben eben nicht bis zur gesprochen. Können Sie versuchen, zu beschreiben, wie Chefin vordringen. sie sich zurzeit darstellt? Wo ist eigentlich Deutschland? Sie haben über die 2030-Ziele geredet. Wir könnten den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Emissionshandel hinzunehmen. Es gibt Vorschläge für die 2030-Ziele. Es gibt Vorschläge zur Reform des Sie dringen noch nicht einmal zu Ihrem Kollegen im Emissionshandels. Wenn Sie sich einmal die 28 Länder Wirtschaftsministerium oder zu Ihren Staatssekretären der Europäischen Union ansehen: An welcher Stelle durch. Seit einem Dreivierteljahr fragen wir die Bundes- wäre Ihrer Meinung nach Deutschland: eher bei den pro- regierung, Ihre Staatssekretäre, die Minister: Was sind gressiven Ländern oder bei den Bremserländern? Ihre Ziele, Ihre Maßnahmen für die europäische Energie- und Klimastrategie 2030? Es ist sehr bezeichnend, dass Sie zwar zehn Minuten über die Ziele bis 2050 sprechen, Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass Sie aber über die Ziele bis 2030, die in zwei NEN): (B) Wochen verhandelt werden, kein einziges Wort verloren Ich würde Deutschland im oberen Mittelfeld einord- (D) haben. nen. Ich weiß aber nicht, ob das der eingenommenen Vorreiterrolle gerecht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mein Kollege Hofreiter hatte das Beispiel Dänemark Seit einem Dreivierteljahr bekommen wir auf unsere angesprochen, das ganz klar mit folgendem Ziel in die Fragen immer wieder die Antwort: Im Januar haben wir Verhandlungen hineingeht: Bis 2030 – über dieses Jahr einen Brief geschrieben, dass wir ambitionierte Ziele wird auf dem EU-Gipfel verhandelt, nicht über 2050 – wollen. – Im Januar – das ist wirklich unglaublich! Der wollen wir zu 100 Prozent auf Erneuerbare umstellen. Höhepunkt dieser Sprachlosigkeit war gestern im Um- Ein solcher Vorschlag ist von Deutschland nicht gekom- weltausschuss. Da fragten wir den Staatssekretär, wie die men. Es gibt andere Länder, die deutlich machen: Wenn Bundesregierung politisch – nicht auf Arbeitsebene – zu die Ziele abgeschwächt werden, dann werden wir die- den Vorschlägen des informellen Rates hinsichtlich der sem ambitionslosen Maßnahmenpaket nicht zustimmen. 2030-Ziele steht. Was sagte der Staatssekretär? Dazu Diese Frage haben wir gestern im Umweltausschuss könne er nichts sagen. Dies ist eine wirklich interessante auch dem Staatssekretär gestellt, wie es eigentlich mit Antwort zwei Wochen vor dem wichtigsten Gipfel der einem deutschen Veto aussieht, wenn die im Januar Europäischen Union in diesem Jahr. formulierten deutschen Vorschläge keine Berücksichti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gung fänden. Darauf gab es keine Antwort, weil man Ute Vogt [SPD]: Dann haben Sie vielleicht sich darüber noch keine Gedanken gemacht hat. falsch zugehört!) Ein letzter Punkt. Wir waren mit dem Europaaus- Dann komme ich zur KfW. Sie haben in New York schuss gerade in Prag. Natürlich reden wir mit den ganz groß angekündigt, dass Sie aus der KfW-Auslands- Tschechen und auch mit den Polen. Natürlich wissen finanzierung aussteigen. Ich weiß nicht, ob Sie das nicht wir, dass die nicht begeistert sind, jetzt neue Ziele zu tief durchdrungen haben oder ob Sie diesen Bluff gerne vereinbaren. Aber die Antwort der deutschen Bundes- mitmachen. Wenn Sie sagen, dass Deutschland aus der regierung kann doch nicht sein, sich hinter diesen harten KfW-Finanzierung aussteigt, dann sagen Sie bitte auch, Nüssen – Polen, Tschechien und anderen Ländern – zu dass es aus einem Drittel der Kohlefinanzierung im verstecken. Dies gilt gerade dann, wenn man Vorreiter Ausland aussteigt. Zwei Drittel, nämlich über die IPEX, sein möchte, wie es Herr Nüßlein eben dargestellt hat. sollen so weitergeführt werden wie bisher, bzw. es wird Vielmehr muss man vorangehen. Man muss zudem deut- gesagt, man wisse weiter nichts. Zwei Tage nach New lich machen: Einstimmigkeit ist gar nicht geboten. Wir York antwortete in der Fragestunde des Deutschen können auch über eine qualifizierte Mehrheit gehen. Das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5251

Annalena Baerbock (A) ist auch so ein Märchen, dass gesagt wird, das muss alles Klimaschutz nicht mehr im oberen Drittel, sondern ganz (C) einstimmig sein. weit unten. Das wäre wirklich fatal für Deutschland und für die Welt insgesamt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Wir erwarten, dass Sie Verantwortung übernehmen. Das formulieren wir auch ganz klar in unserem Antrag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Nüßlein, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten, wüssten Sie, was wir von der Bundesregierung, die Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vorreiter sein möchte, in Bezug auf die europäische Der Kollege Pronold erhält das Wort zu einer Kurz- Energie- und Klimastrategie 2030 erwarten. intervention. Wir erwarten jetzt, dass Sie die nächsten zwei Wo- chen nutzen und über die Ziele für 2030 verhandeln. Florian Pronold (SPD): Wenn von dem 40-Prozent-Ziel abgewichen werden soll, Sehr geehrte Frau Baerbock, ich weiß nicht, in wel- dann erwarten wir, dass Sie sagen: Nicht mit Deutsch- chem Ausschuss Sie gestern waren. Ich war offensicht- land! lich in einem anderen. Wir erwarten vor allen Dingen – ich verweise auf das Erste Bemerkung. Sie haben gestern im Ausschuss informelle Ratstreffen –: Wenn das Energieeffizienzziel behauptet, die Bundesregierung würde sich weigern, und das Erneuerbare-Energien-Ziel aufgeweicht und von Ihre gestellten Fragen anschließend in der Fragestunde 30 Prozent auf 27 Prozent gesenkt werden sollen – so zu beantworten. Der Punkt war: Sie waren anschließend wie wir das gerade hören –, wenn die Vorgaben national in der Fragestunde gar nicht da, um die Antworten ent- nicht mehr verbindlich sein sollen, dann hauen Sie auf gegenzunehmen. den Tisch, so wie Sie das bei den CO -Grenzwerten für 2 (Ute Vogt [SPD]: Ui! – Ulrich Petzold [CDU/ Autos getan haben! Es ist doch nicht so, als sei Deutsch- CSU]: Oh! – Annalena Baerbock [BÜND- land irgendein kleines Licht in Europa. Meine Güte, das NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wurde abge- ist wirklich unglaublich! setzt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt ist: Sie haben hier behauptet, ich Ich würde gerne auf das Thema KfW zurückkommen, hätte keine Antwort auf die Frage gegeben, wie sich die da das der Punkt sein wird, den Sie in den nächsten Bundesregierung verhalten werde für den Fall, dass die Monaten immer weiter vor sich hertreiben werden. Sie Klimaverhandlungen scheitern. Ich habe Ihnen als Ant- haben gesagt, Sie diskutieren das noch mit dem wort gegeben, dass wir im Ausschuss über ein informel- (B) (D) Wirtschaftsminister. Diejenigen, denen Klima- und Um- les Vorgespräch berichten und es Ziel der Bundesregie- weltpolitik wirklich wichtig ist – der Rest braucht ja rung ist, die Klimaverhandlungen zum Erfolg zu führen, nicht zuhören –, sollten sich überlegen, was Sie mit der wir aber nicht öffentlich darüber sinnieren, was passiert, KfW-Auslandsfinanzierung im Bereich Kohle eigentlich wenn sie scheitern. Wir sind nämlich ins Gelingen ver- machen wollen. Das Problem ist: Wenn wir zwei Drittel liebt. Wir wollen hier, im Deutschen Bundestag, keine der Vorhaben über IPEX nicht erfassen, dann werden Schaufensterpolitik betreiben, sondern wir wollen den klima- und umweltpolitisch grandiose Vorhaben wie der Klimaschutz voranbringen. Bau eines Kohlehafens im Great Barrier Reef weiter mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deutscher Unterstützung finanziert. Das kann doch nicht der CDU/CSU) Ihre Antwort auf die größte Herausforderung des Jahr- hunderts sein! Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin Baerbock, Sie haben die Möglichkeit sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE zur Erwiderung. LINKE]) Wenn Sie das Ganze so umsetzen, wie es derzeit Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angedacht ist, dann ist die entscheidende Frage, was in- NEN): nerhalb des einen Drittels der internationalen Kohle- Herr Pronold, wir schätzen uns ja sehr. Aber man finanzierung alles erfasst wird. Sie haben eben ausführ- muss den Tatsachen schon ins Auge sehen: lich dargestellt, dass Sie keine Kohlekraftwerke mehr Zum einen zur Sitzung gestern im Umweltausschuss: finanzieren wollen. Dann ist immer noch nicht die Frage Mehrere Mitglieder des Umweltausschusses sind hier; geklärt: Was ist mit der Kohleinfrastruktur? Auf meine sie können gerne nachher Stellung dazu nehmen, wie schriftliche Frage antwortete das Ministerium, nein, Ihre Antwort war. Meine konkrete Frage war: Wie steht Kohleinfrastruktur sei auch nicht mit erfasst, sondern die Bundesregierung politisch – ich habe unterstrichen: nur die Kohlekraftwerke. Kohleminen, wie zum Beispiel politisch und nicht auf Arbeitsebene – zu den Formulie- in Kolubara in Serbien, seien gar nicht erfasst, weil die rungen im derzeitigen Textentwurf hinsichtlich der Förderung in dieser Region nur als Maßnahme zum 2030-Ziele, nach denen das Ganze nicht national, also Schutz der Umwelt diene. „domestic“, geregelt wird, und wie steht sie dazu, dass Wenn Sie sich weiter so verhalten, dann sind wir „at least“ nicht drinsteht? Und ich habe gefragt, wie sie – das kann ich Ihnen garantieren, Herr Schwabe – beim gegebenenfalls zur Absenkung des Erneuerbaren-Ziels 5252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Annalena Baerbock (A) auf 27 Prozent steht. Darauf haben Sie nicht geantwortet. Klimapolitik der Bundesregierung in Zusammenhang zu (C) Mehrere Personen waren Zeugen. bringen. Der zweite Punkt ist das Veto. Natürlich können Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sagen: Wir wollen kein Veto einlegen. – Das wäre eine der CDU/CSU) Antwort gewesen. Meine Frage war: Werden Sie das in den nächsten Wochen machen, ja oder nein? Vor allem will ich eines nicht im Raum stehen lassen, weil ich das für ein gefährliches Spiel halte: Ich meine Die Fragestunde, von der ich gesprochen habe, fand die Tatsache, dass Sie hier die Haushaltskonsolidierung in der letzten Sitzungswoche statt. Es ging um das und die Klimapolitik gegeneinander ausspielen und da- Thema KfW. Sie können sich sicher gut daran erinnern. bei die schwarze Null infrage stellen. Beides gehört zu- Frau Zypries war auch anwesend; wir haben auch Frau sammen, wenn man das Thema Nachhaltigkeit ernst Zypries befragt. Auch in dieser Fragestunde gab es keine nimmt. Bei der Haushaltskonsolidierung geht es darum, Antwort auf die Frage, wie es mit der KfW-Finanzierung dass wir mit der Schuldenmacherei Schluss machen. Wir aussieht. sagen: Wir dürfen künftigen Generationen keine Lasten aufbürden, und wir dürfen ihren Handlungsspielraum Zur gestrigen Fragestunde – in diesem Zusammen- nicht beschneiden. Wir müssen im Sinne der kommen- hang können wir gerne noch eine Runde um die Frage den Generationen handeln und wirtschaften. Das gehört drehen, wie das mit dem Fragerecht im Deutschen Bun- genauso zur Nachhaltigkeit wie Klima-, Umwelt- und destag aussieht, mit dem Recht, die Bundesregierung zu Naturschutz. Das ist die Linie der Bundesregierung und befragen –: Wir hatten eine Reihe von Fragen zur 2030- in besonderer Weise die Linie der Union. Deshalb will Strategie – das ist für uns ein sehr wichtiges Thema – ich das nicht so im Raum stehen lassen. und zum informellen Ratstreffen gestellt. Diese Fragen wurden mit Hinweis auf die Geschäftsordnung abge- (Beifall bei der CDU/CSU – Marie-Luise Dött setzt; denn heute findet ja eine Debatte darüber statt. Wir [CDU/CSU]: Das muss endlich mal gesagt haben dagegen ein Veto eingelegt. Aber die Geschäfts- werden!) ordnung ist so, wie sie ist. Die Bundesregierung möchte das derzeit ja nicht ändern; wir diskutieren das ja gerade Ich will an das anknüpfen, was die Bundesumweltmi- mit Ihnen. Wäre es anders, hätten wir Gelegenheit ge- nisterin dargestellt hat: Deutschland hat in der Klima- habt, uns ausführlich darüber auszutauschen. In diesem politik international immer eine aktive Rolle gespielt, Format heute ist das ja leider nicht möglich. Wir haben und diese Rolle nehmen wir weiter wahr. Wir alle spüren gestern fast zehn Fragen zu diesem Thema eingereicht, auf den internationalen Konferenzen, dass man auf uns die leider alle nicht behandelt wurden. setzt, dass man auf unsere Vorreiterrolle setzt. Es gilt in der Tat, daran anzuknüpfen. Es stehen wichtige Ent- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheidungen, wichtige Schritte bevor. Da ist zum Bei- und bei der LINKEN) spiel der Europäische Rat im Oktober dieses Jahres. Auf diesem geht es darum, ehrgeizige Ziele im Rahmen der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Zieltrias zu formulieren, insbesondere ein ambitioniertes Als nächster Redner in der Debatte hat der Kollege Reduktionsziel zu definieren und dann in die internatio- Andreas Jung das Wort. nale Debatte einzubringen, um zu zeigen: Wir in Europa gehen auf dem Weg weiter, den wir bisher beschritten (Beifall bei der CDU/CSU) haben, und wir wollen andere mitnehmen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich an die Das ist die Politik der Bundesregierung, und es ist Redezeit zu halten. Ich war bisher sehr großzügig; aber speziell auch die Politik der Kanzlerin, die in diesem wir müssen wirklich ein bisschen in der Redezeit blei- Jahr angekündigt hat, dass sich Deutschland mit ben. – Herr Kollege Jung, ich gehe davon aus, Sie wer- 750 Millionen Euro am Green Climate Fund, also an den sie einhalten. Das werden Sie schaffen. Die Kolle- dem Fonds, mit dem Klimaschutz in Entwicklungslän- gen, die danach sprechen, halten sich bitte auch an die dern vorangebracht werden soll, beteiligt. Wir vertrauen Redezeit. und setzen darauf, dass die Bundesregierung die G-7- Präsidentschaft nutzt, um Klimaschutz vor dem wichti- Andreas Jung (CDU/CSU): gen Gipfel im Jahre 2015 in Paris zum Thema zu ma- Frau Präsidentin, ich setze auf Ihre fortgesetzte Groß- chen. Wir erinnern uns: Es war die Bundeskanzlerin, die zügigkeit. im Rahmen der G 7 im Jahr 2007 in Heiligendamm Kli- maschutz in den Mittelpunkt des internationalen Interes- (Heiterkeit) ses und der internationalen Aufmerksamkeit gerückt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte Daran wird jetzt angeknüpft. Auf diesem Weg unterstüt- war einiges an Polemik im Spiel. zen wir die Bundesregierung, die Umweltministerin und unsere Bundeskanzlerin. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Leidenschaft, nicht Polemik!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich kann und will nicht auf alles eingehen; aber, Frau Bulling-Schröter, eines will ich doch sagen: Es gehört Natürlich hängt unsere Glaubwürdigkeit in diesem ein gerüttelt Maß an Fantasie dazu, um umstrittene Äu- Prozess davon ab, dass unsere CO2-Emissionen sinken ßerungen von designierten EU-Kommissaren mit der und nicht steigen; das ist völlig unbestritten. Deshalb un- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5253

Andreas Jung (A) terstützen wir auch die Aktivitäten für ein Aktionspro- Ich bin der Meinung, dass eines wieder auf die Tages- (C) gramm Klimaschutz. Wir haben in den letzten Jahren bei ordnung muss: die steuerliche Förderung energetischer unserem Vorhaben, Treibhausgasemissionen zu reduzie- Sanierung, die steuerliche Förderung der Gebäudesanie- ren, viel erreicht. Jetzt müssen wir schauen, dass sich rung. Denn viele von uns glauben, dass dies ein beson- keine Lücke auftut zwischen unseren Zielen und dem, ders guter Anreiz ist, um hier voranzukommen. was wir erreichen. Daran hängt unser Gewicht auch auf der internationalen Ebene. Deshalb muss jetzt noch mehr (Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] passieren; es muss noch etwas in die Waagschale. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Hofreiter, ich bitte Sie und Ihre Kolleginnen und Ich finde, dass es richtig ist, zu fragen: Woran genau Kollegen der Grünen, hier mitzuhelfen. Dies haben wir liegt es eigentlich, dass wir im Moment steigende CO - 2 in der letzten Legislaturperiode im Deutschen Bundestag Emissionen haben? Es liegt eben nicht – diesen Eindruck beschlossen. Es wird jedoch von den Ländern blockiert. wollen die Grünen in ihrem Antrag erwecken – an einem Von daher bitte ich Sie, Ihre grünen Kollegen in den Abbremsen des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Das Ländern, den grünen Ministerpräsidenten von Baden- Gegenteil ist richtig: In den ersten neun Monaten dieses Württemberg und die grünen Minister in den Ländern Jahres ist es erstmals so, dass erneuerbare Energien die davon zu überzeugen, mitzumachen, Braunkohle im deutschen Strommix überholt haben. Ökostrom ist Herbstmeister. Darüber können wir uns ge- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meinsam freuen. NEN]: Was ist mit den Sozialdemokraten, mit den Christdemokraten in den Ländern? Die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie blockieren das genauso! Haben Sie einen Vor- der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/ schlag? Wir haben einen Vorschlag einge- DIE GRÜNEN]) bracht!) Zweitens ist es richtig, dass Kohlekraftwerke effi- damit wir hier einen neuen Anlauf unternehmen und ziente Gaskraftwerke aus dem Markt drängen, weil die beim Thema Energieeffizienz endlich vorankommen Zertifikatspreise beim europäischen Emissionshandel können. Die Aufgabenverteilung kann doch nicht sein, ein sehr niedriges Niveau erreicht haben. Ich finde, wir dass die einen laute Forderungen erheben und die ande- sollten unsere gemeinsamen Bemühungen darauf rich- ren es bezahlen. Wenn die Energiewende ein Gemein- ten, dass es innerhalb der EU mehr Druck für Klima- schaftswerk ist, dann müssen alle mitmachen. Das wäre schutz gibt, dass es dort noch vor 2020 eine ehrgeizige richtig und gut. Reform gibt. Ich freue mich, dass die Bundesregierung eine zwischen den zuständigen Ministerien, also dem (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Ministerium für Wirtschaft und Energie sowie dem Um- (D) weltministerium, abgestimmte Position dazu hat und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dass wir in Brüssel darauf drängen und sagen: Da muss Herr Jung, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kolle- jetzt etwas passieren, sonst werden wir als Europäer und gen Kühn von den Grünen zu? auch wir als Deutsche unsere Ziele nicht erreichen kön- nen. Daher lautet die Einladung: Unterstützen Sie uns bei diesem Vorhaben und bei all diesen Gesprächen, die Andreas Jung (CDU/CSU): – Sie haben es berichtet – geführt werden. Gerne. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei dem, was wir jetzt national machen können, ist Danke, Herr Jung, dass Sie die Zwischenfrage zulas- mir wichtig, dass wir – Georg Nüßlein hat es angespro- sen. – Meine Zwischenfrage bezieht sich natürlich auf chen – Klimaschutz und Wirtschaftswachstum nicht ge- die steuerliche Förderung. Wir Grünen sind es, die das geneinander ausspielen, sondern dass wir beides zusam- Thema der steuerlichen Förderung und der steuerlichen menbringen. Nicholas Stern war diese Woche in Berlin. Absetzbarkeit der Kosten der energetischen Sanierung in Wir hatten auch in der Unionsfraktion die Gelegenheit, dieser Legislaturperiode erneut in den Deutschen Bun- ein Gespräch mit ihm zu führen. Seine Botschaft als destag eingebracht haben. Die Große Koalition hat je- ehemaliger Chefökonom der Weltbank und die seiner doch dagegen gestimmt. In Wahrheit ist es doch so, dass Gruppierung lautet in dem neuen Bericht: Es geht. Wir sich diejenigen in der Unionsfraktion, die dafür sind, können beides zusammenbringen. Klimaschutz und nicht gegen Schäuble durchsetzen können und es daher Wirtschaftswachstum bedingen sich gegenseitig und ste- nicht erneut auf die Tagesordnung setzen können. hen nicht im Widerspruch. Eines kann ich Ihnen sagen: Sie brauchen Winfried In diesem Zusammenhang sehen wir einen besonde- Kretschmann nicht katholischer zu machen, als er ist. ren Schlüssel bei der Energieeffizienz. Wir haben uns Winfried Kretschmann und der baden-württembergische vorgenommen – Stichwort „Nationaler Energieeffizienz- Umweltminister Franz Untersteller setzen sich vehement Aktionsplan“ –, mehr Strom einzusparen und mit Strom für die steuerliche Absetzbarkeit bei der energetischen effizienter umzugehen. Das ist gut für die Umwelt, und Sanierung ein. Das Land Baden-Württemberg ist ein es ist wirtschaftlich. Deshalb ist es richtig, dass wir da Vorreiterland. Wir beide kommen aus Baden-Württem- mehr tun. berg und wissen, wie groß die Herausforderung in der 5254 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Christian Kühn (Tübingen) (A) Wärmetechnologie ist. Ich erwarte da ganz klar, dass Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) diese Bundesregierung mehr macht. Wollen Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Deswegen frage ich Sie: Wie wollen Sie die Forde- Paus von den Grünen zulassen? rung, die Sie gerade erhoben haben, hier in den parla- mentarischen Betrieb einbringen? Andreas Jung (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das trägt ja nicht zuletzt zur Verlängerung meiner Re- dezeit bei; deshalb gerne. Andreas Jung (CDU/CSU): Bleiben wir doch bei den Fakten. Die Fakten sind, Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass die steuerliche Förderung der energetischen Sanie- Herr Jung, da Sie und ich wissen, dass die steuerliche rung nicht an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Förderung der energetischen Gebäudesanierung nicht an gescheitert ist. Der hat sie nämlich mit vorgeschlagen; den Grünen, sondern an der SPD gescheitert ist, und Sie der hat sie mit unterstützt. jetzt mit der SPD eine Große Koalition bilden, frage ich (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie – Sie haben dieses Thema jetzt aufgeworfen –, ob ich NEN]: Machen Sie doch mal einen neuen Vor- Sie richtig verstehe, dass Sie hier heute ankündigen, dass schlag!) es in dieser Legislaturperiode noch einmal einen Gesetz- entwurf von CDU und SPD zur steuerlichen Förderung Wir haben dies hier gemeinsam beschlossen. Wir haben der energetischen Sanierung geben wird. Und könnten es nicht nur diskutiert, wir haben dies hier im Deutschen Sie mir nach Möglichkeit sogar ein Datum – vielleicht Bundestag beschlossen. Am Ende ist es daran geschei- nächstes Jahr – nennen? tert, dass die Länder nicht mitgemacht haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Ganz genau!) Andreas Jung (CDU/CSU): Die Voraussetzung ist doch, dass wir es gemeinsam ma- Ich bedanke mich zunächst einmal für Ihr Zutrauen: chen. Jeder muss dazu eine Schippe beitragen, weil es Sie glauben ja, dass es mir möglich ist, konkrete Vorha- ein Gemeinschaftswerk ist. ben der Bundesregierung anzukündigen. Ich bin jedoch „nur“ ein Abgeordneter einer Regierungsfraktion. Ich zweifele doch nicht an der katholischen Haltung von Herrn Kretschmann, aber ich zweifele an dem Ab- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stimmungsverhalten. Und das Abstimmungsverhalten NEN]: Jetzt werden Sie aber nicht pimpelig! war so, dass die Länder – leider auch mein Land Baden- Den Bundesrat hier kritisieren und dann das! (B) (D) Württemberg – dagegen gestimmt haben. Das ist doch unglaublich!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zweitens. Wenn Sie sagen, dieses Vorhaben sei nicht NEN]: Bayern hat dagegen gestimmt, Sach- an den Grünen gescheitert, sondern an der SPD, dann sen, Niedersachsen, CDU-regiert, auch!) muss ich Ihnen sagen: So genau kenne ich das Innenle- ben der rot-grünen Landesregierungen nicht, dass ich Wenn Sie uns jetzt hier im Deutschen Bundestag mittei- nachvollziehen könnte, an wem dieses Vorhaben im Ein- len, dass Baden-Württemberg seine Haltung geändert hat zelnen gescheitert ist. und Baden-Württemberg beim nächsten Mal, wenn das Ganze zur Abstimmung steht, sagt, man sei nicht nur da- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für, sondern auch dazu bereit, selber etwas dazu beizu- NEN]: In Berlin regiert meines Wissens kein tragen, weil es sehr wichtig sei, dann wird es sicherlich Grüner!) gelingen, dass wir gemeinsam dieses wichtige Vorhaben umsetzen und bei der Energieeffizienz vorankommen. Das war im Übrigen auch gar nicht mein Thema. Ich hatte vorher gesagt: Es ist an den Ländern gescheitert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ute Vogt [SPD]) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie ist das mit Bayern? Herr Jung, Das ist ein wichtiger Punkt, aber nicht der einzige wieso hat Bayern dagegen gestimmt?) Punkt. Das Aktionsprogramm für Energieeffizienz muss weitere Bestandteile haben. Wir müssen deutlich ma- Deshalb sollten wir dazu kommen, zu fragen, wie wir chen, dass das Gebäudesanierungsprogramm verstetigt gemeinsam weiterkommen. wird, dass es vereinfacht wird, dass es gut möglich ist, hierfür Zuschüsse zu bekommen. Ich hatte vorher gesagt: Es geht jetzt gar nicht darum, ein Datum festzulegen, sondern es geht um den Prozess. Ferner müssen wir den Gebäudeenergieausweis noch In dem Moment, in dem die Länder sagen: „Wir sind be- einmal unter die Lupe nehmen und der Frage nachgehen, reit, hier mitzumachen und das Ganze mitzufinanzie- wie wir ihn noch aussagekräftiger machen. Gemeinsam ren“, werden wir – da bin ich sicher – dieses Vorhaben mit einer Beratungsoffensive, auch gemeinsam mit re- gemeinsam beschließen können. gionalen Sanierungsnetzwerken können wir hier etwas in Gang bringen, was am Ende nicht nur der Umwelt und (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dem Klima, sondern auch dem Handwerk und dem Mit- NEN]: Das sagen alle Grünen in den Län- telstand nutzt. dern!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5255

Andreas Jung (A) Wir haben das hier schon beschlossen. Jetzt liegt der Sie haben wieder das Wort „nachhaltig“ benutzt. Wir (C) Ball bei den Ländern. Wenn diese zustimmen, können beide waren lange Jahre im Nachhaltigkeitsbeirat. Da wir das gemeinsam machen. sage ich: Nachhaltigkeit hat drei Komponenten: Ökolo- gie, Ökonomie und Soziales. Es darf nicht nur die Öko- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ute nomie in den Blick genommen werden, sondern man Vogt [SPD]) muss auch über soziale Dinge nachdenken. Wenn wir Mein letzter Punkt richtet sich an uns alle: im Bund, beim Kampf gegen den Klimawandel weiterkommen in den Ländern und in den Kommunen. Wenn wir uns er- wollen, sowohl bei uns in der Bevölkerung als auch in- hoffen, dass private Hausbesitzer und gewerbliche Ge- ternational, müssen wir die soziale Dimension stärker in bäudeeigentümer ihre Gebäude sanieren, dann müssen den Blick nehmen; wir selber mit gutem Beispiel vorangehen. Die Sanie- (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: rungsquote bei öffentlichen Gebäuden ist zu gering und Schuldenmachen ist unsozial!) bleibt hinter den Erwartungen und hinter den Zielen zu- rück. Wir müssen diese Quote mindestens verdoppeln. denn es sind gerade die armen Menschen, die vom Kli- Das ist eine besondere Herausforderung für uns alle: mawandel betroffen sind. Auch bei uns müssen wir die Das, was wir von anderen erwarten, müssen wir auch Menschen, die nicht so viel verdienen, von Maßnahmen selber machen. im Sinne des Klimaschutzes überzeugen. Diese Men- schen sagen: Ich habe dafür kein Geld, das können die (Beifall des Abg. Klaus Mindrup [SPD]) reichen Menschen machen. Die Reichen bekommen noch zusätzlich Geld dafür, und wir sollen immer zah- Deshalb muss dieser Punkt in dem Programm enthalten len. – Genau darum geht es uns von der Linken. sein. Dann bin ich sicher, dass wir für Energieeffizienz etwas erreichen. Dann bin ich sicher, dass wir insgesamt (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. mit dem Aktionsprogramm Klimaschutz vorankommen. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In diesen Bereich gehört auch – das ist angesprochen worden – das Thema Verkehr, nachhaltige Mobilität und Elektromobilität. Nachdem die entsprechenden Modelle Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: auf dem Markt sind, ist das für uns das Signal: Jetzt geht Herr Kollege Jung, Sie haben die Möglichkeit zur Er- es los. Jetzt müssen wir voranschreiten. Wir müssen ge- widerung. rade auch Unternehmen ermuntern und einen Anreiz dazu geben, ihren Fuhrpark umzurüsten. Es gibt also ein Andreas Jung (CDU/CSU): (B) ganzes Paket, das wir zu diskutieren haben. Es muss et- (D) was passieren. Frau Kollegin, Sie sagen: Die Linke ist nicht für maß- lose Verschuldung. – Sie sind also für eine maßvolle Vielen Dank für die Zusammenarbeit. Verschuldung. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wir sind ganz gegen Verschuldung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Was haben Sie denn in Ihrer Regierungszeit bisher gemacht? Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: In Thüringen 16 Milliarden Euro in 24 Jahren Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat die Kolle- in Verantwortung der CDU!) gin Eva Bulling-Schröter zu einer Kurzintervention das Wort. Ich habe große Sorge hinsichtlich Ihrer Interpretation, was eine maßvolle Verschuldung sein könnte. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Unser Signal ist: Gerade aus diesen sozialen Gründen Danke schön, Frau Präsidentin. – Kollege Jung, Sie und gerade aufgrund unserer Verantwortung für die haben die Linke kritisiert und gesagt: Die Einsparungen kommenden Generationen wollen wir Schluss machen im Zusammenhang mit der schwarzen Null können nicht mit Neuverschuldung, und vor allem wollen wir sie eben mit klimarelevanten Maßnahmen verrechnet werden. – nicht gegen die anderen Dimensionen der Nachhaltigkeit Die Linke ist nicht für maßlose Verschuldung, um das ausspielen. Wir wollen nicht soziale, wirtschaftliche und zunächst einmal klarzustellen. ökologische Fragen gegeneinander ausspielen; wir wol- len sie miteinander lösen. Deshalb habe ich gerade nicht (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: gesagt, dass wir wegen der Haushaltskonsolidierung Seit wann das denn nicht?) keine Mittel mehr für Klimaschutz haben. Ich habe viel- mehr gesagt: Das ist eine Frage der Prioritätensetzung. Aber wir könnten doch darüber reden, wie das Geld Wir müssen jetzt, um die Klimaziele zu erreichen, be- im Haushalt verwendet wird. Es darf nicht nur mit der stimmte Maßnahmen anschieben. Über die Finanzierung schwarzen Null begründet werden, dass wichtige Maß- werden wir sicherlich nicht nur nachdenken, sondern nahmen im Klimaschutz nicht finanziert werden. Ich auch eine Schippe drauflegen müssen. Beides ist richtig, habe gesagt: Umwelt- und klimarelevante Subventionen aber beides geht auch zusammen: Haushaltskonsolidie- machen jetzt ein Volumen von fast 51 Milliarden Euro rung und Klimaschutz. aus. Dies ist ein dicker Brocken. Jedoch fließt dieses Geld nicht an ärmere oder bedürftige Menschen. (Beifall bei der CDU/CSU) 5256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Im Zusammenhang mit CETA – das ist das EU-Frei- (C) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heike Hänsel handelsabkommen mit Kanada; zu dem Abkommen mit das Wort. den USA gibt es, wie wir wissen, viele Diskussionen – wurde viel versprochen: Ökologische Standards werden (Beifall bei der LINKEN) nicht gesenkt. Jetzt wird es aber entgegen anderslauten- der Versprechungen möglich sein, dass die klimaschädli- Heike Hänsel (DIE LINKE): chen Teersandöle aus Kanada eingeführt werden können, die 25 Prozent mehr Treibhausgase bei der Förderung er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zeugen als das Erdöl. Herr Jung, ich muss erst einmal auf Sie eingehen. Hier wird immer von Schulden gesprochen. Aber Schulden (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ein bedeuten auch Investitionen. Skandal!) (Beifall bei der LINKEN) Das ist verantwortungslos. Deshalb kann ich es sehr gut verstehen, dass die Bevölkerung gegen CETA und TTIP Es gibt nämlich lebenswichtige, nachhaltige Investitio- mobilisiert, weil sie genau sieht, dass ökologische Stan- nen in eine intelligente Politik, zum Beispiel die Klima- dards gesenkt werden. Das ist die Realität. politik. Wir erleben es in sehr vielen Bereichen, dass wir Dinge, die wir heute nicht finanzieren, später um ein Wir haben am kommenden Samstag, dem 11. Okto- Vielfaches teurer bezahlen müssen. Der Klimaschutz ge- ber, den europaweiten Aktionstag gegen CETA und hört dazu. TTIP. Ich rufe alle auf: Gehen Sie auf die Straße! Das ist ein Beitrag zum Klimaschutz. Nehmen Sie nur das Geld für Klimaanpassungsmaß- nahmen, das wir jetzt weltweit in Milliardenhöhe brau- (Beifall bei der LINKEN) chen. Dieses Geld hätten wir früher viel intelligenter im Klimaschutz einsetzen können. Insofern ist Ihre Politik Jetzt komme ich zu den G-7-Staaten. kurzsichtig. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was alles Hinzu kommt: Sie ist auch sozial ungerecht. Das geht mit dem Klimaschutz zu tun hat!) natürlich an die SPD. Dadurch, dass Sie darauf verzich- tet haben, in der Steuerpolitik eine Umverteilung vorzu- Die G-7-Staaten wollen einen gemeinsamen Flüssiggas- nehmen und die Reichen zu besteuern, sodass sie für so- markt entwickeln. Dabei geht es vor allem auch um das ziale Aufgaben und für den Klimaschutz herangezogen Fracking-Gas aus den USA und Kanada und damit um ganz andere Weichenstellungen. Sie sollten nichts vom (B) werden, fehlt uns jetzt der Spielraum. Das geht zu Ihren (D) Lasten, und das werfen wir Ihnen auch vor. Klimaschutz erzählen, wenn Sie andere Fakten schaffen. (Beifall bei der LINKEN) Nun möchte ich zur internationalen Klimafinanzie- rung kommen. Da könnten Sie internationale Verantwor- Frau Hendricks, Sie haben vom guten Ruf Deutsch- tung zeigen. Wir erleben als Entwicklungspolitiker seit lands in der Welt gesprochen. Ich muss sagen: Sie leben Jahrzehnten, dass das Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels zwar noch von diesem guten Ruf, er wird aber schon – hier geht es um die Frage, wie viel pro Jahr für Ent- lange nicht mehr mit Leben erfüllt. Wer hat denn maß- wicklung ausgegeben wird – in weiter Ferne liegt. Sie geblich zu diesem guten Ruf beigetragen? Das war doch haben gesagt, dass Sie 2050 Ihre Ziele erreichen werden. die Bevölkerung. Die Bevölkerung hat den Atomaus- Aber dazu müssten wir erst einmal nächstes Jahr unser stieg erkämpft, und sie hat sich massiv für eine Energie- Entwicklungsziel erreichen. Davon sind wir meilenweit wende in Deutschland eingesetzt. Aber Sie füllen diese entfernt. Wir erreichen momentan noch nicht einmal Forderung, die aus der Bevölkerung kommt, schon lange 0,4 Prozent. Das kann man nicht anders als als Schande nicht mehr mit Leben. für eines der reichsten Länder der Erde bezeichnen. Hinzu kommt – ich spreche schließlich als Entwick- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lungspolitikerin –, dass die Länder des Südens darauf neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) angewiesen sind, dass Sie Ihrer internationalen Verant- wortung nachkommen. Das ist nämlich das Hauptpro- Nun stellen Sie Geld für den internationalen Klima- blem, dass in erster Linie diese Länder von den Auswir- schutz ein. Die Kanzlerin hat 750 Millionen Euro ange- kungen des Klimawandels betroffen sind – das wissen kündigt. Wenn man sich den Haushalt aber genau an- wir alle – und sie viel stärker darauf angewiesen sind, schaut, dann stellt man fest, dass nicht einmal dass Sie in Klimaschutz investieren und die Klimaziele 20 Millionen für den Green Climate Fund eingestellt verbindlich formulieren und einhalten. sind; das geht nicht. Es ist ein Skandal, dass den großen Ankündigungen keine Taten folgen. Sie basteln an Ihrem (Beifall bei der LINKEN) Ruf auf internationaler Ebene. Aber im Haushalt wird das Geld nicht eingestellt. Vor allem die Verpflichtungs- Aber es geht nicht nur um die Verbindlichkeit der Kli- ermächtigungen für die nächsten Jahre sind minimal. maziele. Wir müssen auch fragen: Was bringen Sie ei- Das ist unverantwortlich, weil man so keine langfristige gentlich jetzt, während wir immer von Klimazielen spre- Planung machen kann. chen, auf den Weg? Zum Beispiel die Handelspolitik läuft diametral entgegen sämtlicher Klimaschutzziele. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5257

Heike Hänsel (A) Hinzu kommt, dass Sie die Gelder für den Klimaschutz Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) mit den Entwicklungsgeldern verrechnen. Die Entwick- Frau Kollegin Vogt, lassen Sie eine Zwischenfrage lungsländer brauchen aber zusätzliches Geld für Klima- der Kollegin Baerbock zu? anpassungsmaßnahmen. Diese Gelder dürfen nicht mit denen für die Entwicklungszusammenarbeit verrechnet Ute Vogt (SPD): werden. Sonst sinkt der Entwicklungsetat sogar. Das leh- Ja. nen wir ab. Das hat nichts mit Klimagerechtigkeit zu tun. Sie verschieben die Gelder, weil Sie es nicht gewagt ha- ben, die Umverteilungsfrage zu stellen, also die Men- Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen, die sehr viel Geld haben, stärker an der Finanzie- NEN): rung des Klimaschutzes zu beteiligen. Das ist das große Vielen Dank. – Frau Vogt, da Sie so explizit auf den Problem. Deshalb verschieben Sie hier. Den Preis dafür UN-Bericht „Better Growth, Better Climate“ und die In- zahlen auch die Länder des Südens. Dagegen werden wir vestitionen, die in den nächsten Jahrzehnten getätigt uns wehren. werden, sowie auf das Volumen der Mittel, die dort um- gelenkt werden könnten, eingegangen sind: Wie stehen (Beifall bei der LINKEN) Sie und Ihre Fraktion zu der Schlussfolgerung dieses Be- richts, dass es einen Ausstieg aus der Subventionierung Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: der fossilen Energieträger geben muss? Setzt sich die Als nächste Rednerin spricht Ute Vogt. SPD-Fraktion innerhalb der Regierung dafür ein, dass unter deutscher G-7-Präsidentschaft der Ausstieg aus der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weltweiten Energiesubventionierung im fossilen Bereich der CDU/CSU) eingeleitet wird und dass sich die G 7 bzw. die G 20 im Rahmen des neuen Klimaabkommens dazu verpflichten, Ute Vogt (SPD): bis 2020 aus der Subventionierung der fossilen Energie- träger auszusteigen? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, wenn schon die Opposi- tion bescheinigt, dass sich Deutschland bei der Klima- Ute Vogt (SPD): politik im oberen Mittelfeld befindet, und wenn wir die Sie haben es vorhin schon zitiert, liebe Kollegin, dass übliche Oppositionskritik, die immer geübt werden die Frau Ministerin bereits die ersten Schritte gemacht muss, unberücksichtigt lassen, dann können wir zu und auch angekündigt hat, dass es keine Neufinanzie- Recht sagen: Wir sind stolz darauf, dass Sie entschlos- rung von Kohleförderung in diesem Bereich geben wird. (B) sene und pragmatische Schritte gehen und merklich vo- Ich denke, das ist der erste Schritt. (D) rankommen, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ein Drittel!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir alle gemeinsam haben den Auftrag, die Förderung der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- fossiler Energien dramatisch weiter zu reduzieren. Wir NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? Bitte nen- arbeiten im Moment auf vielen Baustellen daran. Das nen Sie ein konkretes Beispiel!) gilt nicht zuletzt aktuell auch für die Frage, wie wir die Der aktuelle UN-Bericht, der New Climate Economy Förderung von fossilem Schiefergas durch Fracking ein- Report, mit dem Titel „Better Growth, Better Climate“ schränken können. Sie sehen also, dass wir genau auf zeigt uns für die nächsten 15 Jahre noch einmal tiefgrei- dem Weg sind, uns diesen Schlussfolgerungen zu nä- fende Strukturveränderungen auf. Die Weltwirtschaft hern. wird weiterhin rasant wachsen. Eine halbe Milliarde (Beifall bei der SPD – Oliver Krischer Menschen wird zusätzlich in die Städte ziehen, um dort [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat nach zu leben. Das bedeutet, dass circa 90 Billionen US-Dol- den Subventionen gefragt, dazu haben Sie lar in Städte, Landnutzung, Infrastruktur und Energie- nichts gesagt!) versorgung investiert werden müssen. Entscheidend wird tatsächlich sein – da muss ich den grünen Kollegen Ich denke, dass es am Ende dieses Jahres ein Pro- recht geben –, dass diese Investitionen der Zukunft die gramm geben wird, mit dem wir die längst überfälligen richtige Qualität haben. Der Ausbau der erneuerbaren Maßnahmen zur Effizienzsteigerung angehen werden. Energien zum Beispiel darf nicht nur in Deutschland, Wir alle in diesem Haus sollten uns noch einmal bewusst sondern muss auch in Europa Ziel sein. Das Gleiche gilt werden: Wenn es um Spielräume geht, energetisch etwas für die Finanzierung einer besseren Wärmedämmung im fürs Klima zu tun, dann betrifft das nicht allein die Ener- Gebäudebereich. Bund und Länder sind hier gefragt und giewende bzw. die erneuerbaren Energien, sondern vor sollten noch einmal den Versuch unternehmen, sich zu allem die effiziente Nutzung von Energie. Weiter geht es einigen. Am Ende entscheiden die Höhe und die Rich- dabei um die Frage, wie wir Energie – sowohl in der in- tung der Investitionen über die Entwicklung des Weltkli- dustriellen Produktion als auch im Rahmen der Bauwirt- masystems. Machen wir so weiter wie bisher, ohne eine schaft – einsetzen. Deshalb ist es gut, dass Ministerin qualitative Wende vorzunehmen, dann wird sich das Hendricks hier angekündigt hat, dass sich sowohl das Klima am Ende dieses Jahrhunderts um 4 Grad erwärmt Wirtschaftsministerium als auch das Umweltministe- haben. rium diesem gemeinsamen Klimaziel eng verbunden 5258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Ute Vogt (A) fühlen. Es war in der Vergangenheit nicht immer selbst- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) verständlich, dass das Wirtschaftsministerium hier voll NEN]: Dazu hat Ihre Ministerin nichts ge- mitzieht. Das freut uns als Sozialdemokraten natürlich sagt!) ganz besonders. In diesem Punkt, denke ich, sind wir uns alle einig. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marie- Nur über den richtigen Weg dorthin gibt es unterschied- Luise Dött [CDU/CSU]) liche Vorstellungen. Es ist meiner Meinung nach richtig, Kollege Jung, ich stimme mit Ihnen überein: Es wird dass wir um diesen Weg ringen und darüber diskutieren – darum gehen, dass wir auch im Haushalt des kommen- und das auch einmal zur Kernzeit. den Jahres die richtigen Prioritäten setzen; denn es ist so, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass wir insbesondere für Maßnahmen zur Effizienzstei- gerung ganz praktisch Geld in die Hand nehmen müssen. Klimapolitik durchzusetzen und dafür Unterstützer zu Wir sind gemeinsam stolz auf die „schwarze Null“, wie finden, die auch ganz konkrete Maßnahmen mittragen, Sie es gerne nennen. Trotzdem müssen wir uns aber über- ist nicht einfach, weil wir heute handeln und investieren legen, wie wir Gelder generieren – ob durch zusätzliche müssen, aber die negativen und auch die positiven Fol- Einnahmen oder aus vorhandenen Haushaltsmitteln –, um gen dieser Maßnahmen erst Jahre oder auch Jahrzehnte beim Thema Effizienz nicht nur Ziele zu beschreiben, später spürbar sind. sondern unser selbstgestecktes Ziel auch zu erreichen. Der bereits viel zitierte Bericht der „Globalen Kom- Die Luftverschmutzung in Deutschland verursacht al- mission für Wirtschaft und Klima“ unter Mitwirkung des lein dadurch, dass sie existiert, Kosten in Höhe von etwa ehemaligen Chefökonoms der Weltbank Nicholas Stern 5,8 Prozent des Bruttosozialprodukts. Wenn wir bereit hat uns jetzt aktuell vor Augen geführt: Entscheidend ist, sind, Geld in die Hand zu nehmen, werden wir am Ende wie stark wir in den nächsten 10 bis 15 Jahren in mehr nicht nur unser ehrgeiziges Ziel – 40 Prozent minus bis Energieeffizienz und den Umbau zu klimaschonenderen 2020 – erreichen, sondern wir werden auch Geld sparen; Technologien investieren, und zwar bei uns und in ande- denn die Kosten, die Umweltverschmutzung heute ver- ren Ländern der Welt. Dabei müssen wir besonders da- ursacht, können wir dadurch in Zukunft vermeiden. rauf achten, dass die Entwicklungs- und Schwellenlän- der, die aufstrebend sind und deren Wirtschaft wächst, (Beifall bei der SPD) ihre Wirtschaft von Beginn an mit klimaschonenden Am Ende wird es nicht nur um unsere abstrakten oder Technologien aufbauen. Wir müssen sie zum Beispiel konkreten Ziele gehen, sondern für viele Menschen auf auch durch den Grünen Klimafonds dabei unterstützen. dieser Welt geht es bei diesem Thema schlichtweg ums (B) Überleben. Es gibt weit über 600 Millionen Menschen, Die Wissenschaftler sagen auch ganz klar, dass das (D) die in Küstengebieten – knapp zehn Meter über dem Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist, wenn wir Meeresspiegel oder sogar darunter – ihre Wohnung und jetzt handeln. Dass so etwas gelingen kann, zeigt das ihren Lebensmittelpunkt haben. Diesen Menschen – nicht Beispiel Ozon. Eine solche Zusammenarbeit wie damals nur uns – sind wir jegliche Anstrengung schuldig. Das in den 80er-Jahren bei der Eindämmung des FCKW muss weltweit gelten, um das Klimaziel, welches wir brauchen wir auch jetzt bei der Reduzierung der Treib- uns gesetzt haben, zu erreichen. hausgase, und das muss weltweit gelingen. Ich freue mich, dass wir in der Zielsetzung – jeden- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) falls hier im Haus – einer Meinung sind. Ich denke, es Wir brauchen den großen Wurf. Wir sagen auch: Wir tut diesem Parlament gut, den Streit über die richtigen werden ganz intensiv für diesen großen Wurf auf inter- Instrumente aufzunehmen, damit wir 2020 sagen kön- nationaler Ebene kämpfen und die Bundesregierung da- nen: Ziel erreicht! bei unterstützen. Eines sage ich auch noch einmal ganz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten klar: Natürlich müssen wir Deutsche eine Vorbildfunk- der CDU/CSU) tion und auch eine Vorreiterrolle übernehmen und unsere eigenen Hausaufgaben machen, was wir im Übrigen mit Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dem Klimaaktionsprogramm auch tun. Das wissen Sie Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Anja ganz genau. Aber der Klimawandel ist und bleibt eine - Weisgerber das Wort. weltweite Herausforderung. Es gilt nach wie vor: Al leine in Deutschland können wir das Klima nicht retten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Des- Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): halb machen Sie zur Sicherheit erst einmal gar Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen nichts!) und Kollegen! Zurzeit führen wir fast jede Sitzungswo- che eine Debatte zur Klimapolitik. Als Klimapolitikerin Genau da unterscheidet sich unsere Position von der sage ich: Das ist auch gut so; denn sie ist wichtig. Wir der Grünen. Sie fordern ein Klimaschutzgesetz in befinden uns momentan in einer entscheidenden Phase; Deutschland mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen auf wir sind nämlich auf dem Weg zum europäischen Gipfel nationaler Ebene. Wir bevorzugen, vor allem den euro- zu den Klimazielen und zum internationalen Klimagipfel päischen und internationalen Ansatz zum Erfolg zu füh- in Lima und dann auch in Paris. ren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5259

Dr. Anja Weisgerber (A) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drittens – eine weitere Tat der Kanzlerin und der (C) NEN]: Aber Sie tun nichts dafür!) Bundesregierung –: Deutschland setzt sich in Brüssel ganz klar immer wieder für diese ambitionierten und rea- Wir sind gegen Alleingänge in Deutschland wie zum listischen Klimaziele ein sowie für die bewährte Ziel- Beispiel mit dem von Ihnen vorgeschlagenen nationalen trias. Da sind wir jetzt wirklich in der entscheidenden CSU – – Phase. Wir bewegen uns in diesem Zusammenhang (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- politisch aber auf einem schmalen Grad. Wenn wir die NEN) Forderungen bezüglich der europäischen Klima- und Energieziele zu niedrig ansetzen, ist Europa nicht ambi- – CO -Mindestpreis. Wir sind auch gegen die von Ihnen, 2 tioniert genug, und wir brauchen ein gutes Ergebnis auf Herr Krischer, ständig geforderte CO -Steuer auf natio- 2 europäischer Ebene, damit wir in Lima und Paris mit naler Ebene. dem entsprechenden Rückenwind verhandeln können. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das steht ganz außer Zweifel. NEN]: CSU-Steuer! Sehr gut! Erzählen Sie (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) doch etwas zu Herrn Seehofer! Auch ein schö- nes Thema!) Verlangen wir aber zu viel, dann springen die anderen EU-Staaten ab, und wir fahren mit leeren Händen nach Wir dürfen uns nicht auf die nationale Ebene zurück- Lima. Das kann auch nicht gut sein. Genau in dieser ent- ziehen. Das bringt uns nicht weiter im internationalen scheidenden Phase, wo einiges abgewogen werden Kampf gegen den Klimawandel, sondern das wirft uns muss, wo auch gesprochen werden muss, wo überzeugt zurück und benachteiligt uns im europäischen Wettbe- werden muss, wo die anderen EU-Mitgliedstaaten mit- werb und gefährdet Arbeitsplätze. Genau das können wir gezogen werden müssen – als ehemalige Europaabge- nicht wollen. ordnete weiß ich, wie schwierig das ist –, befinden wir (Beifall bei der CDU/CSU) uns. Wir müssen die Bundesregierung dabei unterstüt- zen, dürfen ihr nicht ständig Knüppel zwischen die Wir setzen auf ehrgeizige Ziele in Deutschland, Europa Beine werfen und sollten nicht pessimistisch sein, wie und der Welt und wollen Anreize im Steuersystem und das bei den Grünen so üblich ist. nicht Ordnungsrecht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deshalb gehe ich zunächst auf die Klimapolitik in Eu- der SPD) ropa und der Welt ein. Die Klimapolitik ist eine politi- sche Priorität unserer Bundeskanzlerin, für die sie sich Im Übrigen muss ich auch sagen: Die Umsetzung des persönlich und politisch engagiert. Vorschlags der Grünen, dem Klima- und Energiepaket (B) (D) 2030 nicht zuzustimmen, sollten die Ziele nicht ambitio- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- niert genug sein, kommt letztendlich einem Genickbruch NEN]: Da kriegen wir aber nichts von mit! – gleich. Deutschland gewinnt in Europa nicht an Glaub- Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- würdigkeit, wenn wir letztendlich das ganze Abkommen NEN]: Das macht sie sehr im Geheimen!) boykottieren und wenn keine europäischen Ziele zu- Da zählen für mich vor allem die Maßnahmen, die die stande kommen. Das können auch Sie nicht wollen. Bundeskanzlerin und die Bundesregierung ergreifen, (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ und nicht irgendwelche Reden, getreu dem Motto: Wir DIE GRÜNEN]: Ziele, die nichts bringen, reden nicht nur, sondern wir handeln. bringen auch nichts!) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zentrales Element der europäischen Klimaschutzpoli- NEN]: Wann? – Dr. Anton Hofreiter [BÜND- tik ist der Emissionshandel. Er ist das richtige Instru- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo?) ment, da er auf den Markt setzt und CO2 reduziert. Zu den Handlungen: Durch einen europäischen und internationalen Rahmen schaffen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen. So kön- Erstens. Bei der laufenden G-7-Präsidentschaft ist der nen Klimaschutz und Wirtschaftswachstum Hand in internationale Klimaschutz dank ein Hand gehen, wie es auch der Stern-Report darlegt. Kernthema. Das kann für den Durchbruch auf internatio- naler Ebene mitentscheidend sein. Das wurde auch Die EU ist der beste Beweis dafür, dass es geht. Ob- schon von der einen oder anderen grünen Politikerin so wohl die Treibhausgasemissionen in der EU seit 1990 gesagt. um 19 Prozent gesunken sind, ist das Bruttoinlandspro- dukt im gleichen Zeitraum um 45 Prozent gestiegen. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) heißt: Steigendes Wirtschaftswachstum und trotzdem Zweitens. Angela Merkel hat 750 Millionen Euro für sinkender CO2-Ausstoß, das geht, auch dank des Emis- den Grünen Klimafonds zugesagt und sich damit an die sionshandels. Es ist erfreulich, dass auch andere Regio- Spitze gesetzt. Damit unterstützen wir Entwicklungs- nen in der Welt, etwa in China, Mexiko, den USA und und Schwellenländer – ich habe es gerade erwähnt; es ist Indien, auf eine Art Emissionshandel setzen und dieses sehr wichtig – auch bei dem Aufbau einer CO2-armen Instrument voranbringen. Der Emissionshandel ist und Wirtschaft. Es ist sehr erfreulich, dass auch andere Län- bleibt das Instrument im Kampf gegen den Klimawan- der jetzt mitmachen, unter anderem Mexiko, und ange- del. Deshalb setzen wir uns auch in Brüssel für eine kündigt haben, ebenfalls in diesen Fonds einzuzahlen. nachhaltige Reform dieses Emissionshandels ein. Ich 5260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Anja Weisgerber (A) sage an dieser Stelle auch ganz klar: Die von der Euro- Das letzte Programm, das wirklich umfassend darge- (C) päischen Kommission vorgeschlagene Marktstabilitäts- legt hat, was getan werden muss, war mit dem Namen reserve ist meiner Meinung nach ein guter Vorschlag, Meseberg verbunden, und das war im Jahr 2007. Deswe- den wir allerdings noch im Detail diskutieren müssen. gen habe ich schon in der Debatte Anfang dieses Jahres darüber geredet, dass wir so etwas wie ein Meseberg II Aber eines möchte ich auch deutlich sagen: Ein Min- brauchen. Noch einmal: Bei den Zielen sind wir uns ei- destpreis für CO -Zertifikate ist meiner Meinung nach 2 nig, aber in der Frage „Wo sind wir bei der Zielerrei- nicht der richtige Schlüssel zu einem funktionierenden chung, und was muss jetzt getan werden, um die Lücke Emissionshandel. Und: Nationale Auflagen zur Einspa- zu schließen?“ ist jahrelang nichts passiert. Jetzt passiert rung von CO , wie sie auch von Ihrer Seite des Öfteren 2 etwas, und das ist mit dem Namen Barbara Hendricks gefordert werden, bringen dem Klimaschutz an dieser verbunden. Stelle nichts. Ich sage Ihnen auch, warum: Erreichen wir unsere Klimaziele durch rein nationale Maßnahmen, be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nötigen wir dafür in Deutschland weniger CO2-Zertifi- der CDU/CSU) kate; denn für jede Tonne CO2, die man in Deutschland zum Beispiel wegen einer Steuer weniger emittiert, wird Ich glaube im Übrigen, dass uns das nicht wieder pas- ein Zertifikat weniger verbraucht. Die Folge ist dann: sieren darf. Deswegen brauchen wir ein Konstrukt, das Die Zertifikatspreise sinken weiter, und Investitionen in wir im nächsten Jahr miteinander diskutieren. Das kann klimafreundliche Technologien lohnen sich noch weni- man dann „Klimaschutzplan mit Gesetzescharakter“, ger. Die Emissionen werden also nur verlagert: von „Gesetz mit Plancharakter“ oder wie auch immer nen- Deutschland nach Polen, nach Italien oder nach Frank- nen; wir brauchen etwas für die Selbstvergewisserung. reich. Dem Klima ist damit unter dem Strich nicht gehol- Es geht gar nicht darum, jedenfalls aus meiner Sicht, bis fen. Ich denke mal, das können auch Sie an dieser Stelle ins Detail vorzuschreiben, wer wo wie was tun muss, nicht wollen. aber wir brauchen einen Mechanismus, der uns zeigt, wo wir bei der Zielerreichung stehen. Sonst werden wir un- Dennoch leisten wir mit dem Aktionsprogramm sere Ziele wieder verfehlen. Klimaschutz jetzt einen wichtigen Beitrag, um auch auf nationaler Ebene die Lücke zu schließen. Ein wichtiges (Beifall bei der SPD) Instrument ist die steuerliche Absetzbarkeit der Kosten Das, was wir jetzt vor uns haben, ist kein Schnell- von Energieeffizienzmaßnahmen. Da sollten wir alle an schuss, Toni Hofreiter, sondern das ist ein Aktionspro- einem Strang ziehen und uns nicht ständig gegenseitig gramm Klimaschutz 2020, über das man natürlich ein den Schwarzen Peter zuspielen. bisschen diskutieren muss, auch innerhalb der Bundesre- (B) Vielen Dank. gierung. Man muss gucken: Wie kann man die Lücke (D) zum 40-Prozent-Ziel schließen? Was wichtig ist, ist noch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) einmal das Signal dieses Hauses: Wir wollen die Lücke zum 40-Prozent-Ziel schließen. – Was wir brauchen, ist, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dass alle daran mitwirken. Das ist eine Kärrnerarbeit, die Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner in den nächsten Monaten geleistet werden muss. Dabei hat Frank Schwabe das Wort. müssen alle Ministerien und alle, die in den Arbeitsgrup- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pen im Bundestag Verantwortung tragen, sagen, wo der CDU/CSU) eigentlich Potenziale zu heben sind, damit man am Ende auf die 40 Prozent kommt. Insofern, glaube ich, braucht Barbara Hendricks die Unterstützung nicht nur der Frank Schwabe (SPD): Koalition, sondern des gesamten Hauses. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube schon jetzt: Barbara Hendricks wird positiv in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Geschichte des deutschen Klimaschutzes eingehen. der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, es gibt ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) langfristiges Programm?) Warum? Weil sie uns ehrlich gemacht hat in der Frage Zum Thema Europapolitik. Ich finde es ja gut, Frau „Wo stehen wir eigentlich?“! Das war zum Teil eine Kollegin Baerbock, dass Sie deutlich gemacht haben, Krückerei in den letzten Jahren. Wir haben Ziele vorge- dass wir aus Ihrer Sicht im oberen Mittelfeld sind. Das geben, die wir alle teilen – das muss man noch einmal ist für eine Oppositionssicht nicht so schlecht. Ich würde deutlich machen: wir alle sind für das Ziel der Reduktion sagen – dies ist eine etwas andere Beschreibung der Ge- um 40 Prozent bis zum Jahr 2020; da gibt es große schichte –: Wir in Deutschland waren einmal absolute Einigkeit –, aber auf dem Weg dahin war gar nicht klar, Spitze; das kann man, glaube ich, nicht bestreiten. Wir wo wir eigentlich stehen. Jetzt haben wir uns ehrlich ge- sind in den letzten Jahren allerdings abgefallen. Wir sind macht. Dafür hat diese Ministerin gesorgt. Das ist schon Bremser gewesen bei der Reform des Emissionshandels. ganz viel wert, weil das nämlich die Grundlage ist, um Wir sind Bremser gewesen auf europäischer Ebene beim darüber zu diskutieren: Was muss jetzt eigentlich getan Thema Energieeffizienz, leider auch beim Thema Teer- werden? sandöle. Auch da haben wir in den letzten Jahren keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten konstruktive Rolle gespielt. Aber das ist aufgelöst wor- der CDU/CSU) den, und auch das ist verbunden mit dem Namen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5261

Frank Schwabe (A) Barbara Hendricks, die in enger Kooperation mit Sigmar national gesehen die erneuerbaren Energien bei den (C) Gabriel handelt. Grenzkosten besser dastehen als viele andere: beispiels- weise Atom und fossile Energieträger. Deswegen glaube Wir haben die Blockadehaltung bei der Reform des ich, dass wir aus ökologischen Gründen, aus volkswirt- Emissionshandels aufgelöst. Wir haben nun Kenntnis schaftlichen Gründen, aber auch aus betriebswirtschaft- darüber, ob wir unser 40-Prozent-Ziel in Deutschland lichen Gründen mittlerweile weltweit eine ganz gute einhalten können. Im Übrigen haben wir auch in einem Entwicklung sehen und wir wirklich einen massiven weiteren Bereich eine Lösung hinbekommen: Beim Ausbau der erneuerbaren Energien bekommen werden. Thema Fracking hatten wir, wenn ich das so nebenbei sagen darf, vier Jahre lang nichts an Gesetzesvorschlä- Das, glaube ich, kann man am Schluss noch einmal gen gesehen. Jetzt haben wir Gesetzesvorschläge, und einvernehmlich sagen: Es gab Gegner in Deutschland, die SPD ist ganz optimistisch, dass diese in den nächsten und es gab Leute, die das vorangetrieben haben Wochen in den Bundestag eingebracht werden können, – Hermann Scheer und andere –, aber schließlich war es damit wir zu einem Fracking-Verbot in Deutschland Deutschland, das es geschafft hat, die erneuerbaren kommen. Energien so zu fördern, dass wir diesen Wechsel welt- weit sehen können. Ich glaube, darauf können wir ge- (Beifall bei der SPD) meinsam stolz sein. Wir sind beim Thema „Ziele für 2030“ – um das noch Glück auf! einmal zu betonen – am progressiven Ende der europäi- schen Debatte. Wir sind bei den Vorschlägen zur Reform (Beifall bei der SPD) des Emissionshandels ebenfalls am progressiven Ende der Debatte. Dazu allerdings will ich schon etwas Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Kritisches sagen, ein bisschen anders als es Frau Als nächster Redner hat der Kollege Oliver Dr. Weisgerber hier deutlich gemacht hat. Wenn wir das Grundmann das Wort. 40-Prozent-Ziel deutschlandweit ernst nehmen – wir (Beifall bei der CDU/CSU) wissen, dass die Hälfte des Anteils an der Reduktion von CO2 aus den Sektoren kommt, für die der Emissionshan- del zuständig ist –, dann müssen wir uns klarmachen, Oliver Grundmann (CDU/CSU): dass wir unser nationales Ziel gar nicht erreichen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- können, wenn der Emissionshandel europäisch nicht nen und Kollegen! Bei der Lektüre dieses Antrags der funktioniert. Deswegen ist völlig klar, dass wir alles tun Grünen hat es mir die letzten Tage fast die Sprache ver- wollen und Vorschläge unterbreiten wollen, damit der schlagen; (B) (D) Emissionshandel funktionsfähig ist, wir kein weiteres (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Umswitchen in Richtung Braunkohle sehen und wir Gas Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE sowie erneuerbare Energien nach vorn bringen. GRÜNEN]: So gut, nicht?) Ich sage aber auch gleichzeitig denen, die versuchen, glücklicherweise habe ich sie zurückgewonnen. eine solche Reform zu verhindern – da gibt es in Deutschland welche, die da unterwegs sind und die auch Wenn man sich die Ausführungen von Ihnen, Herr mit europäischen Partnerländern über Bande spielen –: Hofreiter, im Parlament auch noch einmal zu Gemüte Wenn die Reform nicht gelingen sollte, müssen wir führt, könnte man vermuten, dass hier das Ende der Welt trotzdem eine Antwort darauf finden, wie wir denn ei- kurz bevorsteht. Trotzdem werde ich mir keine Arche gentlich das 40-Prozent-Ziel erreichen wollen; denn wir Noah in den Garten stellen – ich wohne an der Küste. Ich wollen es ja nicht aufgeben. Wenn das dann innerhalb bin nämlich der festen Überzeugung, dass sich die Große kürzester Zeit auf europäischer Ebene nicht gelingt, Koalition den anstehenden Herausforderungen verant- dann brauchen wir ein Nachdenken darüber – das ist in wortungsvoll annimmt. meiner Fraktion, in meiner Partei nicht abgestimmt, aber (Beifall bei der CDU/CSU) ich sage das als Diskussionsanreiz –, wie der Kraftwerks- park aussehen soll, damit wir die Ziele anders erreichen Ein Viertel des deutschen Stroms wird schon heute können. Ein Mittel kann das Aufstellen von Energieeffi- aus erneuerbaren Energien gewonnen. Dabei wird es zienzzielen sein, wie es in den USA diskutiert wird. Das nicht bleiben. Denn bis 2025 soll der Anteil der erneuer- kann aus meiner Sicht aber auch die Einführung von baren Energien auf mindestens 40 Prozent steigen, bis Preisuntergrenzen sein. 2035 sogar auf mindestens 55 Prozent. Meine sehr ge- ehrten Damen und Herren, das sind ehrgeizige Ziele. (Zuruf der Abg. Annalena Baerbock [BÜND- Das hat sich sonst bisher kein anderes Industrieland auf NIS 90/DIE GRÜNEN]) der Welt vorgenommen. Ich will zum Schluss durchaus optimistisch noch (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE einmal einen internationalen Ausblick geben. Herr GRÜNEN]: Quatsch! So ein Quatsch!) Dr. Nüßlein hat in der Debatte gesagt, es kommt am Damit geht Deutschland mutig und entschlossen voran. Ende auf die Grenzkosten für die Kilowattstunde Strom Darauf können wir stolz sein. an. Das Gute ist – das hat Sir Nicholas Stern, der an- scheinend in dieser Woche bei vielen zu Besuch war, Die Grünen wollen ein Scheitern der nationalen Kli- noch einmal deutlich gemacht –, dass mittlerweile inter- mapolitik abwenden und internationale Glaubwürdigkeit 5262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Oliver Grundmann (A) zurückgewinnen. So schreiben sie im Antrag. Ein erster Meine sehr geehrten Damen und Herren, jetzt möchte (C) Schritt, meine sehr geehrten Damen und Herren, wäre ich auf etwas zu sprechen kommen, was viele praxis- darin zu sehen, diesen Antrag hier zurückzuziehen. Das ferne Ökoträumer gar nicht kennen: die Realität. will ich Ihnen auch gern begründen. Die Grünen verfol- gen einen völlig falschen Ansatz. Sie wollen nicht nur (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: eine europäische Klimapolitik, sondern sie wollen auch Oh!) noch eine nationale Regelung oben aufsatteln. Das ist Mein Wahlkreis liegt in der Metropolregion Hamburg, ein typisch grüner Irrweg. zwischen Cuxhaven, Bremen und der Hansestadt Ham- burg. In den letzten 45 Jahren siedelten sich hier zahlrei- (Widerspruch der Abg. Annalena Baerbock che Unternehmen an; es ist eine absolute Boomregion [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) geworden. Dort befinden sich auch zahlreiche energiein- Lassen Sie mich das kurz ausführen. tensive Unternehmen. Eines dieser Unternehmen möchte ich nennen: Dow Chemical, ein Chemiewerk in Nieder- Für Emissionszertifikate existiert ein gemeinsamer sachsen mit rund 1 500 Mitarbeitern. Solch ein Unterneh- Markt in Europa. Wenn nun eine nationale Klimapolitik men ist auf eine langfristige, stabile und wettbewerbsfä- den Ausstieg aus der Kohle vorschreibt, dann sinkt in hige Versorgung mit Strom und Wärme angewiesen. Wir Deutschland die Nachfrage nach entsprechenden Emis- wollen, dass auch Private günstige Strompreise haben. sionszertifikaten. Logischerweise sinkt dann auch der Aber diese Industrien brauchen einfach günstigen Strom. Preis, und das europaweit. Das sind die Mechanismen Sonst gehen Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze unwie- von Angebot und Nachfrage. Ein bisschen Nachhilfe in derbringlich verloren. sozialer Marktwirtschaft würde Ihnen von den Grünen Wir reden hier von wirklich gewaltigen Strommen- sicherlich nicht schaden. gen: Dieses Unternehmen braucht für den laufenden Be- (Beifall bei der CDU/CSU) trieb im Jahr 5 Terawattstunden Strom. Das entspricht 1 Prozent des gesamten Stroms, der in Deutschland ver- Wir von der Union wissen das jedenfalls spätestens seit braucht wird. Anders ausgedrückt: Das entspricht dem Ludwig Erhard. Strombedarf von knapp 1 Million Privathaushalten. Das Werk in Stade ist überhaupt kein Einzelfall. Ich könnte Noch billigere Emissionszertifikate reduzieren den auch noch BASF in Ludwigshafen, die Salzgitter AG in Anreiz, in neue Kraftwerkstechnologien zu investieren. Peine, Aurubis in Hamburg und zahlreiche andere Bei- Praktisch bedeutet das, dass alte Kohlekraftwerke in spiele in Nordrhein-Westfalen, in Bayern, in Hessen, in anderen Ländern Europas mehr Strom noch billiger als Baden-Württemberg und auch in unseren östlichen Bun- (B) bisher produzieren können. Das wäre ein vollkommen desländern nennen. Industrien brauchen Strom. Damit (D) falsches, ja ein verheerendes Signal. Wir in Deutschland sind wir durch die Krise gekommen. Er ist das Lebens- müssten zusätzlich zu unserem bisherigen Beitrag zur elixier unserer Industrie; deswegen sind wir so gut auf- Energiewende – und das ist schon ein Rucksack, den wir gestellt. zu tragen haben – auch noch die Kosten für einen über- eilten Ausstieg aus der Kohle tragen. Andere Länder Unsere Unternehmen brauchen aber nicht nur verläss- hätten hingegen einen Kostenvorteil durch alte Kohle- lich verfügbaren und bezahlbaren Strom, sondern auch kraftwerke. Das wäre vollkommen absurd, denn wir Planungssicherheit, und das auf Dauer. Das Chemiewerk würden so nichts für das Weltklima tun. in meinem Wahlkreis hat seine Zukunft selbst in die Hand genommen: Es hat ein eigenes Konzept für eine Besonders bedenklich ist, dass nationale Alleingänge Energieversorgung entwickelt. Das Genehmigungsver- zu einer umweltpolitischen Spaltung in Europa führen. fahren läuft, auch das Engineering läuft, und es ist zu Je mehr sauberen Strom die einen produzieren, desto hoffen, dass sich dieses Großkraftwerksprojekt realisie- mehr Strom können andere mit veralteten Kraftwerken ren lässt. Die Lösung sieht das Unternehmen in einem generieren. Nationale Alleingänge sind kein Vorteil für kombinierten Gas-, Biomasse- und Steinkohlekraftwerk. das Klima, weil sich Emissionen dadurch nur in andere Seien Sie nicht erschreckt! Aber das ist deren Ansatz. Länder verlagern. Das ist ein typisches Beispiel für poli- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE tisches Gutmenschentum: meistens teurer und zudem GRÜNEN]: Kennen wir schon! Danke!) auch noch wirkungslos, und für sinnvolle Maßnahmen, die wirklich nützlich sind, fehlt dann das Geld. Das Kraftwerk kann einen großen Teil des Wasserstoffs, der dort bei der Produktion anfällt, in Energie umwan- (Beifall bei der CDU/CSU) deln; eventuell kann überschüssige Windenergie in Wasserstoff umgewandelt werden. Das würde dazu füh- Die Union lehnt eine solche reine Symbolpolitik ab. ren, dass das Kraftwerk unter den weltweit saubersten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kohlekraftwerken jenes mit den allerniedrigsten CO2- Emissionen wäre. Wir bekennen uns ohne Wenn und Aber zum Klima- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schutz – aber mit Sachverstand und Augenmaß, ökono- misch und effizient, ohne den Strompreis dabei durch Das ist praktizierter Umweltschutz, meine sehr geehr- blinden Aktionismus in ungeahnte Höhen schnellen zu ten Damen und Herren von den Grünen. Das sind hoch- lassen. moderne Technologien, das schützt das Klima, schafft Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5263

Oliver Grundmann (A) Arbeitsplätze, sichert Industrien in Deutschland und Insofern ist es wichtig, dass diese Bundesregierung an- (C) wäre zudem auch noch ein echter Exportschlager. Das ders als die Vorgängerregierung weiterhin Vorreiter beim wollen wir doch in Deutschland haben. Die Realisierung Klimaschutz sein wird. wäre ein Meilenstein für die Energieerzeugung. Wir brauchen solche innovativen Brückentechnologien. Sie Wir waren mit dem Umweltausschuss gerade in den schließen die Zeitfenster bis zu einer kontinuierlichen, USA und in Kanada und haben uns intensiv mit diesen sicheren Versorgung mit regenerativen Energien. Solche beiden Ländern befasst. Die kanadische Regierung hat in Innovationen und Technologien wollen Sie aber verbie- den vergangenen 15 Jahren ihre Klimaschutzziele immer ten. Das ist typisch für Sie als Vertreter der Gegenpartei. dem tatsächlichen Energieverbrauch angepasst, indem sie sie nämlich immer nach unten korrigiert hat. Das (Beifall bei der CDU/CSU) kann und wird kein Modell für Deutschland sein. Plan- erfüllung durch Plankorrektur darf und wird es mit uns Wer solche Brückentechnologien ablehnt, macht nicht geben. Deutschland von ausländischer Kernenergie abhängig. Wer Brückentechnologien ablehnt, verspielt unsere (Beifall bei der SPD) Chancen auf eine Technologieführerschaft und unsere Exportchancen. Wir werden das nicht zulassen. Wir wer- Wir müssen aber auch die Menschen mitnehmen, und den die gebotenen Maßnahmen für eine erfolgreiche wir brauchen die notwendige Akzeptanz. Von den Kolle- Energiewende mit Bedacht und mit Augenmaß ent- ginnen und Kollegen der Grünen wird ja immer das schlossen auf den Weg bringen. Deshalb lehnen wir Ih- Thema der Gebäudesanierung benannt. In diesem Zu- ren Antrag ab. sammenhang muss man einmal darauf hinweisen, dass es da auch Fehlentwicklungen gibt. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich war in meinem Wahlkreis gerade mit Herrn Dr. Rips vom Deutschen Mieterbund unterwegs. Dort Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: gibt es ein Haus, das saniert werden soll. Anschließend Herr Kollege Grundmann, das war Ihre erste Rede. sollen die Mieter allein für die energetische Sanierung Herzlichen Glückwunsch! im Monat 10 Euro pro Quadratmeter mehr Miete zahlen. (Beifall) Das sind für eine 60-Quadratmeter-Wohnung also 7 200 Euro im Jahr – bei Energiekosten von 1 000 Euro. Als nächster Redner spricht Klaus Mindrup. Da läuft doch etwas aus dem Ruder. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) der CDU/CSU) (D) Klaus Mindrup (SPD): Hintergrund in diesem Fall ist, dass der Vermieter ei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gentlich seine Mieter loswerden will. Er will das Haus in Kollegen! Es ist gut, dass wir heute hier über den Klima- Eigentumswohnungen aufteilen und diese Eigentums- schutz diskutieren. Die Transformation nicht nur unserer wohnungen verkaufen. Aber dieses Beispiel massiver Gesellschaft, sondern aller Gesellschaften weg von kli- Fehlentwicklung zeigt uns, dass es ja gar keine Kontrolle maschädlichen Gasen hin zu einer kohlendioxidfreien gibt, ob kosteneffizient saniert wird. Eine entsprechende Welt ist eine Schlüsselaufgabe für die nächsten Jahr- Regelung fehlt einfach im Bürgerlichen Gesetzbuch. Wir zehnte. Diese Aufgabe müssen wir erfolgreich bewälti- brauchen auch wieder einen Sozialfaktor. gen. Die Atmosphäre kann nicht mehr länger als Depo- nie genutzt werden; das ist eine ganz wichtige Botschaft, (Beifall bei der SPD) die von der heutigen Diskussion ausgehen muss. Wir müssen darüber nachdenken, ob es auch andere Ich gehöre nicht zu denen, die Schreckgespenster an Maßnahmen gibt, als Styropor an die Wände zu packen. die Wand malen, aber man muss sich anschauen, was auf Es gibt die Möglichkeit, richtiges Verhalten zu fördern. dieser Welt passiert. Man muss die wissenschaftlichen Energiearme Geräte, hydraulischer Abgleich – all das Erkenntnisse ernst nehmen. Das hat auch ganz konkrete kostet nicht viel. Andere Beleuchtungsmittel wie die Folgen für unser Land. Ein Freund von mir baut gerade LED-Technik, dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung, wo ein Haus an der Nordseeküste. Normalerweise würde keine Fernwärme ist, Solarthermie, Niedrigtemperatur- man ja den Erdaushub auf eine Deponie bringen. Was heizungen – all das sind Möglichkeiten, die man ange- passiert aber mit dem Erdaushub? Er wird genutzt, um hen muss. Das müssen wir vorantreiben. an unserer Nordseeküste die Deiche zu erhöhen. Wir müssen zukünftig auch viel stärker in Quartieren Wir haben gerade von Frau Hendricks gehört, dass es denken. Es kann sinnvoller sein, auf eine erneuerbare viele Inselstaaten gibt, die durch die Erhöhung des Mee- Nahwärme zu setzen, als Häuser intensiv zu dämmen. resspiegels bedroht sind. Die Menschen dort können da- Das ist etwas, was man fördern muss. Diesbezüglich rauf nicht so reagieren wie wir. Sie können keine Deiche müssen wir an die Gesetze heran, und wir müssen auch bauen. Das heißt, wir müssen anders agieren. Deiche die Förderpolitik ändern. bauen allein ist keine Lösung. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDU/CSU und der LINKEN) NEN]) 5264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Klaus Mindrup (A) Wenn wir hier über steuerliche Förderung reden, was Wir brauchen eine Kopplung zwischen Ordnungsrecht (C) ja schon mehrfach der Fall war, dann muss man auch an und Zertifikaten, so wie wir es im Bereich des Abwas- die Menschen denken, die nichts von einer steuerlichen sers auch gemacht haben. Förderung haben. Wenn man eine steuerliche Förderung vorsieht, muss man sie mit Investitionszuschüssen für (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diejenigen begleiten, die diese Investitionen nicht mit ih- NEN]: Das schlagen wir vor!) ren Gewinnen verrechnen können. Dort gab es Grenzwerte und die Abwasserabgabe. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen aber auch einen Konsens und positive Visionen. Die Innovation City in Bottrop ist ein gutes Wir müssen aber auch schauen, dass wir die Energie- Beispiel dafür. Sie zeigt, wie wir die Industrialisierung wende nicht nur über die Haushalte und die Mieter refi- und die Modernisierung unserer Volkswirtschaft ver- nanzieren. Auch Landwirtschaft, Gewerbe, Verkehr und knüpfen können mit einer Ökologisierung. Die niedrigen Industrie müssen ihren Beitrag leisten. Zinsen, die wir im Augenblick haben, bieten dafür gute Jetzt komme ich zur Akzeptanz hinsichtlich des Um- Chancen. gangs mit Kohle und den erneuerbaren Energien. Liebe Im Augenblick haben wir noch einen Kostenberg bei Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir haben den Erneuerbaren. Eine Photovoltaikanlage, die vor zehn einen Ausbaukorridor von 5 Gigawatt pro Jahr für die Jahren in Betrieb gegangen ist, bekommt 45,7 Cent pro Erneuerbaren beschlossen. Kilowattstunde EEG-Vergütung. In zehn Jahren wird sie sie nicht mehr bekommen. Dann ist sie für 2 bis 4 Cent (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- am Markt. Dann haben wir die Brücke in das Solarzeital- NEN]: Ja!) ter geschafft; dann ist es kostengünstig. Die neueren An- Wer da von einem Ausbremsen spricht, hat Wahrneh- lagen sind sowieso schon billig. mungsprobleme. Ich komme zum Ende. Ich zitiere einen Satz aus dem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Grundsatzprogramm der SPD: Unser Ziel ist ein solares Energiezeitalter. Gott sei Dank haben Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Bundesländern diese Wahrnehmungsprobleme nicht. Dieses Ziel sollten wir alle gemeinsam haben. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Wir haben einen Konsens für den Atomausstieg in Deutschland. Das ist auch gut so. Dafür haben wir einen Ich danke Ihnen. (B) klaren Zeitplan. Wir haben auch einen Konsens darüber, (D) dass wir eine klimafreundliche Energiepolitik wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber das müssen wir geordnet angehen. Sie kennen viel- der CDU/CSU) leicht alle das Bild von dem Autofahrer, der gleichzeitig telefoniert, isst, Auto fährt und ein Buch liest. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als letzter Redner hat der Kollege Petzold das Wort. ( [CDU/CSU]: Das kenne ich nicht! – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist verboten!) Ulrich Petzold (CDU/CSU): Herzlichen Dank! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Das steht als warnendes Beispiel an vielen Autobahnen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolle- Was Sie fordern, nämlich alles gleichzeitig zu machen, ginnen und Kollegen! Schon allein die Tatsache, dass wird genauso in die Hose gehen. Wir als Sozialdemokra- wir heute über einen Antrag sprechen, der vorgestern ten möchten nicht, dass die Energiewende gegen den Abend eine Drucksachennummer bekommen hat, ist ein Baum fährt. Zeichen dafür, mit welch heißer Nadel der Antrag ge- strickt worden ist. Wenn wir die Energiewende vorantreiben und die Er- neuerbaren ausbauen, dann bedeutet das natürlich auch, (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast dass Kraftwerke vom Markt gehen müssen. Das hat Frau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsere An- Hendricks zu Recht gesagt. Ich bin davon überzeugt, träge kommen immer auf die letzte Minute!) dass wir Regeln brauchen, mit denen wir sicherstellen, Wir alle wissen: Die Anhebung des Etappenziels dass nicht die teuren ökologischen Kraftwerke, sondern 2020 bei der CO -Minderung ist und bleibt hochambitio- die Dreckschleudern vom Markt gehen müssen. Ich bin 2 niert. Aber nicht anzuerkennen, dass Deutschland seit fest davon überzeugt, dass wir dafür ein Ordnungsrecht 1990 seinen CO -Ausstoß um über 300 Millionen Ton- benötigen. Ich gehöre nicht zu den Anhängern, die sa- 2 nen reduziert hat, verhöhnt die Anstrengungen aller bis- gen, dass wir das alles über den Emissionshandel schaf- herigen Bundesregierungen und der Menschen in fen können. Wir hätten den Rhein nie sauber bekommen, Deutschland. wenn wir das nur mithilfe von Emissionszertifikaten für Abwässer gemacht hätten. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annalena Welches andere Land hat solch eine mit einer CO2-Min- Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) derung verbundene Last auf sich genommen? Ich denke Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5265

Ulrich Petzold (A) hier an die Belastung der Menschen durch den Wirt- als im Westen – so der Wärmemonitor Deutschland 2013 (C) schaftsumbau in den neuen Bundesländern. des DIW. Danach liegt der Wärmebedarf in Mecklen- burg-Vorpommern bei 112,3 Kilowattstunde pro Qua- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dratmeter Wohnfläche und in Bremen bei 150,3 Kilo- NEN]: Sie haben doch gesagt, wir können wattstunde pro Quadratmeter. Ei, wer trägt denn da in stolz darauf sein!) Bremen politische Verantwortung? Das muss man sich Wenn wir die Bereitschaft der Menschen, Anstren- fragen, bevor man einen solchen Antrag vorlegt. gungen auf sich zu nehmen, nicht anerkennen und im- (Beifall bei der CDU/CSU) mer nur betonen, es sei zu wenig und zu langsam, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass uns bald nie- Allerdings scheint der Weg von Baden-Württemberg mand mehr zuhört. Die bislang erreichte Minderung von mit einem verpflichtenden Einsatz erneuerbarer Ener- etwa 25 Prozent des CO2-Ausstoßes ist kein Pappenstiel. gien bei jeder Sanierung falsch zu sein, da dadurch die Zahl der Heizungssanierungen der Privathaushalte von (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE 70 000 auf 56 000 innerhalb von drei Jahren deutlich zu- GRÜNEN]: Das stimmt!) rückgegangen ist und das Energieeinsparpotenzial neuer Ja, wir haben noch eine gewaltige Wegstrecke vor Heizungen, das bei 40 Prozent liegt, gar nicht mehr ge- uns, wenn wir die noch anstehende Minderung von hoben wird. 15 Prozent, die wir gemeinsam beschlossen haben, be- Auch die CO -Minderung lässt sich nur mit den Men- wältigen wollen. Wir konstatieren aber auch gemeinsam, 2 schen machen und nicht mit Zwang gegen sie. Dialog- dass wir in den Jahren zwischen 2010 und 2013 nicht so und Beteiligungsprozesse, wie vom Bundesministerium vorangekommen sind, wie wir es uns vorgestellt haben. für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ge- Allerdings ist das Jahr 2009 mit seinem dramatischen fordert, sind unabdingbar für zusätzlichen Klimaschutz. Wirtschaftseinbruch kein echter Bezugspunkt. Wir ha- ben inzwischen eine Wirtschaftsleistung erreicht, die (Beifall bei der CDU/CSU) wieder deutlich über der des Jahres 2008 liegt. Im Übrigen ist in diesem Jahr die Stromerzeugung Daran macht sich fest, dass sich das Wirtschafts- aus fossilen Energieträgern nach Zahlen des BDEW im wachstum in Deutschland eindeutig vom CO2-Ausstoß Durchschnitt um über 10 Prozent gefallen, während die abgekoppelt hat. Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien um knapp 10 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig ist der Preis am (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CO2-Spotmarkt zwar immer noch nicht in der Größen- Deutschland ist und bleibt die innovative Werkstatt ordnung, wie wir ihn haben wollen, aber immerhin ist er (B) der Welt, und es verwundert mich, wenn wir bei jedem im Jahresvergleich um 1 Euro je Tonne und damit um (D) importierten Agrarprodukt den Wasserfußabdruck be- 20 Prozent gestiegen. rechnen, aber bei den Exporten diese Berechnung ver- Das im Antrag behauptete Ausbremsen der erneuer- gessen. Jedes Produkt hat auch einen CO2-Fußabdruck, sodass wir mit jedem Produkt, das wir exportieren, sozu- baren Energien im Stromsektor lässt sich mit einigen wenigen Zahlen klar widerlegen: Im Juli 2014 lag der sagen eine Erhöhung der CO2-Emissionsquote importie- ren. Kein vernünftiger Mensch würde aber wohl auf die Anteil des aus erneuerbaren Energiequellen erzeugten Idee kommen, die deutschen Exporte zu reduzieren, um Stroms bei 27,7 Prozent der Bruttostromerzeugung, im unsere Emissionsquote einzuhalten. Juni bei 28,2 Prozent und im Mai bei 29,9 Prozent. Ich finde es absolut richtig, wenn der Aktionsplan der Dass im November die Sonne weniger scheint und im Bundesministerin als eine der ersten Maßnahmen die August der Wind weniger weht, liegt nicht in der Verant- Identifizierung der technisch-wirtschaftlichen Minde- wortung des Bundesministeriums für Umwelt. rungspotenziale bei der Emissionsminderung vorgibt. (Beifall des Abg. Uwe Kekeritz [BÜND- Aktionismus, wie im vorliegenden Antrag, ist Gift für NIS 90/DIE GRÜNEN]) die Akzeptanz der Anstrengungen für eine CO2-Minde- rung. Ich glaube aber nicht, dass die Opposition mit diesem Antrag so viel Wind erzeugt, dass es für die wenigen Ki- (Beifall bei der CDU/CSU) lowattstunden, die uns für die Erzeugung von 30 Prozent Selbstverständlich bestehen noch Minderungspoten- des Stroms aus erneuerbaren Energien noch fehlen, aus- reicht. ziale beim CO2-Ausstoß. Wenn ich daran denke, dass in den letzten Jahren jede Minderung des Stromverbrauchs Danke schön. im industriell-gewerblichen Sektor durch einen Mehr- verbrauch der privaten Haushalte kompensiert wurde, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stelle ich fest: Damit senden wir die falschen Signale aus. Die Haushalte registrieren ihren Mehrverbrauch viel Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: zu spät, nämlich erst zum Jahresende, wenn die dicke Ich schließe die Aussprache. Rechnung kommt. Bevor ich zur Überweisung komme, möchte ich aus Seit 2003 ist der Wärmebedarf je Quadratmeter gegebenem Anlass noch einmal auf unsere Geschäfts- Wohnfläche in der Bundesrepublik um 16 Prozent ge- ordnung verweisen. In der Debatte ist gegenüber der sunken. Er ist im Osten Deutschlands deutlich geringer Bundesregierung der Vorwurf laut geworden, dass auf 5266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Fragen nicht geantwortet werde. Ich will darauf hinwei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) sen, dass in unserer Geschäftsordnung, die von uns allen die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu getragen wird, geregelt wird, dass mündliche Fragen zu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. einem Tagesordnungspunkt der laufenden Sitzungswo- che nicht mündlich beantwortet werden, sondern schrift- Ich eröffne die Aussprache. Ich rufe als ersten Redner lich beantwortet werden und von daher auch nicht aufge- den Bundesminister Gerd Müller auf und gebe ihm das rufen werden. Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall der Abg. [SPD])

Das ist die Regelung, auf die wir uns alle verständigt ha- Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche ben. Ich gebe Ihnen allen das noch einmal zur Kenntnis Zusammenarbeit und Entwicklung: und bitte, sich daran zu erinnern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerhart (Beifall der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ Hauptmann stellte in seinem Klassiker Die Weber das er- DIE GRÜNEN]) bärmliche Leben der schlesischen Leinweber Mitte des 19. Jahrhunderts in Hunger und Not dar: 14 Stunden Ar- Wir kommen jetzt zur Überweisung der Vorlage auf beit täglich, bis zur Erschöpfung, in der Fabrik am Web- Drucksache 18/2744 an die in der Tagesordnung aufge- stuhl, ein Hungerlohn von 10 Silbergroschen, ein Lohn, führten Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden, dass der weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Deshalb die Vorlage an diese Ausschüsse überwiesen wird? – Das musste die ganze Familie – ich sehe junge Leute auf der ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tribüne –, auch Kinder, Frauen und Alte, anpacken, Überstunden machen und bis zur Erschöpfung arbeiten, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: damit ein Überleben möglich war. Diese Zustände der a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Ausbeutung führten damals zum Aufstand, zur Revolu- Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Katrin Albsteiger, tion. Arbeitervereine wurden gegründet, und später weiterer Abgeordneter und der Fraktion der wurden erste Ansätze der heutigen Sozialversicherung CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel entwickelt. Sie können all dies beispielsweise im Textil- Kofler, Axel Schäfer (Bochum), Heinz-Joachim museum Augsburg nachvollziehen, wo das dokumentiert Barchmann, weiterer Abgeordneter und der ist. Fraktion der SPD (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein sehr schönes Museum!) Gute Arbeit weltweit – Verantwortung für (B) Produktion und Handel global gerecht wer- Das ist 150 Jahre her. Diese Zustände sind in (D) den Deutschland und in Europa Gott sei Dank Vergangen- heit. 150 Jahre danach aber – es ist unglaublich, aber Drucksache 18/2739 wahr – werden unsere Kleider leider unter ähnlich schau- Überweisungsvorschlag: derhaften Zuständen in Bangladesch, in Pakistan, in Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und China und in anderen Staaten gefertigt: 15 Cent Stun- Entwicklung (f) denlohn für die Näherin in Bangladesch – auch für die Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Näherin Ihrer T-Shirts, dort oben auf der Tribüne –, Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend NEN]: Das wissen Sie doch gar nicht! Wo Ausschuss für Gesundheit kommt denn Ihr Hemd her?) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Sechstagewoche, kein Urlaub, bei Schwangerschaft Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Kündigung, ein Leben und Arbeiten für Hungerlöhne Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und ohne sozialen Schutz, wie bei uns im 19. Jahrhun- Haushaltsauschuss dert. So haben wir uns die Globalisierung nicht vorge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe stellt. Diese Form der internationalen Arbeitsteilung Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Tom Koenigs, können wir nicht akzeptieren. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NIS 90/DIE GRÜNEN neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Sozial-ökologischen Rahmen für die Aktivitä- GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch ten transnationaler Unternehmen schaffen [DIE LINKE]) und durchsetzen Sie und ich möchten Kleidung tragen, die mit fairen Drucksache 18/2746 Löhnen produziert wurde. Die Jeans, die im deutschen Handel für 9,90 Euro verkauft wird, wird auf dem Rü- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und cken der Näherinnen, die Hungerlöhne erhalten, produ- Entwicklung (f) ziert. Das ist leider Realität. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Das gilt nicht nur für den Textilbereich. Es ist Mit- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe tagszeit. Wenn man jetzt am Kochtopf steht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5267

Bundesminister Dr. Gerd Müller (A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ökologische und soziale Mindeststandards in den Pro- (C) NEN]: Sie stehen mittags am Kochtopf?) duktionsketten. oder zum Mittagessen geht, sollte man daran denken, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass am Anfang einer Produktionskette – das gilt auch für Lebensmittel und Gebrauchsprodukte – immer Men- Verantwortung zeigen wir erst, wenn auch die Nähe- schen stehen. Das sind Familien, Menschen, die von ih- rin in Bangladesch, der Kakaobauer und seine Familie in rer Arbeit leben müssen. Westafrika oder die Baumwollproduzenten in Indien ei- nen Lohn bekommen, von dem sie leben können und Gestern haben mich Kinder gefragt, was wir tun und ihre Kinder zur Schule schicken können. Unsere Politik was wir tun können. Die Tafel Schokolade gibt es bei setzt auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in den globa- uns bereits für 39 Cent. 50 Millionen Menschen auf der len Wertschöpfungsketten. Deshalb setzen wir in der Welt leben vom Anbau von Kakaobohnen, von der Ka- Entwicklungszusammenarbeit bereits jetzt diese Vorga- kaoproduktion. In diesem Bereich herrschen Kinderar- ben in unseren Projekten um, zum Beispiel bei der För- beit und Hungerlöhne von 13 Cent pro Stunde. Die Kin- derung von Sozial- und Umweltstandards in Zulieferer- der müssen arbeiten, damit das gemeinsam erarbeitete firmen in Asien. Das fängt bei der Ausbildung von Geld zum Überleben der Familie reicht. Es reicht dann Arbeitsinspektoren für Textilfabriken in Bangladesch an nicht mehr für den Schulbesuch. Uns würde die Schoko- und reicht bis zum effizienten Wassereinsatz in der lade doch auch schmecken, wenn diesen Kindern und Baumwollproduktion in Afrika. Familien in den Herkunftsländern faire Löhne gezahlt würden und die Schokolade hier statt 39 Cent 41 Cent Ganz besonders interessant ist – schauen Sie sich das kosten würde. einmal im Internet oder direkt vor Ort an – unser Projekt „Cotton made in Africa“. Dieses Projekt zeigt, dass um- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) weltgerecht und nachhaltig produziert werden kann und Familien in Westafrika könnten dann ihre Kinder zur faire Löhne gezahlt werden können, die den Familien Schule schicken, sie impfen lassen und ihnen eine Zu- eine Lebensperspektive bieten, ohne dass die Verbrau- kunft bieten. cher, also Sie, die diese Kleidung „Cotton made in Af- rica“ kaufen, bei diesen Produkten einen merklichen Ich könnte jetzt mit weiteren Produktgruppen weiter- Preisaufschlag zahlen müssen. machen, beispielsweise mit Ihren Handys, die für einen Lohn von 150 bis 200 Euro im Monat produziert wer- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den, damit wir diese Produkte besonders günstig, billig NEN]: Aber „Cotton made in Africa“ hat erwerben können. Ich möchte an dieser Stelle CDU/CSU nichts mit Preisen zu tun!) (B) und SPD für diesen grundlegend wichtigen Antrag und 400 000 Kleinbauern partizipieren an diesem Projekt, (D) diese Debatte danken, aber auch den anderen Fraktionen. vom Baumwollfeld bis zum Bügel. Ich möchte mich an Ich habe die Anträge gelesen und werde auch die neun dieser Stelle bedanken. Ich nenne gerne Dr. Otto und die Punkte der Grünen sowie die Vorschläge der Linken prü- Aid by Trade Foundation, die dieses Projekt nun seit fen und bewerten. Diese Themen müssen in Deutsch- Jahrzehnten umsetzen. land, in Europa, bei der G 7, der WTO und bei den Ver- braucherinnen und Verbrauchern auf die Tagesordnung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In unserem Ministerium beraten wir Regierungen NEN]: Guten Morgen!) beim Aufbau von Krankenversicherungssystemen. Das 19. Jahrhundert ging in eine Revolution über, und die – Ja, Frau Künast, Sie als ehemalige Verbraucherminis- Ansätze der Bismarck’schen Sozialreformen entstan- terin sind auch da. den, als klar war: So kann Leben und Produzieren in (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland, in Europa nicht erfolgen. Genau da setzen NEN]: Ja!) wir an: Wir helfen bei der Einführung von Arbeits- und Brandschutzstandards. Wir klären Arbeiterinnen und Ar- „Geiz ist geil“ ist nicht sexy, sondern naiv und ohne Ver- beiter über ihre Rechte auf. Wir sehen die Vereinigungs- antwortung. freiheit als wichtiges Ziel. Ich habe vorgestern mit dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- DGB über dieses Thema diskutiert. Die Gewerkschaften neten der SPD – Renate Künast [BÜND- sind hier für uns ein wichtiger Partner. NIS 90/DIE GRÜNEN]: War das jetzt ein Zi- Ebenso arbeiten wir natürlich erfolgreich mit der Zi- tat?) vilgesellschaft und den Unternehmen zusammen. Ich Wir brauchen weltweit menschenwürdige Arbeit; denn möchte ein konkretes Beispiel nennen: das von mir an- weit weg ist sehr nah, nämlich im nächsten Einkaufs- gestrebte Textilbündnis. Es ist wahr: Noch nie haben so markt. Wir sehen die Chancen der Globalisierung – das viele Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Zivilgesell- sage ich an unsere Wirtschaftspolitiker gerichtet –, wir schaft und Gewerkschaften an gemeinsamen Standards sehen natürlich, dass Deutschland und Europa davon für soziale und ökologische Nachhaltigkeit in der Tex- profitieren, aber wir sehen auch die Risiken. Wir sagen: tilbranche gearbeitet. Zum ersten Mal haben wir jetzt Wir brauchen faire Rahmenbedingungen für einen glo- eine Übereinkunft, auf umfassende Ansätze für die Ein- balen Markt. Dazu brauchen wir weltweit verbindliche führung existenzsichernder Löhne hinzuarbeiten. Das ist 5268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Bundesminister Dr. Gerd Müller (A) ein großer Schritt. Dieser ist dem Engagement von Wirt- Daher müssen wir natürlich faire Bedingungen bei den (C) schaftsvertretern, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit den zu verdanken. AKP-Staaten, die sogenannten EPAs, vereinbaren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte, diese Anträge, diese Befassung schaffen Mut. Wir, Sie über- Nächsten Donnerstag wollen wir das Textilbündnis nehmen Verantwortung für gute Arbeit, existenzsi- offiziell gründen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, chernde Löhne, nachhaltige Produktion und fairen Han- noch einmal alle Beteiligten, die noch hin und her del. schwanken, die noch darüber nachdenken, was es kostet, die Rechtsabteilungen, die sich damit beschäftigen und Vielen Dank. den Chefs Vorlagen machen, ob mitgemacht werden soll oder nicht, zu einem gemeinsamen Kraftakt aufzurufen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) jetzt dieses Bündnis zum Erfolg zu führen, voranzuge- hen und in Deutschland neue Standards zu setzen. Vizepräsidentin : „Nicht abwarten, mitmachen!“ – so lautet jetzt die De- Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt vise. Niema Movassat das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Die Internationale Arbeitsorganisation ILO ist für uns ein wichtiger Partner. Vor kurzem habe ich mit General- Niema Movassat (DIE LINKE): direktor Ryder ein Kooperationsabkommen geschlossen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Gute Gemeinsam wollen wir in globalen Lieferketten Sozial- Arbeit weltweit – Verantwortung für Produktion und standards durchsetzen. Dazu gehören natürlich auch Ver- Handel global gerecht werden“, so heißt der vorliegende einigungs- und Gewerkschaftsfreiheit sowie existenz- Antrag der Regierungskoalition. Finde ich gut! Das soll- sichernde Löhne. Wir brauchen aber auch international ten Sie aber auch für Arbeit in Deutschland ernst neh- einen Schub. Deutschland allein genügt nicht. Wir kön- men. nen vorangehen, aber die Märkte sind offen. Alle 28 EU- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Staaten haben die acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifi- CDU/CSU: Machen wir doch!) ziert. Ich appelliere an alle Mitgliedstaaten der ILO, dies ebenfalls zu tun. Ganz besonders die USA müssen sich Union und SPD stehen hierzulande für schlechte Ar- dazu verpflichten. beit, Minijobs, Zeitarbeit, die Aufweichung des Kündi- gungsschutzes und sinkende Reallöhne, um nur einige (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Stichworte zu nennen. Sie sollten gute Arbeit auch in (D) Wie kommen wir weiter? Es stellt sich ja die Frage Deutschland ermöglichen, bevor Sie sich als Vorreiter – die Gedanken können viele nachvollziehen, theore- der globalen Arbeitnehmerrechte aufspielen. tisch auch unterstützen –, wie wir konkret werden kön- (Beifall bei der LINKEN) nen. Deshalb sage ich: Die Standards der ILO und inter- national verpflichtende Umweltstandards, die von den Auf internationaler Ebene ist das bekannteste Beispiel Staaten ratifiziert werden, müssen im Rahmen der WTO für die miserablen Arbeitsbedingungen die Textilbran- Grundlage für den weltweiten Handel sein. Wir setzen che. Der Textilwarenmarkt ist der zweitgrößte Konsum- nicht auf Freihandel, sondern auf fairen Handel. Der Ar- gütermarkt Deutschlands. 2013 lag der Umsatz bei tikel von Sascha Raabe hat mir gut gefallen. Ich habe ihn 60 Milliarden Euro. gelesen. Freihandel ist nicht unser Leitmotto, Fairhandel Die Menschen in Bangladesch, Indien oder Pakistan, muss es sein, heißt es darin. die all diese Klamotten produzieren, arbeiten häufig (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) unter folgenden Bedingungen: Die Löhne liegen bei um die 30 bis 50 Euro im Monat. Ein Arbeitstag kann bis zu Auch bei den Freihandelsabkommen mit den USA 16 Stunden haben. Es gibt nur einen freien Tag die und Kanada ist dies das Ziel. TTIP und CETA haben Woche, Urlaub ist nicht vorgesehen. Es gibt keine Ar- globale Auswirkungen und Vorbildcharakter. Diese Ab- beitsverträge, keine Krankenversicherung. Wer sich ge- kommen müssen öffentlich und transparent verhandelt werkschaftlich organisiert, fliegt raus. Arbeiter werden werden. in Fabriken eingeschlossen, in denen es keine Notaus- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gänge gibt und die Fenster vergittert sind. Die Gebäude SES 90/DIE GRÜNEN) sind einsturzgefährdet. Die überall lagernden Stoffballen und Stoffreste in der Luft führen häufig zu Bränden. – Und wir müssen die Auswirkungen der Abkommen auf All das erinnert mich an Sklaverei. Solche Arbeitsbedin- Entwicklungs- und Schwellenländer berücksichtigen. Es gungen können wir nicht akzeptieren. Wir müssen alles wird und darf keine Abkommen zulasten der Entwick- tun, sie zu ändern. lungsländer geben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Handels- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) abkommen über den Nordatlantik müssen auf die Ent- wicklungschancen und die Märkte in Afrika, Asien und Arbeit unter solchen Bedingungen kann manchmal Lateinamerika abgestimmt sein und Rücksicht nehmen. sogar tödlich sein. Beim Einsturz der Textilfabrik Rana Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5269

Niema Movassat (A) Plaza in Bangladesch starben letztes Jahr 1 127 Men- rechts ankündigt. In vielen europäischen Ländern gibt es (C) schen. Wir als Mitglieder des Entwicklungsausschusses das schon. waren in Bangladesch. Wir haben mit den Überlebenden und den Angehörigen der Toten gesprochen. Sie berich- Dass wir eine strafrechtlich wie zivilrechtlich ver- teten uns, dass bis heute nicht alle Konzerne in den Ent- bindliche Unternehmenshaftung brauchen, hat sich jetzt schädigungstopf für die Opfer eingezahlt haben. gerade wieder deutlich gezeigt: Sie, Herr Müller, wollten gemeinsam mit der Textilbranche ein Textilsiegel auf (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist eine den Weg bringen. Dieses Siegel sollte faire Produktions- Schande!) bedingungen garantieren, aber jetzt mussten Sie Ihr Beim Brand der Firma Ali Enterprises in Pakistan vor Scheitern einräumen. Die Bekleidungsindustrie hat Sie zwei Jahren starben 289 Menschen. Diese Firma hat voll auflaufen lassen. zeitweise bis zu 75 Prozent ihrer Produktion im Auftrag (Jürgen Klimke [CDU/CSU]: Ach was!) des deutschen Textildiscounters Kik gefertigt. Bis heute speist Kik die Opfer der Katastrophe mit Almosen ab Anfang des Jahres haben Sie gesagt, dass es im Falle und verweigert eine langfristige Entschädigung. eines Scheiterns gesetzliche Regelungen geben solle. Sie sagten – ich zitiere –: Die größten Profiteure der menschenunwürdigen Ar- beitsbedingungen vor Ort sind die Textilkonzerne. Diese Wir wollen uns mit der deutschen Textilbranche auf drücken sich nach Unfällen regelmäßig vor der Verant- den Weg machen. Dann können wir in einigen Jah- wortung und lassen die Opfer im Stich. Das ist wirklich ren etwas erreichen. erbärmlich; das muss man so sagen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: neten der SPD) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pfeiffer? Wenn sich ein Privatunternehmen entscheiden muss, ob es den eigenen Profit maximiert oder ob es die Men- schenrechte der Arbeiter gewährleistet, wird es sich in Niema Movassat (DIE LINKE): 99 Prozent der Fälle – das zeigt die Praxis seit Jahren – Ja, gerne. für den Profit entscheiden. Das Prinzip heißt Kapitalis- mus. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Weil das so ist, lassen sich soziale Standards auf frei- Bitte schön. williger Basis nicht regeln. In Deutschland ist das für (B) (D) uns selbstverständlich. Hier bei uns haben wir Arbeits- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): rechte, Arbeitsschutz und Umweltauflagen – natürlich Lieber Herr Kollege Movassat, möchten Sie bitte zur gesetzlich geregelt. Wenn es aber um die Geschäftstätig- Kenntnis nehmen, dass es nicht heißt „wir wollten“, son- keit deutscher Konzerne im Ausland geht, verlässt sich dern „wir wollen“ die Einführung eines Textilsiegels, die Bundesregierung auf die Versprechen der Unterneh- und dass nächste Woche die Unterschrift erfolgen soll? men. Dabei wird völlig ignoriert, dass seit 15 Jahren und Insofern werden wir das erst einmal abwarten. Ich bin mehr die Privatwirtschaft immer wieder Absichtserklä- sicher, dass das Vorhaben nicht scheitert, sondern dass rungen abgegeben hat, aber sich im Wesentlichen nichts dieses Siegel eingeführt wird. geändert hat. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf: Geben Sie nicht länger den Interessen der Wirt- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaftslobby Vorrang vor den Rechten Millionen arbei- NEN]: Er hat doch gesagt, dass ein Siegel tender Menschen weltweit. kommt!) (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Wir müssen die Farce der freiwilligen Selbst- Sehr geehrte Kollegin Pfeiffer, der Presse war zu ent- verpflichtungen beenden. Wir brauchen handfeste Ge- nehmen, dass das Textilsiegel so in nächster Zeit nicht setze. Wenn eine deutsche Firma in Pakistan unter skla- kommen wird. Der Minister hat gesagt: Wir wollen uns venartigen Bedingungen produzieren lässt, muss sie auf den Weg machen, damit die Einführung in einigen dafür vor einem deutschen Gericht zur Verantwortung Jahren umgesetzt wird. – Darum geht es: Hinsichtlich gezogen werden können. der Umsetzung werden wir auf die weitere Zukunft ver- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten tröstet. Das ist das, was ich hier kritisiere. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Wer den Profit einstreicht, muss auch für die Produk- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tionsbedingungen haften. Das Problem ist: Wenn man sich mit der Textilindus- In Frankreich berät derzeit das Parlament einen trie auf den Weg machen möchte, dann wird man sich im Gesetzentwurf über Sorgfaltspflichten französischer Kreis drehen. Die Näherinnen in Bangladesch und Co. Firmen bei Geschäftstätigkeiten im Ausland. In diesem lässt man damit im Stich. Wenn man also gute Arbeit Sinne finde ich es gut, dass die Koalition in ihrem durchsetzen will, egal ob in Deutschland oder weltweit, Antrag zumindest die Prüfung eines Unternehmensstraf- dann wird das nur gegen die Interessen der Privatwirt- 5270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Niema Movassat (A) schaft möglich sein. Das ist der einzige Weg, der zum Wir waren in Bangladesch. Man muss die Zahlen im- (C) Ziel führt. mer wieder wiederholen: 1 127 Menschen kamen in Rana Plaza ums Leben. Ich sage dazu: Totschlag mit An- Danke für die Aufmerksamkeit. sage. Dort liegen heute noch Leichen. Es gibt immer noch Unternehmen, auch deutsche Unternehmen, die (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. sich weigern, in den Ausgleichsfonds einzuzahlen. Ich Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- finde, an der Stelle ist das Thema Freiwilligkeit beendet. NEN]) (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: NEN]: Das steht doch nicht in Ihrem Antrag!) Vielen Dank. – Nächster Redner ist Stefan Rebmann, SPD-Fraktion. Da muss die Regierung handeln, und auf diesen Weg be- geben wir uns, Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Um auch das noch einmal zu sagen: Beim 5-Euro- T-Shirt machen die Lohnkosten 1 Prozent aus. Man sieht Stefan Rebmann (SPD): aber auch Anzüge, die schon in Bangladesch mit Preisen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und von 199 oder 299 Euro ausgezeichnet sind. Wer glaubt, Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! die Näherin oder der Näher würde dafür einen Cent mehr Mein Kollege Movassat, aber auch Herr Minister Müller bekommen: weit gefehlt! Auch dort gilt der Mindest- haben es schon angesprochen: Was verstehen wir unter lohn, der jetzt gerade auf 53 Euro im Monat erhöht wor- guter Arbeit? den ist. Die Menschen müssen damit über die Runden kommen. Die Lebenshaltungskosten liegen aber bei Jeder von uns im Plenum, die Menschen, die ihrer Be- 200 Euro im Monat. schäftigung nachgehen, junge Menschen, die sich einen Mir ist wichtig, im Plenum noch einmal deutlich zu Ausbildungsplatz suchen oder in der Ausbildung sind: machen: Es ist in erster Linie Aufgabe der Entwick- Jeder von uns wünscht sich gute Arbeit, unter fairen Be- lungsländer – der Regierungen, Parlamente und Arbeit- dingungen, gut entlohnt. Wir wollen eine Krankenversi- geber vor Ort –, für ordentliche Arbeitsbedingungen zu cherung. Wir wollen eine Arbeitslosenversicherung. Wir sorgen. Das darf aber nicht dazu führen, dass sich haben eine Rentenversicherung. Wir haben Regeln für deutsche und europäische Unternehmen aus der Verant- die Gewerbeaufsicht. Wir haben Brandschutz, der bei wortung stehlen und sagen: Wir machen das alles nur uns so gut funktioniert, dass der eine oder andere Flug- freiwillig. hafen nicht in Betrieb genommen werden kann. (B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (D) All das ist bei uns für viele Menschen quasi eine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Selbstverständlichkeit. Das ist aber keine Selbst- Wir begeben uns mit unserem Antrag auf den richti- verständlichkeit. Das haben Gewerkschaften und die gen Weg. Das ist der erste Antrag, der in diese Richtung Arbeitnehmerbewegung sich über Jahrzehnte hinweg er- geht. Wir haben aber noch eine lange Wegstrecke vor kämpft und auch immer wieder verteidigt. uns, bis wir von guter Arbeit weltweit reden können. Es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gibt sicherlich immer wieder Spezialisten, die es mit der LINKEN) Tricks schaffen, sich nicht an Recht und Gesetz zu hal- ten, die Standards für Arbeitsbedingungen zu unterlau- Wir müssen aber sehen – auch das ist in dieser De- fen und den Mindestlohn nicht zu zahlen. Solche Men- batte schon angesprochen worden –, dass das nicht über- schen sagen sehr oft, sie seien die echten Profis im all so ist. Es wird deutlich, dass wir uns jetzt auf den Business. Ich sage dazu: Die Titanic ist von Profis ge- Weg machen müssen – das gehen wir mit dem Antrag baut worden, die Arche Noah von Laien. Welches Schiff an –, gute Arbeit auch weltweit umzusetzen und uns da- untergegangen ist, wissen wir. Denjenigen, die meinen, für einzusetzen, dass Arbeitnehmerrechte, betriebliche dass sie sich auf dem Rücken anderer Menschen profilie- Rechte, Arbeitssicherheit, Gesundheit und eine soziale ren können, müssen wir klare Kante zeigen. Wir haben Mindestabsicherung auch weltweit umgesetzt werden. in unserem Antrag 18 Punkte diesbezüglich festgeschrie- ben. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Gehen wir vo- Ich war über 25 Jahre hauptamtlicher Gewerkschafts- ran, und schaffen wir eine Welt, in der es überall gute sekretär und weiß: Es gibt viele deutsche Unternehmen, Arbeit gibt! die dieser Verantwortung gerecht werden. Sie werden ihr Allerletzter Satz, Frau Präsidentin. Wir können von auch in ihren internationalen Beziehungen gerecht. Sie den Entwicklungsländern nicht erwarten, demokra- bilden in Entwicklungsländern aus und setzen Standards. tiefreundlich zu sein, sich zu engagieren und einzu- Aber auch das ist in dieser Debatte schon klar geworden: bringen sowie soziale Sicherungssysteme aufzubauen, Es sind leider Gottes nicht alle Unternehmen. Der wenn wir ihnen nicht gleichzeitig die Chance geben, das Kollege Movassat hat das Beispiel Rana Plaza angespro- alles auch umzusetzen. Ein indisches Sprichwort lautet: chen. Wir müssen sehen: Es gibt Unternehmen, auch „Du kannst nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und deutsche Unternehmen, die sich einen Kehricht darum die andere zum Eierlegen auffordern.“ In diesem Sinne scheren, wie die Arbeitsbedingungen sind, wie die lasst uns an die Arbeit gehen für gute Arbeit weltweit. Menschen entlohnt sind und unter welchen Rahmen- bedingungen die Menschen dort arbeiten müssen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5271

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Da habe ich einen Satz gefunden, den ich an Radikali- (C) Vielen Dank. – Das war zwar ein langer letzter Satz. tät kaum überbieten kann: Aber darüber wollen wir heute einmal hinwegsehen. Die Politik ist gefordert, verbindliche Regeln und Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Standards zu setzen und Unternehmen für alle ihre Grünen ist Uwe Kekeritz, dem ich von dieser Stelle aus Produktionsstandorte und entlang vollständiger ganz herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratulieren Wertschöpfungsketten zur Verantwortung zu zie- möchte, genauso wie der Kollegin Dr. Freudenstein, die hen. hier zu meiner rechten Seite sitzt. Herzlichen Glück- wunsch Ihnen beiden! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] – (Beifall) Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Super!) Bitte, Herr Kekeritz. Das ist toll, Herr Minister! Ist das aber nur eine Wort- Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hülse? Wo sind Ihre Aktionen tatsächlich? SPD und Danke schön. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen CDU/CSU legen hier einen Antrag vor, der nur so mit und Kollegen! Herr Kollege Rebmann, wir haben den windelweichen Forderungen gespickt ist. Sie fordern Antrag der Großen Koalition gelesen. Sie schaffen es, in zum Beispiel von der Regierung, „sich weiter für die Ihrem ganzen Antrag nicht einmal das Wort „Verbind- Einhaltung und nationale Umsetzung der international lichkeit“ zu erwähnen. Die Forderung nach guter Arbeit vereinbarten ILO-Konventionen … einzusetzen“. weltweit ist richtig und wichtig. Selbst bei uns wird das (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Thema immer bedeutender. Wenn wir die Situation hier GRÜNEN]: Das ist schon mal was Neues! – vor Ort mit der in den Entwicklungsländern vergleichen, Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch rich- dann wird uns bewusst, dass die Forderung nach guter tig!) Arbeit in den Entwicklungsländern noch sehr viel zen- traler ist. Dabei möchte ich die Situation hier in Deutsch- – Ja, das ist prima. Aber trauen Sie denn Ihrer Regierung land nicht beschönigen. Wir sollten uns aber darüber im nicht? Das ist doch, bitte schön, eine Selbstverständlich- Klaren sein, dass unser Wohlstand zum großen Teil auf keit. Es kann doch nicht sein, dass Sie das in einen An- der Armut der Menschen in den Entwicklungsländern trag schreiben. basiert. Deswegen ist es aus moralischen und ethischen Gründen notwendig, dass wir hier aktiv werden, um die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (B) Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen dort zu Stefan Rebmann [SPD]: Wenn wir es nicht in (D) verbessern. den Antrag reingeschrieben hätten, würden Sie monieren, dass es nicht drinsteht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich nenne noch eine andere Forderung, nämlich die, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass in Han- Sicherlich stimmen wir alle darin überein, dass die delsabkommen verbindliche Sozial- und Umweltstan- Nationalstaaten im Sinne der Eigenverantwortung selbst dards aufgenommen und die Schutzstandards nicht abge- die Pflicht haben, ökologische und soziale Sicherheits- schwächt werden. Ja, trauen Sie dieser Regierung nicht, standards in den Ländern zu etablieren. Allerdings wis- Herr Rebmann? Das kann doch nur der Grund sein, wa- sen wir auch, dass sie momentan überhaupt nicht dazu in rum so eine Forderung da drinsteht. Ich halte das für der Lage sind und dass eine entsprechende Erwartung selbstverständlich. Man muss hier doch nicht so einen völlig unrealistisch ist. Deswegen stellt sich die Frage, fürchterlich windelweichen Antrag einreichen. Damit was wir hier tun können. Es gibt viele Hebel. Ein ganz kommen wir nicht weiter. wesentlicher Hebel ist die Unternehmensverantwortung. Da verwirren mich die Kollegen von der CDU und CSU (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon sehr. Sie scheinen es als ihre Aufgabe anzusehen, die Politik des Ministers nach Kräften zu unterlaufen. Wenn ich von der CDU/CSU-Fraktion – aus diesem Herr Minister Müller, Sie haben hier sehr rührselige Kreis kommt das – höre, dass Sie die Unternehmensver- Reden gehalten; diese kennen wir seit einem Jahr. Nun antwortung sehr hoch schätzen, bin ich auf Ihrer Seite. möchten wir allerdings Butter bei die Fische haben. Wir Aber wenn dann – da kommt der Geist zum Vorschein, möchten wissen, wie Sie die Prozesse lenken werden der die Diskussion hier lenkt – noch der Zusatz „Unter- und wie es auf europäischer Ebene weitergeht. nehmensverantwortung ist immer freiwillig und kann nicht reglementiert werden“ kommt, muss ich Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dazu sagen: Da liegen Sie falsch. Sie verschätzen sich da sowie bei Abgeordneten der LINKEN) in Bezug auf die Bedeutung dieser Regelungen. Gerade auf europäischer Ebene sehen wir, dass die Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desrepublik Deutschland die große Bremserin ist. Es gibt eine riesige Diskrepanz zwischen Ihren Reden hier und Vor allen Dingen zeigt das doch, dass Sie nichts aus der der Situation auf europäischer Ebene. Wir brauchen ver- Sozialgeschichte gelernt haben. Es ist schon traurig, dass bindliche Standards. Diese fordern auch Sie immer wie- ich so etwas auch den Sozialdemokraten sagen muss. der, Herr Minister. Das kann ja nicht sein! 5272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Uwe Kekeritz (A) Natürlich sind alle unsere Verhältnisse hier – die so- Lassen Sie mich die Problematik anhand eines Zitats (C) zialen, ökologischen, arbeitsrechtlichen und menschen- weiter ausführen: rechtlichen – geregelt. Ich sage Ihnen: Menschenrechte sind nicht teilbar. Wenn sie hier gelten, dann müssen sie Demokratien müssen die Globalisierung gestalten auch dort gelten. und nicht nur auf sie reagieren. Gestalten heißt bei- spielsweise auch, dafür zu sorgen, dass rechtsstaat- (Zuruf von der CDU/CSU) liche, soziale und Umweltstandards gefördert wer- den. – Lesen Sie Ihren Antrag durch. – Sie können nicht der Freiwilligkeit unterworfen werden. Meine Damen und Herren, diese Worte von Bundesprä- sident Gauck möchte ich zum Motto meines Beitrags (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hier und heute machen. „Globalisierung gestalten“ be- Ich empfehle Ihnen, sich auch einmal kritische Unter- deutet, weltweit nachhaltig zu handeln, sich der Folgen nehmer anzuhören. Die fordern nämlich schon längst, bewusst zu sein, die unser Handeln für andere hat, und dass verbindliche Standards eingeführt werden. Das hat vor allen Dingen negative Folgen einzudämmen. einen einfachen Grund: Die Unternehmen, die sich an Noch vor wenigen Jahren hätte man die Gestaltung Standards orientieren, werden durch Unternehmen, die der Globalisierung als eine ausschließliche Aufgabe der sich nicht daran orientieren, übervorteilt. Auf Englisch Politik – vor allen Dingen der hochentwickelten Staaten – heißt das „level playing field“. Das müssen wir schaffen: angesehen. Viele sehen das heute noch so. Was passiert einen Wettbewerb zu gleichen Bedingungen. aber, wenn staatliche Institutionen ihrer Aufgabe der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Normensetzung nicht nachkommen oder nicht nachkom- sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des men wollen? Auf diese Frage hätte man früher wahr- Abg. Stefan Rebmann [SPD]) scheinlich mit Schulterzucken geantwortet. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ihre Heute sehen wir die Gestaltung der Globalisierung Scheuklappenpolitik kommt daher nicht den Menschen zunehmend als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in den Produktionsländern und auch nicht den deutschen als Aufgabe der Politik, der internationalen Organisatio- Unternehmern zugute. nen, der engagierten Nichtregierungsorganisationen, der Zivilgesellschaft und eben auch der Wirtschaft und der Danke schön. Verbraucher. Diese Entwicklung der Übernahme von Verantwortung für unser Handeln ist ein gesellschaftli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cher Megatrend, der zugleich auch ein Pfeiler christde- (B) mokratischer Politik ist. Wir wollen die Schöpfung be- (D) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wahren und wollen den Menschen auch in ihren Vielen Dank. Das war jetzt – als kleines Geschenk – Heimatländern ein lebenswertes Leben ermöglichen. die Minute für den Geburtstag. – Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- ten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Genau in diese Richtung zielt unser Antrag „Gute Ar- beit weltweit – Verantwortung für Produktion und Han- Jürgen Klimke (CDU/CSU): del global gerecht werden“. Schwerpunkte sind dabei die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sozialen Bedingungen bei Produktion und Handel, auch Meine Damen und Herren! Zunächst einmal Ihnen, Herr und gerade in den Entwicklungsländern. Für Verbesse- Minister, herzlichen Dank für die offenen Worte. rungen nehmen wir nicht nur Staaten und Politik, son- dern eben auch die Unternehmen in Verantwortung. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Unternehmensverantwortung – CSR heißt das in- Was?) ternational – ist ein Schlüsselfaktor bei der Gestaltung Herzlichen Dank für die ungeschminkte Darstellung der der Globalisierung, weil wir damit die Lebensbedingun- sozialen Ausbeutung in den Entwicklungsländern. gen vieler Menschen in den Entwicklungsländern ver- bessern können. Das bedeutet natürlich auch, dass die (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen in ihren Heimatländern bleiben, NEN]: Das war viel zu kurz! Das kannten wir schon alles!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, das ist Ihr Interesse!) Herzlichen Dank für die verantwortungsvollen Lösungs- vorschläge. Und auch herzlichen Dank für den sanften weil sie dort gern zur Arbeit gehen und von ihrem Lohn Druck auf die Industrie im Interesse der Menschen in künftig vernünftig leben können. Nachhaltige Globali- den Entwicklungsländern. sierung wirkt der Migration entgegen. Das ist auch ein Aspekt, den wir gerade in diesen Zeiten der Flüchtlings- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ströme nicht vergessen dürfen. Deshalb bin ich kein „Sanfter Druck“!) Gegner der Globalisierung; denn sie ist nicht nur ökono- Da sind wir auf einem wirklich guten Weg. misch sinnvoll, sondern sie bietet durchaus auch Chan- cen für die Entwicklungsländer. Das gilt im Übrigen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch und gerade für die Textilindustrie. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5273

Jürgen Klimke (A) „Globalisierung gestalten“ bedeutet aber auch, dass Meine Damen und Herren, natürlich dürfen wir nicht (C) deutsche Unternehmen nicht Profiteure eines Manches- nur Verbesserungen einfordern, sondern wir müssen ter-Kapitalismus übelster Sorte sein dürfen, bei dem Ar- auch durch Maßnahmen der Entwicklungszusammenar- beiter eingesperrt werden, ihnen Pausen und Arbeits- beit daran mitwirken. Deswegen begrüße ich außeror- schutz verwehrt werden, sie in Schuldknechtschaft dentlich, Herr Minister, dass wir zum Beispiel in Bang- geraten und örtliche Mindestlöhne auch noch unterlau- ladesch 10 Millionen Euro für die Etablierung der fen werden. Aber auch wenn noch so manches im Argen Sozial- und Umweltstandards in der Industrie einbrin- liegt, ist es heute schon so, dass viele Unternehmen aus gen, dass wir damit die Situation verbessern: Berater Deutschland – auch das müssen wir feststellen – und Eu- werden ausgebildet, Kurse für Manager werden durch- ropa gute CSR-Strategien haben. Sie stellen sicher, dass geführt, und es wird einmal deutlich gesagt, was Ge- Mindeststandards nicht nur im ökologischen, sondern werkschaften eigentlich sind und welche Aufgaben sie mehr und mehr auch im sozialen Bereich eingehalten haben können. Das Handlungsfeld der Entwicklungszu- werden. Das ist im Übrigen auch in der Textilbranche so. sammenarbeit, dem wir künftig auch in anderen Regio- Bisher sind solche CSR-Strategien unverbindlich. Wir nen große Aufmerksamkeit schenken, wird hier weiter wollen die Verbindlichkeit dieser CSR-Strategien inter- ausgedehnt. national und national stärken und ihre Wirksamkeit er- Die Formulierung „Gute Arbeit weltweit“ im Titel höhen. In diese Richtung zielt unser Antrag mit der Viel- unseres Antrags hört sich zunächst vielleicht ein biss- zahl der Forderungen. chen hochtrabend an, so nach dem Motto: Na ja, wir Es ist eine Tatsache, dass wir ohne den informierten wollen mal kurz die Welt retten. – Aber jeder Mensch in und kritischen Verbraucher Globalisierung nicht gestal- den Entwicklungs- und Schwellenländern, dessen Ar- ten können. Der Verbraucher hat Siegel wie Fairtrade beitssicherheit steigt, dessen Absicherung sich verbes- oder das Biosiegel verstanden und akzeptiert. Im Be- sert, dessen Lohn auskömmlicher wird, ist unserer An- reich der sozialen Mindeststandards entlang der gesam- strengung wert. Somit leisten wir hier gemeinsam auch ten Produktions- und Lieferkette gibt es bisher noch kein mit unserem Antrag einen kleinen Beitrag zur sozialen bekanntes und nachvollziehbares Siegel, das dem Ver- Globalisierung. braucher eine sozialverträgliche Produktion einigerma- Herzlichen Dank. ßen verlässlich signalisiert. Das wollen wir ändern. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben mit dem „Textil-Bündnis“ ein Modell, das wir im Übrigen auch auf andere Branchen übertragen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: können. Ich denke an die Landwirtschaft, ich denke an Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion Die die Elektronikindustrie, an die Tabakproduktion zum (B) Linke ist Dr. Diether Dehm. (D) Beispiel oder auch an die Gewinnung von Rohstoffen. Wichtig ist dabei, dass die gesamte Produktions- und (Beifall bei der LINKEN) Lieferkette Beachtung findet. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Aber auch in Deutschland!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Willkür des Freihandels mit den armen Bei der Textilproduktion geht es bei der Baumwoll- Ländern ist auch für TTIP und CETA die Blaupause. Die ernte los. Die Knopfherstellung oder die Herstellung von Große Koalition schreibt in ihrem Antrag: Reißverschlüssen gehören genauso dazu wie auch die Verantwortungsbewusste Unternehmen richten ihre Verwertung gebrauchter Kleidung. Wichtig sind auch die Ziele freiwillig … nach sozialen … Kriterien aus. Transportwege. In vielen Bereichen sind die Sozialstan- dards bereits heute gut. So habe ich vom Verband Deut- Ich frage die SPD-Minister: In welcher Welt leben Sie scher Reeder erfahren, dass es international verbindliche eigentlich? Richtlinien gibt, Sozialstandards für Seeleute, sodass der Seetransport der Kleidung von den Produktionsstandor- (Beifall bei der LINKEN) ten zu uns immerhin schon sozial nachhaltig ist. Das Godesberger Programm, das mir damals als So- zialdemokrat nicht links genug war, schreibt immerhin: Die Unternehmen können heute einen Beitrag für die Verbesserung der Sozialstandards leisten. Auch wir tre- Mit ihrer durch Kartelle … gesteigerten Macht ge- ten dafür ein. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Re- winnen die führenden Männer der Großwirtschaft gierungen vor Ort aus ihrer Verantwortung entlassen einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demo- dürfen. Ich durfte mir die Situation in Bangladesch anse- kratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. hen: Korruption, laxe Bauvorschriften, Behinderung von Auf ebendieser Grundlage hatte die Linke in der letz- Gewerkschaftsbildung. Das sind klar Fehler staatlichen ten Sitzungswoche den Antrag des SPD-Konvents über- Handelns. Wir müssen die Zahlung unserer Entwick- nommen, der an das Freihandelsabkommen Grundbedin- lungsgelder noch stärker an Fortschritte in diesen Berei- gungen formuliert. Dann haben Sie von der SPD gegen chen koppeln. Die Konditionierung in diesem Zusam- Ihre eigenen Bedingungen gestimmt. Mit Ihren Vorbe- menhang, die wir vor wenigen Jahren eingeführt haben, halten gegen das TTIP ist es also nicht weit her. ist dabei, genau wie das Menschenrechtskonzept des BMZ, ein ganz wichtiger Punkt. (Beifall bei der LINKEN) 5274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Diether Dehm (A) Es heißt im Konventspapier der SPD – ich zitiere –: Ich danke schön. (C) Investitionsschutzvorschriften sollten nicht einge- (Beifall bei der LINKEN) führt werden. Ich frage Herrn Gabriel: Garantieren Sie ein Nein der Vizepräsidentin Ulla Schmidt: SPD zu TTIP, wenn dieser kapitalistische Investoren- Für die Fraktion der SPD hat jetzt das Wort Dr. Hans- schutz doch drinstehen sollte? Und: Im CETA steht es Joachim Schabedoth. doch. Das CETA ist ausverhandelt. Wir warten noch auf (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Ihren massiven Protest. Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Dann heißt es im Beschluss des SPD-Konvents: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In keinem Fall dürfen das Recht der Mitbestim- Das Thema „Gute Arbeit weltweit“ könnte auch ein Prä- mung … oder andere Schutzrechte für Arbeitneh- dikat für die Arbeit des weltweit anerkannten Außen- mer als „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“ inter- ministers dieser Regierung sein. Wer nach einem Bei- pretiert werden. spiel für schlechte Arbeit sucht, für schlechte Arbeit im Bundestag, Einmal gesetzt, ein amerikanischer Konzern investiert hierzulande, und per Mitbestimmung würden die Kolle- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen vor Ort endlich die riesigen Konzernprofite nicht NEN]: Der kommt zu Schäuble!) ausschütten, sondern für ihr gesundheitliches Wohl oder echte Gewinnbeteiligung ausgeben wollen. Dann garan- der hätte meinem Vorredner aufmerksam zuhören müs- tieren Sie also, Herr Gabriel, dass es erst gar nicht vor sen. ein Schiedsgericht kommt bzw. der US-Konzern sich (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: nicht gegen die Arbeitnehmer durchsetzt. Ich würde Aufmerksam!) nicht einmal garantieren, dass es diesen Arbeitnehmern nicht so geht wie denen in Mexiko, die durch den Inves- Denn die Ausführungen, die Sie, Herr Dehm, ein weite- torenschutz massenweise aus ihren Betrieben rausgeflo- res Mal hier zu Gehör bringen, entspringen Ihrer Vorstel- gen sind. lung von sozialdemokratischer Politik, Ihrem Zerrbild von sozialdemokratischer Politik. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich war da (B) Zu Ihrer im Konventspapier formulierten Ablehnung 33 Jahre drin! Ich kenne mich ein bisschen (D) eines Regulierungsrats: Haben Sie der EU-Kommission aus!) schon mitgeteilt, dass das mit Ihnen nicht zu machen wäre? Mir ist das jedenfalls nicht bekannt. Die Zustim- und bitte, lassen Sie uns doch auf eine Auseinanderset- mung zu einem Regulierungsrat wäre ebenfalls ein ge- zungsebene kommen, wo wir wirklich das miteinander brochenes SPD-Versprechen. austauschen, was wir auch meinen, und nicht das, was wir uns gegenseitig unterstellen! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Wir Linken halten es mit dem Godesberger Pro- gramm – ich zitiere –: Wer nicht über gleiche Macht ver- Der vorliegende Antrag und unsere Debatte beziehen fügt wie ein Großunternehmen, hat nicht gleiche Entfal- sich auf die weltweiten Arbeitsbedingungen. Schon in tungsmöglichkeiten, er ist mehr oder minder unfrei. unserem Land lässt sich leider nicht sagen, gute Arbeit und damit die wichtigste Voraussetzung für ein gelingen- Freihandelsabkommen sind aber Unfreiheitsabkom- des Leben sei zur Selbstverständlichkeit geworden. Bei men. Wer den Versprechungen der Großen Koalition guter Arbeit geht es in den nationalen wie weltweiten nicht traut, wird am Samstag gegen CETA, gegen die Bezügen zuallererst um die Würde des Menschen. Sie Geheimnistuerei beim TTIP und gegen den Freihandel wird weltweit hunderttausendfach verletzt, Tag für Tag. mit den armen Kontinenten, für unsere Sozialstaatlich- keit und die Würde der arbeitenden Menschen demon- Uns alle hat ja im April 2013 der Einsturz der Textil- strieren. Die EU-Kommission hat die Bürgerinitiative fabrik in Bangladesch entsetzt. Es waren nicht nur die gegen das TTIP zwar verboten – Opfer; es war auch das, was man darüber hinaus erken- nen konnte: Die Labels namhafter Textilhersteller aus Europa fanden sich überall am Unfallort verstreut. Die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: meisten von uns besitzen Kleidungsstücke dieser Mar- Kollege Dehm, denken Sie bitte an die Zeit. ken. Viele dieser Firmen hatten Verantwortung und Sorgfaltspflicht entlang ihrer Wertschöpfungskette an Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): ihre Subunternehmen delegiert. So etwas darf es in Zu- – ich komme zum Ende –, aber es gibt sie. Schauen kunft nicht mehr geben. Sie auf www.umfairteilen.de! Wer mehr Gemeinsamkeit (Beifall bei der SPD) von Linken, Sozialdemokraten und Grünen will, der wird sie am Samstag gegen diese Freihandelsabkommen Unsere deutschen Unternehmen sind ein berechtigter vieltausendfach auf der Straße finden. und guter Teil internationaler Wertschöpfungsketten und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5275

Dr. Hans-Joachim Schabedoth (A) Handelsbeziehungen. Wir könnten also gute Arbeit in Irgendwann müssen wir uns auch an das halten, was wir (C) doppelter Hinsicht fördern und schlechte Arbeit zurück- selber vereinbart haben. drängen, zum einen natürlich als kritische Konsumenten, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zum anderen aber auch – und das ist ein hervorragender Ansatz, den wir ja mit diesem vorliegenden Antrag auf- Die nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, nehmen – über transnational agierende deutsche Unterneh- Bündnis 90/Die Grünen. men, die die sozialen, ökologischen und menschenrechtli- chen Verpflichtungen unmissverständlich respektieren. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Während wir hier beraten, nähen ja immer noch in Pa- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr kistan und Bangladesch Arbeiterinnen in 16-Stunden- Minister, wenn ich ein Beispiel für „links blinken, da- Schichten T-Shirts zu absurd niedrigen Löhnen, nur da- nach aber rechts fahren“ brauchte, würde ich sagen: mit wir diese T-Shirts für 5 Dollar oder 5 Euro kaufen Minister Müller. können. Und während wir hier beraten, klettern Arbeiter (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ im indischen Gujarat weiter in Gummilatschen über DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Schiffswracks, um unter Lebensgefahr alte Seelenver- käufer aus den Industrieländern zu zerlegen. In Cali in Da stellt er sich hier hin und sagt: So haben wir uns Glo- Kolumbien – und leider nicht nur dort – werden Men- balisierung nicht vorgestellt. – Seit 1994, seit Gründung schen immer noch mit Gefängnis oder dem Tod bedroht, der WTO, haben Sie Globalisierung genau so zugelassen wenn sie sich gewerkschaftlich engagieren. – Die Liste und unterstützt. Was reden Sie denn da? ließe sich leider unendlich fortsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Millionen von arbeitenden Menschen überall in der und bei der LINKEN) Welt erwarten, dass uns das nicht gleichgültig ist, dass Wo war denn Ihr Aufschrei? Sie haben unter einem wir so etwas nicht nur herunterdeklinieren und in Sonn- Kanzler Kohl und unter Ihren Regierungen für diese in- tagsreden beklagen. ternationalen Regeln der WTO gesorgt. Man soll sich dafür nicht schämen müssen, wenn man in die Green Es gibt ein international geltendes Normengefüge für Box soziale Kriterien hineinnimmt. Mindestansprüche an gute Arbeit. Das beginnt bei den Leitlinien der ILO, und das hört bei OECD- und UN- Sie machen hier ein Ding auf, das heißt: Der eine Teil Leitprinzipien noch lange nicht auf. passiert immer freiwillig. Ich sage Ihnen: Mit „freiwil- lig“ waren wir eigentlich durch. Freiwillig haben wir Wir haben uns auf solche Leitlinien für gute Arbeit im schon alles. Freiwillig haben wir Frauen in den Vorstän- (B) vorliegenden Antrag detaillierter berufen. Sie dienen als den und Aufsichtsräten – nichts passiert! –, freiwillig (D) Messlatte für Selbstverständnis und Selbstverpflichtung werden Umwelt- und Sozialstandards eingehalten – nir- der staatlichen Akteure und für die deutschen Unterneh- gendwo ist was passiert. men in den globalen Produktions- und Handelsbezügen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unter guter Arbeit weltweit verstehen wir eine Arbeit, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) bei der die Beschäftigten mitreden und mitgestalten kön- nen, mit einem gerechten Entgelt, existenzsichernd, mit Das ist Ihr einer Teil. Und das wollen Sie uns hier jetzt sozialer Sicherheit ohne Diskriminierung und natürlich als ganz dicke Nummer verkaufen. mit einem nachhaltigen Arbeits- und Gesundheitsschutz. Das andere ist die WTO. Sie sagen: So haben wir uns Dass Arbeit Mühe macht, liebe Kolleginnen und Kol- Globalisierung nicht vorgestellt; WTO, CSR – das muss legen, das werden wir wohl nie verhindern können. Aber irgendwie alles verändert werden. wir können eine ganze Menge tun, damit Arbeit in unse- Das finde ich geschickt. Denn bei der „Freiwilligkeit“ rem Land und weltweit als gut erlebt wird. Auch die ar- dauert es noch fünf Jahre – da sind Sie lange nicht mehr beitenden Menschen zum Beispiel in Bangladesch, Ko- Minister –, bis man feststellt: Auch da hat sich nichts ge- lumbien und auf den Baustellen in Katar haben ein tan. – Bei der WTO kann man immer sagen: Wir mühen natürliches Recht darauf. uns, aber die anderen haben nicht gewollt. Man brauchte da Einstimmigkeit, um die Regeln zu verändern. – Eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wirklich interessante Strategie, die Sie hier fahren, Herr der CDU/CSU) Müller.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Zwischendurch sprechen Sie noch ein bisschen vom Vielen Dank. – Herr Kollege Dr. Schabedoth, das war IOC; auch die sollen Arbeitsrechte einhalten. Ihre erste Rede hier im Plenum des Deutschen Bundesta- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ges. Dazu möchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren. NEN) (Beifall) – Ja, das steht auch drin. Das habe ich dort gefunden. Ich mache noch einmal, auch für alle anderen, darauf Zu dem, was Sie hier vortragen, kann ich nur sagen: aufmerksam, dass dann, wenn das Licht „Präsident“ Der Worte sind genug gewechselt, ich will jetzt Taten se- leuchtet, die Redezeit abgelaufen ist. hen. (Heiterkeit) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 5276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Renate Künast (A) Ihr Antrag – sorry! – ist eine Kiste voller weißer willigkeit oder mit „irgendwo in hundert Jahren bei der (C) Salbe. Wo steht denn zum Beispiel, wer Produkte in die WTO“. EU importieren will, muss sofort, ab 1. November 2014, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „living wages“, existenzsichernde Gehälter, zahlen? Nein, da sprechen Sie von 2020. Was ist eigentlich in den nächsten sechs Jahren mit dem Hunger? Bei der Er- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: zeugung von Baumwolle ist das dann 2024. Was ist da ei- Nächster Redner ist der Kollege Waldemar gentlich in den nächsten zehn Jahren mit dem Hunger? – Westermayer für die CDU/CSU-Fraktion. Nichts als weiße Salbe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dazwischen, zwischen Freiwilligkeit und WTO, in Stefan Rebmann [SPD]) dieser Erdumlaufbahn, in der das verhandelt wird, ist die Europäische Union. Da sage ich: Hic Rhodus, hic salta. Waldemar Westermayer (CDU/CSU): Da springen Sie nicht. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Künast, Sie waren auch einmal Ministerin. Da hätten Sie Wie wäre es mit einer europäischen Transparenzricht- das alles schon in die Wege leiten können; dann wäre das linie, nach der jedes Unternehmen für die gesamte Kette heute kein Thema. darstellen muss – (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da waren Sie von Dhaka in Bangladesch bis hier vor die Haustür –, ja dagegen!) wie die sozialen und ökologischen Bedingungen sind, Die unantastbare und unteilbare Menschenwürde ist damit jeder von uns ins Netz gehen und sehen kann das Herz der Menschenrechtscharta der Vereinten Natio- – jede NGO oder ich selber, wenn ich mit einer Gewerk- nen. 1948 verabschiedet, war sie eine Antwort auf den schafterin in Bangladesch kommuniziere –: Stimmt denn Terror und das Leid des Zweiten Weltkriegs. Obwohl der diese Angabe? Sie haben nicht einmal gesagt, dass Sie Großteil der Staatengemeinschaft sich zu diesen Men- sich dafür jetzt einsetzen werden. Aber das wären in der schenrechten bekennt, ist die Achtung der Menschen- EU gleiche Bedingungen. Das wäre gut für die Men- würde an vielen Orten der Welt keine Selbstverständ- schen in den Herstellerländern und für die Menschen lichkeit. und Unternehmen hier. Wir Christdemokraten verstehen uns als Teil eines (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN christlich geprägten Europas und machen uns deshalb sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) für einen nachhaltigen Schutz der Menschenwürde be- (D) sonders stark. Wie wäre es mit klaren Kennzeichnungspflichten? „Made in …“ muss auch heißen – ich komme zum Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit ist man Schluss –, es ist dort wirklich hergestellt worden. Wie sehr darauf bedacht, die Menschenrechte durch einen wäre es mit einer Kennzeichnungspflicht „GMO-Cotton partnerschaftlichen Dialog stets zu thematisieren. Gleich- enthalten“? Wie wäre es mit einer klaren Regelung der zeitig koppelt die deutsche Entwicklungszusammen- zivilrechtlichen Haftbarkeit und ordentlich geregelten arbeit ihre Kooperation an gute Regierungsführung im Sorgfaltspflichten? Mit der Beschwerdebox, die Sie hier Partnerland. Das bedeutet, Deutschland muss selbst vorstellen, ist es wie mit einer Dienstaufsichtsbe- transparent und glaubwürdig mit gutem Beispiel voran- schwerde: formlos, fristlos, fruchtlos. gehen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen von Un- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ternehmen haben oft keine entwicklungspolitische Kom- ponente. Für die Beziehungen der multinationalen Un- Wir brauchen ein richtiges Klagerecht vor Gerichten in ternehmen zu ihren Zulieferfirmen in den Partnerländern Europa. des Südens heißt das: Jeder Staat ist allein für seine ar- beitende Bevölkerung und für die Einhaltung von Rech- Mein letzter Satz: De Gucht – über den ich sonst nicht ten und Pflichten verantwortlich. Er sollte im Sinne einer viel Positives zu sagen habe, wegen TTIP – nachhaltigen Entwicklung tätig werden. Er sollte seine Schutzverantwortung gegenüber seinem eigenen Volk Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und besonders gegenüber einzelnen Minderheiten wahr- Frau Kollegin Künast, Sie wollten zum Schluss kom- nehmen. men; das haben Sie eben gesagt. Erst dann treten die Unternehmen in Verantwortung. Hier bestehen und wirken bindende und freiwillige euro- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): päische und internationale Grundsätze und Handlungs- – wirklich mein allerletzter Satz – hat den Außen- impulse auf verschiedenen Ebenen. Natürlich sollte man minister von Bangladesch vorgeladen und klar gesagt: deshalb Staaten, die nicht in der OECD sind, für die er- Ihr verliert eure Präferenzen als „least developed wähnten Leitsätze und Sorgfaltspflichten gewinnen. Wir country“, wenn ihr jetzt nicht die Löhne erhöht und müssen aber die Hoheit der Partnerstaaten respektieren. 200 Kontrolleure für die Statik und Sicherheit in den Fir- Das heißt hier konkret: Auch verwundbare Länder wie men einstellt. – So macht man Politik und nicht mit Frei- Bangladesch aus der Gruppe der am wenigsten ent- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5277

Waldemar Westermayer (A) wickelten Länder sollten der Verantwortung ihrer Bevöl- Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bin als Poli- (C) kerung gegenüber immer mehr nachkommen. tiker neu auf der bundespolitischen Ebene und im Be- reich der Entwicklungszusammenarbeit. So habe ich seit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- meinem Mandatsantritt im Juli 2014 schon eine Reihe wie des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) von Firmenbesuchen gemacht. Für alle Unternehmen ist Dies sollte allerdings mehr durch Motivation als durch die Umsetzung ihrer gesellschaftlichen und unternehme- internationalen Druck geschehen; denn diese Länder sol- rischen Verantwortung ein Schlüsselthema. Als Ent- len entscheidende Akteure eines nachhaltigen Wirt- wicklungspolitiker komme ich deshalb schnell ins Ge- schaftswachstums und eines globalen Entwicklungspro- spräch mit den Firmen. Dabei habe ich festgestellt, dass zesses werden. der Austausch zum Thema „faire Arbeitsbedingungen“ stark an Bedeutung gewinnt. Der Dialog zwischen Zivil- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gesellschaft, Wirtschaft und Politik sollte hier noch viel sichtbarer gemacht werden. Andere haben ein totalitäres entwicklungspolitisches Verständnis, wir als Christdemokraten haben das nicht. Lassen Sie uns also Schritt für Schritt den Dreiklang Wir wollen anderen Staaten keine Maßstäbe für „gutes von sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Leben“ und „gute Arbeit weltweit“ aufzwingen. Standards im Sinne „Guter Arbeit weltweit“ vermitteln und fördern. Bildung kann hier einen entscheidenden Im Bereich der unternehmerischen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Konkret geschieht dies zum Beispiel in Verantwortungsarbeit gibt es viel Bewegung und schon Partnerschaften der internationalen Berufsbildungs- viel mehr Bewusstsein. Der Umgang von Unternehmen kooperation. Dies ist ein gelebtes Beispiel von nachhalti- mit ihren südlichen Partnerländern hat sich schon verän- ger wirtschaftlicher Zusammenarbeit und von gemein- dert. Es wird mehr nach Menschenrechten gefragt. Es samen Lernprozessen. wird vor allem im Bereich der Einhaltung der Umwelt- und Sozialstandards mehr von den ausländischen Zulie- (Beifall bei der CDU/CSU) ferfirmen erwartet. Bei Gesprächen im Wahlkreis wurde Es macht international Schule und wird – so höre ich aus mir dies von Unternehmen öfters bestätigt. Trotzdem Südamerika – stark nachgefragt. Berufsbildung wird in- bleibt noch viel zu tun. ternational als persönliche und gesellschaftliche Chance Überregulierung hingegen kann freiwillige und posi- genutzt. So werden Strukturen und eine solide wirt- tive Entwicklungen blockieren. Sie kann schwer ab- schaftliche Basis geschaffen. Aber vor allem geschieht schätzbare Folgen für die arbeitende Bevölkerung in den ein Meinungs- und Gedankenaustausch. Das dient der Partnerländern haben. Was hilft einer Arbeiterin und Zukunftsfähigkeit: staatlich, wirtschaftlich, gesellschaft- (B) ihrer Familie eine schnelle Durchsetzung von rechtlich lich und persönlich. Das Modell der Berufsbildung und (D) einklagbaren und erhöhten Standards, wenn das Unter- die zahlreicher werdenden Partnerschaften sind zentral nehmen gezwungen ist, die Arbeiterin und die Hälfte des für die Zukunft von guter Arbeit weltweit. Setzen wir Personals aufgrund von gestiegenen Kosten zu kündi- also auf die junge Generation. Investieren wir in den gen? Das darf uns natürlich nicht davon abhalten, immer Dialog für solche Modelle. Sie sind nachhaltig und prä- wieder die Einhaltung der Menschenrechte und der er- gen entscheidend und immer mehr internationale Unter- wähnten Sozialstandards einzufordern. nehmens- und Arbeitskulturen. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Schluss fällt mir ein Zitat von Erzbischof Zollitsch ein, der bei einer Veranstaltung im Ulmer Die Politik muss den Bewusstseinswandel im Bereich Stadthaus sagte: „Märkte erzeugen Preise, aber keine der gesellschaftlichen und unternehmerischen Verant- Werte.“ Diese Werte muss die Politik einfordern, zuerst wortung bestärkend begleiten. Wir haben es im eigenen freiwillig, dann gesetzlich, und wenn dies nicht funktio- Land beim Thema Ernährung erfahren. Das Bewusstsein niert, dann brauchen wir Sanktionen. Hier leistet unser für die Herkunft von Lebensmitteln hat sich in vielen Minister Gerd Müller sehr gute Arbeit. Packen wir es an! Teilen der Gesellschaft verändert. Lieferketten lassen sich besser nachverfolgen, auch weil der Verbraucher Herzlichen Dank. vermehrt nachfragt. Ziel sollte es sein, dass die inter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- national tätigen Unternehmen ein reges Eigeninteresse neten der SPD) entwickeln, sich selbst und den Verbraucher über die Herkunft der Produkte vom Rohstoff bis zum Endpro- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: dukt zu informieren. Dies ist ohne Zweifel ein langer Weg. Handeln mit nachhaltigem Eigeninteresse hat je- Vielen Dank, Herr Kollege Westermayer. Das war doch auch eine langfristige Wirkung. Ihre erste Rede heute hier im Deutschen Bundestag, und das unter erschwerten Bedingungen. Herzlichen Glück- Einen wesentlichen Beitrag im Bewusstseinsprozess wunsch dazu! leistet auch die nichtstaatliche Entwicklungszusammen- (Beifall) arbeit. In der letzten Zeit habe ich das besonders im Gespräch mit kirchlichen Entwicklungsorganisationen Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Tages- erfahren. Sie haben mit ihrem menschenrechtsbasierten ordnungspunkt gibt es jetzt noch zwei Redebeiträge. Ich Ansatz in ihren Partnerländern auf lokaler Ebene viel be- bitte alle, die in dieser Zeit ihre Wahlkarten holen, dies wirkt. so geräuschlos wie möglich zu tun, und die, die noch 5278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) dringende Gespräche zu führen haben, dies bitte draußen Produktions- und Lieferketten. Wer lesen kann, ist klar (C) auf den Fluren zu tun. im Vorteil. Ich rufe als nächste Rednerin für die SPD-Fraktion (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gabi Weber auf. NEN]: Das lesen wir nachher noch einmal zu- sammen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wollen auch, dass das Streikrecht vor dem Hinter- grund der aktuellen Diskussion bei der ILO weiterhin als Gabi Weber (SPD): Bestandteil der Vereinigungsfreiheit anerkannt wird. Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Kolle- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ginnen und Kollegen! 1911 forderte die New Yorker NEN]: Sie können sich die Zähne daran aus- Gewerkschafterin Rose Schneiderman in einer Rede für beißen! Machen Sie das lieber in der EU! Die viele Arbeitnehmerinnen: Brot und Rosen! – Brot steht USA unterschreiben das nie!) dabei für gerechte Löhne, und Rosen sind ein Sinnbild für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen. „Gute Arbeit“ bedeutet aber nicht nur, sich für eine Verbesserung der sozialen Situation von arbeitenden (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern einzusetzen. Es geht bei der weltweiten Durchsetzung Am 7. Oktober, vorgestern, haben wir den Welttag für „Guter Arbeit“ eben auch darum, deutsche Arbeitneh- menschenwürdige Arbeit begangen. Dass dieser Tag merinnen und Arbeitnehmer zu stärken. Einzelne Arbeit- weltweit gefeiert werden soll, unterstreicht, dass „Gute geber setzen bis heute das Druckmittel der Verlagerung Arbeit“ kein Thema ist, welches wir nur im nationalen von Arbeitsplätzen in Länder mit geringeren Arbeits-, Kontext betrachten dürfen. Zusammen mit den Gewerk- Umwelt- und Sozialstandards zur Stärkung ihrer Ver- schaften haben wir Sozialdemokraten dieses Themenfeld handlungsposition gegenüber der Arbeitnehmerseite ein. in Deutschland schon seit langem in der öffentlichen Durch eine weltweite Durchsetzung der geforderten Re- Diskussion präsent gehalten. Die Einführung des gesetz- geln ließe sich dieses Druckmittel deutlich schwächen. lichen Mindestlohnes ist diesbezüglich ein längst über- Das brauchen wir. fälliger Meilenstein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben aber nicht nur die nationale, sondern auch der CDU/CSU) die internationale Situation im Blick. Eine globalisierte Wirtschaft betrifft nicht nur den Handel und die Finanz- Ein Thema in diesem gesamten Zusammenhang liegt (B) ströme, sondern hat eben auch – wie ich finde, zuerst – mir sehr am Herzen, nämlich die Frauen. Sie sind welt- (D) eine soziale Dimension. Diese rücken wir mit dem vor- weit in besonderem Maße von unwürdigen Arbeits- liegenden Antrag in den Fokus unserer Bemühungen um bedingungen betroffen. Das Unglück in Rana Plaza eine weltweit gerechtere Wirtschaftsordnung. wurde schon mehrfach angeführt. Aus der Entwick- lungszusammenarbeit wissen wir, dass es gerade die (Beifall bei der SPD) Frauen sind, die, bei entsprechender Unterstützung, Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wurde bereits auf wesentlich zur Verbesserung der Lebenssituation ihrer einzelne Aspekte des Antrages eingegangen. Mir liegt Familien und des sozialen Umfeldes beitragen. Hier be- als Gewerkschafterin die verbindliche internationale darf es verstärkter Anstrengungen bei der Bildung von Verankerung und Durchsetzung von Arbeitnehmerrech- Frauen, aber eben auch bei der Stärkung ihrer Rolle als ten besonders am Herzen. Arbeitnehmerinnen. Auch das ist dort zu finden. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Davon steht aber nichts im Antrag!) Global einheitliche Spielregeln helfen aber auch den – Doch. Unter Punkt 11 – das kann man genau nachlesen – sozial und ökologisch verantwortlich handelnden Unter- geht es darum, dass in Handelsabkommen verbindliche, nehmen im internationalen Wettbewerb. Diese sind ohne diese für alle geltenden Regeln oft gegenüber dem Teil (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihrer Konkurrenz benachteiligt, der seine Wettbewerbs- NEN]: Steht das bei TTIP drin? – Uwe fähigkeit auf Kosten von Mensch und Natur zu stärken Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sucht. ist doch eine Fehlinterpretation des Satzes!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin da- international anerkannte Sozial- und Umweltstandards von überzeugt, dass Wettbewerb durch Qualität und wie die ILO-Kernarbeitsnormen aufgenommen und vor- Innovation unsere Wirtschaft lebendig und stark hält. handene Schutzstandards nicht abgeschwächt werden. Das sollte uns allen wichtig sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Ein Unterbietungswettbewerb bei sozialen und umwelt- Weitere Forderungen unseres Antrags sind die Einhal- rechtlichen Standards bedeutet hingegen keine Wert- tung und nationale Umsetzung der ILO und anderer in- schöpfung für alle, sondern nur eine Profitmaximierung ternational vereinbarter UN-Konventionen in globalen für wenige. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5279

Gabi Weber (A) Ich stelle fest: Die Forderung nach Brot und Rosen nicht sein, dass in einem solchen Abkommen am Ende (C) bleibt immer noch aktuell. Aus diesem Grund bitte ich nicht verbindlich vorgeschrieben wird, Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. (Beifall des Abg. Uwe Kekeritz [BÜND- Danke. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass die Menschenrechte, dass existenzsichernde Löhne der CDU/CSU) und gute Arbeitsbedingungen für Näherinnen und Näher eingehalten werden müssen. Dafür müssen wir gemein- sam sorgen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Ich bitte noch einmal darum, die Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spräche draußen zu führen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/ Jetzt hat das Wort Dr. Sascha Raabe für die SPD- DIE GRÜNEN]: Dann brauchen wir aber ei- Fraktion. Bitte schön. nen anderen Antrag!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deswegen sind entsprechende Siegel wichtig. Herr der CDU/CSU) Minister Müller, ich finde es gut, dass Sie den Begriff des existenzsichernden Lohnes in diese Debatte hinein- Dr. Sascha Raabe (SPD): gebracht haben; das muss der Maßstab sein. Aber frei- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- willige Zertifizierungen sind immer nur Second Best ge- legen! Es ist in der Tat nicht zu erklären bzw. beschä- genüber verbindlichen Regelungen. Wir müssen den mend und schockierend, dass wir in einer Welt leben, in Unternehmen klarmachen: Wenn ihr große Gewinne der Menschen, die in Ländern leben, die eigentlich reich macht, wenn ihr durch Freihandelsabkommen Zölle in sein müssten, weil es dort viele Rohstoffe gibt, von die- Millionenhöhe spart, wenn ihr viel mehr Handel treiben sem Reichtum nicht profitieren. Dieser Rohstoffreich- könnt, dann müsst ihr im Gegenzug auch bereit sein, den tum ist mehr Fluch als Segen, weil auch bei uns in Arbeiterinnen und Arbeitern endlich einen fairen Anteil Deutschland und in Europa Firmen und Unternehmen der Gewinne zu geben. davon profitieren, dass in Kohleminen in Lateinamerika (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ oder in Goldminen im Kongo Kindersklaven eingesetzt DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der werden, dass Kindersoldaten sterben, damit wir unsere CDU/CSU und der LINKEN) iPhones und iPads billig erwerben können, und weil wir Das Gleiche gilt für den Rohstoffsektor. In der Tat (B) in der Europäischen Union die Situation haben, dass (D) Blinker, die die falsche Farbe haben, nicht importiert, wird in der Europäischen Kommission die Frage disku- aber T-Shirts, Hemden und Jeans, an denen Blut klebt, tiert – die stelle ich auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin –, zollfrei und hürdenlos importiert werden dürfen. Das ob wir nur in Sonntagsreden von „Guter Arbeit“ reden müssen wir ändern. Dazu dient der vorliegende Antrag. oder ob wir die entsprechenden Standards in der Euro- päischen Union umsetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall des Abg. Uwe Kekeritz [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Minister Müller, ich freue mich, dass Sie in Ihrer Rede vorhin gesagt haben, dass Sie meinen Artikel in Zum Beispiel Konfliktmineralien. Im Kongo werden der Frankfurter Rundschau gelesen haben und unterstüt- zurzeit durch in Minen verdientes Geld Bürgerkriege zen. Man sieht: Nicht nur hinter der FAZ steckt ein klu- und Kindersoldaten finanziert. Der Kongress der USA ger Kopf, sondern hinter allen Frankfurter Zeitungen. Es – der kapitalistischen USA; das ist keine linksradikale freut mich auch, dass Sie sagen, dass für Sie das Thema Forderung – hat mehrheitlich beschlossen, dass Mine- „Fairhandels-Abkommen“ ganz wichtig ist und dass Sie ralien, die aus solchen Konfliktminen kommen, von sich eindeutig dazu bekannt haben, dass die Vereinigten Firmen, die an der US-Börse gelistet sind, in Zukunft Staaten im Freihandelsabkommen mit der Europäischen nicht mehr in die USA importiert werden dürfen. Die Union alle acht ILO-Kernarbeitsnormen einhalten und Europäische Union sollte sich dem anschließen. umsetzen müssen, damit wir gegenüber Indien und ande- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren Ländern glaubwürdig sind und dies auch erreichen der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- können. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Europäische Kommission hat jetzt in einem Entwurf der CDU/CSU) leider nur eine freiwillige Regelung beschlossen, obwohl das Europäische Parlament eine verbindliche Regelung Zurzeit werden nicht nur mit Kanada und den USA wollte, wie sie in den USA vereinbart wurde. Freihandelsabkommen verhandelt. Aktuell verhandelt die Europäische Union auch mit Vietnam über ein Frei- Ich fordere Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Bundesre- handelsabkommen. Der Text soll bereits in der ersten gierung, und natürlich unseren Entwicklungsminister, Hälfte des nächsten Jahres ausverhandelt sein. Da wir der das unterstützt, auf, in der Europäischen Kommis- heute in der Debatte zu Recht den besonders problemati- sion dafür zu sorgen, dass wir genauso wie die USA ver- schen Textilsektor angesprochen haben: Es kann doch bindlich regeln, dass kein Blutgold, kein Blutcoltan und 5280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Sascha Raabe (A) kein Blutwolfram mehr nach Europa importiert werden und vom Vermögen sowie des dazugehöri- (C) dürfen, und dass die Menschen, die die Mineralien und gen Protokolls Rohstoffe fördern, fair, gerecht und menschenwürdig le- Drucksache 18/2660 ben können und keine Kindersoldaten mehr durch den Überweisungsvorschlag: Rohstoffverkauf finanziert werden. Darum bitte ich Sie. Finanzausschuss (f) Sorgen wir dafür, dass es auf der ganzen Welt verbind- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz lich gerechte Arbeitsbedingungen gibt. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung Danke schön. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Protokoll vom 11. März 2014 zur Än- der CDU/CSU und der LINKEN) derung des Abkommens vom 1. Juni 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Georgien zur Vermeidung der Dop- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: pelbesteuerung auf dem Gebiet der Steu- Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. ern vom Einkommen und vom Vermögen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Drucksache 18/2661 auf den Drucksachen 18/2739 und 18/2746 an die in der Überweisungsvorschlag: Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Finanzausschuss (f) Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 i sowie eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um die Feststellung des Wirtschaftsplans des Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De- ERP-Sondervermögens für das Jahr 2015 batte. (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2015) Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei- Drucksache 18/2662 sungen. Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 h sowie Zu- Überweisungsvorschlag: satzpunkte 2 a bis 2 c: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Tourismus 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Haushaltsauschuss eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu f) Erste Beratung des von der Bundesregierung dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. No- eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- (B) vember 2010 zum Europäischen Ausliefe- zes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes (D) rungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 Drucksache 18/2707 Überweisungsvorschlag: Drucksache 18/2655 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Überweisungsvorschlag: g) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Erlass und zur Änderung von Vorschriften Union zur Durchführung unionsrechtlicher Vor- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung schriften über Agrarzahlungen und deren eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Kontrollen in der Gemeinsamen Agrar- dem Abkommen vom 13. Februar 2014 politik zwischen der Bundesrepublik Deutschland Drucksache 18/2708 und der Republik Costa Rica zur Vermei- Überweisungsvorschlag: dung der Doppelbesteuerung auf dem Ge- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft biet der Steuern vom Einkommen und h) Beratung des Antrags des Bundesministe- vom Vermögen riums der Finanzen Drucksache 18/2659 Durchführungsbestimmungen zum Instru- Überweisungsvorschlag: ment der direkten Bankenrekapitalisierung Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz durch den Europäischen Stabilitätsmecha- nismus; Einholung eines zustimmenden Be- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung schlusses des Deutschen Bundestages nach eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu § 4 Absatz 1 ESM-Finanzierungsgesetz dem Protokoll vom 24. Juni 2013 zur Än- Drucksache 18/2669 derung des Abkommens vom 4. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Überweisungsvorschlag: Haushaltsauschuss (f) Deutschland und dem Königreich Norwe- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz gen zur Vermeidung der Doppelbesteue- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie rung und über gegenseitige Amtshilfe auf Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen dem Gebiet der Steuern vom Einkommen Union Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5281

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) ZP 2 a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der (C) brachten Entwurfs eines Gesetzes über CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Aus- Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Die Erleichterung der Unterbringung von Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innen- Flüchtlingen ausschuss. Drucksache 18/2752 Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Überweisungsvorschlag: Fraktion Die Linke, das heißt Federführung beim Innen- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei- Reaktorsicherheit (f) sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Kai Die Linke abgelehnt. Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung Kein Atommüll-Export aus dem Reaktor beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre AVR Jülich in die USA Hilfe, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungs- Drucksache 18/2624 vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Technikfolgenabschätzung (f) Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Ausschuss für Wirtschaft und Energie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 h sowie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich hier um die Be- Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Gehring, weiterer Abgeordneter und der che vorgesehen ist. Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 28 a: Echte Wahlfreiheit schaffen – Elterngeld Zweite Beratung und Schlussabstimmung des flexibler gestalten von der Bundesregierung eingebrachten Ent- (B) Drucksache 18/2749 wurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatz- (D) Überweisungsvorschlag: protokoll vom 8. November 2001 zum Euro- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) päischen Übereinkommen vom 20. April 1959 Ausschuss für Arbeit und Soziales über die Rechtshilfe in Strafsachen Haushaltsauschuss Drucksache 18/1773 Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, schusses für Recht und Verbraucherschutz das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- (6. Ausschuss) schlossen. Drucksache 18/2648 Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist. Zweite Beratung Tagesordnungspunkt 27 i: und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, weiterer lung auf Drucksache 18/2648, den Gesetzentwurf der Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesregierung auf Drucksache 18/1773 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz für wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer Jesiden, Kurden und andere Schutzbedürf- enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen tige im Norden des Irak und Syriens von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Frak- Drucksache 18/2742 tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Tagesordnungspunkt 28 b: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung regierung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- Federführung strittig ten Gesetzes zur Änderung des Verwaltungs- Vollstreckungsgesetzes Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags auf Drucksache 18/2742 an die in der Tagesordnung auf- Drucksache 18/2337 5282 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (C) schusses (4. Ausschuss) hält sich? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Drucksache 18/2640 Tagesordnungspunkt 28 e: – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 18/2642 Sammelübersicht 92 zu Petitionen Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 18/2640, den Gesetzent- Drucksache 18/2632 wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2337 an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt hält sich? – Die Sammelübersicht 92 ist mit den Stim- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist men der CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion und Linken damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/ bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an- CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen bei Enthal- genommen. tung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 28 f: Dritte Beratung Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem tionsausschusses (2. Ausschuss) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Sammelübersicht 93 zu Petitionen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist damit in dritter Lesung angenommen. Drucksache 18/2633 Tagesordnungspunkt 28 c: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 93 ist mit den Stim- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- men aller Fraktionen angenommen. regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Umweltstatistikgesetzes Tagesordnungspunkt 28 g: Drucksache 18/2135 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (B) schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Re- Sammelübersicht 94 zu Petitionen (D) aktorsicherheit (16. Ausschuss) Drucksache 18/2634 Drucksache 18/2664 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und hält sich? – Die Sammelübersicht 94 ist mit den Stim- Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- men von CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion und Bünd- lung auf Drucksache 18/2664, den Gesetzentwurf der nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Bundesregierung auf Drucksache 18/2135 in der Aus- Linke angenommen. schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Tagesordnungspunkt 28 h: dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei- tionsausschusses (2. Ausschuss) ter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses an- Sammelübersicht 95 zu Petitionen genommen. Drucksache 18/2635 Dritte Beratung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem hält sich? – Die Sammelübersicht 95 ist mit den Stim- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – men von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stim- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in drit- Grünen angenommen. ter Lesung angenommen. Zusatzpunkt 3: Tagesordnungspunkte 28 d bis 28 h. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 28 d: richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- cherschutz (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- fassungsgericht 2 BvE 5/12 und damit zusam- Sammelübersicht 91 zu Petitionen menhängenden Verfahren Drucksache 18/2631 Drucksache 18/2773 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5283

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz deswahlleitungen und vereinzelt auch Kreiswahlleitun- (C) empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, eine Stellung- gen um Stellungnahme gebeten. nahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für Im Einzelfall hat es leider, wenn auch in sehr wenigen diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Fällen, Wahlfehler gegeben. So wurden zum Beispiel in Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Düsseldorf zum Teil mehrfach derselben Person Brief- Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion und wahlunterlagen zugesandt. In Oberhausen erhielten rund Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion 30 Menschen Stimmzettel aus dem Jahre 2009. Das Er- Die Linke angenommen. freuliche ist, es fiel auf. (Heiterkeit) Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Auf die Sitzverteilung hatten diese ärgerlichen Fehler Beratung der Vierten Beschlussempfehlung des keinen Einfluss, da das gesamte Stimmenaufkommen für Wahlprüfungsausschusses die Erst- und Zweitstimmen sehr hoch war. Der Wahl- zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der prüfungsausschuss hat gleichwohl die Erwartung, dass Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am die betreffenden Wahlbehörden derartige Fehler in Zu- 22. September 2013 kunft vermeiden. Drucksache 18/2700 Ich möchte Ihnen mitteilen, welche Einspruchsgegen- stände ansonsten typisch waren: nicht oder zu spät zuge- Bevor ich die Beschlussempfehlung des Wahlprü- stellte Briefwahlunterlagen, die repräsentative Wahl- fungsausschusses zur Abstimmung stelle, erteile ich dem statistik, der Identitätsnachweis im Wahllokal, die Vorsitzenden des Ausschusses, Herrn Dr. Johann Gestaltung des Stimmzettels oder das Schreibmittel in Wadephul, das Wort zur Berichterstattung. Bitte schön. der Wahlkabine. Zum Teil hat es auch kaum nachvollziehbare Einsprü- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): che gegeben. Ein Bürger hat behauptet, das Wahlergeb- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nis müsse manipuliert gewesen sein. Er hat nämlich 40 Wir entscheiden heute über die Vierte Beschlussempfeh- Minuten nach Schließung der Wahllokale die TV-Serie lung des Wahlprüfungsausschusses in dieser Wahlpe- „Lindenstraße“ geschaut. In dieser Folge war das Wahl- riode. Sie behandelt die letzten 9 von insgesamt 224 Ein- ergebnis schon adaptiert. Daraus hat er eine Manipula- sprüchen gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl 2013 tion hergeleitet. Der Wahlprüfungsausschuss hat das na- und gibt Gelegenheit, ein kurzes Zwischenresümee der türlich sorgfältig geprüft und ist zu dem Ergebnis (B) Arbeit des Wahlprüfungsausschusses zu ziehen, den gekommen, dass keine Manipulation vorlag. Ich kann (D) Dank den Berichterstattern und den Mitgliedern des das Geheimnis lüften: Es sind einfach mehrere Varianten Ausschusses auszusprechen, die im Übrigen alle sehr ge- gedreht worden, und die Verantwortlichen der senden- rührt sind, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den TV-Anstalt haben es schlicht und ergreifend ge- so großer Zahl diesem Bericht zuhören und über die Be- schafft, die richtige Variante zu senden. Damit hatte sich schlussempfehlung abstimmen. das Thema geklärt. (Heiterkeit und Beifall) (Heiterkeit und Beifall) In der Sache ist die Beschlussempfehlung auch nicht Meine Damen und Herren, ein großer Teil der Ein- ohne Bedeutung. Sollten Sie nämlich unserer Empfeh- sprüche hat die Fünfprozentklausel betroffen. Sie wis- lung nicht folgen wollen, hätte diese Sitzung ein jähes sen, welche Parteien knapp oder auch deutlich die Fünf- Ende. Deswegen sollte sich das jeder genau überlegen. prozenthürde verpasst haben. Wir haben uns ausführlich damit befasst. Die Ausschussmehrheit ist mit der Recht- (Heiterkeit) sprechung des Bundesverfassungsgerichts der Auffas- Der Ausschuss ist froh, dass wir ein Jahr nach der sung, dass die Fünfprozentklausel verfassungskonform Bundestagswahl und auch angesichts des Umstandes, ist, weil sie die Bildung einer stabilen Mehrheit für die dass wir erst zu Beginn dieses Jahres mit den Verfahren Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fort- beginnen konnten, Ihnen jetzt einen abschließenden Be- laufende Unterstützung im deutschen Parlament gewähr- richt vorlegen können. leistet. Dies ist eine Folge, die die Verfassungsmütter und -väter aus der Weimarer Zeit gezogen haben. Wir Keiner der 224 Wahleinsprüche war nach Auffassung halten das nach wie vor für rechtlich in Ordnung und des Ausschusses begründet. Begründet wäre er dann ge- verfassungskonform. wesen, wenn ein Wahlfehler benannt worden wäre, der entweder Einfluss auf die Sitzverteilung hatte oder das Ein zweiter Punkt, mit dem wir uns in Zukunft befas- subjektive Wahlrecht der den Einspruch einlegenden sen sollten, ist das sogenannte Wahlrecht für Betreute; Personen beim Wahlakt verletzte. Den Einsprüchen lie- auch einzelne Wahleinsprüche gegen die Europawahl ßen sich solche Fehler allerdings nicht entnehmen. 2014 befassen sich damit. Die Bundesregierung hat dan- kenswerterweise eine Studie in Auftrag gegeben, in der Ich halte fest: Der Wahlprüfungsausschuss ist jedem geprüft werden soll, ob wir hier zu Differenzierungen Wahlfehler sorgfältig nachgegangen, hat das Bundes- kommen können; denn nach derzeitiger Rechtslage – ministerium des Innern, den Bundeswahlleiter, die Lan- diese war für uns maßgeblich – sind volljährige Perso- 5284 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Johann Wadephul (A) nen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten ge- Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die Stimmkarten wur- (C) richtlich angeordnet ist, nicht wahlberechtigt. den im Saal verteilt. Sollten Sie keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenar- Letzter Punkt ist ein Blick auf die Europawahl. Sie assistenten zu erhalten. Wer noch keine Stimmkarte hat, wissen, dass das schon medial diskutiert worden ist: die den bitte ich um ein Handzeichen. sogenannte Doppelwahl. Ein früherer Präsident des Bun- desverfassungsgerichtes hat in einem großen Nachrich- Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei tenmagazin aus dem Norden Deutschlands in Zweifel „ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzu- gezogen, ob die Europawahl angesichts des Umstandes folge Stimmkarten, bei denen kein Kreuz gemacht oder verfassungsgemäß gewesen sein kann, dass immerhin mehr als ein Kreuz gemacht wurde oder ein anderer die Möglichkeit bestand, dass 8 Millionen Menschen in Name oder sonstige Zusätze vermerkt sind. der gesamten Europäischen Union je zwei Stimmen ab- Bevor Sie die Stimmkarte in die Wahlurnen werfen, gegeben haben. übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und Schrift- Nach bisherigem Erkenntnisstand des Wahlprüfungs- führern an den Urnen Ihren Wahlausweis. Ich mache da- ausschusses ist in Deutschland bisher allerdings nur eine rauf aufmerksam, dass die gültige Teilnahme an der Person bekannt, die vom Herrn Bundesfinanzminister Wahl nur dann sichergestellt ist, wenn Sie Ihren Wahl- persönlich belehrt worden ist, dass das wahrscheinlich ausweis abgegeben haben. Das ist gleichzeitig ein Nach- ein rechtlicher Fehler gewesen ist. Solange wir nicht weis, dass Sie teilgenommen haben. eine große Zahl weiterer Doppelstimmen erkennen, ist Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die wahrscheinlich nicht zu erwarten, dass dies zu vertieften vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an Prüfungen des Wahlprüfungsausschusses führen wird. den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ich empfehle Ihnen also guten Gewissens, unseren Wahl. Beschlussempfehlungen zu folgen und damit dafür zu Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine sorgen, dass diese Sitzung ihren Fortgang finden kann. Stimme nicht abgegeben hat? – Ich sehe, das ist nicht der Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Fall. Dann schließen wir die Abstimmung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen bei Abgeordneten der LINKEN und des und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) Vielen Dank. – Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ (D) Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Wahlprü- CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE fungsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Neun- sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den ten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfas- Stimmen aller Fraktionen angenommen. sungsgerichtsgesetzes (9. BVerfGGÄndG) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Drucksache 18/2737 der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Innenausschuss Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Grundgesetzes nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Drucksache 18/2743 Ich bitte jetzt alle, Platz zu nehmen, die der Debatte folgen wollen. – Dann rufe ich Dr. Matthias Bartke, Die Fraktion der SPD schlägt auf Drucksache 18/2743 SPD-Fraktion, auf. den Kollegen Uli Grötsch vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir zur Wahl Dr. Matthias Bartke (SPD): kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 2 Absatz 3 des Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrich- auf der Tribüne! Wir diskutieren heute über das Wahl- tendienstlicher Tätigkeit des Bundes ist gewählt, wer die verfahren für die Richter des Bundesverfassungsge- Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages richts, des höchsten Gerichts unseres Landes. Ich per- auf sich vereint, das heißt, wer mindestens 316 Stimmen sönlich erinnere mich noch, dass ich als junger Student erhält. im ersten Semester Jura davon träumte, einmal Richter Die Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis. an diesem Gericht zu sein. Das Beeindruckende am Bun- Die Wahl ist offen. Sie können Ihre Stimmkarte also an desverfassungsgericht sind nicht nur seine rechtliche Ihrem Platz ankreuzen. Den Wahlausweis können Sie, Kompetenz und seine weitreichenden Befugnisse. Nein, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Bitte beachten Sie, dass der 1) Ergebnis Seite 5287 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5285

Dr. Matthias Bartke (A) das Beeindruckende ist vielmehr seine Aura, eine Aura, gesichert werden. Ohne dem Gericht zu nahe treten zu (C) die vor allem begründet wird durch seine Unabhängig- wollen: Ich finde, man hat schon einleuchtendere Be- keit. Obwohl das Bundesverfassungsgericht häufig hoch gründungen gehört. Das gilt insbesondere, weil das Ge- politische Entscheidungen zu treffen hat, wird es von der richt in seinem Urteil zur Euro-Rettung selbst darauf be- Bevölkerung doch als eine absolut neutrale Instanz standen hat, dass für Entscheidungen von erheblicher wahrgenommen, die nur der Sache verpflichtet ist. Das Tragweite ein Plenarvorbehalt gilt, dass diese also vom Bundesverfassungsgericht erfreut sich bei den Bürgern Bundestag in öffentlicher Sitzung zu beschließen sind. einer Wertschätzung, wie sie allenfalls noch vom Bun- Entscheidungen über die Besetzung von Richterstellen despräsidenten erreicht wird. Die Gründe hierfür sind: des Bundesverfassungsgerichts dürften ohne Zweifel Das Gericht hat in der Regel wenig Tendenz, Zeitgeist- Entscheidungen von solch erheblicher Tragweite sein. strömungen nachzugeben. Es fällt seine Entscheidungen Der Bundestagspräsident, Herr Lammert, hat in einem in überzeugender Überparteilichkeit und Sachorientie- Artikel in der FAZ zu diesem Urteil den prägnanten Satz rung. Die Entscheidungsfindung erfolgt unter hoher formuliert: „Die schlichte Begründung verblüfft.“ Man Transparenz. mag hinzufügen: Wohl wahr! Selbst Befürworter der derzeitigen indirekten Wahl geben zu, dass zumindest Zu dieser hohen Transparenz und Überparteilichkeit verfassungspolitisch eine Asymmetrie zwischen der ho- mag der Wahlmodus, mit dem die Richter bisher gewählt hen Bedeutung der Wahl der Verfassungsrichter und der wurden, nicht recht passen. In unserem Grundgesetz Delegation dieser Wahl in einen Ausschuss besteht. heißt es in Artikel 94: Hinzu kommt, dass der Wortlaut des Artikels 94 eben Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes doch recht eindeutig ist. Da ist vom Bundestage die werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Rede und nicht von einem Ausschuss des Bundestages. Bundesrate gewählt. Artikel 63 des Grundgesetzes regelt die Wahl der Eigentlich eine ziemlich klare Vorschrift, sollte man Kanzlerin. Auch sie wird vom Bundestage gewählt. Nie- meinen. Im Bundesrat werden die Richter auch tatsäch- mand käme ernsthaft auf die Idee, die Kanzlerin durch lich vom Bundesrat gewählt. Für den Bundestag ist das einen Wahlausschuss wählen zu lassen. Wahlverfahren aber im Bundesverfassungsgerichtsge- (Uli Grötsch [SPD]: Rechtsausschuss!) setz geregelt. Das besagt in § 6, dass nicht das Plenum des Bundestages die Richterinnen und Richter wählt, Rechtlich ist das vergleichbar. Auch der Wehrbeauf- sondern ein vom Bundestag gewählter Wahlausschuss. tragte des Bundestages und der Präsident des Bundes- Es handelt sich hier also um eine indirekte Wahl. Diese rechnungshofes werden vom Bundestag in einer Plenar- Regelung hat seit ihrer Einführung in der Vergangenheit sitzung gewählt. Bei ihnen gibt es noch nicht einmal (B) viel Kritik erfahren. Der Präsident des Bundesverfas- einen Verfassungsauftrag mit einem entsprechenden (D) sungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat einmal dazu aus- Plenarvorbehalt. Es sind jeweils nur einfachgesetzliche geführt: Handlungsaufträge. Die vielerorts als Ämterschacher empfundene Re- Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinem vorhin krutierung der Richter des Bundesverfassungsge- zitierten Beschluss aus 2012 zur Richterwahl aber auch richts stößt seit jeher auf vehemente Kritik. Die recht deutlich, dass der Gesetzgeber nicht gehindert ist, Konzentration der eigentlichen Entscheidung in der andere Modalitäten für die Wahl der Mitglieder des Ge- Hand weniger „Parteifürsten“, die weitgehende richts zu finden. Meine Damen und Herren, das mag Verengung des potenziellen Kandidatenkreises auf man getrost als einen deutlichen Hinweis an den Gesetz- Parteimitglieder und Sympathisanten sowie die geber werten. Man könnte auch von einem Wink mit mangelnde Transparenz und Nichtöffentlichkeit des dem Zaunpfahl sprechen. Verfahrens lassen sich in der Tat mit der im Grund- Diesem Hinweis kommen wir nun nach. Ihnen liegt gesetz angelegten Konzeption des Bundesverfas- ein gemeinsamer Gesetzentwurf aller im Bundestag ver- sungsgerichts als professionalisiertem Rechtspre- tretenen Parteien vor. Es ist ein Antrag auf Änderung chungsorgan nur schwer in Einklang bringen. von § 6 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, der dem Diese Kritik von Gerichtspräsident Voßkuhle steht pars Wortlaut und vor allem dem Geist des Artikels 94 deut- pro toto für viele Kritiker. Gerügt wird vor allem die lich gerechter wird als die bisherige Regelung. mangelnde Transparenz, die als Geschacher empfunden Die hohe Unabhängigkeit, die das Bundesverfas- wird. Gewünscht wird ein transparenteres Verfahren, das sungsgericht auszeichnet und die maßgeblich zu seiner dann eine höhere demokratische Legitimation des Ge- hohen Reputation führt, darf nicht durch ein Zerreden richts bewirkt. der Kandidaten für das höchste Richteramt beschädigt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) werden. Aus diesem Grunde ist es richtig, dass in dem Gesetzentwurf die Kompetenz für die Richterauswahl Das Bundesverfassungsgericht selbst hat 2012 die in- weiterhin beim Wahlausschuss liegt. Der Ausschuss soll direkte Wahl seiner Mitglieder allerdings als verfas- auswählen und bestimmen, welche Person dem Bundes- sungskonform eingestuft. Die Rechtfertigung hierfür tag für das höchste Richteramt vorgeschlagen wird. sieht es in der Abwägung zu dem verfolgten gesetzgebe- rischen Ziel. Durch die indirekte Wahl sollen das Anse- Im Gegensatz zur jetzigen Rechtslage soll es aber hen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhän- künftig so sein, dass der Wahlausschuss nur ein Vor- gigkeit gefestigt und damit seine Funktionsfähigkeit schlagsrecht erhält. Die Wahl selbst erfolgt dann durch 5286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Matthias Bartke (A) das Bundestagsplenum – oder eben auch nicht. Denn es Halina Wawzyniak (DIE LINKE): (C) ist eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Abgeordne- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen ten, mindestens aber der Mehrheit der Mitglieder des und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf aller Bundestages erforderlich. Das, meine Damen und Her- Fraktionen – das ist schon gesagt worden – soll die Wahl ren, ist schon eine ganz erhebliche Hürde. Durch diese der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsge- Regelung – Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden, richts vom Richterwahlausschuss und dem Bundesrat mindestens aber die Mehrheit der Mitglieder des Bun- auch auf das Plenum des Bundestages übertragen wer- destages – soll eine hohe Präsenz der abstimmenden Ab- den. Das stellt die Legitimation der Richterinnen und geordneten sichergestellt werden. Die einzelnen Richter Richter auf eine breitere Grundlage. Dies ist ein Mehr an sollen damit eine höchstmögliche parlamentarische Le- Demokratie. Wir finden das gut, und deshalb sind wir gitimation erfahren. selbstverständlich mit dabei. Die Richterwahl durch das Plenum des Bundestages (Beifall bei der LINKEN) stärkt ganz ohne Zweifel das demokratische Rückgrat Zumindest in der Theorie wird diese Entscheidung des Gerichtes. Von entscheidender Bedeutung ist aber, dazu führen, dass die Entscheidung über Bundesverfas- dass der Bundestag die zu berufenden Richterinnen und sungsgerichtsrichterinnen und -richter nicht mehr ein- Richter des Bundesverfassungsgerichtes ohne Ausspra- fach einem Richterwahlausschuss überlassen bleibt. Nun che wählt. Grund hierfür ist, dass die Richter nicht in ei- ist es so, dass der eine oder andere – ich nehme mich ner öffentlichen Aussprache zerredet werden sollen. Die persönlich da gar nicht aus – in der Lage ist, sich nach offene parlamentarische Debatte über Mängel und Vor- der Entscheidung von Richterinnen und Richtern ein Ur- züge der einzelnen Bewerber wäre der sicherste Weg, ihr teil zu bilden. Wir glauben, dass es möglich ist, dass man Ansehen zu beschädigen. Hierdurch würden sie einer sich, bevor man Richterinnen und Richter wählt, ein Ur- parteipolitischen Wertung und Zuordnung unterzogen, teil über dieselben bildet. Deswegen ist das, finden wir, die sie gerade nicht haben. eine gute Idee. Das Bundesverfassungsgericht zieht seine hohe mora- Wir finden aber – da besteht ein kleiner Dissens zum lische Autorität maßgeblich aus seiner Politikferne, und Vorredner –, dass es nicht zwingend ist, dass der Wahl- das, meine Damen und Herren, soll auch so bleiben. ausschuss einen Vorschlag unterbreitet. Man kann da- Das geradezu gegenteilige Modell haben die USA: rüber nachdenken, ob man nicht weitergehen kann und Die Richter des US-Supreme-Court werden vom US- ob nicht tatsächlich das Plenum insgesamt über Vor- Präsidenten nominiert, müssen aber vom Senat bestätigt schläge, die vorliegen, entscheiden kann. Wir würden werden. Diese Bestätigungsverfahren erfolgen über öf- uns wünschen, dass wir in diesen Gesetzentwurf so et- (B) fentliche Hearings der jeweiligen Richter, die im abso- was wie eine Befristung oder Überprüfung dieser Rege- (D) luten Scheinwerferlicht stattfinden. Man spricht auch lung schreiben. Vielleicht kann man irgendwann weiter- martialisch vom „Richtergrillen“ oder von Entschei- gehen. dungsschlachten. Dabei spielt Geld übrigens eine nicht (Beifall bei der LINKEN) unerhebliche Rolle. Das führt in den USA dazu, dass der Fachöffentlichkeit bei jedem Richter in aller Regel klar Wir glauben aber auch, dass der Vorschlag, den wir ist, wo er politisch steht und wie er einzuordnen ist. Das hier gemeinsam unterbreiten, ein Anlass sein kann, eine deutsche System ist aus gutem Grund anders und deut- weiter gehende Debatte zu führen. Ich finde, dass man lich konsensualer. eine ergebnisoffene Debatte – wenn ich ergebnisoffen sage, meine ich tatsächlich auch ergebnisoffen – führen Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ent- kann, zum Beispiel ob es wirklich sinnvoll ist und hilf- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfas- reich sein kann, wenn man Laienrichterinnen und Laien- sungsgerichtsgesetzes steht eine Regelung zur Abstim- richter in ein Verfassungsgericht schickt. Ich bin noch mung, die die unbestrittenen Vorzüge einer diskreten, nicht entschieden, ich bin unsicher. Ich weiß, dass es das vorgeschalteten Vorauswahl mit der abschließenden for- in einigen Bundesländern gibt. Ich finde, das kann man mellen Wahl durch den Bundestag verbindet. Mit ihr ist einfach einmal evaluieren. gewährleistet, dass weiterhin akzeptable und auf Aus- gleich bedachte Persönlichkeiten als Richter für das Bun- Wir sollten darüber nachdenken, ob es sinnvoll und desverfassungsgericht gefunden und bestellt werden. angemessen ist – darüber sprechen wir heute Abend noch –, eine Karenzzeit einzuführen, in der aktive Politi- Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über- kerinnen und Politiker nicht in das Bundesverfassungs- zeugung: Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwur- gericht wechseln dürfen. Es gab Fälle, in denen unmittel- fes aller Fraktionen werden wir unseren Rechtsstaat bar nach dem Ausscheiden aus dem politischen Amt in noch etwas besser machen. das Bundesverfassungsgericht gewechselt wurde. Das ist Ich danke Ihnen. vielleicht nicht ganz so prima. Wir finden, dass man darüber nachdenken muss – das Vizepräsidentin Ulla Schmidt: habe ich schon angedeutet –, ob man nicht möglicher- Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt weise das Vorschlagsrecht etwas verbreitert. Wenn man Halina Wawzyniak das Wort. schon dabei bleibt, dass der Richterwahlausschuss dem Plenum einen Vorschlag unterbreitet, sollte man viel- (Beifall bei der LINKEN) leicht überlegen, ob es auch anderen Institutionen als Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5287

Halina Wawzyniak (A) Fraktionen, Landesregierungen oder der Bundesregie- Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes (C) rung möglich sein soll, dem Richterwahlausschuss werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Wahlvorschläge zu unterbreiten. Bundesrate gewählt. Da wir in dem eigentlichen Punkt einig sind, nämlich Der Bundesrat setzt diese Vorgabe der Verfassung seit dass wir im Plenum die Bundesverfassungsrichterinnen vielen Jahren dadurch um, dass dort das Plenum ent- und -richter wählen lassen wollen, sollten wir uns viel- scheidet. Im Bundestag entscheidet der Wahlausschuss. leicht doch die Zeit nehmen, den einen oder anderen Punkt, den ich hier angesprochen habe, zu debattieren Ich möchte vorab zunächst einmal all den Kollegin- und zu überlegen, ob man nicht auch an anderen Stellen nen und Kollegen – ich selbst gehöre nicht dazu –, die etwas machen muss. Das muss nicht gleich in diesem dem Wahlausschuss angehören, sehr herzlich danksagen. Gesetz sein, das kann auch in einem weiteren Gesetz er- Es geht heute nicht darum, ein Misstrauen gegen den folgen. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Debatte Wahlausschuss zum Ausdruck zu bringen, sondern es führen. geht darum, eine verfassungspolitische Neujustierung vorzunehmen. Aber all denen, die in den vergangenen Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Wir Jahren dort sehr besonnen, gut und engagiert gewirkt ha- sollten darüber diskutieren, ob es wirklich überzeugend ben, zunächst einmal vielen herzlichen Dank! ist, dass das Bundesverfassungsgericht mit einstimmi- gem Beschluss unzulässige und offensichtlich unbegrün- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dete Anträge ohne Begründung ablehnen kann. Ich weiß, neten der SPD) diese Begründungspflicht ist mit erheblichem Arbeits- Wir haben die Entscheidung des Bundesverfassungs- aufwand verbunden, aber ich glaube auch, dass die Bür- gerichts aus dem Jahr 2012, dass die bisherige Praxis der gerinnen und Bürger einen Anspruch darauf haben, we- Wahl der Verfassungsrichter durch den Wahlausschuss nigstens ansatzweise zu erfahren, warum mit ihrer grundgesetzkonform sei. Unstrittig ist dies unter Staats- Beschwerde so oder so umgegangen worden ist. rechtlern nicht. Der derzeit amtierende Präsident des Letztendlich glaube ich, dass wir diese konkrete Re- Bundesverfassungsgerichts ist vorhin bereits zitiert wor- gelung relativ unproblematisch und ohne großes Gezänk den. Erlauben Sie mir, dass ich eine andere Passage sei- über die Bühne bringen. Ich will aber noch ausdrücklich ner Grundgesetzkommentierung zitiere. Er formuliert darum bitten, dass wir die anderen Punkte – vielleicht dort: haben auch Sie noch Themen – diskutieren und die De- Von nicht unerheblichen Teilen der Literatur wird batte nutzen, um über eine weitere Demokratisierung des Bundesverfassungsgerichts in Ruhe zu sprechen. diese Regelung zu Recht für verfassungswidrig ge- halten. Da die Verfassung selbst an verschiedenen (B) Danke schön. Stellen … zwischen dem Bundestag und den Aus- (D) schüssen differenziert, kann Art. 94 Abs. 1 S. 2 nur (Beifall bei der LINKEN) dahingehend verstanden werden, dass dem Plenum der Abgeordneten die Wahl der Richter vorbehalten Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sein soll. Eine weitergehende Kompetenzdelegation Vielen Dank. – Ich gebe Ihnen jetzt das Ergebnis der des Parlaments auf Teile seiner selbst widerspricht Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontroll- darüber hinaus der Bedeutung dieser Entscheidung gremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes be- und damit dem Erfordernis „funktionsadäquater de- kannt. Abgegebene Stimmen 569. Ungültige Stimmen 1. mokratischer Legitimation“. Gültige Stimmen 568. Mit Ja haben gestimmt 544, mit Nein haben gestimmt 6, Enthaltungen 18. Der Abgeord- So die Ausführungen des derzeit amtierenden Präsiden- nete Uli Grötsch hat damit 544 Stimmen erhalten. Die ten des Bundesverfassungsgerichts. erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen Jenseits der verfassungsrechtlichen Frage, ob man die wurde erreicht. – Vielen Dank.1) bisherige Praxis für rechtskonform oder für verfassungs- (Beifall im ganzen Hause) widrig hält, ist es aus meiner Sicht verfassungspolitisch richtig, künftig die Verfassungsrichter durch das Plenum Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Dr. Stephan des Deutschen Bundestages wählen zu lassen. Das Bun- Harbarth das Wort. desverfassungsgericht hat immer wieder zutreffend (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – auch im Hinblick auf das Neunergremium im Rahmen Dr. Matthias Bartke [SPD]) der Euro-Rettung – darauf hingewiesen, dass Entschei- dungen von erheblicher Tragweite grundsätzlich im Plenum zu treffen sind. Das ist nicht nur verfassungs- Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): rechtlich richtig, das ist auch verfassungspolitisch über- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- zeugend. Wenn ich mir insgesamt anschaue, welche gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der Wahlakte das Plenum des Deutschen Bundestages vor- Zuschauertribüne! Wir beraten heute den Entwurf des zunehmen hat – dazu gehören etwa die Wahl des Wehr- Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfas- beauftragten, die Wahl des Präsidenten des Bundesrech- sungsgerichtsgesetzes in erster Lesung. Artikel 94 des nungshofs und die Wahl des Bundesbeauftragten für den Grundgesetzes formuliert: Datenschutz –, dann muss ich bei allem Respekt vor die- sen Ämtern sagen: Die Wahl eines Verfassungsrichters 1) Anlage 2 ist nicht minder wichtig, und deshalb wäre es unstimmig, 5288 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Stephan Harbarth (A) die Entscheidung über die Wahl von Verfassungsrichtern In diesem Sinne wird diese Gesetzesänderung gerade (C) dauerhaft beim Wahlausschuss zu belassen. für uns eine Verpflichtung sein, in der praktischen Um- setzung von dem neuen Verfahren weise Gebrauch zu Das folgt verfassungspolitisch für mich insbesondere machen. aus der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, Ge- setze des Deutschen Bundestages als verfassungswidrig Vielen herzlichen Dank. zu verwerfen. Ein Senat des Bundesverfassungsgerichts (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bestehend aus acht Richtern kann mit fünf zu drei Richterstimmen beschließen, dass ein Gesetz, das der Deutsche Bundestag einstimmig mit dem Votum von Vizepräsidentin Ulla Schmidt: 631 Abgeordneten beschlossen hat, verfassungswidrig Nächste Rednerin ist Renate Künast, Bündnis 90/Die ist. Wenn der Deutsche Bundestag ein Gesetz beschließt, Grünen. dann beschließt er das ja nicht nur deshalb, weil er es politisch für zweckmäßig hält, sondern auch deshalb, Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weil die Abgeordneten der Überzeugung sind, dass das Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe entsprechende Gesetz verfassungskonform ist. Deshalb Vorrednerin und liebe Vorredner! Herr Bartke war der halte ich es für richtig, wenn fünf Verfassungsrichter in Erste, der den jetzigen Verfassungsgerichtspräsidenten, Karlsruhe die Möglichkeit haben, das Votum von im Ex- zitiert hat, der noch als Herr Professor Voßkuhle in einer tremfall 631 Abgeordneten, die für ein Gesetz gestimmt Kommentierung ausgeführt hat, dass es nach dem Wort- haben, zu überspielen, das Gesetz also als grundgesetz- laut des Grundgesetzes wohl richtig sei, dass der Bun- widrig zu verwerfen, dass diese Richter wenigstens un- destag und nicht eine vom Bundestag bestimmte Kom- mittelbar vom Deutschen Bundestag gewählt worden mission wählt. Das finde ich auch richtig. sind, der seinerseits vom deutschen Volk in unmittelba- Ich will nur hinzufügen – Herr Harbarth und andere rer und direkter Wahl gewählt wurde. haben das auch angesprochen –: Es ist eigentlich noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- viel putziger. neten der SPD) (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Stimmt!) Verfassungspolitisch spricht aus unserer Sicht viel da- Es ist putzig, dass der Professor Voßkuhle so kommen- für, Frau Kollegin Wawzyniak – wir sind in der weiteren tiert hat, dass aber der Verfassungsrichter Voßkuhle dazu Gesetzesberatung für den Diskurs offen –, dass man die geurteilt und in einer Entscheidung gesagt hat: Nein, das Wahl der Richter ohne Aussprache vornimmt. Das ist jetzige Verfahren ist mit dem Grundgesetz vereinbar. – (B) insbesondere deshalb naheliegend, weil wir die Sorge Ein wenig gewunden, einige Pirouetten gedreht, und mir (D) haben, dass Kandidaten hier im Plenum zerredet werden. scheint es auch so zu sein: ein klein wenig sich nicht ge- Wir finden es auch gut – jetzt komme ich auf Ihren traut, in eigener Sache zu sagen: Bundestag, mach es mal Punkt zurück –, wenn ein Vorschlag des Wahlausschus- anders! ses gemacht wird und dann über diesen Vorschlag des Wahlausschusses abgestimmt wird, weil damit die Vor- Insofern ist der heutige Tag, an dem wir alle miteinan- der, alle Fraktionen, diesen Entwurf für eine Gesetzesän- züge beider Systeme miteinander kombiniert werden derung einbringen, ein guter Tag. Es ist aber auch ein gu- können. ter Tag für Herrn Voßkuhle. Von dem geistigen Spagat, Ich möchte klarmachen, dass es um den Ausgleich den er in seinem Leben noch aushalten musste, erlösen von möglichen verfassungsrechtlichen bzw. verfassungs- wir ihn jetzt. Gut so! politischen Defiziten geht und nicht um einen Kompe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tenzzuwachs für Karlsruhe. Der Umstand, dass Verfas- sowie der Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD] und sungsrichter künftig mit Zweidrittelmehrheit direkt vom Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Deutschen Bundestag gewählt werden, macht sie selbst- verständlich nicht zu Ersatzgesetzgebern, sondern be- Es ist gut, meine Damen und Herren, dass wir – ich sagte lässt sie in der Position, die sie bisher haben. es schon – gemeinsam zu dem Ergebnis kommen. Wir als Grüne haben schon viele Jahre genau eine solche Re- Wir bekommen ein Mehr an Transparenz, ein Mehr gelung – Wahl durch das Plenum – gefordert. an öffentlicher Debatte. Das mag dem einen gefallen, das mag dem anderen nicht gefallen. Ich finde, die Be- Eines ist klar – einige haben es schon angetippt –: reitschaft, auch eine kritische Diskussion über die eigene Nicht nur das Grundgesetz fordert uns vom Wortlaut her Person auszuhalten, sollte nicht nur von denen verlangt auf, als Bundestag zu wählen; die jetzige Regelung be- werden, die sich in einem wichtigen öffentlichen Amt deutet auch eine Schieflage im Verhältnis zu Wahlen von um eine vierjährige oder fünfjährige Amtszeit bewerben, anderen Beauftragten, die wir im Plenum durchführen: sondern auch von denen, die sich um eine zwölfjährige den bzw. die Datenschutzbeauftragte, die bzw. den Wehr- Amtszeit bewerben. beauftragten. Da ist es schon angemessen, auch die Krone des Rechts, die höchsten Richterinnen und Rich- (Margaret Horb [CDU/CSU]: Genau!) ter, die Spitze der rechtsprechenden Gewalt in unserer Gewaltenteilung ebenfalls im Plenum des Deutschen Wichtig ist, dass die Debatten dann mit Vernunft und mit Bundestags zu wählen; alles andere wäre nicht angemes- Stil geführt werden. Hier werden wir alle gefordert sein. sen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5289

Renate Künast (A) Lassen Sie mich auch sagen: Ich bin froh darüber, durchaus auch in der Fraktion, noch unterschiedliche (C) dass wir dieses Gesetz erst jetzt einbringen und es nicht Auffassungen. Lassen Sie uns hier über ein Verfahren vor einem halben oder einem Dreivierteljahr eingebracht für das Plenum oder für die Kommission diskutieren. haben, als es noch Auseinandersetzungen gab über Ideen, Jetzt ist es so, dass immer außerhalb der Kommission die die Entscheidungsmöglichkeiten des Verfassungsgerichts Gespräche mit den potenziellen Kandidatinnen und Kan- einzuengen. Seinerzeit wäre es das falsche Signal gewe- didaten stattfinden. sen, hätte es eine falsche Botschaft vermittelt. Ich sage aber persönlich auch dazu: Ich möchte nicht Wir sollten froh sein, dass wir eine Gewaltenteilung da enden, wo die in den USA enden. Der Präsident haben. Ich erlebe ständig, dass uns Delegationen aus al- macht einen Vorschlag, und danach, glaube ich, wird die ler Herren und Frauen Länder – die Kolleginnen und Person, die dann bei einer solchen Anhörung abgelehnt Kollegen aus dem Rechtsausschuss kennen das – immer worden ist, nie wieder für ein Amt kandidieren. Also, ich fragen: „Wie funktionieren eigentlich bei euch Rechts- will nicht diese Schärfe der Auseinandersetzung und staat und Gewaltenteilung?“, und die immer versuchen diese Herabwürdigung einzelner Personen. Deswegen wollen, die Prinzipien, aber auch das Selbstbewusstsein bin ich an der Stelle für Vorschläge offen. Aber Sie wis- zu verstehen, das für jede einzelne der drei Gewalten da- sen, dass wir immer gesagt haben: Es muss mehr Aus- zugehört. einandersetzungen über die Personen geben und sie müs- sen sich der Debatte stellen. Insofern ist es richtig, dass wir die Mitglieder des Ver- fassungsgerichts im Plenum wählen, und es ist auch Ich kann also feststellen, meine Damen und Herren: richtig, dass manche Idee vom Anfang des Jahres, die Heute ist ein guter Tag, ein guter Tag für das Gericht, weil Rechte des Verfassungsgerichts zu beschneiden, nicht es als Spitze der Rechtsprechungsgewalt in Deutschland Realität wird. angemessener behandelt wird. Es ist ein guter Tag für den Bundestag und ein guter Tag für mehr Transparenz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durch Wahlen. Ich habe noch zwei, drei Änderungsideen. Wir als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grüne haben nicht nur gefordert, dass im Plenum ge- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der wählt wird, sondern wir haben noch eine Vielzahl ande- CDU/CSU und der LINKEN) rer Forderungen. Eine Forderung will ich als erste nennen, weil ich Vizepräsident : glaube, dass es für alle anderen am einfachsten ist, sie Als nächstem Redner erteile ich Herrn Dr. Stefan mitzutragen. An einer Stelle ist dieses Gesetz nämlich Heck, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (B) (D) noch altertümlich, und zwar da, wo es für das Beset- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zungsverfahren in der Kommission immer noch d’Hondt neten der SPD) vorsieht. Jetzt weiß ich, dass manche sagen: Ach, sollen wir das auch noch ändern! – Es ist aber altertümlich, weil wir uns überall für ein anderes Verfahren entschie- Dr. Stefan Heck (CDU/CSU): den haben. Deshalb bitte ich alle, darüber nachzudenken, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- ob wir das im Gesetzgebungsverfahren nicht ändern und rade zieht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hier auch das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers hi- nach dreijähriger Renovierungszeit in sein altes Stamm- neinnehmen können. Das ändert im Augenblick gar gebäude zurück – für uns eine gute Gelegenheit, auch nichts. Aber es ist besser, es zu dem Zeitpunkt zu ändern, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu renovieren. Es an dem wir tatsächlich Hand ans Gesetz legen. geht zwar formal nur um einen wenig geänderten Text, aber unser Vorschlag, künftig dem Plenum des Deut- Zweiter Punkt ist das Thema Frauenquote. Das Ge- schen Bundestages bei der Richterwahl das letzte Wort richt ist mit Frauen besetzt wie schon lange nicht mehr. zu lassen, ist ein nicht zu unterschätzender Eingriff in Die Geschlechter finden sich durchaus passabel wieder, das bisherige Gefüge des Gerichts. obwohl man auch hier noch weitermachen kann. Aber wenn dieser Bundestag hier demnächst ein Quotengesetz Nach dem, was wir hier gehört haben, ist es, glaube für die Vorstände und für die Aufsichtsräte und eine Fle- ich, gut, dass dieser Prozess – das gilt dann letztlich auch xiquote für das Management usw. beschließt, fragt man für eine Entscheidung –, den wir heute anstoßen, auf sich ja, warum dann nicht auch für das Bundesverfas- breiter Unterstützung fußt und dass wir das auch reich- sungsgericht eine vielleicht ähnlich hohe Quote für lich abgewogen haben. Denn gerade Änderungen bei der Frauen und Männer vorgesehen wird, um einfach einer Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht bedürfen ei- zukünftig vielleicht auftretenden Fehlentwicklung zu ner sorgfältigen Prüfung. Immerhin geht es – um bildlich wehren. im Baubereich zu bleiben – um die Statik des Bundes- verfassungsgerichts, das wiederum eine große Bedeu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung für die Statik unseres Grundgesetzes hat. In diesem sowie bei Abgeordneten der SPD) Grundgesetz – es ist eben schon zitiert worden – heißt es ganz schlicht: Mein dritter Punkt ist die Frage der Anhörung, die Frau Wawzyniak auch schon angesprochen hat. Wir Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes würden mit Ihnen im Ausschuss gern auch über Anhö- werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom rungen diskutieren. Ich weiß, dazu gibt es bei uns, Bundesrate gewählt. 5290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Stefan Heck (A) Das, was in der Verfassung so einfach klingt, stellt auf die Redegewandtheit und die persönliche Meinung (C) sich in der Verfassungspraxis als gar nicht so einfache von Kandidaten zu tagespolitischen Themen und am Aufgabe dar. Dementsprechend liest sich der Paragraf Ende auch nicht auf die Fähigkeit, sich in den Medien im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, der das Verfahren möglichst überzeugend darzustellen. Wir alle sollten uns zur Wahl der Richter konkretisiert, sehr viel komplizier- deshalb davor hüten, die Wahl der Richter des Bundes- ter. Aus dem einen Satz im Grundgesetz sind immerhin verfassungsgerichts zum Gegenstand parteipolitischer fünf ganze Absätze im entsprechenden Gesetz gewor- Auseinandersetzungen zu machen. Deshalb werden die den. Richter auch weiterhin ohne Aussprache gewählt wer- den; wir nehmen damit eine Verfassungstradition auf, Aber auch in Zukunft wird sich das Wahlverfahren welche die Würde der höchsten Staatsämter wahrt. nicht auf einen einzigen Satz verkürzen lassen. Die Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht bleibt eine Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Summe steht heikle Angelegenheit. Das ergibt sich schon aus der be- der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf auch unter dem reits angesprochenen Machtfülle, die den acht Richtern Motto „Mehr Demokratie wagen“. Mit der Stärkung des jedes Senats auferlegt worden ist. Sie wachen über die Plenums bei der Richterwahl machen wir deutlich: De- Aufrechterhaltung unserer Verfassungsordnung, und sie mokratische Legitimation ist auch für die Wahl der Rich- allein sind es, die Gesetze dieses Hohen Hauses am Ende terinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts un- für nichtig erklären können. verzichtbar; denn Artikel 20 des Grundgesetzes stellt unmissverständlich klar, dass alle Staatsgewalt vom Es ist daher von ganz entscheidender Bedeutung, dass Volke ausgeht, darunter eben auch die rechtsprechende das Handeln des Bundesverfassungsgerichts mit all sei- Gewalt. ner rechtlichen, gesellschaftlichen, aber am Ende eben auch politischen Tragweite von einem soliden Funda- So richtig es ist, dass das Bundesverfassungsgericht ment an Legitimität getragen wird. Dazu gehört natür- unser Handeln als Bundestag kontrolliert, ist es keines- lich auch die Legitimation der Zusammensetzung des wegs so, dass die Rechtsprechung quasi als unnahbare, Gerichts und am Ende jedes einzelnen Richters selbst. sich selbst legitimierende Trutzburg des Rechts das Die Richter sollen nicht nach persönlichen Ansichten Volkshandeln kontrolliert. Genau das Gegenteil ist der richten. Für die Richter des Bundesverfassungsgerichts Fall: Das Volk kontrolliert sich selbst. Die Legitimation gilt wie für die Richter jedes anderen Gerichts in all unserer Verfassungsorgane geht vom Volk aus. Auch Deutschland Artikel 20 Grundgesetz: Sie sind an Recht die Richter am Bundesverfassungsgericht kommen des- und Gesetz gebunden. Doch gerade die Juristen unter halb um eine solide demokratische Legitimation nicht uns wissen, dass am Ende jeder zumal verfassungsrecht- herum. (B) lichen Fragestellung eine Wertentscheidung getroffen (D) werden muss, die von der Persönlichkeit des Richters Deswegen, Frau Künast, bin ich auch skeptisch, ob nicht zu trennen ist. Deshalb ist es richtig, dass wir die wir, nachdem wir auch im Bundestag aus guten Gründen Legitimität der Richter auf eine möglichst breite Basis keine Frauenquote haben, damit nun beim Bundesver- stellen. fassungsgericht anfangen sollten. Ich möchte einen weiteren Gedanken ansprechen: Wir Ich komme zum Schluss. Wer uns als Parlament bis- leisten damit heute auch einen Beitrag zum Schutz parla- weilen zu bedenken gibt – und das gelegentlich zu mentarischer Minderheiten. Ich erwähne das, weil wir Recht –, was das Demokratieprinzip erfordert, der sollte dieses Thema hier erst kürzlich kontrovers diskutiert ha- auch selbst hinreichend demokratisch legitimiert sein. ben. Das Bundesverfassungsgericht hatte die bisherige Dafür tragen wir heute Sorge. In den letzten Jahren ha- Rechtslage bei der Wahl der Richter 2012 ausdrücklich ben wir einiges investiert – um wieder zu dem Bild vom für verfassungskonform erklärt. Deswegen denke ich, Anfang zurückzukommen –, um durch Renovierungen wir sollten heute ganz selbstbewusst darauf hinweisen, unsere Bausubstanz landauf, landab zukunftsfest zu ma- dass wir keineswegs Karlsruher Vorgaben umsetzen, chen. Das gilt unter anderem für das nunmehr renovierte sondern – so sollte es der Normalfall sein – eine eigen- Hauptgebäude des Bundesverfassungsgerichts. Unter- ständige politische Entscheidung treffen. Wir stärken die schätzen wir deshalb nicht die kleine Renovierung des Minderheitenrechte hier in diesem Haus, und zugleich Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, die wir heute ansto- stärken wir die Legitimation des Bundesverfassungsge- ßen. Mit diesem Plus an demokratischer Legitimation richts. Wir bringen damit zum Ausdruck, liebe Kollegin- machen wir das höchste deutsche Gericht zukunftsfest. nen und Kollegen: Politik wird weiterhin hier in Berlin und nicht in Karlsruhe gemacht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD) Ich möchte daher auch ganz deutlich sagen, was es in Vizepräsident Peter Hintze: Zukunft nicht geben soll und nicht geben wird: Das sind Als letztem Redner in der Debatte erteile ich das Wort öffentliche Kreuzverhöre, wie sie für die Richter des Su- Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. preme Court in den Vereinigten Staaten vorgesehen sind. Wir sind überzeugt: Es kommt auf die fachliche und per- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sönliche Eignung der Richter an und eben gerade nicht neten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5291

(A) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Letzten Endes wird sicherlich die Frage erlaubt sein, (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ob diese Änderung verfassungspolitisch in der Verfas- Herren! Liebe Kollegen! Die Wahl der Verfassungsrich- sungspraxis eine tatsächliche Änderung bringt oder ter durch das Plenum des Deutschen Bundestages ist nicht. Die Beantwortung dieser Frage sei in den Raum eine nicht völlig unerhebliche Änderung der Verfas- gestellt. In unserer Verfassung kommt auch dem Verfah- sungspraxis in diesem Lande. Das Grundgesetz und das ren und der Pflege von Symbolen ein hoher Wert zu. Bundesverfassungsgerichtsgesetz geben dem Bundes- Allein der Umstand, dass zukünftig dieses Plenum die verfassungsgericht eine starke Stellung. Es hat damit Verfassungsrichter wählt, ist eine Stärkung der demokra- nicht nur die Kompetenz, Gesetze zu verwerfen, sondern tischen Teilhabe und eine Aufwertung des Symbols Bun- die Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben unter desverfassungsgericht im Machtgefüge zweier Verfas- bestimmten Umständen auch selbst Gesetzeskraft. Die sungsorgane. Wer es mit unserer Verfassung ernst meint starke Akzeptanz des Grundgesetzes und das hohe und sie weiterhin stärken möchte, kommt um die Pflege Schutzniveau unserer Grundrechte verdanken wir in den und die Wertschätzung der Verfassungssymbole nicht letzten 60 Jahren auch der Arbeit unseres Verfassungs- umhin. gerichts. Deswegen sei an dieser Stelle auch dem Verfas- In diesem Sinne: Lassen Sie uns dieses Verfahren be- sungsgericht für seine Arbeit im Verfassungsgefüge ge- schließen, auf dass das Verfassungsgericht und der Bun- dankt. destag gleichermaßen an Rechten gewinnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Vielen Dank. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Verhältnis zwischen dem rechtsetzenden Bundes- neten der SPD) tag und dem rechtsprechenden Verfassungsgericht ist dennoch sensibel. Die Grenze zwischen gesetzgeberi- Vizepräsident Peter Hintze: scher Wertentscheidung und verfassungsrechtlicher Ich schließe die Aussprache. Kontrolle ist oftmals fließend. Gleichwohl sollte diese Grenze im Interesse beider Verfassungsorgane zumin- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- dest bestimmbar sein. So wie der Bundestag im Rahmen wurfs auf Drucksache 18/2737 an die in der Tagesord- der Gesetzgebung den Schutz verfassungsgemäßer nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Rechte beachten sollte, hoffen auch wir stets auf ein Be- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann mühen des Verfassungsgerichts, die gesetzgeberischen ist die Überweisung so beschlossen. Entscheidungsspielräume zu respektieren. (B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Eine Wahl der Richter des Verfassungsgerichts durch Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna das Plenum des Deutschen Bundestages stärkt beide Ver- Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der fassungsorgane. Es stärkt das Bundesverfassungsgericht, Fraktion DIE LINKE weil durch die Erfüllung des Wortlautes des Grundgeset- Die Abgeltungsteuer abschaffen – Kapitaler- zes die Richter eine höhere demokratische Legitimation träge wie Löhne besteuern haben. Es stärkt aber auch den Deutschen Bundestag, weil die Mitwirkungsrechte aller Kollegen in einem ent- Drucksache 18/2014 scheidenden Punkt nicht nur gewahrt, sondern auch ge- Überweisungsvorschlag: stärkt werden. Finanzausschuss (f) Haushaltsausschuss Wir sollten uns im Rahmen der Debatte über diesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Gesetzesvorschlag auch über die Modalitäten der Ent- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen scheidungsfindung unterhalten. Ich glaube, wir sind uns Widerspruch. Dann ist so beschlossen. einig, dass die Würde des Verfassungsorgans Bundesver- fassungsgericht und die starke Stellung der Richter, die Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- gerade unabhängig sein sollen, eine Anhörung oder gar ner das Wort dem Abgeordneten Klaus Ernst, Fraktion eine Debatte im Plenum des Deutschen Bundestages un- Die Linke. möglich machen. Gleichwohl meine ich, dass das Infor- mationsrecht des einzelnen Abgeordneten – möglicher- (Beifall bei der LINKEN) weise auch auf vertraulichem Wege – über die zu bestimmenden Kandidaten eine Rolle einnehmen sollte, Klaus Ernst (DIE LINKE): über die wir noch konkret zu sprechen haben. Ich glaube, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis zum dass sich jeder Kollege aus diesem Hohen Hause, der zu- Jahre 2009 galt, dass Kapitalerträge prinzipiell wie Ein- künftig Verfassungsrichter wählt, redlicherweise zumin- künfte aus Arbeit zu besteuern sind. Je nach Höhe des dest über die Kandidaten informieren sollte. Das sind Einkommens eines Steuerpflichtigen wurden deshalb wir der Machtbalance zwischen beiden Verfassungsorga- Kapitalerträge mit bis zu 42 Prozent besteuert. Mit der nen schuldig. Wie diese Mitwirkungspflicht erfüllt wird, Reichensteuer waren es sogar 45 Prozent. Unter Kohl sollten wir möglicherweise auch im Rahmen der Ge- waren es übrigens 52 Prozent. 2009 wurde dies geändert. schäftsordnung festlegen. Die Abgeltungsteuer wurde eingeführt. Kapitalerträge 5292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Klaus Ernst (A) werden seitdem im Regelfall nur noch mit einem pau- Eindruck ist, dass die Schere bereits zu weit aus- (C) schalen Satz von 25 Prozent besteuert. In der Folge heißt einandergegangen ist. das, dass wir Arbeit höher besteuern als hohe Kapitalein- kommen. Reiche werden damit steuerpolitisch geschont, Diese Debatte haben wir bereits in den Vorständen von Beschäftigte, die ihr Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen DAX-Unternehmen. Hier hält sie leider noch zu wenig müssen, geschröpft. Die Privilegierung von Kapitalein- Einzug, meine Damen und Herren. künften, meine Damen und Herren, durch die Abgel- tungsteuer gehört abgeschafft. Sie ist nicht zeitgemäß. Statt steuerpolitisch entgegenzuwirken, verschärfen Sie dieses Problem durch einen Billigtarif für Kapitaler- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- träge. Das WSI, ein wissenschaftliches Institut, hat ge- NIS 90/DIE GRÜNEN) rade eine neue Studie veröffentlicht mit dem Titel „Reichtum in Deutschland wächst und verfestigt sich“. Mit welcher Begründung haben Sie das gemacht? Der In der Presseerklärung des WSI heißt es dazu: Gedanke hinter der Abgeltungsteuer war – um es mit den Worten des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück Einen wesentlichen Grund für den wachsenden Ein- zu sagen –: kommensvorsprung insbesondere der sehr Reichen sehen die Wissenschaftler im höheren Gewicht der Besser 25 Prozent von X als 42 Prozent von nix. Kapitaleinkommen in ihren Haushalten. Da Men- Durch einen Billigtarif sollten die Steuersünder bitte schen mit hohen Einkommen sehr häufig auch grö- schön zur Ehrlichkeit bewegt werden. Hat das funktio- ßere Vermögen besitzen, profitieren sie in besonde- niert? rem Maße von Zinsen, Dividenden oder Mieteinnahmen. Gerade während der 2000er Jahre ( [CDU/CSU]: Ja!) haben sich Kapitaleinkommen deutlich stärker ent- Seit Einführung der Abgeltungsteuer sanken die Steuer- wickelt als Lohneinkommen. Und durch die pau- einnahmen laut Kassenstatistik dauerhaft um etwa schale Abgeltungssteuer werden sie niedriger be- 4 Milliarden Euro. steuert als Arbeitseinkommen. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Hat das viel- Meine Damen und Herren, in der Antwort auf unsere leicht etwas mit den Zinsen zu tun?) Kleine Anfrage kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die alte Rechtslage, also die Besteuerung von bis zu 45 Pro- Offenbar waren die Steuerflüchtigen trotz Billigtarif zent, in allen Jahren, die danach gefolgt wären, zu Min- nicht bereit, ehrlich zu sein. In Ihrer Antwort auf unsere dereinnahmen geführt hätte. Bezogen auf die 25 Prozent Kleine Anfrage führen Sie diesen Einbruch wesentlich Abgeltungsteuer ist das nun wirklich absurd. Ihre Ein- (B) (D) auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurück. Wie kom- schätzung beruht auch nicht auf statistisch belegten Zah- men Sie denn darauf? len, sondern auf einer Simulationsrechnung, wie Sie selber schreiben. Ihr Ergebnis steht im krassen Wider- (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Vor al- spruch zur Kassenstatistik, also den realen Zahlungsein- lem die Entwicklung der Zinsen, das ist das gängen, die wir vereinnahmen können. Problem!) Selbst in der Krise sind die Vermögen der Reichen und Zugegebenermaßen gibt es darin Ungenauigkeiten Superreichen hierzulande deutlich gewachsen. In der aufgrund unterschiedlicher Jahrgänge usw. Diese erge- Krise! Eine geringere Einnahme aus der Besteuerung ben sich zum Beispiel daraus, dass nicht alle Steuer- von Kapitaleinkommen lässt sich mit der Krise wirklich pflichtigen ihre Steuererklärung und damit ihre Zahlun- nicht begründen. gen zu dem Zeitpunkt leisten, dem sie statistisch zugeordnet werden sollen. Dennoch: Zwischen Ihrer Mi- (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Eben krosimulation und den realen Kasseneingängen besteht doch!) eine riesige Differenz, die durch diese Ungenauigkeit nicht erklärbar ist. Ich empfehle dringend, Ihre Mikrosi- Die Zahl der Vermögensmillionäre in Dollar hat sich mulation noch einmal zu überarbeiten. Sie hält einer Re- laut World Wealth Report seit 2008 um 40 Prozent er- alitätsüberprüfung nicht stand. Das Deutsche Institut für höht. Es waren 810 000, inzwischen haben wir 1,1 Mil- Wirtschaftsforschung – nicht gerade für Falschrechnen lionen Vermögensmillionäre in Deutschland. Dass die im Auftrag der Linksfraktion bekannt – geht von min- eigentlich mehr und nicht weniger Steuern aufbringen destens 4 Milliarden Euro Mindereinnahmen jährlich müssten als vorher, dürfte auch Ihnen nicht so ganz durch die Abgeltungsteuer aus. fremd sein. 35 Milliarden Euro Dividende – eine Rekordsumme – Im Übrigen: Ihre Begründung von damals, das scheue haben deutsche Unternehmen 2013 an ihre Aktionäre Reh Kapital nicht durch zu hohe Besteuerung zu ver- ausgeschüttet. Meine Damen und Herren, selbst der Te- schrecken, ist inzwischen wirklich haltlos. Es gibt lekom-Chef Timotheus Höttges lässt sich gestern wie Steuer-CDs, ein automatisierter Informationsaustausch folgt in der Münchner tz zitieren: zwischen den Staaten ist geplant, und die Zahl der Selbstanzeigen von Steuerbetrügern liegt auf Rekord- Wenn einige wenige riesige Vermögen anhäufen, niveau. Sie müssen keinen Anreiz zur Ehrlichkeit da- die nicht mehr in die Realwirtschaft fließen, führt durch schaffen, dass Sie es besonders billig machen. Das diese Ungleichheit zu Ungerechtigkeit … Mein ist nicht mehr notwendig. Selbst wenn die Begründung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5293

Klaus Ernst (A) von damals falsch war: Heute ist sie noch „falscher“, Das kann ja wohl nicht im Sinn einer steuerlichen (C) durch Zeitablauf überholt. Gleichbehandlung sein. Ich fordere Sie deshalb auf: Schaffen Sie Steuerge- Fakt ist: Die Einführung damals war richtig, und die rechtigkeit! Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab! Es ist damals angeführten Gründe gelten bis auf Weiteres – das absolut inakzeptabel, Arbeit höher zu besteuern als ar- will ich hier unterstreichen – heute noch; denn auch zum beitsloses Einkommen. jetzigen Zeitpunkt kann die Einbeziehung von Kapitaler- trägen im Rahmen der regulären Besteuerung ohne ir- (Beifall bei der LINKEN) gendeine Form von Quellensteuer nicht gewährleistet werden. Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ordneten Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion. Das ist doch Unsinn!) (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Ernst, Sie haben in der Erläuterung zu Ihrem An- trag darauf abgestellt, dass es einen Wandel gibt, dass wir zwischenzeitlich mit dem automatischen Informa- Olav Gutting (CDU/CSU): tionsaustausch in Steuersachen vorankommen; das ist Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! richtig. Wir befinden uns international in einem Trans- „Groundhog Day“ bei den Linken: Altbekannt fordern formationsprozess. Der automatische Informationsaus- sie wieder einmal die Abschaffung der Abgeltungsteuer. tausch bedeutet geradezu einen Paradigmenwechsel im (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist gut so!) internationalen Kampf gegen Steuerhinterziehung, im internationalen Kampf um Steuergerechtigkeit. Ich sage es gleich vorweg: Wir werden das auch die- ses Mal ablehnen, und zwar nicht, weil wir glauben, dass Wir haben das Ziel, das im Ausland deponierte die Abgeltungsteuer der Weisheit letzter Schluss ist, Schwarzgeld sichtbar zu machen. Allerdings – und auch nicht weil wir glauben, dass die Abgeltungsteuer etwa das gehört zur Wahrheit – liegen aktuell die notwendigen ein Meilenstein wäre im Sinne von Steuergerechtigkeit Voraussetzungen für einen einigermaßen flächendecken- und Steuervereinfachung, und auch nicht, weil wir etwa den automatischen Informationsaustausch noch nicht glauben würden, dass es grundsätzlich richtig ist, Lohn- vor. Wir haben in den letzten Jahren fast 50 Doppel- einkünfte und Einkünfte aus Kapital unterschiedlich zu besteuerungsabkommen nach OECD-Muster abge- besteuern. Wir lehnen eine Abschaffung vielmehr ab, schlossen. Wir arbeiten dafür – das tun wir gemeinsam –, weil heute immer noch das gilt, was 2008, 2009 gegolten dass der automatische Informationsaustausch in Europa (B) hat und was Peer Steinbrück damals bei der Einführung endlich Standard wird, nicht nur in der EU, sondern in (D) richtigerweise gesagt hat – Sie haben ihn vorhin zitiert –, ganz Europa. Aber wir müssen anerkennen, dass die bis- nämlich 25 Prozent auf X sind allemal besser als her geschlossenen Abkommen noch nicht ausreichen, 100 Prozent oder 45 Prozent auf nix. um die Einbeziehung der Kapitaleinkünfte bei der natio- nalen Besteuerung sicherzustellen. Jetzt ist es natürlich einfach, mit dem Verweis auf eine Privilegierung von Kapitalerträgen gegenüber den Lassen Sie mich eine kurze Bestandsaufnahme zur Arbeitseinkommen eine Neiddebatte zu entfachen. Wir Abgeltungsteuer seit ihrer Einführung machen: müssten uns dann aber auch mit den Folgen einer Ab- Erstens. Das System der Besteuerung an der Quelle schaffung der Abgeltungsteuer beschäftigen. Während funktioniert. Die Abgeltungsteuer entlastet Bürger und bei der Besteuerung von Kapitalerträgen vor der Abgel- Verwaltung von unnötiger Bürokratie. Zum Beispiel tungsteuer, also in der Vergangenheit, der Staat auf die müssen viele Steuerpflichtige heute keine Erklärung zu ordnungsgemäße und vollständige Angabe dieser Ein- ihren Kapitaleinkünften, Anlage KAP, mehr abgeben. künfte angewiesen war, haben wir heute die Situation, dass die auszahlende Stelle, in der Regel eine Bank, das ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geld direkt an das Finanzamt abführt. Bei einer Rück- Ist das ernst gemeint?) kehr zum alten System, wie Sie fordern, wäre man wie- Zweitens. Die Zahlen des Ministeriums, die uns vor- der davon abhängig, dass Kapitalerträge von den Steuer- liegen, belegen klar – über Zahlen kann man immer bürgern vollständig angemeldet werden. Wir hätten also streiten –, dass die Abgeltungsteuer in allen Jahren seit wieder die Situation wie in der Vergangenheit, dass hin 2008 zu Mehreinnahmen gegenüber der alten Regelung und wieder etwas vergessen wird. geführt hat, und zwar in Höhe von circa 5 Milliarden Mit der Einführung der Abgeltungsteuer und – das Euro. darf man nicht vergessen – der damit verbundenen Ab- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schaffung der einjährigen Spekulationsfrist für Wertpa- Herr Gutting, das stimmt nicht! Das ist gelo- piergewinne – das kam ja zusammen – haben wir ein gen! Das Gegenteil ist richtig!) Stück Steuergerechtigkeit, zumindest beim Steuervoll- zug, geschaffen. Das war im Wesentlichen auch der An- Sie haben die Kassenlage angesprochen. Ihre Argu- trieb für die Einführung der Abgeltungsteuer. Was nützt mentationslinie ist fehlerhaft. Sie ziehen die falschen es, wenn Sie einen Teil der Steuerpflichtigen mit einem Schlüsse. Es ist richtig, dass es kassenmäßig einen Rück- gerechten Tarif belegen, gleichzeitig aber ein anderer gang beim Steueraufkommen gab. Das liegt aber nicht Teil der Steuerpflichtigen quasi mit null rausspaziert. an der Abgeltungsteuer, 5294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Olav Gutting (A) (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: aber als typisch Amerika abgetan und gedacht, dass so (C) Doch!) etwas nur in den USA möglich ist. Aber Tatsache ist: Das, was Warren Buffett im Jahr 2011 gesagt hat, ist seit das liegt auch nicht an der Wirtschaftskrise, sondern das 2009 auch in Deutschland Gesetzeslage und eine Konse- liegt daran, dass wir seit Jahren eine Niedrigzinsphase quenz der ersten Merkel-GroKo. Die Abgeltungsteuer haben. Es ist völlig logisch, dass ich, wenn ich niedri- gehört deswegen dringend wieder abgeschafft. Das, was gere Zinsen bekomme und niedrigere Kapitalerträge Warren Buffett gesagt hat, ist wahr. Es ist eine himmel- habe, auch eine geringere Kapitalertragsteuer bzw. Ab- schreiende Ungerechtigkeit. geltungsteuer zahle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im und bei der LINKEN – Lothar Binding [Hei- Gesetz selbst standen schon Mindereinnahmen delberg] [SPD]: Es ist so aber falsch! Es ist drin! 1 bis 1,5 Milliarden weniger, nicht zwischen Zinsen und Dividenden zu unter- mehr!) scheiden! Deshalb ist deine allgemeine Aus- Was wäre die Alternative? Dazu haben wir in Ihrem sage falsch!) Antrag nichts gefunden. Die Alternative wäre die Wiederherstellung der alten Rechtslage. Mit keinem – Du kannst ja gleich reden, Herr Binding. Wort sagen Sie, wie die Besteuerung von Kapitalerträ- (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Mache gen sichergestellt werden soll. Wir würden, wenn wir ich auch!) uns von der Abgeltungsteuer verabschiedeten, ein Stück Steuervollzugsgerechtigkeit abgeben. Deswegen ist die Seit 2009 ist es so, dass Kapitaleinkommen in Rückkehr zur alten Rechtslage für uns derzeit nicht dar- Deutschland niedriger besteuert wird als Arbeitseinkom- stellbar. men. Das heißt zum Beispiel auch, dass es, wenn man den Spitzensteuersatz in Deutschland erhöhen würde, Lassen Sie uns doch lieber gemeinsam an dem müh- gar nicht die Reichen in Deutschland treffen würde, weil samen Projekt der Bekämpfung grenzüberschreitender Kapitaleinkommen nicht mehr dem Einkommensteuer- Steuerhinterziehung arbeiten. Lassen Sie uns gemeinsam satz in Deutschland unterliegt. Deswegen sage ich für diese Lücke bei der Steuergerechtigkeit schließen. Die uns Grüne ganz klar: Es gibt eine Steuer in Deutschland, OECD sieht vor, dass 2017/2018 zum ersten Mal ein au- die wir abschaffen wollen und die dringend abgeschafft tomatischer Datenaustausch stattfindet. Wir werden das gehört, und das ist die Abgeltungsteuer. in diesem Parlament und vonseiten der Bundesregierung mit der entsprechenden nationalen Rechtssetzung beglei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten. Das heißt, wir sind auf einem guten Weg. In abseh- und bei der LINKEN) (B) (D) barer Zukunft werden wir mit der wirksamen Umsetzung Sie ist ungerecht, und sie ist im Übrigen auch ein bü- des grenzüberschreitenden Informationsaustausches völ- rokratisches Monster. Sprechen Sie einmal mit den Steu- lig neue Handlungsoptionen haben, um zu einer gerech- erberaterinnen und Steuerberatern in diesem Land. Sie ten Besteuerung von Kapitalerträgen zu kommen. alle finden sie ganz furchtbar. Bis dahin – das will ich unterstreichen – werden wir (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ich nicht! Ihren Antrag ablehnen. Danach können wir gerne ge- Sprechen Sie mit den Steuerberatern, die hier meinsam über eine entsprechende Lösung sprechen. sitzen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ein weiterer Grund dafür, dass sie abgeschafft gehört, ist: Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen müssen Vizepräsident Peter Hintze: im Rahmen der Einkommensteuer je nach Leistungsfä- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- higkeit gleichmäßig besteuert werden. ordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen. Jetzt sagt auch Finanzminister Schäuble: Ehrlich ge- sagt, auch ich finde, die ist Murks, aber wir können sie Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erst 2020 abschaffen – Herr Gutting, so haben auch Sie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre- argumentiert –, weil es erst dann den automatischen chen hier über eine Steuer, die wahrscheinlich höchstens Informationsaustausch gibt. Bis dahin gelte das 10 Prozent der Bundesbürger wirklich kennen bzw. Steinbrück’sche Wort: 25 Prozent von x ist besser als nachvollziehen können. Das ist das Geheimnis ihres Er- 100 Prozent von nix. folges. Wüssten nämlich 90 Prozent der Menschen in diesem Land, worum es bei der Abgeltungsteuer eigent- Aber der Spruch von Steinbrück war schon 2009 lich geht, dann hätten wir eine Welle der Entrüstung. falsch und ist es heute noch mehr. Er war ausweislich Ihres eigenen Gesetzes schon 2009 falsch. Der Spruch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besagt, dass man davon ausgeht, dass die Abgeltung- und bei der LINKEN) steuer zwar nicht schön ist, man hinterher aber mehr Warren Buffett, der bekannte US-Milliardär, einer der Geld einnimmt und es mehr Steuerehrlichkeit gibt. Aber reichsten Menschen in den USA, brachte es 2011 auf den ausweislich Ihres eigenen Gesetzes haben Sie schon Punkt: Es ist schlichtweg ungerecht, dass ich als Milliar- 2009 mit Steuermindereinnahmen gerechnet, also mit där weniger Steuern zahle als meine Sekretärin. – Das weniger Geld und nicht mit mehr Geld. Das hat auch haben vielleicht einige in Deutschland mitbekommen, es nichts mit den Zinsen zu tun. Das stand in Ihrem Gesetz. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5295

Lisa Paus (A) Dort stand übrigens auch, dass die Abgeltungsteuer aufgrund eines Antrages diskutieren. Ich glaube, diese (C) mehr Bürokratie erzeugt und nicht weniger. Auch das Debatte wird geführt werden, solange es diese Abgel- Gegenteil davon haben Sie behauptet. tungsteuer gibt. Die Abgeltungsteuer ist heute tatsächlich noch fal- Aber wenn sie hier berechtigt kritisiert wird, dann scher, weil sich das Entdeckungsrisiko der Steuerhinter- muss man auch daran erinnern, dass diese Steuer inner- ziehung wesentlich erhöht hat gegenüber 2009 und im halb des Steuersystems eigentlich ein Fremdkörper ist, Übrigen auch gegenüber 1991, als das Bundesverfas- dass es eine Notoperation war, als sie eingeführt wurde. sungsgericht in einem Nebensatz gesagt hat, dass man Es war eine Notoperation, weil man versuchen wollte eventuell so etwas wie eine Abgeltungsteuer einführen – ob das gelungen ist, ist sehr in der Diskussion –, Kapi- könne. Selbst der Focus schreibt inzwischen, dass es das talflucht zu begrenzen und durch Anreizsysteme zu Bankgeheimnis in Deutschland faktisch nicht mehr gibt, verhindern. Nichtsdestotrotz sagen viele – das gilt weil es entsprechende Änderungen gegeben hat. weiterhin –, dass dort Elemente enthalten sind, die nicht passen. Ich will einmal den Vorsitzenden der Deutschen (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Steuer-Gewerkschaft, Herrn Eigenthaler, zitieren – das Tolle Referenz!) ist unbestritten ein Fachmann, der uns häufiger im Fi- Es gibt zwar noch nicht mit allen wichtigen Ländern den nanzausschuss bei diesen Fragen begleitet –, der sagt: automatischen Informationsaustausch, aber es gibt den Arbeit darf nicht höher besteuert werden als das Informationsaustausch auf Anfrage. Es gibt CD-An- Einkommen derjenigen, die nur auf dem Sofa lie- käufe. Auch die Schweiz hat dank unserer Verhinderung gen und ihre Kontoauszüge durchblättern. des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens ihre Politik geändert. Das ist nicht falsch. Das ist völlig richtig. Der Informationsaustausch wirft schon heute seine Wir müssen jedoch sagen, dass wir an dieser Stelle Schatten voraus bzw. zurück. Sie wie ich wissen, dass noch nicht so weit sind. Von daher haben wir wirklich ei- bei der Steuererklärung eine zehnjährige Verjährungs- nen Auftrag. Diesen Auftrag sieht auch der Bundes- frist gilt. Das heißt, wenn ich 2020 eine falsche Steuerer- finanzminister. Ich will das ausdrücklich sagen; denn klärung abgebe, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich diese Koalition muss die entsprechende Sensibilität an auch 2019, 2018, 2017, 2016, 2015, 2014, 2013 und den Tag legen. Ich habe die Ausführungen von Bundes- 2012 falsche Angaben gemacht habe. Deswegen ist es finanzminister Schäuble in der Haushaltsdebatte am sehr wohl auch heute relevant. Die Betreffenden fangen 8. April gerne zur Kenntnis genommen: jetzt an, darüber nachzudenken. Deswegen kann man heute die Abgeltungsteuer abschaffen. Ich sage: Man Natürlich kann man darüber diskutieren, ob die (B) (D) muss sie sogar abschaffen. Ich bin der Auffassung, dass Abgeltungswirkung der Kapitalertragsteuer steuer- man sehr gut begründen kann, warum die Abgeltung- licher Gerechtigkeit vollständig entspricht; das ist steuer bereits heute verfassungswidrig ist. wahr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist eine richtige und wichtige Aussage; darauf muss und bei der LINKEN) man aufbauen. Deshalb sage ich: Denken Sie noch einmal darüber Der Bundesfinanzminister hat ja bereits an unter- nach. Herr Steinbrück selber hat ja schon gesagt, dass sie schiedlichen Stellen darauf hingewiesen, dass das Ganze ein Fehler war. Deswegen bitte ich Sie noch einmal: nicht so richtig ins System passt. Um zu zeigen, dass das Nutzen Sie die Beratungen. Bringen Sie selber Änderun- eine Koalitionsmeinung ist, könnte ich jetzt auch den gen ein, damit wir die Abgeltungsteuer in dieser Legis- Vizekanzler zitieren, der im Mai deutlich laturperiode, möglichst noch im kommenden Jahr, tat- gemacht hat, dass es natürlich nicht gerecht ist, wenn Ar- sächlich endlich abschaffen. Eine Diskussion darüber hat beit viel stärker besteuert wird als Kapital. es ja schon in der Koalition gegeben. Also, geben Sie Es gibt also einen breiten Konsens. Nun haben wir sich einen Ruck, und machen Sie es auch praktisch über eine neue Lage. Die Notsituation, die 2008 noch bestan- ein neues Gesetz. den hat und 2009 zu dieser Änderung geführt hat, ist auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Weg, durch den bereits angesprochenen automati- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) schen Informationsabgleich überwunden zu werden. An dieser Stelle will ich gerne sagen, dass ich froh und dankbar bin, dass wir jetzt diesen Weg gehen. Das hat Vizepräsident Peter Hintze: aber auch damit zu tun, dass wir in der letzten Legisla- Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- turperiode den fehlerhaften Weg des deutsch-schweizeri- ordneten Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion. schen Steuerabkommens nicht gegangen sind, sondern (Beifall bei der SPD) dass wir eine solche Vereinbarung verhindert haben. Jetzt ist da Vernunft eingezogen. Ich höre, dass es hierzu Dr. Carsten Sieling (SPD): noch in diesem Monat eine größere Konferenz geben wird, wo dies deutlich wird. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Von daher über die Abgeltungsteuer ist so lang, wie es diese Steuer sollten wir im Finanzausschuss die Möglichkeit nutzen, gibt. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir hierüber über dieses Thema zu reden. Bevor wir dies tun, will ich 5296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Carsten Sieling (A) aber einige Dinge klarstellen, die hier durcheinander- Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): (C) geraten sind. Wenn man über Alternativen und darüber Herr Präsident! Hohes Haus! Lieber Kollege Ernst, redet, das Ganze in die sogenannte synthetische Einkom- ich bin immer wieder begeistert davon, wie Sie vor Tat- mensbesteuerung zurückzuholen, dann muss man zwi- sachen einfach die Augen verschließen können. Es ist ja schen Zinseinkünften, Dividenden und Veräußerungsge- nicht so – der Kollege Sieling hat es gerade sehr deutlich winnen unterscheiden. Hier scheint mir das Ganze noch erklärt –, dass die Vermögen heute noch genauso hoch etwas zu oberflächlich zu sein. Ich weise darauf hin, dass verzinst werden, wie das früher der Fall war. Nein, die bei der Besteuerung der Zinserträge – das gilt übrigens Zinsen sind dramatisch gesunken. Infolgedessen ist na- bei allen drei Positionen – die Anrechnung von Wer- türlich auch das Aufkommen aus dieser Steuer zurück- bungskosten nur im Rahmen des Sparerpauschbetrags gegangen. möglich ist. Ein Abzug aller Kosten von den Gewinnen ist also nicht mehr möglich. So gesehen ist in die Abgel- Liebe Kollegin Paus, wenn Sie erklären, dass Sie mit tungsteuer eine Systematik eingebaut worden, die Steu- Steuerberatern sprechen, dann sage ich Ihnen: Hier sit- ervermeidung minimiert. Damit wird man umgehen zen, soweit ich sehe, vier, mit denen Sie gut sprechen müssen. könnten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das täten. Der Kollege Ernst hat die Einbrüche bei den Einnah- Kommen Sie doch einfach einmal auf uns zu. Dann kön- men, mit denen wir es zu tun haben, angesprochen. nen wir die Dinge fachlich und in Ruhe sehr gut bespre- Natürlich sind die Vermögen gewachsen – gar keine chen. Frage –, aber der Zinssatz ist derart eingebrochen, dass Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Linken, der Ertrag aus den Vermögen nicht mehr so hoch ist. Deshalb ist das Volumen der Abgeltungsteuer für Zinser- ( [DIE LINKE]: Ist sehr gut!) träge zurückgegangen. Das ist ein Fakt. Das ist also ein Thema, mit dem man sich extra befassen muss, wenn ist im Grunde genommen von der Steuersystematik her man sich über die Wirkung noch einmal Gedanken durchaus hervorragend. Letztendlich ist die pauschale macht. Abgeltungsteuer ein Systembruch in unserem wirklich sehr komplizierten Einkommensteuerrecht. Wenn man Das zweite Thema sind die Dividendeneinkünfte. jetzt aber steuersystematisch diskutiert, dann sind viel- Auch hier gilt, dass nicht mehr alle Werbungskosten ab- leicht auch andere Fragen erlaubt: Ist es denn steuersys- zugsfähig sind. Hinzu kommt, dass das Halbeinkünfte- tematisch zweifelsfrei, Kapitaleinkünfte überhaupt zu verfahren keine Anwendung mehr findet. Man kann also besteuern und, wenn ja, in welcher Höhe? Das Kapital, nicht einfach sagen, dass die Einkünfte aus Dividenden das die Grundlage dieser Einkünfte darstellt, stammt niedriger besteuert werden. Vielmehr gibt es hier im Ver- letztlich aus Einkünften, die schon einmal versteuert (B) gleich zur zuvor geschilderten Situation eine andere Ent- worden sind. Derjenige, der durch einen entsprechenden (D) wicklung, weshalb wir uns damit auseinandersetzen Konsumverzicht Kapital angehäuft oder angesammelt müssen, dass man, wenn man zum vorherigen System hat, zurückkehrt, das Halbeinkünfteverfahren nicht wieder aktivieren kann. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Millionäre, Mil- Auch bei den Veräußerungsgewinnen ist es so – dies liardäre und Konsumverzicht?) gilt jedenfalls für die zukünftigen; bei denen aus der Ver- wird durch diese Mehrfachbelastung eventuell steuerlich gangenheit sieht es anders aus –, dass die Spekulations- schlechter gestellt als derjenige, der sein ganzes Ein- frist weggefallen und damit eine stärkere Besteuerung kommen konsumiert und keine Rücklagen bildet. möglich ist. Ich will mit diesen drei Punkten auf Folgen- des hinweisen: Dieses Thema ist nicht sehr einfach. Von Ich fordere jetzt nicht die Abschaffung der Besteue- daher sollten wir an dieser Stelle die Chance nutzen, das rung von Kapitaleinkünften. Das wäre sicherlich falsch. Thema solide und systematisch anzugehen. Auch ich wünsche mir, dass wir nicht bis zum Sankt-Nimmer- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Konsequent wäre leins-Tag warten. Wenn der automatisierte Informations- das!) austausch kommt, dann wollen wir das Thema angehen. Aber man muss in der Steuersystematik auch solche Fra- Dann muss man wirklich so weit sein, dass man 2017 gen angehen. Außerdem glaube ich, dass wir im Moment – meines Erachtens könnte man das bis 2017 schaffen – auf die Einnahmen aus dieser Steuer gar nicht verzichten diese steuerliche Ungleichgewichtung, diese Unwucht können. verändern kann. Wenn man das erreichen will, muss man früh damit anfangen. Deshalb ist es gut, dass wir hier (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die konsumver- eine Beratungsmöglichkeit haben. zichtenden Millionäre!) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich will auch nicht so weit gehen wie viele ernstzu- (Beifall bei der SPD) nehmende Wissenschaftler, die genau diese vollständige Abschaffung der Besteuerung von Kapitaleinkünften fordern, mit einer Begründung, die durchaus nachvoll- Vizepräsident Peter Hintze: ziehbar ist. Sie argumentieren, dass durch diese Besteue- Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- rung die Kapitalkosten insgesamt in die Höhe getrieben ordneten Philipp Graf von und zu Lerchenfeld, CDU/ werden; denn wenn die Zinserträge versteuert werden CSU-Fraktion. müssen, dann müssen die Erträge aus einer Kapitalan- (Beifall bei der CDU/CSU) lage den Sparer nicht nur für den Konsumverzicht ent- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5297

Philipp Graf Lerchenfeld (A) schädigen, sondern auch die Bezahlung dieser Steuer er- wir an die entsprechenden Daten herankommen – was (C) möglichen, also steigen die Kapitalkosten. teilweise inzwischen schon der Fall ist; viele zeigen sich selber an, weil sie Angst haben, erwischt zu werden –, Der Ökonom Manfred Rose hat dazu in seinem Auf- um zu einer vernünftigen und gerechten Besteuerung al- satz „Reform der öffentlichen Finanzen zur Stärkung der ler zu kommen statt vor allem zur Besteuerung des Ar- Standortqualität“ ausgeführt, dass das Sparen für die Zu- beitnehmers, der seine Steuer gleich vom Lohn abgezo- kunft gegenüber dem Konsum in der Gegenwart diskri- gen bekommt? Er sieht das Geld erst gar nicht, im miniert wird. Das gilt heute natürlich umso mehr, weil Gegensatz zu dem, der seine Kapitaleinkünfte selber die niedrigen Zinsen, die man zurzeit erzielen kann, in versteuert. Bezug auf das Anlagekapital der Sparer unter Berück- sichtigung der Inflationsrate real zu einem tatsächlichen Werteverzehr führt. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Lieber Kollege Ernst, dass die Vermögen angestiegen (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu sind, liegt sicherlich nicht daran, dass die Zinsen gesun- viel Konsum ist aber im Moment nicht das ken sind – das können sogar Sie in jeder Zeitung lesen –, Problem in Deutschland, würde ich sagen!) sondern es liegt teilweise daran, dass andere Einkünfte erzielt worden sind. Dem müsste man vielleicht statis- Vizepräsident Peter Hintze: tisch noch einmal nachgehen. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Ernst. Mögen Sie diese zulassen? Außerdem denke ich, Sie haben mich nicht ganz ver- standen. Ich habe nicht gesagt, dass ich die Kapitaler- tragsteuer abschaffen will, sondern ich habe nur gesagt: Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Ich will die Sache systematisch zu Ende denken. Ich bin Mit Freude. davon überzeugt, dass die Kapitalertragsteuer richtig ist. Ich bin auch dafür, dass sie gerecht ausgestaltet werden Vizepräsident Peter Hintze: muss. Wenn wir die Abgeltungsteuer mit einem systema- Mit Freude. – Herr Kollege Ernst, bitte schön. tischen Fragezeichen hinterlegen, führt das natürlich auch dazu, dass man andere Fragen stellen muss. Klaus Ernst (DIE LINKE): Was die Schwarzarbeit angeht, fehlt mir ein bisschen Herr Graf Lerchenfeld, ich habe aufmerksam Ihren das Verständnis. Denn letztendlich ist das angesparte Ausführungen gelauscht. Sie haben gesagt, die Zinsen Vermögen – das habe ich ausgeführt – schon einmal aus seien gesunken. Können Sie mir dann erklären, warum versteuertem Einkommen bzw. aus Konsumverzicht er- (B) allenthalben, in jeder Statistik, nachzulesen ist, dass zielt worden, (D) trotzdem die Geldvermögen insbesondere der ganz be- sonders reichen Menschen in unserem Lande massiv zu- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Konsumverzicht genommen haben? Offensichtlich haben sie sich den bei den Millionären und Milliardären?) Zinsen, die Sie angesprochen haben, entziehen können. sodass jetzt bei den Zinsen eine Mehrfachbesteuerung Sonst wäre das Vermögen schließlich nicht in dieser erfolgt. Schwarzarbeit wird, glaube ich, nicht mehrfach Weise gewachsen. besteuert. Zweitens. Ihren Ausführungen entnehme ich auch, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber der Anreiz ist dass Sie es prinzipiell für richtig halten, dass Kapital ge- doch derselbe!) ringer besteuert wird, und es sich nicht um eine Notsitu- ation handelt, in der dies gemacht wurde, sondern dass – Der Anreiz spielt in diesem Fall keine Rolle, sondern es eine prinzipielle Frage ist, ob versteuertes Einkom- es geht darum, dass man sich grundsätzlich überlegt, ob men noch einmal zu versteuern ist. man angespartes Kapital tatsächlich noch einmal und da- mit mehrfach besteuern soll. Wollen Sie mir zustimmen, dass es dann auch eine Lösung wäre, Schwarzarbeit, die in diesem Lande wirk- lich keiner will, dadurch zu verringern, dass man sagt: Vizepräsident Peter Hintze: Schwarzarbeiter zahlen nur den halben Steuersatz und Es gibt noch den Wunsch der Kollegin Paus nach ei- den halben Satz ihrer Sozialversicherungsbeiträge. – Das ner Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung. wäre dann auch ein Anreiz für sie, sich nicht mehr der Steuerzahlung zu entziehen, sondern sich geradezu freu- Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): dig an den Fiskus zu wenden und zu sagen: Ich bin Gerne. Schwarzarbeiter und möchte jetzt nur den halben Steuer- satz zahlen. – Das wäre doch genau dasselbe wie bei de- nen, die Kapitaleinkünfte haben und sie nicht ordentlich Vizepräsident Peter Hintze: versteuern. Bitte schön, Frau Kollegin. Wenn wir aber ein Gesetz haben, nach dem Kapital- einkünfte zu besteuern sind, wäre es dann nicht sinnvol- Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): ler, noch stärker die Voraussetzungen dafür zu schaffen Ich bin ja froh, wenn die Kollegin uns Steuerberater – wie es manche Vorredner schon gesagt haben –, dass jetzt befragt. 5298 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Vizepräsident Peter Hintze: den. Wie viele Leute haben gar nicht gewusst, dass sie (C) Es muss nicht alles öffentlich stattfinden, aber das ihre Kapitaleinkünfte tatsächlich versteuern müssen? können wir jetzt machen. Wie viele kleine Sparer haben gedacht, dass sie das nicht tun müssen? Durch die Abgeltungsteuer ist gerade unter (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ist Steu- dem Gesichtspunkt der Steuerhinterziehung mehr Steu- erberatung jetzt hier überhaupt erlaubt? – Hei- erehrlichkeit erreicht worden. terkeit) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es gab viele, die Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gar nicht gewusst haben, dass sie Steuern zah- Genau. Das ist eigentlich nicht erlaubt, Herr Graf len müssen!) Lerchenfeld. Sie können aber sichergehen, dass ich mit – Richtig, es gab viele, die gar nicht gewusst haben, dass zahlreichen Steuerberatern neben meinem eigenen in en- sie Steuern zahlen müssen. gem Kontakt stehe. Sie wissen auch, dass ich ein gutes Verhältnis zu Ihren Kolleginnen und Kollegen in der (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Uli Hoeneß!) Fraktion pflege. Wir haben aber auch genug andere Dinge zu tun, sodass wir nicht immer völlig überblicken, – Uli Hoeneß hat es sicherlich gewusst und hat den fal- was in der Praxis abgeht. Wenn Sie ein bisschen ehrlich schen Weg gewählt. zu sich selber sind, dann würden Sie das auch bestätigen. (Zurufe von der SPD: Den falschen Steuerbe- Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie das neue rater!) Ungerechtigkeitsproblem angesprochen haben, dass die – Er hat keinen Steuerberater genommen, sondern er hat Ersparnisse sozusagen gegenüber dem Konsum benach- sich einen ausgeschiedenen Finanzbeamten geholt, der teiligt seien. Das stimmt nicht. Wir müssen beides ganz ihn beraten hat. normal der Einkommensteuer unterwerfen. Dann würde sich die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit rich- (Heiterkeit) ten. Das ist das Einzige, was ich möchte: die gerechte Ich glaube, dass wir auf diese einfache Form der Steu- und gleiche Besteuerung von Kapital und Arbeit. erzahlung schon allein deshalb nicht verzichten können, Aber selbst wenn ich Ihren Gedanken verfolge, dass weil es – das haben meine Vorredner schon deutlich aus- man das Kapital zusätzlich privilegieren müsste, muss geführt – kein umfassendes Informationsaustauschsys- ich Sie fragen: Ist das das aktuelle Problem in Deutsch- tem gibt, das uns tatsächlich in die Lage versetzt, alle land? Wenn Sie recht hätten und daraus Verhalten folgen Kapitaleinkünfte zu erfassen und entsprechend zu be- würde, dann hätten wir zu viel Konsum in Deutschland. steuern. Die Abgeltungsteuer stellt sicherlich eine Ver- (B) Wenn man sich die Wirtschaftszahlen in Deutschland an- einfachung im bürokratischen Bereich dar. Aber wir (D) schaut, dann stellt man fest, dass das nicht unser Pro- müssen uns in den nächsten Jahren mit der Abgeltungs- blem ist. Im Gegenteil: Wir haben eine massive Inves- steuer intensiv befassen; denn wenn das Informations- titionsschwäche. Sie lesen offenbar ebenfalls Zeitung austauschsystem deutlich verbessert wird – das wird es – darauf haben Sie mehrfach hingewiesen – und haben ganz bestimmt –, dann wird es uns in die Lage versetzen, sicherlich festgestellt, dass wir Einbrüche zu verzeich- hier eine entsprechende Besteuerung durchzuführen. Die nen haben und dass es ganze Sektoren in Deutschland Bundesregierung bemüht sich seit geraumer Zeit, hierfür gibt, die nicht mehr investieren, weil sie die Märkte nicht die Voraussetzungen zu schaffen. In Australien wurde sehen, auf denen sie ihre Produkte verkaufen können. beim Gipfel der Finanzminister der G 20 ein großer Glauben Sie wirklich, dass das Problem in Deutschland Schritt nach vorne gemacht. Für diese Bemühungen gilt ein zu hoher Konsum ist? unser Dank dem Bundesfinanzminister und allen Mitar- beitern seines Hauses. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Wenn die Voraussetzungen tatsächlich geschaffen Das Problem in Deutschland ist sicherlich nicht ein zu sind, müssen wir darüber nachdenken – ich bin dem Kol- hoher Konsum. Im Gegenteil: Man hat gerade in den legen Sieling sehr dankbar, dass er die Kompliziertheit letzten Jahren deutlich gemerkt, dass sehr viele Leute der Materie deutlich gemacht hat –, wie wir in Zukunft aufgrund der zurückgehenden Zinsen investiert haben, die Kapitaleinkünfte gerecht besteuern. Ich glaube, dass zum Beispiel in ihre Häuser. So wurden neue Fenster wir hier noch einen weiten Weg vor uns haben. Wir wer- eingebaut und die Wärmedämmung verbessert. Das ist den uns damit in den nächsten Jahren intensiv befassen. ein ganz vernünftiges ökonomisches Verhalten. Auf diese Art und Weise hat die Binnenkonjunktur unseren Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Wirtschaftsaufschwung von innen her einigermaßen ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- stützt. Ich habe nur gesagt: Wenn wir systematisch den- ten der SPD) ken, dann müssen wir bis zum Ende denken.

Ich bin nicht der Meinung – das habe ich mehrfach Vizepräsident Peter Hintze: betont –, dass die Abgeltungsteuer unbedingt beibehal- Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das ten werden muss. Natürlich müssen Kapitalerträge be- Wort dem Abgeordneten Lothar Binding, SPD-Fraktion. steuert werden; das ist gar keine Frage. Aber wir müssen bedenken: Durch die Abgeltungsteuer ist eine Vielzahl (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der von Sparern in die Steuerehrlichkeit zurückgeführt wor- CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5299

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): – Tja! – Die Abgeltungsteuer ist eine Schedule. Wir nen- (C) Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! nen das „Schublade“. Immer wenn es im Steuersystem Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über die verschiedene Schubladen – A, B und C – gibt, sucht sich Abgeltungsteuer sprechen, meinen wir drei verschiedene jeder Steuerbürger die Schublade aus, bei der er die Steuerkategorien: erstens die Steuern auf Zinseinkünfte, meisten Steuern spart. Da legt er den meisten Gewinn zweitens die Steuern auf Dividenden aus Aktien und und das höchste Einkommen – alles, was er so hat – hi- drittens die Steuern auf Veräußerungsgewinne. Jetzt nein. Aber da, wo hoch besteuert wird, hat er plötzlich frage ich einmal die Zuschauer auf der Tribüne, ob sie keine Einkünfte mehr. Deshalb ist eine Schedulen-Be- eher Aktienpakete oder Sparbücher haben. steuerung immer schlecht. Sie gehört abgeschafft. Was ist das Gegenteil? Synthetische Steuern! Das bedeutet, (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die dürfen dass alles, was jemand bekommt, einheitlich besteuert nicht antworten! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: wird. – Wenn es doch nur so einfach wäre! Leider ist es Da müssten Sie hochgehen, Herr Binding!) nicht so einfach. Das wissen Sie in Wahrheit ganz genau. Wenn Sie ein Sparbuch haben und Zinseinkünfte erzie- len, dann bedeutet der Vorschlag der Linken, dass Ihre Deshalb muss man einmal schauen, was damals nach Steuerlast steigt. Wenn Sie aber Aktienpakete besitzen Einführung der Abgeltungsteuer passiert ist. Das müss- und Dividenden bekommen, dann geht es Ihnen künftig ten Sie dann entweder rückgängig machen, ergänzen besser. Allen, die dicke Aktienpakete haben und hohe oder anpassen. Wir haben zum Beispiel die Spekula- Dividenden erzielen, geht es künftig besser. Das wollen tionsfrist für private Veräußerungsgewinne abgeschafft. die Linken. Das heißt, dass jemand, der künftig einen Veräußerungs- gewinn erzielt, besteuert wird. Sie sagen jetzt: Die Ver- Man muss Folgendes auseinanderhalten: Wenn Sie mögen sind gestiegen, die Steuern aber nicht. Warum die Dividendenbesteuerung abschaffen, vergessen Sie nicht? Das Vermögen wird nur dann, bezogen auf den die Vorbelastung im Unternehmen. Dieses Vergessen Veräußerungsgewinn, versteuert, wenn es verkauft wird. rächt sich bei der Gesetzgebung natürlich. Solange es jemand nur in Besitz hat, wird es nicht be- Gleichwohl wollen auch wir über die Abgeltung- steuert. steuer nachdenken. Das ist auch vernünftig, denn das Deshalb hatten wir eine ganz andere Idee: Vermögen- Bankgeheimnis erodiert. Es ist noch nicht abgeschafft. steuer. Darüber reden wir heute aber nicht. Sie schreiben: Die … Aufdeckungen von Steuerhinterziehungen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum durch den Ankauf von Steuer-CDs haben eindrück- eigentlich nicht? – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ (B) lich den Zerfall des … Bankgeheimnisses aufge- DIE GRÜNEN]: Doch! Reden Sie über die (D) zeigt. Vermögensteuer!) Nein! Wenn jemand ein Geheimnis verrät, heißt das Insofern ist es klar, dass verschiedene Dinge in den Blick doch nicht, dass der Betroffene dann keine Geheimnisse genommen werden müssen. Zum Beispiel gab es früher mehr hat. Der wird sich darum kümmern, dass er sie diskontierte Rentenpapiere ohne Zinsertrag. Auch das umso besser geheim hält. wurde im Zuge der Abgeltungsteuer abgeschafft. Mit der Zinsrichtlinie war es noch komplizierter. Wir hatten aus- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum haben wir ländische Konstruktionen, die zinsfrei waren. Auch so viele Selbstanzeigen?) diese Möglichkeiten – das waren Schlupflöcher – haben – Nein, Vorsicht! Da muss man schon auf eine gewisse wir abgeschafft. Darüber müsste man ebenfalls nachden- Systematik achten. Die Reaktionen auf die CDs sind ken. angstgetriebene Bekenntnisse der Steuerzahler. Daraus (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Jetzt fragen Sie kann man nicht die Erkenntnis ziehen, dass das Bankge- einmal, ob die Bürger da oben das verstanden heimnis fallen soll. haben!) Das Bankgeheimnis erodiert. Sie schreiben, dass der automatische Informationsaustausch geplant ist. Ich Zur Abgeltungsteuer, bezogen auf die Spekulationsfrist, kann aber doch nicht auf etwas, was geplant ist, jetzt habe ich schon etwas gesagt. schon gesetzgeberisch reagieren. Jetzt sagen Sie in Ihrem Antrag – darauf ist schon (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn es zehn mehrfach Bezug genommen worden –, dass das Auf- Jahre rückwirkend geht, schon!) kommen aus der pauschalen Besteuerung von Dividen- den, Zinsen und Veräußerungsgewinnen gesunken sei. Erst wenn der automatische Informationsaustausch im- Dies habe mit der Krise aber nichts zu tun. Sie sagen, plementiert ist, ist es in erhöhtem Maße klug, über die dass das Aufkommen 2013 etwa 14 Prozent niedriger als Abgeltungsteuer nachzudenken. Dann werden wir das 2008 gewesen sei. Sagen Sie ganz ehrlich: Wollen Sie auch machen. die Krise wirklich außen vor lassen? Es gibt etwas Systematisches. Deshalb gefällt uns der Antrag in gewisser Weise doch. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nein! Die Arbeit- nehmer haben sie bezahlt, aber nicht die Rei- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach was!) chen, Herr Binding!) 5300 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Lothar Binding (Heidelberg) (A) – Finden Sie nicht, dass die Zinsen – und deshalb natür- dieser Stelle zu durchbrechen. Deshalb müssten weitere (C) lich auch die Steuereinnahmen – exorbitant gesunken Maßnahmen ergriffen werden. sind? Dass es nicht mehr Einnahmen gegeben hat, ist für Nehmen Sie die Staatsanleihen. Sie waren früher mit bestimmte Steuerarten richtig. über 5 Prozent rentierlich. Heute sind sie es nur noch mit unter 3 Prozent. Glauben Sie nicht, dass sich dies bei der (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Menge an Staatsanleihen, die wir – in der Dimension Weniger Einnahmen! – Alexander Ulrich [DIE von etwa 2 Billionen Euro; diese Summe kann man bei LINKE]: Jetzt wird Achterbahn gefahren!) dieser Betrachtung aber nicht komplett nehmen – ausge- Aber wenn Sie ein System ändern, ist es doch klug, bei geben haben, auf die Einnahmen auswirkt? Ich finde, Aussagen über die Einnahmeseite vorsichtig zu sein. wenn Sie das so halbherzig betrachten, haben Sie mit al- Hätte damals im Tableau gestanden, es würden 5 Mil- lem Recht. Denn Sie wissen ja: Eine Implikation ist so liarden Euro mehr eingenommen, dann hätten Sie das lange ohne Wert, wie über den Wahrheitsgehalt der Prä- heute auch nicht verifizieren können. Interessant ist, dass misse nichts gesagt werden kann. Darüber aber können Sie die Auswirkung einer einzelnen steuerlichen Maß- Sie nichts sagen, weil sie falsch ist. nahme nie im Nachhinein im Steuerblock verifizieren (Beifall bei der SPD – Klaus Ernst [DIE können. Das gab es unter Rot-Grün nicht, das gab es in LINKE]: Wir sind uns einig, Herr Binding, der Großen Koalition nicht, das gab es unter Schwarz- oder?) Gelb nicht, und das gibt es auch heute nicht. Deshalb ha- ben Sie recht und unrecht zugleich. Vizepräsident Peter Hintze: (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der Herr Kollege Binding, Frau Kollegin Paus würde Ih- CDU/CSU) nen gerne noch etwas Redezeit, die eigentlich schon zu Das ist eine vernünftige Frage, auf die weder Sie noch Ende ist, verschaffen. Wollen Sie das zulassen? wir noch das Ministerium eine Antwort haben. Die Frage ist eher etwas demagogisch, nach dem Motto: Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Schaut einmal, der Redner weiß es nicht. – Die Antwort Ja. ist: Der Redner weiß es nicht, aber auch keiner sonst hier im Raum. So viel Ehrlichkeit gehört dazu. Ich denke, da- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit können wir umgehen. Herr Binding, Sie haben jetzt ein wenig den Eindruck (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) erweckt, als ob es doch eigentlich irgendwie Mehrein- (D) nahmen gäbe, dass dies aber jetzt wegen der niedrigen Ich will noch eine letzte Frage stellen, weil das in dem Zinsen so nicht stattgefunden habe. Ich möchte Sie fra- Antrag völlig verloren geht. Was stellen Sie sich eigent- gen: Können Sie nicht doch das bestätigen, was ich ge- lich vor, was geschieht, wenn ein Franzose, um ein Bei- sagt habe, dass 2009, als das Gesetz verabschiedet spiel zu nennen, in Deutschland investiert, er Aktien wurde, im Finanzplan dieses Gesetzes stand, dass genau kauft und die Dividende nach Frankreich ausgeschüttet diese Maßnahme – nämlich die Einführung der Abgel- wird? Muss er die in Frankreich versteuern? Was würden tungsteuer – zu Steuermindereinnahmen in Höhe von Sie mit der Vorbelastung in Deutschland machen? Wür- jährlich zwischen 1 und 1,5 Milliarden Euro führen den Sie diesem Franzosen eine Steuerlast von über wird? Genau das stand im Finanztableau. Das war die 60 Prozent zumuten? Das hätte zum Ergebnis, dass er Konsequenz daraus, dass sie sich auf inländische Kapi- nichts mehr in Deutschland investiert. Wäre das Ihre talerträge bezieht. Der Steuersatz wurde gegenüber dem Konsequenz? Es wäre klug, sich noch einmal mit dem ursprünglichen gesenkt. Deswegen gab es Minderein- Außensteuerrecht und mit dem internationalen Steuer- nahmen. Alle Hoffnungen, dass durch Zustrom von au- recht zu grenzüberschreitenden Geschäften ein bisschen ßen mehr Einnahmen erzielt würden, wurden nicht be- genauer zu befassen, um solche negativen Wirkungen zu stätigt. Die hat es nicht gegeben. vermeiden. Noch einmal die Frage: Bestätigen Sie, dass es durch Deshalb ist unsere Antwort: Wir glauben, dass wir in die Einführung der Abgeltungsteuer Steuerminderein- absehbarer Zeit über die Abgeltungsteuer nachdenken nahmen gab und keine Steuermehreinnahmen? müssen, aber das geht nicht so liederlich, wie Sie es jetzt gemacht haben. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben die Finanztableaus, die zu antizipieren ver- suchen, ob sich eine steuerliche Maßnahme positiv oder Vizepräsident Peter Hintze: negativ auswirkt. Es ist allerdings so, dass wir das im Regelfall später nie nachvollziehen können. In diesem Ich schließe die Aussprache. Fall war es eine kluge und vorsichtige Schätzung; Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 18/2014 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- denn man konnte überhaupt nicht wissen, wie die Ban- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung ken im Ausland darauf reagieren, ihr Bankgeheimnis an so beschlossen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5301

Vizepräsident Peter Hintze (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zu- Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung setzt (C) satzpunkt 4 auf: die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins um. Kernelement ist die Neubemessung und 13 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- künftige Fortschreibung der Leistungssätze im Asyl- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- bewerberleistungsgesetz. Diese Sätze werden deutlich rung des Asylbewerberleistungsgesetzes und angehoben. Das hatte auch das Verfassungsgericht so des Sozialgerichtsgesetzes vorweggenommen, indem es eine entsprechende Über- Drucksache 18/2592 gangsregelung mit sofortiger Wirkung – sie setzte dann im August 2012 ein – festgelegt hatte. Vor allem aber Überweisungsvorschlag: wird eine transparente und bedarfsgerechte Fortschrei- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss bung der Leistungen sichergestellt, und das durch die Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Festlegung auf die Einkommens- und Verbrauchsstich- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend probe des Statistischen Bundesamtes als Grundlage für Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO künftige Anpassungen. Ich finde, das ist ein substanziel- ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten ler Gewinn. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise Amtsberg, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- eine Notwendigkeit!) bung des Asylbewerberleistungsgesetzes Dazu kommen noch andere wichtige Änderungen. Ich Drucksache 18/2736 will sie nennen: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Die Wartefrist, bis Leistungen in gleicher Höhe wie Innenausschuss Sozialhilfe erbracht werden, soll nicht mehr 4 Jahre, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sondern künftig 15 Monate betragen. Kinder und Ju- Ausschuss für Gesundheit gendliche sollen von Anfang an einen Anspruch auf Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Leistungen für Bildung und Teilhabe erhalten. Minder- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für jährige Kinder sollen außerdem auch nicht mehr für Ver- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu stöße ihrer Eltern gegen die aufenthaltsrechtlichen Mit- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. wirkungspflichten mit Leistungsminderung bestraft werden. – Sehr gute Vorschläge! (B) Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung (D) hat die Parlamentarische Staatssekretärin Gabriele (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lösekrug-Möller das Wort. der CDU/CSU) Einen Punkt, der zahlenmäßig vielleicht nicht so stark Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin ins Gewicht fällt, möchte ich dennoch herausstellen: Op- bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: fer von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung erhal- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten ihre Leistungen künftig nicht mehr nach dem Asyl- Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Ge- bewerberleistungsgesetz, sondern aus der Sozialhilfe setzentwurf kommen wir endlich dem Auftrag des Bun- – wir kennen das als SGB XII – oder aus der Grund- desverfassungsgerichts, das uns diese Neufassung des sicherung für Arbeitsuchende; wir sagen SGB II. Asylbewerberleistungsgesetzes aufgegeben hat, nach. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „Endlich“ sage ich; denn die Entscheidung des Bundes- NEN]: Wir sagen: Es gibt mehr!) verfassungsgerichts ist, wie Sie sicher wissen, schon aus dem Sommer 2012, genauer gesagt vom 18. Juli. Gleiches gilt für hier lebende Menschen, deren Abschie- bung aus rechtlichen oder humanitären Gründen schon (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es wurde langsam länger als eineinhalb Jahre ausgesetzt ist. In einigen wei- Zeit!) teren Punkten werden zudem die Rechtsprechung des Der vorigen Bundesregierung und der sie tragenden Bundessozialgerichts sowie einschlägige Urteile von Mehrheit im Bundestag war es nicht gelungen, die gefor- Landessozialgerichten aufgenommen. derten Gesetzesänderungen umzusetzen. Dieser Bundes- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen regierung, dieser Koalition ist es umso wichtiger, dass und Herren, wie Sie wissen, hat es inzwischen im Zuge nun ohne weiteren Verzug die geforderten Änderungen eines Kompromisses zwischen Bundesregierung und am Gesetz geschehen; denn alle Betroffenen und Betei- Bundesrat eine Einigung auch auf Änderungen am Ent- ligten brauchen Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. wurf für das hier vorliegende Gesetz gegeben. Ich sage (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jutta klar: Dieser Entwurf der Bundesregierung hat die verein- Eckenbach [CDU/CSU]) barten Punkte vereinbarungsgemäß nicht aufgenom- men. Das betrifft etwa Änderungen bei der Vorrangigkeit Diese zu schaffen, ist Aufgabe des Gesetzgebers – Bun- von Sach- und Geldleistungen. Dies ist ebenso ausdrück- destag und Bundesrat –, und darum bitten wir hier um lich und klar keine Untreue zum gemeinsam gefundenen konstruktive Beratung und Zustimmung. Kompromiss – dazu stehen wir. Vielmehr ist es Teil der 5302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller (A) Kompromissvereinbarung, dass die festgelegten Ände- Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen (C) rungen, verbunden in einem Gesetz, diesem Hohen Haus wurde zu Recht viel über die massiven Übergriffe von gesondert vorgelegt werden. Das ist die Vereinbarung. Wachpersonal auf Flüchtlinge gesprochen. Es ist nicht Daher bitte ich zunächst um Zustimmung für das hier hinnehmbar, dass Menschen im Grunde genommen vorgelegte Gesetz; denn es schafft Rechtssicherheit und misshandelt werden. Das muss sofort strafrechtliche Fol- Transparenz für Menschen, die aus Unsicherheit zu uns gen für diejenigen haben, die eine solche Misshandlung kommen. Es setzt die klaren, eindeutigen und berechtig- ausgeführt haben. ten Forderungen des Bundesverfassungsgerichts um. Es bedeutet wirklichen Fortschritt und eine längst überfäl- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten lige Weiterentwicklung des Leistungsrechts für Asylbe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werberinnen und Asylbewerber in Deutschland. Ich sage auch: Diese individuellen Übergriffe sind nur Vielen Dank. ein Symptom in unserer Gesellschaft. Asylsuchende wurden über Jahre systematisch von Staats wegen, so (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) muss man sagen, in ihren Menschenrechten verletzt; ich erinnere hier nur an die Residenzpflicht, an das Arbeits- Vizepräsident Peter Hintze: verbot und an viele andere Schikanen. Das muss sich Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- wirklich grundlegend ändern, und das passiert mit dem ordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. vorliegenden Gesetzentwurf nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Notwendig wären bezahlbare Wohnungen. Notwen- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor über dig wäre es, endlich die Sammellager abzuschaffen, zwei Jahren – in der Tat, Frau Staatssekretärin – hat das (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungs- gesetz für grundgesetzwidrig erklärt. 20 Jahre haben Bun- wo Menschen zusammengepfercht sind, wo es nicht desregierungen unterschiedlicher Couleur die Grund- mehr um Menschenwürde geht und Konflikte vorpro- rechte von Flüchtlingen missachtet. Ich fände es wirklich grammiert sind. Oftmals sind solche Lager irgendwo in angebracht, dass sich die Verantwortlichen hier einmal der Pampa, sodass Flüchtlinge aus den Städten und aus bei den Betroffenen für dieses jahrelange Unrecht ent- dem gesellschaftlichen Leben regelrecht verbannt wer- schuldigen. den. Solche Schikanen müssen endlich aufhören. (B) (D) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Denn der Tenor der Verfassungsgerichtsentscheidung Zu einer grundsätzlichen Änderung gehört auch, auf lautete: Die Würde des Menschen ist nicht relativierbar, das Sachleistungsprinzip zu verzichten. auch nicht aus Gründen der Migrationspolitik. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des (Beifall bei der LINKEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das alte Gesetz hat vorgesehen, Flüchtlingen und Gedul- Flüchtlinge müssen endlich Bargeld erhalten, damit sie deten vier Jahre lang weit weniger als den üblichen So- ihre Lebensmittel und ihre Kleidung selbst einkaufen zialhilfesatz zu gewähren. Damit wurde ihr Recht auf ein können, damit sie sich eine Wohnung mieten können, menschenwürdiges Existenzminimum verletzt – was die damit sie, kurz gesagt, all die Dinge tun können, die er- Linke schon immer kritisiert hat. Das Gericht gab dem wachsene Menschen selbstbestimmt tun können – wie Gesetzgeber auf, unverzüglich eine verfassungskon- jeder andere Mensch auch. Leistungen nach dem Sach- forme Neuregelung vorzulegen. Dies hat nun zwei Jahre leistungsprinzip und das Leben in Sammellagern sind gedauert. entwürdigend und entmündigend. Deswegen gehören sie Was Sie hier jetzt vorgelegt haben, ist beschämend. abgeschafft. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, eindeutig verfassungswid- Sie hätten die Chance gehabt, auf eine diskriminierende rig ist es, dass Sie das Sanktionssystem in diesem Gesetz Sonderbehandlung von Asylsuchenden einfach zu ver- beibehalten wollen. Flüchtlinge, die – angeblich – ihre zichten. Stattdessen setzen Sie weiter darauf, Flüchtlinge eigene Abschiebung behindern, sollen bestraft werden, durch Diskriminierung und Demütigung abzuschrecken indem man ihnen sämtliche Leistungen reduziert und in- und auszugrenzen. Das ist inhuman und unverantwort- dem das wenige Taschengeld auch noch gestrichen wird. lich. Da sagt die Linke ganz klar: Menschenrechte müs- Das ist genau das, was Karlsruhe verboten hat – es hat sen in Deutschland auch für Flüchtlinge gelten. gesagt: die willkürliche Beschneidung des menschen- würdigen Existenzminimums darf es nicht geben –, und (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ ich finde es wirklich perfide, dass so etwas noch im Ge- DIE GRÜNEN) setz steht. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5303

Ulla Jelpke (A) Noch eines: Flüchtlinge müssen endlich den vollen deren Aufenthaltsrecht sich aus § 25 Absatz 4 a und 4 b (C) Zugang zur gesundheitlichen Versorgung haben. des Aufenthaltsgesetzes aus rechtlichen und tatsächli- chen Gründen ergibt und deren Abschiebung bereits seit (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ mindestens 18 Monaten festgesetzt worden ist. Das hat DIE GRÜNEN) Frau Lösekrug-Möller ausgeführt. Wir haben schon oft genug gehört, dass Flüchtlinge an Aber es ist eine weitere Personengruppe herausge- behandelbaren Krankheiten gestorben sind, weil Heim- nommen – das finde ich auch ganz wichtig –, nämlich leitung oder Wachpersonal sich einfach geweigert haben, die Personengruppe, die Opfer von Menschenhandel und einen Krankenwagen zu rufen. von Schwarzarbeit geworden ist, weil ansonsten in bei- Hier will ich zum Schluss noch einmal ganz deutlich den Fällen die strafrechtliche Verfolgung erschwert sagen, um es auf den Punkt zu bringen: Das Asylbewer- wird. Dies ist ein ganz wichtiger Bestandteil, berleistungsgesetz ist entmündigend und diskriminie- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- rend. Es fördert Rassismus in unserer Gesellschaft. Des- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum politisch wegen gehört es abgeschafft. Verfolgte nicht?) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gerade wenn es wie bei Opfern von Menschenhandel da- NIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. rum geht, dass wir hier die strafrechtliche Verfolgung Birkwald [DIE LINKE]: Die Abschaffung ist der Täter vornehmen können. überfällig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Die Forderung einer Neuberechnung der Leistungs- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- höhe war Grundlage für die gesetzliche Festschreibung ordneten Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion. des Anspruches auf Bildung und Teilhabe gerade für (Beifall bei der CDU/CSU) leistungsberechtigte Kinder, Jugendliche und junge Er- wachsene. Auch dies ist ein wichtiger Bestandteil. Aller- dings muss man der Fairness halber sagen, dass dies seit Jutta Eckenbach (CDU/CSU): vielen Jahren auch schon in einzelnen Bundesländern in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch Sie, Deutschland getan wurde. meine Damen und Herren, die Sie oben auf der Tribüne sitzen, darf ich zu dieser Debatte recht herzlich begrü- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ßen. Seit vielen Jahren!) (B) (D) Ich würde jetzt ungern eine Debatte über das führen, Aber bei denen, die es getan haben, war es der richtige was wir gerade von den Linken gehört haben. Alles das, Weg. was hier vorgetragen worden ist, ist nicht richtig, ist nicht stimmig; das ist in Deutschland auch nicht so. Die Kürzung der Bezugsdauer von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von bislang 48 Mona- Die Unterbringung dieser Menschen in Deutschland ten auf 15 Monate unter Berücksichtigung des tatsächli- ist menschenwürdig. chen Aufenthalts im Bundesgebiet ist ein weiterer wich- tiger Punkt. (Lachen des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Mit dieser Kürzung wird der Vorläufigkeitscharakter der Wir stehen zu dem Kompromiss, den wir vereinbart ha- Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz deut- ben. lich. Zukünftig wird nach der Bezugsdauer von 15 Monaten (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wann waren Sie das eine Überführung in das Leistungssystem von SGB II letzte Mal in einem Sammellager?) oder SGB XII erfolgen, um dann auch weitere Integra- tionsmaßnahmen durchzuführen. – Sie dürfen auch gern eine Zwischenfrage stellen, aber ich würde Sie bitten, mir vielleicht erst einmal ein biss- Über die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts chen zuzuhören. hinausgehend, meine Damen und Herren, wird eine ge- änderte Anrechnung von Einkommen, eventuellen Ren- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann müssen tenzahlungen oder Beihilfen erfolgen. Gleichzeitig soll Sie auch ein bisschen die Wahrheit sagen!) den Leistungsberechtigten ein Freibetrag von 200 Euro Wir sehen in dem, was wir heute einbringen, einen wei- gewährt werden. teren Baustein in der Asylpolitik dieser Großen Koali- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ tion. Mit der Umsetzung der Vereinbarungen des Koali- DIE GRÜNEN]: Wahnsinn!) tionsvertrages – das haben wir gerade schon von Frau Lösekrug-Möller gehört – setzen wir auch die Forderun- Mit diesen Ansparungen soll es für die Betroffenen zu- gen des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 18. Juli künftig möglich sein, notwendige Anschaffungen selbst 2012 um. zu tätigen. Die wesentlichen Punkte sind genannt worden. Ich (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- will aber noch einmal darauf aufmerksam machen, dass NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch lächer- wir die Herausnahme von Personen vorgesehen haben, lich!) 5304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Jutta Eckenbach (A) Diese Neuregelung soll Anreize für eine Arbeitsauf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) nahme, eine Eigenversorgung und damit auch für eine Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- schnelle Integration schaffen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war damals ein abschreckendes Instrument!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Auch ich will auf die Diskussion eingehen, die heute immer wieder geführt wird. Lassen Sie mich dabei auf Um allerdings diese Integration zu ermöglichen und Zahlen aus meiner Heimatstadt Essen zurückgreifen. Im zu forcieren, erachte ich – damit auch die CDU/CSU- Moment hören wir, dass in der Diskussion behauptet Fraktion – die Beibehaltung des Asylbewerberleistungs- wird, der Bund müsse in dieser Frage höhere Zahlungen gesetzes für durchaus sinnvoll und auch gerechtfertigt. an die Länder leisten, weil die Länder es nicht mehr al- leine leisten könnten. An der Stelle verweise ich auf den (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ Betrag, den das Land Nordrhein-Westfalen für die Un- DIE GRÜNEN]: Was?) terkünfte der Flüchtlinge, für das, was da ist, bereitstellt. Das Asylbewerberleistungsgesetz gewährleistet nämlich Allein im Jahr 2013 hatte die Stadt Essen Bruttoausga- eine bedarfsorientierte Existenzsicherung für die Betrof- ben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von über fenen. Die Asylsuchenden haben zumeist von jetzt auf 16 Millionen Euro. Eine Erstattung seitens des Landes gleich ihre Heimat verloren und verlassen. Sie treffen in erfolgte nach dem nordrhein-westfälischen Flüchtlings- Deutschland ohne Hab und Gut ein. Für diese Menschen aufnahmegesetz, und zwar in Höhe von lediglich ist es nach wie vor notwendig, dass sie zunächst ein 2,3 Millionen Euro. Das ist ein prozentualer Anteil der Dach über den Kopf bekommen und ihnen Hilfe zuteil- Landeserstattung an den Bruttoausgaben von circa wird. Diese Hilfe kann nicht ausschließlich in Geldleis- 14,5 Prozent. Unsere Länder lassen die Flüchtlinge in tungen erfolgen. Es muss in Erstaufnahmeeinrichtungen den Kommunen alleine. Wer weiß, was sich in Nord- der Vorrang von Sachleistungen, wie wir ihn heute mit rhein-Westfalen abspielt – das wissen Sie alle; es ist dem Gesetzentwurf vorlegen, gewahrt bleiben, durch die Presse gegangen –, der weiß, dass die Kommu- nen in Nordrhein-Westfalen das nicht mehr alleine stem- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ men können. DIE GRÜNEN]: Warum?) (Beifall bei der CDU/CSU – dann ergänzt durch den Bargeldbedarf, der da ist. [CDU/CSU]: Ja, genau! Schlimm!) Für Menschen, die in ein fremdes Land kommen, die Ich kann Ihnen dazu eine lange Liste vorlegen – dazu fehlt mir jetzt leider die Redezeit; wir können das gerne (B) Sprache nicht sprechen und nicht wissen, wo sie was für (D) den täglichen Bedarf bekommen, brauchen wir das Asyl- nachholen –, der man entnehmen kann, was der Bund bewerberleistungsgesetz mit seiner individuellen und den Ländern in dieser Frage an Erstattungen hat zukom- bedarfsorientierten Hilfestellung. Sie alle, die Sozial- men lassen. politikerinnen und Sozialpolitiker sind, wissen, dass das Sozialgesetzbuch II und das Sozialgesetzbuch XII mit Genau das ist das Problem: Es wird im Moment eine ihrer einheitlichen Bedarfsfestsetzung viel zu starr sind, Debatte geführt, weil die Länder nicht bereit sind, mehr um den Hilfsbedürftigen in der konkreten Situation hel- Gelder zur Verfügung zu stellen. Deswegen führen wir fen zu können. Daher brauchen wir einen gesonderten hier im Bund eine Debatte, die sich nur um die Finanzie- Status und damit auch weiterhin das Asylbewerberleis- rung dreht. Dass wir mit den Grünen und den Linken an tungsgesetz. der Stelle ideologisch nicht zusammenkommen, ist klar; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es geht nicht um neten der SPD) Ideologie, sondern um Menschenwürde und Menschenrechte!) Sie wissen auch, dass diese Grundüberlegungen be- reits vor über 20 Jahren angestellt worden sind, nämlich aber ich bitte alle, darauf zu achten, dass es nicht darum 1992 und 1993, als es wegen des Jugoslawienkrieges zu gehen kann, jetzt nur aus finanziellen Gründen einen einer großen Krise kam, in deren Folge es zum Asyl- Asylkompromiss, der viele Jahre gehalten hat, zu verlas- kompromiss kam; denn wir mussten in Deutschland be- sen. stimmte Regelungen treffen. Es ist nämlich nicht so, (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass die Situation in den Städten, Kommunen und Län- NEN]: Vielleicht wegen des Bundesverfas- dern damals einfach war. Wir haben vielfach erlebt, dass sungsgerichts!) an Stammtischen die Parole zu hören war, dass wir es nicht zulassen dürften, die Menschen aufzunehmen. Ich Ich glaube, dass wir im weiteren Verlauf unseres Gesetz- will dazu nur eine Zahl nennen: Uns lagen damals, 1993, gebungsverfahrens zu einer Einigung kommen sollten, 323 000 Asylanträge von Zuwanderern und Flüchtlingen die nicht nur das umfasst, was wir heute in erster Lesung vor, die in Deutschland aufgenommen werden wollten. unter Federführung des Ausschusses für Arbeit und So- Diese Zahl haben wir heute noch nicht erreicht – Gott sei ziales verhandeln. Vielmehr sollten wir die gesamte Ge- Dank. Insofern müssen wir heute die Stellschrauben dre- setzgebung, also das, was wir noch bis zum Ende des hen, aber diesen Asylkompromiss im Grundsatz nicht Jahres vorstellen wollen, in Gemeinsamkeit hinbekom- verlassen; wir müssen weiterhin zu ihm stehen. men. Das hilft nicht nur den Flüchtlingen in Deutsch- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5305

Jutta Eckenbach (A) land, denen wir helfen wollen, sondern trägt auch zur was notwendig wäre, um hier lebenden Asylsuchenden (C) Stabilisierung und Befriedung der Bevölkerung bei. eine Perspektive zu eröffnen. Peinlich ist ja schon, dass gegenüber dem Referentenentwurf, der eine maximale Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Bezugsdauer von 12 Monaten vorsah, die Bezugsdauer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- im Gesetzentwurf auf 15 Monate heraufgesetzt wurde. ten der SPD) Warum eigentlich? Ein humanitäres Anliegen wird in Ihrem Vorschlag jedenfalls nicht erkennbar – im Gegen- Vizepräsident Peter Hintze: teil. Das will ich an einigen Beispielen veranschauli- chen. Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- ordneten Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen. Auch nach dieser Frist von 15 Monaten – das wurde hier ganz galant verschwiegen – sollen Menschen näm- Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lich mit abgesenkten Sozialleistungen bestraft werden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann können, wenn sie allein deswegen nach Deutschland ge- auf das Asylbewerberleistungsgesetz blicken, wie man flüchtet sind, um die Leistungen des Asylbewerberleis- mag, man kann es für gut oder für schlecht befinden. – tungsgesetzes in Anspruch zu nehmen, oder wenn sie die Fakt ist aber: Es handelt sich bei diesem Gesetz um eine Gründe, deretwegen eine Abschiebung nicht vollzogen für einen bestimmten Personenkreis in der Bundesrepu- werden kann, selbst verschuldet haben. Was bedeutet das blik ausgelegte Sondergesetzgebung. Deswegen, Frau eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen? Mit Ein- Kollegin Eckenbach: Wenn Sie sagen, dass das Asylbe- schränkungen wie diesen, die in den meisten Fällen ja werberleistungsgesetz das Dach über dem Kopf, das ausschließlich auf einer Vermutung basieren und im Er- Essen und die Orientierung sichern soll, dann kann ich messen des zuständigen Sachbearbeiters liegen, werden nur sagen, dass unsere Sozialgesetzgebung, die genau künftig wieder Menschen über diese 15 Monate hinaus dafür ausgelegt ist, nämlich für spezielle Lebenslagen, in unterhalb des Existenzminimums gehalten. Hinzu denen sich bestimmte Menschen befinden, eigentlich die kommt dann auch noch, dass diese Leistungen vermut- viel bessere Adresse dafür wäre. lich unbefristet gelten können. Wir sehen dies als ekla- tante Missachtung des Verfassungsgerichtsurteils an; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie denn es heißt dort klipp und klar, dass das Existenzmini- bei Abgeordneten der LINKEN) mum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein Meine Fraktion ist der Auffassung, dass das Asyl- muss. Das passiert hier aber nicht. bewerberleistungsgesetz schlecht ist, und zwar aus fol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gendem Grund: Es ist eine in Gesetzesform gegossene sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) Diskriminierung, die seit über 20 Jahren Schutzsuchende (D) sozial schlechterstellt, und das oft jahrelang und zum Die Große Koalition hebt die Regelsätze des Asyl- Teil zeitlich unbefristet. Mit dieser gezielten sozialen bewerberleistungsgesetzes zwar an – was im Übrigen, Unterversorgung von Schutzsuchenden unterhalb des Frau Staatssekretärin, nicht der politischen Vernunft, Existenzminimums wurde von Anfang an ganz offen die sondern der Intervention des Verfassungsgerichts ge- Absicht verfolgt, Asyl- und Schutzsuchende von einem schuldet ist –, gleicht sie aber eben nicht vollständig an Asylantrag in Deutschland abzuschrecken und sie die Sozialhilfesätze an. Dann unterbieten Sie das Urteil schneller zu einer Ausreise aus Deutschland zu bewe- aus Karlsruhe auch noch ein weiteres Mal; denn das Ge- gen. Die grüne Bundestagsfraktion fordert deswegen seit richt hat sogar festgeschrieben, dass auch ein etwaiger langem die ersatzlose Streichung dieses Gesetzes. Des- finanzieller Mehrbedarf geprüft werden soll, der unter wegen haben wir heute diesen Gesetzentwurf vorgelegt. den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthal- tes anfallen könnte. Das Urteil wird sozusagen zweifach Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile ist unterboten. es zwei Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz für unzulänglich er- Schutzsuchende, die dem Asylbewerberleistungs- klärt und eine Neufassung des Gesetzes gefordert hat. In gesetz unterworfen sind – ich finde, das ist der härteste der Begründung verdeutlichte das Gericht, dass durch Punkt –, erhalten nur in Notfällen oder bei akuten das Asylbewerberleistungsgesetz die in Artikel 1 des Schmerzzuständen eine vorläufige medizinische Hilfe. Grundgesetzes geschützte Menschenwürde relativiert Dabei ist der Schutz von Leben und der körperlichen werde. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Großen Unversehrtheit auch Teil der unveräußerlichen Men- Koalition, das Bundesverfassungsgericht hat in seinem schenwürde. Urteil mehr als deutlich gesagt, dass die Menschenwürde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „migrationspolitisch nicht zu relativieren“ ist. Damit hat und bei der LINKEN) es auch recht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerade Asylsuchende leiden aufgrund ihrer Kriegser- und bei der LINKEN) fahrungen häufig unter physischen und psychischen Symptomen, die zwingend behandlungsbedürftig sind. Diese Kernaussage des Bundesverfassungsgerichts Die Einschränkung der medizinischen Behandlung auf wird aber nach unserer Auffassung mit dem vorliegen- sogenannte Notfälle führt häufig erst zu einer Ausbil- den Gesetzentwurf in mehrfacher Hinsicht ignoriert; dung massiver lebensbedrohlicher Krankheiten oder denn Ihr Gesetzentwurf bleibt weit hinter dem zurück, eben einer Chronifizierung. Schwangere können keine 5306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Luise Amtsberg (A) Regeluntersuchungen in Anspruch nehmen, Kinder nicht die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes zum (C) die obligatorischen Impfungen erhalten. Durch eine Mit- Gegenstand hat. gliedschaft in einer gesetzlichen Krankenversicherung könnten solche Zustände verhindert werden. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Bravo!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die weltweiten Krisen, meine sehr verehrten Damen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und Herren, insbesondere in Syrien, Irak oder Afghani- stan, haben zweifelsfrei Auswirkungen auf Europa und Genau das soll aber den Asyl- und Schutzsuchenden auch auf Deutschland. Die Menschen aus den Krisen- weiter vorenthalten werden. gebieten erhoffen sich aus den verschiedensten Gründen Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf halten Sie also – zum Beispiel wegen Krieg, wegen politischer oder re- im Kern am diskriminierenden Charakter des Asylbe- ligiöser Verfolgung oder wegen Armut – ein besseres werberleistungsgesetzes fest. Außerdem – hier möchte und friedliches Leben in Deutschland. ich auf meine Vorrednerin Bezug nehmen – entzieht sich Hierzu einige Zahlen: Blicken wir auf den Monat Au- der Bund jeglicher finanzieller Verantwortung, indem er gust dieses Jahres, so wurden die meisten Asylanträge nämlich die finanziellen Lasten des Asylbewerberleis- von Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea und aus Serbien ge- tungsgesetzes auf die Kommunen abwälzt und diese im stellt. Fast die Hälfte aller gestellten Erstanträge entfal- Übrigen auch bei der Unterbringung, für die nämlich die len auf diese drei Herkunftsstaaten. So wurden im Jahr Länder zuständig sind, alleinelässt. 2013 in der Europäischen Union insgesamt 435 000 (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Asylbewerber registriert, wobei in Deutschland mit könnten ja ihre Zuständigkeiten wahrnehmen!) 127 000 die höchste Anzahl verzeichnet wurde. Vor die- sen Zahlen dürfen wir nicht die Augen verschließen; – Ja, die Zuständigkeiten sind geregelt. Die kann man denn die Frage des Asyls beinhaltet die unterschiedlichs- aber auch anders regeln. ten weiteren Fragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: An andere NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das hat mit dem abschieben! Das ist Ihre Methode!) Asylbewerberleistungsgesetz nichts zu tun! Das Verfassungsgericht hat sogar gesagt, das Ein Weg zur finanziellen Entlastung der Länder und darf damit nichts zu tun haben!) Kommunen ist die Abschaffung des Asylbewerberleis- tungsgesetzes, da Bezieherinnen und Bezieher dieser Wir wollen uns heute mit dem Asylbewerberleis- (B) Leistungen dann Anspruch auf Leistungen nach SGB II tungsgesetz, insbesondere mit den finanziellen Aspek- (D) und SGB XII hätten. Verehrte Kollegen, eines ist doch ten, befassen. Grundsätzlich halte ich es für richtig, einmal klar – schauen Sie sich Ihren eigenen Gesetzent- meine sehr verehrten Kollegen der Linken und der Grü- wurf an –: Es gibt nur ein Existenzminimum. Das heißt, nen, dass die Situation von Asylbewerbern, besonders in es müssen für alle Menschen die gleichen Leistungen der ersten Zeit nach ihrer Einreise nach Deutschland, gelten. nicht vergleichbar ist mit der Lebenssituation von Men- schen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II und (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt nicht, XII beziehen. Für Asylbewerber sind in der Anfangszeit, Frau Amtsberg! Das stimmt so nicht!) noch dazu in einem fremden Land mit fehlenden Sprach- Dieses Existenzminimum muss für alle Menschen in kenntnissen, die Sachleistungen mit einem Anteil von Deutschland gelten, eben auch für Asylsuchende. Dass Bargeldleistungen die richtige Leistungswahl. Hier die medizinische Versorgung hier nach wie vor ausge- handelt es sich um Daseinsvorsorge und nicht, wie von nommen ist, ist eine eindeutige Ungleichbehandlung. Ihnen behauptet und uns vorgeworfen wird, um eine Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen. Diskriminierung. Herzlichen Dank. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2012 in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz erklärt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asyl- und bei der LINKEN) bewerberleistungsgesetzes evident unzureichend ist. Der Verpflichtung durch Karlsruhe kommen wir jetzt durch Vizepräsident Peter Hintze: diesen Gesetzentwurf nach. Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- ordneten Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion. Auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines men- schenwürdigen Existenzminimums können sich sowohl (Beifall bei der CDU/CSU) deutsche als auch ausländische Staatsangehörige, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, beru- Matthäus Strebl (CDU/CSU): fen. Da aber die Berechnung seit 1993 nicht mehr geän- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen dert wurde, war das Existenzminimum für diese Bezie- und Kollegen! Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur her nicht mehr gewährleistet. Deshalb sollen in Zukunft Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des die existenznotwendigen Leistungen auf der Grundlage Sozialgerichtsgesetzes. Zusätzlich liegt uns ein Gesetz- der Einkommens- und Verbrauchsstichproben ermittelt entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, der werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5307

Matthäus Strebl (A) Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass das Bundes- Vizepräsident Peter Hintze: (C) verfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz im Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Ganzen jedoch nicht für verfassungswidrig erklärt hat. erteile ich das Wort der Abgeordneten Kerstin Griese, Die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das SPD-Fraktion. Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen, wei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen wir deshalb zurück. Stattdessen nehmen wir für die der CDU/CSU) betroffenen Menschen positive Gesetzesänderungen vor.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Kerstin Griese (SPD): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das unterliegt aber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! genauso der Verfassung!) Endlich ändern wir das Asylbewerberleistungsgesetz. Schon am 18. Juli 2012 hatte das Bundesverfassungsge- Einige möchte ich beispielhaft nennen: Die Zeit, in richt bescheinigt, dass die Höhe der Geldleistungen – ich der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zitiere –: „… mit dem Grundrecht auf Gewährleistung gezahlt werden – das hat die Kollegin Eckenbach schon eines menschenwürdigen Existenzminimums … unver- erwähnt –, die sogenannte Wartefrist, wird von 48 Mo- einbar“ ist. Deshalb kann ich mir zu Beginn die Kritik nate auf 15 Monate reduziert. Auch die gesundheitliche auch nicht verkneifen, dass es gut gewesen wäre, wenn Notfallversorgung von Asylbewerbern wollen wir ge- die Vorgängerregierung die Gesetzesänderung ein biss- währleisten. Im Falle einer akuten Notfallbehandlung im chen zügiger angepackt hätte. Krankenhaus oder bei Zahnärzten (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es ist 20 Jahre (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ nichts passiert!) DIE GRÜNEN]: Aber nur im Notfall!) Aber wir tun das jetzt. Diese Koalition ist handlungs- fähig. Ich danke dem Bundessozialministerium für die können Ärzte und Krankenhausträger unter den im Ge- Vorlage dieses Gesetzentwurfs, den wir nun zügig bera- setz genannten Voraussetzungen ihren Aufwendungser- ten und beschließen können. satzanspruch gegenüber dem jeweiligen Leistungsträger geltend machen. Ebenso hat zukünftig das Fehlverhalten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eines Einzelnen ausschließlich Auswirkungen auf ihn der CDU/CSU) selbst. Die akzessorische Anspruchseinschränkung bei Was ist uns besonders wichtig bei diesem neuen Ge- Familienangehörigen heben wir auf und verhindern so- setz? Wir werden künftig endlich reale Leistungssätze (B) mit insbesondere, dass minderjährige Kinder für das haben, die anhand der Einkommens- und Verbrauchs- (D) Fehlverhalten ihrer Eltern die Konsequenzen tragen. Die stichprobe festgelegt werden. Asylbewerberinnen und Große Koalition plant die alters- und bedarfsgerechte Asylbewerber bekommen dadurch durchschnittlich Förderung der Kinder und Jugendlichen unter den Asyl- 127 Euro mehr im Monat, um ihren Bedarf zu sichern. bewerbern. Deshalb wird aus der „Kann“-Leistung ein Die Sätze waren so lange nicht mehr angehoben worden, gesetzlich verankerter Anspruch auf Leistungen für dass die Beträge im Gesetzestext sogar noch in D-Mark Bildung und Teilhabe. Minderjährige Asylbewerber ob- stehen; aber das nur als kleiner Hinweis am Rande. liegen, wie alle anderen Kinder in Deutschland auch, der Wir werden die Wartefrist, bis Leistungen in gleicher Schulpflicht. Die Förderung durch Leistungen für Bil- Höhe wie in der Sozialhilfe erbracht werden, von 4 Jah- dung und Teilhabe hat zur Folge, dass eine Ausgrenzung ren auf 15 Monate verkürzen. Das ist eine echte Verbes- von minderjährigen Asylbewerbern vermieden werden serung für Asylbewerberinnen und Asylbewerber. kann. Dadurch erhöhen wir – darauf möchte ich aus- drücklich hinweisen – die Bildungs- und Aufstiegschan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten cen, sowohl im Fall des Verbleibens in Deutschland als der CDU/CSU) auch im Falle der Rückkehr ins Heimatland. Kinder und Jugendliche werden von Anfang an Leis- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- tungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten. Das ist wichtig, weil sie möglichst früh zur Schule gehen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles andere wäre sollen. Sie sollen sich integrieren können und alle Chan- wahrscheinlich verfassungswidrig!) cen haben. Leistungen für minderjährige Kinder werden Ich bin davon überzeugt, dass wir den Vorgaben des nicht mehr gekürzt. Die Erstattung der Kosten für medi- Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragen und gleich- zinische Nothilfe in Eilfällen wie Krankenhaus- und zeitig die Situation vieler Asylbewerber in Deutschland Notfallbehandlungen wird sichergestellt. verbessern. Die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Ich will ganz besonders auf die Situation von Kindern Grünen, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen, und Jugendlichen und auf die Gesundheitsversorgung lehnen wir ab. – das war auch schon Thema – eingehen. Wir wollen in einem zweiten Schritt im Zusammenhang der Reform Herzlichen Dank. der EU-Aufnahmerichtlinie die Gesundheitsversorgung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) 5308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Kerstin Griese (A) Das ist dringend nötig. Es gab ein paar tragische Fälle, in Erstens. Das klingt ja erst einmal sympathisch, aber (C) denen Asylbewerberinnen und Asylbewerber zu Tode wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob wir sofort gekommen bzw. schwer krank geworden sind, weil sie und in allen Punkten Menschen, die hier Asyl suchen, nicht angemessen behandelt wurden. Ich will aber deut- mit den Menschen, die länger arbeitslos sind, hinsicht- lich sagen: Das waren Notfälle, die nach § 4 des Asyl- lich der Leistungen gleichstellen sollten. bewerberleistungsgesetzes schon jetzt medizinisch hät- (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten versorgt werden müssen. Es ist schlimm, dass die NEN]: Ja!) Umsetzung des Gesetzes in diesen Fällen nicht funktio- niert hat. Das muss man sich sehr ernsthaft überlegen. Wir sollten in den weiteren Beratungen darauf achten, Zweitens. In diesem Gesetzentwurf geht es um finan- dass gerade Kinder und Jugendliche die medizinische zielle Fragen, die zwischen Bund und Ländern zu regeln Versorgung erhalten, die sie brauchen. Ich darf daran er- sind. Das wird noch angesprochen werden, wie in der innern, dass wir uns in der UN-Kinderrechtskonvention Protokollerklärung des Bundesrates festgehalten worden dazu verpflichtet haben. Darüber hinaus wollen wir da- ist, wenn dazu die Bund-Länder-Finanzgespräche ge- für sorgen, dass die notwendige psychologische Behand- führt werden. In diesen Gesprächen wird insbesondere lung von traumatisierten Flüchtlingen gewährleistet über die Gesundheitskosten und die unbegleiteten min- wird. derjährigen Flüchtlinge debattiert werden. Ein weiterer für uns wichtiger Aspekt ist: Opfer von Zum Schluss will ich noch ein Wort sagen zu den Menschenhandel und Ausbeutung sowie in Deutschland schrecklichen Vorfällen in Asylbewerberheimen, von de- lebende Menschen, deren Abschiebung aus humanitären nen wir gehört haben. Wir wollen seitens des Bundesta- Gründen schon länger ausgesetzt ist, werden künftig ges mit dieser Gesetzesänderung ein ganz klares Signal Leistungen gemäß SGB II oder SGB XII bekommen. aussenden: Uns geht es um die Menschenwürde; Das entspricht der Anerkennung der Realität, dass sie (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum länger bzw. dauerhaft hier bleiben werden. Deshalb ist macht ihr das nicht?) das ein richtiger Schritt. sie ist unantastbar. Mit Blick auf die Beratungen möchte ich auch noch den Punkt ansprechen, dass die Herausnahme einzelner (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Gruppen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Auch für Kommunen sehr deutlich entlastet: um 43 Millionen Asylbewerber!) Euro jährlich ab 2016, im nächsten Jahr schon um Wir dulden nicht, dass Menschen, die aus tiefstem Leid (B) 27 Millionen Euro. Wir sollten im Zuge der Beratungen zu uns kommen, gewalttätig, entwürdigend oder herab- (D) prüfen, ob es weitere Möglichkeiten gibt, Gruppen von lassend behandelt werden. Ich wäre froh, wenn wir uns Personen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz heraus- da einig wären. zunehmen. Das würde die Kommunen unterstützen. Üb- rigens, liebe Frau Kollegin, Nordrhein-Westfalen macht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das schon lange. Die Landesregierung entlastet und der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann- stärkt die Kommunen und hilft ihnen, die Aufgaben, die Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, vor ihnen liegen, zu erfüllen. wir sind uns leider nicht einig!) (Beifall bei der SPD – Jutta Eckenbach [CDU/ Ich will ein Dankeschön an die vielen Ehrenamtlichen senden, die sich tagtäglich um Flüchtlinge kümmern, die CSU]: Siehe Essen!) mit Kindern lesen und schreiben üben, die mit den Fami- Der Bundesrat hat noch weitere Verbesserungen für lien kochen, die Kleidung und Möbel besorgen, die sie Flüchtlinge beschlossen, die wir in einem nächsten bei Behördengängen begleiten, die Menschen einladen, Schritt hier vorlegen werden: Vorrang von Geld- vor die hierher geflohen sind. Ich erlebe in meinem Wahl- Sachleistungen, Abschaffung der Residenzpflicht nach kreis eine große Welle der Hilfsbereitschaft, des Engage- drei Monaten Aufenthalt – das ist eines der sinnvollsten ments, des Verständnisses für die schwierige Situation Vorhaben; wir sollten diese Residenzpflicht endlich ab- der Flüchtlinge. schaffen –, Aussetzung der sogenannten Vorrangprüfung (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei Arbeitsplätzen. Denn es ist wichtig, dass Asylbewer- NEN]: Die muss aber auch vom Gesetzgeber berinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge hier eine kommen!) Arbeit aufnehmen können. Wer schon einmal Asylbe- werberheime besucht hat – ich hoffe, dass viele der Kol- Wir sollten mit den gesetzlichen Regelungen, die wir leginnen und Kollegen das regelmäßig tun –, weiß, wie hier beschließen, dieses Engagement unterstützen. In psychisch belastend es ist, nicht arbeiten zu dürfen, diesem Sinne hoffe ich auf gute Beratungen. nichts zu tun zu haben, quasi zum Rumhängen ver- dammt zu sein. Ein Job ist der erste Schritt zurück ins Vielen Dank. Leben, oft nach dramatischen Monaten, nach Jahren der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Flucht, nach Jahren der Angst und Unsicherheit. der CDU/CSU) Zum Gesetzentwurf der Grünen, das Asylbewerber- leistungsgesetz ganz abzuschaffen, sage ich nur kurz Vizepräsident Peter Hintze: zwei Dinge: Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5309

Vizepräsident Peter Hintze (A) Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Die Vergütungssystematik wird grundlegend verän- (C) würfe auf den Drucksachen 18/2592 und 18/2736 an die dert. Neu ist die Einbeziehung des Entlassungstages in in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- die Kalkulation und die Abrechnung der Entgelte. Die schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das Differenzierung innerhalb von PEPP erfolgt nun nicht ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- mehr durch Vergütungsstufen, sondern durch eine ein- schlossen. heitliche Vergütung je Tag in Abhängigkeit von der An- zahl der Berechnungstage. Außerdem werden ergän- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: zende Tagesentgelte als neue Vergütungselemente eingeführt. Damit kann wechselnder Behandlungsauf- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wand im Verlauf einer Behandlung berücksichtigt wer- richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- den. Ich denke, dies alles kann als Zwischenstation schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Maria durchaus positiv bewertet werden. Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein sensibler Punkt im Zusammenhang mit PEPP ist Das psychiatrische Entgeltsystem überarbei- die Beendigung der Geltungsdauer der Psychiatrie-Per- ten und das Versorgungssystem qualitativ sonalverordnung zum 1. Januar 2019. Das ist mir sehr weiterentwickeln bewusst. Die Vertragsparteien zum Krankenhausfinan- zierungsgesetz haben bislang die Maßstäbe und Grund- Drucksachen 18/849, 18/1713 sätze dieser Personalverordnung bei der Vereinbarung des Budgets und der Pflegesätze zugrunde zu legen. Nun Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tritt diese Psych-PV zu dem Zeitpunkt außer Kraft, zu die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- dem die Konvergenzphase des PEPP einsetzt. Hier wird nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nun befürchtet, dass damit ein Einfallstor zum Personal- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er- abbau geschaffen wird. teile ich das Wort der Abgeordneten Ute Bertram, CDU/ Nach § 137 Absatz 1 c im SGB V ist dem Gemeinsa- CSU-Fraktion. men Bundesausschuss die Aufgabe übertragen worden – ich zitiere – „Empfehlungen für die Ausstattung der Ute Bertram (CDU/CSU): stationären Einrichtungen mit dem für die Behandlung erforderlichen therapeutischen Personal“ zu beschließen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Diese Befugnis des G-BA tritt damit an die Stelle der (B) Kollegen! Heute rufen wir wieder das Thema PEPP, also Psych-PV, die übrigens auch keine Personalsicherung (D) das pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und darstellt, sondern nur der Budgetfestlegung dient. Mit Psychosomatik auf. Aber das Thema hat sich verändert. Interesse haben wir auch den Hinweis des G-BA in der Der Bundestag hat durch das GKV-Finanzstruktur- und Sachverständigenanhörung im Gesundheitsausschuss am Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz die gestaffelten Ein- 7. Mai dieses Jahres aufgenommen, der Nachfolgerege- führungsfristen um jeweils zwei Jahre verlängert. Damit lung der Psych-PV mehr Verbindlichkeit als nur einen wird PEPP mehr Zeit gegeben, um den hohen Ansprü- Empfehlungscharakter zukommen zu lassen. Das wollen chen, die wir an das neue Vergütungssystem stellen, bes- wir offen prüfen. ser gerecht werden zu können. Die Koalition ist nicht mit der Brechstange gekommen. Wir setzen damit be- Freilich heißt das noch nicht, dass ansonsten die Kri- wusst ein Zeichen, um konstruktiver Kritik entgegenzu- tik an PEPP erloschen wäre. Nach wie vor werden The- kommen und den optierenden Einrichtungen mehr Zeit sen vertreten, die gerade nicht überzeugen. Gelegentlich zu geben, auf die Ausgestaltung des PEPP Einfluss zu – wer weiß, vielleicht auch noch heute hier im Plenum – nehmen. Allen Beteiligten ist mittlerweile bewusst: Wer ist noch zu hören, mit den degressiven Tagessätzen wür- sich PEPP verweigert, nimmt auf das neue Entgeltsys- den Fehlanreize gesetzt, die dazu führen, dass Patienten tem keinen Einfluss. aus ökonomischen Motiven heraus zu früh aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Tagessätze bilden Das lernende System PEPP konnte in den letzten Mo- die durchschnittlichen Behandlungskosten pro Patient naten, seit März, respektabel weiterentwickelt werden. ab. Dass sie hierbei einen degressiven Verlauf haben, Anfang September hat das Institut für das Entgeltsystem entspricht dem tatsächlichen Verlauf der Kostenentste- im Krankenhaus, das InEK, die mittlerweile dritte Ver- hung. sion des Entgeltkatalogs für PEPP vorgestellt. Der GKV- Spitzenverband, der Verband der Privaten Krankenver- Zu einer Unterversorgung wird es dadurch nicht kom- sicherung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft men. Eher das Gegenteil ist der Fall: Würden Psych-Ein- haben sich Ende des letzten Monats hierauf verständigt. richtungen Patienten zu früh entlassen, würden sie auf zusätzliche Erlöse verzichten. Das Szenario, ein Patient Für 2015 haben wir nun folgendes Bild: Grundlage werde zu früh aus dem Krankenhaus entlassen, tritt al- für die Kalkulation 2015 sind die Kalkulationsdaten von lenfalls dann ein, wenn die Aufnahmekapazität einer 85 Einrichtungen mit über 205 000 vollstationären und Einrichtung nicht ausreicht und dem akuteren Fall ge- teilstationären Fällen. Das entspricht einer Steigerung genüber dem weniger akuten Fall Vorrang eingeräumt von rund 22 Prozent. Der Umfang der Kalkulationsdaten werden muss. Ich möchte denjenigen sehen, der dann an- hat auch in der Psychosomatik zugenommen. ders entscheidet. Vor allem aber ist es nicht das Thema 5310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Ute Bertram (A) von PEPP, sondern der gesamten psychiatrischen und worte ich: Das mag ja sein, aber gerade dieser Patienten- (C) psychosomatischen Versorgungssituation einschließlich kreis, der solche multiprofessionelle Hilfe benötigt, ist der ambulanten Versorgung, die Vorrang gegenüber der nicht derjenige, der ambulant weiterbehandelt werden stationären Versorgung hat. kann. Mit PEPP wird häufig die Forderung verknüpft, dass Um aber auf das ursprüngliche Thema zurückzukeh- eine Verzahnung mit der ambulanten Versorgung sicher- ren: PEPP kann für eine Einführung der sektorenüber- gestellt werden muss. Keine Frage: Die Schnittstellen- greifenden Versorgung zwar nicht der Problemlöser sein, problematik zwischen der stationären und der ambulan- er steht ihr aber auch nicht im Wege. ten Versorgung kann PEPP ebenso wenig lösen wie das jetzige Vergütungssystem. Schließlich geht es hier ja nur Nach allem bleibt festzustellen: Der heute zur Ab- um ein Vergütungssystem von Krankenhäusern der Psy- stimmung anstehende Antrag verkennt die Chancen, die chiatrie und der Psychosomatik. PEPP bietet, und es entspricht einfach nicht dem aktuel- len Stand des neuen Vergütungssystems. Die Karawane Ich finde es merkwürdig; denn nach § 140 a SGB V ist einfach weitergezogen. Da bleibt nur noch Ableh- können Verträge für eine übergreifende Versorgung zwi- nung. schen Krankenkassen und den Leistungserbringern längst geschlossen werden. Diese Vorschrift besteht seit Vielen Dank. Dezember 1999, also seit rund 15 Jahren. Seit Juli 2012 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird diese Vorschrift durch § 64 b SGB V flankiert, wo- neten der SPD) nach eine sektorenübergreifende Leistungserbringung auch Gegenstand von Modellvorhaben sein kann. Unab- Vizepräsident Peter Hintze: hängig davon, was immer dazu geführt haben mag, dass Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten eine solche Leistungserbringung noch nicht über örtliche Harald Weinberg, Fraktion Die Linke, das Wort. und regionale Insellösungen hinaus entwickelt worden ist, sehe ich hier die Partner im Gesundheitswesen in der (Beifall bei der LINKEN) Pflicht. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Parameter für eine integrierte Versorgung zu entwickeln, die möglichst flä- Harald Weinberg (DIE LINKE): chendeckend anwendbar sind. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Und es ist nicht sachgerecht, PEPP mit der Frage sek- Kollegen! Zunächst einmal möchte ich Ihnen für die An- torenübergreifender Leistungserbringung zu befrachten. regungen danken, die Sie in Ihrer Rede gemacht haben. Dennoch will ich den Akteuren ein wenig auf die Ich werde gleich an einigen Stellen sicher andere Ak- (B) Sprünge helfen. Ziel soll ja sein, die Durchlässigkeit zente setzen, aber ich finde es sehr mutig und bemer- (D) zwischen stationärer und ambulanter Versorgung flä- kenswert, hier Vorschläge zu machen, wie man die Sek- chendeckend einzuführen. Wegen des Grundsatzes „am- toren ein Stück weit durchlässiger machen kann. Das bulant vor stationär“ heißt dies, dass ganz überwiegend will ich durchaus anerkennen. eine Überleitung von der stationären Versorgung hin zur Ferner möchte ich mich bei den Grünen bedanken, ambulanten Versorgung stattfinden muss. Zwar ist das dass wir mit der Beratung dieses Antrags noch einmal auch umgekehrt zu betrachten, aber nicht vorrangig. die Gelegenheit haben, über das Entgeltsystem in der Weiterhin muss der Grundsatz berücksichtigt werden, Psychiatrie zu reden. Das ist aus unserer Sicht dringend dass gerade im Bereich der Psychiatrie und der Psycho- notwendig. Wir sehen es eher so, dass das gegebene somatik ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis zwi- PEPP-System ein Überbleibsel aus schwarz-gelber Ge- schen Patient und Therapeuten bestehen muss. Das sundheitspolitik ist, das der künftige Allianz-Vorstand heißt, ein Wechsel in der Person des Therapeuten ist im- Daniel Bahr gegen den Widerstand der Fach- und Pa- mer heikel und sollte möglichst vermieden werden. tientenverbände vorangetrieben und sozusagen mit einer Ersatzvornahme durchgesetzt hat. PEPP droht aus unse- Zu beachten ist ferner, dass der stationäre Sektor mit rer Sicht die Versorgung zu verschlechtern und den angestelltem Personal arbeitet, während der ambulante Wettbewerb unter den Krankenhäusern auf die Psychia- Sektor freiberuflich geprägt ist. Was folgt hieraus? Wie trien auszuweiten. Das lehnen wir ab. können diese Feststellungen rechtlich und organisato- risch umgesetzt werden? Hierzu rege ich folgenden Vor- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schlag zur Prüfung an: Stationäre Einrichtungen beset- NIS 90/DIE GRÜNEN) zen den erkannten Personalbedarf im Bereich der Was Krankenhauswettbewerb bedeutet, können wir Psychotherapeuten mit eigenem Personal nicht zu heute schon in den nichtpsychiatrischen Krankenhäusern 100 Prozent, sondern beispielsweise zu 85 oder 90 Pro- erleben. Die Einführung der Fallpauschalen vor zehn zent. Der ungedeckte Personalbedarf, der Rest, wird zu Jahren hat dort zu einem Wettbewerb um die meisten den Honorarkonditionen der freiberuflichen Therapeuten Operationen und die guten Risiken geführt. Ob alle eingekauft. So könnte eine sektorenübergreifende Ver- durchgeführten Operationen wirklich notwendig sind, sorgung durch Überlappung gelingen. Aus dem somati- darf bezweifelt werden. schen Bereich kennen wir dies bereits unter dem Stich- wort „Belegärzte“. Bedenkenträger werden jetzt PEPP ist nicht völlig identisch mit den Fallpauscha- einwenden, dass dieser Vorschlag mit multiprofessionel- len. Die grundsätzliche Struktur und Ausrichtung sind ler Hilfe nicht in Einklang zu bringen ist. Denen ant- jedoch ähnlich. Es gibt auch bei PEPP Kalkulationshäu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5311

Harald Weinberg (A) ser, in denen Durchschnittskosten ermittelt werden, die sen Sie sich nicht aus Koalitionsräson zu einer Entschei- (C) dann Maßstab, Benchmark für den Wettbewerb der Häu- dung gegen Ihre Überzeugung treiben, die den psychisch ser und psychiatrischen Einrichtungen untereinander kranken Menschen schaden wird. sind. Es werden dann in der Tat ökonomische Gründe sein, die über die Art entscheiden, wie jemand und wie Noch ein Wort zu dem Antrag der Grünen. Der lange jemand als psychisch erkrankter Mensch behandelt Antrag benennt die Probleme aus unserer Sicht völlig wird. Über-, Unter- und Fehlversorgung sind damit aus korrekt. Der Grundansatz, von der Versorgung aus zu unserer Sicht vorprogrammiert. denken, geht in die richtige Richtung. Er ist jedenfalls besser als alles, was wir bisher von der Koalition vorge- Dann sorgt PEPP – wir hatten es gerade schon einmal –, legt bekommen haben. Insofern werden wir ihm zustim- zumindest in der bisherigen Fassung, für ein Ende men. moderner Versorgungsformen, bei denen nicht das Krankenhaus im Mittelpunkt steht, wie zum Beispiel ge- Vielen Dank. meindepsychiatrischer Wohneinrichtungen und anderer (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Verzahnungen mit dem ambulanten Bereich; denn durch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) solche Einrichtungen verlieren die stationären Einrich- tungen – in Anführungszeichen – gute Kunden. Die Linke ist gegen Markt und Wettbewerb in Krankenhäu- Vizepräsidentin : sern, weil das der Orientierung am Patienten und seinem Der Kollege Dr. Karl Lauterbach hat für die SPD- individuellen Behandlungsbedarf widerspricht. Das gilt Fraktion das Wort. noch mehr für die psychiatrische Versorgung. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Der Antrag der Grünen geht aus unserer Sicht inso- Dr. Karl Lauterbach (SPD): fern in die richtige Richtung, als er das Versorgungs- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen geschehen und den Versorgungsbedarf in den Mittel- und Kollegen! Zunächst einmal muss man den Grünen punkt stellt und dann erst fragt: Wie soll das Ganze dafür danken, dass sie den Antrag eingebracht haben. Es sinnvoll finanziert werden? Was ist dafür ein sinnvolles ist aber klar, dass wir dem Antrag nicht zustimmen kön- Finanzierungssystem? nen, weil in dem Antrag nur das gefordert wird, was wir ohnedies tun. CDU/CSU sehen das Finanzierungssystem PEPP erst einmal als gegeben, als absolut an – mit der Folge, dass (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich dann das Versorgungsgeschehen daran anpassen (B) NEN]: Wenn das mal stimmen würde!) (D) soll. Das ist dann das sogenannte lernende System. Die Verschiebung der Scharfstellung, also die Verschiebung Wir haben bei der Fraktionsklausur auf dem Peters- der Einführung, hat dann auch nur den Sinn – das haben berg beschlossen, dass wir hart prüfen, ob PEPP der wir gerade schon ein bisschen herausgehört –, eine Art richtige Weg ist. Wenn PEPP der richtige Weg ist, wer- Trainingslager oder Trainingsphase für die Einrichtun- den wir es so modifizieren, dass wir wichtige Probleme, gen zur besseren Anpassung an das PEPP-System zu die in dem Antrag der Grünen beschrieben worden sind sein. Das lehnen wir allerdings grundsätzlich ab. und die auch uns bekannt sind, innerhalb des Systems bearbeiten. (Beifall bei der LINKEN) Somit ist der Antrag der Grünen nicht falsch. Er ist Die SPD war vor der Wahl im letzten Jahr strikt gegen auch hilfreich, weil er noch einmal auf die Probleme hin- die Einführung von PEPP. Ich bin gespannt, was die weist. Aber er ist überflüssig, weil wir im Prinzip zu Koalition aus dieser Gemengelage machen wird. In den dem aufgefordert werden, was wir schon tun. Übrigens Beratungen in den Ausschüssen haben wir gesehen, dass geschieht dies, Herr Weinberg, nicht auf Druck der Grü- die SPD ihre Positionierung verändert hat. nen, sondern schlicht und ergreifend aus Überzeugung Wir haben aber auch erlebt, dass der Druck von au- heraus. Das gilt für die gesamte Große Koalition, auch ßen, der Druck von den Verbänden, den Gewerkschaf- für die Union. ten, den Krankenhäusern, den Linken und den Grünen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dazu geführt hat, dass die Optionsphase verlängert wor- der CDU/CSU) den ist und dass wir ein Moratorium von zwei Jahren ha- ben werden. Wir meinen, dass wir diese zwei Jahre Nur zur Erinnerung: Die Beschlusslage der Fraktion nutzen müssen, um generell noch einmal darüber nach- ist die, dass wir prüfen, ob PEPP grundsätzlich weiter- zudenken, wie wir die psychiatrische Versorgung, und verfolgt wird, und, wenn es weiterverfolgt wird, welche zwar auch in der Verzahnung der Sektoren und Versor- Veränderungen im System notwendig sind, damit die gungsstrukturen, zusammenbringen. Nebenwirkungen, die Sie hier einigermaßen eloquent beschrieben haben, nicht eintreten. Das ist die Be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten schlusslage. Nichtsdestotrotz will ich die Gelegenheit er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) greifen, noch einmal im Detail auf ein paar Punkte ein- Wenn ich der SPD etwas raten darf: Auch wenn es zugehen. Aus meiner Sicht haben wir in der Struktur der schwerfällt, bleiben Sie bei der Position, dass PEPP ein psychiatrischen Versorgung in Deutschland derzeit ein Fehler ist und dass es nicht eingeführt werden darf. Las- paar Grundprobleme, die wir lösen müssen. Ich gehe in 5312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Karl Lauterbach (A) der Kürze der Zeit auf einige wichtige Grundprobleme gelöst wird. Denn nur auf der Grundlage solcher Leitli- (C) ein. nien lassen sich die Strukturen entwickeln, die wir ent- wickeln müssen, wie die Grünen angemahnt haben. Erstens. PEPP selbst ist ein Vergütungssystem; es ist keine Strukturreform in der Psychiatrie. Das ist eine Ich komme zum Schluss. Wir werden Ihnen die der- Klarstellung. Die Frage ist, ob wir zuerst die Strukturre- zeit von uns geprüften Vorschläge – wir haben die Fach- form durchführen und dann das Vergütungssystem än- verbände um Vorschläge gebeten, und wir haben derzeit dern sollen oder ob man das gleichzeitig machen kann. auch eigene Alternativvorschläge zu PEPP oder zu einer Aber es umgekehrt zu machen, wie Kollege Weinberg Strukturreform mit und ohne PEPP in Vorbereitung – in unterstellt hat, ist nie angedacht gewesen. Die Einfüh- Kürze vorstellen können. Aber was die Lösungen angeht rung von PEPP hat nie bedeutet, dass wir parallel dazu – wir haben vor wenigen Wochen einen entsprechenden planen, die Arbeit an notwendigen Strukturreformen in Beschluss gefasst; das war einer der ersten wichtigen der Psychiatrie einzustellen. Das hat nie zur Debatte ge- Beschlüsse, zu denen wir fraktionsübergreifend gekom- standen. Von daher ist das eine Unterstellung. men sind –, werden wir Gegenvorschläge vorlegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bei allem Respekt: Ihr Antrag enthält keinen Gegen- vorschlag. Darin werden die bekannten Probleme be- Zweitens. Wir haben eine wichtige Problematik im nannt, aber es gibt keinen konkreten Gegenvorschlag, Bereich der niedergelassenen Psychiatrie. Dort verdrängt der die gerade benannten Probleme lösen würde. immer mehr die lukrative Richtlinienversorgung die kurzinterventionelle klassische Psychotherapie oder die Wir werden das also machen, und wir müssen es ma- klassische Interventionspsychiatrie. Das ist von großer chen. Denn Menschen, die psychiatrische Versorgung Bedeutung. Denn hier wird zum Teil sehr viel Geld bei brauchen, können sich nicht gegen die falsche Therapie geringem Erfolg ausgegeben, und diejenigen, die drin- wehren. Sie sind keine Kunden. Sie sind auf eine zuver- gend eine kurzfristige ambulante Versorgung benötigen, lässige, wohlmeinende und gute Versorgung mehr ange- bekommen diese nicht, weil die Plätze fehlen. wiesen als jeder andere. In der Tat wandern immer mehr niedergelassene (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE Hausärzte bzw. Allgemeinärzte und auch Fachärzte in LINKE]) die Richtlinientherapie ab, und zwar aus ökonomischen Wenn ihre Behandlung schlecht ist, dann hat das beson- Gründen, weil sich die klassische Versorgung nicht mehr ders gravierende Konsequenzen. Daher ist jede Ökono- lohnt. Daran müssen wir arbeiten. Das ist das zweite misierung dieses Feldes falsch und wird von uns abge- Problem. lehnt. Daran werden wir uns messen lassen. (B) (D) Das dritte Problem ist: Im Bereich der stationären (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Versorgung nimmt die Zahl der psychosomatischen der CDU/CSU) Häuser und auch die psychosomatische Betreuung zu, derweil sich die regionale Versorgung in der Psychiatrie verknappt. Das hat dazu geführt, dass zwar Betten abge- Vizepräsidentin Petra Pau: baut worden sind, aber die Kosten um mehr als ein Drit- Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink für tel gestiegen sind und gleichzeitig die Wartezeiten auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. einen dringend notwendigen Platz in der stationären Ver- sorgung in der Regionalversorgung sich immer weiter Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausgedehnt haben – auf über sechs Wochen –, sodass NEN): viele Patienten mit einer erheblichen Verzögerung in die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- Versorgung kommen. Das hat zur Folge, dass die Thera- ginnen und Kollegen! Wir Grüne stellen heute unseren pie verspätet und in schlechterer Qualität erfolgt. Antrag zur Abstimmung, wohl wissend, dass er, obwohl er viele gute Argumente enthält – das ließ sich den ver- Innerhalb der psychiatrischen Versorgung haben wir schiedenen Wortbeiträgen schon entnehmen –, abgelehnt veraltete Leitlinien. Das betrifft insbesondere die Psy- wird, wahrscheinlich und ziemlich sicher gegen das chotherapie in der stationären Versorgung, insbesondere Gewissen und die fachliche Einschätzung der SPD- bei der unipolaren Depression, aber nicht nur dort. Dort Fraktion, zum Glück nicht mit Unterstützung der Lin- wird zu wenig Psychotherapie gemacht. Die Kosten wer- ken. Wir sind uns eigentlich einig, dass eine wirkliche den nicht erstattet, und die Leitlinienentwicklung, ge- Reform im Bereich der Psychiatrie und der Versorgung schweige denn die eigentliche Versorgung in der Psychi- im Bereich der Psychosomatik in Deutschland benötigt atrie erfolgen nicht in dem notwendigen Tempo. wird. Das nächste Problem ist, dass wir in den Leitlinien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derzeit eine zu geringe Verankerung in der evidenzba- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sierten Medizin sehen. Die Leitlinien sind zum Teil nach dem Konsenssystem entwickelt. Sie sind auch weder in- Nur Sie von der Union haben sich darauf festgelegt, als terdisziplinär noch sektorenübergreifend. Wir brauchen Erstes ein pauschales Entgeltsystem einzuführen. Sie interdisziplinäre, sektorenübergreifende, evidenzbasierte sind nicht bereit, den langwierigen, rund zehn Jahre dau- Leitlinien. Wir haben jetzt sektorenspezifische, nicht ernden Prozess der Einführung eines rein fiskalischen evidenzbasierte und nicht interdisziplinäre Leitlinien. Systems mit einer wirklichen Weiterentwicklung der Das ist das Problem. Es ist übrigens sehr wichtig, dass es Versorgung für diejenigen zu verbinden, die psychisch Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5313

Maria Klein-Schmeink (A) krank sind und therapeutische Hilfe und soziale Beglei- den Alltag, in die Familie und zurück an den Arbeits- (C) tung brauchen. Das ist der eigentliche Punkt, der hier platz mit dem therapeutischen Personal angegangen eine Rolle spielt. bzw. von ihm begleitet werden kann, das schon in der Klinik für diese Menschen in der Krise zuständig war? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch das ermöglichen Sie auf dieser Basis – so, wie Sie Karl Lauterbach, es geht nicht darum, zu entscheiden es jetzt gestrickt haben – nicht. Das gibt es bestenfalls in – ähnlich wie bei Henne und Ei –, ob zuerst eine Struk- Form von Modellvorhaben. Sie sind aber so halbherzig turreform durchgeführt oder ob zuerst ein neues Entgelt- ausgestaltet, dass man auf ihrer Grundlage keine zukünf- system geschaffen werden soll. Natürlich muss beides tige Versorgungsstruktur entwickeln kann. Hand in Hand gehen. Die momentane Beschlusslage er- Genau diese Chance ist verpasst worden. Das ist sehr laubt lediglich, das Entgeltsystem auf den Prüfstand zu schade. Ich hoffe, dass wir hier in zwei Jahren noch ein- stellen. Im Rahmen des FQWG ist von SPD und Union mal neu über ein Entgeltsystem diskutieren können, das noch vor der Sommerpause beschlossen worden, dass von wirklich tragfähigen Elementen für eine andere Ver- die Krankenhäuser, die aufgrund des jetzigen, auch von sorgungsstruktur begleitet wird. In diesem Sinne hoffe der SPD infrage gestellten und kritisierten Entgeltsys- ich, dass Sie noch einmal ein bisschen nachdenken. Mor- tems kalkulieren, sogar finanzielle Anreize erhalten. Das gen ist der Tag der seelischen Gesundheit. Das wäre in- wird dazu führen, dass die Union später sagen wird: Da sofern eigentlich ein guter Tag, die gesamte Versor- schon so viele Krankenhäuser auf dieses Entgeltsystem gungsentwicklung weiter voranzubringen. umgestiegen sind, können wir das nicht mehr ändern. – Genau das werden wir in zwei Jahren wahrscheinlich Danke schön. erleben. Ich hoffe, dass dem nicht so ist und dass der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Weg der SPD, den sie sich ausgehandelt hat, zumindest bei Abgeordneten der LINKEN) ein anderes, alternatives Entgeltsystem zu überprüfen, tatsächlich Wirklichkeit wird, sodass wir die Chance ha- ben, über ein anderes, bedarfsgerechtes Entgeltsystem zu Vizepräsidentin Petra Pau: diskutieren. Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Emmi Zeulner das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben zwar darauf hingewiesen, dass es auf der Emmi Zeulner (CDU/CSU): einen Seite um die Finanzierung und auf der anderen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (B) Seite – unbestritten – um die Deckung des Weiterent- Kollegen! In psychiatrischen Einrichtungen in Deutsch- (D) wicklungsbedarfs geht. Aber Sie bleiben die Antwort land werden jährlich 1,1 Millionen Patienten behandelt. darauf schuldig, wann Sie eine Veränderung der Versor- Die Art psychischer Erkrankungen hat sich gewandelt. gungsstrukturen angehen wollen, mit welchen Mitteln Die Zahl der Patienten steigt und wird nach der jetzigen Sie das machen wollen und wie Sie dafür sorgen wollen, Prognose noch weiter steigen. Sicherlich kennt jeder von dass das künftige und mit so viel Mühe erstellte Entgelt- uns in seinem Bekanntenkreis oder in seiner Familie je- system für die stationäre Versorgung geeignet ist, sekto- manden, der entweder in der Vergangenheit an einer psy- renübergreifende Versorgungsmodelle dauerhaft zu fi- chischen Krankheit litt oder heute unter dieser leidet. nanzieren. Diese Antwort bleiben Sie uns komplett schuldig. Das ist ein großer Fehler Ihres Vorgehens. Den Betroffenen sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich die bestmögliche Versorgung zuteil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden zu lassen, ist Aufgabe unseres Gesundheitssys- Weiterhin fehlt die Sicht auf die Gesamtversorgung. tems und somit Auftrag an uns Gesundheitspolitiker. Wie sieht der Bedarf der jeweiligen Patientengruppen ei- Stationäre und teilstationäre psychiatrische Einrichtun- gentlich aus? Was brauchen sie denn? Was brauchen sie gen müssen sich weiterentwickeln. Es gilt, Qualität zu im der stationären Versorgung vorgelagerten Bereich? garantieren und gleichzeitig Transparenz zu schaffen. Haben wir tatsächlich ambulante Krisensysteme? Haben Aus diesem Anliegen heraus haben wir 2012 das pau- die Betreffenden die Möglichkeit, schnell Zugang zu schalierende Entgeltsystem in der Psychiatrie und Psy- psychotherapeutischer Unterstützung zu bekommen? chosomatik – kurz PEPP – eingeführt. Dieses System ist Halten wir, wenn sich abzeichnet, dass ein Mensch psy- offen für Verbesserungen und entwickelt sich mit dem chisch erkrankt oder in eine Krise gerät, zum Beispiel Input der Leistungserbringer stetig weiter. Auch die eine ausreichende Anzahl an Krisenpensionen im ambu- Politik darf sich nicht zurücklehnen, sondern muss wei- lanten Sektor vor? All das haben wir nicht. Sie sehen all terhin an der stetigen Verbesserung des Systems arbei- das auch nicht in Ihren Planungen vor. Das ist ein großes ten. Versäumnis. Das gehört dringend angegangen. Die Einführung von PEPP stieß damals und stößt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch heute noch auf Widerstände. Zahlreiche Bedenken sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wurden von Patientenvertretern, Leistungserbringern und Verbänden geäußert. Das Gleiche muss für die stationäre Versorgung gel- ten. Auch da müssen wir fragen: Wie bekommen wir es Seien Sie versichert, dass ich das jetzige PEPP weiter- hin, dass der Übergang von stationärer Versorgung hin in hin nicht als der Weisheit letzter Schluss ansehe; aber ich 5314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Emmi Zeulner (A) erkenne auch Fortschritte, die bei der Weiterentwicklung Mit dem angestoßenen Entwicklungsprozess haben (C) des Systems gemacht wurden. Denn sowohl die Politik wir gezeigt, dass die Aussage, PEPP sei ein lernendes als auch die Selbstverwaltung haben auf die vielfach ge- System, keine leeren Worte sind. Immer noch gibt es äußerte Kritik an PEPP reagiert. Deshalb sehe ich einige Kritikpunkte. Diesen müssen wir uns selbstverständlich der Forderungen als erfüllt an. stellen und die Entwicklung von PEPP auch weiterhin aufmerksam und kritisch verfolgen. Nur im Dialog mit Als Erstes möchte ich die Forderung nach mehr Zeit den Beteiligten kann es uns gelingen, das Schulkind und somit nach einer Verlängerung der Optionsphase PEPP zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. aufgreifen. Auch ich bin der Meinung: Bei einer so tief- greifenden Neuerung, wie sie das PEPP mit sich bringt, Allen Beteiligten steht es zum einen offen, Vor- gilt es, nichts zu überstürzen und die Häuser Schritt für schläge zur Weiterentwicklung von PEPP beim InEK Schritt mit PEPP vertraut zu machen. Aus diesem einzubringen. Ich appelliere, diese Möglichkeit auch Grunde haben wir – nicht nur die Linken und die Grü- wahrzunehmen. Zum anderen hat das BMG einen struk- nen, sondern alle hier im Parlament Anwesenden – be- turierten Dialog angestoßen. Verbände, Selbstverwal- schlossen, die Optionsphase um zwei Jahre zu verlän- tung und Kalkulationshäuser sind aufgerufen, ihre Er- gern und dementsprechend auch die nachfolgenden fahrungen mit dem neuen Entgeltsystem einzureichen. Phasen später zu beginnen. Diese verlängerte Frist gibt Auf Basis dieser Stellungnahmen werden wir das Sys- den Einrichtungen die Chance, das neue System zu er- tem überprüfen und gegebenenfalls den Empfehlungen proben, ohne dass für sie die befürchteten finanziellen anpassen. Nachteile entstehen. Um Anreize für eine Beteiligung am neuen System zu schaffen, kommt den teilnehmen- Jedoch sehe ich auch noch Potenzial bei der Ausge- den Häusern in der Optionsphase die doppelte Grund- staltung von PEPP. Ich erkenne die Gefahr der Selektion lohnrate zugute. Diesen Anreiz halte ich für eine gute In- von Patientengruppen. In der Zeit, die wir durch die ver- vestition, denn der Erfolg von PEPP hängt entscheidend längerte Optionsphase gewonnen haben, müssen wir un- von der Beteiligung der Krankenhäuser ab. bedingt überprüfen, ob das neue System Anreize zu ei- ner solchen Selektion setzt. Sollten sich diese Bedenken (Beifall bei der CDU/CSU) bestätigen, so gilt es, unbedingt gegenzusteuern. Was si- cherlich niemand will, ist ein Wettbewerb unter den Es sei in aller Klarheit gesagt: Nur wer mitmacht, kann Häusern um die lukrativsten Diagnosen. auch gestalten. (Beifall der Abg. [SPD]) Ein weiterer Kritikpunkt, der bereits von der Selbst- verwaltung gelöst wurde, ist die Abschaffung der De- Schließlich wird besonders oft auch die Angst an (B) (D) gression in der Vergütung. Die Sorge, Patienten könnten mich herangetragen, mit PEPP gehe ein Personalabbau aus ökonomischer Motivation heraus frühzeitig entlas- einher. Eine ausreichende Personalausstattung ist für sen werden, habe auch ich geteilt. Anders als bei somati- eine gute Patientenversorgung unabdingbar. Bereits schen Erkrankungen ist der Verlauf psychischer Erkran- heute lässt sich jedoch in manchen Bereichen der Psych- kungen nur schwer vorhersehbar. Nicht bei jedem iatrie eine Unterversorgung mit Personal beobachten, Patienten stellt sich am Tag X eine Besserung ein. Dreh- wie das Kompetenz-Centrum für Psychiatrie und Psy- türeffekte wären eine mögliche Folge dieser Degression chotherapie – kurz KCPP – feststellte. Besonders in den gewesen. Die Selbstverwaltungspartner sind ihrer Ver- sensiblen Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie antwortung nachgekommen und haben diesen Kritik- und der Gerontopsychiatrie müssen wir eine ausrei- punkt mit ihrem Beschluss vom April ausgeräumt. Die chende Versorgung mit Personal sicherstellen. rasche Umsetzung durch das InEK im aktuellen Katalog Es ist klar: Personalpolitik darf nicht auf dem Rücken begrüße ich ausdrücklich. Die Degression wurde, auch der Patienten ausgetragen werden. Diesen gefährlichen durch die Möglichkeit der Abrechnung des Entlassungs- Zusammenhang hat das KCPP in einer Studie festge- tages, weitgehend abgeschafft. stellt. Demnach ist eine Zunahme im Off-Label-Use von Als dritten Punkt haben wir die individuelle Betreu- Neuroleptika in der stationären Versorgung von Kindern ung Schwerstkranker deutlich verbessert. Wir sind uns und Jugendlichen zu beobachten. Nach Auffassung des alle einig: Bestimmte Diagnosen verlangen eine beson- KCPP könnte dieser Off-Label-Use durch ein Mehr an ders intensive Betreuung. Auch dieser Aspekt war zu psychotherapeutischer und damit personalintensiver Be- wenig in dem alten Entgeltkatalog berücksichtigt. Bei handlung eingedämmt werden. besonders schweren Verläufen ist eine Eins-zu-eins-Be- Auch im Bereich der Gerontopsychiatrie wurde eine treuung oder eine Intensivbehandlung des Patienten er- unzureichende aktivierende Pflege festgestellt. Eine aus- forderlich, was mit dem neuen Katalog gewährleistet reichende Versorgung mit Personal müssen wir im Sinne wird. So ist es zukünftig Einrichtungen möglich, im Ein- der Patientengesundheit unbedingt gewährleisten. zelfall bedarfsgerecht ein Zusatzentgelt abzurechnen. (Beifall bei der CDU/CSU) Schließlich hat sich die Selbstverwaltung zum Ziel gesetzt, den Dokumentationsaufwand zu reduzieren. Aus diesem Grund wird der Gemeinsame Bundesaus- PEPP darf nicht zum Bürokratiemonster werden. Nun schuss eine Personalrichtlinie erarbeiten, um auch nach müssen wir sicherstellen, dass auch dieser Aspekt zeit- Auslaufen der Psych-PV keine Lücken entstehen zu las- nah umgesetzt wird. sen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5315

Emmi Zeulner (A) Ich wünsche mir, dass diese Vorgaben nicht nur rei- Wir haben das Ganze – Karl Lauterbach hat das sehr (C) nen Empfehlungscharakter haben, sondern mit einer hö- deutlich gesagt – mit einem klaren Prüfauftrag versehen, heren Verbindlichkeit einhergehen; denn die Ärzte, Psy- der eben nicht festschreibt, dass alles so bleiben muss, chotherapeuten, Pfleger und Heilmittelerbringer stellen wie es ist, sondern der durchaus dafür sorgt, dass wir die wichtigste Säule in der Versorgung der Patienten dar, auch prüfen, welche Alternativen sich ergeben, welche sowohl im somatischen als auch im psychiatrischen Be- Möglichkeiten sich ergeben, um zu schauen, wie das reich. Versorgungssystem vernünftig ausgestaltet werden kann. Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen: Wir haben Selbstverständlich muss das langfristige Ziel – und da keine Chancen verpasst, wie Sie so schön gesagt haben. sind wir uns alle einig – eine sektorenübergreifende Ver- Das mag in der Vergangenheit passiert sein. Für mich sorgung sein. Die Schnittstellen zwischen ambulanter wie vielleicht für einige andere ist es etwas frustrierend, und stationärer Behandlung müssen besser verzahnt wer- dass § 64 b SGB V da nicht längst viel mehr Kraft ent- den. Ohne eine leistungsgerechte Vergütung ist jedoch faltet hat. Aber wir haben mit der Verlängerung der Opti- eine sektorenübergreifende Versorgung nicht möglich. onsphase, mit dem Prüfauftrag und mit der klaren Maß- Es gilt: viel erreicht, noch viel zu tun. gabe, dass wir uns an den Ergebnissen dieser Prüfung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) messen lassen werden, Chancen geschaffen und keine Chancen verpasst. Das muss man deutlich festhalten. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk der CDU/CSU) Heidenblut das Wort. Lassen Sie mich noch ein Wort zur Psych-PV sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Natürlich ist es für uns völlig klar, dass Personalbemes- der CDU/CSU) sung gerade an dieser Stelle, gerade im psychiatrischen Bereich – da, wo auf Eins-zu-eins-Ebene gearbeitet Dirk Heidenblut (SPD): wird, wo ein besonderes Verhältnis zwischen demjeni- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen, der behandelt, demjenigen, der pflegt, demjenigen, gen! Liebe Zuhörerinnen und liebe Zuhörer! Man kann der betreut, und dem psychisch Erkrankten besteht –, dem PEPP viel nachsagen, aber eines sicher nicht, näm- eine zentrale und wichtige Frage ist. lich dass es keinen Drive in die Diskussion rund um die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Versorgungsfrage im psychiatrischen Bereich bringen LINKEN) würde. Das ist eigentlich auch gut so; denn wir brauchen eine weitere Diskussion über die Frage der Versorgungs- Aber es ist natürlich nicht damit getan, die Psych-PV (B) (D) struktur, was ein Teil der Überschrift des Antrags ist. schlicht zu verlängern, sondern wir müssen dafür sorgen, dass es moderne und vernünftige Strukturen gibt. Um (Beifall bei der SPD) nur ein Beispiel zu nennen – ich denke, das ist Ihnen al- Die Frage ist nur – das haben schon einige der Vor- len bekannt –: Die Psych-PV deckt zum Beispiel den Be- rednerinnen und Vorredner gesagt –, ob wir diese Dis- reich der Psychotherapie im stationären Bereich über- kussion nun zwingend entlang eines Entgeltsystems als haupt nicht hinlänglich ab. Das heißt, selbst eine Dreh- und Angelpunkt führen müssen oder ob wir sie hundertprozentige Erfüllung der Psych-PV würde im nicht ganz grundsätzlich zu führen haben. Zweifel an dieser Stelle zwingenden Nachholbedarf gel- tend machen. Dieser Antrag setzt durchaus beim PEPP, also beim Entgeltsystem, an. Ich will das, was Karl Lauterbach (Beifall bei der SPD) schon gesagt hat, wiederholen: Natürlich gab und gibt es Wir gehen durchaus davon aus, dass der G-BA, der Probleme. Natürlich ist es so, dass wir über vernetzte im Moment das Heft des Handelns in der Hand hat – die Strukturen, über die Frage der individuellen Versorgung, Kollegin hat es gesagt –, hier Vernünftiges vorlegen der individuellen Ansprüche nachdenken müssen und wird. Dazu ist er aufgefordert; da ist er gefordert. Was dass wir angemessene Voraussetzungen schaffen müs- die Frage der Verbindlichkeit angeht, da werden wir im sen. Über 30 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete sind Zweifel allerdings nachschärfen müssen; denn natürlich wir an dieser Stelle gefordert, sicherzustellen, dass sich muss seine Empfehlung verbindlich und nicht schlicht entsprechende weitere Maßnahmen ermöglichen lassen. sein. Denn nur so wird am Ende auch etwas gemacht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Klein-Schmeink [BÜND- Wir müssen aber auch sicherstellen, dass die Verbind- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch tun!) lichkeit eingehalten wird. Wir wissen alle: Selbst die Psych-PV wird bis zum heutigen Tage, was die hundert- Was den Antrag angeht, haben wir ja längst reagiert; prozentige Ausschöpfung angeht, nicht wirklich einge- denn zumindest Teile des Antrags sind – das werden halten. nicht einmal Sie von der Hand weisen können – de facto beschlossen, etwa die Verlängerung der Optionsphase Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Überhaupt und damit im Übrigen auch die Verlängerung der Psych- keine Frage: Wir müssen am Versorgungssystem weiter PV. Beide Punkte sind in Ihrem Antrag angesprochen, arbeiten. Wir müssen das auch im Hinblick auf die Frage wenn mich nicht alles täuscht. der Gemeindepsychiatrie und andere Aspekte tun. Das 5316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dirk Heidenblut (A) allerdings allein an PEPP aufzuziehen, ist nicht der rich- nigte man sich nach schwierigen Verhandlungen auf die (C) tige Weg. Um es deutlich zu sagen: Wenn wir, die SPD, Erhöhung der Löhne. Nun steht die Übertragung der dort hier vorangehen, dann tun wir das nicht etwa gegen das erzielten Tarifergebnisse für den öffentlichen Dienst un- Gewissen, sondern mit dem Wissen, Frau Klein- ter anderem auf die Bundesbeamtinnen und Bundesbe- Schmeink, dass wir bereits die richtigen Schritte gegan- amten, Polizistinnen und Polizisten sowie Soldatinnen gen sind und dass wir ein System vorlegen werden, das und Soldaten an. am Ende allen Beteiligten helfen wird. Besonders freut es mich, dass die Regierungskoalition Vielen Dank. einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der die Zustimmung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aller hier im Haus vertretenen Fraktionen gefunden hat. der CDU/CSU) Trotz meist kollegialer Harmonie und immer fröhlicher Sitzungsleitung unseres Vorsitzenden im Innenausschuss – das darf man hier ja auch einmal sagen – kommt es auch Vizepräsidentin Petra Pau: bei uns im Ausschuss nicht so oft vor, dass wir etwas Ich schließe die Aussprache. einstimmig beschließen. Bei der Besoldung unserer Be- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- amten, Richter, Polizisten und Soldaten sowie den Bezü- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion gen der Versorgungsempfänger sind wir uns aber einig, Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das psychiatri- und das ist auch gut so. sche Entgeltsystem überarbeiten und das Versorgungs- system qualitativ weiterentwickeln“. Der Ausschuss Einig sind wir uns in dem Punkt, dass die getroffenen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Tarifvereinbarungen für die Bediensteten des öffentli- che 18/1713, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die chen Dienstes schnell und auch inhaltsgleich unseren be- Grünen auf Drucksache 18/849 abzulehnen. Wer stimmt amteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugutekom- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – men müssen – und das aus gutem Grund. Aus Artikel 33 Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Absatz 5 des Grundgesetzes ergibt sich das Alimenta- Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion tionsprinzip als einer der hergebrachten Grundsätze des gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Berufsbeamtentums. Es verpflichtet den Dienstherrn, und der Fraktion Die Linke angenommen. Beamten während des aktiven Dienstes und im Ruhe- stand einen angemessenen Lebensunterhalt zu zahlen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Aus § 14 Bundesbesoldungsgesetz und aus § 70 Bundes- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- versorgungsgesetz ergibt sich für den Gesetzgeber die regierung eingebrachten Entwurfs eines Bundes- Verpflichtung, die Bezüge der Beamten, Soldaten und (B) besoldungs- und -versorgungsanpassungsge- Richter des Bundes sowie der Versorgungsempfänger re- (D) setzes 2014/2015 (BBVAnpG 2014/2015) gelmäßig an die allgemeinen wirtschaftlichen und finan- ziellen Verhältnisse anzupassen, und das tun wir heute. Drucksachen 18/1797, 18/2136 Der hier vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- rung zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpas- schusses (4. Ausschuss) sungsgesetz 2014/2015, den wir heute in zweiter und Drucksache 18/2639 dritter Lesung und damit abschließend beraten, sichert allen Statusgruppen des öffentlichen Dienstes des Bun- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) des eine gleichgerichtete Bezügeentwicklung zu. Das ist gemäß § 96 der Geschäftsordnung sowohl ein in die Zukunft gerichtetes Zeichen als auch Drucksache 18/2641 ein klares Signal unserer gelebten Verantwortung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ( [CDU/CSU]: Sehr rich- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- tig!) nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Mit der zeit- und inhaltsgleichen Umsetzung des Ta- Wir warten noch einen Moment, bis die notwendigen rifabschlusses zeigen wir, dass wir um den Wert der Ar- Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen sind. – beit wissen, die unsere Bundesbeamten tagtäglich ver- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege richten. Die Beamtinnen und Beamten leisten einen Oswin Veith für die CDU/CSU-Fraktion. elementaren Beitrag zum Gemeinwohl und zum Erfolgs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kurs unseres Landes, indem sie ein breites Spektrum an neten der SPD) öffentlichen Dienstleistungen abdecken. Ja, sie managen tagtäglich in unserem Auftrag sehr erfolgreich unser Oswin Veith (CDU/CSU): Land. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine Dass dies geschätzt wird, muss auch zum Ausdruck sehr verehrten Damen und Herren! Dass wir heute einen gebracht werden. Unsere Beamten sorgen nicht nur für Gesetzesvorschlag zur Verbesserung der Beamtenbesol- einen reibungslosen Ablauf in der Verwaltung, vollzie- dung debattieren, begrüße ich sehr. hen unsere Gesetze, sprechen Recht, verteidigen unser Anfang des Jahres fanden die Tarifverhandlungen für aller Freiheit nicht nur am Hindukusch, sondern bewah- die Beschäftigten im öffentlichen Dienst statt. Dort ei- ren auch unser Hab und Gut sowie unsere Sicherheit und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5317

Oswin Veith (A) Ordnung jeden Tag aufs Neue, und zwar im In- und Aus- Der Bund als Dienstherr von rund einer halben Million (C) land. Ohne diesen Einsatz wäre vieles nicht möglich. Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf Bundesebene be- rücksichtigt bereits jetzt diese Herausforderungen. Der öf- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie fentliche Dienst in Deutschland ist in zweifacher Hin- der Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE sicht vom demografischen Wandel betroffen. Zum einen GRÜNEN]) sind der immer stärker umkämpfte Arbeitsmarkt und die Gewinnung geeigneten Nachwuchses für die unter- Trotz vieler Reformen, Neuorganisationen, Aufgabener- schiedlichsten Aufgaben der Verwaltung zu nennen. weiterungen, Stellenkürzungen und Überstunden, die die Zum anderen muss der öffentliche Dienst aber auch den Polizei, die Soldaten und die Beamten in den letzten Jah- älter werdenden Beschäftigten gerecht werden. Eine de- ren durchmachen mussten, haben sie unter vollen Segeln mografiegerechte Personalpolitik ist daher für alle Ebe- mit oftmals wackeliger Takelage Kurs gehalten, unserem nen der Verwaltung von stets wachsender Bedeutung. Land treu und loyal gedient und so uns alle nach vorn Das schließt – trotz aller haushaltspolitisch gebotenen gebracht. Dafür gebühren Dank und Anerkennung. Sparmaßnahmen – eine aufgabengerechte Personalaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie stattung bei Verwaltung, Polizei, Justiz und auch Bun- der Abg. Frank Tempel [DIE LINKE] und deswehr ein. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mit der kontinuierlichen Übertragung der Tarifer- Wir alle sollten uns deshalb so gut funktionierender gebnisse setzen wir ein richtiges Signal für die Bundes- Behörden und Dienststellen in unserem Land glücklich beamten und auch die zukünftigen Arbeitskräfte. Wir schätzen. Das ist ein unschätzbarer Standortvorteil für zeigen, dass die Teilhabe unserer Beamten am wirt- Deutschland, was wir im Vergleich mit unseren EU- schaftlichen Erfolg unseres Landes einen wichtigen Stel- Nachbarn und vor allem angesichts bei uns bewältigter lenwert hat. Krisen auch immer wieder merken. Eine gute Ausbildung und verlässliche Arbeitsbedin- In Zahlen ausgedrückt ist der Gesetzesinhalt – wie gungen bei ansprechender Absicherung sind die Stärken schon in den Jahren zuvor – die lineare Anhebung der des öffentlichen Dienstes. Nur durch den Ausbau dieser Dienst- und Versorgungsbezüge in zwei Schritten: in ei- Stärken können wir mit der Privatwirtschaft in Konkur- nem ersten Schritt, rückwirkend zum 1. März 2014, um renz treten und qualifizierte, motivierte Arbeitnehmer 2,8 Prozent und im zweiten Schritt zum 1. März 2015 für den öffentlichen Dienst begeistern und dem Fach- um 2,2 Prozent. Für die Grundgehälter gilt eine Erhö- kräftemangel entgegentreten. hung um mindestens 90 Euro. (B) Schon in der vorangegangenen Wahlperiode haben wir (D) Bei den Anwärtergrundbeträgen gehen wir ebenfalls daher entsprechende Anreize und klare Akzente gesetzt. in zwei Schritten vor und erhöhen diese in einem ersten Seit 2012 wird die Sonderzahlung – auch als Weih- Schritt um 40 Euro, rückwirkend zum 1. März 2014, und nachtsgeld bekannt – wieder gewährt. Mit dem Fach- in einem zweiten Schritt zum 1. März nächsten Jahres kräftegewinnungsgesetz haben wir eine Reihe von posi- um weitere 20 Euro. tiven Maßnahmen auf den Weg gebracht, wie zum Beispiel den Personalgewinnungszuschlag, die Anerken- Bereits in der letzten Wahlperiode wurde der Tarifab- nung von Erfahrungszeiten, von Wehrdienst- und Frei- schluss entsprechend auf die Beamtenbesoldung übertra- willigendienstzeiten, von Kinderbetreuungs- und Pflege- gen. Wir gehen diesen Weg nun weiter und setzen damit zeiten oder die Einführung einer Verpflichtungsprämie ein klares Signal für die Attraktivität und Zukunftsfähig- für polizeiliche Auslandsverwendungen. Wir haben den keit unseres öffentlichen Dienstes und damit auch unse- Eintritt in den Ruhestand flexibler gestaltet, gleiche res Staates. Rechte für Lebenspartnerschaften und die Familienpfle- gezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir haben die Vergü- Mit dem heute zur Debatte stehenden Gesetz kommen tungen von Professoren verbessert, das Leistungsprinzip wir unserer Verantwortung nach und erfüllen mit der gestärkt und die Portabilität von Versorgungsanwart- Übertragung der Tarifergebnisse – neben einer Anpas- schaften geschaffen. sung der Besoldung an die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart – noch eine weitere Funktion: Wir begeg- Alles das waren in nur vier Jahren beachtliche Ver- nen den Auswirkungen des Demografiewandels, der besserungen für den öffentlichen Dienst insgesamt, die dem öffentlichen Dienst in Zukunft erhebliche Probleme – an dieser Stelle zu erwähnen – auch noch einmal deut- bereiten wird, wenn wir nicht gegensteuern. lich das Engagement der Bundesregierung hervorheben. Auf dieser großartigen Erfolgsbilanz baut die heutige Der Wettbewerb um die besten Köpfe in unserem Übernahme der Tarifergebnisse auf und setzt sie fort. Land ist längst in vollem Gange, und dieser ist ange- sichts einer sich stetig verändernden Altersstruktur und Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie- einer zurückgehenden Zahl an Kindern eine der größten rung senden wir auch ein klares Signal an die Bundeslän- Herausforderungen für unseren öffentlichen Dienst. Es der. Die inhaltsgleiche Übertragung der Tarifergebnisse ist ein offenes Geheimnis, dass eine Abwanderung der wird auf Länderebene immer noch von Bundesland zu Fachkräfte in die Privatwirtschaft droht. Dies ist kein Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Auch die Län- fernes Zukunftsszenario, sondern bereits jetzt spürbar. der werden den Fachkräftemangel zu spüren bekommen, Das wird mir auch von allen Seiten berichtet. wenn sie nicht gleichzeitig handeln. Ich kann nur alle 5318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Oswin Veith (A) Landesregierungen von hier aus dazu aufrufen, die hat schon eine gewisse Tradition. In den Ländern gibt es (C) Chance zum Handeln nicht zu verpassen. manchmal etwas mehr Diskussionsbedarf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der Deutsche Beamtenbund wertet die zügige Umset- neten der SPD) zung des Gesetzes dementsprechend als Zeichen der Wertschätzung des Dienstherren für seine Beamtinnen Dem Bund kommt in dieser Hinsicht eine Vorbildfunk- und Beamten und erkennt hier ein wichtiges Signal. tion zu, welche wir aus meiner Sicht voll und ganz erfül- Wenn ich die Ausführungen des Kollegen Veith richtig len. Das zeigt nicht zuletzt der heute vorliegende Gesetz- verstanden habe, dann sieht er darin auch ein Signal, ein entwurf. Signal, sich hier einmal richtig für die Arbeit feiern zu Die nunmehr im Gesetzentwurf vorgesehenen Verbes- lassen. Mir sind die Ergebnisse der Arbeit aber, ehrlich serungen bei der Besoldung sind allesamt sehr gute Vor- gesagt, etwas zu dünn, um eine Feierstimmung aufkom- schläge, weshalb ich keine Änderungen am Gesetzent- men zu lassen. wurf beabsichtige, der unser aller Unterstützung (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Irene verdient. Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zu- ruf von der CDU/CSU) Herzlichen Dank. – Sie konnten jetzt nicht erwarten, dass ich Sie fünf Mi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nuten lobe. So weit wollen wir heute nicht gehen.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall der Abg. [DIE LINKE]) Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Frank Tempel das Wort. Es ist bekannt, dass sich die Linke immer wieder kri- tisch mit einigen Aufgabenfeldern der Beamten ausei- (Beifall bei der LINKEN) nandersetzt, etwa bei der Bundeswehr, bei der Polizei, beim Zoll usw., wo es ja Beamte gibt. Das heißt, dass wir Frank Tempel (DIE LINKE): die Bundeswehr nicht unbedingt als Friedensbringer in Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr Afghanistan sehen. Sie kennen auch unser Streitthema geehrte Damen und Herren! „Mehr Geld für Beamte“ ist „Polizei und Bürgerrechte“; da geht es zum Beispiel um die häufig vereinfachte Aussage dessen, was wir heute die Vorratsdatenspeicherung, die Kennzeichnungs- hier beschließen wollen. Es geht, wie gesagt, um eine pflicht für Polizeibeamte und die Forderung nach einem Entgelterhöhung um 3 Prozent, mindestens aber 90 Euro, unabhängigen Polizeibeauftragten. Darüber streiten wir (B) rückwirkend zum 1. März dieses Jahres, und eine wei- miteinander. Aber bei all diesen Diskussionen ist für die (D) tere Erhöhung um 2,4 Prozent zum 1. März 2015. Linke immer eines klar: Menschen, die ihren Dienst im Staatsauftrag versehen, haben das Recht und den An- Wie der Kollege Veith richtig gesagt hat, soll die Be- spruch auf ein ordentliches finanzielles Auskommen, soldungs- und Versorgungsanpassung dazu führen, dass die Dienst- und Versorgungsbezüge im Bund an die Ent- (Beifall bei der LINKEN) wicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finan- auf zumutbare Arbeitsbedingungen und auf eine ange- ziellen Lage angepasst werden. Das ist also ein ganz nor- messene Ausstattung im Dienst, um ihre Arbeit tatsäch- maler Vorgang. Tarifbeschäftigte haben ihren Tarifstreit, lich ausführen zu können. Beamte haben das nicht. Dementsprechend verlassen sich Beamtinnen und Beamte natürlich darauf, dass die (Beifall bei der LINKEN) zuständigen Parlamente rechtzeitig die entsprechenden Wenn man die Arbeit dieser Menschen wirklich wert- Gesetze erlassen. Für Bundesbeamte sind wir hier zu- schätzen will, dann kann man ihnen nicht immer wieder ständig. neue Aufgaben übertragen, ohne das bisherige Aufga- Grundlage für die Erhöhung ist der Tarifbeschluss für benfeld einer gründlichen Analyse unterzogen zu haben. die Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes des Als ehemaliger Polizeibeamter möchte ich das ein Bundes vom 1. April dieses Jahres, welcher zeitnah und wenig am Beispiel der Bundespolizei verdeutlichen. In inhaltsgleich übernommen werden soll. Bei der Gele- Pressemeldungen vom 24. August dieses Jahres – das ist genheit möchte ich alle, die gerade zuhören, auf etwas also relativ aktuell – wurde ausgeführt, dass die Bundes- hinweisen: Auch dieses Mal ist die Erhöhung um polizei nach derzeitigem Stand rechnerisch zahlungsun- 0,2 Prozent gemindert worden. Diese 0,2 Prozent wer- fähig sei. Das muss man sich einmal genau anhören. Der den einer Versorgungsrücklage zugeführt. Das heißt, bei Innenausschuss hat sich bis heute nicht damit beschäf- jeder Umsetzung eines Tarifergebnisses leisten Beamte tigt, genauer gesagt, eine Information der Bundesregie- einen Beitrag zur Finanzierung ihrer Altersversorgung. rung an den Innenausschuss hat es bis heute zu solch ei- Das muss der Fairness halber einmal erwähnt werden; ner Meldung nicht gegeben. Das wurde immer wieder denn viele wissen das nicht. hinausgeschoben. Ist das Wertschätzung der Beschäftig- ten? Dass das Tarifergebnis ansonsten zeitnah und inhalts- gleich übernommen wird, betrachte ich eigentlich als Bundespolizisten und ihre Personalvertreter berichten Selbstverständlichkeit. Ich begrüße es ausdrücklich, dass uns immer wieder von unhaltbaren baulichen Zuständen es der Bund und die Bundesregierung auch so sehen; das in den Dienststellen, von defekten Sanitäranlagen, von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5319

Frank Tempel (A) verschimmelten Räumen. Allerdings stecken Neubau war das Motto, das wir hier im Sommer für das Renten- (C) und Sanierung sehr häufig im Investitionsstau fest, auf paket gefunden hatten. Das Rentenpaket ist seit 1. Juli welcher Autobahn auch immer. Meinen Sie das viel- 2014 in Kraft, und es erfreut sich großer Beliebtheit. leicht mit Wertschätzung? Dieses Motto könnte auch als Leitmotiv für das heutige Gesetz dienen, das Bundesbesoldungs- und -versor- Ich habe noch ein Beispiel. Bundesbeamte haben ih- gungsanpassungsgesetz. ren Dienst eigentlich mit dem Laufbahnprinzip begon- nen. Jahr für Jahr reden wir aber über einen Beförde- Wir werten und würdigen mit dem heutigen Gesetz rungsstau. die Leistungen des öffentlichen Dienstes in Deutschland. Der öffentliche Dienst ist organisatorisch zweigeteilt. ( [Weil am Rhein] [CDU/ Wir haben auf der einen Seite die Beamten und auf der CSU]: Aber nicht bei der Polizei! Beim anderen Seite die Tarifbeschäftigten. Die Tarifbeschäf- Bund!) tigten waren früher noch einmal untergliedert in Arbeiter So ist es normal, dass zum Beispiel Bundesbeamte im und Angestellte. Diese Gruppen sind inzwischen zusam- mittleren Dienst trotz guter Beurteilung häufig nicht da- mengefasst. Wesentlich bei den privatrechtlichen Ar- rauf vertrauen können, das Endamt ihrer Laufbahn über- beitsverhältnissen ist, dass Arbeitgeber und Arbeitneh- haupt zu erreichen. Beförderungsstau ist nach wie vor mer die Gehälter selbst aushandeln und in Tarifverträgen ein aktuelles Thema, auch beim Bund. Reden Sie einfach festschreiben können. einmal mit den Vertretern der Bundespolizeigewerk- Im öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhält- schaft, nis der Beamten gibt es das nicht. Deswegen braucht es (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Machen wir ein Gesetz, um die Besoldung und die Versorgung fest- ja!) zusetzen. Es ist sehr gute Übung, dass der Bundesinnen- minister versucht, das Ergebnis der Tarifverhandlungen dann wird man Ihnen das bestätigen. des öffentlichen Dienstes zeit- und inhaltsgleich zu über- Meine Damen und Herren, wenn ich Menschen und nehmen und auf die Beamtinnen und Beamten zu über- ihre Arbeit wertschätzen will, dann würde ich das nicht tragen. In der Vergangenheit ist das in einigen Fällen gerade dadurch zeigen wollen, dass sie mit immer weni- nicht gelungen, damals jeweils aus guten Gründen. Aber ger Ressourcen noch mehr Aufgaben übernehmen. Ich dieses Mal ist es wieder gelungen, dass die Vorlage dies bleibe auch gleich bei der Bundespolizei, weil Sie dies- vorsieht. Dafür herzlichen Dank! bezüglich wohl Zweifel haben. Die Lücke, die der Stel- (Beifall bei der SPD) lenabbau gerissen hat, wird von den Personalvertretern (B) mittlerweile auf 800 Stellen beziffert. Diese Lücke ist Im Ergebnis können also die Bundesbeamtinnen und (D) nicht geschlossen worden, im Gegenteil: Jetzt soll zum -beamten eine Erhöhung ihrer Bezüge um 2,8 Prozent Beispiel die Bundespolizei auch noch die Bewachung ab 1. März 2014 erwarten. Diejenigen in den unteren der Bundesbank übernehmen. Allein dafür werden wei- Einkommensklassen können mindestens 90 Euro pro tere 200 Stellen benötigt. So geht das seit Jahren, und Monat mehr erwarten. Im Gesetzentwurf ist ein Beispiel das ist alles andere als eine Wertschätzung der Arbeit der angeführt: Ein Beamter in der Besoldungsgruppe A 3 Bediensteten. Sie sind bereits lange an der Leistungs- bekommt demnach dann 4,5 Prozent mehr. Ich finde, es grenze angekommen. Der Gipfel der Peinlichkeit war, ist ein besonders gutes Ergebnis, dass man auch an die dass zu Beginn dieses Jahres Beamte, die in den Ruhe- kleinen Leute gedacht hat. stand gehen wollten, in einem Schreiben überredet wer- den sollten, noch einige Monate an den Dienst dranzu- Im kommenden Jahr werden alle Beamtinnen und Be- hängen, um Personalfehlbestände auszugleichen. amten ab 1. März nochmals 2,2 Prozent mehr bekom- men. Kollege Tempel sprach eben davon, dass sie 3 Pro- Bei all diesen Fragen wird die Linke der Bundesregie- zent bzw. 2,4 Prozent mehr bekommen. Das ist zwar rung und der Regierungskoalition weiter kräftig auf die richtig, aber zur Wahrheit gehört – er hat es selbst auch Füße treten, an der Seite der Beschäftigten stehen. Das gesagt –, dass wir diese Erhöhungsbeträge um 0,2 Pro- ist unsere Variante der Wertschätzung. zentpunkte reduziert haben, um die Versorgungsrücklage zu stärken. Auch dies sollte hier im Haus erwähnt wer- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Irene den. Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Anwärterbezüge – das sind die Gehälter für die Vizepräsidentin Petra Pau: Nachwuchsbeamten – steigen zum 1. März 2014 um Der Kollege Matthias Schmidt hat für die SPD-Frak- 40 Euro und ein Jahr später um weitere 20 Euro. Auch tion das Wort. dies empfinden wir als gutes Signal in Bezug auf die Nachwuchsgewinnung, insbesondere vor dem Hinter- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Clemens grund des demografischen Wandels. Binninger [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU]) Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Von diesem Gesetzentwurf, den wir heute beschließen Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen wollen, werden insgesamt knapp 500 000 aktive Beamte und Kollegen! Nicht geschenkt, sondern verdient, das und gut 600 000 Versorgungsempfänger, landläufig als 5320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Matthias Schmidt (Berlin) (A) Pensionäre bezeichnet, profitieren. Dass man von akti- diese Sicherheit begrenzen. Leiharbeit und Befristungen (C) ven Beamten spricht, dass man allein schon diese Unter- gehören zu den prägnanten Varianten, die inzwischen scheidung treffen muss und sie aktive Beamte nennt auch in der Personalpolitik der öffentlichen Verwaltung – dabei geht es doch nur um diejenigen, die arbeiten –, Anwendung finden. Wir sind uns hoffentlich in diesem insinuiert, es gäbe auch inaktive Beamte. Jeder von uns Hause einig: Der öffentliche Dienst muss mit guter Ar- kennt auch böse Sprüche über die Beamten. Die sind im beit seine Attraktivität bewahren. Das gilt besonders vor Großen und Ganzen aber nicht gerechtfertigt. Schon dem Hintergrund der demografischen Entwicklung. Kurt Tucholsky hat vor vielen Jahren von dem Schicksal Zur Attraktivität zählt auch eine gute Bezahlung. Da der Deutschen geschrieben, die vor einem Schalter ste- ist es nur folgerichtig, dass die Ergebnisse der Tarifver- hen müssen, während das eigentliche Ideal bei der Be- handlungen auf die Bundesbeamtinnen und Bundesbe- rufswahl jedoch darin bestanden hätte, hinter diesem amten zeit- und inhaltsgleich übertragen werden. Lassen Schalter zu sitzen. Solche oder ähnlich ironische Kom- Sie mich ausdrücklich sagen: Es ist nicht geschenkt, son- mentare gibt es viele. Wir kennen sie alle auch aus der dern verdient. Praxis. Aber wir wissen: Der Spott war schon damals falsch, und er ist es heute erst recht; denn ohne unsere (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beamtinnen und Beamten liefe an vielen Stellen in unse- der CDU/CSU und des Abg. Frank Tempel rer Demokratie sehr wenig. Der öffentliche Dienst ist [DIE LINKE]) eine wesentliche Säule unserer Demokratie. Was Beamtinnen und Beamte leisten, habe ich Ihnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gerade in Auszügen geschildert. Sie haben Anspruch auf der CDU/CSU) Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesell- schaft. Der vorliegende Gesetzentwurf zollt diesem An- Er steht jeden Tag Millionen von Menschen zur Ver- spruch Rechnung. fügung. In Behörden beraten seine Angehörigen Bürge- rinnen und Bürger und bearbeiten wahre Fluten von Ak- Wenn es auch für die betroffenen Beamtinnen und ten. In Schulen leisten sie echte Zukunftsarbeit an den Beamten quasi eine Selbstverständlichkeit ist, dass das Kleinsten, und in den Gerichten bringen sie das zur An- Tarifergebnis eins zu eins übertragen wird, so ist es dies aus Sicht von Bundestag und Bundesregierung eben wendung, was vorher durch den Gesetzgeber, also durch nicht. Darum danke ich sehr dem Herrn Bundesinnen- uns, entschieden wurde. Es sind die Beamtinnen und Be- minister, dass er in Zusammenarbeit mit dem Finanz- amten, die sich für uns als Polizistinnen und Polizisten in minister diese Gesetzesvorlage ermöglicht hat. Wie ge- jeder Stadt und Kommune im Einsatz befinden. Liebe sagt: Es ist verdient und nicht geschenkt. Gleichwohl Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen alle, dass dies oft kostet dieses Gesetz den Bundeshaushalt in den kom- (B) mit Risiken einhergeht. Viele Fußballspiele und Demon- menden drei Jahren über 2,5 Milliarden Euro – gut ange- (D) strationen laufen nicht ohne physische und psychische legtes Geld, wie ich finde. Blessuren für die Dienerinnen und Diener des Staates ab. Außerhalb unserer Grenzen – die Kollegen haben schon Da dieses Gesetz nicht nur die sogenannten aktiven darauf hingewiesen – sind es Soldatinnen und Soldaten, Beamten, sondern auch die Versorgungsempfänger be- die in gefährlicher, oft lebensgefährlicher Mission für trifft, möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch ein ande- uns ihren Einsatz leisten. res Thema anzusprechen. Es gibt nämlich längst Diskus- sionen, auch andere Beschlüsse aus dem eingangs Im Alltag gibt es aber noch viel mehr. Auch hier im erwähnten Rentenpaket auf Beamtinnen und Beamte zu Saal werden wir immer wieder von Beamtinnen und Be- übertragen: die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitrags- amten unterstützt. Es geht hinter den Reihen der Bundes- jahren und die Mütterrente. regierung los. Dort sitzen die Beamtinnen und Beamte aus den Ministerien, die die Bundesregierung unterstüt- Herr Staatssekretär, ich kenne die Meinung Ihres zen. Um das Rednerpult sitzen viele, die uns unterstüt- Hauses zu dieser Thematik, und ich respektiere diese zen. Es sind die Saaldiener, die zu uns kommen, wenn auch sehr. Gleichwohl wird hier zu Recht der Gerechtig- wir eine kleine Hilfe brauchen. Das sind immer wieder keitsaspekt zwischen Beschäftigten der Privatwirtschaft gute Beispiele. Die Beamtinnen und Beamten repräsen- und der öffentlichen Hand aufgeworfen. Was wollte man tieren in vielfacher Weise unseren Staat und leisten über- auch moralisch gegen diese Bewertung sagen? Uns ist aber bewusst: Eine Entscheidung ist hier nicht so ein- aus viel für unsere Gesellschaft. Das verdient Respekt fach. Es gibt systemische Unterschiede, eine wirkungs- und Anerkennung. gleiche Übertragung ist kompliziert, und viele Aspekte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie müssen Berücksichtigung finden. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ich habe Verständnis für die Argumente des Ministe- GRÜNEN) riums und verstehe das Anliegen, dieses erst einmal in- Nun mag manch ein Zuhörer sagen: Die öffentliche tensiv prüfen zu wollen. Dennoch, liebe Kolleginnen Hand ist ja auch ein guter und attraktiver Arbeitgeber. – und Kollegen, sollten wir uns in diesem Haus auch die- Das stimmt auch. Noch immer profitiert der öffentliche ser Frage widmen, sowohl in den Fraktionen als auch in Dienst davon, dass die Menschen mit ihm einen planba- der Zusammenarbeit mit der Regierung. Ich freue mich ren beruflichen Werdegang und eine sichere berufliche auf die Diskussion mit Ihnen. Existenz verbinden, und das auch zu Recht. Allerdings Vielen herzlichen Dank. darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier längst Erscheinungsformen Einzug gehalten haben, die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5321

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: von anderen Dingen verwendet wird, nun für die Ent- (C) Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Frak- wicklung von Panzern verwendet wird, wofür Milliarden tion Bündnis 90/Die Grünen. an Steuergeldern ausgegeben werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich selbst bin keine Juristin, aber dass es bei solchen Verträgen ein paar wesentliche Unterschiede Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gibt, das leuchtet selbst mir ein. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Natürlich ist die Übernahme des Tarifabschlusses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zu begrüßen. Das haben wir alle in der ersten Lesung Matthias Schmidt [Berlin] [SPD]: Aber das einhellig getan. Es ist völlig richtig, dass die Beamtinnen liegt doch nicht am Gehalt!) und Beamten im öffentlichen Dienst eine wertvolle und anspruchsvolle Arbeit für die Allgemeinheit leisten, die Ministerin von der Leyen selbst hat nun vor, sich die- selbstverständlich unser aller Wertschätzung verdient. sem Missstand zu widmen und Spitzenpersonal offensiv anzuwerben und besser zu bezahlen. Wenn das tatsäch- Aber es stellt sich natürlich die Frage: Reicht das lich gelingt, kann ich der Ministerin nur gratulieren, denn eigentlich aus? Ich meine, dass die Wertschätzung denn ich muss sagen: Lieber Geld in kluge Köpfe ste- anspruchsvoller Arbeit nicht nur eine finanzielle Frage cken als in überteuerte Projekte. ist. Wenn Sie von der Koalition sich jetzt dafür feiern, dass die Bezüge um 2,8 Prozent bzw. in einem weiteren (Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ Schritt um 2,2 Prozent steigen, dann zeigt das eigentlich DIE GRÜNEN]) nur, dass Sie keine Ideen haben, mit den personellen He- Herr Veit, Sie haben die Koppelung der beamten- rausforderungen im öffentlichen Dienst umzugehen. rechtlichen Besoldung an die wirtschaftliche Entwick- (Oswin Veith [CDU/CSU]: Das ist doch lung angesprochen, also das Alimentationsprinzip. Da- Quatsch!) bei haben Sie herausgestellt, dass das der Erfüllung der Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschäftigten dient, Herr Schmidt, mit mehr Geld allein ist es eben nicht letztlich aber auch der Allgemeinheit. Dabei geht es aber getan. Sie haben vorhin angesprochen, dass der Staat für auch um die Aufrechterhaltung einer fachlich leistungs- viele Menschen vom Prinzip her ein attraktiver Arbeit- fähigen Verwaltung. Bestens ausgebildete und damit geber ist, vor allem ein attraktiver Arbeitgeber für gutes hochqualifizierte Mitarbeiter dürfen natürlich auch eine Personal. Aber ich bin mir sicher, dass das in der Form, angemessene Bezahlung erwarten. Das ist Ausdruck des wie Sie das geschildert haben, nicht mehr zutrifft. Denn Respekts und der Wertschätzung. Gute Bezahlung ist ja wir müssen schlicht anerkennen, dass sich der Staat in auch im Leistungsprinzip angelegt. einem ziemlichen Konkurrenzkampf mit der Wirtschaft (B) Es gibt aber ein Problem: dass der Staat auch bei den (D) um die besten Köpfe befindet, Gehältern nicht mit der Privatwirtschaft konkurrieren (Oswin Veith [CDU/CSU]: Das wissen wir!) kann. Mit ein wenig Innovation und Fantasie könnte man die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst aber und dass der Staat diesen Konkurrenzkampf häufig nicht deutlich attraktiver und nachhaltiger gestalten. Ich nenne für sich entscheiden kann, das bleibt nun einmal nicht als Stichwort – das ist vorhin schon angesprochen wor- ohne Folgen. den – die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit Lassen Sie mich als Beispiel die Missstände bei der meine ich jetzt nicht nur die Betreuung von Kindern, Bundeswehr nennen, über die wir gestern in der Aktuel- sondern auch die von pflegebedürftigen Angehörigen. Wir brauchen auch eine echte Willkommenskultur ge- len Stunde sehr lange diskutiert haben. Dort haben wir genüber Migrantinnen und Migranten. Reformvor- auch erfahren, dass die betreffenden Projekte einen Um- schläge und Konzepte, wie der öffentliche Dienst tat- fang von 56 Milliarden Euro haben. Der Expertenbericht sächlich attraktiver gestaltet werden kann, vermisse ich des Bundesverteidigungsministeriums macht deutlich, aufseiten der Bundesregierung. Im Gegenteil: Es steht zu dass die erheblichen Verzögerungen dieser Projekte um befürchten, dass Sie die Besten sogar noch ziehen las- viele Jahre mit einer deutlichen Kostensteigerung ver- sen; denn viele der Absolventinnen und Absolventen, bunden sind. Im Expertenbericht wird auch ein Grund die im öffentlichen Dienst eine Ausbildung gemacht ha- dafür genannt, nämlich dass die Juristinnen und Juristen ben, wechseln in die freie Wirtschaft. des Ministeriums, die diese Verträge aushandeln, teil- weise nicht mit den hochdotierten Spitzenkolleginnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und -kollegen der Industrie mithalten können. Mit ande- ren Worten: Sie laufen Gefahr, bei solchen entscheiden- All diese Dinge, denen es an Attraktivität mangelt, den Vertragsverhandlungen schlicht über den Tisch ge- sind in der Bundesregierung hinreichend bekannt. Es werden dann schnell Programme und Eckpunktepapiere zogen zu werden. erstellt. Bei der Umsetzung in die Praxis scheint es aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu hapern. Deswegen mein ganz dringender Appell: Wir müssen im öffentlichen Dienst vom Programm zum Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel aus diesem Be- Prinzip kommen. Ich kann nur hoffen, dass die Ver- reich nennen: das milliardenschwere Projekt des Schüt- schwendung und die Skandale im Verteidigungsministe- zenpanzers Puma. Die Mitarbeiter im Ministerium sollen rium ein warnendes Beispiel dafür sind, dass das Sparen da einen einfachen Mustervertrag aus dem Intranet ver- am Personal uns alle am Ende teuer zu stehen kommt. wendet haben. Es kann doch nicht sein, dass ein Vertrag, der vielleicht für die Beschaffung von Büromaterial oder Vielen Dank. 5322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Irene Mihalic (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Frauen und Männer im öffentlichen Dienst sind (C) eine tragende Säule unseres sozialen Rechtsstaats. Sie Vizepräsidentin Petra Pau: sorgen sich unter anderem um unsere Sicherheit, die Ge- Die Kollegin Andrea Lindholz hat für die CDU/CSU- rechtigkeit, den fließenden Verkehr, sichere Lebensmit- Fraktion das Wort. tel, den Denkmalschutz, Forschung und Lehre, um eine gute Gesundheitsversorgung, und nicht zuletzt schützen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der sie auch uns Bürgerinnen und Bürger und die Umwelt, SPD) um nur einige Beispiele zu nennen. Fest steht: Ohne den öffentlichen Dienst ist kein Staat zu machen. Andrea Lindholz (CDU/CSU): (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht heute – – Der vorliegende Gesetzentwurf macht deutlich, dass der öffentliche Dienst eine vielfältige, aber in sich ge- Vizepräsidentin Petra Pau: schlossene Einheit ist. Die Ergebnisse des Tarifvertrages Kollegin Lindholz, darf ich Sie kurz unterbrechen? vom 1. April 2014 sollen auch auf Beamtinnen und Be- Ich habe die Uhr angehalten. Das wird nicht auf Ihre Re- amte, Richterinnen und Richter, Soldaten und Versor- dezeit angerechnet. gungsempfänger des Bundes übertragen werden. Rück- wirkend ab dem 1. März 2014 sollen die Bezüge der Ich bitte diejenigen, die auf der Regierungsbank ihrer Bundesbediensteten um effektiv 2,8 Prozent steigen und verantwortungsvollen Tätigkeit nachgehen, das so zu ab dem 1. März 2015 um weitere 2,2 Prozent. Damit tun, dass die Kolleginnen und Kollegen, die im Plenum auch niedrige Einkommen spürbar profitieren, ist eine sitzen und den Ausführungen der Rednerin folgen wol- Mindeststeigerung von 90 Euro vorgesehen. Mit dem len, dies auch können. Mir ist glaubhaft übermittelt wor- Abschlag von 0,2 Prozent leisten die Beamten und Be- den, dass alle Ihrer Gesprächsinhalte unter Umgehung amtinnen ihren Beitrag zur nachhaltigen Rücklage der jeglichen Datenschutzes gut im Saal zu verstehen sind. Altersvorsorge. Auch dafür ist ausdrücklich zu danken. Ich glaube, das ist nicht im Sinne der Sache. Durch den Abschlag wird die Rücklage 2014 und 2015 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit rund 105 Millionen Euro zusätzlich gespeist. Ich finde auch, dass wir es den Stenografinnen und Ste- Die Kosten für die Anpassung belaufen sich im Jahr nografen nicht zumuten sollten, Ihre Gespräche jetzt 2014 auf 542 Millionen Euro. Für 2015 sind auch noch im Protokoll unserer Sitzung zu veröffentli- 1,05 Milliarden Euro und ab dem Haushaltsjahr 2016 chen. rund 1,13 Milliarden Euro angesetzt. Der Bund lässt (B) sich seine Bediensteten etwas kosten, und das ist absolut (D) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wenn es be- richtig. Dafür stehen auch CDU und CSU. Denn eine reichert! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Ist leistungsfähige Verwaltung ist keine Selbstverständlich- vielleicht interessant, dann erfahren wir etwas keit. Auch der Bund steht zunehmend im Wettbewerb Neues!) um qualifiziertes Personal. Der Staat kann nicht mit den Kollegin Lindholz, Sie haben das Wort. Gehaltsstrukturen der freien Wirtschaft konkurrieren. Trotzdem muss er als Arbeitgeber insbesondere für hochqualifizierte Fachkräfte attraktiv bleiben. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Ein anschauliches Beispiel ist das Bundesamt für Si- und Herren! Es geht heute um das Bundesbesoldungs- cherheit in der Informationstechnik, kurz BSI. Das BSI und -versorgungsanpassungsgesetz. Wer hier von Wert- überwacht und sichert nicht nur die digitale Infrastruktur schätzung unserer Beamtinnen und Beamten spricht, der des Bundes. Gleichzeitig stellt das BSI auch privaten In- sollte meines Erachtens beim Thema bleiben. Um die ternetnutzern Informationen zur Sicherheit im Netz zur Angelegenheiten der Bundeswehr kümmern sich bei uns Verfügung. Letztlich trägt das BSI damit ganz konkret die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss. zum Schutz jedes einzelnen Bürgers in der digitalen Welt bei. Ein Beispiel dafür war die prompte Reaktion (Beifall bei der CDU/CSU) des BSI auf den millionenfachen Passwortdiebstahl vor Alle vier Fraktionen haben in den Ausschüssen die einigen Monaten im deutschen Netz. Alle Bürger beka- Annahme des vorliegenden Gesetzentwurfs empfohlen. men eine Möglichkeit, zu überprüfen, ob ihre persönli- Diese ungewöhnliche Übereinstimmung zwischen allen che E-Mail-Adresse vom Datenklau betroffen ist. Für Fraktionen hat mich zunächst fast misstrauisch gemacht. die dahinterstehende Technik braucht man hochqualifi- Auch habe ich das in meiner Zeit im Innenausschuss zierte IT-Spezialisten, die mit ihrem Sachverstand in der zum ersten Mal erlebt. Dies ist aber ein Grund zur freien Wirtschaft vermutlich ein Vielfaches verdienen Freude, und ein Grund zum Misstrauen besteht heute könnten. nicht. Im digitalen Zeitalter konkurrieren nicht nur immer Denn es ist ganz offensichtlich, dass der öffentliche mehr Unternehmen um die besten IT-Fachkräfte, son- Dienst für unseren Staat und die gesamte Gesellschaft dern auch das Bundeskriminalamt benötigt solche Fach- von herausragender Bedeutung ist. Deswegen ist es auch leute, um Kriminalität im Netz oder die Verbreitung von recht und billig, dass wir die Bediensteten entsprechend Kinderpornografie effektiv bekämpfen zu können. Wenn honorieren. wir zum Beispiel vom Bundesamt für Verfassungsschutz Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5323

Andrea Lindholz (A) eine effektive Spionageabwehr erwarten und einen mitt- Dritte Beratung (C) lerweile leider erforderlichen 360-Grad-Blick im digita- und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem len Raum einfordern, dann müssen wir das Amt auch in Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – die Lage versetzen, entsprechendes Personal anzuwer- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- ben. entwurf ist einstimmig angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zu- satzpunkt 5 auf: An dieser Stelle sollte auch die steigende Belastung im Rahmen der Überwachung der Kriegsheimkehrer aus 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema Syrien nicht vergessen werden. Movassat, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Die Anpassung der Bezüge der Bundesbediensteten LINKE an die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutsch- land ist ein kleiner Beitrag dazu. Letztlich kann eine sol- Hunger bekämpfen, Recht auf Nahrung stär- che Anpassung aber nur ein Baustein von vielen sein. ken Der Staat muss seinen Bediensteten ein attraktives Ge- Drucksache 18/1482 samtpaket anbieten, bestehend aus einem soliden Ein- Überweisungsvorschlag: kommen, familienfreundlichen Arbeitszeiten und guten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Aufstiegsmöglichkeiten. Entwicklung (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Der Ruf der Beamten ist im Volksmund manchmal Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe nicht der beste. Wir alle kennen den einen oder anderen ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nicht so schönen Spruch. Das aber ist ungerecht. Denn richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- ein Blick in andere Länder macht deutlich, wie effektiv sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) die deutsche Verwaltung ist. Das wird oft vergessen. zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Friedrich Ostendorff, Claudia Roth (Augsburg), Der hohe Standard unseres öffentlichen Dienstes ist weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- nicht zuletzt ein wichtiger Standortvorteil für Deutsch- NIS 90/DIE GRÜNEN land und eine wesentliche Voraussetzung für den wirt- schaftlichen Erfolg unseres Landes. Das bestätigen uns Weltagrarbericht jetzt unterzeichnen auch Unternehmen, die weltweit tätig sind, immer wie- Drucksachen 18/979, 18/1788 der. Deswegen ist es auch angemessen, alle Mitglieder (B) des öffentlichen Dienstes am aktuellen wirtschaftlichen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (D) Erfolg Deutschlands teilhaben zu lassen. Der vorlie- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen gende Gesetzentwurf ist daher ausdrücklich zu befür- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. worten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ich möchte schließen mit den Worten von Otto Fürst Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. von Bismarck – schon eine Weile her, aber immer noch (Beifall bei der LINKEN) aktuell –: Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten läßt Niema Movassat (DIE LINKE): sich immer noch regieren. Bei schlechten Beamten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt aber helfen uns die besten Gesetze nichts. kein Menschenrecht, das so häufig verletzt wird, wie das Recht auf Nahrung. Laut der Landwirtschaftsorganisa- Vielen Dank. tion der Vereinten Nationen hungern 842 Millionen Menschen. Würde man einen realistischen Kalorienbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) darf zugrunde legen, so stiege die Zahl auf 1,3 Milliar- den Menschen. Der tägliche Hunger, die Tatsache, dass Vizepräsidentin Petra Pau: alle sechs Sekunden ein Kind an Unterernährung stirbt, ist ein Skandal, der keinen Tag länger so weitergehen Ich schließe die Aussprache. darf. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- desregierung eingebrachten Entwurf eines Bundesbesol- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE dungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes 2014/2015. GRÜNEN) Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Deshalb haben wir als Linke den Antrag „Hunger be- fehlung auf Drucksache 18/2639, den Gesetzentwurf kämpfen, Recht auf Nahrung stärken“ eingebracht. der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/1797 und 18/2136 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Entwicklungsminister Müller hat erklärt, dass der setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Kampf gegen den Hunger für ihn hohe Priorität hat. Gut – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge- so. Das Problem ist aber, dass die Lösungsansätze in die setzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig an- falsche Richtung gehen. Sie scheitern bereits an der Ur- genommen. sachenanalyse. Denn die Bundesregierung legt die Prio- 5324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Niema Movassat (A) rität auf die Steigerung der Produktion nach dem Motto: und verlieren ihre Existenz. Deshalb müssen die Länder (C) Menschen hungern, weil es zu wenig Nahrung gibt. Also des Südens das Recht haben, ihre Märkte durch Zölle zu muss mehr produziert werden. – Dabei wird heute schon schützen. genug Nahrung produziert, um 12 Milliarden Menschen zu ernähren. Wir brauchen eine gerechte Verteilung der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Lebensmittel. Dann müsste kein Kind auf dieser Welt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mehr an Hunger sterben. Ganz entscheidend ist auch der Aufbau sozialer Siche- (Beifall bei der LINKEN) rungssysteme. Es gibt gute Beispiele, wie das brasiliani- sche „Null-Hunger“-Programm, bei dem man Hilfe vom Auch muss die Bundesregierung endlich den Welt- Staat bekommt, wenn es an Geld für Nahrungsmittel agrarbericht unterzeichnen. Dort stehen viele kluge fehlt. Dinge drin, zum Beispiel, dass man Kleinbauern in den armen Ländern stärken muss. Kleinbauern bilden das Diese Modelle sollte Deutschland im Rahmen der Rückgrat der Landwirtschaft im globalen Süden. Sie Entwicklungszusammenarbeit auch in anderen Ländern produzieren in Asien und Afrika 80 Prozent der Nah- unterstützen. In unserem Antrag finden Sie weitere kon- rungsmittel. Sie muss man unterstützen, fördern und krete Vorschläge. Aber das Wichtigste ist: Unterzeich- weiterbilden. Stattdessen stärkt die Bundesregierung mit nen Sie den Weltagrarbericht, und setzen Sie seine Vor- Initiativen wie der German Food Partnership und der G8 schläge um! Das wäre ein echter Beitrag im Kampf „New Alliance“ vor allem große Agrarunternehmen, die gegen den Hunger. auf industrielle Landwirtschaft setzen. Das Problem da- (Beifall bei der LINKEN) bei ist, dass sich kein Kleinbauer diese Technologisie- rung leisten kann. Um die neuen, teuren Düngemittel und Saatgüter zu kaufen, muss er sich verschulden. So Vizepräsidentin Petra Pau: machen die Agrarunternehmen Bauern abhängig. Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter Stein. Dieses Modell passt auch nicht auf die lokalen Be- dürfnisse. In den Entwicklungsländern herrscht teilweise (Beifall bei der CDU/CSU) bis zu 50 Prozent Arbeitslosigkeit. Die Agrarindustrie aber setzt auf wenig Arbeitskrafteinsatz, hohen Kapi- Peter Stein (CDU/CSU): taleinsatz und hohe Produktion pro Bauer. Wir brauchen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Eine Modelle, die Arbeitsplätze schaffen und die die Klein- Welt ohne Hunger“ ist die aus meiner Sicht wichtigste bauern nicht in ihrer Existenz gefährden. (B) Sonderinitiative des Ministeriums für wirtschaftliche (D) (Beifall bei der LINKEN) Zusammenarbeit und Entwicklung für diese Legislatur. Alleine das zeigt schon, wie unnötig dieser Antrag zu Diese Politik der Kooperation mit den Agrarunterneh- diesem Zeitpunkt ist. men füllt die Taschen von Bayer, BASF, Syngenta und Monsanto, aber keinen Teller in Afrika. Deshalb sagt die (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Linke: Stärken Sie die Kleinbauern! Stärken Sie lokale NEN]: Na, na, na!) Strukturen! So bekämpft man Hunger. Minister Gerd Müller hat regelmäßig und persönlich (Beifall bei der LINKEN) diesen Schwerpunkt herausgearbeitet und betont, wie sehr ihm das eine Herzensangelegenheit ist. Ich darf Ins Zentrum der Debatte muss der Begriff der Ernäh- auch einen seiner Staatssekretäre zitieren, der den Hun- rungssouveränität. Was heißt das? Das heißt, dass die ger auf der Welt als die größte Menschenrechtsverlet- Länder des Südens in die Lage versetzt werden, eigen- zung bezeichnete. Dem füge ich nichts hinzu. Ich sage ständig genug Nahrungsmittel zu produzieren. Sie sollen Ihnen: Die CDU/CSU-Fraktion steht geschlossen hinter nicht abhängig von Nahrungsmittelimporten sein. Die dieser fokussierten Ausrichtung auf die Reduzierung des Kleinbauern sind die Grundlage der Ernährungssouverä- Hungers und die Mangel- und Unterernährung. nität. Ihre Landrechte müssen geschützt werden, bei- spielsweise vor Landraub; denn immer häufiger kaufen (Beifall bei der CDU/CSU – Niema Movassat Konzerne, auch aus Deutschland, Ländereien in Afrika [DIE LINKE]: Dann können Sie unserem An- auf, vertreiben mit Gewalt die Bauern, um im Anschluss trag ja zustimmen!) Agrospritpflanzen anzubauen, damit wir unsere E10- Quote erfüllen können. Dagegen muss die Bundesregie- „Hunger bekämpfen, Recht auf Nahrung stärken“ ha- rung vorgehen. ben Sie Ihren Antrag genannt. Allein dieser Titel bleibt weit hinter unseren Zielstellungen, unseren Sonderinitia- (Beifall bei der LINKEN) tiven und der Arbeit der vergangenen Jahre zurück. Wichtig ist dabei, klarzustellen, dass es viele unter- Um Ernährungssouveränität herzustellen, müssen schiedliche Ursachen für Hunger gibt: Trockenheit, Kleinbauern auch vor Billigimporten geschützt werden. Wassermisswirtschaft, fehlende Arbeitskräfte auf dem Wir alle kennen das Beispiel von überschüssigen Hähn- Land, Bürgerkriege, Naturkatastrophen, chenteilen, die von Europa nach Liberia verschifft wer- den und dort zu Dumpingpreisen verschleudert werden. (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Korrup- Die lokalen Bauern können damit nicht konkurrieren tion!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5325

Peter Stein (A) mangelnde Infrastruktur, fehlende Ausbildung, schlech- Im Haushalt 2014 wird über die gesamte Legislatur- (C) tes Saatgut und Düngemittel, fehlendes Kapital, Streit periode ein deutlicher Akzent auf diesen Sektor gesetzt. um Bodenrechte, Dabei wird in der Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hun- ger“ mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr auf diesem (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Kommu- Gebiet eingesetzt. Der Schwerpunkt des Engagements nismus!) ist dabei Afrika – eine zweite Sonderinitiative. Piratenfischerei und auch ungerechte Vergabe von Fi- Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Zusam- schereirechten, um nur einige Faktoren zu nennen. Aber menarbeit privatwirtschaftliches Engagement in den auch die teils übermächtige Konkurrenz der Industrie- Zielländern brauchen, weil wir ohne privates Engage- länder und in einzelnen Staaten auch Landgrabbing kön- ment den weltweiten Kampf gegen Hunger und Mangel- nen eine Ursache sein; das will ich gar nicht verschwei- ernährung nicht gewinnen können. gen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wegen all dieser verschiedenen Gründe muss es auch verschiedene Lösungsansätze geben. In Asien und La- Man erhält dadurch einen größeren finanziellen Spiel- teinamerika wurden auf dem Gebiet der Hungerbekämp- raum; bei der GFP beispielsweise erhöht er sich unge- fung große Fortschritte gemacht. Das ist bereits ein Er- fähr im Verhältnis eins zu sechs. In diesem Kontext ste- folg der globalen Zusammenarbeit. In vielen Regionen hen wir als Fraktion zu unserem Engagement im Afrikas dagegen ist die Versorgung der Bevölkerung Rahmen der German Food Partnership, aber auch der selbst mit den einfachsten Grundnahrungsmitteln immer Alliance und des World Food Programme der Vereinten noch nicht möglich und gegeben. Wir teilen bis dahin Nationen. Ihre Feststellung, dass Hunger weiterhin das größte Ge- Geld ist nicht der einzige Grund. Es braucht Wissen- sundheitsrisiko weltweit ist. Ich denke, in der Situations- schaft und Forschung. Es braucht Entwicklung und Bil- beschreibung – darüber haben wir uns im Ausschuss dung. Es braucht Infrastruktur und Material, und es schon öfter ausgetauscht – und in Ihrem ersten Ansatz braucht auch Einkommen, beispielsweise in den Städten, sind wir uns einig. damit die Menschen dort die Lebensmittel überhaupt be- Leider fallen Sie im weiteren Verlauf Ihres Antrags zahlen können. Alle zuletzt genannten Beiträge können wieder in die stereotypen Feindbilder zurück und zeich- im Wesentlichen nur aus der Wirtschaft geliefert werden. nen die Welt in Schwarz und Weiß: Deshalb ist die Zusammenarbeit in diesem Bereich un- bedingt notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU) Weil wir uns Regeln geben, gerade auch über die auf der einen Seite das Ideal des ökologischen Kleinbau- (B) GFP, stellen wir mit diesem Ansatz die deutsche Ent- (D) ern, der mit dem Ochsenpflug arbeitet wicklungszusammenarbeit nicht hinter deutschen Wirt- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaftsinteressen zurück, sondern wir binden diese ein. NEN]: Nicht einmal! Der Kleinbauer in Afrika Wir nehmen das Know-how und die Produkte deutscher hat keinen Ochsen!) Unternehmen sehr gerne mit, weil sie gut sind. und dabei das Saatgut verwendet, das seine Vorfahren Darüber hinaus geht es in den Partnerschaften im We- über Jahrhunderte selbst immer wieder vermehrt haben sentlichen um die Vermittlung von Wissen. Die Mitar- – was ein Teil des Problems ist –, und auf der anderen beiter der GIZ sind maßgeblich daran beteiligt und erst Seite der reiche Westen mit seinen multinationalen Kon- in zweiter Reihe Mitarbeiter von Unternehmen. Die zernen, deren Ziel nur Profit und in der Zukunft die Ab- Expertise – das ist ganz klar geregelt – ist zu wenigstens hängigkeit der Bauern ist. 70 Prozent von Mitarbeitern der GIZ zu liefern. Der Vor- wurf, mit diesem Ansatz würden regionale Besonderhei- Meine Damen und Herren, es hat nichts, auch wirk- ten ignoriert, ist aus meiner Sicht unverständlich, weil lich gar nichts mit fehlendem Enthusiasmus und Engage- das gesamte Wissen, das die GIZ in den Veranstaltungen ment für entwicklungspolitische Belange zu tun, wenn vermittelt, gerade in den lokalen Kontext und in bereits man erkennt und akzeptiert, dass die Realität vielschich- bestehende Entwicklungsstrategien in den Ländern und tiger ist. Projekten eingebettet wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Die GFP ist zudem noch ein recht junges Programm. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit muss immer Um auch dort im weiteren Prozess noch voneinander zu auch mit den Rahmenbedingungen umgehen, die vor Ort lernen, ist es aus unserer Sicht unverständlich, warum geboten sind. Zu helfen und zu verbessern, ist daher Sie es stoppen wollen. Sie wollen evaluieren. Wie wol- auch eine Aufgabe. Die Entwicklungszusammenarbeit, len Sie das tun, wenn Sie es vorher gestoppt haben? Wir die am Ende gezielt hilft und den Menschen vor Ort und sind gerade ein Jahr dabei, und ich glaube, es ist wichtig, der Regierung ihrer souveränen Staaten wesentliche Ent- diesen Weg erst einmal weiterzugehen. Ich bin davon scheidungen weitgehend selbst überlässt, ist eine gute überzeugt: Wir werden gute Ergebnisse bekommen. Zusammenarbeit. Genau das tun wir als CDU/CSU- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fraktion zusammen mit unseren Kollegen der SPD. Sie neten der SPD) schreiben es selber in Ihrem Antrag: Die Bundesregie- rung hat den Kampf gegen Hunger zum Schwerpunkt Es geht, wie gesagt, in weiten Teilen um grundlegen- gemacht. des agrarisches Wissen wie effektiver Wassergebrauch, 5326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Peter Stein (A) sinnvolle Fruchtfolge, nachhaltiger Einsatz von Dünge- henden Mechanismen führt nirgendwohin und hilft den (C) mitteln, die Anpassung an Klimabedingungen usw. Die Menschen vor Ort nicht wirklich weiter. Menschen allein nach der Idealvorstellung der kleinbäu- erlichen Landwirtschaft zu versorgen, wird sie nicht auf (Beifall bei der CDU/CSU) die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Denn Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir mit Blick auch in Afrika und Asien ist die Globalisierung ange- auf die Sonderinitiative im Kampf gegen den Hunger kommen, auch auf dem Land. Selbst die europäischen nicht locker. Es ist gut, dass dieses Thema immer wieder Bio-Kleinbetriebe, die sicherlich gute Vorbilder sein oben auf der Agenda steht. Ich gehe davon aus, dass die können, weisen jedoch Betriebsstrukturen auf, die sich Bundesregierung im nächsten Jahr in Paris gerade hierzu mit denen in Afrika niemals vergleichen lassen werden. starke Beiträge liefern wird. Die Koalition ist engagiert Das kann man nicht exportieren. Wir müssen die Land- bei der Sache. Pro Jahr 1 Milliarde Euro für den Sektor wirtschaft in Afrika mit eigenen Formen in der Entwick- Ernährung und Hungerbekämpfung sind keine Erdnüsse, lung voranbringen. Dazu brauchen sie – das bieten wir sondern richtig viel Substanz. Das ist so viel wie nie zu- ihnen an – unsere Hilfe und Unterstützung. vor. Wir nehmen die Herausforderung an. Dank der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Haushälter ist seit gestern Fakt, dass das so kommen wird. Wir verstehen die nachhaltige Entwicklungszu- Agrarmarktspekulationen – das hatten Sie angespro- sammenarbeit als das wichtigste globale und außenpoli- chen – und großflächige Landnahme sind in den letzten tische Wirkungsfeld für die nächsten Jahrzehnte. Jahren tatsächlich stark in die öffentliche Kritik geraten. Das war auch wichtig. Aber gerade das Handeln Herzlichen Dank. Deutschlands in diesen subjektiven Kontext zu stellen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist unredlich. Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Dennoch beteiligen sich … auch ausführende Or- Vizepräsidentin Petra Pau: gane der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Der Kollege Uwe Kekeritz hat für die Fraktion Bünd- wie die Deutsche Investitions- und Entwicklungs- nis 90/Die Grünen das Wort. gesellschaft mbH (DEG) nach wie vor an solchen Spekulationen und dem massiven Aufkauf von Land in Entwicklungsländern. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das schreiben Sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Kollege Movassat hat darauf hingewiesen: Jeder achte Linken, das ist starker Tobak. Ich warne davor, hier Ihre Mensch hungert. Weit über 2 Milliarden Menschen kön- (B) sehr spezielle Wahrnehmung zum Gegenstand von Bun- nen sich nicht ausgewogen ernähren. Das ist ein Skan- (D) desanträgen in diesem öffentlichen Raum zu machen. dal, der allerdings auch mit unserer westlichen, groß- industriellen Agrarproduktion zusammenhängt. Das ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – keine Schwarz-Weiß-Malerei, Herr Stein. Das sind ein- Niema Movassat [DIE LINKE]: Lesen Sie die fach Fakten. Dass die CDU/CSU diese Fakten nicht Berichte, die es dazu gibt!) wahrhaben will, das ist Ihre Politik. Leugnen Sie das ru- Die Rahmenbedingungen sind bei weitem nicht in al- hig auch in Zukunft! Vielleicht hilft Ihnen das ja. len Zielländern die gleichen. Vielerorts herrschen, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Landtitel angeht, chaotische Zustände. Damit muss man arbeiten, wenn man dort weiterhin engagiert sein Solange wir unsere westliche Agrarindustrie täglich möchte. Die Alternative wäre, mit solchen Ländern mit 1 Milliarde Dollar subventionieren überhaupt nicht mehr zusammenzuarbeiten. Das kann nicht unser Ziel sein. Ich behaupte: Keine internationale (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wenn es keine Einrichtung der Entwicklungszusammenarbeit arbeitet modernen Agrarstrukturen gäbe, gäbe es mehr vor diesem Hintergrund so sorgfältig und überprüft wie Hunger!) die DEG; das wissen Sie. – hören Sie als Haushälter gut zu! –, hat die Agrarpro- (Beifall bei der CDU/CSU) duktion in den Entwicklungsländern einfach keine Chance. Ich möchte auf die von Ihnen angesprochene Infra- struktur zurückkommen. Hier rennen Sie – ich bin Pla- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ner von Beruf – offene Türen ein. Wegen der Kürze der doch nicht!) Zeit kann ich darauf in dieser Debatte nicht ausführlicher Als Ökonom müssten Sie das wissen, als Techniker oder eingehen. Wir werden sicherlich noch ausreichend Gele- Ingenieur sowieso. genheit haben, darüber zu diskutieren. Hinzu kommen die sogenannten Freihandelsabkom- Wir dürfen keine Lösung von vornherein ausschlie- men, die sogenannten EPAs, die die Tore zu den ärmsten ßen und müssen die notwendigen Entscheidungen den Ländern für unsere landwirtschaftlichen Produkte öff- Menschen und den Regierungen vor Ort überlassen. Wir nen. als CDU/CSU-Fraktion bemühen uns um ein differen- ziertes Weltbild in der deutschen Entwicklungszusam- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Umgekehrt! menarbeit. Alternativlose Fundamentalkritik an beste- Wir öffnen unsere Märkte!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5327

Uwe Kekeritz (A) Damit zerstören wir die landwirtschaftliche Produktion Bayer feiert aufgrund der Initiative bereits unglaubli- (C) in diesen Ländern, tragen zur Landflucht bei und vergrö- che Absatzsteigerungen bei seinen Düngemitteln. Hier ßern die Slums in den Städten. Sie können das doch werden Steuergelder zur Subventionierung der deut- nicht einfach ignorieren, Herr Stein. Das sind 30 Jahre schen Industrie missbraucht. dokumentierte Erfahrung. Sich hier hinzustellen und zu Ich möchte jetzt aber noch ganz kurz einen Satz zum sagen, dass es sich hier nur um Schwarz-Weiß-Malerei Antrag der Linken sagen. In ihm gibt es sehr viele posi- handelt, geht an der Realität vorbei. tive Aspekte, die wir voll unterstützen: Ernährungssouve- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ränität und Förderung von Kleinbauern und Kleinbäuerin- und bei der LINKEN) nen. Das gilt auch für die kritische Haltung gegenüber German Food Partnership. Leider gibt es auch ein paar Die Folgen der deutschen Hähnchenfleisch- Knackpunkte darin, zum Beispiel ein allgemeines Verbot schwemme kennen Sie hoffentlich auch. Das ist keine des Imports von Biomasse und der Stopp aller Freihan- Politik, sondern nackter Zynismus. Dieser wird mit den delsabkommen. Man muss sich doch überlegen, was für EPAs vorangetrieben. Mit dieser Politik untergraben Sie Konsequenzen das zum Beispiel für die einzelnen Län- das Recht der Menschen in den Entwicklungsländern auf der hätte, wenn wir die Freihandelsabkommen über eigene Nahrungsproduktion. Sie untergraben auch das Nacht stoppen würden. Das muss man sich einmal vor- Recht auf Ernährungssouveränität vieler Länder im Sü- stellen: Dann kommen wir zum WTO-Regime zurück. den. Sie erhöhen vor allen Dingen die Abhängigkeit von Das will auch die Linke nicht. Deswegen müsst ihr euch der westlichen Agrarstruktur. Minister Müller setzt die vorher überlegen, mit welcher Konsequenz ihr das for- Bekämpfung des Welthungers auf seine politische dert. Agenda. Das begrüßen wir natürlich außerordentlich. Das Ziel ist gut. Aber jetzt ist der Worte genug. Jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) muss endlich ein Prozess in Gang gesetzt werden, der Wollt ihr eine Veränderung der Verträge? Dann haben das tatsächlich vorantreibt. wir die gleiche Meinung. Ein Stopp aber ist etwas ande- res. – Ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin. Da Sie schon so guten Kontakt zur GIZ haben, würde ich Ihnen empfehlen: Nehmen Sie doch einmal mit den Botschaften in den einzelnen Ländern, wo die grünen Vizepräsidentin Petra Pau: Zentren aufgebaut werden, Kontakt auf und lassen Sie Das war ein sehr langer Satz. Ich verweise auf die sich erklären, wie das funktioniert. Eine positive Rück- noch folgenden Beratungen im Ausschuss, wo Sie das meldung habe ich noch nicht bekommen. alles austauschen können. (B) (D) Ich habe den Minister bereits zweimal aufgefordert, Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): er möge mich doch mitnehmen, weil ich mir das einmal Deswegen können wir eurem Antrag nicht zustim- vor Ort anschauen möchte. Herr Niebel war da großzügi- men. Der Grünen-Antrag beinhaltet genau das, was ich ger. Der hat Leute mitgenommen. Müller weigert sich. gefordert habe, nämlich die Unterzeichnung des Welt- (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist sparsamer!) agrarberichtes. Ich bedanke mich. – Der ist sparsam, jawohl. – Ich möchte, weil Sie auch German Food Partnership und die G 8 New Alliance an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gesprochen haben, Folgendes sagen: Sie wollen dort pro- duktneutrale Schulungen durchführen lassen. Das wird Vizepräsidentin Petra Pau: nicht hauptsächlich von der GIZ gemacht, sondern von Der Kollege Dr. Sascha Raabe spricht nun für die den Vertretern der Pharma- bzw. der Großindustrie. Das SPD-Fraktion. konnten Sie auch in einem Monitor-Beitrag sehen. (Beifall bei der SPD) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht der Industrie zurechenbar!) Dr. Sascha Raabe (SPD): – Wenn Bayer und Syngenta nicht der Industrie zure- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- chenbar sind: Was wollen Sie denn dann eigentlich der legen! Zum einen ist es sicherlich gut, dass wir aufgrund Industrie zurechnen? des Antrags der Linken heute über das Thema Welt- ernährung sprechen können, weil wir in der nächsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Woche – am 16. Oktober – den Welternährungstag ha- und bei der LINKEN – Max Straubinger ben. Trotz Fortschritten, die es in dem Bereich weltweit [CDU/CSU]: Weil das für Sie immer ein Böses gegeben hat, wollen und können wir uns nicht damit ab- ist!) finden, dass immer noch 800 Millionen Menschen hun- gern und in extremer Armut leben. – So ist es: Das arbeitet so. Wissen Sie, das ist ein Me- chanismus, und wir haben die Aufgabe, hinter die Me- Sicherlich sind im Antrag der Linken Punkte enthal- chanismen zu schauen und sie zu lenken, aber nicht zu ten, die wir alle unterschreiben können, dass zum Bei- fördern. spiel Kleinbäuerinnen und Kleinbauern besonderen Schutz brauchen und dass die Rechte von Frauen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stärkt werden müssen. All diese Forderungen sind für 5328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Sascha Raabe (A) diejenigen, die schon jahrelang Mitglied im Entwick- Das fehlt in Ihrem Antrag. Es gibt positive Beispiele. (C) lungsausschuss sind, selbstverständlich und Bestandteil Brasilien haben Sie selbst genannt. Auch Länder, die Ih- unseres Handelns. Das könnten wir alles unterschreiben. nen sehr nahe stehen, wie zum Beispiel Bolivien, Chile, Nicaragua, Peru und Venezuela, haben gute Anstrengun- Folgendes – ich will nicht sagen, dass es mich ärger- gen gemacht und kommen voran, weil sie das Men- lich macht – enttäuscht mich schon ein wenig: Wir ha- schenrecht auf Nahrung zum Teil in der Verfassung ver- ben schon des Öfteren hier im Parlament – Herr ankert haben. Movassat, Sie sind auch schon ein bisschen länger mit dabei – über ländliche Entwicklung gesprochen. Im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Frühjahr 2013 hat die SPD-Fraktion hier einen sehr gro- CDU/CSU sowie der Abg. Niema Movassat ßen Antrag zum Thema Ernährungssicherheit mit der [DIE LINKE] und Uwe Kekeritz [BÜND- Überschrift „(Über-)Lebensbedingungen in Entwick- NIS 90/DIE GRÜNEN]) lungsländern strukturell verbessern – Ländliche Ent- wicklung als Schlüssel zur Bekämpfung von Hunger und Deswegen, glaube ich, muss man in einem solchen Armut“ eingebracht. Darin sind ganz umfassend alle Antrag auch zu solchen Fragen die richtigen Worte fin- Themen enthalten, über die man reden muss, wenn man den. Auch die Weiterverarbeitung und die Frage, wie Hunger und Armut auf dem Land bekämpfen will. Es Produkte exportiert werden können, gehören dazu. Wir reicht eben nicht aus, nur zu sagen: Die Kleinbauern sind nicht ausschließlich für Selbstversorgung, wie es in müssen jetzt besser arbeiten können. Ihrem Antrag steht. Wir stehen an dieser Stelle auch zu den PPP-Projekten, zumindest zu den guten, die es auch In Ihrem Antrag, der sich mit der ländlichen Entwick- gibt. Die ermöglichen zum Beispiel Kleinbauern, hygie- lung sowie mit Hunger und Armut beschäftigt, taucht nische oder ökologische Standards einzuhalten, sodass zum Beispiel nicht ein einziges Mal das Wort „Bildung“ dann ökologische Bioprodukte aus Entwicklungsländern auf. Es ist gerade auf dem Land – da sind Schulen oft zu uns kommen können. Es gibt PPP-Projekte mit Sub- sehr weit entfernt, und es gibt dort häufig schlechte Leh- sistenzbauern, denen das ermöglicht wird. Das ist doch rer – wichtig, Grundschul- und Sekundarbildung anzu- gut und richtig. Deswegen sollten wir das fortführen. bieten. Auch auf dem Land geht es darum, zum Beispiel Handwerksberufe aufzubauen. Es darf eben nicht sein, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass die Menschen ein Leben lang – über 50 Jahre hin- der CDU/CSU) weg – eine kleine Scholle bestellen müssen. – Es ist Noch ein letzter Satz: Herr Stein, ich kann vieles von schon sehr enttäuschend, dass das fehlt. dem, was Sie gesagt haben, unterschreiben. Aber was Das Gleiche gilt für den Nachernteschutz. 20 Prozent das Thema Haushalt angeht, kam das vielleicht etwas (B) bis 25 Prozent der Ernten gehen verloren, weil es an Ka- missverständlich herüber. Nächstes Jahr ist das Jahr (D) pazitäten fehlt, die Ernte richtig zu speichern, was dazu 2015, in dem wir mit den Entwicklungszielen einen gro- führt, dass sie verfault. Fragen der Infrastruktur werden ßen Schritt hätten vorankommen sollen, auch bei der Be- überhaupt nicht angesprochen, weder der technischen kämpfung von Hunger und Armut. Wir sollten auch be- Infrastruktur, was Handys und den Zugang zum Internet reits 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens, angeht, noch der Straßen, Häfen oder anderer Verbin- die ODA-Quote, für die Entwicklungshilfe ausgeben. dungen. Das muss einfach in einen solchen Antrag hi- Ich glaube, wir müssen schon bei dem Haushalt, den wir nein. im November beraten werden, kräftig nachbuttern, damit wir Hunger und extreme Armut ganz schnell auf der Was mich besonders ärgert, ist, dass Sie den Fokus ganzen Welt bekämpfen oder gar abschaffen können. nur auf die Menschenrechtsverletzungen, die von aus- ländischen Konzernen begangen werden, richten. Wir Vielen Dank. hatten heute schon eine ähnliche Debatte. Mich muss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten man wirklich nicht katholisch machen. Ich prangere das der CDU/CSU) immer wieder an, aber es kann nicht sein, dass Sie nicht ein Wort darüber verlieren, dass es auch darauf ankommt, dass die Länder selbst eine gute Regierungsführung haben Vizepräsidentin Petra Pau: und dass sie ihre Verpflichtung, das Menschenrecht auf Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Nahrung zu garantieren – alle diese Länder haben bei der Dirk Wiese, ebenfalls von der SPD-Fraktion. UNO unterschrieben, dass sie dieses Menschenrecht achten –, auch umsetzen. (Beifall bei der SPD)

Ich sage Ihnen: Die Mehrheit der im Augenblick ab- Dirk Wiese (SPD): solut armen und hungernden Menschen lebt immer noch in Indien und in China. Es ist ein Skandal, dass diese Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Länder ihre Menschen noch hungern lassen. Wir haben Kollegen! Hätten alle von uns am heutigen Tage einen deshalb im Koalitionsvertrag geschrieben: Wunsch frei, so wären wir uns mit Sicherheit auf der Stelle einig, das Leiden von weit über 1 Milliarde Men- Von den Schwellenländern muss die eigenverant- schen in der Welt an alltäglichem Hunger, Mangelernäh- wortliche Verwirklichung der Menschenrechte auf rung und deren tödlichen Folgen umgehend zu beenden. Nahrung, Gesundheit und Bildung für die eigene In der UN-Menschenrechtscharta ist nämlich das Recht Bevölkerung eingefordert werden. auf Nahrung in Artikel 25 festgeschrieben. Dieses Recht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5329

Dirk Wiese (A) auf Nahrung ist allerdings das am meisten und am mas- und einer ausufernden Bürokratie sind. Damit kann ge- (C) sivsten verletzte Menschenrecht der heutigen Zeit. rade in diesem Bereich Public-private-Partnership eine Hilfe sein. Aus der Tatsache heraus, dass wir in Deutschland kei- nen Hunger leiden müssen und in einer Wohlstandsge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sellschaft leben, haben wir eine Verantwortung, uns für CDU/CSU) die Sicherung der Welternährung einzusetzen. Daher hat Es wurde darauf hingewiesen: Mit Ihrem wirtschafts- die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren kritischen Antrag fordern Sie, Verhandlungen über Frei- unter anderem die Mittel für die FAO von 10 Millionen handelsabkommen jeglicher Art zu stoppen sowie den Euro auf 15 Millionen Euro aufgestockt und im Koali- Ländern vorzuschreiben, ob sie genetisch veränderte tionsvertrag beschlossen, dass wir insbesondere die Produkte anbauen dürfen oder nicht. Ich glaube, damit ländliche Entwicklung weiter fördern wollen. kommen wir an dieser Stelle nicht voran. Ich finde, ge- Wir müssen aber auch unser Verhalten einmal kritisch rade die Debatte über Golden Rice zeigt, wie schwierig hinterfragen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Die es ist, sich das Ganze anzuschauen und zu durchdenken. Bilder, die wir mit Blick auf die nächste Hungerkatastro- Ich mache an dieser Stelle einmal einen Punkt. Ich phe im Fernsehen sehen werden, werden uns betroffen bin, ehrlich gesagt, gespannt auf die weiteren Beratun- machen, ja, uns schockieren. Spendenaufrufe werden gen, auch im Ausschuss für Ernährung und Landwirt- folgen. Die Kameras werden eine kurze Zeit die Weltöf- schaft, der mitberatend beteiligt ist. fentlichkeit in ihren Bann ziehen. Dann wird zur nächs- ten Krise weitergezogen. Doch diese Bilder wiederholen Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. sich leider im wiederkehrenden Rhythmus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber zurück zu Ihrem Antrag. Wenn wir ihn so be- der CDU/CSU) schließen und auf den Weg bringen, können wir uns dann einfach zurücklehnen und sagen: „Alles wird gut“? Vizepräsidentin Petra Pau: Ich glaube, nicht, und zwar gerade dann nicht, wenn Sie Ich schließe die Aussprache. behaupten, dass das Hungerproblem gelöst werden kann, indem die Länder dazu angehalten werden, Reformen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf ohne Einbeziehung des privaten Sektors durchzuführen. Drucksache 18/1482 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- In seinem Buch Die Zukunft: Sechs Kräfte, die unsere verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Welt verändern schreibt Al Gore: so beschlossen. (B) Wir wissen heute schon, dass eine extreme Knapp- Wir kommen zum Zusatzpunkt 5: Beschlussempfeh- (D) heit von Nahrungsmitteln, fruchtbarem Boden und lung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenar- Süßwasser in Ländern mit wachsender Bevölkerung beit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bünd- zum völligen Zusammenbruch der gesellschaftlichen nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Weltagrarbericht jetzt Ordnung und zu einer starken Zunahme der Gewalt unterzeichnen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- führen kann. schlussempfehlung auf Drucksache 18/1788, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache Und weiter: 18/979 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Viele Experten zeigen sich inzwischen besorgt, dass fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – mehrere große und bevölkerungsreiche Länder Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- – unter anderem Indien und China – bei der Pro- alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions- duktion von Nahrungsmitteln gegen eine Wand lau- fraktionen angenommen. fen könnten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Von den Herausforderungen der zunehmenden Verstäd- Erste Beratung des von der Bundesregierung terung wird gar nicht erst gesprochen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Nehmen wir einmal das Beispiel Indien; mein Kol- derung mautrechtlicher Vorschriften hinsicht- lege Sascha Raabe hat schon darauf hingewiesen. Als lich der Einführung des europäischen elektro- stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Indischen nischen Mautdienstes Parlamentariergruppe bin ich, ehrlich gesagt, immer Drucksache 18/2656 wieder schockiert und fassungslos, wenn ich die Mög- Überweisungsvorschlag: lichkeit habe, durchs Land zu fahren, und die alltägliche Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) umfassende Armut sehe. Ich gebe auch offen zu, dass es Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO erschreckend ist, wie schnell man sich an den Anblick von Armut gewöhnen kann. Als ich 2010 vor Ort gear- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für beitet habe, musste ich das selbst täglich feststellen. Ich die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. kann Ihnen sagen: Das ist kein schönes Gefühl. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gerade in Indien zeigt sich aber auch, dass Probleme Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion. der Nahrungsmittelversorgung die Verteilstruktur und die Einschaltung von teils staatlichen Zwischenhändlern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 5330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Steffen Bilger (CDU/CSU): nicht nur beim grenzenlosen Warenverkehr abzubauen, (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sondern auch bei der Lastwagenmobilität. Es kann „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher schließlich von uns als Transitland Deutschland nicht Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäi- wirklich gewollt sein, dass Lkw beim Transport von Gü- schen elektronischen Mautdienstes“, vielleicht hat der tern durch halb oder ganz Europa für jedes einzelne eine oder andere gedacht, es könnte jetzt und hier auch Land eine eigene sogenannte On-Board-Unit brauchen. um die Pkw-Maut gehen. Aber nein, darum geht es jetzt nicht, genauso wenig wie bei der Anhörung des Ver- Es war richtig und wichtig, dass die Europäische Union kehrsausschusses am Montag zum Thema Lkw-Maut. schon vor zehn Jahren eine Richtlinie erlassen hat, damit die elektronischen Mautsysteme in der Gemeinschaft ko- Bei der Anhörung zur Lkw-Maut am Montag, an der operieren können. Die Vorteile eines europäischen elek- auch ein Vertreter der Europäischen Kommission als tronischen Mautdienstes liegen auf der Hand: freie Fahrt Sachverständiger teilgenommen hat, wurde deutlich: Eu- durch ganz Europa mit einem Fahrzeuggerät, einem Ver- ropa bewertet unseren Kurs der Nutzerfinanzierung der trag, einer Rechnung, Vereinfachung und Vereinheitli- Infrastruktur positiv. Die, die bei der Pkw-Maut auf chung beim grundsätzlich grenzüberschreitenden Stra- Querschüsse aus Europa gehofft hatten, wurden immer ßengütertransport in Europa, Entbürokratisierung für das wieder enttäuscht, und das ist auch gut so für Deutsch- Gewerbe. land und für unsere Vorstellungen von der Finanzierung der Infrastruktur. Zuerst aber ist ausdrücklich zu loben, dass die Euro- päische Union es bei ihrer Entscheidung vermieden hat, Ich will noch einmal verdeutlichen, wie wir uns die ihre Mitgliedstaaten mit einem einheitlichen EU-Maut- Finanzierung der Infrastruktur in Zukunft vorstellen: Es System zu beglücken. „Vielfalt in der Einheit“ ist hier geht zusätzlich zu den Haushaltsmitteln aus der Lkw- nach wie vor das Gebot der Stunde, schließlich sind Maut, die bisher schon zur Verfügung stehen, zum einen längst nicht alle Lastwagen im grenzüberschreitenden darum, mehr Geld aus dem Haushalt zur Verfügung zu Verkehr unterwegs, und selbst die, die es sind, brauchen stellen, so wie wir das jetzt schon tun; zum anderen geht nicht unbedingt gleich ein System für die ganze EU. es aber auch um mehr Mittel durch die Ausweitung der Sprich: Die Teilnahme am europäischen elektronischen Lkw-Maut, mittelfristig um mehr als 2 Milliarden Euro Mautdienst ist freiwillig und kann dazu noch mit einem pro Jahr zusätzlich. Schließlich geht es um 600 Millio- Anbieter der eigenen Wahl durchgeführt werden; wirk- nen Euro mehr pro Jahr durch die Einführung der Pkw- lich eine sinnvolle Lösung. Maut. Die nationalen Mautdienste bleiben erhalten. Sie kön- So, meine Damen und Herren, lösen wir endlich den (B) nen auch selbst entscheiden, ob sie teilnehmen oder (D) Investitionsstau in Deutschland auf. Die Große Koalition nicht. Trotzdem – oder gerade deswegen – wollen wir es redet nicht nur, sondern endlich wird gehandelt, und gerne ermöglichen, dass man zukünftig mit einem Sys- zwar konsequent für die Infrastruktur in Deutschland. tem in der EU unterwegs sein kann. Durch die Entschei- dung der EU sind den Mitgliedstaaten verschiedene Re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gelungsaufgaben übertragen worden. Dabei ist es den neten der SPD) Mitgliedstaaten überlassen, die notwendigen organisato- Heute geht es aber um die europäische Dimension der rischen und rechtlichen Maßnahmen zur Umsetzung der Infrastrukturfinanzierung, nämlich um die Einführung EU-Entscheidung entsprechend ihren jeweiligen natio- eines europäischen elektronischen Mautdienstes, wobei nalen Rechtsordnungen sowie den organisatorischen und es gleichermaßen um Lkw wie um Pkw gehen kann, um technischen Rahmenbedingungen ihres Mauterhebungs- Pkw aber nur insoweit, als es sich um elektronische systems zu ergreifen. Das vorliegende Gesetz dient der Mautsysteme mit Einbau eines Fahrzeuggerätes handelt. Anpassung des nationalen Rechts an die zwingenden Die deutsche Infrastrukturabgabe für Pkw aus dem Ko- Vorgaben der EU-Entscheidung. Diese Bedingungen alitionsvertrag wird von diesem Gesetz also nicht betrof- werden erfüllt. fen sein. Meine Damen und Herren, wir brauchen erfolgreiche (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Noch nicht!) europäische elektronische Mautdienste. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung bietet dafür eine Auch bei der Pkw-Maut könnte man sicherlich lange gute Grundlage. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu darüber diskutieren, ob eine europäische Lösung nicht diesem Gesetz. sinnvoller wäre als eine rein deutsche. Es ist aber richtig, dass wir uns mit dieser Diskussion nicht noch jahrelang Vielen Dank. aufhalten, sondern handeln. In den kommenden Wochen werden wir uns intensiv mit dem konkreten Gesetzent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wurf zur Pkw-Maut beschäftigen. neten der SPD) (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das halte ich für ein Gerücht!) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Herbert Behrens hat für die Fraktion Die Europa, meine Damen und Herren, lebt unter ande- Linke das Wort. rem von seiner Freizügigkeit und dem grenzenlosen Ver- kehr. Im europäischen Binnenmarkt gilt es, Hindernisse (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5331

(A) Herbert Behrens (DIE LINKE): Es ist jedoch völlig abwegig, dass die Investitionen in (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mikrowellentechnik nur vorsorglich getätigt werden sol- So langsam macht Minister Dobrindt seinem Namen alle len. Ehre: als Mautminister oder vielleicht auch als 3M- Minister: Minister für Modernität, Mobilität und jetzt (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Maut. Das sind auch die Begriffe, mit denen wir hier NEN]: Nicht in Kleinmachnow!) ständig umgehen müssen, in dieser Woche allein zwei- Die Ausstattung des deutschen satellitengestützten Maut- mal. Am Montag gab es bereits eine Anhörung zur Lkw- erhebungssystems mit dieser Technik entspricht nämlich Maut, zu den Berechnungsgrundlagen. Heute nun soll es in keiner Weise dem Geist des entsprechenden EU- darum gehen, etwas Licht in den europäischen Maut- Rechts. Die Erfassungsgeräte in den Lkw sollen den un- dschungel zu bringen. terschiedlichen Mauterhebungssystemen angepasst wer- Ein europäischer elektronischer Mautdienst kann si- den und eben nicht die teuren Mauterhebungssysteme cherlich dazu beitragen, dass es auf den europäischen den relativ preiswerten On-Bord-Units. Letztes entbehrt Straßen schneller vorangeht, dass der Güterverkehr auf doch wirklich jeder Grundlage. der Straße, sofern er dort stattfinden muss, flüssig ab- Die Kommission fordert an keiner Stelle, dass der läuft. Ich finde es jedoch bedauerlich, dass die Kommis- Berg zum Propheten kommen muss. Aber genau diesen sion nicht in der Lage war, ihre eigenen Weißbücher bis Eindruck erwecken Sie mit Ihrem Gesetzentwurf. zum Ende zu lesen. Wenn die EU-Kommission den dort niedergelegten Themen wirklich nachgegangen wäre, Kurzum: Ich teile die Einschätzung des Normenkon- hätte sie auch fordern müssen, dass es verbindliche Min- trollrates noch nicht so ganz, dass Sie mit diesem Gesetz destsätze bei der Lkw-Maut und die volle Anlastung al- nicht über die zugrundeliegende EU-Richtlinie hinaus- ler externen Kosten gibt. Dann könnten wir heute Abend gehen. Über den vorliegenden Entwurf wird daher noch wirklich eine ganz andere verkehrspolitische Debatte intensiv zu diskutieren sein, genauso wie über die ande- führen. Das geht jetzt gerade nicht. ren bald anstehenden Entscheidungen zur Lkw- und In Ihrem Gesetzentwurf sind einige Punkte enthalten, Pkw-Maut sowie zur Verkehrsinfrastrukturfinanzierung. die ich allerdings mit einem dicken Fragezeichen verse- Vielen Dank. hen möchte. Erstens stellt sich mir die Frage, warum Sie gerade jetzt diesen Gesetzentwurf über einen elektroni- (Beifall bei der LINKEN) schen Mautdienst vorlegen. Das – seien wir ehrlich – ist eigentlich schon längst fällig, ist jetzt eigentlich ein „to- Vizepräsidentin Petra Pau: ter Hund“. Sie hatten nämlich zehn Jahre lang Zeit, die Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege (B) Richtlinie in deutsches Recht zu überführen. Aber mitten Sebastian Hartmann das Wort. (D) in den Verhandlungen über die Vertragsverlängerung mit Toll Collect legen Sie einen Entwurf auf den Tisch, den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wir heute zum ersten Mal debattieren. Aber über das Ti- ming der Vorlage dieses Gesetzentwurfs werden wir im Sebastian Hartmann (SPD): Ausschuss sicherlich noch reden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Zweitens bleibt unklar, weshalb Sie 48 Millionen Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung eines Euro für die Erweiterung des bestehenden Mauterhe- europäischen einheitlichen Mautdienstes soll tatsächlich bungssystems um Mikrowellentechnik ausgeben wollen. den grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr in Eu- Der EU-Richtlinie und der darauf aufbauenden Entschei- ropa unbürokratischer und deutlich einfacher machen. dung der Kommission ist eine solche Pflicht nicht wirk- Dieser Mautdienst soll damit auch unserem Binnenmarkt lich zu entnehmen. Auf Seite 75 Ihres Gesetzentwurfs Rechnung tragen, von dem wir im vereinten Europa in findet sich der unscheinbare Satz, dass ja – Zitat – „nicht den vergangenen Jahrzehnten so profitierten, eben ge- ausgeschlossen werden kann, dass in Deutschland zu- stützt auf die vier bekannten Grundfreiheiten. künftig auch mikrowellengestützte Mautsysteme einge- setzt werden“, und dass deshalb – Zitat – „diese Vor- Der freie Warenverkehr braucht aber einen einheitli- schrift vorsorglich aufgenommen“ wurde. Vorsorgliche chen Binnenmarkt, der keine nationalstaatlichen Gren- Aufnahme von Vorschriften und die vorsorgliche An- zen oder Schlagbäume kennt. Nach dieser Erkenntnis schaffung von teurer Technik sind doch wirklich zwei und ihrer Umsetzung haben wir uns in Europa neben vie- verschiedene Paar Schuhe, denke ich. len anderen guten Ideen aber auch der Idee der Erhebung von Nutzerbeiträgen zugewandt, und zwar in Form von (Beifall bei der LINKEN) Nutzungsbeiträgen schwerer Lkw zur Finanzierung der Vorsorge im Verkehrssystem wäre an anderer Stelle Verkehrsinfrastruktur in Form von nationalen Mauterhe- nötig. Ich fände es ja begrüßenswert, wenn allzu oft als bungssystemen, das allerdings mit der unerwünschten Nadelöhre auf den Wasserwegen bestehende Schleusen, Nebenwirkung, dass wir nun in dem stärker zunehmen- alte Schleusen, beseitigt werden könnten und wenn wir den grenzüberschreitenden Verkehr Spediteuren immer dort eine Investition in einer Größenordnung von mehr einen Flickenteppich von unterschiedlichen Maut- 50 Millionen Euro vornehmen würden. Ich glaube, in erhebungssystemen und unterschiedlichen Technikstan- Kleinmachnow und in Fürstenwalde wäre man über sol- dards zumuten. che vorsorglichen Investitionen froh. Dem wollen wir begegnen. Mit der Einführung eines (Beifall bei der LINKEN) einheitlichen europäischen elektronischen Mautdienstes 5332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Sebastian Hartmann (A) schaffen wir Interoperabilität, wo bislang technisch und chend der Luftschadstoffe, anlasten können. Das wird (C) wirtschaftlich die Wirklichkeit der Mauterhebung in demnächst auch beim Lärm der Fall sein. Europa krass auseinandergeklafft hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist so ein- Wir erheben die Lkw-Maut bekanntlich, um einen fach wie sinnvoll: Wir setzen eine seit vielen Jahren in dauerhaften angemessenen Beitrag der Nutzer unserer Kraft befindliche EU-Richtlinie um, die es ermöglichen Straßen zur Finanzierung der Infrastruktur sicherzustel- soll, europaweit mit nur einem Vertrag und einem Fahr- len. Insbesondere die 2018 bevorstehende Mauterhe- zeuggerät Maut an einen Anbieter zu entrichten, der nur bung – nach der Ausweitung des bundesdeutschen Maut- eine Rechnung dafür ausstellt – einfach, sinnvoll und gebietes auf weitere 30 000 Kilometer Straße – ist ein überfällig, wenn ich das anmerken darf; denn die Frist Beispiel für eine sinnvolle Anwendung der standardi- zur Änderung der hiesigen Mautvorschriften – das war ja sierten Erhebungsverfahren, die in der EEMD-Richtlinie auch Thema der Vorrede – ist bezüglich des Straßengü- verabredet wurden. terverkehrs tatsächlich seit zwei Jahren abgelaufen. Des- Wenn jetzt mit diesem Gesetz die Änderungen der wegen sollte man die Richtlinie auch umsetzen. mautrechtlichen Rahmenbedingungen vollzogen wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den, ist damit die Basis für die Zulassung nicht nur des einen, bereits genannten Anbieters, der um Registrierung Das Bundesverkehrsministerium schafft mit diesem nachgesucht hat, sondern auch weiterer Betreiber ge- Gesetz zur Änderung der mautrechtlichen Vorschriften schaffen. Wenn wir den Markt der EEMD-Provider mit die technischen und organisatorischen Voraussetzungen einer Prise Optimismus betrachten, dann können wir die für die Anbindung sogenannter EEMD-Anbieter an das Hoffnung schöpfen, dass wir bei der Erhebung der Maut hiesige Mautsystem. Der Aufwand, den ein Unterneh- in Zukunft nicht mehr die Monokultur eines einzigen men treiben muss, um – das ist eine zentrale Vorausset- Anbieters haben und damit technische und juristische zung, um überhaupt mit einer solchen Leistung Geld Schwierigkeiten bestehen, sollte man einmal auf die Idee verdienen zu können – europaweit auftreten zu können, kommen, irgendetwas ändern zu wollen an bestehenden ist nicht unerheblich. Vermutlich ist das auch der Grund, Verträgen oder eben auch an der Technik. warum sich bislang nur ein einziges Unternehmen für eine Zulassung als EEMD-Provider hat registrieren las- Vergessen wir nicht: Deutschland hat sich 2005 auf den sen. Weg gemacht und nach leichten Anlaufschwierigkeiten das modernste System zur Mauterhebung geschaffen. Wir (B) Der Bund wird aber auch von der Zulassung der haben vor einigen Tagen in einer Anhörung vonseiten der (D) EEMD-Anbieter profitieren. Wir versprechen uns davon EU-Kommission bestätigt bekommen, dass wir mit der zum Beispiel eine Senkung der Kosten der Mauterhe- Anlastung externer Kosten bei der Wegekostenberech- bung. Um die technischen Voraussetzungen für eine nung europaweit führend sind. Nutzung des EEMD-Dienstes zu schaffen, ist eine Reihe von Maßnahmen nötig. Es müssen zunächst technische Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Beschluss Systeme entwickelt und einer Zulassung unterzogen dieses Gesetzes in erster Lesung können wir heute einen werden. Tatsächlich ist es so, dass die EU-Richtlinie eine weiteren Schritt gehen, der auch für die deutsche Indus- oder mehrere Techniken vorschreibt, zu denen – ich trie gute Rahmenbedingungen schaffen wird. Wir sorgen glaube, das steht in Artikel 2 – auch die Mikrowellen- dafür, dass deutsche Anbieter in Form der EEMD-Provi- technik gehört. Aber wenn wir uns schon auf den Weg der auch im heimischen Markt mit den guten gesetzli- machen, dann sollten wir uns die technischen Möglich- chen Grundlagen und Rahmenbedingungen starten kön- keiten entsprechend dem heutigen Standard zunutze ma- nen, um sich am internationalen Wettbewerb der EEMD- chen und nicht nur eine einzige Technik nehmen, bei der Provider, der in Europa starten wird, zu beteiligen. wir in den nächsten Jahren vielleicht wiederum Ände- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der rungen oder Anpassungen vornehmen müssen; denn wir CDU/CSU) wollen mit diesen Technologien weiterhin in Europa führend sein. Erinnern wir uns: Die Bundesrepublik – Vielen Dank. – Zugleich erreichen wir europaweit Deutschland hat sich 2005 als allererstes Land auf den Kostensenkungen und eine Vereinfachung der Maut- Weg gemacht und nach vielleicht leichten Anlauf- erhebung. Was wollen wir mehr? schwierigkeiten ein modernes System satellitengestütz- Die EU-Kommission beklagt vielleicht zu Recht, dass ter Mauterhebung implementiert. sich die Branche angesichts der großen technologischen (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Teuren An- wie organisatorischen Herausforderungen noch nicht auf laufschwierigkeiten! 7 Milliarden Euro!) den Weg gemacht hat. Die Kritik der Kommission geht sogar noch weiter mit dem Hinweis auf mangelnde Um- Jetzt haben wir eines der modernsten Mautsysteme. In setzungsbemühungen der Mitgliedstaaten. Ich bin mir si- der Anhörung, die wir am Montag wahrnehmen konnten, cher, dass es zukünftig weder an dem einen noch an dem sind wir vonseiten der EU-Kommission dafür gelobt anderen mangeln oder gar liegen wird, wenn wir diese worden, dass wir – damit sind wir ein Best-Practice-Bei- guten gesetzlichen Voraussetzungen, die wir vorgelegt spiel in Europa – als erste Nation bei der Wegekostenbe- haben, durch den Beschluss des Gesetzentwurfes endlich rechnung die externen Kosten, zum Beispiel entspre- schaffen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5333

Sebastian Hartmann (A) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. verschiedenen Mautsysteme zu harmonisieren. Das ist (C) vorteilhaft für die Logistiker. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Bravo!) Sie können Geld und Zeit sparen. Sie müssen nicht mehr Vizepräsidentin Claudia Roth: mit den unterschiedlichen Systemen hantieren. Das darf Vielen Dank, Herr Kollege. – Schönen guten Abend aber nicht nur in der Theorie schön aussehen. Beweisen von meiner Seite aus Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol- muss es sich in der Praxis. Daher müssen wir jetzt die legen, und Ihnen, liebe Gäste! Voraussetzungen für das Funktionieren eines europäi- Die nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Valerie schen Mautdienstes schaffen. Bisher gibt es noch keinen Wilms für Bündnis 90/Die Grünen. Anbieter, der für den elektronischen Mautdienst ein wirklich kostendeckendes Angebot liefern kann. So weit Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sind wir nämlich noch nicht. Darum muss es jetzt als Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächstes gehen, nachdem wir endlich die notwendigen Liebe Gäste! Es ist ja schön, dass sich dieses Ministe- Voraussetzungen geschaffen haben. rium, in Kurzform Verkehrsministerium genannt, jetzt an Der neue einheitliche Europäische Elektronische so vielen Stellen gleichzeitig um die Maut kümmert. Mautdienst bietet einen echten Mehrwert. Logistiker Herr Kollege Ferlemann, das ist ja wirklich toll! haben damit endlich in einem Europa ohne Grenzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch keine Mautgrenzen mehr. Alles läuft über die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europa-Box. So geht Europa wirklich, Herr Kollege Ferlemann, und nicht mit einer Pickerlsammlung an der Aber eines wundert mich schon sehr: Warum führen Windschutzscheibe. Sie auf der einen Seite eine sinnvolle europäische Maut für Lkw ein – zugegebenermaßen von der EU verordnet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und erstaunlicherweise schon seit zwei Jahren überfällig – und planen auf der anderen Seite genau das Gegenteil So etwas brauchen wir dann endlich auch bei der von offenen Grenzen, nämlich den kleinkarierten Wege- Eisenbahn. Da schaue ich einmal zum Kollegen Burkert. zoll in Form der CSU-Maut für Pkw? Aber dort leisten wir uns immer noch einen wirren Flickenteppich: von Land zu Land verschiedene Signal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Fahrstromsysteme, unterschiedliche Zuglängen, sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf unterschiedliche Betriebsvorschriften und auch noch vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unglaub- (B) stark abweichende Trassenpreise, die Schienenmaut. So (D) lich!) wrackt sich die Schiene leider im europaweiten Wett- bewerb der Logistiker selbst ab. Auch das darf nicht Das passt doch nun wirklich nicht zusammen. mehr sein. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Stark begon- nen und schnell abgefallen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Leider müssen Sie es heute ertragen, Kollege Ferlemann, und nicht Ihr Minister. Ein europaweites Zusammenwachsen beim Mautsys- tem bereitet mir als glühender Verfechterin der vereinig- Diese CSU-Maut bringt nichts und führt am Ende nur ten Staaten von Europa – da möchte ich nämlich wirk- zu Mehrausgaben für den Staat. Die Planungen für Ihren lich hin – richtig Freude. Wegezoll sind der Rückschritt ins kleinststaatliche Mit- telalter. Aber etwas Wasser muss ich doch noch in diesen Eu- ropawein schütten. Wir dürfen auf dem Altar „Europa“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Datenschutz nicht opfern. In Deutschland haben wir Damals musste beim Übertreten jedes noch so kleinen mit Toll Collect ein sinnvolles System. Die zur Abrech- Wegstücks ein Wegezoll an den jeweiligen Grundherrn nung der Maut notwendigen Bewegungsprofile, also die entrichtet werden. Daten, wo ich genau gefahren bin, bleiben auf der On- Board-Unit im Lkw. Die werden nicht an irgendeinen ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zentralrechner weitergeleitet. Da werden keine Bewe- NEN]: Bayern halt!) gungsprofile zentral erfasst. So kann Datenschutz Ich hoffe doch, dass wir inzwischen in einem vereinten gewährleistet werden. Das muss auch das europäische Europa mit offenen Grenzen und freiem Warenverkehr System leisten. Bei dem Mikrowellensystem hätte ich da angekommen sind. so meine Bedenken. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es darf keine Bewegungsprofile auf einem Zentral- NEN]: Nicht die CSU!) rechner der Mautbetreiber geben. Das ist zwar billiger, aber der Nutzer hat nichts mehr in der Hand; denn da Oder ist das im Verkehrsministerium vergessen worden? sind Sie dem Zugriff der Datenkraken von NSA oder Für Lkw-Unternehmen ist es Tagesgeschäft, nicht nur wem auch immer ausgeliefert. Einen gläsernen Fahrer innerhalb Deutschlands, sondern durch ganz Europa zu durch die Hintertür des europäischen Mautsystems fahren. Daher ist es zugegebenermaßen folgerichtig, die möchte ich nicht schaffen, Herr Kollege Ferlemann. 5334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Dr. Valerie Wilms (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Harmonisierung auf den Weg bringt. Sie lässt alle Frei- (C) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) heiten; denn die Nutzung wird nicht vorgeschrieben, aber sie gibt denjenigen Unternehmen, die dieses neue Engagieren Sie sich zukünftig deutlich mehr für das System nutzen wollen, die Möglichkeit, dass dies in den europäische Zusammenwachsen auf Schiene und Straße! Lkw unbürokratisch, einfach und praktikabel gehandelt Da gibt es noch genug zu tun. Und beerdigen Sie endlich werden kann. die Pläne für einen kleinstaatlichen oder – besser gesagt – kleinkarierten Wegezoll à la CSU! Dabei gibt es noch eine schöne Begleiterscheinung. Herzlichen Dank. Denn Deutschland profitiert in der Tat von diesem neuen Europäischen Elektronischen Mautdienst in besonderer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weise, weil zum Beispiel der EEMD bereits bestehende Mautsysteme integriert und die Mehrfachnutzung der Vizepräsidentin Claudia Roth: OBUs den Anbietern eine attraktive Konditionsgestal- Vielen Dank, Frau Kollegin Wilms. – Nächster Red- tung ermöglicht. Dadurch sinken die Kosten für die ner in der Debatte: Oliver Wittke für die CDU/CSU- Mauterhebung. Dadurch wird das ganze System viel Fraktion. wirtschaftsfreundlicher. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Daneben schafft der EEMD europaweiten Wettbe- neten der SPD) werb in der Mauterhebung. So ist der Bund in Zukunft nicht mehr nur von einem nationalen Betreiber abhän- gig. Zeitraubende und risikobehaftete Ausschreibungen Oliver Wittke (CDU/CSU): werden verzichtbar. Das macht den Bund unabhängiger Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- und flexibler sowohl bei der Preisgestaltung als auch bei gen! Ich wäre enttäuscht gewesen, Frau Kollegin Wilms, nachträglichen Änderungen des Systems, zum Beispiel wenn Sie es in einer Debatte über den Europäischen bei der Ausweitung der Maut auf weitere Straßen und Elektronischen Mautdienst nicht geschafft hätten, auch Fahrzeugklassen, wie es die Koalition in dieser Legisla- auf offenbar Ihr Lieblingsthema, nämlich die Pkw-Maut, turperiode ja noch plant. zu sprechen zu kommen. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schließlich wird nicht zuletzt die Einführung des NEN]: Das ist Ihr Lieblingsthema!) EEMD im Hinblick auf die für 2018 geplante Auswei- tung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen in Deutsch- Sie erinnern mich ein ganz klein wenig an unsere land die operationalen Risiken der Implementierung ver- Kinder, bei denen die Aufregung in den nächsten ringern. Inbetriebnahme und Betrieb werden einfacher, (B) Wochen immer weiter steigt, wenn es auf Weihnachten die Gefahr von Mautausfällen sinkt weiter erheblich, (D) zugeht, und die es überhaupt nicht mehr erwarten kön- weil die Risiken auf mehrere Anbieter verteilt werden. nen, bis endlich der Heilige Abend vor der Tür steht. Sie sehen, meine Damen und Herren – da stimme ich (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das wäre Ihnen wieder zu, Frau Wilms –, so macht Europa Spaß: eine schöne Bescherung!) unbürokratisch, unideologisch und praktikabel. Der vor- Ich verspreche Ihnen, Sie werden Ihren Heiligen Abend liegende Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung in diesem Hohen Hause auch noch erleben. beraten, ist eine gute Umsetzung der europäischen Initia- tive in nationales Recht. Darum bitten wir um Ihre Zu- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stimmung zu diesem Gesetzentwurf. NEN]: Das ist jetzt aber eine Drohung!) Herzlichen Dank. Sie werden ein Mautkonzept präsentiert bekommen, das einfach ist, das praktikabel ist und das vor allem Geld in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Kassen bringt, damit wir unsere marode Infrastruktur neten der SPD) in Ordnung bringen können. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom Vizepräsidentin Claudia Roth: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sind sicher, dass Sie mit Ihrer Rede schon fertig sind? Es passiert selten, dass uns über eine Minute ge- Aber nun gerne auch zum Thema. Meine Damen und schenkt wird. Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist häufig so, dass, wenn wir über Europa und über die Institutio- (Oliver Wittke [CDU/CSU]: Nehmen Sie das nen in Europa reden, Überreglementierung, Bürokrati- als vorweihnachtliches Geschenk!) sierung und Detailversessenheit um sich greifen. Viel- – Ich wollte Sie nur darauf hinweisen. fach gibt es die Vorwürfe, dass das, was aus Brüssel kommt, viel zu wenig handelbar ist und uns im täglichen (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Großzü- Lauf der Dinge behindert. Die Umsetzung der Richtlinie gigkeit der Union!) 2004/52/EG mit diesem Gesetzentwurf, den wir heute in Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache in dieser erster Lesung beraten, zeigt genau das Gegenteil. Wir lebhaften Debatte. zeigen, dass Europa auch in der Lage ist, bürgerfreund- lich, wirtschaftsfreundlich und damit effizient zu (Oliver Wittke [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, handeln. Es ist gut, dass die Europäische Union diese ich hole sie mir wieder!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5335

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) – Ja, dann müssen Sie erst einmal gut mit mir verhan- eines Wechsels der Mehrheiten ist dies oft eine logische (C) deln. Folge. Ich sage das alles nur, um klarzustellen, dass dieses Thema alle betrifft oder betreffen kann. Insofern Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- gibt es auch keinen Grund, mit dem Finger auf andere zu wurfs auf Drucksache 18/2656 an die in der Tagesord- zeigen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]) Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Zuletzt haben wir im Januar dieses Jahres, zu Beginn der Legislaturperiode, als die Anträge, über die wir heute Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- debattieren, eingebracht wurden, eine Debatte darüber richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) geführt. Dass wir heute, zu diesem Zeitpunkt, dazu ge- – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, zwungen werden, diese Diskussion wieder zu führen, ist Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weiterer wenig nachvollziehbar, Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschie- NEN]: Wieso das denn? Zehn Monate haben dene Regierungsmitglieder einführen Sie gebraucht, um nichts vorzulegen!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta weil alle wissen – und Sie auch, Frau Kollegin –, dass Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck die Bundesregierung aufgrund der Koalitionsvereinba- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- rung dabei ist – Sie konnten das gestern allenthalben der tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Presse entnehmen –, eine Regelung zu erarbeiten und ei- nen Lösungsvorschlag vorzulegen. Karenzzeit für ausscheidende Regierungs- mitglieder (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das haben Sie gemacht, weil es auf der Tagesordnung Drucksachen 18/285, 18/292, 18/2762 stand! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für GRÜNEN]: Das machen Sie doch nur, damit die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- es anders auf der Tagesordnung steht!) nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – Wissen Sie, wenn das der Fall wäre, dann würde ich Ich bitte Sie, entweder den Saal zu verlassen oder Ihre Ihnen sogar zustimmen. (B) Plätze einzunehmen, damit wir mit der Debatte beginnen (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) können. Ich möchte, dass alle konzentriert sind. NEN]: Wo ist denn der Referentenentwurf?) Erster Redner in der Debatte: Helmut Brandt für die Aber das ist ein zufälliges Ereignis. Ich habe schon vor CDU/CSU-Fraktion. 14 Tagen im Innenausschuss gesagt: Lassen Sie uns den (Beifall bei der CDU/CSU) Tagesordnungspunkt später behandeln, der Regierungs- entwurf steht unmittelbar bevor. Helmut Brandt (CDU/CSU): (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und NEN]: Stimmt aber nicht!) Kollegen! Werte Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Frage nach einer Regelung für Anschlusstätigkeiten aus- Ihr Kollege, Herr Beck, wollte es nicht glauben. geschiedener Regierungsmitglieder ist nicht neu. Sie (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurde auch hier im Bundestag schon mehrfach ausgie- NEN]: Ja, ist ja auch nicht so! Den gibt es ja big erörtert. nicht! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann gibt es Anlässe für eine Diskussion über das Thema Karenz- den denn?) zeit wurden immer gefunden, beispielsweise der jetzt anstehende Wechsel des Kollegen zur Nur aus diesem Grund diskutieren wir heute hier. Deutschen Bahn, der Wechsel des ehemaligen Bundes- ministers für Wirtschaft und Technologie Werner Müller Natürlich ist auch die Tatsache, dass der frühere zur Ruhrkohle AG oder die Tätigkeit des ehemaligen Minister Bahr zur Allianz wechselt, ein Anlass für Sie, Bundeskanzlers Schröder bei Gazprom all das noch einmal zu thematisieren. Ich weise aber auf Folgendes hin: Grundsätzlich besteht, glaube ich, Einig- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Eckart von keit darüber, dass Unternehmen, Verbände und auch Klaeden!) NGOs ihre Wünsche und Forderungen an uns Politiker herantragen und natürlich auch versuchen, Einfluss auf und – um hier die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht unsere Entscheidungen zu nehmen. Das wird von allen auszusparen – beispielhaft der Wechsel des Staatssekre- in Anspruch genommen und auch gewünscht. Vor die- tärs im Landwirtschaftsministerium Matthias Berninger sem Hintergrund kann es deshalb kaum verwundern, zu einem Süßwarenkonzern. dass einige meist selbst ernannte Transparenzwächter Die Liste ließe sich fraktionsübergreifend fortsetzen; feststellen: Da besteht sozusagen ein Anfangsverdacht, insbesondere nach einem Regierungswechsel aufgrund da könnte irgendetwas im Zusammenhang mit der frühe- 5336 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Helmut Brandt (A) ren Tätigkeit stehen. Dass diese unterschwellige Be- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (C) hauptung immer wieder vorgetragen wird, ist im Grunde NIS 90/DIE GRÜNEN]: So schlecht dotiert ist genommen dem Neidkomplex zu verdanken. das nun auch nicht!) ( [Altötting] [CDU/CSU]: So wenn er oder sie damit das Risiko eingeht, später nicht in ist es! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn den früheren Beruf zurückkehren zu können? Das ist [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, um Got- doch eine vollkommen klare Sache. Im Endeffekt führt tes willen, das ist aber unterstes Niveau!) eine überlange, eine unangemessene Karenzzeit dazu, dass kluge Köpfe für uns alle, für die Politik insgesamt Schlimmstenfalls geraten Politiker dann sogar in den verloren gehen. Verdacht, sie hätten Entscheidungen, die sie während ih- rer politischen Tätigkeit getroffen haben oder an denen (Beifall bei der CDU/CSU) sie beteiligt waren, sozusagen im Vorlauf auf ihre spä- Ich meine, wir müssen die Lebenswirklichkeit der tere Tätigkeit bei einem Arbeitgeber getroffen. Politiker betrachten: Wir nehmen von NGOs, wir neh- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- men von Unternehmen, wir nehmen von Verbänden Rat- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So etwas soll schon schläge entgegen. Wir nehmen sie zwar nicht immer an, vorgekommen sein!) aber wir brauchen sie doch oft, um am Ende des Prozes- ses eine sachgerechte und vernünftige Lösung zu finden. – Sehen Sie, das ist genau der Stil: „Es soll vorgekom- Sollte man darauf zukünftig vollkommen verzichten? men sein!“ Sie können nicht einen einzigen Beleg für In Einzelfällen kann es natürlich problematisch sein – eine solche Behauptung vorlegen, aber sie wird aus den das geben wir gerne zu –, insbesondere wenn der Job, eben genannten Gründen dennoch immer wieder hervor- der ergriffen wird, in unmittelbarem Zusammenhang mit geholt. dem Ressort steht, in dem der Politiker tätig war. In ei- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang nem solchen Fall besteht die Gefahr einer Interessenkol- Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lision. Dass dadurch der Anschein erweckt werden kann, NEN]: Bei Rumänen und Bulgaren geht es um dieser Politiker habe sich seine Stelle sozusagen erkauft, zwei, drei Fälle! Aber in dem jetzigen Fall ist liegt auf der Hand. Dass dieser Anschein erweckt wird, es egal, solange es Einzelfälle sind! Das ist wollen wir künftig vermeiden. völlig inkonsistent! – Halina Wawzyniak [DIE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKE]: Kommt jetzt noch etwas Konkretes?) SPD) – Etwas Konkretes hätte ich von Ihnen erwartet. Aber Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die (B) (D) das habe ich noch nicht vorgefunden. Vorlage der Fraktion Die Linke zu sprechen kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Juristisch sau- SPD – Widerspruch bei der LINKEN) ber!) Nein, meine Damen und Herren, die Wahrheit ist – Sie sind immer der Meinung, dass das juristisch sauber doch folgende: Die Tatsache, dass bei solchen Gelegen- ist. Ich kann das allerdings nicht feststellen. – Sie wollen heiten solche Verdächtigungen immer wieder neu geäu- ja die Dauer der Karenzzeit sogar an die Dauer der Mit- ßert werden, führte dazu – und das zu Recht –, dass wir gliedschaft in der Bundesregierung knüpfen. im Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass wir das re- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, wegen dem geln wollen, damit das nicht immer wieder auf die Ta- Übergangsgeld!) gesordnung kommt. Dazu sage ich: Wenn eine Interessenkollision besteht, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das glaube ich dann besteht sie unabhängig davon, ob die Mitglied- nicht!) schaft lang oder weniger lang war. Es macht doch keinen Die Frage ist aber, ob eine starre Karenzzeitregelung Sinn, davon irgendetwas abhängig zu machen. nicht letztlich einem Berufsverbot gleichkommt und ob (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Doch, vom eine Karenzzeit, wie beispielsweise von den Grünen vor- Übergangsgeld!) geschlagen, drei Jahre betragen kann und soll. Ich halte eine solch lange Karenzzeit für unverhältnismäßig. Das Meine Damen und Herren, nach meiner festen Über- würde dazu führen, dass wir keinen Wechsel, auch kei- zeugung brauchen wir Fachleute aus der Wirtschaft in nen gewünschten Wechsel mehr von der Wirtschaft in der Politik. die Politik und umgekehrt hätten. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Es wäre gut, die (Beifall bei der CDU/CSU) CDU hätte ein paar mehr!) Wir wollen, dass dieser Wechsel auch in Zukunft mög- Das wäre im Grunde genommen die Einführung eines lich ist. Berufsverbots durch die Hintertür. So lange Pausen kann sich im Grunde keiner leisten. Ich habe die Frage vorhin Angesichts der immer wiederkehrenden Diskussionen aufgeworfen: Welcher Manager, welche Managerin wäre sind klare Regelungen allerdings besser, als es einer im- zukünftig bereit, in ein ja regelmäßig schlechter dotiertes mer wieder provozierten – das ist heute ja modern – öffentliches Amt zu wechseln, skandalisierenden öffentlichen Diskussion zu überlas- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5337

Helmut Brandt (A) sen. Weil wir differenziert an diese Regelungen herange- dass über eine Interessenkollision das Kabinett per Ein- (C) hen wollen und wollten, haben wir auch nichts über- zelfallbeschluss entscheiden soll. Wie Sie auf die 12 bis stürzt. Deshalb finde ich die Zeitplanung vollkommen 18 Monate kommen, sagen Sie nicht. Ehrlich gesagt, ein angemessen. Der Koalitionsvertrag ist Ende letzten Jah- Kabinettsbeschluss ersetzt keine gesetzliche Regelung. res geschlossen worden. Wir haben jetzt Oktober, und Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. die Regierung hat angekündigt, einen Gesetzentwurf vorzulegen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein, hat die Regierung nicht angekün- Der Vorschlag der Linken liegt auf dem Tisch. Sie digt!) hätten ihn einfach nur in Paragrafen umsetzen müssen. Sie sind doch schon groß; das bekommen Sie doch hin. – Sie lesen doch auch Zeitung, oder nicht? Das müssen wir Ihnen doch jetzt nicht auch noch auf- schreiben. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja! Den haben die beiden Fraktionen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – angekündigt!) Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Sie kön- nen es doch selber nicht!) Ich muss doch zumindest erwarten, dass Sie sich darüber informieren lassen. Das Problem ist, dass durch einen unmittelbaren Wechsel zwischen einem Ministeramt und einem Job in (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Wirtschaft natürlich der Eindruck – ich benutze be- NEN]: War aber die Fraktion!) wusst das Wort „Eindruck“ – einer Interessenverqui- Dann kommen immer noch Fragen auf, die Sie auch ckung entsteht. Es entsteht der Eindruck eines Zusam- nicht in Ihren Anträgen beantworten. Wer stellt letztlich menhangs zwischen Entscheidungen, die als Minister objektiv fest, ob eine Interessenkollision tatsächlich vor- getroffen wurden, und dem neuen Job. Es entsteht auch liegt? Wer entscheidet über die Höhe und Dauer des der Eindruck, dass, nachdem zuvor die Interessen der Übergangsgeldes, das dann auch zwangsläufig zu zahlen Gesamtbevölkerung vertreten werden sollten, jetzt die ist? Einzelinteressen des Unternehmens im Mittelpunkt ste- hen. Ich spreche bewusst von Eindruck; denn schon die- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Deswegen ser Eindruck schadet der Demokratie. unser Vorschlag! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Im Antrag geregelt!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Es ist auch zu überlegen, welche Branchen und Bereiche (D) überhaupt mit einer Karenzzeit zu versehen sind. Ist zum Natürlich sind wir alle uns einig, dass Karenzzeitre- Beispiel der Übergang eines Politikers in eine NGO auch gelungen die Berufsfreiheit einschränken. Das streitet fragwürdig? Sind NGOs und Wohlfahrtsverbände nicht niemand ab. Deswegen müssen Karenzzeitregelungen im Grunde genommen genauso strukturiert und geführt verhältnismäßig sein. Denn unverhältnismäßige Karenz- wie ein Unternehmen? zeitregelungen fördern das Berufspolitikertum, was Sie ja auch nicht unbedingt wollen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau!) Herr Brandt hat gerade gesagt, dass die Linke keinen All diese Fragen müssen doch vernünftig beantwortet vernünftigen Vorschlag vorgelegt habe. werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Hat er nicht gesagt!) Deshalb wollen wir den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung abwarten. Wir wollen ihn kritisch würdigen, da- Ich habe dazwischen gerufen, dass der Vorschlag der ju- rüber diskutieren und dann eine sachgerechte Lösung ristisch sauberste ist. Ich erkläre Ihnen jetzt, warum es finden. Ihre Anträge lehnen wir ab. der juristisch sauberste Vorschlag ist. Wir sagen: Die Ka- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) renzzeit soll sich an der Dauer des Regierungsamtes und dem sich daraus ergebenden Anspruch auf Übergangs- geld und der ressortmäßigen Zuständigkeit orientieren. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. – Nächste Redne- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau das hat er rin in der Debatte: Halina Wawzyniak für die Linke. erzählt!) (Beifall bei der LINKEN) Das ist ganz einfach: War jemand sechs Monate Minis- ter, hat er sechs Monate Anspruch auf Übergangsgeld und muss sechs Monate Karenzzeit einhalten, wenn er in Halina Wawzyniak (DIE LINKE): einen Job wechseln will, der seiner ressortmäßigen Zu- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ständigkeit entspricht. War er es zwölf Monate, gilt dies Herren! Kollege Brandt hat es gerade gesagt: Wir haben für zwölf Monate. Die maximale Regelungszeit sind im Januar das erste Mal über Karenzzeitregelungen ge- nach dem Ministergesetz 24 Monate. Das ist doch nicht sprochen. Kollege Brandt hat offensichtlich nicht mitbe- so schwer zu verstehen. kommen, was in der Zeitung stand. Der Vorschlag der Koalition sieht ja – soweit ich ihn gelesen habe – Ka- Kommen wir zur ressortmäßigen Zuständigkeit. Auch renzzeiten von 12 bis 18 Monaten vor und außerdem, das ist relativ einfach. Ein Landwirtschaftsminister zum 5338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Halina Wawzyniak (A) Beispiel hat naturgemäß relativ viel mit Bauern, mit Kü- Sie wärmen wieder Ihre alten Anträge auf, weil es Ihnen (C) hen und auch mit Pferden zu tun. am Gestaltungswillen fehlt. (Max Straubinger [CDU/CSU]: In Berlin kann (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- man mit so etwas nicht in Berührung kom- NEN]: Nein!) men!) Statt sich an den Beratungen zu beteiligen – die Anträge Ein Landwirtschaftsminister hat aber weniger mit dem wurden mit Ihrer Zustimmung bzw. zum Teil auch auf Flugwesen zu tun, es sei denn, eine Kuh landet im Pro- Ihre Bitte hin im Innenausschuss geschoben –, peller. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- NEN]: Nein! Stimmt nicht!) SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) setzen Sie das Thema hier ein zweites Mal auf, ohne sel- Jetzt ist es so, dass ein Landwirtschaftsminister, wenn er ber auch nur im Entferntesten einen konstruktiven Bei- in das Flugwesen wechselt, das unmittelbar nach dem trag zum Prozess geleistet zu haben, Ausscheiden aus dem Ministeramt machen kann. Denn (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ist ja Unfug!) wir haben ja nichts dagegen, dass sich das Flugwesen entwickelt. geschweige denn, einen eigenen Gesetzentwurf vorzule- gen, wenn es Sie so drängt. (Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Aber auch das würden Sie skandalisieren!) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Herr Özdemir, dass Sie sich dafür her- – Das würden wir nicht skandalisieren. – Wenn der geben!) Landwirtschaftsminister aber unmittelbar nach dem Ausscheiden in einen Job wechseln würde, der mit Bau- Sie gaukeln der Öffentlichkeit Untätigkeit und Unwil- ern, Kühen oder Pferden zu tun hat, dann müsste er eine ligkeit der Regierungsfraktionen vor. Das ist nicht nur entsprechende Karenzzeit einhalten. Das ist so einfach, falsch – – wie ich es Ihnen erklärt habe. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie peinlich für die SPD!) Der Vorschlag der Linken liegt auf dem Tisch. Setzen Sie ihn einfach in Paragrafen um und ersparen Sie sich – Herbert Wehner hat einmal gesagt, Sie sind Geschäfts- selbst die Peinlichkeit, dass wir Ihnen auch das noch führerin und nicht Geschwätzführerin. vorgeben müssen. Das wäre nämlich zu viel des Guten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (B) Sie können Ihre Arbeit auch selbst machen. Die Vorlage (D) haben wir Ihnen geliefert. CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Danke. Sie gaukeln der Öffentlichkeit Untätigkeit und Unwillig- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten keit der Regierungsfraktionen vor. Das ist nicht nur des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) falsch, das ist in höchstem Maße ungebührlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Claudia Roth: der CDU/CSU) Vielen Dank, Frau Kollegin. – Herr Straubinger, viel- Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie uns des leicht laden wir mal unsere Berliner Kollegen zu uns Verrates an unserem eigenen Wahlprogramm bezichtigt nach Bayern ein. Auf dem Bauernhof gibt es noch mehr haben, allein wegen der Tatsache, dass wir die Palette wunderschöne Tiersorten. von Regelungsoptionen öffentlich mit Ihnen diskutieren (Zurufe von der LINKEN) wollten. – Das war jetzt eine Einladung, Halina. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ganz peinlich für die SPD! Sehen Sie Nächster Redner in der Debatte ist Mahmut Özdemir sich die Reden von Oppermann an!) für die SPD. Die Einladung zur fachlichen Debatte haben Sie mit lau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tem Hinweis darauf ausgeschlagen, was alles nicht mög- CDU/CSU) lich sei. Das verüble ich Ihnen auch gar nicht. Schließ- lich ist es eine ziemliche Detailarbeit, an der man nur Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Freude hat, wenn man eine Regelung anstrebt, die nicht alle halbe Jahre für Empörung sorgen soll, sondern für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Entscheidungssicherheit und Rechtssicherheit. Kollegen! Diese erneute Debatte ist mal wieder der un- bestreitbare Beweis: Anträge schreiben sich immer (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, unsere! leichter als vernünftig abgewogene Gesetzentwürfe. Nehmen Sie unsere!) (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Sie hat es Die Entscheidungshoheit über den beabsichtigten doch eben gesagt! – Britta Haßelmann Wechsel in die Wirtschaft von Ministern und Parlamen- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, Mann!) tarischen Staatssekretären durch die Bundesregierung als Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5339

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) Kollegialorgan auf Basis eines Parlamentsgesetzes muss Mit der Einigung auf die nachfolgenden Eckpunkte (C) dabei wichtigste Bedingung und Ausgangspunkt für eine tragen wir dem Koalitionsvertrag, aber auch dem SPD- entsprechend effektive Regelung sein. Wahlprogramm und nicht zuletzt 38 000 Unterschriften, die LobbyControl e. V. gesammelt hat, Rechnung. Wäh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rend Sie sich darin gefallen haben, uns Verschleppung der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE des Prozesses vorzuwerfen, haben wir viele Fachgesprä- LINKE]: Eine Krähe hackt der anderen kein che geführt – ich danke da auch ausdrücklich den Kolle- Auge aus!) ginnen und Kollegen von der CDU/CSU –, die zum Ge- Rechtssicherheit wiederum ist notwendig für denjeni- lingen dieser Regelung beitragen werden. gen, der sich aus einem Regierungsamt heraus oder nach einem Regierungsamt für eine Weiterbeschäftigung in Sobald die Wechselabsicht eines Regierungsmitglieds der Wirtschaft interessiert. Diese beiden Begriffe be- in die Wirtschaft vorliegt, wird eine gesetzliche Anzei- schreiben die Auflösung des Widerstreits zwischen der gepflicht für Mitglieder des Bundeskabinetts und Parla- Vertraulichkeit und Integrität von Regierungshandeln, mentarische Staatssekretäre ausgelöst werden. Dies gilt das durch Interessenkonflikte nicht beschädigt werden auch nach dem Ausscheiden aus dem Regierungsamt, soll, auf der einen Seite und der Rechtfertigung eines vo- sofern man sich innerhalb der Karenzhöchstzeit von bis rübergehend eingeschränkten Berufsverbotes für ein Re- zu 18 Monaten bewegt. Voraussetzung ist, dass ein Inte- gierungsmitglied im Einzelfall auf der anderen Seite. ressenkonflikt attestiert werden kann. Hierbei wird ein Gremium, vergleichbar der Ethikkommission nach EU- Wir wollen kein Berufsverbot nach dem Regierungs- Vorbild, unmittelbar nach der Anzeige durch das betrof- amt gemäß eines verzerrten Selbstgerechtigkeitsbildes, fene Regierungsmitglied dem Kabinett als Kollegial- das in den Oppositionsanträgen teilweise gezeichnet organ einen Entscheidungsvorschlag über das Ob und wird, sondern eine Gesetzesänderung, die nachdrücklich die Dauer der Karenzzeiten machen. den Sinn und Zweck verfolgt, Regierungskenntnisse nicht zu einem wirtschaftlichen Gut herabzuwürdigen. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Dürfen wir da Folglich geht es nicht darum, wie viele Jahre ein wech- auch mitmachen?) selndes oder ausscheidendes Regierungsmitglied nicht Das heißt aber auch, dass es im Ergebnis sein kann, dass arbeiten darf. Diesen Selbstgerechtigkeitswettbewerb gar keine Karenz angeordnet wird. Aber wenn sie ange- unter Oppositionsfraktionen können wir gerne bei un- ordnet wird, soll sie in der Regel 12 Monate betragen wichtigeren Themen austragen. und in besonderen Fällen bis zu 18 Monate umfassen. Zugleich brauchen wir eine Regelung, die zuverlässig (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Na, das und wirksam die Kenntnisse, Erfahrungen und Netz- (B) schafft Rechtssicherheit!) (D) werke, die im Regierungsamt auf Kosten des Steuerzah- lers erworben wurden, schützt. Genauso wenig darf es Sobald Sie mehr fordern, greifen Sie intensiver in die aber auch einem Regierungsmitglied vorübergehend Berufsfreiheit ein und übersehen dabei, dass auch die In- oder gar bis zu 18 Monaten nicht zum Nachteil gerei- tensität des Interessenkonfliktes geeignet sein muss, län- chen, all diese Eigenschaften in den Dienst des Staates gere Zwangspausen hinzunehmen. gestellt zu haben. Wir schmälerten damit die Attraktivi- tät von Regierungsämtern, weil wir nur Expertise ziehen, Bei der Betrachtung dieser Eckpunkte darf das betrof- aber nicht geben würden, auch nicht gönnen würden. fene Regierungsmitglied nicht zum Objekt dieser Ma- Das mag ein Modell sein, wenn man im Oppositionsstil schinerie werden. Auch dieser Akt kann und muss sei- jeden Wechsel von Politik in die Wirtschaft aufgrund ei- nerseits gerichtlich überprüfbar bleiben. Gerade deshalb ner Neiddebatte oder einer reinen Skandalisierung we- ist die Frage nach dem individuellen Interessenkonflikt gen befeuern möchte. Dann gehörte aber auch zur Voll- Dreh- und Angelpunkt für das Ob der Anordnung einer ständigkeit, über einen Parlamentarischen Staatssekretär Karenz. Beginnt der Interessenkonflikt schon alleine mit a. D. Herrn Berninger zu reden. Liebe Grünen-Fraktion, der Tatsache, dass ein Regierungsmitglied Regierungs- das wollte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben. mitglied gewesen ist, oder setzen wir eine konkrete Be- fassung im Regierungsamt mit einem nahezu gleichen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Verantwortungs- und Interessenbereich in der Wirtschaft Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- voraus? NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei dem waren aber auch mehrere Jahre dazwischen!) (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das war das mit den Kühen und den Pferden! Das hat sie Ich werfe Ihnen das aber auch gar nicht vor; denn Sie gesagt!) tun im Ansatz, auch wenn Sie weit über das Ziel hinaus- schießen, geradewegs das Richtige. Sie beleuchten jeden Mit dem bald vorliegenden Gesetzentwurf, der vom Einzelfall in seinen Details. Genau das wollen wir mit Bundesministerium des Innern erarbeitet wird, werden unseren Eckpunkten auch. Im Übrigen könnte man auf- wir zwar mediale Skandalisierung kaum unterbinden grund des Kabinettsprinzips bei Böswilligkeit eine Inte- können, jedoch werden wir Interessenkonflikte frühzei- ressenverflechtung immer dann annehmen, wenn man tig erkennen und mit einer zeitlichen und sachlichen Ka- eben gerade nicht den Einzelfall bewertet. renz belegen. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gibt es denn Ein Hinweis ist mir aber noch wichtig: So wie es ar- nun ein Gesetz?) beitsrechtliche Wettbewerbsverbote in der Privatwirt- 5340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) schaft gibt, so ist es auch mit Karenzzeitregelungen für Grüne und Linke haben von dem in unserer Geschäfts- (C) Regierungsmitglieder. ordnung enthaltenen Recht Gebrauch gemacht – Sie könnten sich als Abgeordneter auch ein bisschen mit der (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, nach Geschäftsordnung befassen –, einen Antrag auf die Ta- unserem Vorschlag!) gesordnung zu setzen, den Sie seit zehn Monaten ver- – Da bin ich ganz bei Ihnen. Nicht aufregen! – Im Zwei- schleppen. Seit zehn Monaten weigert sich die Große fel wird der Anspruch auf Übergangsgeld verlängert. Ich Koalition, über die beiden Anträge von Grünen und Lin- bin von der Richtigkeit dessen überzeugt, dass der Staat ken zu diskutieren. Nach § 62 der Geschäftsordnung ha- den Bezug des Übergangsgeldes gegebenenfalls verlän- ben wir das Recht, die Befassung heute im Parlament auf gern muss. Aber das Übergangsgeld darf nicht das Argu- die Tagesordnung zu setzen. ment sein, weshalb eine Karenz angeordnet werden darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das würde Ursache und Wirkung verkehren. Dann und bei der LINKEN – Max Straubinger könnte man tatsächlich über Karenzzeiten von drei bis [CDU/CSU]: Dieses Recht hat Ihnen aber nie- fünf Jahren reden, würde aber gleichsam in eine Nieder- mand abgesprochen!) lage vor dem Bundesverfassungsgericht rennen. So ist das. Jetzt lassen Sie die Kirche im Dorf, und berei- Zusammengefasst: Diese Eckpunkte sind eine fun- ten Sie sich lieber vor, wenn Sie hier reden und der Öf- dierte Basis für eine wirksame Regelung. Wir halten fentlichkeit etwas erzählen! Wort, wo Sie nur Reden halten. Der Bundestag hat es in der Hand, durch diese Gesetzesänderung ein Stück mehr Zweiter Fakt. Im Januar haben wir das Thema Ka- parlamentarische Kontrolle auszuüben und die Aus- renzzeit diskutiert, weil Pofalla zur Bahn wechseln übung dieser Kontrolle an die Regierung zu delegieren. wollte. Darüber waren alle ganz empört. Als die Fraktio- nen von Union und SPD noch eine Selbstverpflichtung Ich bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksam- einführen wollten, musste ein Tag später das Kabinett keit, freue mich auf eine sehr emotionale Debatte, die diese Auffassung revidieren und feststellen: Nein, mit wir dann hoffentlich in Sachlichkeit überführen werden, der Selbstverpflichtung geht es nicht; es geht nur durch und schließe mit meinem traditionellen Glückauf. ein Gesetz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Seit Januar warten wir auf die Vorlage eines Gesetz- entwurfs. Unsere Anträge kamen in die Ausschüsse. Im Vizepräsidentin Claudia Roth: März folgte der nächste Fall: Niebel, FDP, ging zur Rüs- Werter Herr Kollege Özdemir, Sie haben Herrn tungsindustrie. (B) Wehner zitiert; Sie sind aber nicht Herr Wehner. Den Be- (D) griff „Geschwätzführerin“ aus Ihrem vornehmen Munde (Zuruf von der SPD: Wer ist das noch mal? halte ich in einer lebendigen Kontroverse für wenig an- Den kenne ich gar nicht!) gemessen. Er war vorher Mitglied im Bundessicherheitsrat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dann gab es wieder große Betroffenheit, insbeson- dere bei der SPD: Wir brauchen eine gesetzliche Karenz- Die nächste Rednerin in der Debatte ist Britta zeit. – Danach passierte wieder nichts. Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen. Im Juni haben wir nachgefragt: Wie weit ist der Ge- (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Sie kann sich setzentwurf? Keine Antwort. Wir sind in der konzeptio- jetzt ja revanchieren!) nellen Erarbeitung, hieß es.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist auch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und eine Antwort!) Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri- Inzwischen wussten wir, dass zwischen der SPD und der bünen! Dieser Begriff macht mir nichts aus. Herr Union über das Thema Krach bestand Özdemir, Ihnen täte es ganz gut, sich die Reden von Herrn Oppermann zu diesem Thema einmal anzusehen. ( [SPD]: Da sind Sie aber Ihre Rede bestärkt mich nur darin: Wenn in diesem Par- falsch informiert!) lament eine Fraktion den Schalter umgelegt hat, dann ist und das Justiz- und das Innenministerium unterschiedli- es die SPD-Fraktion. Was hat Ihr Vorsitzender in Sachen cher Auffassung waren. Karenzzeit nicht alles vertreten und an gesetzlichen Re- gelungen gefordert, als er noch Oppositionsführer war. Im Juli haben wir, Grüne und Linke, im Innenaus- Ich dachte, Sie hätten sich heute auf Ihre Rede vorberei- schuss eine Debatte erzwungen. Vertagung wegen Bera- tet und diese Reden gelesen. Aber das kann man an- tungsbedarf der beiden großen Fraktionen. scheinend nicht erwarten. Im September haben wir wieder eine Debatte im In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nenausschuss erzwungen. Wieder Beratungsbedarf der und bei der LINKEN) beiden Fraktionen, weil man sich nicht einigen konnte. Jetzt zu den Fakten. Auch da lagen Sie falsch, Herr (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das ist ja un- Özdemir: Wir wärmen nicht alte Anträge auf, sondern glaublich!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5341

Britta Haßelmann (A) Vorgestern haben die beiden Fraktionen – es war nicht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: (C) die Regierung, Herr Brandt – erklärt, dass sie doch die Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Absicht haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen. regierung eingebrachten Entwurfs eines Zwölf- Meine Damen und Herren, verschlafen Sie doch ein ten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Im- solches Thema nicht! missionsschutzgesetzes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksachen 18/2442, 18/2709 und bei der LINKEN) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Eine gesetzliche Karenzzeit ist überfällig, und zwar aus schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Re- mehreren inhaltlichen Gründen: Sie schützt am Ende die aktorsicherheit (16. Ausschuss) Abgeordneten. Sie schützt Regierungsmitglieder, wenn Drucksache 18/2776 es eine klare gesetzliche Regelung gibt. Und sie schützt die Privatwirtschaft, in die man wechselt. Sie aber stehen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für bei diesem Thema auf der Bremse. die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Weil es aber so viele Wechsel gibt, die immer wieder öffentlich thematisiert werden, kommen Sie unter Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamen- Druck. Das ist der Punkt. Der öffentliche Druck hat be- tarischen Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter das wirkt, dass man vor zwei Tagen erklärt hat: Wir machen Wort. jetzt bald ein Gesetz. – Die Frage ist nur: Dauert es noch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) drei Monate oder fünf Monate, oder müssen wir erst auf den nächsten spektakulären Wechsel warten? Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin Ich bin gespannt. Im Europaparlament gibt es bereits bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau eine gesetzliche Karenzzeit. Für Bundesbeamte gilt sie und Reaktorsicherheit: längst. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir sind aber Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung keine Beamten!) hat sich ambitionierte Klimaschutzziele gesetzt. Auch im Verkehrssektor stellen wir mit der Umstellung der Wir würden damit bei einem Wechsel aus einem Regie- Biokraftstoffquote auf eine technologieoffen ausgestal- rungsamt in eine Berufstätigkeit für alle betroffenen Per- tete Treibhausgasquote die Weichen für eine nachhaltige sonen Klarheit schaffen. Das hätten wir dann klar ge- (B) Energieversorgung und für den Klimaschutz. Wir setzen (D) setzlich geregelt. Ich glaube, das wäre im Interesse aller. für die Märkte die richtigen Anreize, um auch künftig Vielen Dank. eine nachhaltige Technologieentwicklung zu gewährleis- ten. Gleichzeitig setzen wir aber auch die richtigen Rah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN menbedingungen, um die Nachhaltigkeit der Biokraft- und bei der LINKEN) stoffe sicherzustellen. Negative Auswirkungen wie Flächennutzungskonkurrenzen wollen wir vermeiden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Hierzu gehören sowohl die Regelungen der Biokraft- Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Damit stoff-Nachhaltigkeitsverordnung als auch die künftigen schließe ich die Aussprache. Regelungen zu indirekten Landnutzungsänderungen, über die wir beim Energierat im Juni eine politische Ei- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- nigung erzielen konnten. Das Bundeskabinett hat den fehlung des Innenausschusses auf Drucksache 18/2762. vorliegenden Gesetzentwurf verabschiedet, um einen Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- reibungslosen Umstieg auf die neuen Modalitäten zu er- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- möglichen. tion Die Linke auf Drucksache 18/285 mit dem Titel „Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungs- Biokraftstoffe tragen zum Klimaschutz und zur Ver- mitglieder einführen“. Wer stimmt für diese Beschluss- sorgungssicherheit bei. Der Ausbau muss jedoch mit empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Blick auf die Nachhaltigkeit mit Augenmaß erfolgen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustim- Bereits im Jahr 2009 hat der Deutsche Bundestag die mung von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Grundlagen für die Umstellung auf die Treibhausgas- den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. quote geschaffen und den 1. Januar 2015 als Datum für die Umstellung festgelegt. Nach der Umstellung werden Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- auch die Treibhausgasemissionen berücksichtigt, die bei lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- der Herstellung der Biokraftstoffe vom Acker bis zum nen auf Drucksache 18/292 mit dem Titel „Karenzzeit Tank entstehen. Dadurch wird für Biokraftstoffe mit ei- für ausscheidende Regierungsmitglieder“. Wer stimmt für ner günstigeren Klimabilanz wie beispielweise Biokraft- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – stoffe aus Abfällen und Reststoffen eine klare Perspek- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange- tive für die Zeit nach dem Jahr 2015 gegeben, indem sie nommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD ge- ab dann höher auf die Quote angerechnet werden. Die gen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Ent- Quotenhöhe für die ersten beiden Jahre nach der Umstel- haltung der Linken. lung in Höhe von 3,5 Prozent orientiert sich an der Höhe 5342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter (A) der bislang geltenden energetischen Quote. Die geplan- weichen. Der Hunger wächst. Wo sind Ihre Konzepte, (C) ten weiteren Erhöhungen der Quote ab 2017 auf 4 Pro- und wo ist Ihre Evaluierung, damit das in Zukunft nicht zent sowie ab 2020 auf 6 Prozent laufen parallel mit ei- so weitergeht? Ich finde dazu nichts. ner Öffnung der Quote zur Anrechnung zusätzlicher (Beifall bei der LINKEN) Erfüllungsmöglichkeiten. Entsprechende Vorgaben wer- den derzeit in Brüssel diskutiert. Nach wie vor träumen Sie von der Union und der SPD davon, dass Zertifizierung die Urwaldabholzung Ein wesentlicher Baustein einer nachhaltigen Ener- verhindert. Wir wissen doch längst, dass heute gieversorgung im Verkehr ist der schrittweise Umstieg Palmölplantagen dort stehen, wo früher Reisfelder wa- vom Verbrennungsmotor auf die Elektromobilität. Daher ren. Und Reis wächst jetzt dort, wo früher Urwald war. wollen wir künftig auch Strom aus erneuerbaren Ener- Ihre Zertifizierung bringt nichts. Sehen Sie das doch ein! giequellen, der in Elektrofahrzeugen genutzt wird, auf In Ihrem Entwurf sehe ich davon nichts. Auch an dieser die Biokraftstoffquote anrechnen. Hinzu kommen Maß- Stelle haben Sie wieder einmal geschlafen. nahmen zum Klimaschutz, die bei der Gewinnung von Öl ansetzen. Hierbei entstehen derzeit noch erhebliche Was ist jetzt neu in Ihrem Entwurf? Es wurde gerade Emissionen durch Abfackeln von nicht genutztem Gas angesprochen, dass die Berechnung umgestellt wird. Da- an den Ölförderstätten. Nachgewiesene Emissionsmin- mit könnte man leben. Weiter haben Sie von den neuen derungen sollen künftig auch zur Anrechnung auf die Treibhausgasminderungszielen gesprochen. Die sind Quote zugelassen werden. aber niedriger als vorher. Ich weiß nicht, worin der Fort- schritt bestehen soll, wenn man von 7 Prozent bei der Das Ziel von 6 Prozent ab dem Jahr 2020 ist eine ver- Zielstellung in Bezug auf die Minderung auf 6 Prozent bindliche Vorgabe der EU und stellt aus heutiger Sicht geht. Das kann ich nicht verstehen. gleichzeitig eine große Herausforderung für die Quoten- verpflichteten dar. Um die Erreichbarkeit des Ziels und Außerdem wird noch das Angebot unterbreitet, dass die damit verbundenen Effekte sicherzustellen, haben zukünftig Ökostrom, der für E-Fahrzeuge bestimmt ist, wir vereinbart, dass wir nach der Umstellung der Quote auf die Minderungsquote angerechnet werden kann. eine Evaluation vornehmen. Das halten wir für beson- Wenn das geschieht, ist der Klimaeffekt weg. Sie haben ders wichtig. ihn dann vernichtet. An dieser Stelle haben Sie also ge- pennt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Lassen Sie mich schließen mit dem wichtigen Hin- Ganz interessant wird es bei dem letzten Änderungs- antrag der Koalitionsfraktionen. Der hat es echt in sich; (B) weis, dass die Umstellung der Quote neben der Förde- (D) rung von Biokraftstoffen mit besonders guter CO2-Bi- denn es können jetzt an Dritte Quoten delegiert werden. lanz den Weg für weitere Maßnahmen zum Klima- und Die Auswirkung dieser Delegierung ist, dass nur noch Ressourcenschutz im Verkehrssektor freimacht. Gerade mit Durchschnittswerten für Biosprit gerechnet wird. die Anrechnung von Strom aus erneuerbaren Energie- Wenn also Bioethanol aus Thüringer Weizen hergestellt quellen hat riesiges Potenzial und eröffnet große Chan- wird, hat er zukünftig, wenn er über Dritthändler gelie- cen. fert wird, den gleichen Wert wie der Biosprit aus Wei- zen, der in den USA – unter ganz anderen Bedingungen Danke schön. und mit einer ganz anderen Bilanz – angebaut wird. Das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) haben Sie in Ihren Gesetzentwurf geschrieben. Wo sehen Sie da einen Fortschritt? Ich kann ihn nicht erkennen. Sie schädigen den Klimaschutz. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der (Beifall bei der LINKEN) Debatte ist Ralph Lenkert für die Linke. Dieses Gesetz ist noch nicht einmal verabschiedet, da (Beifall bei der LINKEN) plant die EU eine Neuregelung, die dazu führen wird, dass das um 25 Prozent höher mit CO2-Ausstoß belastete Ralph Lenkert (DIE LINKE): Öl aus Teersanden in Kanada zukünftig problemlos mit den Standardwerten in die Quoten eingerechnet werden Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen kann. Wie funktioniert das? Die EU sagt jetzt, dass die und Kollegen! Mit Ihrem Zwölften Gesetz zur Änderung Herkunft eines Öles Betriebsgeheimnis ist, das nicht des Bundes-Immissionsschutzgesetzes versuchen Sie weitergegeben werden darf. Wenn ich nicht weiß, woher wieder einmal, den Klimaschutz – hauptsächlich im es kommt: Woher soll ich wissen, welcher CO -Ausstoß Biospritbereich – besser zu regeln. Aber schon 2010 bei 2 damit verbunden ist? der Einführung des E10-Sprits haben wir Sie gewarnt. Damals habe ich ausgeführt, dass die Ackerflächen in Warum geschieht dies? Die EU plant das, weil sie der EU nicht reichen werden, um Lebensmittelanbau, Angst hat, dass Kanada sonst das CETA-Abkommen Versorgung der Industrie mit Rohstoffen sowie Energie- nicht unterschreibt. Die EU ist sogar vorausschauend; erzeugung durch Biomasse sicherzustellen. Wir haben denn wenn CETA unterschrieben und ratifiziert ist, damals gewarnt, dass es Importe geben wird, die dafür könnten kanadische Ölkonzerne – die haben darin sorgen werden, dass in Entwicklungsländern Reisfelder Übung – die EU wegen Wettbewerbsverzerrung verkla- und Kartoffelfelder Palmöl- und Zuckerrohrplantagen gen. Hier wirkt sich das Freihandelsabkommen schäd- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5343

Ralph Lenkert (A) lich für die Umwelt bzw. die Menschen aus, noch bevor auf eine Treibhausgasquote umstellen. Damit soll künf- (C) es überhaupt in Kraft gesetzt wurde. Deswegen ist auch tig die erzielte Einsparung von Emissionen, also die bes- dieses Abkommen abzulehnen. sere Klimabilanz, die entscheidende Größe sein. Das neue Bundes-Immissionsschutzgesetz setzt dies so um. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) Ihr Zwölftes Gesetz zur Änderung des Bundes-Im- Dem Wunsch des Bundesrats zur Berichtspflicht missionsschutzgesetzes und Ihr Änderungsantrag scha- kommen wir nach, indem wir sie unbürokratisch und den dem Klima, zementieren Hunger in der Dritten Welt transparent an die Berichtspflicht der Nachhaltigkeits- und vernichten Urwälder. Die Linke fordert stattdessen verordnung koppeln. Im Übrigen sind diese Daten für je- eine absolute Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes dermann im Internet auf der Seite des Bundesfinanz- im Fahrzeug- bzw. Treibstoffbereich. Das ist relativ ein- ministeriums einsehbar. fach. Führen Sie eine Verkehrsverlagerung auf die Schiene durch, unterstützen Sie den öffentlichen Perso- (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das von we- nenverkehr, und reduzieren Sie die Transportmengen. gen Transparenz!) Damit helfen Sie dem Klima. Das ist eine sozial-ökolo- Wir sind uns sicher, dass die nach langer Diskussion gische Politik. Die wäre gut. Folgen Sie diesem Vor- festgelegten Quoten und deren schrittweise Erhöhung zu schlag. keinen Marktverwerfungen führen werden. Insbesondere (Beifall bei der LINKEN) die Überprüfung nach der zweiten Erhöhungsstufe – die Evaluation, die eben schon angesprochen wurde – er- laubt es uns, gegebenenfalls nachzusteuern, wenn dort Vizepräsidentin Claudia Roth: eine Entwicklung eintritt, die wir nicht wollen. Vielen Dank, Herr Kollege Lenkert. – Nächster Red- ner in der Debatte ist der Kollege Karsten Möring für die Innerhalb der Treibhausgasquote werden die Bio- CDU/CSU-Fraktion. kraftstoffe, die eine günstigere Klimabilanz aufweisen, höher angerechnet als Biokraftstoffe mit einer ungünsti- (Beifall bei der CDU/CSU) geren Bilanz. Somit werden Anreize zur Nutzung nach- haltiger und klimaschonender Kraftstoffe der zweiten Karsten Möring (CDU/CSU): Generation gesetzt. Dies trägt wesentlich zum Klima- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schutz bei. Biokraftstoffe gelten nämlich nur dann als Wenn ich mir das so anhöre, was der Kollege Lenkert nachhaltig hergestellt, wenn sie unter Einbeziehung der hier eben von sich gegeben hat, gesamten Herstellungs- und Lieferkette eine bestimmte (B) Mindestmenge an Treibhausgasen gegenüber fossilen (D) (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Da war sehr Brennstoffen einsparen, und außerdem auch dann, wenn viel Kluges dabei! – Thomas Lutze [DIE beim Anbau von Pflanzen für die Biokraftstoffherstel- LINKE]: Tatsachen!) lung keine Flächen mit hohem Kohlenstoffbestand oder dann kann ich schlichtweg feststellen: Er hat das Gesetz Flächen mit hohem Naturschutzwert zerstört werden. nicht verstanden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nur die Biokraftstoffe, die diese Bedingungen erfüllen, neten der SPD) können auf die Treibhausgasquote angerechnet werden. Soweit er es verstanden hat, weicht er auf Verschwö- Das ist das Entscheidende dabei. rungstheorien aus. Das ist natürlich immer das Ein- Wir teilen im Übrigen mit dem Bundesrat auch die fachste. Auffassung, dass wir wirksame Kontrollen als wichtiges Was hat denn die Mineralölversorgung mit der THG- Element brauchen. Unser Nachhaltigkeitssystem inklu- Quote für die Beimischung von Biokraftstoffen zu tun? sive EU-anerkannter Zertifizierungssysteme ist ausrei- Nichts. Vor allen Dingen: Da Sie sagen, es sei nicht gut, chend flexibel, um auch bei einer Treibhausgasquote die was wir hier machen, frage ich Sie: Ist das besser, was Nachhaltigkeitskontrollen der Biokraftstoffe zu sichern. wir hatten? Substanzielle Änderungen an diesem System wären eu- roparechtlich problematisch. Die bestehenden Sank- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf fördern wir tionsmöglichkeiten der EU-Kommission zur Nichtan- Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz im Verkehrssek- rechnung bei einem Missbrauch der Zertifizierung tor. Das bedeutet, Mobilität sicherzustellen, ohne unsere wirken abschreckend genug. Dann wird nämlich die natürlichen Lebensgrundlagen zu gefährden. Biokraft- Charge nicht anerkannt, und dann entsteht für denjeni- stoffe sind dabei ein wichtiger Baustein. Indem wir sie gen, der das probiert, ein nicht unerheblicher wirtschaft- verwenden, verringern wir übrigens auch unsere Abhän- licher Schaden. Das macht er einmal und nie wieder. gigkeit von dem immer knapper werdenden Erdöl. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In diesem Sinne verlangt das Gesetz seit 2007 von Unternehmen, die Kraftstoffe in Verkehr bringen, die Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter hat schon Beimischung von Biokraftstoffen in einer bestimmten darauf hingewiesen, dass wir eine technologieoffene Re- energetischen Quote. 2009 hat der Bundestag beschlos- gelung treffen. Wir haben zwar im Moment eine Ein- sen, dass wir dieses Abkommen ab kommendem Jahr schränkung, aber Kraftstoffe wie Wasserstoff, Power to 5344 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Karsten Möring (A) Gas oder Power to Liquid, die mit Strom aus erneuerba- genau hier springt Ihr heute vorgelegter Gesetzentwurf (C) ren Energien produziert werden und bisher nicht auf die leider immer noch zu kurz. Biosprit, insbesondere der Treibhausgasquote angerechnet werden, können mittel- der ersten Generation, wird nämlich trotzdem im Rah- bis langfristig durchaus einen nennenswerten Beitrag men der Treibhausgasquote mit null bilanziert. Auch bei leisten. Die EU-Kommission arbeitet schon an Vor- dieser Novelle ist es nämlich möglicherweise bewusst schriften dazu, die wir später einbeziehen können. versäumt worden, die sogenannten ILUC-Faktoren, Indi- rect Land Use Change – Kollege Lenkert hat es gerade (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) implizit mit eingebracht –, bei der Treibhausgasbilanzie- Das Gesetz sieht eine Verordnungsermächtigung vor, mit rung von Biokraftstoffen zu berücksichtigen. Das ist lei- der das zeitnah und praktisch geregelt werden kann. der nicht geschehen. Ich begrüße auch, dass diese Rechtsverordnung eine Werden indirekte Effekte, angefangen bei der Land- flexible Regelung von Ausnahmen vom Ausschluss tie- vertreibung bis zum Anbau von Reis auf ehemaligen rischer Fette und Öle vorsieht, sofern sie, wie es so Waldflächen, in die Bilanzierung mit einbezogen, leistet schön heißt, dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Re- Agrosprit der ersten Generation kaum einen Beitrag zur gelung nicht entgegenstehen. Damit wird die Handha- Verbesserung der Klimabilanz. bung praktikabler, ohne dass wir befürchten müssen, dass jetzt tierische Fette in einem nennenswerten Um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fang eingesetzt werden; denn das wollen wir gerade sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nicht. Nach Berechnungen der Europäischen Kommission aus Diese Rechtsverordnung, liebe Kolleginnen und Kol- 2012 – das ist ja noch nicht so lange her – kann Ethanol legen, haben wir aus gutem Grund in unserem Ände- aus nachwachsenden Rohstoffen immerhin zu etwa rungsantrag mit einem Parlamentsvorbehalt versehen: 50 Prozent Treibhausgaseinsparungen führen. Biodiesel Innerhalb von vier Wochen kann sich danach der Bun- dagegen, egal ob aus Rapsöl oder dem oftmals verteufel- destag mit den von der Bundesregierung beabsichtigten ten Palmöl, kommt bei der Treibhausgasbilanz insge- Regelungen befassen. Das stärkt die umweltpolitische samt schlechter weg, als wenn man fossile Rohstoffe Verantwortung des Parlaments. verbrennt. Das beruht auf Zahlen, die die OECD vorge- legt hat. Es war kein einfacher Findungsprozess; aber nach vielen Gesprächen bin ich sicher, dass wir ein gutes Ge- Diese verheerende Bilanz bei der Beimischung zum samtpaket geschnürt haben. Vielen Dank an die Kollegin Kraftstoff weiterhin zu akzeptieren, ist ein schwerer Ge- Ulli Nissen von der SPD für die gute Zusammenarbeit! burtsfehler dieser Novelle. (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Im Änderungsantrag der Koalition verweisen Sie zwar Ich hoffe, dass die Grünen ihre kleinen Vorbehalte, die auf anerkannte Zertifizierungssysteme. Diese beziehen sie in den Ausschussberatungen zu einzelnen Punkten Sie aber nur auf die Herstellungskette und leider nicht haben erkennen lassen, zurückstellen und im Interesse auf die ILUC-Einberechnung. Ich fordere daher die Bun- des Klimaschutzes diesem Gesetzentwurf vielleicht doch desregierung dringend auf, das Ganze in kurzer Zeit wei- noch zustimmen. terzuentwickeln und die ILUC-Faktoren in die Treib- hausgasbilanzierung der Biokraftstoffe verbindlich Ich danke Ihnen. einzubeziehen. Das ist die Grundlage für eine ehrliche (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Treibhausgasbilanzierung. Wie kann also die auch von uns Grünen erwünschte Vizepräsidentin Claudia Roth: Treibhausgasminderung im Mobilitätssektor gelingen? Vielen Dank, Herr Kollege Möring. – Darauf kann Eine THG-Minderungsquote kann dabei nur ein kleiner jetzt gleich Peter Meiwald von Bündnis 90/Die Grünen Baustein sein. Es geht erst einmal darum, Nutzungskon- antworten. kurrenzen zu vermeiden; denn diese führen ja neben der Verschlechterung der Treibhausgasbilanz auch zu anstei- Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): genden Nahrungsmittelpreisen. Die OECD geht für 2017 Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen von einer Bandbreite von 6 bis 15 Prozent aus. Die Aus- und Kollegen! Wer kann etwas gegen die Umstellung wirkungen von Landvertreibungen haben wir erst im der Biokraftstoffquote auf Treibhausgasemissionen ha- Sommer auf einer Ausschussreise nach Kolumbien wie- ben? Niemand. Aber man muss nicht glauben, dass hier- der miterleben müssen. Auch die Gefahren für die Biodi- durch Klimaschutz im Verkehr tatsächlich verwirklicht versität sind natürlich nicht zu leugnen: Sumatra-Tiger, wird. Dazu, wie man Klimaschutz im Verkehr umsetzen Sumatra-Nashörner und Orang-Utans sind vom Ausster- kann, sage ich nachher noch etwas. ben mittlerweile massiv bedroht. Durch eine Bemessung anhand der Treibhausgasef- Also müssen wir uns bei der Nutzung von Biomasse fekte sollen zukünftig Anreize zur Dekarbonisierung auf die Kaskadennutzung konzentrieren. Dazu haben wir fossiler Kraftstoffe und ein echter Beitrag zum Klima- hier deutlich zu wenig Anreize. Wir müssen Biomasse schutz geleistet werden. Das haben wir gerade vom Kol- nämlich zunächst stofflich nutzen, bevor wir sie dann in legen Möring noch einmal gut erklärt bekommen. Doch einem zweiten oder dritten Schritt in die energetische Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. 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Peter Meiwald (A) Nutzung über abfall- und reststoffbasierten Biosprit in Wenn es um Biokraftstoffe geht, kommt von Kriti- (C) die Mobilitätskette einspeisen. Dazu gibt es in dem vor- kern immer das Stichwort „Palmöl“; das wurde auch liegenden Gesetzentwurf leichte Anreize. Deswegen heute Abend wieder deutlich. Dies höre ich aber selten, werden wir ihn auch nicht komplett ablehnen. Aber das, wenn es um Kosmetika oder Nahrungsmittel geht. In was geregelt wird, ist deutlich zu wenig. diese Produkte gehen aber 95 Prozent des weltweiten Palmölverbrauchs. Ich möchte nicht wissen, wie viele Frau Schwarzelühr-Sutter – Frau Ministerin Hendricks Produkte Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist nicht da –, machen Sie sich doch ehrlich. Sorgen Sie auch Sie, Herr Lenkert und Herr Meiwald, heute schon dafür, dass eine ehrliche Bilanzierung der Treibhausgas- verwandt haben, die Palmöl enthalten. Das wäre wirk- effekte den Biospritproduzentinnen und -produzenten lich spannend. der zweiten Generation eine reale Marktchance gibt und dass Umwelt- und Sozialstandards zukünftig eingehalten (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Ich nehme werden. Hören wir endlich auf, Essen in Motoren von keine Creme!) Autos zu verbrennen, und steigen endlich in eine Mobili- tätswende ein, die ihren Namen auch verdient. Nur 5 Prozent des weltweiten Verbrauchs gehen in die energetische Nutzung. Für mich ist es wichtig, dass diese Biosprit wird in diesem Zusammenhang, auch auf- zertifiziert sind und nachhaltig produziert werden – dies grund der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Rest- ganz im Gegensatz zu der sonstigen Verwendung. und Abfallstoffmengen – das haben wir schon an ver- schiedenen Stellen gehört –, nur eine kleine Rolle beim (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Klimaschutz im Verkehrsbereich spielen können, viel- leicht im Flugverkehr, wo flüssige Kraftstoffe nur sehr Bei Biokraftstoffen geht es vor allem um die zweite schwer zu substituieren sind. Generation. Das sind Kraftstoffe, die aus Abfall- und Reststoffen wie Stroh oder Speisefett produziert werden. Für den Landverkehr brauchen wir stattdessen end- Es gibt ein schönes Beispiel aus Wien. Dort verteilt die lich ein Tempolimit – das bringt sehr viel mehr für den Stadt an Privathaushalte für Altspeiseöle Sammelkübel, Klimaschutz als Biosprit –, einen deutlichen Einstieg in den sogenannten WÖLI. Ich bin sicher nicht die Einzige, die Elektromobilität, vernetzte Angebote aus Bahn, Bus, die nicht weiß, wohin zum Beispiel mit dem Öl aus ei- Fahrrad und Carsharing. Daran können wir gemeinsam nem Glas wunderbar eingelegter sonnengetrockneter To- arbeiten. Dann stimmen wir auch gern wieder Gesetzent- maten. In Wien werden jährlich mehr als 320 000 Kilo- würfen zu. gramm an Altspeiseölen abgegeben. Daraus wird in etwa Vielen Dank. die gleiche Menge Biodiesel produziert. Für die gleiche Menge an Diesel aus Rapsöl wäre eine Fläche von knapp (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1 000 Hektar notwendig. Vielleicht ist das Wiener Mo- (D) dell auch eins für Deutschland. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, müssen wir Vielen Dank, Herr Kollege Meiwald. – Nächste Red- uns in allen Bereichen anstrengen. Dazu gehört es, natio- nerin in der Debatte: Kollegin Ulli Nissen. nal seine Hausaufgaben zu machen; aber es gehört auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dazu, international dabei zu sein. Gerade fand der Kli- der CDU/CSU) magipfel in New York statt. Dort waren 125 Staats- und Regierungschefs. Es war das hochrangigste internatio- Ulli Nissen (SPD): nale Treffen zum Klimawandel seit dem Klimagipfel Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und von Kopenhagen 2009. Frau Merkel war nicht anwe- Kollegen! Wir stellen die Berechnung der Förderung der send. Sie zog es vor, beim BDI zum Tag der Deutschen Biokraftstoffe auf die Treibhausgasquote um. Das ist Industrie die Eröffnungsrede zu halten. Zum Glück wa- gut, das ist richtig. Damit geben wir einen Anreiz, auf ren wir durch unsere Bundesumweltministerin Barbara klimafreundlichere Kraftstoffe umzusteigen. Je weniger Hendricks hervorragend vertreten. Treibhausgasausstoß, desto besser für die Umwelt! (Beifall bei der SPD – Karsten Möring [CDU/ Wir haben ehrgeizige Ziele, zum Beispiel die Treib- CSU]: Deswegen konnte Frau Merkel auch hausgasreduzierung um 40 Prozent bis 2020. Dazu kön- hier sein!) nen wir auch persönlich beitragen. Wir sollten zum Bei- UN-Generalsekretär Ban sagte zur Eröffnung des UN- spiel vor jeder Autofahrt überlegen, ob diese wirklich Klimagipfels: notwendig ist. In meinem Frankfurter Wahlkreis versu- che ich, möglichst viele Fahrten mit meinem Elektrorol- Völker der Erde: Heute sind wir nicht zusammen- ler oder mit meinem kleinen Elektroauto zurückzulegen. gekommen, um zu reden, sondern um Geschichte Hier in Berlin bin ich viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu schreiben. unterwegs. Schade, dass unsere Bundeskanzlerin nicht mitschreiben Aber Verbrauchsreduzierung allein reicht natürlich konnte! nicht aus. Deshalb komme ich wieder zu den Biokraft- stoffen, die einen wichtigen Beitrag für das Klima leis- Zum Schluss, Herr Möring, möchte auch ich mich ten und ein Gegengewicht zu den fossilen Kraftstoffen ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Es war eine tolle sind. Zusammenarbeit. Ich möchte mich auch beim BMUB, 5346 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Ulli Nissen (A) beim Ministerium, bedanken; wir haben wirklich tolle was wir auch mit Pferdestärken produzieren, und das (C) Vorlagen bekommen. Also herzlichen Dank! nicht aus dem Boden entnehmen. Bei Ihnen allen bedanke ich mich herzlich für die (Beifall bei der CDU/CSU) Aufmerksamkeit. Weg von fossiler hin zu regenerativer Energie! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zur Flächenkonkurrenz: Ich habe bereits den Brot- der CDU/CSU) weizenpreis angeführt. Hier muss der Landwirtschaft die Einkommensmöglichkeit eröffnet werden, alternativ et- Vizepräsidentin Claudia Roth: was anzubauen, was auch energetisch genutzt werden Und ich bedanke mich bei Ihnen, liebe Kollegin kann. Derzeit – so muss ich allerdings sagen – ist das Nissen. – Letzter Redner in dieser Debatte: Artur größte Problem, das wir in der Landwirtschaft haben, Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion. nicht die Flächenkonkurrenz in Bezug auf den Biosprit, sondern das bisherige EEG im Bereich der Biogasanla- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gen. Ich bin froh, dass wir in diesem Haus bereits eine Novelle des EEG gemacht haben. Hier sind wir auf ei- Artur Auernhammer (CDU/CSU): nem sehr guten Weg. Vielen Dank. – Geschätzte Frau Präsidentin! Meine Meine Damen und Herren, wir diskutieren auch oft sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen über Gentechnik, über den Import von Eiweißfuttermit- und Kollegen! In diesem Hohen Hause wird sehr viel teln. Wenn wir zum Beispiel Raps für die Erzeugung von über die Energiewende diskutiert. Ein Aspekt bleibt Biosprit einsetzen, dann fällt dort ein Nebenprodukt an. meist ausgeklammert, und das ist das Thema Mobilität. Das ist der sogenannte Rapskuchen. Das ist ein ideales Gerade hier sind wir mit der Diskussion über die Minde- Futtermittel in der Tierhaltung: aus eigenem Anbau, gen- rung der Treibhausgasquote im Bundes-Immissions- technikfrei bei uns im Land produziert. Das sollten wir schutzgesetz dabei, einen guten und wichtigen Beitrag auch bei dieser Diskussion mit in Erwägung ziehen. dazu zu leisten, im Bereich der Elektromobilität auf die Nutzung regenerativ erzeugten Stroms umstellen zu kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen. Das kann nicht nur mit batteriebetriebenen Fahrzeu- gen geschehen, sondern hier ist der gesamte Bereich re- Außerdem haben wir dadurch, dass wir jetzt die Dis- generativer Energiequellen beim Treibstoff in den Blick kussion über die Minderung der Treibhausgasquote tech- zu nehmen. nologieoffen führen, die Möglichkeit, in der Landwirt- schaft wieder zu gesunden Fruchtfolgen zu kommen. (B) Wir haben hier schon oft über die Frage „Teller oder Hier ist in den letzten Jahren – ich gebe das offen zu – (D) Tank?“ diskutiert. Meine sehr verehrten Damen und Her- manches aus dem Gleichgewicht gekommen. ren, ich bin selber Landwirt. Wenn ich zurzeit meinen Brotweizen verkaufe, um daraus Lebensmittel herstellen (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu lassen, bekomme ich 12 Euro für den Doppelzentner, NEN]: Gewaltig aus dem Gleichgewicht!) für 100 Kilo Weizen 12 Euro. Warum ist es nicht mög- Und wir können verschiedene Produkte zur Energiege- lich, hieraus Energie zu gewinnen? Wir könnten hieraus winnung aus regenerativen Quellen einführen. leistungsfähigen Biosprit erzeugen. Das sollten wir auch; denn das wäre ein wichtiger Beitrag zum Klima- Gerade die Diskussion über die erste oder zweite Ge- schutz. neration der Biotreibstoffe zeigt, dass noch sehr viel For- schung erforderlich ist, damit wir auch die Treibstoffe Die Landwirtschaft leistet einen großen Beitrag zum der zweiten Generation gut einbauen können. Ich denke, Klimaschutz. Denken Sie nur daran: Bäume und Pflan- dass wir noch nicht am Ende der Entwicklung stehen. zen – also quasi jeder Hektar Wald und jeder Hektar Deshalb gilt: Technologieoffen forschen. Ackerbau – wandeln CO – wir diskutieren hier sehr oft 2 (Beifall bei der CDU/CSU) über CO2 – in Sauerstoff um. Das kann keine Raffinerie leisten, das kann kein Industriebetrieb leisten, das kann Insgesamt ist dieses Gesetz zur Änderung des Bun- nur die Land- und Forstwirtschaft leisten. Das sollen wir des-Immissionsschutzgesetzes, das die Umstellung auf hier auch einmal kundgeben. Treibhausgasquoten regelt, ein guter Beitrag dazu, die Bereits vor der Industrialisierung wurde ein Großteil Wertschöpfung im eigenen Land zu steigern, gerade im der für unsere Mobilität notwendigen Energie aus der ländlichen Raum – damit das Geld, das aus dem ländli- Landwirtschaft bezogen. 20 bis 30 Prozent der gesamten chen Raum kommt, wiederum in den ländlichen Raum landwirtschaftlichen Produktion wurde für die soge- fließt und nicht in irgendwelche rohölexportierenden nannte Zugkraft, für die Zugpferde, verwendet. Das soll- Länder. Ich glaube, das ist in unser aller Sinn. ten wir uns einmal wieder in Erinnerung rufen, wenn wir Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ständig nur fossile Energien verbrauchen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: „Zurück zu den Pferden“ bei der CSU!) Vizepräsidentin Claudia Roth: – Nein, Frau Kollegin, wir wollen nicht zurück zu den Ich danke Ihnen, Herr Kollege Auernhammer. – Da- Pferden. Wir wollen bei den Pferdestärken das einsetzen, mit schließe ich die Aussprache. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5347

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Dritte Beratung (C) Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Aus- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem schuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – cherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die gleichen Drucksache 18/2776, den Gesetzentwurf der Bundesre- Mehrheiten: Bei Zustimmung von CDU/CSU- und SPD- gierung auf den Drucksachen 18/2442 und 18/2709 in Fraktion und Enthaltung von der Linken und vom Bünd- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, nis 90/Die Grünen ist der Gesetzentwurf damit ange- die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- nommen. men wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf – da wird dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent- wieder geredet –: wurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Ablehnung von der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. richts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Dritte Beratung Abgeordneten Karl Holmeier, Thomas Jarzombek, Patrick Schnieder, weiterer Abgeordneter und und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – neten Martin Dörmann, Kirsten Lühmann, Lars Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Klingbeil, weiterer Abgeordneter und der Frak- entwurf ist damit angenommen bei Zustimmung von tion der SPD CDU/CSU und SPD, Ablehnung von der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Moderne Netze für ein modernes Land – Schnelles Internet für alle Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf: Drucksachen 18/1973, 18/2778 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zes zur Änderung des Straßenverkehrsgeset- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- zes und der Gewerbeordnung nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Drucksache 18/2134 Ich eröffne die Aussprache und rufe als ersten Redner in der Debatte Karl Holmeier für die CDU/CSU-Frak- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- tion auf. (B) schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (D) (15. Ausschuss) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Drucksache 18/2775 Ich muss Sie enttäuschen: Sie werden jetzt keine Karl Holmeier (CDU/CSU): Rede hören. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! (Zurufe: Oh!) Schnelles Breitband für unser Land, das ist die große und ehrgeizige Aufgabe und das große und ehrgeizige Sie vermissen die Reden von den Kollegen Storjohann Ziel unserer Koalition. Unser Antrag „Moderne Netze und Schnieder für die CDU/CSU, vom Kollegen Zierke für ein modernes Land – Schnelles Internet für alle“ soll für die SPD, vom Kollegen Lutze für die Linke und vom einen wichtigen Beitrag dazu leisten, bis 2018 das ge- Kollegen Stephan Kühn für Bündnis 90/Die Grünen. Die steckte Ziel von 50 Megabit pro Sekunde flächende- Reden – so ist verabredet worden – sollen zu Protokoll ckend in Deutschland erreichen. Das ist ein ehrgeiziges 1) gegeben werden. – Ich sehe, dass Sie, trotz erheblicher Ziel. Traurigkeit im Raum, damit einverstanden sind. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für NEN]: Allerdings!) Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2775, den Wir sind aber auf einem guten Weg. Politisch, wirt- Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache schaftlich und gesellschaftlich ist dies unbedingt not- 18/2134 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte wendig; denn die Digitalisierung und das Internet haben diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- einen immer größeren Einfluss auf alle Lebensbereiche. sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Es geht schließlich um die Sicherung der Teilhabe unse- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- rer Bürgerinnen und Bürger am digitalen Zeitalter. Mit wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zuge- dem schnellen Internet denken wir auch an die Zukunft stimmt haben CDU/CSU- und SPD-Fraktion, enthalten unserer Unternehmen, an die Standorte im ländlichen haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, dage- Raum und an die damit verbundenen Arbeitsplätze. gen hat niemand gestimmt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat mich gefreut, dass unser Antrag bei den Experten aus der 1) Anlage 3 Fachbranche eine sehr positive Resonanz gefunden hat. 5348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Karl Holmeier (A) Selbst die Opposition hat unseren Antrag bei den Bera- Digitalen Dividende II einbringt. Wir brauchen weitere (C) tungen im Ausschuss gelobt. Dafür herzlichen Dank! Förderprogramme, die unter Umständen auch mit ande- Die umfangreichen Gespräche haben aber auch gezeigt ren Förderprogrammen in den Ländern gekoppelt und bestätigt, dass es keine einfache und allgemeingül- werden können. Ich verweise auf das neue, vorbildliche tige Lösung gibt. Es bedarf vielmehr eines ganzen Maß- Förderprogramm des Freistaates Bayern. nahmenpakets und des Zusammenspiels von Bund, Län- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern und Kommunen. Unser Ziel von 50 Megabit pro NEN]: Das steht hier nicht zur Debatte!) Sekunde bis 2018 werden wir nur dann erreichen, wenn wir auf einen sinnvollen Technologiemix setzen. Wir Das neue Programm ist angelaufen. Der Freistaat stellt müssen den Breitbandausbau in Deutschland im Rahmen den Kommunen 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung, verfügbarer Haushaltsmittel konsequent vorantreiben Frau Kollegin – pro Gemeinde bis zu 1 Million Euro. und eine digitale Spaltung zwischen den Ballungszen- Damit fördern wir den Breitbandausbau in unserer Re- tren und den ländlichen Räumen vermeiden. gion in besonderer Weise. So funktioniert eine Stärkung des ländlichen Raumes. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber im Dazu setzen wir auf folgende Schwerpunkte: deutli- Haushalt haben Sie nichts eingestellt!) che Kostenreduzierung beim Ausbau der Glasfasernetze durch eine zügige Umsetzung der europäischen Kosten- Mit unserem heute zu verabschiedenden Antrag „Mo- reduzierungsrichtlinie in einem Breitbandinfrastruktur- derne Netze für ein modernes Land – Schnelles Internet ausbaugesetz, schneller Einsatz hochleistungsfähiger für alle“ geben wir der Bundesregierung anspruchsvolle Mobilfunkfrequenzen im 700-Megahertz-Band, Verstei- Hausaufgaben mit auf den Weg. Ich bin mir sicher, dass gerung von Funkfrequenzen – Digitale Dividende II –, unser Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur in effizienter Einsatz von Fördermitteln, wo es keine wirt- den kommenden Jahren alle Hebel in Bewegung setzen schaftlich sinnvollen Lösungen für einen Netzausbau wird, unser gemeinsames Ziel – 50 Megabit pro Sekunde gibt. Außerdem sollten wir bei der laufenden Diskussion für alle – bis 2018 in Deutschland zu erreichen. zum Telekommunikationsmarkt auf europäischer Ebene Gemeinsam – Bund, Länder und Kommunen – kön- keine Maßnahmen mittragen, die sich negativ auf den nen wir es schaffen. Ziehen wir alle an einem Strang für Breitbandausbau in Deutschland auswirken. ein modernes Land mit modernen Netzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit unse- Vielen Dank. rem Antrag sind wir auf einem guten Weg, den Breit- (B) bandausbau in Deutschland zu beschleunigen. Er ist ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) guter Baustein und bringt uns dem gesteckten Ziel näher. neten der SPD) Vorrangig gilt es, den Ausbau des Breitbandnetzes schneller und günstiger voranzubringen. Wir müssen Vizepräsidentin Claudia Roth: Synergien vor Ort nutzen und Baumaßnahmen vor Ort Danke schön, Herr Kollege Holmeier. – Nächster besser koordinieren. Redner in der Debatte ist Herbert Behrens für die Linke. Bestehende Infrastruktur muss genutzt werden; denn (Beifall bei der LINKEN) 80 Prozent der geschätzten Kosten für diesen Ausbau, den wir planen und anstreben, sind Erdbaukosten. Es Herbert Behrens (DIE LINKE): gibt unzählige Möglichkeiten, bestehende Leitungen wie Abwasser- oder Stromleitungen, bestehende Leerrohre Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und sonstige Verkehrsnetze zu nutzen. Wir wollen einen Die Regierungskoalition hat vor drei Monaten einen An- Rechtsanspruch schaffen, der eine Mitnutzung vor Ort trag vorgelegt, der ein Signal für den Eintritt in die neue ermöglicht. digitale Welt sein sollte. 50 Megabit pro Sekunde sollen allen Menschen in der Bundesrepublik zugänglich sein, Wir müssen uns auch für neue Verlegearten öffnen nicht nur den privaten Nutzern, sondern auch den Betrie- und den Mut haben, diese Verlegearten umzusetzen. ben, die dringend darauf angewiesen sind. Pragmatische Lösungen sind gefragt. Wir müssen errei- Aber wenn man sich das Ganze ansieht, so stellt man chen, dass bei den Verkehrsprojekten verpflichtend Leer- fest: Das Beamen in das neue Internetzeitalter ist rohre mitverlegt werden und dass die Querung von Bahn- steckengeblieben. Das ist erschreckend. Irgendwie trassen innerhalb von bestimmten Fristen möglich ist. schmeckt das Ganze nach kaltem Kaffee. Der umfang- Wir müssen die Erlöse aus der Digitalen Dividende II reiche Antrag ist im Kern nichts weiter als die Fortset- verbindlich für den Ausbau des Breitbandnetzes nutzen. zung einer Breitbandstrategie, die wir schon seit 2009 Bund und Länder stehen hierbei in der Pflicht, ihren kennen. Damals hieß der Minister noch zu Guttenberg. Anteil an den Erlösen aus der Digitalen Dividende II zweckgebunden in den Netzausbau zu investieren. (Beifall bei der LINKEN – Martin Dörmann [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Wir werden aber auch – das haben wir in den Bera- tungen diskutiert und bei den Gesprächen mit der Fach- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind steckenge- branche ganz klar gehört – zusätzliches Geld benötigen, blieben und kommen nicht voran, und zwar aus zwei mehr Geld, als die Frequenzversteigerung aus der Gründen: Zum einen haben wir in den letzten Haushalts- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5349

Herbert Behrens (A) debatten immer wieder erfahren, dass sich die Bundesre- Bundesrepublik sozialer und moderner machen wollen, (C) gierung für die schwarze Null feiert und staatliche Inves- dann kommen wir nicht umhin, eine gerechte Steuerpoli- titionen in die Zukunft des Landes verhindert. Zum tik durchzusetzen. anderen sind die privaten Investoren immer noch nicht geneigt, Milliarden locker zu machen, um in die digitale (Beifall bei der LINKEN) Infrastruktur zu investieren. Aber der Ausbau schneller Wenn die Bundesregierung es jetzt angeht, öffentliche Netze wird nicht klappen, wenn nicht investiert wird. Infrastruktur für Investoren attraktiv machen zu wollen, Viel Geld ist nötig: Zwischen 85 und 95 Milliarden Euro dann ist das genau der entgegengesetzte und falsche benötigen wir, wenn wir eine flächendeckende Glas- Weg. Privatisierungen, Anlagefonds und Modelle von faserversorgung haben wollten. Das schreiben Sie ganz windigen Investoren sind die Ursachen der Finanzkrise, richtig in Ihrem Antrag. unter deren Folgen wir heute noch leiden. Darum ist es (Martin Dörmann [SPD]: Wie finanzieren Sie notwendig, die Finanzmärkte auszutrocknen und das das dann?) Vermögen für gute Infrastruktur heranzuziehen. Das sind die Grundlagen für eine moderne Industrie- und Netz- Sie machen keinen Vorschlag, wie Sie auch nur annä- politik. Mit der Linken ist das zu machen, aber nicht mit hernd an diese Summe herankommen wollen. dem, was Sie in Ihrem Antrag zusammengeschrieben (Beifall bei der LINKEN) haben. Was machen Sie stattdessen? Sie rechnen aus, was Vielen Dank. noch fehlt, um die von zu Guttenberg hinterlassene (Beifall bei der LINKEN) Lücke in der Breitbandversorgung zu schließen, und ma- chen Ihrem Minister einige Vorschläge, wie er vorgehen könnte. Das ist aus unserer Sicht ein konzeptionsloses Vizepräsidentin Claudia Roth: Weiter-so. Mit dieser Politik befördern Sie keinen Auf- Vielen Dank, Herr Kollege Behrens. – Nächster Red- bruch in das digitale Zeitalter. Sie behindern ihn sogar. ner in der Debatte: Martin Dörmann für die SPD. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Statt konsequent auf einen Glasfaserausbau in öffent- licher Verantwortung zu setzen, beschwören Sie den sogenannten Technologiemix. Das hört sich zumindest Martin Dörmann (SPD): innovativ an. Gemeint ist damit: DSL, Glasfaser, Kabel, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Satellit und Funknetze sollen so zusammengezwirbelt (B) Herr Kollege Behrens, ich bedauere sehr, dass Sie hier (D) werden, dass am Ende die Bandbreiten erreicht werden. ein Zerrbild unseres Antrags dargestellt haben. Deshalb Aber auch diese Infrastruktur kostet doch 20 Milliarden möchte ich gerne die Gelegenheit nutzen, zu erzählen, Euro. Das ist nicht billig. Aber im Haushalt 2014 was wirklich drinsteht; – wahrscheinlich auch im Haushalt 2015, wenn wir uns als Opposition nicht durchsetzen können – ist nicht zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) erkennen, dass hier auch nur ansatzweise staatliche Zu- denn entgegen Ihren Ausführungen hat sich die Große kunftsinvestitionen gemacht werden. Schwarze Null und Koalition in Bezug auf die digitale Infrastruktur ein be- Schuldenbremse würgen soziale Politik, aber auch eine sonders ehrgeiziges Ziel gesetzt. zukunftsweisende Industriepolitik ab. Wir wollen, dass bis Ende 2018 in ganz Deutschland Nach der Logik der Bundesregierung und der Logik Hochgeschwindigkeitsbandbreiten von mindestens dieses Antrages bleibt nur eines: Der Markt soll es rich- 50 Megabit pro Sekunde verfügbar sind. Wir sind uns ten. Der jetzt schon gescheiterte sogenannte wett- doch einig, dass angesichts der fortschreitenden Digitali- bewerbspolitische Ansatz wird beibehalten. Aus dem sierung von Wirtschaft und Gesellschaft schnelles Inter- Haushalt soll 1 Milliarde Euro kommen, wenn die Rund- net für alle zunehmend eine Voraussetzung sowohl für funkfrequenzen im 700-Megahertz-Bereich versteigert ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten als auch für werden und noch weitere Frequenzbereiche hinzukom- gesellschaftliche Teilhabe ist. Deshalb dürfen wir eine men. digitale Spaltung – ich glaube, auch da sind wir uns ei- Die sogenannte Digitale Dividende II sollte bereits ab nig – zwischen gut versorgten Ballungsräumen auf der 2017 Förderprogramme für den Netzausbau speisen. In- einen und abgehängten ländlichen Gebieten auf der an- zwischen ist aber klar, dass die Frequenzen vor 2019 gar deren Seite nicht zulassen. nicht frei werden. Die Milliarde könnte auch schnell um Heute können erst 64 Prozent der Haushalte in einige Hundert Millionen geringer ausfallen, wenn die Deutschland mit 50 Megabit pro Sekunde versorgt wer- Länder ihre Ansprüche geltend machen. Aber auch die den. Der Sprung auf 100 Prozent, lieber Kollege privaten Investoren, Kapitalfonds und Versicherungen Behrens, innerhalb weniger Jahre ist also ein Quanten- wollen mit ihren Milliarden nicht so recht an den Zu- sprung. Von Ihnen kam kein Konzept, das das besser kunftsmarkt heran. unterlegt hätte. Nur wenn alle Beteiligten – investie- Das Vermögen in Deutschland beläuft sich auf rende Unternehmen, Bund, Länder, aber auch die Kom- 7,2 Billionen Euro. Dabei besitzen die reichsten 10 Pro- munen vor Ort – optimal zusammenwirken, können wir zent der Deutschen 4,8 Billionen Euro. Wenn wir die dieses Ziel erreichen. 5350 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Martin Dörmann (A) Wir wollen mit dem Antrag der Koalition einen Rah- wir vorschlagen, zielführend ist. Diesen Aspekt sollten (C) men setzen. Wir haben konkrete Maßnahmen beschrie- Sie viel stärker würdigen. ben, um die Umsetzung unseres Ausbauziels tatsächlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zu erreichen. Im Kern geht es um zwei Dinge, nämlich um zusätzliche Investitionsanreize und um die Schlie- Mit unserem Maßnahmenpaket setzen wir auch in ßung von Wirtschaftlichkeitslücken. Zukunft auf Wettbewerb und auf Milliardeninvestitionen unterschiedlicher Unternehmen. Aber diese stoßen dort (Beifall bei Abgeordneten der SPD) an Grenzen, wo sich Investitionen aufgrund hoher Kosten nicht rechnen. Zentrales Problem hierbei sind Vizepräsidentin Claudia Roth: vor allem die letzten 20 Prozent der Haushalte, die unter Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder heutigen Bedingungen, weil sie in besonders dünn besie- -bemerkung der Kollegin Wawzyniak? delten Gebieten angesiedelt sind, eben nicht wirtschaft- lich erschlossen werden können. Gerade hier setzt unser Martin Dörmann (SPD): Breitbandkonzept an: Wir wollen regulatorische Rah- Ja, sehr gerne. Das habe ich schon gesehen. Deshalb menbedingungen verbessern und zusätzliche Synergien habe ich einen Punkt gemacht. heben, um Kosten zu senken. Das allein wird aber nicht ausreichen. Wir brauchen Vizepräsidentin Claudia Roth: – das ist bereits erwähnt worden – zusätzliche staatliche Ja, sonst hätte ich Sie unterbrochen. Fördergelder, um Wirtschaftlichkeitslücken in bestimm- ten Regionen schließen zu können. Wenn das Geld ge- schickt eingesetzt wird, könnten wir mit jeder Milliarde Martin Dörmann (SPD): Euro öffentlichen Geldes, die wir einsetzen, zusätzliche Das habe ich erwartet. Investitionen privater Unternehmen in einem Umfang von etwa 3 Milliarden Euro auslösen. Das wäre gerade Vizepräsidentin Claudia Roth: vor dem Hintergrund bestehender konjunktureller Unsi- Gut, wir kennen uns ja auch schon lange. – Frau Kol- cherheiten ein wirklich respektables Konjunkturpro- legin Wawzyniak, bitte. gramm. Das sollten wir unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Halina Wawzyniak (DIE LINKE): der CDU/CSU) Herr Kollege Dörmann, nachdem der Kollege von der Die Koalition will zudem, dass weitere Frequenzbe- Unionsfraktion das Papier der Netzallianz vorgelesen (B) reiche für den Mobilfunk erschlossen werden. Wir alle (D) hat, möchte ich Sie fragen, ob auch Sie gelesen haben, wollen nicht nur eine gute Festnetzversorgung über dass die Netzneutralität für den Breitbandausbau – vor- Glasfaserkabel, übrigens auch in der Fläche – auch das sichtig formuliert – geschliffen werden soll und ob Sie ist unser Ziel –, sondern wir brauchen deutschlandweit vor diesem Hintergrund nicht auch der Meinung sind, auch ein modernes Mobilfunknetz, weil wir alle mit dass das löbliche Ziel, das Sie hier vorgegeben haben, Smartphones und Tablets unterwegs sind. Sie wissen, doch in einem anderen Licht erscheint? dass das eine Ursache für den steigenden Bandbreitenbe- darf ist. Deshalb ist es, so glaube ich, richtig, diese Fre- Martin Dörmann (SPD): quenzen für ein hochmodernes Mobilfunknetz zu nut- Sehr geehrte Frau Kollegin Wawzyniak, wir haben zen. uns in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ sehr ausführlich über das Thema Netz- (Beifall der Abg. Kirsten Lühmann [SPD]) neutralität unterhalten. Sie kennen die Position der SPD- Die beiden zuletzt genannten Aspekte, die Fördermit- Bundestagsfraktion, die in weiten Teilen in den Koali- tel und die Nutzung eines zusätzlichen Frequenzspek- tionsvertrag eingeflossen ist. trums, weisen uns im Zusammenhang mit der Digitalen Dividende II den Weg, den wir mit den Ländern gehen Wir werden die Netzneutralität gesetzlich sicherstel- können. Es geht um ein Frequenzpaket, das nach Vor- len. Sie waren, glaube ich, auch dabei – ich bin mir nicht stellung der Bundesnetzagentur im nächsten Jahr verstei- ganz sicher –, als Frau Zypries als zuständige Staats- gert werden soll. Dazu gehören im Bereich der Digitalen sekretärin des Wirtschaftsministeriums im Ausschuss Dividende II auch die Frequenzen im 700-Megahertz- „Digitale Agenda“ sogar angekündigt hat, dass das Band. Wir wissen, dass es darüber Gespräche zwischen Ministerium demnächst einen entsprechenden Gesetz- Bund und Ländern gibt. Wir wissen, dass die Länder entwurf vorlegen wird. Insofern bin ich sehr zuversicht- gerne zur Hälfte an den Versteigerungserlösen beteiligt lich, dass uns das gelingen wird. wären. Sie haben das Papier der „Netzallianz Digitales (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland“ angesprochen. Ich will den genannten NEN]: Das steht ihnen zu!) Aspekt einmal dahingestellt sein lassen, möchte aber da- rauf hinweisen, dass sich die dort beschriebenen Hand- Wichtig ist, dass es am Ende einen Konsens gibt, dass lungsfelder in dem Antrag, den wir hier vorliegen haben, man sich auf eine Teilung einigt und darauf, dass das ge- exakt wiederfinden. Das heißt, es gibt in der Fachwelt samte Geld für den Breitbandausbau genutzt werden großen Konsens darüber, dass das Maßnahmenpaket, das soll. Das ist wichtig. Deshalb darf man sich an dieser Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5351

Martin Dörmann (A) Stelle nicht in technischen Fragen verheddern, in denen men. Uns ist vollkommen bewusst, dass die Fördermittel (C) es darum geht, in welchen Haushalten diese Gelder am eine Stellschraube sind. Ende eingestellt werden. Wir müssen zu einer Einigung kommen; denn nur wenn wir entsprechende Einnahmen Wir halten an der schwarzen Null fest. Wir wissen, generieren, können wir hinsichtlich des Breitbandaus- dass es einen engen Rahmen gibt. Für unsere Arbeits- baus weiterkommen. gruppe „Verkehr und digitale Infrastruktur“ kann ich sagen: Zusätzliche Haushaltsmittel, gerade im Bereich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dieses Ministeriums, wollen wir vordringlich für den CDU/CSU) Breitbandausbau einsetzen, weil wir glauben, dass ein schnelles Internet für alle eine ganz herausragende ge- Im Blick auf die Frequenzen führen zwei Aspekte im- sellschaftliche Aufgabe ist. mer zu Diskussionen. Ich will diese Themen gerne auf- greifen. Wahrscheinlich wird gleich die Kollegin Tabea Vielen Dank. Rößner auch darauf eingehen und das aus einem anderen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Blickwinkel heraus betrachten. Zum einen geht es um die Umstellung auf DVB-T2. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir wollen – auch das haben wir im Koalitionsvertrag Vielen Dank, Herr Kollege Dörmann. – Nächste Red- festgelegt –, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- nerin in der Debatte: Tabea Rößner für Bündnis 90/Die anstalten und die privaten Rundfunkanstalten die Mög- Grünen. lichkeit haben, die Umstellung der terrestrischen Ver- breitung auf DVB-T2 vorzunehmen. Das ist die bessere Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Technik. Sie ist HD-fähig. Auch im Interesse der Zu- schauerinnen und Zuschauer wollen wir, dass das sorg- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! fältig gemacht wird; aber es soll auch zügig gemacht Nachdem die Vorgängerregierung gebetsmühlenartig werden, damit die Nutzer möglichst schnell in den Ge- wiederholt hat, dass wir eine Vollversorgung mit Breit- nuss der neuen Technik kommen. Jetzt wird auszuloten band hätten, kommt die Große Koalition nun endlich zu sein, in welchem Zeitraum das möglich ist. Dieses der Erkenntnis, dass wir ein Versorgungsproblem haben. Thema soll in den Bund-Länder-Gesprächen jetzt ange- Sie fordern die Regierung zum Handeln auf, und das ist gangen werden. Dort werden wir zu einer Einigung gut und allerhöchste Zeit. kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der vorliegende Antrag lässt Bundesminister (B) Dobrindt aber an der ganz langen Leinen. Diesen Frei- (D) Zum zweiten Aspekt, der ebenfalls wichtig ist. Bei lauf nutzt Ihr Minister gleich, um die Netzneutralität ge- der Umstellung von Frequenzen wird es auch darum ge- gen Investitionen der Unternehmen zu verticken. Aber hen, dass die Interessen der bisherigen Nutzer dieser mit den angekündigten Qualitätsklassen, lieber Herr Frequenzen gewahrt werden. Ich denke insbesondere an Dörmann, öffnen Sie einem Zweiklasseninternet Tür und die Nutzer drahtloser Produktionsmittel, also zum Bei- Tor. Und wofür? Für Investitionen, die die Unternehmen spiel an Kultureinrichtungen und Kirchen, die drahtlose wahrscheinlich sowieso getätigt hätten. Die Zeche zahlt Mikrofone nutzen und bisher zum Teil in diesen Berei- am Ende der Kunde. chen gesendet haben. Dazu hat die Bundesnetzagentur ein neues Konzept vorgelegt. Ein Gutachten hat ergeben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass der Frequenzbedarf dieser drahtlosen Produktions- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mittel etwa 96 Megahertz beträgt. Die Bundesnetzagen- Es ist schwer, heute abzuschätzen, was wir in zehn tur schlägt eine Erweiterung auf 440 Megahertz vor. Ich oder 15 Jahren an Bandbreiten brauchen. Sie aber den- glaube, das ist ein richtiges Signal. Es zeigt, dass wir ken nur an die 50 Mbit/s Downloadgeschwindigkeit im dieses Thema sehr ernst nehmen. Wir werden prüfen, ob Jahr 2018. Dabei setzen Sie erst einmal auf Funkverbin- das ausreicht. Wir werden auch prüfen, ob Umstellungs- dungen. Das kann aber nur eine Zwischenlösung sein. kosten entstehen, die zu berücksichtigen sind. Ich weiß, Damit Deutschlands Unternehmen gut angebunden sind, dass das Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruk- innovative Dienste anbieten und diese auch genutzt wer- tur an einer Billigkeitsrichtlinie arbeitet. Wir befinden den können, brauchen wir Glasfasernetze. Hier ist der uns in einem guten Austausch, auch mit den Ländern. Antrag viel zu kurzsichtig. All diese Fragen werden jetzt geklärt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb will ich zum Schluss Folgendes sagen, auch angesichts dessen, was die Opposition hier anzuführen Der Breitbandausbau kann durch regulatorische Stell- hat: Ich habe weder in der Debatte heute noch in den schrauben erleichtert werden. Knackpunkt ist und bleibt Ausschüssen etwas über wirklich durchgreifend andere die Finanzierung. Laut einer Studie des Wirtschafts- Konzepte gehört. Es wird immer kritisiert: Ihr bekommt ministeriums kostet der Ausbau nach den Zielen der das Geld nicht. – Daran arbeiten wir. Herr Holmeier, wir Bundesregierung mindestens 20 Milliarden Euro. Die haben uns im Ausschuss ausgetauscht. Wir beide werden Industrie geht in Vorleistung und will im nächsten Jahr noch einmal das eine oder andere Gespräch mit dem Ver- 8 Milliarden Euro investieren. Das ist begrüßenswert. kehrsminister führen, aber auch mit dem Finanzministe- Aber für 20 Prozent der Haushalte besteht eine Finanzie- rium, damit wir möglichst schnell mehr Geld bekom- rungslücke. Es fehlt an Fördergeldern. Sie stellen auch 5352 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

Tabea Rößner (A) nichts in den Haushalt ein. Sie werden das Geld in dieser (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – (C) Höhe auch nicht durch die Frequenzversteigerung ein- Martin Dörmann [SPD]: Mit wie vielen Mega- nehmen. Wir kennen das vom letzten Mal. bit pro Sekunde?) (Martin Dörmann [SPD]: Warten Sie doch ein- Das hatte auch die SPD gefordert, bis sie an die Regie- mal ab!) rung kam. Ohne diese Minimalversorgung bleiben ihre Pläne zum Breitbandausbau aber eben auch nur minimal Von diesen Einnahmen müssen Sie dann erst einmal gut. Entschädigungen zahlen, nämlich an diejenigen, die nach der neuen Frequenzzuteilung ihre Mikrofonanlagen Die Bundesregierung bildet Netzallianzen und nicht mehr nutzen können. Außerdem müssen Sie die schreibt Kursbücher. Das klingt gewichtig, aber wer hin- Einnahmen mit den Ländern teilen. Den Rest müssen Sie ter die Kulissen schaut, sieht nur schlecht verpackte An- Herrn Schäuble aus den Rippen leiern. So wird das kündigungen. Von Ankündigen aber wurde noch keine nichts. Wer A sagt, muss auch B sagen, und wer Zu- Leitung verlegt. kunftstechnologie sagt, muss auch investieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der LINKEN) Einen Aspekt verschweigen Sie komplett: Um die Nicht an Versprechen, sondern an Ihren Taten soll man Frequenzen für Breitband nutzen zu können, muss von Sie messen. Das werden wir tun. DVB-T auf DVB-T2 gewechselt werden. Der Minister Vielen Dank. gibt hier Gas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Martin Dörmann [SPD]: Das wollen die Öf- Martin Dörmann [SPD]: Da muss sie selber la- fentlich-Rechtlichen gerade!) chen!) Schon in drei Jahren soll das passiert sein, aber ohne eine lange Übergangsphase. Derzeit nutzen knapp 4 Mil- Vizepräsidentin Claudia Roth: lionen Haushalte DVB-T. Diese müssen ihren Receiver Vielen Dank, liebe Kollegin Rößner. Sie lacht gerne entsorgen und sich einen neuen kaufen. Wir rechnen mit und oft. – Letzter Redner in dieser Debatte Ingbert Kosten von mindestens 300 Millionen Euro für die Ver- Liebing für die CDU/CSU-Fraktion. braucher und einer Menge Elektroschrott. Die Bundesre- gierung kennt diese Konsequenzen zwar, verschweigt sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aber in der Öffentlichkeit. Das finde ich skandalös. neten der SPD) (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (D) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Martin Dörmann [SPD]: Die Zahlen stimmen nicht!) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kollegen Karl Holmeier und Gleichzeitig riskieren Sie mit der überstürzten Um- Martin Dörmann haben bereits ausführlich begründet, stellung den terrestrischen Empfang. Denn wer jetzt für weshalb wir mit diesem Antrag der Koalitionsfraktionen teures Geld einen neuen Receiver kaufen muss, holt sich beim Breitbandausbau für schnelles Internet Gas geben vielleicht lieber eine Satellitenschüssel oder bestellt ei- wollen. Unser Ziel ist beschrieben mit 50 Megabit pro nen Kabelanschluss. Der terrestrische Übertragungsweg Sekunde flächendeckend bis 2018. Dabei liegt uns be- bietet aber einen guten und vor allem günstigen Fernseh- sonders an der Feststellung, dass dies ein Zwischenziel empfang, und den riskieren Sie. ist. Natürlich wird es auch nach 2018 einen weiteren Ausbau geben müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Martin Dörmann [SPD]: Aber wollen Sie die (Martin Dörmann [SPD]: So ist es!) alte Technik behalten?) um eine digitale Spaltung zwischen den gut und optimal Was die ländlichen Gebiete betrifft, sollen die Unter- ausgestatteten Ballungsregionen und den ländlichen Re- nehmen die Frequenzen der Digitalen Dividende II nut- gionen in Deutschland zu verhindern. Das ist unser Ziel, zen, um diese Gegenden anzubinden. Wie gut das klappt, und dafür wollen wir mit unserem Antrag Gas geben. haben wir ja in der Vergangenheit gesehen, nämlich fast (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht. Um Breitband auch dorthin zu bringen, wo es wirtschaftlich nicht rentabel ist, brauchen wir nicht nur Die Kollegin Rößner hat am Ende ihrer Rede das Förderprogramme, sondern eine Verpflichtung, dort Stichwort „Universaldienst“ angesprochen. Das ist ihr auch tatsächlich auszubauen. Vorschlag, die Probleme zu lösen. Er liegt inzwischen lange genug auf dem Tisch, um zu wissen, dass dies aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – europarechtlichen Gründen kein geeignetes Instrument Martin Dörmann [SPD]: Das ist in der Grö- ist, um die Lücken zu füllen. ßenordnung rechtlich doch gar nicht umsetz- bar!) (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist EU-konform!) Wir hätten uns ja eine Universaldienstverpflichtung gewünscht, um den Menschen auf dem Land auch einen Es geht nur dort, wo ein bestimmter Standard durch- Anspruch einzuräumen. schnittlich noch nicht erreicht ist. Aber es ist kein geeig- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5353

Ingbert Liebing (A) netes Instrument, um darüber hinaus den Ausbau zu for- serem Antrag. Damit müssen wir uns beschäftigen. Hier (C) cieren. 50 Megabit pro Sekunde erreichen wir so nicht. brauchen wir einen neuen Interessenausgleich. Damit könnten wir vielleicht die letzten weißen Flecken beseitigen. Das ist notwendig, aber bei weitem nicht aus- (Beifall bei der CDU/CSU) reichend. Wir wollen tatsächlich den Ausbau in der Flä- Unser Antrag weist den Kommunen bei der Planung che forcieren, und das geht eben nicht mit dem Univer- eine wichtige Rolle zu. Dies funktioniert insbesondere in saldienst. den ländlichen Räumen nur übergreifend: Viele Zweck- (Beifall bei der CDU/CSU) verbände haben sich gebildet. Hierfür ist es notwendig, dass wir diese kommunale Form der Zweckverbände Weil schon viel Grundsätzliches gesagt worden ist, stärken und unterstützen. Dazu haben wir uns im Koali- möchte ich nur noch einen Aspekt aus unserem Antrag tionsvertrag vorgenommen, die Umsatzsteuerproblema- aufgreifen. Wir sprechen uns in dem Antrag ausdrück- tik zu lösen; denn es ergibt keinen Sinn, dass dann, wenn lich dafür aus, möglichst kosteneffizient zu arbeiten, sich Kommunen zusammenschließen und Beiträge an ei- auch durch Kooperationen von unterschiedlichen Tele- nen Zweckverband zum Breitbandausbau zahlen, diese kommunikationsunternehmen. Angesichts der hohen Beiträge anschließend mit 19 Prozent Umsatzsteuer be- Kosten gerade beim Glasfaserausbau wollen wir verhin- legt werden. Das müssen wir noch regeln, das haben wir dern, dass teure Doppelstrukturen aufgebaut werden. Ich uns vorgenommen. greife diesen Punkt auf, weil er in jüngster Zeit aufgrund einer Vielzahl von Entwicklungen in vielen Kommunen Dieser Antrag und das, was wir uns vorgenommen hochaktuell geworden ist. haben, sind ein klares Signal für einen forcierten Ausbau des Glasfasernetzes und des technologieoffenen Netzes Wir haben am Montag im Unterausschuss Kommuna- – auch im Rahmen von Funklösungen, um die digitale les genau darüber gesprochen. Situation ist, dass sich Spaltung Deutschlands zu verhindern – sowie für ein viele Kommunen auf den Weg in Richtung eines Glasfa- schnelles und flächendeckendes Internet in Deutschland. serausbaus bis zum Anschluss jedes einzelnen Hauses Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung. gemacht haben. Die Telekom, die sonst in diesen Regio- Vielen Dank. nen unterwegs gewesen ist, war zwar beteiligt, hat aber gesagt: Für uns ist das in diesen ländlichen Regionen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- wirtschaftlich nicht darstellbar. Das machen wir nicht. ten der SPD) Daraufhin haben sich in der Region einige neue Ini- (B) tiativen gebildet, oft genug auch mit kommunaler Betei- Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) ligung. Diese haben ein Konzept für einen Glasfaseraus- Vielen Dank, Herr Kollege Liebing. – Ich schließe die bau entwickelt, das wirtschaftlich darstellbar ist. Dann Aussprache. ging es um die Ausschreibung, wer diese Infrastruktur anschließend bedient, wer der Dienstanbieter ist. Auch Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- daran hat sich die Telekom entweder nicht beteiligt oder schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zum An- sie hat gesagt, dass sie das zu den gegebenen Bedingun- trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem gen nicht macht. Sie war jedenfalls nicht präsent. Titel „Moderne Netze für ein modernes Land – Schnel- les Internet für alle“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Nachdem die Vorbereitungen getroffen wurden, dass Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2778, den An- diese regionalen Gesellschaften Glasfaserkabel in jedes trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- Haus legen können, sagt die Telekom jetzt: Aber an die- sache 18/1973 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- ser und jener Stelle gehen wir nun doch mit eigenen schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Glasfaserkabeln hinein. – Und das geschieht teilweise zu Die Beschlussempfehlung ist mit der Zustimmung von einem Zeitpunkt, wo die anderen schon ihre Aufträge er- CDU/CSU und SPD bei Ablehnung von der Linken und teilt haben. Aber die Telekom will es nur dort machen, Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Es gab keine Ent- wo es sich wirtschaftlich rechnet. Die Fläche hingegen haltungen. wird von ihr vernachlässigt. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Das ist aus Sicht der Telekom betriebswirtschaftlich ordnung. nachvollziehbar. Da hilft auch kein Telekom-Bashing; daran will ich mich nicht beteiligen. Ich beschreibe ein- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- fach die Situation. Denn durch diese Art Rosinenpicke- destages auf morgen, Freitag, den 10. Oktober 2014, rei wird die Gesamtfinanzierung für Flächenkonzepte 9 Uhr, ein. gefährdet. Hier brauchen wir neue Ansätze für einen In- Ich wünsche Ihnen und auch unseren Gästen oben auf teressenausgleich. Das war bis vor kurzem kein Thema, der Tribüne einen wunderschönen Restabend und gute weil die Telekom konsequent dabei geblieben ist, dort Träume. Bis morgen früh. nicht zu investieren. Jetzt tut sie es in vielen Fällen doch mit der Folge, dass teure Glasfaserinfrastrukturen in Die Sitzung ist geschlossen. manchen Regionen doppelt aufgebaut werden. Dies er- gibt keinen Sinn; das sagen wir auch ausdrücklich in un- (Schluss: 20.46 Uhr)

Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5355

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aken, Jan van DIE LINKE 09.10.2014 Petry, Christian SPD 09.10.2014

Alpers, Agnes DIE LINKE 09.10.2014 Post (Minden), Achim SPD 09.10.2014

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 09.10.2014 Dr. Schäuble, CDU/CSU 09.10.2014 Wolfgang Evers-Meyer, Karin SPD 09.10.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 09.10.2014 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 09.10.2014 Schmidt (Ühlingen), CDU/CSU 09.10.2014 Golze, Diana DIE LINKE 09.10.2014 Gabriele

Göppel, Josef CDU/CSU 09.10.2014 Schön (St. Wendel), CDU/CSU 09.10.2014 Nadine Hochbaum, Robert CDU/CSU 09.10.2014 Schuster (Weil am CDU/CSU 09.10.2014 Rhein), Armin Kaster, Bernhard CDU/CSU 09.10.2014 Schwartze, Stefan SPD 09.10.2014 (B) Klare, Arno SPD 09.10.2014 (D) Silberhorn, Thomas CDU/CSU 09.10.2014 Dr. Kofler, Bärbel SPD 09.10.2014 Spiering, Rainer SPD 09.10.2014 Kolbe, Daniela SPD 09.10.2014 Steffen, Sonja SPD 09.10.2014 Kretschmer, Michael CDU/CSU 09.10.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 09.10.2014 Lazar, Monika BÜNDNIS 90/ 09.10.2014 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 09.10.2014 Dr. de Maizière, CDU/CSU 09.10.2014 DIE GRÜNEN Thomas Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 09.10.2014 Dr. Middelberg, CDU/CSU 09.10.2014 Mathias Wolff (Wolmirstedt), SPD 09.10.2014 Waltraud Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ 09.10.2014 DIE GRÜNEN 5356 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) Anlage 2 (C) Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon- trollgremiums teilgenommen haben

CDU/CSU Dr. Michaela Noll Helmut Nowak Ursula Groden-Kranich Jürgen Klimke Dr. Georg Nüßlein Katrin Albsteiger Hermann Gröhe Artur Auernhammer Klaus-Dieter Gröhler Florian Oßner Dorothee Bär Michael Grosse-Brömer Dr. Thomas Bareiß Astrid Grotelüschen Carsten Körber Julia Bartz Markus Grübel Hartmut Koschyk Günter Baumann Oliver Grundmann (Börde) Monika Grütters Dr. Günter Krings Dr. Martin Pätzold Dr. Rüdiger Kruse Ulrich Petzold Fritz Güntzler Dr. Roy Kühne Dr. Dr. André Berghegger Olav Gutting Günter Lach Sibylle Pfeiffer Dr. Uwe Lagosky Ronald Pofalla Ute Bertram Dr. Karl A. Lamers Dr. Stephan Harbarth Andreas G. Lämmel Steffen Bilger Jürgen Hardt Dr. Norbert Lammert Clemens Binninger Ulrich Lange Alois Rainer Dr. Maria Böhmer Barbara Lanzinger Dr. Dr. Dr. Stefan Heck (Potsdam) Klaus Brähmig Dr. Dr. Michael Brand Dr. Dr. Dr. Dr. Helmut Brandt (Chemnitz) Philipp Graf Lerchenfeld Johannes Röring Dr. (B) Mark Helfrich Dr. Dr. Norbert Röttgen (D) Dr. Uda Heller Erwin Rüddel Jörg Hellmuth Ingbert Liebing Albert Rupprecht Ralph Brinkhaus Matthias Lietz Anita Schäfer (Saalstadt) Cajus Caesar Andrea Lindholz Dr. Karl Schiewerling Peter Hintze Wilfried Lorenz Tankred Schipanski Thomas Dörflinger Dr. Dr. Claudia Lücking-Michel Heiko Schmelzle Marie-Luise Dött Alexander Hoffmann Dr. Jan-Marco Luczak Christian Schmidt (Fürth) Hansjörg Durz Karl Holmeier Patrick Schnieder Jutta Eckenbach Franz-Josef Holzenkamp Dr. Dr. Dr. Dr. Kristina Schröder Hermann Färber Margaret Horb Thomas Mahlberg (Wiesbaden) Bettina Hornhues Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Thomas Feist Charles M. Huber Dr. Klaus-Peter Schulze Anette Hübinger Hans-Georg von der Marwitz Ingrid Fischbach Hubert Hüppe Armin Schuster (Weil am Axel E. Fischer (Karlsruhe- Stephan Mayer (Altötting) Rhein) Land) Thomas Jarzombek Reiner Meier Christina Schwarzer Dr. Sylvia Jörrißen Dr. Klaus-Peter Flosbach Dr. Dr. Angela Merkel Dr. Andreas Jung Dr. Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Egon Jüttner Bernd Siebert (Hof) Bartholomäus Kalb Karsten Möring Hans-Werner Kammer Hans-Joachim Fuchtel Steffen Kampeter Alexander Funk Steffen Kanitz Dr. Gerd Müller Carola Stauche Ingo Gädechens Carsten Müller Dr. Dr. (Braunschweig) Dr. Volker Kauder Stefan Müller (Erlangen) Peter Stein Dr. Stefan Kaufmann Dr. Dr. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5357

(A) Christian Freiherr von Stetten Sabine Bätzing-Lichtenthäler Lars Klingbeil (C) Birgit Kömpel Frank Schwabe Rita Stockhofe Gero Storjohann Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Hans-Ulrich Krüger Rita Schwarzelühr-Sutter Helga Kühn-Mengel Dr. Carsten Sieling Max Straubinger Willi Brase Christine Lambrecht Norbert Spinrath Matthäus Strebl Dr. Karl-Heinz Brunner Christian Lange (Backnang) Edelgard Bulmahn Dr. Karl Lauterbach Martina Stamm-Fibich Thomas Stritzl Marco Bülow Steffen-Claudio Lemme Peer Steinbrück (Heilbronn) Burkhard Lischka Dr. Frank-Walter Steinmeier Lena Strothmann Dr. Gabriele Lösekrug-Möller Christoph Strässer Michael Stübgen Petra Crone Hiltrud Lotze Dr. Sabine Sütterlin-Waack Kirsten Lühmann Dr. Dr. Dr. Birgit Malecha-Nissen Franz Thönnes Astrid Timmermann-Fechter Martin Dörmann Carsten Träger Dr. Hans-Peter Uhl Elvira Drobinski-Weiß Hilde Mattheis Rüdiger Veit Dr. Volker Ullrich Siegmund Ehrmann Dr. Ute Vogt Oswin Veith Michaela Engelmeier Klaus Mindrup Dirk Vöpel Dr. h. c. Gabi Weber Michael Vietz Petra Ernstberger Bettina Müller (Kleinsaara) Michelle Müntefering Andrea Wicklein Sven Volmering Dr. Dr. Rolf Mützenich Dirk Wiese Christel Voßbeck-Kayser Dr. Gülistan Yüksel Elke Ferner Stefan Zierke Dr. Johann Wadephul Dr. Ute Finckh-Krämer Ulli Nissen Manfred Zöllmer Christian Flisek Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Dr. Aydan Özoğuz DIE LINKE Dr. (Hamburg) Jeannine Pflugradt Herbert Behrens Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Matthias W. Birkwald Sabine Weiss (Wesel I) Kerstin Griese Joachim Poß Gabriele Groneberg (B) (D) Karl-Georg Wellmann Michael Groß Dr. Wilhelm Priesmeier Eva Bulling-Schröter Uli Grötsch Florian Pronold Waldemar Westermayer Wolfgang Gunkel Dr. Sascha Raabe Dr. Diether Dehm Dr. Simone Raatz Klaus Ernst Peter Wichtel Rita Hagl-Kehl Martin Rabanus Wolfgang Gehrcke Annette Widmann-Mauz Mechthild Rawert Nicole Gohlke Heinz Wiese (Ehingen) Ulrich Hampel Stefan Rebmann Klaus-Peter Willsch Sebastian Hartmann Gerold Reichenbach Dr. Elisabeth Winkelmeier- Dirk Heidenblut Dr. Carola Reimann Dr. André Hahn Becker Hubertus Heil (Peine) Heike Hänsel Oliver Wittke Sönke Rix Dr. Rosemarie Hein Barbara Woltmann Inge Höger Dr. Heinrich Zertik Dr. Barbara Hendricks René Röspel Sigrid Hupach Emmi Zeulner Heidtrud Henn Dr. Ernst Dieter Rossmann Ulla Jelpke Dr. Michael Roth (Heringen) Susanna Karawanskij Gudrun Zollner Gabriele Hiller-Ohm (Essen) Susann Rüthrich Bernd Rützel SPD Dr. Eva Högl Jan Korte Matthias Ilgen Annette Sawade Ingrid Arndt-Brauer Christina Jantz Dr. Hans-Joachim Katrin Kunert Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Ralph Lenkert Heinz-Joachim Barchmann Oliver Kaczmarek Dr. Johannes Kahrs Dr. Gesine Lötzsch Christina Kampmann Dr. Dorothee Schlegel Thomas Lutze Dr. Hans-Peter Bartels Ulla Schmidt (Aachen) Cornelia Möhring Matthias Schmidt (Berlin) Niema Movassat Dr. Matthias Bartke (Wetzlar) Dr. Alexander S. Neu Sören Bartol Marina Kermer Petra Pau Bärbel Bas Swen Schulz (Spandau) Harald Petzold (Havelland) 5358 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) BÜNDNIS 90/ Bärbel Höhn Cem Özdemir (C) Dr. Petra Sitte DIE GRÜNEN Lisa Paus Uwe Kekeritz Luise Amtsberg Brigitte Pothmer Dr. Tabea Rößner Kerstin Andreae Maria Klein-Schmeink Azize Tank Annalena Baerbock Claudia Roth (Augsburg) Frank Tempel Tom Koenigs (Bremen) Sylvia Kotting-Uhl Corinna Rüffer Dr. Volker Beck (Köln) Elisabeth Scharfenberg Alexander Ulrich Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Kathrin Vogler Ekin Deligöz Renate Künast Dr. Dr. Katja Dörner Markus Kurth Kordula Schulz-Asche Halina Wawzyniak Katharina Dröge Steffi Lemke Dr. Wolfgang Strengmann- Harald Weinberg Harald Ebner Dr. Kuhn Dr. Thomas Gambke Nicole Maisch Hans-Christian Ströbele Birgit Wöllert Matthias Gastel Peter Meiwald Jörn Wunderlich Kai Gehring Irene Mihalic Katrin Göring-Eckardt Beate Müller-Gemmeke Dr. Anja Hajduk Özcan Mutlu Doris Wagner Sabine Zimmermann Britta Haßelmann Dr. Beate Walter-Rosenheimer (Zwickau) Dr. Anton Hofreiter Friedrich Ostendorff Dr. Valerie Wilms

Anlage 3 verstehen den Erziehungsgedanken auch nicht so, dass jede einzelne Maßnahme der Behörden den Fahrer ein- Zu Protokoll gegebene Reden zeln ansprechen können muss, damit diese Maßnahme zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur eine Verhaltensänderung des Verkehrsteilnehmers bewir- Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der ken kann. Gewerbeordnung (Tagesordnungspunkt 19) Wir wählen einen ganz anderen Ansatz zur Steige- rung der Verkehrssicherheit. Die Erziehungswirkung Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir haben im letzten liegt dem Gesamtsystem als solchem zugrunde. Die ein- Jahr das Flensburger Punktesystems auf neue Beine ge- zelnen Stufen dienen in erster Linie der Information des stellt. Das neue Fahreignungs-Bewertungssystem ist am Betroffenen. Die Maßnahmen sind somit lediglich eine (B) 1. Mai 2014 in Kraft getreten. Diese Änderung ging rela- Information über den Stand im System. (D) tiv geräuschlos über die Bühne, das ist selten in der Poli- tik. Unter Gesichtspunkten der Verkehrssicherheit kommt es auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssys- Die neue Regelung trifft vor allem diejenigen Ver- tems an. Das Ziel ist, die Allgemeinheit vor ungeeigne- kehrsteilnehmer, die wiederholt die Sicherheit auf den ten Fahrern zu schützen. Hat ein Betroffener sich durch Straßen gefährden, denn Verkehrsunfälle entstehen eine entsprechende Anhäufung von Verkehrsverstößen hauptsächlich durch nicht angepasstes Fahren. In der als ungeeignet erwiesen, ist er zumindest befristet vom Praxis hat sich gezeigt, dass es einen Klarstellungsbedarf Verkehr auszuschließen. bezüglich der Punkteregelung gibt. Eine in bestimmten Konstellationen ausbleibende Es ist klarzustellen, ab wann ein Punkt denn nun gilt. Chance eines Fahrers, sein Verhalten so zu bessern, dass Der vorliegende Änderungsantrag der Fraktionen von es zu keinen weiteren Maßnahmen gegen ihn kommt, ist CDU/CSU und SPD zum Gesetzentwurf der Bundesre- in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allge- gierung zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und meinheit kein Argument dafür, über bestimmte Ver- der Gewerbeordnung enthält diese Klarstellung zur kehrsverstöße hinwegzusehen und sie dadurch bei der Punkteberechnung. Beurteilung der Fahreignung auszublenden. In solchen Es stand die Frage im Raum: Darf die Verkehrsbe- Fällen geht es teilweise sogar um Konstellationen, in de- hörde Punkte vergeben, wenn denn der Fahrer noch gar nen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Ver- nicht offiziell informiert worden ist, dass er einen Ver- kehrsregeln verstoßen wurde. Das ist ein besonderes Ri- stoß begangen hat? Da sind wir in der Koalition der kla- siko für die Verkehrssicherheit. Das ist ein besonderes ren Auffassung: Ja, sie darf. Risiko für die Allgemeinheit. Mit unserem Änderungs- antrag wird sichergestellt, dass für jeden Verkehrsver- Das ist wie folgt begründet: Es kommt nach dem stoß die dafür vorgesehenen Punkte im Fahreignungs- Fahreignungs-Bewertungssystem nicht darauf an, dass Bewertungssystem verwertet werden können. eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung wei- terer Verstöße erreicht und ihm damit theoretisch die Die Fahrerlaubnisbehörden sind auch noch nach Jah- Möglichkeit zur Verhaltensänderung gibt, bevor es zu ren auf alte Daten angewiesen und müssen auf diese zu- weiteren Verstößen kommt. rückgreifen können. Dazu reichen die im Zentralen Fahrerlaubnisregister vorhandenen Daten derzeit nicht Der Grund für unsere Haltung ist, dass das neue Sys- aus. Daher war eine Überarbeitung des Gesetzes not- tem keine verpflichtende Seminarteilnahme kennt. Wir wendig. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5359

(A) werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass für Drittens: ein neues Fahreignungsseminar. Transpa- (C) eine Neuerteilung von Fahrerlaubnissen, die durch Ent- rente Regeln allein führen bei auffälligen Verkehrsteil- ziehung, Verzicht oder Fristablauf erloschen waren, die nehmern nicht immer automatisch zu einem besseren im Verwaltungsvollzug erforderlichen Daten problemlos Fahrverhalten. Häufig ist es sinnvoll, verkehrspädagogi- zur Verfügung stehen. sche und verkehrspsychologische Elemente in die Fort- bildung mit einfließen zu lassen. Sie können helfen, ei- Die Reform des Flensburger Punktesystems war not- genes Fehlverhalten zu erkennen und zu verändern. Dies wendig, und sie war ein Erfolg und wird durch unsere wird im neuen Fahreignungsseminar stärker als bisher Klarstellung zur Punkteberechnung noch besser. berücksichtigt. Mit der heutigen Verabschiedung des geänderten Stra- Viertens: klare Regeln zum Punkteabbau. Freiwillige ßenverkehrsgesetzes haben wir einen langen Entschei- Maßnahmen zum Punkteabbau haben nachweislich ei- dungsprozess, der unter Minister Ramsauer begonnen nen positiven Einfluss auf die Verkehrssicherheit. Daher wurde, zu einem guten Ende gebracht. haben wir auch im neuen System die Möglichkeit erhal- Abschließend danke ich besonders den Mitarbeitern ten, bei einem Stand von bis zu fünf Punkten ein freiwil- aus dem Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruk- liges Fahreignungsseminar zu besuchen und damit einen tur, besonders Herrn Dr. Albrecht, für ihre geduldige und Punkt abzubauen. Eine Regelung, die insbesondere für kompetente Zuarbeit. Menschen, die berufsbedingt viel mit dem Pkw oder dem Lkw unterwegs sind, von hoher Bedeutung ist. Patrick Schnieder (CDU/CSU): Nachdem mein Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass wir Kollege Gero Storjohann schon ausführlich auf den vor- auch die Abfrage des aktuellen Punktestandes verein- gelegten Gesetzentwurf und den damit verbundenen Än- facht haben. In Zukunft kann diese sowohl vor Ort beim derungsantrag eingegangen ist, möchte ich gerne die Ge- Kraftfahrtbundesamt als auch auf dem Postweg und über legenheit nutzen und noch einmal einen kleinen Schritt das Internet geschehen – natürlich kostenfrei. zurückgehen: Warum haben wir eigentlich das Punkte- Diese Reform war nicht nur die größte in der Ge- system reformiert? schichte des Verkehrszentralregisters, sie war auch die Wie vermutlich die meisten hier wissen, wurde das wichtigste. Wie keine andere hat sie die Akzeptanz der alte Verkehrszentralregister am 1. Mai dieses Jahres Maßnahmen gesteigert und zur Erhöhung der Verkehrs- durch das neue Fahreignungsregister abgelöst. Die bis- sicherheit beigetragen. her größte Reform im Bereich der Verkehrssicherheit Der uns vorliegende Gesetzentwurf – verbunden mit seit über 50 Jahren. (B) dem Änderungsantrag der Großen Koalition – ist im We- (D) Ziel der Neuregelung war und ist es, das Punktesys- sentlichen eine Konkretisierung der Punkteberechnung. tem, das im Laufe der Zeit durch neue Regelungen im- Dabei geht es uns insbesondere darum, die Allgemein- mer komplizierter und undurchsichtiger wurde, grundle- heit vor denjenigen Verkehrsteilnehmern zu schützen, gend zu reformieren, es spürbar einfacher, transparenter die innerhalb kürzester Zeit schwerwiegende Verkehrs- und verständlicher zu gestalten. Nur so war es möglich, verstöße begehen – oder anders gesagt: offensichtlich die Akzeptanz bei den Betroffenen zu erhöhen und damit unbelehrbar sind. zur Verbesserung der Verkehrssicherheit beizutragen. Insgesamt haben wir damit eine runde und in sich Wer konnte noch verstehen, dass das Befahren einer schlüssige Reform vorgelegt, die spürbar und nachhaltig Umweltzone ebenso mit Punkten bestraft wurde wie ein die Verkehrssicherheit in Deutschland verbessern wird. gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr – zum Bei- spiel durch überhöhte Geschwindigkeit? Stefan Zierke (SPD): Wann haben Sie das letzte Mal Im Kern haben wir daher folgende Änderungen vor- einen Bußgeldbescheid mit dem Verweis auf Punkte er- genommen: halten?! Ohne hier irgendjemandem zu nahe treten zu wollen, war sicher der eine oder andere – mich einge- Erstens: Der Punktekatalog wurde entrümpelt. Im schlossen – schon einmal in dieser Situation. neuen System werden nur noch solche Verstöße mit Punkten geahndet, die tatsächlich zur Gefährdung der Die in der letzten Legislatur verabschiedete und am Verkehrssicherheit beitragen – Geschwindigkeitsver- 1. Mai dieses Jahres in Kraft getretene VZR-Reform stöße, Handyverstöße, Behinderung von Rettungskräften – besser als Ramsauers Punktereform bekannt – hat das etc. ursprüngliche 18-Punkte-System auf 8 eingestampft. Die drei Maßnahmenkategorien „Ermahnung“, „Verwar- Zweitens: Aus sieben wurde drei. Im alten System nung“ und „Entziehung der Fahrerlaubnis“ sind eine wurden Verkehrsverstöße mit bis zu sieben Punkten be- bewusst getroffene Stufenregelung im neuen Fahreig- straft. Eine schier undurchsichtige Vielzahl an Regeln nungssystem, die auf Verwaltungsebene mit entspre- und Konstellationen entstand. Die Verhältnismäßigkeit chenden Fristen einhergeht. Systematisches Ziel dieser ging verloren. Doch damit ist jetzt Schluss. Das neue Regelungen ist die Warnfunktion für den Betroffenen so- System stuft die Delikte nur noch in drei Kategorien ein. wie das übergeordnete Ziel der Verkehrssicherheit. Im Die Transparenz wird deutlich erhöht, und dennoch geht Sinne der Rechtssicherheit sollte jeder aktive Verkehrs- kein Verkehrsteilnehmer verloren, der zum wiederholten teilnehmer zu jedem Zeitpunkt wissen, ob und wie viele Male auffällig geworden ist. Punkte er in Flensburg hat bzw. wann ihm der Verlust 5360 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014

(A) der Fahrerlaubnis droht. Die Stufenregelung bei der Zeitraum der Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat – im (C) Punktevergabe ist daher grundsätzlich sinnvoll und dient Falle von Alkohol- oder Drogeneinfluss –, sondern al- der Transparenz. lein die Tat an sich ausschlaggebend für eine eventuelle Bepunktung ist. Es darf keine „Blankoschecks“ geben; Unter dieser Fassung waren jedoch verschiedene dafür ist die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer zu Auslegungen in den Ländern verfolgt und entsprechend wichtig. unterschiedliche Verfahrensweisen praktiziert worden. Im Zuge der Implementierung der Punktereform hat sich Darüber hinaus regelt der vorliegende Gesetzentwurf hier daher Klarstellungsbedarf ergeben, den wir heute noch zwei weitere Aspekte im aktuell geltenden Ver- beheben wollen: kehrsrecht: Bei der Stufenregelung im neuen Fahreignungssystem Zum einen wird das Straßenverkehrsgesetz dahin ge- gibt es einige wenige Konstellationen, bei denen diese hend geändert, dass zukünftig die Führerscheinausgabe Maßnahmenstufen in der Praxis nicht eingehalten wer- und -rückgabe zentral erfolgen muss. Dies ist eine Vor- den konnten und sukzessiv dadurch Verstöße später und gabe der EU-Kommission. Wir begrüßen dies, da es ne- zum Teil gar nicht mit Punkten geahndet werden konn- ben anderen Vorteilen dem Verbot der doppelten Erfas- ten. sung Rechnung trägt und dem Wunsch nach einer einheitlichen und nachvollziehbaren Führerscheinaus- Die Praxis hat gezeigt, dass die in einigen Ländern gabe- und -einzugsstelle. praktizierten Interpretationen wiederum ein gewisses Ausnutzungspotenzial bergen. Ich möchte gerne versu- Damit sollen zukünftig auch Altdaten besser verwal- chen, Ihnen das ein wenig anschaulicher zu machen: tet werden können. Die Praxis hat gezeigt, dass die der- zeitigen Fristen von fünf Jahren nicht ausreichend sind, Jemand, der mehrere Verkehrsverstöße innerhalb kür- da es bei Neuerteilung einer Fahrerlaubnis durchaus ent- zester Zeit begeht und beispielsweise bei vier Punkten scheidend ist, Zugriff auf Informationen zu haben, wie – bewusst oder unbewusst – gegen einen davon Rechts- etwa ob jemand gewisse Prüfungen in der Vergangenheit mittel einlegt, kommt in die skurrile Situation, dass die bereits abgelegt hat oder nicht. in der Zwischenzeit begangenen Vergehen aufgrund der aufschiebenden Einsprüche nicht geahndet werden dür- Übergeordnetes Ziel ist es hierbei, die Straßenver- fen und der Punktestand gleich bleibt bzw. sich nicht er- kehrsordnung und die Fahrerlaubnis-Verordnung so an- höht. Zuwiderhandlungen werden erst dann wieder mit zupassen, dass den Fahrerlaubnisbehörden im Falle der Punkten bewertet, wenn die Ermahnung von der Be- Neuerteilung des Führerscheins nach vorherigem Erlö- hörde ergriffen – also der Bescheid zugestellt – worden schen die erforderlichen Daten zur Verfügung stehen. (B) ist. Die Verwendung von Daten über bereits abgelegte Prü- (D) fungen ist darüber hinaus auch im Interesse der Betroffe- Richtig ist: Es geht um einige wenige Fälle, dennoch nen, da es die Verfahren erleichtert. Diese Anpassungen geht es hierbei unter Umständen um Wiederholungstäter, sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass es ab 2015 die in kürzester Zeit mehrere Verstöße begehen, unter keine örtlichen Fahrerlaubnisregister mehr geben wird. Umständen wohl wissend, dass diese nicht vollumfäng- lich geahndet werden können. Das kann unserer Auffas- Zum anderen wird die Gewerbeordnung dahin gehend sung nach nicht im Sinne des Gesetzgebers sein. angepasst, dass Personen, die kein Kraftverkehrsge- schäft führen dürfen, ebenfalls zentral erfasst werden. Dieser Umstand ist insbesondere unter Verkehrssi- Damit soll vermieden werden, dass diese auf andere cherheitsaspekten nicht zielführend, weil er Wiederho- Bundesländer ausweichen können. Hier besteht derzeit lungstätern einen Zeitraum gewährt, der je nach Dauer ein Defizit, da die Daten dieser Personen bei rechtswid- der Bearbeitung durch die Behörde 3 bis 12 Monate be- rigem Handeln nicht erfasst werden dürfen. tragen kann, währenddessen weitere Verkehrsverstöße nicht mit Punkten bewertet werden könnten – also eine Auch begrüßen wir, dass mithilfe einer weiteren Klar- Art „Blankoscheck“. stellung im Straßenverkehrsgesetz geregelt wird, dass für die ordnungsgemäße Durchführung der verkehrspsy- Um genau diese Fälle zu vermeiden und Wiederho- chologischen Teilmaßnahme im Rahmen des neuen lungstäter nicht zu ermutigen, wird durch den vorliegen- Fahreignungsseminars in Zukunft geeignete räumliche den Antrag die Stufenregelung beim Ergreifen der Maß- und sachliche Ausstattung vorzuweisen ist. nahmen klarer gefasst. Mit einer klareren Formulierung der Gesetzesvorschrift wollen wir erreichen, dass Ver- Ich bitte Sie daher, heute dem Gesetzentwurf zuzu- kehrszuwiderhandlungen stets auch dann mit Punkten stimmen, um eine konsequentere und auch gerechtere bewertet werden, wenn sie vor der Einleitung einer der Ahndung von Verstößen im Verkehr gewährleisten zu Maßnahmen begangen worden sind, unabhängig davon, können. ob sie bereits berücksichtigt werden konnten oder nicht. Mit dem vorliegenden Antrag der Koalition füllen wir Aus unserer Sicht darf es nicht sein, dass die Bearbei- eine Gesetzeslücke, bei der es uns um nicht weniger als tungszeiträume in den Landesbehörden ausschlaggebend die Verkehrssicherheit aller geht. Darüber hinaus sehe dafür sind, ob ein Verstoß bebußt wird oder nicht. Die ich es als unsere Aufgabe als Verkehrspolitiker, hier durch die Stufenregelung verfolgte Warnfunktion halten Klarheit zu schaffen, um die Akzeptanz in der Bevölke- wir für wichtig, ebenso wichtig ist es aber, dass nicht der rung für das neue Punktesystem zu erhöhen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Oktober 2014 5361

(A) Thomas Lutze (DIE LINKE): Das Straßenverkehrs- Zentrale Fahrerlaubnisregister von den örtlichen Fahrer- (C) gesetz ist ein sehr trockener Stoff, gerade für einen Ver- laubnisbehörden zur Verfügung gestellt bekommt, ge- kehrspolitiker, der kein Jurist ist. Es ist aber ein Stoff, schlossen werden. der von vielen in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Wir erinnern uns noch gut an die Debatten der letz- Damit wird es in Zukunft möglich sein, auch Regel- ten Wahlperiode zur Reform des Verkehrszentralregis- verstöße im Verkehr dann mit Punkten zu bewerten, ters in Flensburg. wenn sie vor Einleitung einer Maßnahme des Fahreig- nungsbewertungssystems erfolgten. Bisher konnte von Daher ist es auch richtig, dass die Regierung und ihre findigen Verkehrsteilnehmern das Schlupfloch zwischen Koalition hier im Bundestag versuchen, Gesetzeslücken Erreichen der Punkteschwelle und dem Ergreifen der zu schließen und Unklarheiten zu beseitigen. Allein die Maßnahme so genutzt werden, dass „punktebewehrte“ offene Frage von der Tatzeit eines Verkehrsverstoßes Verkehrsverstöße folgenlos blieben, also nicht mit Punk- und dem Zeitpunkt der Rechtswirksamkeit der Strafe ten geahndet wurden. und allem, was dazwischen so passieren kann, sind sehr unübersichtlich. Was passiert zum Beispiel, wenn zwi- Auch die „Restprobezeit“ neuer Führerscheinbesitzer schen den beiden genannten Zeitpunkten neue Verstöße soll künftig übermittelt werden. Mit den Ergänzungen hinzukommen? Wie wird so etwas rechtlich sauber be- des § 4 des Straßenverkehrsgesetzes wird dieses handelt? Schlupfloch jetzt hoffentlich wirksam geschlossen. Im Interesse einer verbesserten Verkehrssicherheit begrüßen Ich glaube nicht, dass mit der jetzigen Gesetzesinitia- wir diese Regelung ausdrücklich. tive alle offenen Fragen endgültig ausgeräumt werden, auch wenn die Richtung stimmt. Wir werden mit der No- Auch die Präzisierung des § 52 im Bundeszentralre- velle unsere Erfahrungen machen und vielleicht noch in gistergesetz, mit der Verkehrsverstöße mit Blick auf das dieser Wahlperiode die nächsten Probleme zu lösen ha- Fahreignungsbewertungssystem länger verwertbar wer- ben. Trotzdem stimmt die Linksfraktion vielen Punkten den, ist unter Verkehrssicherheitsaspekten sinnvoll. zu. Allerdings hegt meine Fraktion Bedenken hinsicht- Zwei Punkte bleiben für uns aber entscheidend: Zum lich des Datenschutzes. Uns muss bewusst sein, dass das einen darf die Rechtsstaatlichkeit nicht untergraben wer- beim Kraftfahrtbundesamt angesiedelte Zentrale Fahr- den. Hier bedeutet das, dass durch Veränderungen im erlaubnisregister künftig personenbezogene und sehr Verfahren die grundsätzliche Möglichkeit, Widerspruch sensible Daten zentral speichert. Auf diese Daten hat bei einzulegen – also auch in Berufung zu gehen – nicht ein- Strafverfolgung und im Zusammenhang mit Ordnungs- geschränkt werden darf. Das bedeutet in seiner letzten widrigkeiten die Polizei oder auch das Bundesamt für (B) Konsequenz auch, dass jeder bis zur endgültigen Ent- Güterverkehr Zugriff. (D) scheidung als unschuldig zu gelten hat. Gerade im Ver- Künftig wird auch der Grund für das Erlöschen der kehrsbereich stellt sich sehr oft im Verfahren heraus, Fahrerlaubnis zentral gespeichert. Diese Daten könnten dass zum Beispiel Geschwindigkeitsmessungen ungenau bei der derzeitigen Regelung auch sachfremd verwendet und damit ungültig gewesen sind. werden – das müssen wir jedoch zwingend ausschließen. Wichtig ist uns auch der Datenschutz, worin auch un- Bei Wiederausstellung der Fahrerlaubnis müssen perso- sere Kritik an der heutigen Vorlage begründet ist. Relativ nenbezogene Daten gelöscht werden. Nach der jetzt klar ist, wer Daten speichert und wo sie gespeichert wer- vorgesehenen Regelung bleiben sie unbegrenzt abge- den. Unklar ist aber, wer Zugriff auf diese Daten hat. speichert. Deshalb hätte dem umfangreichen Änderungs- Können diese Daten auch in anderen Verfahren verwen- antrag gut zu Gesicht gestanden, klare Regeln hinsicht- det werden, die mit dem konkreten Verstoß gar nichts zu lich eines verbesserten Datenschutzes vorzusehen. tun haben? Oder: Wann werden die Daten durch wen Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak- wieder gelöscht? Und wenn man dann liest, dass diese tionen, erlauben Sie mir abschließend noch ein Wort Daten EU-weit genutzt werden – was heutzutage voll- zum Beratungsverfahren: Acht Minuten vor Beginn der kommen sinnvoll ist –, dann muss man schon kritisch gestrigen Sitzung des Verkehrsausschusses erreichte uns fragen, ob die Einhaltung unserer Datenschutzstandards Ihr achtseitiger neuerlicher Änderungsantrag. Auch auch in allen teilnehmenden Ländern gegeben ist. wenn im Kern keine wesentlichen Änderungen enthalten Die Linke wird sich deshalb enthalten. sein sollen, so ist keine sachgerechte Prüfung mehr mög- lich gewesen. Das ist ein unwürdiges Verfahren. Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bitte ersparen Sie uns künftig ein solches Durchpeit- NEN): Mit den vorliegenden Änderungen beim Straßen- schen von Gesetzesänderungen. Ihre Mehrheit ist schon verkehrsgesetz und des Bundeszentralregistergesetzes erdrückend genug – geben Sie uns wenigstens ausrei- soll eine Regelungslücke bezüglich der Daten, die das chend Zeit, ihr politisches Handeln zu bewerten. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980