Plenarprotokoll 17/99

Deutscher

Stenografischer Bericht

99. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Inhalt:

Benennung der Abgeordneten Eva Bulling- Tagesordnungspunkt 4: Schröter und in den Beirat a) Antrag der Abgeordneten Rolf der Bundesnetzagentur ...... 11249 A Hempelmann, , Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- (Peine), weiterer Abgeordneter und der nung ...... 11249 B Fraktion der SPD: Auf dem Weg zu ei- nem nachhaltigen, effizienten, bezahl- Absetzung der Tagesordnungspunkte 15, 20, baren und sicheren Energiesystem 23, 26 und 33 g ...... 11250 D (Drucksache 17/5181) ...... 11277 D Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 11251 A b) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Tagesordnungspunkt 3: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomzeit- Abgabe einer Regierungserklärung durch die alter beenden – Energiewende jetzt Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat (Drucksache 17/5202) ...... 11278 A am 24./25. März 2011 in Brüssel ...... 11251 B c) Große Anfrage der Abgeordneten , Marco Bülow, Rolf Hempelmann, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bundeskanzlerin ...... 11251 B der SPD: Verlängerung von Restlaufzei- Peer Steinbrück (SPD) ...... 11257 B ten von Atomkraftwerken – Auswir- kungen auf die Entwicklung des Wett- Birgit Homburger (FDP) ...... 11261 D bewerbs auf dem Strommarkt und auf Dr. (DIE LINKE) ...... 11264 A den Ausbau der erneuerbaren Energien (Drucksachen 17/832, 17/3089) ...... 11278 A (CDU/CSU) ...... 11267 A d) Zweite und dritte Beratung des von den Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Abgeordneten , Britta DIE GRÜNEN) ...... 11269 A Haßelmann, , weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 11271 C DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ eines Gesetzes zur Änderung des Ener- DIE GRÜNEN) ...... 11271 D giewirtschaftsgesetzes (Drucksachen 17/3182, 17/5148) ...... 11278 B (CDU/CSU) ...... 11272 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 11274 A Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Gunther Krichbaum (CDU/CSU) ...... 11274 C gie (CDU/CSU) ...... 11275 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), (CDU/CSU) ...... 11276 B Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

und der Fraktion der SPD: Die Ener- Rainer Brüderle, Bundesminister gieversorgung in kommunaler Hand BMWi ...... 11285 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling- DIE GRÜNEN) ...... 11286 C Schröter, weiterer Abgeordneter und Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 11288 A der Fraktion DIE LINKE: Energie- netze in die öffentliche Hand – Kom- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ munalisierung der Energieversor- DIE GRÜNEN) ...... 11290 B gung erleichtern – Transparenz und Dorothee Menzner (DIE LINKE) ...... 11290 D demokratische Kontrolle stärken Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 11291 B (Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148) 11278 B Peter Friedrich (SPD) ...... 11292 A in Verbindung mit Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 11293 C Peter Friedrich (SPD) ...... 11293 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. (FDP) ...... 11294 A Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für DIE GRÜNEN) ...... 11294 C eine beschleunigte Stilllegung von Atom- (SPD) ...... 11295 D kraftwerken (Drucksache 17/5179) ...... 11278 C Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 11296 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN) ...... 11296 B (FDP) ...... 11296 D Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 11298 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 11298 D Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting- Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Dorothee Menzner (DIE LINKE) ...... 11299 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ulrich Kelber (SPD) ...... 11300 C Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes – Abschalten (FDP) ...... 11301 C der acht unsichersten Atomkraftwerke Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 11302 C (Drucksache 17/5180) ...... 11278 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 11303 C in Verbindung mit Marie-Luise Dött (CDU/CSU) ...... 11305 B Ulrich Kelber (SPD) ...... 11307 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Marie-Luise Dött (CDU/CSU) ...... 11307 D Antrag der Fraktion der SPD: Energiewende jetzt Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 11308 B (Drucksache 17/5182) ...... 11278 D Marie-Luise Dött (CDU/CSU) ...... 11308 C in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Zusatztagesordnungspunkt 7: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Anpassung der Vorschriften Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- über den Wertersatz bei Widerruf von NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Hermesbürg- Fernabsatzverträgen und über verbun- schaften für Atomtechnologien dene Verträge (Drucksache 17/5183) ...... 11278 D (Drucksache 17/5097) ...... 11309 B Rolf Hempelmann (SPD) ...... 11279 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. (CDU/CSU) ...... 11280 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 4. Februar Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) ...... 11282 B 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 III

Deutschland und der Französischen Re- in Angelegenheiten der Europäi- publik über den Güterstand der Wahl- schen Union Zugewinngemeinschaft Katastrophenabwehr in Europa effek- (Drucksache 17/5126) ...... 11309 B tiv gestalten c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 17/5194) ...... 11309 D rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- ten Gesetzes zur Änderung von Ver- i) Antrag der Abgeordneten Jutta brauchsteuergesetzen Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana (Drucksachen 17/5127, 17/5201) ...... 11309 C Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitnehmerfrei- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- zügigkeit sozial gestalten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 17/5177) ...... 11310 A zes zu dem Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik j) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Deutschland und dem Commonwealth , Brigitte Pothmer, weiterer Ab- der Bahamas über die Unterstützung in geordneter und der Fraktion BÜND- Steuer- und Steuerstrafsachen durch NIS 90/DIE GRÜNEN: Alternativen zur Informationsaustausch öffentlichen Ausschreibung für Leistun- (Drucksache 17/5128) ...... 11309 C gen der Integrationsfachdienste ermög- lichen e) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 17/5205) ...... 11310 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 27. Juli k) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang 2010 zwischen der Bundesrepublik Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Deutschland und dem Fürstentum Mo- Kühn, weiterer Abgeordneter und der naco über die Unterstützung in Steuer- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: und Steuerstrafsachen durch Informa- Gleiches Rentenrecht in Ost und West tionsaustausch (Drucksache 17/5207) ...... 11310 B (Drucksache 17/5129) ...... 11309 C f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Tagesordnungspunkt 24: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Antrag der Abgeordneten , zes zu dem Abkommen vom 27. Mai , , weiterer 2010 zwischen der Regierung der Bun- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: desrepublik Deutschland und der Re- Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung gierung der Kaimaninseln über die von Europäischen Betriebsräten umsetzen Unterstützung in Steuer- und Steuer- (Drucksache 17/5184) ...... 11310 C strafsachen durch Informationsaus- tausch (Drucksache 17/5130) ...... 11309 D Zusatztagesordnungspunkt 8: h) Antrag der Abgeordneten Dr. Günter a) Antrag der Abgeordneten , Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Grindel, weiterer Abgeordneter und der Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe ordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), „Verbesserung der regionalen Wirt- Gisela Piltz, Manuel Höferlin, weiterer schaftsstruktur“ – Finanzierung lang- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: fristig sichern zu der Mitteilung der Kommission an (Drucksache 17/5185) ...... 11310 C das Europäische Parlament und den Rat b) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Auf dem Weg zu einer verstärkten eu- , Jan van Aken, weiterer ropäischen Katastrophenabwehr: die Abgeordneter und der Fraktion DIE Rolle von Katastrophenschutz und hu- LINKE: Schutz vor militärischem Flug- manitärer Hilfe lärm (KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. (Drucksache 17/5206) ...... 11310 C 15614/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Tagesordnungspunkt 34: Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. a) Zweite und dritte Beratung des von der m. § 9 des Gesetzes über die Zu- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs sammenarbeit von Bundesregie- eines Gesetzes zu dem Abkommen vom rung und Deutschem Bundestag 20. August 2009 zwischen der Bundes- IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

republik Deutschland und der Schwei- Vorschriften der Europäischen Union zerischen Eidgenossenschaft über die über die Zulassung oder Genehmigung Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppel- des Inverkehrbringens von Pflanzen- bürger schutzmitteln (Drucksachen 17/4810, 17/5068) ...... 11310 D (Drucksachen 17/4985, 17/5199) ...... 11312 C b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung h) Beschlussempfehlung und Bericht des des von der Bundesregierung eingebrach- Rechtsausschusses zu dem: ten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver- Vorschlag für einen Beschluss des Rates einbarung vom 16. April 2009 über die über den Abschluss des Übereinkom- Änderungen des Übereinkommens vom mens über die internationale Geltend- 5. September 1998 zwischen der Regie- machung der Unterhaltsansprüche von rung der Bundesrepublik Deutschland, Kindern und anderen Familienangehö- der Regierung des Königreichs Däne- rigen durch die Europäische Gemein- mark und der Regierung der Republik schaft Polen über das Multinationale Korps KOM(2009) 373 endg.; Ratsdok.-Nr. Nordost 12265/09 (Drucksachen 17/4809, 17/5084) ...... 11311 A (Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241) 11312 D c) – Zweite und dritte Beratung des von der i) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundesregierung eingebrachten Ent- Rechtsausschusses zu dem: wurfs eines Gesetzes zur Beschleuni- Bericht der Kommission an den Rat, gung der Zahlung von Entschädi- das Europäische Parlament, den Euro- gungsleistungen bei der Anrechnung päischen Wirtschafts- und Sozialaus- des Lastenausgleichs und zur Ände- schuss und den Ausschuss der Regionen rung des Aufbauhilfefondsgesetzes Anwendung der Richtlinie 2004/48/EG (ZEALG) des Europäischen Parlaments und des (Drucksachen 17/4807, 17/5086) Rates vom 29. April 2004 zur Durchset- zung der Rechte des geistigen Eigen- – Bericht des Haushaltsausschusses ge- tums mäß § 96 der Geschäftsordnung (inkl. 5140/11 ADD 1) (Drucksache 17/5087) ...... 11311 B (ADD 1 in Englisch) KOM(2010) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11 d) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242) 11313 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom j)–q) 1. Juli 2010 zwischen der Bundesrepu- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- blik Deutschland und den Vereinigten schusses: Sammelübersichten 234, 235, Arabischen Emiraten zur Vermeidung 236, 237, 238,, 239, 240 und 241 zu Peti- der Doppelbesteuerung und der Steuer- tionen verkürzung auf dem Gebiet der Steuern (Drucksachen 17/5059, 17/5060, 17/5061, vom Einkommen 17/5062, 17/5063, 17/5064, 17/5065, (Drucksachen 17/4806, 17/5186) ...... 11311 D 17/5066) ...... 11313 B e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Tagesordnungspunkt 28: Verordnung (EG) Nr. 4/2009 und zur a) Zweite und dritte Beratung des von der Neuordnung bestehender Aus- und Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Durchführungsbestimmungen auf dem eines Gesetzes zur Einführung eines Gebiet des internationalen Unterhalts- Bundesfreiwilligendienstes verfahrensrechts (Drucksachen 17/4803, 17/5249) ...... 11314 A (Drucksachen 17/4887, 17/5240) ...... 11312 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des f) Zweite und dritte Beratung des von der Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs und Jugend eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und ande- – zu dem Antrag der Abgeordneten rer Gesetze Dorothee Bär, Markus Grübel, (Drucksachen 17/4144, 17/5169) ...... 11312 B Dr. , weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU so- g) Zweite und dritte Beratung des von der wie der Abgeordneten Miriam Gruß, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Florian Bernschneider, Heinz eines Gesetzes über die vorläufige Golombeck, weiterer Abgeordneter Durchführung unmittelbar geltender und der Fraktion der FDP: Für eine Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 V

Stärkung der Jugendfreiwilligen- Tagesordnungspunkt 6: dienste – Bürgerschaftliches Enga- Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, gement der jungen Generation aner- , Diana Golze, weiterer Abge- kennen und fördern ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ute schäftigte am Aufschwung beteiligen – Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, wei- Staatlich begünstigtes Lohndumping auf- terer Abgeordneter und der Fraktion geben der SPD: Stärkung der Jugendfrei- (Drucksache 17/4877) ...... 11330 D willigendienste – Platzangebot aus- Michael Schlecht (DIE LINKE) ...... 11331 A bauen, Qualität erhöhen, Rechtssi- cherheit schaffen (CDU/CSU) ...... 11332 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic (SPD) ...... 11333 C Sönke Rix, Petra Crone, Petra Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 11335 D Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Chancen Michael Schlecht (DIE LINKE) ...... 11336 C nutzen – Jugendfreiwilligendienste Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 11337 A stärken Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 11337 D Harald Koch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 11338 D Fraktion DIE LINKE: Jugendfreiwil- (FDP) ...... 11340 B ligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 11341 A – zu dem Antrag der Abgeordneten , Britta Haßelmann, Ute Tagesordnungspunkt 30: Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Zweite und dritte Beratung des von der NEN: Aufbauoffensive für Freiwilli- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs gendienste jetzt auf den Weg brin- eines Gesetzes zur Änderung wehr- gen – Quantität, Qualität und rechtlicher Vorschriften 2011 (Wehr- Attraktivität steigern rechtsänderungsgesetz 2011 – Wehr- RÄndG 2011) (Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, (Drucksachen 17/4821, 17/5239) ...... 11342 B 17/4845, 17/3436, 17/5249) ...... 11314 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 11314 D § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/5243) ...... 11342 C Sönke Rix (SPD) ...... 11316 A Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister Miriam Gruß (FDP) ...... 11317 B BMVg ...... 11342 C Harald Koch (DIE LINKE) ...... 11317 D Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) ...... 11344 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 11344 D DIE GRÜNEN) ...... 11319 B Rainer Erdel (FDP) ...... 11346 B Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) ...... 11320 D Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 11347 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11322 A Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11348 D (SPD) ...... 11322 D Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 11349 D Florian Bernschneider (FDP) ...... 11324 B Ingo Gädechens (CDU/CSU) ...... 11350 D Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 11352 A DIE GRÜNEN) ...... 11326 C Christoph Schnurr (FDP) ...... 11353 B Florian Bernschneider (FDP) ...... 11326 D Dr. (CDU/CSU) ...... 11354 B (CDU/CSU) ...... 11327 A Heidrun Dittrich (DIE LINKE) ...... 11327 D Tagesordnungspunkt 32: (CDU/CSU) ...... 11328 C Antrag der Abgeordneten Katrin Göring- Harald Koch (DIE LINKE) ...... 11329 B Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin, weite- VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 rer Abgeordneter und der Fraktion Tagesordnungspunkt 10: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für die Um- setzung der Gleichstellung von Sinti und Antrag der Fraktion der SPD: Mit Transpa- Roma in Deutschland und Europa renz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexpor- (Drucksache 17/5191) ...... 11355 D ten Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/5054) ...... 11379 C DIE GRÜNEN) ...... 11355 D (CDU/CSU) ...... 11357 A in Verbindung mit (SPD) ...... 11358 B Serkan Tören (FDP) ...... 11359 D Zusatztagesordnungspunkt 9: Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten , Hans- DIE GRÜNEN) ...... 11360 B Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (DIE LINKE) ...... 11361 C NIS 90/DIE GRÜNEN: Genehmigung für (CDU/CSU) ...... 11362 B Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit kon- sequent aussetzen Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 11363 B (Drucksache 17/5204) ...... 11379 D (CDU/CSU) ...... 11364 B Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) ...... 11380A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 11381 C DIE GRÜNEN) ...... 11365 B Jan van Aken (DIE LINKE) ...... 11382 C

Tagesordnungspunkt 7: Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) ...... 11383 C – Zweite und dritte Beratung des von der Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung eingebrachten Entwurfs DIE GRÜNEN) ...... 11385 A eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) ...... 11386 A Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Verhinderung von Missbrauch der Ar- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ beitnehmerüberlassung DIE GRÜNEN) ...... 11387 A (Drucksachen 17/4804, 17/5238) ...... 11365 C Jan van Aken (DIE LINKE) ...... 11387 C – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion DIE LINKE Tagesordnungspunkt 9: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes a) Erste Beratung des von den Fraktionen der zur strikten Regulierung der Arbeit- CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- nehmerüberlassung wurfs eines … Gesetzes zur Änderung (Drucksachen 17/3752, 17/5238) ...... 11365 C des Infektionsschutzgesetzes und weite- Dr. , rer Gesetze Bundesministerin BMAS ...... 11365 D (Drucksache 17/5178) ...... 11388 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 11367 A b) Antrag der Abgeordneten , Dr. , Inge Höger, Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 11368 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Krankenhausinfektionen Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 11369 D vermeiden – Tödliche und gefährliche Jutta Krellmann (DIE LINKE) ...... 11371 A Keime bekämpfen (Drucksache 17/4489) ...... 11388 A Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11372 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, , weiterer Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 11372 B Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 11373 C NIS 90/DIE GRÜNEN: Prävention von Krankenhausinfektionen verbessern (DIE LINKE) ...... 11374 A (Drucksache 17/5203) ...... 11388 A Anette Kramme (SPD) ...... 11375 C Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 11376 D BMG ...... 11388 B (CDU/CSU) ...... 11377 D Bärbel Bas (SPD) ...... 11389 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 VII

Lothar Riebsamen (CDU/CSU) ...... 11390 C Tagesordnungspunkt 14: Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 11392 A Antrag der Abgeordneten , Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: DIE GRÜNEN) ...... 11393 A Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetz- buch und Leistungseinschränkungen im Lars Lindemann (FDP) ...... 11394 A Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaf- Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 11395 B fen (Drucksache 17/5174) ...... 11398 C Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 11396 A Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 11398 C Dr. (CDU/CSU) ...... 11399 C Tagesordnungspunkt 12: Johanna Voß (DIE LINKE) ...... 11400 B a) – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 11401 A wurfs eines Gesetzes zur Erweite- Pascal Kober (FDP) ...... 11402 C rung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 11403 D mer (Schutz vor Kündigungen we- gen eines unbedeutenden wirtschaft- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 11404 D lichen Schadens) Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... (Drucksachen 17/648, 17/4281) . . . . . 11937 A 11404 D – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Tagesordnungspunkt 13: Nešković, , , wei- teren Abgeordneten und der Fraktion a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und DIE LINKE eingebrachten Entwurfs FDP: Die arabische Welt – Region im eines Gesetzes zum Verbot der Ver- Aufbruch, Partner im Wandel dachtskündigung und der Erweite- (Drucksache 17/5193) ...... 11405 A rung der Kündigungsvoraussetzun- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof gen bei Bagatelldelikten Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Ute (Drucksachen 17/649, 17/4281) . . . . . 11397 B Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Für eine neue Politik gegenüber den Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Ländern Nordafrikas und des Nahen dem Antrag der Abgeordneten Beate Ostens Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy (Drucksache 17/5192) ...... 11405 B Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündi- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag gungen korrigieren – Pflicht zur Ab- der Abgeordneten Günter Gloser, Klaus mahnung einführen Brandner, Dr. h. c. , weiterer (Drucksachen 17/1986, 17/4281) ...... 11397 B Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern Tagesordnungspunkt 11: (Drucksachen 17/4849, 17/5146) ...... 11405 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- d) Beschlussempfehlung und Bericht des schusses für Tourismus zu dem Antrag der Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Abgeordneten , Klaus der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan Brähmig, Josef Göppel, weiterer Abgeordne- van Aken, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der LINKE: Solidarität mit den Demokra- Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens tiebewegungen in den arabischen Län- Ackermann, , weiterer dern – Beendigung der deutschen Un- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tou- terstützung von Diktatoren rismus und Landschaftspflege verknüpfen – (Drucksachen 17/4671, 17/5147) ...... 11405 B Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Drucksachen 17/2478, 17/5117) ...... 11398 A in Verbindung mit VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Zusatztagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes Libyen-Krieg sofort beenden (Drucksache 17/5053) ...... 11420 A (Drucksache 17/5173) ...... 11405 C Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 11405 D Tagesordnungspunkt 21: Günter Gloser (SPD) ...... 11407 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Joachim Hörster (CDU/CSU) ...... 11408 D schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 11409 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ Beckmeyer, , Sören Bartol, DIE GRÜNEN) ...... 11410 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion Thomas Silberhorn (CDU/CSU) ...... 11412 A der SPD: Kein Weiterbau von 21 bis zur Volksabstimmung – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Tagesordnungspunkt 16: Leidig, Dr. , Herbert Antrag der Abgeordneten , Kai Behrens, weiterer Abgeordneter und der Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordne- Fraktion DIE LINKE: Stuttgart 21, Neu- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- baustrecke Wendlingen–Ulm und das NEN: Wissenschaftliche Redlichkeit und Sparpaket der Bundesregierung die Qualitätssicherung bei Promotionen – zu dem Antrag der Abgeordneten stärken , , (Drucksache 17/5195) ...... 11413 C Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Sofortiger Baustopp für Stutt- Tagesordnungspunkt 17: gart 21 und die Neubaustrecke Wend- lingen–Ulm Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893, Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung 17/5172) ...... 11420 B der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirt- schaft und der Anstalt Absatzförderungs- in Verbindung mit fonds der deutschen Forst- und Holzwirt- schaft (Drucksachen 17/4558, 17/5167) ...... 11413 D Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 18: schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Erste Beratung des von der Bundesregierung Winfried Hermann, Dr. , eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über , weiterer Abgeordneter und die Vereinfachung des Austauschs von In- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: formationen und Erkenntnissen zwischen Transparenter Stresstest für die Leistungs- den Strafverfolgungsbehörden der Mit- fähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21 gliedstaaten der Europäischen Union (Drucksachen 17/5041, 17/5236) ...... 11420 C (Drucksache 17/5096) ...... 11414 B Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) ...... 11420 D (Weil am Rhein) (CDU/CSU) ...... 11414 C Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 11422 A Dr. Eva Högl (SPD) ...... 11415 B Ute Kumpf (SPD) ...... 11423 A Gisela Piltz (FDP) ...... 11416 C Werner Simmling (FDP) ...... 11424 B Frank Tempel (DIE LINKE) ...... 11417 A (DIE LINKE) ...... 11425 A Dr. (BÜNDNIS 90/ Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11418 B DIE GRÜNEN) ...... 11426 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 IX

Tagesordnungspunkt 22: Inge Höger (DIE LINKE) ...... 11441 C Antrag der Abgeordneten Dr. Anton (Köln) (BÜNDNIS 90/ Hofreiter, Nicole Maisch, , DIE GRÜNEN) ...... 11442 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stärkung der Nächste Sitzung ...... 11444 C Fahrgastrechte im Fernbusverkehr (Drucksache 17/5057) ...... 11427 D (Kleinsaara) Anlage 1 (CDU/CSU) ...... 11428 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11445 A Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 11429 A

Ulrike Gottschalck (SPD) ...... 11429 D Anlage 2 Heinz Paula (SPD) ...... 11431 B Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Patrick Döring (FDP) ...... 11431 D Dr. (CDU/CSU) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes (DIE LINKE) ...... 11432 C zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ 2011 (Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 – DIE GRÜNEN) ...... 11432 D WehrRÄndG 2011) (Tagesordnungspunkt 30) 11445 D

Tagesordnungspunkt 25: Anlage 3 Antrag der Abgeordneten , Karin Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung: Binder, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter – Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung und der Fraktion DIE LINKE: Einsatz von des Kündigungsschutzes der Arbeitneh- Pfefferspray durch die Polizei massiv be- merinnen und Arbeitnehmer (Schutz vor schränken Kündigung wegen eines unbedeutenden (Drucksache 17/5055) ...... 11434 A wirtschaftlichen Schadens) Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 11434 A – Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Wolfgang Gunkel (SPD) ...... 11435 A Verdachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen bei Ba- Gisela Piltz (FDP) ...... 11435 C gatelldelikten Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 11436 B – Beschlussempfehlung und Bericht: Unge- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ rechtigkeiten bei Bagatellkündigungen kor- DIE GRÜNEN) ...... 11437 A rigieren – Pflicht zur Abmahnung einführen (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Tagesordnungspunkt 27: Gitta Connemann (CDU/CSU) ...... 11446 B a) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 11447 B (Köln), Inge Höger, Jan van Aken, weite- Gabriele Molitor (FDP) ...... 11448 A rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beachtung des Parlamentsbe- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 11448 D teiligungsgesetzes bei dem Evakuie- Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 11449 B rungseinsatz in Libyen Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/5175) ...... 11437 C DIE GRÜNEN) ...... 11450 A b) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Anlage 4 LINKE: Stopp der Überwachung des libyschen Luftraums durch AWACS- Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung Luftfahrzeuge der Beschlussempfehlung und des Berichts: Tourismus und Landschaftspflege verknüp- (Drucksache 17/5176) ...... 11437 D fen – Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Michael Brand (CDU/CSU) ...... 11437 D Räume stärken (Tagesordnungspunkt 11) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) ...... 11438 C Marlene Mortler (CDU/CSU) ...... 11450 D Lars Klingbeil (SPD) ...... 11439 C Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 11452A Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 11440 D Heinz Paula (SPD) ...... 11453 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Horst Meierhofer (FDP) ...... 11454 C Anlage 7 Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 11455 Â Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 11455 C des Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförde- Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ rungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- DIE GRÜNEN) ...... 11456 A rungswirtschaft und der Anstalt Absatzförde- rungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17) Anlage 5 Marlene Mortler (CDU/CSU) ...... 11464 D Zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung des Antrags: Sanktionen im Zweiten Buch Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 11466 A Sozialgesetzbuch und Leistungseinschrän- kungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 11467 A abschaffen (Tagesordnungspunkt 14) Dr. (DIE LINKE) ...... 11467 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11456 D DIE GRÜNEN) ...... 11468 D

Anlage 6 Anlage 8 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Antrags: Wissenschaftliche Redlichkeit Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung und die Qualitätssicherung bei Promotionen des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung stärken (Tagesordnungspunkt 16) des Urheberrechtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 19) Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 11458 A (CDU/CSU) ...... 11469 C Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) ...... 11460 A René Röspel (SPD) ...... 11470 D René Röspel (SPD) ...... 11460 C Dr. (Lausitz) (FDP) ...... 11461 D (FDP) ...... 11472 D Dr. (DIE LINKE) ...... 11462 C Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 11473 C Krista Sager (BÜNDNIS 90/ Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11463 C DIE GRÜNEN) ...... 11474 B

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11249

(A) (C) Redetext

99. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. LINKE: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Konkrete Anforderungen insbesondere des begrüße Sie alle herzlich. Bundesumweltministeriums für die Sicher- heitsüberprüfung deutscher Atomkraftwerke Vor Eintritt in unsere Tagesordnung gebe ich Ihnen (siehe 98. Sitzung) Folgendes bekannt: Die Fraktion Die Linke hat mitge- ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- teilt, dass im Beirat der Bundesnetzagentur die Kolle- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine be- gin Johanna Voß zukünftig von der Kollegin Eva schleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken Bulling-Schröter und die Kollegin Dorothee Menzner vom Kollegen Ralph Lenkert vertreten wird. Sind Sie – Drucksache 17/5179 – damit einverstanden? – Es sieht ganz danach aus. Dann Überweisungsvorschlag: (B) können wir so verfahren. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) (D) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- geführten Punkte zu erweitern: teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- ZP 1 Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des – Drucksache 17/5168 – Atomgesetzes – Abschalten der acht unsichers- (siehe 98. Sitzung) ten Atomkraftwerke ZP 2 Beratung des Antrags der Bundesregierung – Drucksache 17/5180 – Überweisungsvorschlag: Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) von NATO-AWACS im Rahmen der Interna- Innenausschuss tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Rechtsausschuss Afghanistan (International Security Assis- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und tance Force, ISAF) unter Führung der NATO Technikfolgenabschätzung auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und Haushaltsausschuss folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010) vom 13. Oktober 2010 des Sicher- ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD heitsrates der Vereinten Nationen Energiewende jetzt – Drucksache 17/5190 – – Drucksache 17/5182 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Innenausschuss Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnolo- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO gien (siehe 98. Sitzung) – Drucksache 17/5183 – 11250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 8 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Berichterstattung: (C) fahren Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann Ergänzung zu TOP 33 ZP 12 – Beratung der Beschlussempfehlung und des a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weite- schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beteiligung deutscher Streitkräfte am Ein- Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbes- satz von NATO-AWACS im Rahmen der serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – Internationalen Sicherheitsunterstützungs- Finanzierung langfristig sichern truppe in Afghanistan (International Secu- – Drucksache 17/5185 – rity Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 1386 (2001) und folgender Resolutionen, Finanzausschuss zuletzt Resolution 1943 (2010) vom 13. Ok- Ausschuss für Arbeit und Soziales tober 2010 des Sicherheitsrates der Verein- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ten Nationen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss – Drucksachen 17/5190, 17/5251 – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Berichterstattung: Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer Abgeordnete Philipp Mißfelder Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Dr. Rolf Mützenich Schutz vor militärischem Fluglärm Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke – Drucksache 17/5206 – Kerstin Müller (Köln) Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Ausschuss für Gesundheit gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Drucksache 17/5252 – ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, Berichterstattung: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Abgeordnete NIS 90/DIE GRÜNEN Klaus Brandner (B) Dr.h.c.Jürgen Koppelin (D) Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuver- lässigkeit konsequent aussetzen Sven-Christian Kindler – Drucksache 17/5204 – ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Abgeordneter und der Fraktion der SPD Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Tierheime entlasten – Einheitliche Regelungen (Federführung strittig) schaffen ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang – Drucksachen 17/4851, 17/5198 – Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Berichterstattung: LINKE Abgeordnete Heinz Paula Libyen-Krieg sofort beenden Dr. Christel Happach-Kasan – Drucksache 17/5173 – Alexander Süßmair Undine Kurth (Quedlinburg) ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag weit erforderlich, abgewichen werden. der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Die Tagesordnungspunkte 15, 20, 23, 26 und 33 g Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeord- werden abgesetzt. Der bisher bei Tagesordnungs- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- punkt 24 zur Beratung vorgesehene Antrag soll ohne NEN Debatte überwiesen werden. Transparenter Stresstest für die Leistungsfä- Ich möchte Sie noch auf folgende geplante Änderun- higkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21 gen des Ablaufs aufmerksam machen: Der Tagesord- – Drucksachen 17/5041, 17/5236 – nungspunkt 28 wird schon heute im Anschluss an die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11251

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Beratungen ohne Aussprache aufgerufen. Ebenso soll der Debatte über das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirt- (C) Tagesordnungspunkt 30 auf den heutigen Nachmittag schafts- und Währungsunion beraten, das der heute be- vorgezogen und nach dem Tagesordnungspunkt 6 behan- ginnende Europäische Rat beschließen wird, möchte ich delt werden. Dadurch rücken der Tagesordnungspunkt 7 zunächst unseren Blick noch einmal auf die dramati- und die übrigen Punkte der Koalitionsfraktionen jeweils schen Ereignisse in Japan und die Umbrüche im arabi- einen Platz nach hinten. Die Tagesordnungspunkte 8 und schen Raum lenken. Seit einigen Wochen erleben wir in 32 werden getauscht. Der Tagesordnungspunkt 5 ver- zahlreichen Staaten der arabischen Welt tiefgreifende schiebt sich auf morgen und wird nach dem Tagesord- Umwälzungen. Sie gründen in der Sehnsucht der Men- nungspunkt 29 beraten. – Das haben Sie alle jetzt sicher schen nach Freiheit, nach politischer Selbstbestimmung. sofort neu sortiert. Falls Zweifel oder Unsicherheiten zu- Sie werden das Gesicht dieser Region verändern. Damit rückbleiben sollten, stehen Ihnen sowohl die Parlamen- werden sie auch das Gesicht der Welt verändern. tarischen Geschäftsführer wie auch das Präsidium für Auskünfte gern zur Verfügung. Die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder vor der Universität in Sanaa demonstrieren, fordern Frei- Ich mache schließlich auf eine nachträgliche Aus- heit, sie fordern Demokratie, sie fordern soziale Gerech- schussüberweisung im Anhang zur Zusatzliste aufmerk- tigkeit, und sie fordern bessere Lebensbedingungen. Sie sam: wenden sich gegen Willkürherrschaft, Unterdrückung Der am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgende und Korruption. Sie nehmen den Übergang zu einer Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kultur neuen Ordnung in ihre eigenen Hände. Dafür gebührt ih- und Medien (22. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- nen unser aller Respekt. sen werden: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Erste Beratung des von den Abgeordneten bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Gemmeke, Volker Beck (Köln), weiteren Abge- Diese Umwälzungen sind eine historische Chance für ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE die Menschen in der arabischen Welt, aber genauso auch GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- für uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb hat sich der zes zur Verbesserung des Schutzes personen- Europäische Rat am Freitag vor 14 Tagen mit diesem bezogener Daten der Beschäftigten in der Pri- Thema beschäftigt. Die Kommission hat Vorschläge für vatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen eine neue Partnerschaft mit dieser Region vorgelegt. – Drucksache 17/4853 – Allerdings spüren wir gleichzeitig, wie fragil die Ent- (B) Überweisungsvorschlag: wicklungen sind und wie ungewiss ihr Ausgang ist. Wir (D) Innenausschuss (f) sehen das in Bahrain, in Jemen, in Syrien, in Algerien, Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und wir sehen das natürlich noch viel gravierender in Li- Ausschuss für Arbeit und Soziales byen. Dort hat Gaddafi seinem eigenen Volk den Krieg Ausschuss für Kultur und Medien erklärt. Die in der vergangenen Woche im Sicherheitsrat Darf ich für alle diese vorgesehenen Änderungen Ihr der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1973 Einverständnis feststellen? – Das ist offensichtlich der dient deshalb dem Ziel, diesem Krieg Gaddafis gegen Fall. Dann ist das so beschlossen. sein eigenes Volk Einhalt zu gebieten. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Die Bundesregierung hat sich, wie Sie wissen, bei der Abstimmung über diese Resolution enthalten. Sie hat Abgabe einer Regierungserklärung durch die sich enthalten, weil sie Bedenken hinsichtlich der militä- Bundeskanzlerin rischen Umsetzung der Resolution hat. Deutschland ent- zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011 sendet deshalb auch keine Soldaten der Bundeswehr. in Brüssel Aber auch wenn das so ist, so gilt gleichzeitig: Die Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- Bundesregierung unterstützt die Ziele, die mit dieser Re- tion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion solution verabschiedet wurden, uneingeschränkt. Sie hat Bündnis 90/Die Grünen vor. sich für diese Ziele von Anfang an eingesetzt. Deshalb hoffen wir auf einen schnellen und vor allem nachhalti- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für gen Erfolg, um diese Ziele zu erreichen. die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Meine Damen und Herren, wir treten vor allen Din- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat gen für stärkere wirtschaftliche Sanktionen ein. Ich spre- die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. che über dieses Thema, weil ich mich auf dem Rat in Abstimmung mit allen Ministern – insbesondere natür- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich mit dem Außenministerium – noch einmal für ein umfassendes Ölembargo und weitreichende Handelsein- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: schränkungen gegenüber Libyen einsetzen werde. Ich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe hoffe, dass wir an diesem Punkt in der Europäischen Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir im Rahmen dieser Union endlich auch eine gemeinschaftliche Haltung er- 11252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) reichen. Dies sollte möglich sein. Kein Ölexport mehr freiwilligen Sicherheitsüberprüfungen, sogenannte Stress- (C) aus Libyen in ein europäisches Land, meine Damen und tests, für alle europäischen Kernkraftwerke unterstützen. Herren. Ich werde darüber hinaus intensiv dafür werben, dass auch unsere Nachbarländer außerhalb der Europäischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Union solche Stresstests durchführen. Frankreich und Darüber hinaus ist es uns wichtig, humanitäre Hilfe Deutschland werden zudem gemeinsam eine Initiative für Flüchtlinge aus Libyen zu leisten. Dazu gehört auch, der G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken dass wir den Mitgliedstaaten, die außergewöhnlich stark einbringen. Die zuständigen Minister werden dazu in durch Migrationsströme belastet werden, solidarisch zur Kürze zu einer Konferenz zusammenkommen. Seite stehen. Wir kennen die Entwicklung der Zukunft Das eigentlich zentrale Thema des morgigen Rates noch nicht. Ich will aber ganz deutlich sagen: Bürger- werden aber die Beratung und Verabschiedung eines Ge- kriegsflüchtlinge, wie wir sie eventuell aus Libyen zu er- samtpakets zur Stärkung der Wirtschafts- und Wäh- warten haben, sind Flüchtlinge, die unserer Solidarität rungsunion sein. Für mich ist dabei ganz wichtig: Der bedürfen. Flüchtlinge zum Beispiel aus Tunesien, wo die Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion sind Freiheit sich schon Bahn gebrochen hat, sind etwas an- Kernbereiche der europäischen Einigung. Sie sind un- deres. Ich glaube, wir müssen hier deutlich unterschei- verzichtbar aus wirtschaftlichen wie aus politischen den. Gründen. Deutschland profitiert vom Euro. Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) profitiert vom Euro wie kaum ein anderes Land in der Europäischen Union. Wir profitieren von der Preisstabi- Meine Damen und Herren, auch weil Deutschland lität. Wir profitieren davon, dass wir beim Reisen keine sich militärisch nicht an der Umsetzung der Resolution lästigen Umtauschgebühren mehr bezahlen müssen. 1973 beteiligt, werden wir unsere NATO-Verbündeten beim Einsatz von AWACS-Flugzeugen über Afghanistan Unsere Wirtschaftsunternehmen, die vielfach stark ex- entlasten. Da ich an der morgigen zweiten und dritten portorientiert sind, profitieren von anderen Euro-Län- Lesung zum AWACS-Mandat wegen des zeitgleich statt- dern, die wichtige Absatzmärkte für deutsche Waren sind. findenden EU-Rates nicht teilnehmen kann, erlaube ich Die nominalen Warenexporte Deutschlands in die Euro- mir, die Gelegenheit dieser Regierungserklärung zu nut- Zone haben sich zwischen 1999 und 2009 um 48 Prozent zen, meine Haltung zu diesem Mandat vor diesem Haus erhöht. Durch entfallende Umtauschkosten werden in der deutlich zu machen; denn darauf haben Sie einen An- Euro-Zone rund 20 bis 25 Milliarden Euro jährlich einge- spruch. spart. Dieses Geld kann an anderer Stelle investiert wer- den. Wir werden über den Beschluss der Bundesregierung (B) debattieren und abstimmen, bis zu 300 deutsche Solda- Kurz gesagt: Der Euro sorgt für Arbeitsplätze, er (D) ten für NATO-AWACS-Flüge zur Überwachung des af- sorgt für Wirtschaftswachstum, er sorgt für Steuerein- ghanischen Luftraums einzusetzen. Der Einsatz ist zeit- nahmen in Deutschland. Er ist eine stets stabile Währung lich befristet bis zum 31. Januar 2012. Die NATO- im Innen- wie im Außenwert, und zwar – das haben wir AWACS-Flugzeuge leisten einen wichtigen Beitrag für erlebt – auch in Krisenzeiten. Wir haben eine stabile Ge- die Sicherheit ziviler und militärischer Flugbewegungen meinschaftswährung, weil wir eine unabhängige Euro- im afghanischen Luftraum. Das AWACS-Mandat dient päische Zentralbank haben, die strikt dem Ziel der Si- dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in Afgha- cherung der Preisstabilität verpflichtet ist. So steht es in nistan sowie dem Schutz der afghanischen Bevölkerung. den Verträgen. Es folgt dem Gebot der Bündnissolidarität. Ich darf des- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halb bereits heute um Ihre Zustimmung bitten. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel härter uns die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) internationale Finanz- und Bankenkrise 2008 getroffen hätte, wenn wir nicht die gemeinsame Währung gehabt Meine Damen und Herren, mindestens genauso sehr hätten. bewegen uns die dramatischen Ereignisse in Japan. Sie sind ein Einschnitt für die ganze Welt, ohne jeden Zwei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fel. Auch in Deutschland und in Europa konnten wir nach den Ereignissen in Japan nicht einfach zur Tages- Meine Damen und Herren, der Euro hat nicht nur einen ordnung übergehen. Über die dazu notwendigen bisheri- wirtschaftlichen Wert. Er ist weit mehr als eine verlässli- gen Entscheidungen der Bundesregierung haben wir am che Währung. Er ist ökonomischer und politischer Aus- vergangenen Donnerstag nach meiner Regierungserklä- druck unserer engen Verflechtung und Verbundenheit in rung debattiert. Das ist heute nicht zu wiederholen. der Europäischen Union. Wir Mitglieder der Wirtschafts- und Währungsunion bilden eine Verantwortungsgemein- Ich weise aber darauf hin, dass die Sicherheit der Kern- schaft. Jeder Einzelne von uns ist zu Eigenverantwortung energie auch Thema beim Rat der Staats- und Regierungs- und Solidarität verpflichtet. An diesen Grundsätzen habe chefs sein wird. Deutschland hat dieses Thema angemel- ich, hat die ganze Bundesregierung im letzten Jahr ihr det; denn die Sicherheit der Kernkraftwerke innerhalb der Handeln ausgerichtet, als es um die Krisenbewältigung Europäischen Union geht alle Mitgliedstaaten der Euro- auch innerhalb von Europa ging. An diesen Grundsätzen päischen Union gleichermaßen an. Deshalb gehört dies orientiere ich mich jetzt und orientiert sich auch das Ge- auf die Agenda unserer Beratungen. Ich werde die von samtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungs- Kommissar Oettinger vorgeschlagene Durchführung von union, das der Europäische Rat verabschieden wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11253

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Mit diesem Gesamtpaket ziehen wir die Lehren aus Wir haben erreicht, dass Haushaltssünder bei Verlet- (C) der Schuldenkrise. Es ist ganz wichtig, noch einmal Fol- zung der Maastricht-Defizitgrenze von 3 Prozent des gendes festzuhalten: Bruttoinlandsprodukts künftig früher und schneller be- straft werden. Das ist die Stärkung des präventiven Arms Erstens. Alles, was wir jetzt tun, ist Umgang mit den des Stabilitätspakts. Fehlern, die in der Vergangenheit aufgetreten sind – von der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts Außerdem wird ein neues Erfüllungskriterium in Zu- unter Rot-Grün bis hin zu Ergebnissen innerhalb der kunft viel stärker berücksichtigt. Bis jetzt war schon Banken- und Schuldenkrise. Es ist noch nicht die Umset- klar, dass es keine Verschuldung von mehr als 60 Pro- zung der Lehren, die wir aus der Krise gezogen haben. zent des Bruttoinlandsprodukts geben darf. Dieses Krite- rium ist aber nie Gegenstand von Sanktionen gewesen. Zweitens. Wir bauen uns damit ein Rahmenwerk da- Künftig müssen diejenigen mit Sanktionen rechnen, die für, dass die in der Vergangenheit aufgetretenen Fehler diesen Schuldenstand überschreiten. Davon ist im Übri- nicht wieder passieren können. gen auch Deutschland betroffen; denn unsere Gesamt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verschuldung liegt über 60 Prozent des Bruttoinlands- produkts. Der Abbau der Schulden muss nach den neuen Ich verstehe natürlich, dass viele fragen – diese Dis- Regeln um ein Zwanzigstel, also 5 Prozent, des Brutto- kussionen führen wir auch hier im Parlament –: Was ist inlandsprodukts erfolgen. Dieser Aufgabe müssen auch eure Sicherheit, dass die Fehler, die in der Vergangenheit wir in der Bundesrepublik Deutschland uns stellen. aufgetreten sind und für die man angeblich auch das richtige Rahmenwerk hatte, in der Zukunft nicht wieder Dass wir diese Regelungen so streng gefasst haben passieren? und dass kein einzelner Mitgliedstaat mehr dagegen op- poniert, ist ein großer Fortschritt; denn von exorbitanten Deshalb kann ich nur an uns alle appellieren: Das eine Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten gehen große ist das, was wir jetzt beschließen. Das andere ist die Be- Gefahren aus, und zwar nicht nur für das Land, sondern, reitschaft, es dann auch wirklich einzuhalten und nicht wie wir erlebt haben, für die Stabilität des Euros insge- hier und dort irgendwelche politischen Begründungen samt. dafür zu finden, dass es jetzt gerade die Umstände nicht erlauben. Das muss eine gemeinschaftliche Verpflich- Des Weiteren – auch das ist neu – arbeiten wir an ei- tung dieses Hohen Hauses sein, meine Damen und Her- nem neuen Überwachungsverfahren, mit dem wir die ren. Entstehung schwerwiegender wirtschaftlicher Ungleich- gewichte in Europa künftig vermeiden und notfalls ge- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gensteuern können. Die Fragen in diesem Bereich wer- (D) den sehr stark diskutiert, weil Ungleichgewichte Seit Beginn der Schuldenkrise im Euro-Raum haben natürlich auf verschiedenen Ursachen beruhen können. wir immer wieder gefordert, dass neben allem notwendi- Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben gegenüber gen Krisenmanagement auch über den Tag hinaus ge- vielen europäischen Ländern Exportüberschüsse. Wenn dacht werden muss. Vor allem müssen wir eine neue Sta- dies auf erhöhter Wettbewerbsfähigkeit beruht, darf bilitätskultur und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit dies natürlich nicht zum Gegenstand von Klagen wer- ins Zentrum unserer Bemühungen stellen; denn nur eine den – damit es da zu keiner Fehleinschätzung kommt –, höhere Wettbewerbsfähigkeit kann auf Dauer für das sondern muss begrüßt werden. Wachstum sorgen, das notwendig ist, um eine Perspek- tive zum Abbau der Schulden zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Länder, die Währungsunion verfolgt deshalb drei Ziele: erstens mehr sehr große Importüberschüsse haben; wir sprechen hier Stabilität und Solidität, zweitens die Stärkung der Wett- vom asymmetrischen Ansatz. Hier muss aufgepasst wer- bewerbsfähigkeit und drittens ein ausgewogenes Ver- den, ob sich nicht etwas andeutet, was langfristig oder hältnis von Eigenverantwortung und Solidarität. Damit mittelfristig zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Er- werden wir – davon bin ich überzeugt – die wirtschaftli- füllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts führt. Das che und politische Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und heißt: Wir minimieren weitere Risiken, die die Finanz- Währungsunion stärken und erhöhen sowie nachhaltig stabilität Europas als Ganzes gefährden könnten. Auch gestalten. hier gilt: Künftig sind Sanktionen möglich, wenn ein Mitgliedstaat die Empfehlungen missachtet. Zum ersten Ziel: Wir sorgen für mehr Stabilität und Solidität. Dafür werden strengere Vorgaben eingeführt Wir haben klargestellt, dass Handlungsbedarf vor al- und deren Einhaltung strikt überwacht. Das bezeichnen lem bei den Ländern mit Wettbewerbsschwächen be- wir als die Überarbeitung und Verschärfung des Stabili- steht; denn Konvergenz in der Europäischen Union, ins- täts- und Wachstumspakts. Wir verschärfen ihn in der besondere in der Euro-Zone, darf natürlich nicht Tat. Künftig riskieren Euro-Mitgliedstaaten auch dann Annäherung an die Schwächeren sein, sondern muss im- schon Sanktionen, wenn sie nicht die notwendigen mer an den Stärkeren unter uns ausgerichtet sein, damit Schritte in Richtung eines ausgeglichenen Haushalts un- Europa als Ganzes wettbewerbsfähig bleibt. ternehmen. Damit soll frühzeitig einem übermäßigen Defizit entgegengesteuert werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 11254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Schließlich werden die ordentliche Haushaltsführung werden lassen. Das ist nicht unser Ziel. Wohlstand für (C) durch mehr Solidität und Verlässlichkeit der Statistiken die Menschen, Arbeitsplätze für die Menschen in in Zukunft verpflichtend vorgeschrieben, damit die Er- Deutschland werden nur erreichbar sein, wenn wir in gebnisse, die wir haben, wirklich vergleichbar sind. Europa an der Spitze der Welt dabei sind; das ist die Auch das ist ein wichtiger Faktor. Wenn wir einmal an simple, aber unabdingbare Wahrheit. die griechischen Zahlen, die Eurostat gemeldet wurden, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und an die Berichtigung der Zahlen zu den Defiziten denken, so wissen wir, wovon wir sprechen. Der Pakt nennt objektive Indikatoren. Die Kommis- sion wird die Überwachung dieses Paktes vornehmen. Es ist ein großer Erfolg, dass jetzt alle Mitgliedstaaten zu größeren Anstrengungen bereit sind. Die Richtlinien Wir müssen eines sehen: Deutschland ist beileibe nicht sind von der Kommission vorgelegt; sie werden im Eu- überall und in allen Bereichen schon bei den Besten da- ropäischen Parlament und im Rat beraten und werden bei. Auch wir müssen uns anstrengen. Deshalb haben wir natürlich auch hier im Deutschen Bundestag Gegenstand ein Aktionsprogramm dem Parlament vorgelegt, das un- von Beratungen sein. ter anderem die Ankündigung enthält, dass Deutschland schon früher die vorgegebenen Neuverschuldungsgren- Zweitens. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Da- zen erreichen wird. Zudem wird der Bund in diesem und für verpflichten wir uns zu Strukturreformen und zur en- im nächsten Jahr weniger neue Schulden machen, als es geren Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken. Für die Schuldenregel des Grundgesetzes vorsieht. die dauerhafte Stabilisierung des Euros sind die Reform- anstrengungen in den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten Wir wollen die regulierten Bereiche der Wirtschaft, von entscheidender Bedeutung. Alle Euro-Staaten – ich zum Beispiel im Busfernlinienverkehr, öffnen. beziehe Deutschland ausdrücklich mit ein – müssen mehr (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh, das ist ja tun, um wettbewerbsfähiger zu werden. Ich möchte an riesig! Ein Wachstumsprogramm!) dieser Stelle dem Ratspräsidenten Herman Van Rompuy ausdrücklich danken, dass er gemeinsam mit dem Kom- – Passen Sie auf. Schauen Sie: Die Wahrheit ist immer missionspräsidenten José Manuel Barroso die Verhand- konkret. lungen über den Pakt für den Euro geführt hat. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Es ist gelungen, auch etliche Nicht-Euro-Staaten für der FDP – Beifall bei Abgeordneten der SPD unseren Pakt zu gewinnen. Polen und Dänemark haben und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – ihre Unterstützung bereits öffentlich bekannt gegeben; Zurufe von der SPD) ich halte das für ein gutes Zeichen. Mir war die Öffnung – Ich hatte nicht die Absicht, gleich die gesamte deut- dieses Paktes für alle besonders wichtig; denn das Ziel (B) sche Handwerksordnung abzuschaffen. Wenn Sie das (D) muss sein, dass möglichst viele Länder der Europäischen wollen, kann das Herr Steinbrück gleich mitteilen. Union der gemeinsamen Währung, dem Euro, beitreten. Je mehr Mitgliedstaaten sich dem Pakt anschließen, (Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] umso größer sind natürlich die gemeinschaftlichen Im- [SPD]) pulse für den Binnenmarkt. Das wäre etwas weitergehend, aber wir halten das nicht Bei diesem Pakt geht es ausschließlich um nationale für gegeben. Wir machen das, was wir sagen: Schritt für Zuständigkeiten. Deshalb werden die Verpflichtungen Schritt. im Rahmen dieses Paktes natürlich ausführlich hier im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Deutschen Bundestag debattiert. Das Europäische Parla- rufe von der SPD) ment wird informiert; das ist klar; denn es ist eine Insti- tution der Europäischen Union. Wir arbeiten und koordi- Dann schauen Sie sich einmal an, wie das aussieht. nieren uns aber in einem Bereich, der nationale (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Busver- Zuständigkeiten umfasst. Das heißt also, der Pakt setzt kehr! Trittbrettfahrer! – Jürgen Trittin [BÜND- auf die direkte Verantwortlichkeit der Staats- und Regie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Bus gegen rungschefs, die sich in Zukunft persönlich zu Strukturre- die internationale Finanzkrise!) formen verpflichten und für die nationale Umsetzung sorgen müssen. Es versteht sich von selbst, dass dies der – Herr Trittin, Sie wissen genau – eigentlich ist es bedau- Unterstützung des jeweiligen Parlaments, in diesem Fall erlich –, wie Wettbewerbsverzerrungen zum Beispiel da- des Deutschen Bundestags und seiner Mehrheit, bedarf. von abhängen, ob ein Land seinen Eisenbahnverkehr für Das heißt, das wird Gegenstand intensiver Diskussionen den internationalen Wettbewerb öffnet. unter uns sein. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Wir machen damit die Erhöhung der Wettbewerbsfä- Wir können darüber sehr viel reden: Mal sind es die higkeit zur Chefsache. Wir orientieren uns nicht an den Eisenbahnen, mal sind es die Busse, dann ist es der ge- Schwächsten, sondern an den Besten, und zwar nicht nur meinsame europäische Flugraum. Genau um diese innerhalb Europas. Die ausdrückliche Verpflichtung ist Dinge geht es bei der Frage, ob sich Europa seinen vielmehr, sich auch an unseren strategischen Partnern, Wachstumsfragen widmet oder nicht. das heißt, an den Besten der Welt zu orientieren. Meine Damen und Herren, wir könnten natürlich Stabilität des Aber, meine Damen und Herren, ich werde lieber auf Euros und Solidarität im Euro-Raum erreichen und weitere Beispiele verzichten, weil es große Teile dieses gleichzeitig den Abstand zur Weltspitze immer größer Hauses nicht interessiert. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11255

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, wenn ich in den Februar (C) NEN]: Wandel mit Busverkehr!) des vergangenen Jahres zurückblicke – damals haben wir uns viel über die Frage gestritten, wann Griechen- Die Koalitionsfraktionen werden dann natürlich gern in- land Unterstützung bekommen kann –, sage ich: Wir ha- formiert. ben die Prinzipien jetzt richtig vereinbart. (Lachen bei der SPD) Für uns war von Anfang an klar – das hat sich be- – Sie können ganz unbeteiligt und erfreut, wie kleinteilig währt und ist im Zuge der Beratungen jetzt die gemein- das im Konkreten wird, über diese Dinge hinwegsehen. same Meinung aller –: Solidarität gibt es nur bei entspre- chender Eigenanstrengung des einzelnen Landes, weil (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) die Euro-Zone nur dann harmonisch zusammenhalten kann, wenn sich alle Länder auf ein gemeinsames Ni- Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich kümmere mich lieber veau verständigen. um die wachsende Wettbewerbsfähigkeit Europas, als dass ich dauernd Rettungsprogramme für andere Länder Dazu bedarf es vieler Reformen in den einzelnen Län- machen muss. Wir setzen darauf, dass Europa insgesamt dern. Das war nicht unumstritten, genauso wenig wie die besser wird. Frage, ob der IWF daran beteiligt wird, und vieles an- dere mehr. Heute nimmt das jeder als gegeben hin. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sage Ihnen: Es war richtig, dafür gekämpft zu haben, Sie können sich dann ja um andere Dinge kümmern. weil diese Prinzipien innerhalb der Euro-Zone allgemein gelten müssen. Ich komme nun zum dritten Ziel. Wir sorgen für ein ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Solidarität. Dafür schaffen wir neben der heute bestehen- Der Europäische Stabilitätsmechanismus wird mit ei- den Fazilität, der EFSF, einen dauerhaften Stabilitätsme- ner effektiven Darlehenskapazität von 500 Milliarden chanismus. Euro ausgestattet. Sie wissen, dass wir diese Ausstattung Wir haben bereits früh im letzten Jahr gefordert, dass im Rahmen eines AAA-Ratings wollen. Der Europäi- der Mechanismus einer verlässlichen rechtlichen Grund- sche Stabilitätsmechanismus bildet damit ein tragfähiges lage bedarf. Nachdem der Bundestag die notwendige Rettungsnetz für den äußersten Notfall. Er setzt sich zu- Vertragsänderung unterstützt hat, kann ich morgen beim sammen aus Kapital und Garantien. Die Summe des Ka- Europäischen Rat dem einstimmigen Beschluss zur ver- pitals wird 80 Milliarden Euro betragen. In den Beratun- einfachten Änderung von Art. 136 AEUV zustimmen. gen werde ich noch einmal darauf drängen, dass der (B) Anschließend muss dies natürlich national ratifiziert Aufbau dieses Kapitalstocks über fünf Jahre verteilt (D) werden: bei uns mit Zustimmung des Bundestages und wird, also in mehreren Zeitschritten abläuft, beginnend des Bundesrates. ab 2013. Die neue Vertragsbestimmung stellt auf unser Drän- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen hin klar, dass der Mechanismus nur dann aktiviert NEN]: Über mehrere Legislaturperioden, mei- wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des nen Sie!) Euros als Ganzes zu wahren. Es handelt sich also um – Nun brauchen Sie nicht gleich wieder dazwischenzu- eine sogenannte Ultima-Ratio-Klausel. Sie schafft die schreien. Wir halten das so für richtig. gerade für Deutschland unabdingbare Rechtssicherheit für den neuen Mechanismus und erfüllt damit den Geist Ich bedanke mich bei den Finanzministern dafür, dass der Verträge. sie das, was im Zusammenhang mit diesem Mechanis- mus zu klären war, weitestgehend geklärt haben, sodass Gegen große Widerstände hat Deutschland außerdem wir im Europäischen Rat nur noch ganz wenige Fragen durchgesetzt, dass auch die folgenden wichtigen Krite- zu besprechen haben. Das ist sehr gut. rien bei der Konstruktion des dauerhaften europäischen Stabilitätsmechanismus eingehalten werden: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Erstens. Kredite des Mechanismus können nur als letztes Mittel vergeben werden, nachdem die Kommis- Die Haftung Deutschlands ist nach oben begrenzt. sion und der IWF in Verbindung mit der EZB die Schul- Die Finanzierung des Mechanismus wird von den teil- dentragfähigkeit des Antragstellers untersucht haben. nehmenden Mitgliedstaaten anteilig gewährleistet, wo- Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es darf sich nur um Li- bei es im Grundsatz bei dem schon bisher verwendeten quiditätsprobleme handeln. EZB-Kapitalanteilschlüssel bleibt. Er wird lediglich temporär geringfügig angepasst, um eine überproportio- Zweitens. Die Vergabe wird durch einstimmigen Be- nale Belastung einiger Mitgliedstaaten zu verhindern. schluss entschieden. Das heißt, jeder Mitgliedstaat hat Ich sage ganz klar: Mit der christlich-liberalen Koalition sein Stimmrecht in jedem einzelnen Fall. Voraussetzung wird es keine Vergemeinschaftung von Schulden geben. ist immer, dass sich das entsprechende Euro-Mitglied zu Die wird es nicht geben. harten Eigenanstrengungen im Rahmen der Programm- auflagen verpflichtet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) es aber nicht mehr lange!) 11256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Aus genau diesem Grund lehnen wir auch die Einfüh- Beklagen Sie sich bitte nicht darüber, dass wir uns dann (C) rung von Euro-Bonds ab. Denn dies wäre die Verge- hier noch einmal mit den Folgen dieser Sache auseinan- meinschaftung von Schulden und der Einstieg in eine ge- dersetzen müssen. Ich sage nur, dass es ein richtiger und samtschuldnerische Haftung. mutiger Schritt war und dass es auch zeigt, wie viel poli- tischen Mutes es bedarf, wenn die Dinge in der Vergan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und genheit nicht richtig gelaufen sind. der FDP) Wir machen uns – um zum permanenten Stabilitäts- Wer solche Forderungen stellt, handelt nicht im Interesse mechanismus zurückzukommen – stark – das wird Teil der deutschen Steuerzahler. Davon bin ich zutiefst über- des Mechanismus sein – für die Beteiligung privater zeugt. Es geht aber nicht nur um die deutschen Steuer- Gläubiger. Dies ist ein immer wieder diskutierter Faktor. zahler. Ich bin dem Präsidenten der Europäischen Zen- Ich glaube, es ist absolut richtig, zu sagen: Ab 2013 tralbank, Jean-Claude Trichet, sehr dankbar, der am muss im Falle der nicht gegebenen Solvenz eines Staates Montag in Brüssel noch einmal bekräftigt hat, dass mit die Beteiligung privater Gläubiger verpflichtend sein. Euro-Bonds die Anreize für eine solide Haushaltspolitik Das haben wir gegen viele Widerstände durchgesetzt. leiden. Genau das darf nicht passieren. Das heißt, dass es nicht nur im Interesse des deutschen Steuerzahlers – was (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schon wichtig ist –, sondern auch im Interesse Europas Ich sage ausdrücklich: Das, was von einer Seite dieses ist, dass wir dies nicht machen. Hauses immer als Isolierung oder Alleinstehen Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lands betrachtet wurde, ist notwendig gewesen, damit wir zu einer vernünftigen Ordnung kommen; denn Sie Es wird also weder regelmäßige noch dauerhafte sehen an den Märkten ganz deutlich, dass die Beteili- Transferleistungen geben. Zur dauerhaften Bewältigung gung privater Gläubiger eine notwendige Voraussetzung der Herausforderung ist vielmehr ein konsequenter Kon- ist, um manche Probleme zu bewältigen. Auf jeden Fall solidierungs- und Reformweg unerlässlich. Dafür setzen haben wir in der Zukunft dieses Instrumentarium zur wir uns ein. Wie schwierig das ist, haben wir am gestrigen Verfügung. Das wird ein immanenter Bestandteil dieses Tag erlebt. Die portugiesische Regierung hatte uns auf neuen Mechanismus sein. dem Treffen der Euro-Gruppe ein umfassendes Reform- Für mich gilt weiterhin der Grundsatz, den ich auch programm für die Jahre 2011, 2012 und 2013 vorgelegt. am 15. Dezember in diesem Haus genannt habe: Nie- Dieses Programm hat die Zustimmung der Europäischen mand in Europa wird allein gelassen. Niemand wird fal- Kommission und der Europäischen Zentralbank gefun- len gelassen; denn Europa gelingt nur gemeinsam. den. Wir haben dem portugiesischen Premierminister (B) Sócrates dafür – das will ich auch heute noch einmal (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) tun– bei dem Treffen der Euro-Gruppe unsere Hochach- Keiner soll einsam sein!) tung ausgesprochen. Aber dies bedarf natürlich gemeinsamer Anstrengungen, (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sagen Sie das also eines vernünftigen Verhältnisses von Eigenanstren- einmal Ihren Parteifreunden in Lissabon! – gung und Solidarität. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist Ihnen nur vorangegangen, Frau Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kanzlerin!) Ich kann Ihnen sagen – so weit sind wir in den Ge- – Das ist schon geschehen. Da brauchen Sie sich gar sprächen mit Irland noch nicht –, dass zum Beispiel nicht so aufzuregen. Das ist alles schon passiert. Ich Griechenland beim Treffen der Chefs der Euro-Zone am hoffe sowieso, dass wir nicht in so eine Lage kommen. 11. März überzeugend die Fortsetzung der Strukturrefor- men dargelegt sowie ein 50 Milliarden Euro umfassen- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des Privatisierungsprogramm angekündigt hat. NEN]: Doch, Sie kommen in so eine Lage! – Zuruf von der SPD) Dass die übrigen Euro-Mitgliedstaaten bereit sind, so- lidarisch zu handeln, haben wir mit unserem Beschluss – Mein Gott, wie kleinkariert sind Sie? Also wirklich, zum derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirm am Mannomann! 11. März 2011 deutlich gemacht. Im Falle Griechenlands sind wir zu einer bestimmten Zinssenkung bereit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden auch sicherstellen, dass das im Mai 2010 Hier geht es um die Frage, ob die Finanzstabilität des beschlossene Volumen des Euro-Rettungsschirms von Euro als Ganzes erhalten werden kann, und darum, dass 440 Milliarden Euro im Notfall effektiv zur Verfügung ein Premierminister – dabei ist es mir egal, ob er zu einer gestellt werden kann. Dies wird allgemein erwartet. sozialdemokratischen, einer christdemokratischen oder Auch hier zeigen wir konkrete Solidarität und Verant- sonst einer Partei gehört – Verantwortung gezeigt hat. wortung. Dafür war ich dankbar. Es ist bedauerlich, dass es nicht gelungen ist, dafür eine parlamentarische Mehrheit zu Ich bin überzeugt: Mit dieser Gesamtstrategie zur bekommen. Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion wird das Jahr 2011 für den Euro und für die Europäische Union (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Jahr des Vertrauens. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11257

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herbst der Ent- „Jahr des Vertrauens“ von sich geben. Ein Teil dieses (C) scheidung! – Dr. [DIE Parlaments empfindet das als eine Wortblase und darf LINKE]: Aber nicht mit dieser Regierung!) dies auch zum Ausdruck bringen. – Sie möchten also nicht, dass dieses Jahr zum Jahr des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vertrauens wird. Es ist interessant, dies festzuhalten. Wir DIE GRÜNEN) wollen das. Ich glaube, das ist sehr wichtig und richtig. Das betrifft auch die Begrifflichkeit „Herbst der Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) scheidungen“. Nicht alle Parlamentarier müssen stillhal- ten, wenn Sie solche Begriffe in Ihre Rede einspannen. Ich würde an Ihrer Stelle, auch wenn es schwerfällt, in diesen europäischen Angelegenheiten einmal die Kraft Die Europäische Union, um nicht zu sagen: ganz Eu- aufbringen, ein kleines bisschen über den Tellerrand zu ropa, befindet sich unbenommen der dramatischen und gucken. Dies würde Europa wirklich guttun. erschütternden Ereignisse um uns herum an einem Scheideweg. Ob Deutschland in und mit Europa am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ende dieses Jahrzehnts noch eine führende Wohlstands- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sind Sie region in der Welt ist, ob Europa und Deutschland noch denn heute so nervös?) zu den führenden, einflussreichen, sich dynamisch ent- Sie erheben sich hier über die portugiesische Opposition wickelnden Regionen gehören und ob Europa seine Zivi- und sind nicht einmal bei Sachen, bei denen Sie gar lisation behalten bzw. behaupten kann, gegebenenfalls nichts zu entscheiden haben, bereit, eine ernsthafte De- sogar zum Vorbild für die Bürger aufstrebender Länder batte zu führen. Das ist schon beachtlich, muss ich sa- machen kann, all das entscheidet sich maßgeblich bei gen. der Bewältigung der Krise, die uns seit Mitte 2007 in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Klammer hält und inzwischen ganze Nationalstaaten in der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das den Schraubstock genommen hat. Schreitet die europäi- stand schon in der Bild-Zeitung!) sche Einigung voran, oder zerfällt sie mit der Folge einer Renationalisierung, und zwar nicht nur einer Renationa- Es geht um die dauerhafte Stabilität des Euro. Wir lisierung von Währungen? Auf dieser Flughöhe müssen machen den Euro und Europa zukunftsfähig. Wir brin- wir, denke ich, die Debatte führen und nicht in den Nie- gen Eigenverantwortung und Solidarität in ein ausgewo- derungen kleinlicher nationaler Egoismen. genes Verhältnis. Wir füllen somit – das ist das Eigentli- che, das jetzt passiert – eine Lücke in der Konstruktion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wirtschafts- und Währungsunion, die in ihrem gan- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) zen Ausmaß erst im letzten Jahr offenbar geworden ist. Es geht um die Frage, welche Bedeutung und welchen (D) Damit stärken wir die politische und die wirtschaftliche Einfluss Europa zukünftig in einer sich rasant verändern- Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion; den Welt hat. Ich will zu Beginn konzedieren, Frau Bun- denn nur ein stabiles und wettbewerbsstarkes Europa hat deskanzlerin, dass das heute und morgen im Europäi- Gewicht in der Welt. schen Rat zur Abstimmung anstehende Paket keine Die Stärkung der Europäischen Union und ihrer ge- kleinkarierte oder von oppositionellen Reflexen geprägte meinsamen Währung ist eine zentrale Aufgabe unserer Kritik verdient. Dieses Paket ist notwendig. Es ist aber Zeit. Die Bundesregierung setzt alles daran, diese zen- in mancherlei Hinsicht, wie ich glaube, nicht hinrei- trale Aufgabe so zu lösen, dass die Europäische Union chend – ich komme darauf zurück –, und es wird aller- insgesamt und damit alle Bürgerinnen und Bürger der dings sehr spät versendet. Es hat sehr lange gedauert, bis Europäischen Union eine gute Zukunft haben. Für die- in Teilen Ihrer Regierung, Ihrer Koalition die Einsicht sen Weg bitte ich den Deutschen Bundestag um Unter- nachvollzogen wurde, dass aus einem Stolpern von Fall stützung, weil er aus meiner Sicht ein notwendiger Weg zu Fall ein umfassender Ansatz gefunden werden muss. ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Diese Erkenntnis ist offenbar um die Jahreswende ge- der FDP) reift; denn in seiner Antwort auf Ihre Regierungserklä- rung vom 15. Dezember 2010 hat Ihnen Frank-Walter Präsident Dr. Norbert Lammert: Steinmeier völlig zu Recht vorgehalten, dass die Zeit des Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Durchmogelns vorbei ist. der Kollege Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf der Wegstrecke (Beifall bei der SPD) seit Ausbruch der Griechenland-Krise erstaunlich viele – zu viele – Volten und Pirouetten gedreht. Ihr Satz eben in der Regierungserklärung: „Wir machen, was wir sa- Peer Steinbrück (SPD): gen“ klingt vor dem Hintergrund der Volten, die diese Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Regierung geschlagen hat, sehr nach Kabarett. ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie müssen nicht ganz so an- gefressen reagieren, wenn es zu einem gewissen Rumo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren – und nicht nur zu einem Stillhalten – auf einigen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Oppositionsbänken kommt, wenn Sie Einlassungen wie LINKEN) 11258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Peer Steinbrück (A) Diese Volten hätte man sportlich nennen können, men. Das ist ein eminenter Unterschied. Dass ein solcher (C) wenn sie denn nicht Glaubwürdigkeit gekostet hätten Fall der Zahlungsunfähigkeit eintreten kann, bezweifeln und wenn sie nicht die Märkte maßgeblich irritiert und die europäischen Finanzminister im Übrigen selber. Sie eine Reihe, wenn nicht sogar viele, europäische Partner- reden in einem Kommuniqué von dem unerwarteten länder verstört hätten. Fall, dass ein Land zahlungsunfähig wird. Aber wenn der Insolvenzfall quasi ausgeschlossen wird, dann gibt Es hieß zunächst: Es gibt keine Haushaltsmittel für es ergo doch auch keine Gläubigerhaftung. Oder gibt es Griechenland. – Ich kann mich erinnern, wie Sie auf der da eine spezifische christdemokratische Logik? Welle gesurft sind, auf der Sie als eiserne Kanzlerin stili- siert worden sind. Anschließend wurde diese Position (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Bundesregierung natürlich geräumt. Dann wurde der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der laufende Rettungsschirm – die Abkürzung ist EFSF – in LINKEN) einem dramatischen Umfeld im Mai 2010 verabschiedet, aber die Bundesregierung hinterlegte, dass er nicht in Nicht genug der Volten! Sie wollten lange Zeit – wie Anspruch genommen werden müsse, der Ernstfall stehe ich behaupte: aus guten Gründen – keine Wirtschaftsre- nicht bevor. Das war alles andere als ein klares Signal an gierung der 17 Euro-Länder haben. Dann sind Sie wie die Märkte. Zieten aus dem Busch mit der Befürwortung einer Wirt- schaftsregierung der 17 Euro-Staaten gekommen. Es ist Dann beruhigten Sie die innenpolitischen Gemüter in diesem Parlament inzwischen übrigens eine ganz und auch die innerparteilichen Heißsporne mit der An- merkwürdige Konstellation festzustellen: Die Markt- sage, dass dieser Rettungsschirm gar nicht in Anspruch wirtschaftler, die das Prinzip hochhalten, dass Haftung genommen werden müsse und bis 2013 zeitlich limitiert und Risiko zusammenfallen und Anleger haften müssen, sei. Ich habe folgendes Zitat von Ihnen in Erinnerung, wenn ein Land seine Schulden nicht mehr bedienen das lautet: Ich sage ganz klar, dass es eine Verlängerung kann, sitzen eher auf den Bänken der Sozialdemokratie des Hilfsfonds nicht geben wird. und, wie ich vermute, auch der Grünen, (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wenn Sie sagen: „Es ist etwas ganz klar“, dann gehen der FDP) bei mir inzwischen die Warnblinkanlagen an. während Vertreter einer Art des Neosozialismus, der fak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tisch bedeutet, dass Kreditausfälle zulasten der Steuer- DIE GRÜNEN) zahler sozialisiert werden, eher in dem anderen Spek- trum des Hohen Hauses zu finden sind. Dann traten Sie völlig berechtigt für automatisierte (B) (D) Sanktionsmechanismen ein und gaben diese auf einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denkwürdigen Spaziergang entlang der französischen DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer Kanalküste in Deauville auf. So wurde in einer Art [CDU/CSU]: Eine Büttenrede ist das!) Orwell’scher Sprachverdrehung aus einem automatisier- Die beiden Rettungsschirme, der laufende und der ten Sanktionsmechanismus ein quasi-automatischer. permanente, sollten nicht aufgestockt werden (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie könnten in Diese Wortschöpfung täuscht darüber hinweg, dass ein der „Distel“ auftreten!) sanktionsbewehrtes Defizitverfahren jetzt nur noch mög- – Herr Kauder, ich danke Ihnen für die Ermunterung; sie lich ist, wenn es vorher eine politische Entscheidung wird mich beflügeln –, gibt. Es läuft ein Automatismus ab, der durch eine quali- fizierte Mehrheit allerdings wieder ausgehebelt werden (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des kann. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – jedenfalls nicht unter deutscher Beteiligung; so hieß es. Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Ja! Oder Sie haben heute dargestellt, dass es selbstverständlich wollen Sie die Mitgliedstaaten entmachten?) unter deutscher Beteiligung zu einer Ausweitung unserer Bürgschaftsposition und zu Kapitaleinlagen kommt. All Dann traten Sie vehement für eine Gläubigerhaftung dies wird heute oder morgen beschlossen. Vor dem Hin- ein, wie auch eben in Ihrer Regierungserklärung. Ich zi- tergrund dieser Volten erinnere ich daran, was Sie eben tiere aus einem Zeitungsartikel, in dem es heißt, sie, die gesagt haben: Wir, die Regierung, machen, was wir sa- Bundeskanzlerin, werde kein Schlaraffenland für Banken gen. – Tatsächlich? erlauben, in dem das Risiko zu 100 Prozent beim Steuer- zahler abgegeben wird. Herr Schäuble sagte – ebenfalls (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der bemerkenswert –: Es kann nicht sein, dass Chancen von SPD) den Investoren und Krisen von den Steuerzahlern getra- Sie, Frau Merkel, haben sich zusammen mit Vertre- gen werden. – Hört, hört! Gut gebrüllt! Aber was sind tern der Koalitionsfraktionen durch Tabuisierungen und die Fakten? Ideologisierungen, bezogen auf Transferunion, Haf- Eine Gläubigerhaftung soll es im Rahmen des perma- tungsgemeinschaft, Euro-Anleihen und Fiskalunion, ein- nenten Rettungsschirmes ab 2013 geben – richtig, aber gemauert. Im Übrigen: Das, was jetzt beschlossen wird, nur im Insolvenzfall, nicht bereits bei Liquiditätsproble- ist eine reine Umetikettierung dessen, was sich eigent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11259

Peer Steinbrück (A) lich hinter diesen Begriffen verbirgt. Denn wir haben man so will: unsere politische Bonität als Deutsche, (C) längst eine Transferunion, spürbar abgenommen. Jeder, der das Ohr auf der Schiene der europäischen Magistralen hat, weiß, wovon ich rede. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das war vor Ausbruch der Griechenland-Krise in unse- gar nicht einmal bezogen auf das, was seit den Römi- rer gemeinsamen Regierungszeit anders. schen Verträgen 1957 verabredet worden ist, noch nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einmal bezogen auf den Kohäsionsfonds und die Struk- turfonds. Vielmehr haben wir es mit Blick auf die Kri- Zum Dritten haben Sie gegenüber dem Publikum und senbewältigung längst mit einem Transfer von Liquidität den Bürgern nicht fest und überzeugend kommuniziert. und Bonität von solventen europäischen Ländern zu not- Sie hätten erklären müssen, dass Deutschland Europa leidenden Ländern zu tun. Es ist ein Faktum. braucht und dass es unserem Land immer nur so gut ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hen kann, wie es den anderen Ländern um uns herum gut DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ geht. CSU]: Das ist aber keine Transferunion! Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist etwas anderes!) DIE GRÜNEN) Sie haben sich durch die Tabuisierung und Ideologi- Sie hätten deutlicher und klarer erklären müssen, dass sierung dieser Begriffe eingemauert: im Hinblick auf und warum es in einem originären deutschen Interesse Vorschläge, die zu einer adäquaten Problemlösung bei- liegt, einen Beitrag zur Förderung der Stabilität der tragen könnten, und auch im Hinblick auf andere euro- Euro-Zone und zur weiteren Integration Europas zu leis- päische Partnerländer. Ihre Politik, Frau Merkel, hätte ten. Es war von vornherein klar, dass dieser Beitrag et- schneller sein müssen, als es die Märkte erwarteten. Sie was kosten würde und wir auf kleinliche nationale egois- hätten schneller, als es die Märkte erwarteten, Lösungen tische Vorteile zu verzichten hätten. finden und umsetzen müssen. Das hätte die Märkte beru- higt. Ihre diversen Volten sind nicht mehr mit der Me- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ thode „Versuch, Irrtum und Erkenntnisgewinn“ zu recht- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der fertigen. Sie haben versäumt, den Märkten ein klares LINKEN) Signal zu geben. Die Märkte wussten angesichts der Rückzieher, der Volten, der Widersprüche dieser Koali- Es war von vornherein klar, Frau Merkel, dass die Auf- tionsregierung nie genau, woran sie mit ihr waren. stockung der beiden Rettungsschirme auf ihren Nenn- wert etwas kosten würde, ( [SPD]: So ist es!) (B) (Zuruf von der FDP: Blankoscheck!) (D) Insofern ist die Krise in der Euro-Zone auch eine Füh- rungs- und Glaubwürdigkeitskrise. und Herr Schäuble hat es von Anfang an gewusst. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange den Ein- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der druck vermittelt, dass Solidaritätsleistungen für Europa LINKEN) und die Übernahme von Risiken auch auf deutsche Schultern eine Art Gnadenakt sei, der uns in Europa ab- Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange eine Füh- gerungen werden müsste. Wenn wir für den Aufbau Ost rungsrolle verweigert und nationale Befindlichkeiten in bisher ungefähr 100 Prozent einer Jahreswirtschaftsleis- den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen gestellt. In dieser tung vor der Wiedervereinigung aufgebracht und trans- Führungskrise ist übrigens die Europäische Zentralbank feriert haben, dann ist uns Europa nicht 10 Prozent wert? sozusagen als Ausputzer für eine nicht handlungsfähige Das, Frau Bundeskanzlerin, hätten Sie kommunizieren Politik in die Situation gedrängt worden, Staatsanleihen müssen, statt den Sprachverklemmungen und Tabuisie- aufzukaufen, was wir heute beklagen. rungen zu folgen, die – nicht aktiv von Ihnen betrieben; (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des das konzediere ich gerne – indirekt auch Raum für anti- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) europäische Ressentiments gegeben haben. Erstens. Die deutsche Unentschlossenheit über lange (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zeit trug zu einer langen europäischen Entschlusslosig- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: keit bei und lud damit die Märkte zu Testläufen gegen Oh, finster!) einzelne Mitgliedstaaten ein. Das Abwarten, das allen- Das im Europäischen Rat jetzt anstehende Paket ist falls begrenzt und mit erheblichen Kollateralschäden den richtig. Es ist notwendig. Es ist aber nicht hinreichend, Vorteil hätte bringen können, dass die deutsche Stabili- weil einige auf die Ursachen der Krise zielende Punkte tätskultur vielleicht auf andere Länder hätte übertragen nicht aufgegriffen werden. werden können, hat auf der anderen Seite die Kosten dieser Rettungsaktion gesteigert. Ihr Paket für Wettbewerbsfähigkeit, Frau Merkel, ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ebenfalls prinzipiell richtig, vermittelte aber lange den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eindruck, dass es auch eine innenpolitische und inner- parteiliche Funktion hatte, indem das Gelände planiert Zum Zweiten haben das Gewicht Deutschlands und werden sollte, auf dem der bereits absehbare Rückzug die Anerkennung unseres Wirkens für Europa, wenn von den unhaltbaren Bedingungen zu den beiden Ret- 11260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Peer Steinbrück (A) tungsschirmen letztlich ohne Meuterei in den eigenen torischen Aspekt nicht zu unterschätzen. Die Bürger (C) Reihen gelingen sollte. stellen die Frage: Wer zahlt? Wir als Politiker müssen ih- nen sagen: Ihr zahlt im Fall der deutschen Abschirmung, Solche Manöver kosten Glaubwürdigkeit, eines der im Fall der Griechenland-Hilfe, im Fall des aktuellen wichtigsten politischen Pfunde, auch im Verhältnis zu eu- Schirmes und im Fall der Staatsanleihen der EZB. Da- ropäischen Partnern. Dieses Pfund entgleitet Ihnen zuse- durch kann das Vertrauen in unsere Wirtschafts- und Ge- hends: in der Personalie des Herrn zu Guttenberg, weil sellschaftsordnung erschüttert werden. Deshalb sollte Sie bürgerliche Tugenden hintangestellt haben; im Falle der fehlende Konsens im Kreis der G-20-Staaten, in der der Kernenergie, weil Ihr Verständnis von einer Brücken- EU der 27 Staaten und in der Euro-Zone der 17 Staaten technologie und von einem Ausstieg mit Augenmaß of- über die Einführung einer Umsatzsteuer auf alle Finanz- fensichtlich mit einem Deal über eine Laufzeitverlänge- geschäfte – vulgo: einer Finanzmarkttransaktionsteuer – rung von Kernkraftwerken bis möglichweise 2050 und einer Kürzung von Haushaltsmitteln für alternative Ener- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gieversorgungsstrategien kollidiert; und auch im Fall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) UN-Mandats für eine Flugverbotszone über Libyen, weil Sie als Oppositionsführerin seinerzeit die Regierung von nicht zum Vorwand dafür genommen werden, nichts zu Gerhard Schröder und massiv für eine tun, sondern man sollte mit den sechs, sieben oder acht Isolierung im Bündnissystem kritisiert haben, in die Sie Ländern in Europa anfangen, die dazu erklärtermaßen sich nun aber selbst durch das deutsche Abstimmungs- bereit sind. Dies ist insbesondere auch der französische verhalten im UN-Sicherheitsrat gebracht haben. Staatspräsident. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Absurd!) LINKEN) Wenn ich auf eine Detailkritik an dem Paket ver- Viertens. Die Bankenkrise in Europa ist nicht über- zichte, so bedeutet das nicht, dass dies bereits hinrei- wunden. Durch harte Stresstests wird dies belegt werden. chend ist. Ich möchte dazu fünf oder sechs einzelne Deshalb brauchen wir ein europäisches Bankeninsolvenz- Punkte anführen. recht, um insbesondere mit Blick auf grenzüberschrei- Erstens. Wer bezahlt die Schulden überschuldeter tende Bankinstitute zu dem zu kommen, was in Deutsch- Staaten, die Gläubiger oder die Steuerzahler? Ich halte land richtigerweise verabschiedet worden ist, nämlich eine Gläubigerhaftung bereits im Illiquiditätsfall, nicht einem Restrukturierungsgesetz. (B) erst im Insolvenzfall für dringend erforderlich. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich sage nur: (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ WestLB! Ja, ja, das ist völlig richtig!) DIE GRÜNEN) Übrigens, die Vorarbeiten zu diesem Restrukturierungs- Zweitens. Was passiert mit Staaten, die unter ihrer gesetz sind maßgeblich von der damaligen Justizministe- Schuldenlast und unter ihrem Kapitaldienst zu ersticken rin, meiner Kollegin Frau Zypries, und mir erarbeitet drohen? Das Szenario einer Umschuldung wird eintre- worden – damit es da nicht zu einer Auseinandersetzung ten. Dies sage ich Ihnen glasklar voraus, und zwar nicht, um das Copyright kommt. weil ich besonders originell bin, sondern weil die über- wiegende Anzahl der Experten, die man dazu hören (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) kann, eine solche Umschuldung sogar als Voraussetzung Ich sage voraus, dass wir in Europa über ein solches für die Stabilisierung in der Euro-Zone ansieht. Ich erin- geordnetes Insolvenzrecht oder eine solche Bankenab- nere in diesem Zusammenhang an den Vorschlag des wicklung hinaus auch eine europäische Fazilität zur Re- Bundesbankpräsidenten, der zusammen mit Mitarbeitern strukturierung und Rekapitalisierung von Banken brau- der Bundesbank gefragt hat, warum es im Fall von Not- chen. Das ist ein heißes Thema, wie ich weiß, aber ich krediten aus den Rettungsschirmen nicht automatisch sage ganz deutlich: Ohne eine Restrukturierung oder Re- eine Laufzeitverlängerung der Anleihen des in Bedräng- kapitalisierung von labilen Banken wird es keine umfas- nis geratenen Landes um drei Jahre geben sollte. sende Lösung in Europa geben. Uns stehen hinsichtlich der Umschuldungsmöglich- keiten verschiedene Instrumente zur Verfügung: Lauf- Fünftens. Ein weiterer Punkt ist, dass Europa, insbe- zeitverlängerung, Zinserlass bis hin zu einem klassi- sondere die Euro-Zone, natürlich von internen Ungleich- schen Haircut. All dies müsste in meinen Augen gewichten geprägt ist. Die Deutschen werden inzwi- vorbereitet werden. Wir sind darin durchaus trainiert, schen als die Chinesen Europas bezeichnet. Unsere weil wir dies bereits im Pariser Club und im Londoner Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse spie- Club geübt haben. Wir haben weltweit viele Erfahrungen geln sich in den entsprechenden Defiziten anderer Län- machen können, dass dies gelungen ist. der wider. Weil ein Sabbatical, eine Art Ruhepause für deutsche Exportaktivitäten, nicht infrage kommt, stehen Drittens. Die Heranziehung des Bankensektors zur nur zwei Strategien zur Auswahl, nämlich einerseits, die Mitfinanzierung der Folgekosten der maßgeblich von Wettbewerbsfähigkeit von Defizitländern zu stärken, ihm ausgelösten Finanzkrise ist nicht nur eine finanzielle und andererseits, die Inlandsnachfrage in Deutschland oder haushalterische Frage. Ich bitte, auch den legitima- ebenfalls zu stärken. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11261

Peer Steinbrück (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben es mit einem immer weiter wachsenden Kom- (C) DIE GRÜNEN) petenzzuwachs der Europäischen Kommission und auch des Europäischen Rates zu tun. Es gibt aber keinen De- Bei beiden Strategien läuft es auf sehr handfeste Fragen mokratie- und Legitimationszuwachs. Das wird die Eu- hinaus. ropamüdigkeit eher fördern als abbauen. In Europa wird sich die Frage stellen, ob wir die euro- Es geht allerdings um mehr als das. In dieser ökono- päischen Mittel, die zur Verfügung stehen, zunehmend misch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz müssen wir für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Län- eine neue Geschichte über Europa erzählen. Europa ist der einsetzen, ob wir nach wie vor 40 Prozent, 45 Pro- nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion, zent der Mittel in die Förderung des landwirtschaftlichen sondern es ist über eine Friedens- und Wohlstandsregion Sektors stecken oder ob wir dieses Geld nicht viel besser hinaus eine Region, in der Rechtssicherheit, Sozialstaat- in die Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung und lichkeit, Freizügigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit, in Bildung investieren, also in all das, wodurch die Wett- aber keine Korruption herrschen. bewerbsfähigkeit dieser Länder gefördert werden könnte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deshalb war übrigens die Reaktion auf die ungarische DIE GRÜNEN) Mediengesetzgebung in der Debatte in diesem Hause Hinsichtlich der Hebung der Nachfrage in Deutsch- seinerzeit unterirdisch. land geht es ganz konkret um die Lohn- und Gehaltsent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wicklung. Ich füge hinzu: Mit Blick auf die Massenkauf- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des kraft geht es auch um die Frage, ob die Kaufkraft in Abg. [DIE LINKE]) Deutschland durch die Einführung gesetzlicher Mindest- löhne nicht deutlich erhöht werden könnte. Wenn wir insbesondere einer jüngeren Generation und einer Wahlbevölkerung insgesamt Europa als histo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ risch einmalige Errungenschaft vermitteln wollen, statt DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Europa nur als bürokratische Konstruktion – das Subsi- LINKEN – [DIE LINKE]: diaritätsprinzip bei Glühbirnen lässt grüßen – und als ei- Warum haben Sie dagegen gestimmt?) nen reinen Männerklub mit Dame erscheinen zu lassen, Mit dem Wegfall der ideologischen Systemkonkur- dann werden wir die Attraktivität dieses Kontinents neu renz 1989/1990 nach der Implosion der Sowjetunion und erklären und in eine faszinierende Geschichte fassen ihrer Satrapen ist die Geschichte keineswegs zu Ende. müssen. Genau darum geht es heute und morgen im Eu- (B) (D) Stattdessen haben wir es heute im globalen Maßstab mit ropäischen Rat bei der Bewältigung der Krise und den einer ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz anstehenden Beschlüssen. zu tun. Europa muss in dieser Konkurrenz mehr sein als Vielen Dank für das Zuhören. eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Währungsunion, nicht zuletzt deshalb, um die Kluft seiner Bürger gegen- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall über europäischen Institutionen zu überwinden. Die Bür- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ger sind nicht müde an Europa, aber sie sind müde an der Organisation Europas. Um diese Kluft zu überwinden, Präsident Dr. Norbert Lammert: muss Europa aus dem Zustand vornehmlich intergouver- Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger nementaler Beschlüsse herausgeführt werden. Es bedarf für die FDP-Fraktion. einer Parlamentarisierung europäischer Entscheidungs- prozesse mit Blick sowohl auf das Europäische Parla- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ment als auch auf die nationalen Parlamente. der CDU/CSU)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Birgit Homburger (FDP): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abg. Thomas Nord [DIE LINKE]) Wenn die Staats- und Regierungschefs in dieser Woche In diesem Sinn hat die Bundesregierung ihre Informa- zusammenkommen, dann geht es im Kern um die Stabi- tionspflicht auf der Basis des Bundesverfassungsge- lität des Euro. Dies ist gleichzeitig eine zentrale Voraus- richtsurteils mehrfach sträflich verletzt. setzung für die Stabilität Europas. In so schwierigen Fra- gen war Arroganz noch nie ein guter Ratgeber, Herr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Steinbrück. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Die Art des Umgangs mit dem Pakt für Wettbewerbsfä- Das geht an Sie zurück!) higkeit gegenüber dem Parlament ist vor diesem Hinter- grund inakzeptabel. Dass Sie Ihre eigenen Verantwortlichkeiten ausblenden, ist ebenfalls bemerkenswert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Deutschland ist von seiner Geschichte geprägt. Die Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Bürgerinnen und Bürger haben eine hohe Sensibilität, 11262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Birgit Homburger (A) wenn es um ihre Währung geht. Deshalb geht es darum, Es sind nicht diejenigen die besseren Europäer, die (C) diese Währung zu sichern. Wir brauchen eine harte glauben, mit Euro-Bonds und einer EU-Steuer eine Währung. Das ist seinerzeit bei der Umstellung auf den schnelle Lösung zu haben. Stabilität wird es nur dann Euro versprochen worden. Wir haben damals mit dem geben, wenn jeder einzelne Mitgliedstaat sich darüber Stabilitäts- und Wachstumspakt dafür gesorgt. Dass wir im Klaren ist, dass er seiner stabilitätspolitischen Verant- heute in einer so schwierigen Lage sind, Herr wortung gerecht werden muss. Sie, Herr Steinbrück, sa- Steinbrück, hat auch und vor allem damit zu tun, dass gen jetzt, wir hätten zu lange gezögert. Wer hat denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa im Jahr aber dem Rettungsschirm in diesem Hause im letzten 2004 aufgeweicht wurde, und zwar deshalb, weil eine Mai, kurz vor den NRW-Wahlen, nicht zugestimmt? Es rot-grüne Regierung innenpolitische Probleme hatte, die war Ihre Fraktion, die sich verweigert hat. sie zulasten des Euro und damit auf dem Rücken Euro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) pas ausgetragen hat. Sie sprachen von kleinkarierten nationalen Egoismen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das finde ich schon bemerkenswert. Es geht an dieser Stelle auch um die Stabilität Deutschlands und um das Während Herr Schröder und Herr Fischer, die damals Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. zuständig waren, längst als hochbezahlte Lobbyisten un- terwegs sind, dürfen wir heute die Scherben in Europa (Peer Steinbrück [SPD]: Eben!) zusammenkehren. Das ist die Wahrheit, Herr Steinbrück. Wenn wir klare Regeln einfordern, dann geht es nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten um kleinkarierte nationale Egoismen, sondern dann ist der CDU/CSU) das eine schlichte Notwendigkeit. Das sind wir den Bür- gerinnen und Bürgern Deutschlands schuldig. Wir wollen, dass sich die Bürger auf unsere Währung verlassen können. Deshalb ist es unser Ziel, den Euro zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stabilisieren, ihn auf ein solides Fundament zu stellen Die No-bail-out-Klausel ist eine Grundfeste Europas. und einen Krisenmechanismus für den Notfall einzufüh- ren. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Eine der vielen Grundsätze, die Sie abschaffen!) (Zuruf von der SPD: Mövenpick!) Es soll eben keine Schuldenüberwälzung auf andere Diesem Ziel sind wir in den letzten zwölf Monaten nä- Staaten der Euro-Zone zugelassen werden, und es soll hergekommen. Wir müssen aber jeden einzelnen Schritt keine Euro-Bonds oder gemeinsam finanzierte oder ga- rantierte Schuldenrückkaufprogramme geben. Wir wol- (B) bis zum Schluss begleiten. Ich sage ganz deutlich: Eine (D) Zustimmung kann es nur zu einem Gesamtpaket geben, len eine Stabilitätsgemeinschaft. In der Tat ist Europa weil es das Ziel sein muss, die Ursachen einer Krise zu eine Schicksalsgemeinschaft. Es ist aber nicht nur eine bekämpfen – dazu gehört auch eine Verschärfung des Schicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Verantwor- Stabilitäts- und Wachstumspakts –, und es nicht genügt, tungsgemeinschaft. Für diese Verantwortungsgemein- die Symptome zu retuschieren. Das ist das Ziel, das wir schaft setzen wir uns ein. verfolgen, und dies rechtfertigt eine entsprechend inten- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sive Behandlung auf europäischer Ebene. Es geht nicht darum, dass wir jetzt neue Geschichten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) über Europa erzählen. Wir müssen in einer ganz konkre- ten Situation entscheiden, wie es weitergeht und wie wir Es besteht ein Unterschied zwischen einer Transfer- sicherstellen, dass solche Situationen in Zukunft mög- union, wie Sie es verstehen, Herr Steinbrück, und einer lichst vermieden werden. Jeder Einzelstaat muss seiner Haftungsunion. Sie wollten von Anfang an bedingungs- stabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden. lose Hilfe für Griechenland und werfen uns jetzt vor, Deshalb wollen wir die Verschärfung des Stabilitätspakts dass wir Griechenland nicht schnell genug geholfen hät- – das hat die Bundeskanzlerin eben noch einmal ausge- ten. Sie haben schon zu einem Zeitpunkt, als Griechen- führt –, ein Frühwarnsystem sowie nach Möglichkeit au- land noch gar keine Hilfen wollte, davon gesprochen, tomatisierte Sanktionen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist zu Griechenland das Geld hinterherzutragen. So werden Sie stärken, und zwar auch durch eine bessere Koordinie- nie eine Stabilitätskultur erreichen. rung der Wirtschaftspolitik. Das alles sind integrale Be- standteile eines Pakets, und ein Teil ist ohne den anderen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Teil nicht denkbar; das ist ein umfassender Ansatz. Die der CDU/CSU) Bundeskanzlerin hat heute hier gesagt, dass sie den Sta- Sie setzen sich für Euro-Bonds ein. Deutschland müsste bilitäts- und Wachstumspakt nicht aufweichen will und damit für die Schulden anderer Länder geradestehen. Sie dass es eine gemeinsame Verpflichtung ist, dafür zu sor- wollen nichts anderes als eine Vollkaskohaftung für Eu- gen, dass er auch wirklich eingehalten wird. Dabei hat ropas Schulden. Eine solche Vollkaskohaftung machen sie die volle Unterstützung dieses Hauses, jedenfalls der wir nicht mit. Koalitionsfraktionen in diesem Haus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier Wir haben in den letzten Monaten doch einiges in Eu- [SPD]: Was erzählen Sie für einen Blödsinn!) ropa erreicht, auch was das Umdenken bei anderen an- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11263

Birgit Homburger (A) geht. Das haben wir deshalb erreicht, weil wir auch im der Koalition einig, dass das Ergebnis des Ecofin-Rates (C) Deutschen Bundestag eine so klare Haltung eingenom- nicht das Ergebnis des Gipfels der Staats- und Regie- men haben, weil wir in Anträgen immer wieder die roten rungschefs sein darf. Wer Solidarität will – wir sind be- Linien aufgezeigt haben; das war notwendig. Dadurch reit, uns solidarisch zu verhalten –, der darf nicht diejeni- hatte die Bundeskanzlerin eine starke Verhandlungsposi- gen überfordern, die Solidarität leisten sollen. Darüber tion in Brüssel. Diese Verhandlungsposition hat sie – das muss noch einmal geredet werden; denn deutsche Bürg- will ich festhalten – klug genutzt. schaften haben ein Triple-A. Deshalb ist über die Barein- lagen nachzuverhandeln. Das hat die deutsche Regie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rung in Europa schon angemeldet. Wir gehen davon aus, Es gibt drei Kernpunkte, für die sie ihre starke Ver- dass es hier zu einer Veränderung kommt. Frau Bundes- handlungsposition genutzt hat. Erstens, das Ultima-Ra- kanzlerin, Sie haben auch an dieser Stelle die volle Rü- tio-Prinzip für den Einsatz der Stabilisierungsmechanis- ckendeckung der Koalition für die Verhandlungen. men. Hilfen werden nur dann gewährt, wenn die Euro- Zone als Ganzes in Gefahr ist. Ich halte dies nach wie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – vor für richtig. Wer wie die Opposition leichtfertig Gel- Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das reicht also der in Europa verteilt, schafft keine Anreize für eine so- nicht aus! Es muss nachverhandelt werden! lide Finanzpolitik. Staaten müssen zuerst eigene An- Dafür hat sie die volle Rückendeckung!) strengungen unternehmen, um die Verschuldung zu Sie haben über die schwierige Situation in Portugal stoppen. Wir sind froh, dass auch in Zukunft der IWF gesprochen und haben deutlich gemacht, dass die von stark vertreten sein wird und mit im Boot sitzt. Das ist den Staats- und Regierungschefs befürworteten Maßnah- ein wichtiger Punkt. men nicht die Zustimmung des Parlaments gefunden ha- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben. Das ist eine schwierige Situation, die in den nächs- ten Tagen sicherlich eine Rolle spielen wird, auch in Zweitens, das Einstimmigkeitsprinzip. Das Einstim- migkeitsprinzip bei allen Maßnahmen des ESM ist eine Europa. Lebensversicherung für den deutschen Steuerzahler. Wenn Portugal nicht sparen will, dann können und ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dürfen wir nicht mit Geld des Steuerzahlers helfen. Die NEN]: Das ist nicht einstimmig! Das stimmt Hilfe ist nur bei einem klaren Sparkonzept möglich. Der nicht!) Rettungsschirm ist kein Rettungsnetz und erst recht keine Rettungshängematte. Niemand kann gegen unser Votum über den Einsatz der Gelder der deutschen Steuerzahler bestimmen. Auch das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) ist ein Erfolg für Deutschland. der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten In Lissabon wurden die Rechte der nationalen Parla- der CDU/CSU) mente gestärkt, und das ist gut so. Das zeigt sich in die- Drittens. Wir wollen – auch das ist entsprechend ver- sem Verfahren. Wir wollen, dass die Ratifizierung des handelt worden – eine Umschuldung, also ein Insolvenz- Vertrages und die Umsetzung der anderen Punkte gleich- recht für Staaten. Es ist wichtig, dass es eine Beteiligung zeitig erfolgen. Es gibt viele Staaten in Europa, die ein privater Gläubiger an Hilfsmaßnahmen geben wird. Das Interesse an einer schnellen Ratifizierung der Vertrags- darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleiben. änderung haben. Deutschland hat ein ebenso großes In- Vielmehr muss das, was die Staats- und Regierungschefs teresse daran, dass die Mechanismen, die hinter dieser der Euro-Gruppe bei ihrem letzten Treffen entschieden Ratifizierung stehen, verbindlich vereinbart werden. haben, immer gelten und umgesetzt werden. Deshalb darf im weiteren Ablauf die Vertragsänderung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nur zusammen mit der Umsetzung und Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes erfolgen. Wir brau- Es gibt also drei glasklare Botschaften von der letzten chen klare Verhältnisse. Eine Ratifizierung gibt es nur Sitzung der Staats- und Regierungschefs der Euro- im Rahmen des Gesamtpakets. Gruppe: Ultima-Ratio-Prinzip, Einstimmigkeitsprinzip und Gläubigerbeteiligung. Das sind die Kernpunkte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diese sind einzuhalten. Für uns ist auch wichtig, dass auf der CDU/CSU) dem bevorstehenden Gipfel klargestellt wird, Frau Bun- deskanzlerin, dass das, was die Staats- und Regierungs- Ich will zum Schluss etwas festhalten, chefs in aller Eindeutigkeit festgehalten haben, gilt und (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja! Kommen dass das, was teilweise in dem Papier des Ecofin-Rats Sie zum Schluss!) nicht ganz so deutlich formuliert ist, hinter dem zurück- steht, was die Staats- und Regierungschefs zugesagt ha- was auf europäischer Ebene keine Rolle spielt, aber hier ben. Das heißt, diese drei Punkte sind für uns nicht ver- im Hause klar sein muss. Bei der Ratifizierung legen wir handelbar und müssen durchgesetzt werden. größten Wert darauf, dass dieses Parlament nicht nur ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gebunden wird, sondern dass unsere Rechte bei der Um- setzung der Maßnahmen gewahrt bleiben. Wir haben natürlich noch ein Problem mit der Finan- zierung des europäischen Stabilitätsmechanismus. Hier (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sagen Sie geht es um Einlagen oder Bürgschaften. Wir sind uns in das mal Frau Merkel!) 11264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Birgit Homburger (A) Das heißt: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des für 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank zur (C) Parlaments. Deshalb werden wir in jedem Einzelfall, von griechischen und zur irischen Regierung und sagt: Wir dem der Haushalt betroffen ist, dafür sorgen, dass der haben gehört, ihr braucht Geld. – Dann antworten die Re- Deutsche Bundestag seine Zustimmung geben muss. Die- gierungen: Das ist schön; wir hätten gerne 1 Milliarde ser Parlamentsvorbehalt ist nicht verhandelbar. Das ist Euro. – Dann erwidert die Deutsche Bank: Wir leihen eine ganz klare Linie, die diese Koalition vereinbart hat. euch das Geld, wenn ihr uns 13 Prozent – im Falle Grie- Wir werden die Rechte des Parlaments durchsetzen. Ich chenlands – oder 10 Prozent – im Falle Irlands – Zinsen lade die Opposition in diesem Hause ein, daran teilzuha- zahlt. – Mit einer Überweisung verdient die Deutsche ben. Bank ein Schweinegeld, ohne irgendetwas hergestellt oder irgendeinen Wert geschaffen zu haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, haben Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie schon mal etwas von Risikohaftung ge- Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak- hört?) tion Die Linke. Ich nenne Ihnen jetzt das zweite Beispiel. Sie müssen (Beifall bei der LINKEN) auch das zweite Beispiel verbreiten, Herr Kauder. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das erste ist Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): schon falsch!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen sagen: Sie haben zusammen mit der SPD die Hypo Real Estate Ich finde es unverfroren und arrogant, dass Sie eine Re- verstaatlicht. Es ist schon selten, dass die CDU etwas gierungserklärung abgeben, ich Ihnen die ganze Zeit zu- verstaatlichen will und die Linke Kritik dazu äußert. Das höre und Sie, wenn die Opposition erwidert, aufstehen, lag einfach daran, dass wir gesagt haben: Wenn wir ver- herumlaufen und nicht zuhören. Das ist nicht anständig; staatlichen, dann verstaatlichen wir nach dem schwedi- das ist arrogant und falsch, wenn ich das einmal deutlich schen Modell und übernehmen alle privaten Großban- sagen darf. ken. – Sie aber wollten nur die höchstverschuldete Bank übernehmen. Dadurch haben die Bürgerinnen und Bürger (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder von Ihnen die gesamten Schulden der Hypo Real Estate [CDU/CSU]: Oh! Sie sind aber angefressen! bekommen. Insgesamt sind auch von unseren Bürgerin- Ich höre Ihnen zu!) nen und Bürgern dadurch an die Deutsche Bank jetzt Wir hatten zunächst eine Bankenkrise, dann eine schon 20 Milliarden Euro gezahlt worden. Deshalb kann (B) Krise des Euro, und jetzt haben wir eine Staatsschulden- die riesige Dividenden an ihre Großaktionäre sowie Boni (D) krise, übrigens auch in unserem Land; denn Bund, Län- über Boni an alle ihre Ackermänner auszahlen. Das ist der und Gemeinden haben im letzten Jahr neue Schulden die Wahrheit. Genau das ist das Problem. Hier brauchen im Umfang von 300 Milliarden Euro gemacht. Davon wir endlich Gerechtigkeit. sind 232 Milliarden Euro auf die Bankenkrise zurückzu- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder führen. Ich habe eine Frage: Wer bezahlt jetzt diese [CDU/CSU]: Das Staatsbankensystem der Schulden? Bei uns sind das ganz eindeutig die Bürgerin- DDR haben wir ja erlebt!) nen und Bürger, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und sogar die Hartz-IV-Empfangenden. Es gilt nicht das Jetzt komme ich zu Griechenland, Irland, Portugal Verursacherprinzip; sonst würden nämlich die Banken und Spanien und sage Ihnen: Was Sie dort machen, Frau die Schulden bezahlen müssen. Genau das haben Sie im- Bundeskanzlerin, ist eine Politik von Versailles. Ich hatte mer abgelehnt. gehofft, wir hätten aus der Geschichte endlich gelernt. Deutschland hat zu Recht den Ersten Weltkrieg verloren. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Aber die Sieger konnten in Versailles nicht aufhören, zu FDP) siegen, und haben ganz enge und demütigende Bedin- – Es ist richtig: Das haben wir schon einmal gesagt. gungen für Deutschland festgelegt. Das war nicht der Aber geändert haben Sie es nicht, weil Sie die Banken einzige, aber ein Grund dafür, dass dann die NSDAP mit immer schonen; denn es regiert die Bankenlobby, es re- ihrem entsetzlichen Nationalismus, Rassismus und Anti- gieren nicht Sie selbst. Das ist nämlich das Problem, mit semitismus solchen Erfolg in Deutschland hatte. dem wir es in Deutschland zu tun haben. (Holger Krestel [FDP]: Hören Sie doch mal (Beifall bei der LINKEN) auf, die Geschichte zu verbiegen! Das ist ja peinlich!) Dasselbe gilt übrigens für Zahlungen auf europäi- scher Ebene. Die Privatbanken verdienen glänzend. Ich Ich dachte, wir hätten daraus gelernt. Aber was machen muss Ihnen, Herr Kauder, zwei Beispiele nennen, damit wir? Wir machen gegenüber Griechenland, Irland, Por- Sie die in Baden-Württemberg verbreiten. Erstes Bei- tugal und Spanien wieder eine Politik von Versailles. Sie spiel: Die Europäische Zentralbank gibt keine Kredite an verlangen dort Lohnsenkungen, Rentensenkungen, Sen- Staaten, auch nicht in Ausnahmesituationen, obwohl das kungen der Sozialleistungen, Rücknahme von Investitio- jetzt dringend notwendig wäre. Was macht die Europäi- nen, und – die Frau Bundeskanzlerin hat es heute stolz sche Zentralbank? Sie gibt zum Beispiel der Deutschen gesagt – Griechenland soll öffentliches Eigentum im Bank einen Kredit über 1 Milliarde Euro und verlangt da- Wert von 50 Milliarden Euro verkaufen. Sollen die auch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11265

Dr. Gregor Gysi (A) noch die Akropolis verkaufen, oder was stellen Sie sich Sozialleistungen wollen. Davon lebt der Gastwirt, davon (C) eigentlich vor? Ich finde das indiskutabel. leben die kleinen und mittleren Unternehmen, die in der Binnenwirtschaft agieren. Für die tun Sie gar nichts. Das (Beifall bei der LINKEN) ist die Wahrheit. Dass der portugiesische Ministerpräsident zurückge- (Beifall bei der LINKEN) treten ist, liegt doch nur daran, dass die Opposition jetzt mehrheitlich entschieden hat, diesen Kurs von Versailles Wir wollen ein soziales Europa der Völker, und Sie nicht mitzumachen, und das ist völlig richtig. wollen ein Hartz-IV-Europa. (Zurufe von der FDP) (Lachen bei der FDP) – Ja, ich weiß, dass die Konservativen und die Linken Der Reallohnabbau in den letzten zehn Jahren betrug in das auch entschieden haben. Wenn die Konservativen in Deutschland 4,5 Prozent, auch unter Mitregierung der der Opposition sind, haben sie ab und zu auch einmal ei- SPD. Erklären Sie doch einmal, weshalb keine andere nen vernünftigen Gedanken; selten, aber immerhin, es Industriegesellschaft einen Reallohnabbau hatte, nur kommt vor. Deutschland. In Norwegen gab es sogar ein Plus von 25 Prozent. Was Sie auf dieser Strecke angerichtet ha- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ben, ist nicht vertretbar. Das nächste Problem besteht darin, dass Sie hier die (Beifall bei der LINKEN) Finanzmärkte nicht reguliert haben. Was haben Sie ge- macht, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben weder die Spe- Dasselbe gilt für Renten und Sozialleistungen. kulation noch Leerverkäufe noch Hedgefonds noch Sie wollen statt eines sozialen Europas ein Agenda- Zweckgesellschaften eingeschränkt. Es gibt auch keine 2010-Europa. Da spielt auch gar keine Rolle, ob Union, Finanztransaktionsteuer. Herr Steinbrück, ich habe gern SPD, FDP oder Grüne handeln; da sind Sie sich ja einig. gehört, dass Sie für die Finanztransaktionsteuer sind. Sie Was bedeutet ein Agenda-2010-Europa? Das bedeutet: müssen nur zwei Dinge erklären, erstens, warum Sie sie prekäre Beschäftigung, Befristung, Leiharbeit, Aufsto- als Bundesfinanzminister nicht eingeführt haben, und, ckung, das gesamte Paket im Niedriglohnsektor. Das al- zweitens, weshalb Sie bei einer namentlichen Abstim- les ist durch die Agenda 2010 in Deutschland massen- mung dagegen gestimmt haben. Wenn Sie das noch er- haft eingeführt worden. klären, dann sind wir hier einen Schritt weiter. Lassen Sie mich nur zu drei Dingen etwas sagen. Be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- fristete Beschäftigung bedeutet immer, den Leuten keine neten der FDP) (B) Perspektive zu geben – weil sie nicht wissen, ob sie wie- (D) Der Internationale Währungsfonds befürchtet jetzt der einen Vertrag bekommen. Sie können sich überhaupt übrigens eine neue und noch schlimmere Krise, und nicht darauf einstellen. Das schwächt auch die Gewerk- zwar deshalb, weil nichts reguliert worden ist. Wir wol- schaften; denn jemand, der einen befristeten Vertrag hat, len nicht vergessen: Sie haben einen Fonds für die geht doch nicht zu einer Kundgebung gegen die Leitung nächste Krise eingeführt. Da sollen die Banken jedes seines eigenen Unternehmens, weil er Angst hat, keinen Jahr 1 Milliarde Euro einzahlen. Da Sie den Banken sel- neuen Vertrag zu bekommen. Das ist ja auch Ihr Ziel. ber innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Ver- Deshalb soll die befristete Beschäftigung ausgebaut wer- fügung gestellt haben, machen Sie damit eine sehr lang- den. fristige Politik. Dann haben wir das Geld von den (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Banken, wenn ich das Ganze richtig verstehe, schon in 480 Jahren zurück. Leiharbeit ist für mich eine moderne Form der Skla- verei. Wir könnten wenigstens die französische Rege- Aber abgesehen davon: Jede Bundesregierung achtet lung einführen, wonach ein Leiharbeiter von Anfang an immer auf den Export und nicht auf die Binnenwirt- genauso viel Geld plus 10 Prozent bekommt. Dann wird schaft. Deshalb die Reallohnsenkung, die Rentensen- das eine reine Ausnahme. Aber hier arbeiten die Leihar- kung, die Sozialleistungssenkung! Sie wollen, dass alle beiter für einen Zweidrittellohn oder einen halben Lohn. Produkte so billig wie möglich ins Ausland verkauft werden können. Deshalb nehmen wir da auch Platz zwei (Beifall bei der LINKEN) ein. Ich sage Ihnen: Diese Einseitigkeit muss endlich überwunden werden. Wir brauchen eine Stärkung der Sie wollen die gleiche Bezahlung nach neun Monaten Binnenwirtschaft. Deshalb betone ich erneut: Die ein- einführen, wenn die Leiharbeiter schon längst wieder zige Mittelstandspartei ist die Linke. entlassen sind. Liebe FDP, das könnt ihr nun wirklich vergessen. Das ist eine Veralberung der Leute. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) – Ich wusste, dass Sie sich freuen. Deshalb wiederhole Nun zu den Aufstockerinnen und Aufstockern. Auf- ich es. Ich will Ihnen auch die Gründe nennen, Frau stockerinnen und Aufstocker verdienen, obwohl sie Voll- Homburger, damit Sie es verstehen. Passen Sie auf! zeit arbeiten, so wenig, dass sie ergänzend Hartz IV be- antragen müssen. Wir betreiben diesbezüglich eine Wir sind die Einzigen, die Lohnsteigerungen wollen, Subventionierung von jährlich 10 Milliarden Euro. Die die Rentensteigerungen wollen und die Steigerungen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Deutschlands zahlen 11266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Gregor Gysi (A) an die Aufstockerinnen und Aufstocker 10 Milliarden – Das stimmt. – Wir hatten Jahrzehnte der staatlichen (C) Euro. Die Frau Bundeskanzlerin sagt immer, sie sei stolz Energiepreisregulierung in der Bundesrepublik Deutsch- darauf, dass der Staat an dieser Stelle eingreift. Ich sage, land, und dort gab es keine Planwirtschaft. Wenn Sie das ist ein Grund, sich zu schämen. Jemand, der einen nach dem Markt rufen würden, hätte ich nichts dagegen. Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen Lohn haben, Wir haben hier aber nur vier Konzerne – das ist alles –, mit dem er in Würde leben kann, und darf nicht zum So- die sich feudal Deutschland aufgeteilt haben. Entgegen zialamt geschickt werden. Ihrer Annahme sind sie in der Lage, einmal mittwochs zu telefonieren und zu verabreden, wie sie uns über- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der nächste Woche abzocken. Das muss endlich ein Ende ha- FDP: Die Rede hatten wir schon!) ben. – Sie müssen das ändern. Dann brauchen Sie sich das (Beifall bei der LINKEN) nicht mehr zu anzuhören. Wir brauchen ein Europa des Friedens, frei von Krie- (Birgit Homburger [FDP]: Es ist Zeit, eine gen. Nicht zu fassen ist, dass eine Bundesregierung aus neue Rede zu schreiben!) SPD und Grünen und dann aus Union und SPD Waffen- In Deutschland sind 22 Prozent aller Beschäftigungs- exporte an das feudale Saudi-Arabien genehmigt, das verhältnisse prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das ist nicht nur Menschenrechte – insbesondere von Frauen – mehr als ein Fünftel. Das ist die Realität, mit der wir es verletzt, sondern aus dem sämtliche Zahlungen an die zu tun haben. Terrororganisation al-Qaida fließen. Von 2005 bis 2009 waren dies 471 Millionen Euro. Damit wurden Panzer Mit dem Agenda-Europa würde auch die Rente ab 67 und Munitionsfabriken möglich. Jetzt marschiert Saudi- eingeführt. Die ganze Zeit reden Sie vier – SPD, Grüne, Arabien in Bahrain ein und schießt mit deutschen Waf- Union und FDP – davon, der demografische Faktor sei fen auf friedliche Demonstranten. entscheidend, die Leute würden immer älter. Das ist völ- lig falsch. Entscheidend ist die Produktivität. Ein Bauer konnte früher nur acht Menschen versorgen; heute ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: sorgt er über 80 Menschen. Die Produktivitätssteigerung Herr Kollege! ist das Entscheidende. (Zuruf von der FDP: Das hat mit der Rente Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): aber nichts zu tun!) Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Die Regierung von Union und SPD hat ferner von 2006 bis 2009 Waffen- (B) Deshalb müssen wir an eine Kürzung der Lebensarbeits- exporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro gelie- (D) zeit und auch der Wochenarbeitszeit denken, aber nicht fert. Gestern hat Herr Kauder gesagt, dass das ein Fehler an eine Verlängerung. war. Das würde ich auch gern von der SPD hören. Das (Beifall bei der LINKEN) war ein gravierender Fehler. Man weiß nämlich nie, auf wen Diktatoren schießen. Herr Müntefering hat immer gesagt, man müsse auch berücksichtigen, wie die Älteren beschäftigt sind. Ich sage (Beifall bei der LINKEN) es Ihnen: Von den 63- bis 64-Jährigen haben 8,4 Prozent Ich sage Ihnen zum Schluss: Der Kriegsbeschluss der der Männer und 3,7 Prozent der Frauen einen Vollzeitjob. UNO ist falsch. Der Außenminister bekommt jetzt mit, Das ist die Realität. Und da sagt auch die SPD diesen Leu- wie schwer es in Deutschland ist, nicht an einem Krieg ten, dass sie zwei Jahre länger arbeiten sollen. Ich finde teilzunehmen. Ich füge hinzu: Was SPD und Grüne ma- das indiskutabel. chen, ist reine Eierei. Sagen Sie doch einmal klipp und (Beifall bei der LINKEN) klar, ob Sie dafür oder dagegen sind. Sagen Sie nicht nur, die Regierung hätte sich klarer äußern müssen. Ein Agenda-Europa bedeutet ferner, dass die Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend die Kosten (Zurufe von der SPD) für ihre Gesundheit alleine tragen müssen. Jetzt haben Ich bin froh, einer Fraktion anzugehören, die klar Sie, Union und FDP, doch ernsthaft den Arbeitgeberan- Nein zu Krieg als politischem Mittel sagt, wie übrigens teil eingefroren und gesagt: Alle zusätzlichen Kosten auch Willy Brandt. müssen die Versicherten, das heißt die Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer, alleine tragen. Das ist extrem un- (Anhaltender Beifall bei der LINKEN – sozial. Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Bitte blei- ben Sie auch bei Ihrer Fraktion! – Thomas Wir brauchen ein Europa frei von Atomenergie und Oppermann [SPD]: Bleiben Sie bloß da! – eine staatliche Energiepreisregulierung. An dieser Stelle Weitere Zurufe von der SPD) rufen Sie immer, das sei Planwirtschaft. Was Planwirt- schaft angeht, haben Sie aber von Tuten und Blasen keine Ahnung. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der die CDU/CSU-Fraktion. FDP: Da haben Sie mehr Ahnung! Das stimmt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11267

(A) Volker Kauder (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gip- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! fel in Europa, auf dem ein neuer Regelungsmechanismus Der Europäische Rat heute und morgen wird eine ganz beschlossen wird, wird auch eine Zeit der intensiven bedeutende Entscheidung für Europa treffen. Er wird Diskussion über interne Angelegenheiten Europas zu ei- nämlich einen Regelungsmechanismus beschließen, von nem zwar nicht endgültigen, aber einem gewissen Ab- dem wir einige Teile dann noch in nationales Recht um- schluss bringen. Dies halte ich für notwendig. Wir brau- setzen müssen. Er wird einen Regelungsmechanismus chen nämlich ein starkes Europa für Wohlstand und beschließen, der verhindern soll, dass die Probleme, die Zukunft in Europa selber. Aber angesichts dessen, was jetzt entstanden sind, in Zukunft wieder entstehen. Der auf der ganzen Welt los ist, brauchen wir auch ein star- entscheidende Punkt ist, dass wir jetzt aus dem lernen, kes Europa als Partner bei den großen Herausforderun- was in der Vergangenheit nicht richtig funktioniert hat. gen in der Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier nenne ich als Beispiel, das durch die Gescheh- nisse in Japan eine neue Dimension bekommt, die Roh- Dafür ist natürlich, Herr Steinbrück, um gleich auf ei- stoffpolitik. Wir müssen uns in Europa mit China über nen von Ihnen angesprochenen Punkt zu kommen, in die Rohstoffpolitik auseinandersetzen. Wir müssen uns Europa eine Einigung zu erzielen. Hier gibt es nicht das in Europa mit Fragen der Energiesicherheit auseinander- Diktat des einen, der sagt: „So muss es gemacht werden“ setzen und uns damit beschäftigen, mit welchen Ener- und dem alle anderen folgen müssen. Die Bundesregie- gieformen wir in die Zukunft gehen. Es ist geradezu ab- rung hat vielmehr eine führende Rolle dabei gespielt, surd, wenn wir in Europa sagen, dass die Sicherheit von dass man sich auf das geeinigt hat, was jetzt im Rat vor- Kernkraft vorangetrieben werden muss, wir Ausstiegs- liegt. Dieses Ergebnis geht ausschließlich auf die kluge szenarien haben – das ist alles in Ordnung – und China Verhandlungsstrategie der Bundesregierung und der uns heute bescheinigt, dass dort so wie bisher weiterge- Bundeskanzlerin zurück, auf keinen anderen. Das ist macht wird. Da muss sich Europa um eine Lösung für Führung in der Europäischen Union. die ganze Welt bemühen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje! Alemannische Fasnacht!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Eu- ropa muss sich auch darum kümmern, dass Menschen- Richtig ist, Herr Steinbrück, dass auch in Zeiten, in rechte in der Welt nicht nur eine Ausnahme sind und denen SPD-Bundeskanzler für Europapolitik Verantwor- nicht nur Europa ein Hort der Menschenrechte ist, son- tung hatten, geführt wurde. Mit dem Ergebnis der Füh- dern sie in der ganzen Welt geachtet werden. (B) rung, die damals ausgeübt wurde, schlagen wir uns aber (D) heute herum. Sie haben den Stabilitätspakt aufgeweicht. An dieser Stelle muss ich sagen: Ja, es war richtig, Das war ein Ergebnis Ihrer Führung. Damit müssen wir dass im Weltsicherheitsrat jetzt eine Entscheidung für jetzt zurechtkommen. Libyen getroffen wurde. Es war aber genauso richtig, dass die Bundesrepublik Deutschland sich aufgrund ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schiedener Fragen, die heute noch offen sind, im Sicher- Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Erzählen heitsrat der Stimme enthalten hat. Sie hat nicht Nein ge- Sie doch nicht so einen Kokolores!) sagt, sondern nur erklärt: Wir können an diesem Mandat nicht teilnehmen. Da kann ich nur sagen: Führung ist nicht immer nur gut. Es muss sich auch um richtige Führung handeln. Aber unsere Solidarität und Unterstützung dort, wo wir sie leisten können, wird morgen mit dem Beschluss Neben all den Mechanismen, die die Bundeskanzlerin dargestellt hat und auf die die Kollegin Homburger noch zum AWACS-Einsatz dokumentiert. Wir brauchen uns von niemandem vorhalten zu lassen, dass wir im Bünd- einmal eingegangen ist, ist noch etwas anderes entschei- nis kein stabiler Partner seien. dend: Ein zentraler Punkt ist auch der Pakt für Wettbe- werbsfähigkeit. Das ist nicht nur deshalb so, weil dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dazu beitragen soll, dass zentrale Wirtschaftsparameter angeglichen werden, sondern auch, weil dieser Pakt für Im Übrigen rate ich dazu – darum würde ich auch bit- Wettbewerbsfähigkeit, Frau Bundeskanzlerin – das ten, Frau Bundeskanzlerin –, dass man in Europa da- würde ich mir auch wünschen –, eine dauerhafte ständige rüber spricht und dass wir uns auch ein Bild davon ver- Kontrolle der Entwicklungen in den einzelnen Staaten in schaffen, wie die Entwicklung nun in den einzelnen Europa ermöglicht. Daran hat es doch bisher gefehlt. Es Staaten verläuft. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wir hat in den letzten Jahren doch kaum jemand richtig zur sorgen jetzt für einen Stopp. – Wir müssen auch dafür Kenntnis genommen, was in Griechenland abgelaufen Sorge tragen, wie es weitergeht. ist. Deswegen führt dieser Pakt für mehr Wettbewerbsfä- higkeit auch dazu, dass genauer und intensiver hinge- Ich sehe mit einiger Sorge die Diskussionen um die schaut wird, welche Entwicklungen in Europa ablaufen. Verfassungsänderungen in Ägypten. Bis zum heutigen Tag ist nicht sichergestellt, dass auch für koptische (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christen in Ägypten Religionsfreiheit gilt. Auch dort Manfred Zöllmer [SPD]: Den Pakt gibt es müssen wir genauer hinschauen. Wir dürfen nicht ein- doch gar nicht mehr!) fach schweigen, sondern müssen dafür sorgen, dass dies 11268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Volker Kauder (A) erreicht werden kann, meine sehr verehrten Damen und nen. – Das Ganze treibt die Finanzaktivitäten aus Europa (C) Herren. und aus unserem Land heraus. Deswegen sollte man an diesem Rednerpult als Fachmann, der Sie sind, nicht so (Beifall bei der CDU/CSU) unverantwortlich daherreden. Ägypten und Tunesien sind etwas aus dem Blickwin- kel verschwunden. Ich habe manchen Umsturz, manche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sogenannte Volksbewegung erlebt, beispielsweise im Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ban- , ohne dass ich behaupten könnte, dass die Verhält- kenabgabe, die diese Koalition durchsetzt, hat zu man- nisse für die Menschen vor Ort durch diese Bewegung cher Diskussion geführt; aber sie ist richtig. Sie sorgt da- besser geworden sind, als sie vorher waren. Deswegen für, dass diejenigen, die sich an entsprechenden Risiken kommt es auch darauf an, solche Entwicklungen zu be- beteiligen, die Haftung dafür übernehmen müssen. gleiten. Ich würde herzlich darum bitten, dass dies auch ein Thema in Europa bleibt. Herr Gysi, jetzt nur ein Satz zu Ihnen. Herr Steinbrück, natürlich haben Sie mit Ihrer Aus- (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Nur einen? sage recht, dass es nicht nur darum geht, in dem Fall, in Mindestens zwei!) dem tatsächlich Insolvenz eingetreten ist, zu helfen. Die Euro-Gruppe hat sich im November 2010 mit genau dem Wissen Sie, ich halte es schon für einen großen Unsinn, von Ihnen angesprochenen Thema befasst und dabei das Staatsbankensystem der DDR als Modell für auch ein Ergebnis erzielen können. Wegen der Bedenken Deutschland zu betrachten. der Europäischen Zentralbank hat man gesagt: Im Falle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von Problemen, die auf eine Insolvenz hinauslaufen der FDP – Zurufe von der LINKEN: Oh! – könnten, muss mit den Gläubigern gesprochen werden, Weitere Zurufe von der LINKEN) dass sie das internationale Regelwerk einhalten. Nur darüber haben Sie geredet. Sie haben davon gespro- Mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht zu machen. Ich chen, dass die Europäische Zentralbank der Deutschen bin aber schon sehr froh, wenn das System der Haftung Bank einen Kredit gibt und dafür 1 Prozent Zinsen ver- auch von Privaten eintritt und die Solvenzregelungen, langt. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das war eine Maß- die wir jetzt in dem europäischen Gesamtpaket beschlie- nahme in der Krise, weil nur so einigermaßen günstig ßen, dann auch zum Gesetz gemacht werden können. Kredite an die mittelständische Wirtschaft ausgereicht Im Übrigen sage ich auf die Frage, wer eigentlich für werden konnten, wodurch Arbeitsplätze erhalten worden solche Dinge bezahlt, nur Folgendes: Es kommt doch sind; das war entscheidend. Aber das haben Sie, Herr (B) darauf an, zu differenzieren – jetzt in der konkreten aktu- Gysi, noch nie kapiert. (D) ellen Situation und für die Zukunft. Herr Steinbrück, Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – haben als Bundesfinanzminister, unterstützt von uns, Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, doch genau diesen Weg beschritten. Sie haben doch die aber für 13 Prozent Zinsen!) Hypo Real Estate mit Steuergeldern finanziert, um sie zu retten. Sie haben dabei nicht gefragt, wo private Gläubi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße ger sind. Auch Sie haben das gemacht. Die Frage ist es auch wegen der deutschen Haushaltssituation außer- doch: Was geschieht in der Zukunft? Herr Steinbrück, ordentlich, dass die Bundeskanzlerin bei den Verhand- ich wäre angesichts der Verantwortung, die Sie für die lungen darauf drängen wird, die Einlage der notwendi- katastrophale Situation der WestLB tragen, etwas leiser. gen Barmittel über einen längeren Zeitraum zu verteilen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- sodass wir es besser mit unseren Haushaltszielen in Ein- ruf des Abg. Peer Steinbrück [SPD]) klang bringen können. Ich glaube, dass wir mit dem neuen System auf einem Ein letzter Hinweis: Ja, wir nehmen die Beurteilung guten Weg sind. Im Übrigen haben wir hier im Deut- Europas in der Öffentlichkeit sehr bewusst wahr. Inso- schen Bundestag beschlossen, dass wir eine Finanztrans- fern liegt in diesen Regelungen, die wir auf den Weg aktionsteuer, eine Beteiligung privater Märkte, wollen. bringen, die große Chance, den Menschen zu erklären, Sie wissen als Fachmann doch genauso gut wie jeder an- dass es sich hier nicht um rein finanztechnische Maßnah- dere, dass eine Transaktionsteuer auf nationaler Ebene men handelt, sondern es schlicht und ergreifend darum völliger Unsinn ist und auf europäischer Ebene gerade geht, die Zukunftsfähigkeit Europas zu erhalten. Wir noch machbar ist. wissen: Deutschland ist unser Vaterland, aber Europa ist unsere Zukunft. Ohne Europa werden wir nie stark ge- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann ma- nug sein, um in der Welt im Wettbewerb bestehen zu chen Sie es doch!) können. Deshalb ist die Maßnahme, die wir auf den Weg – Ja, wissen Sie, man kann natürlich etwas wollen, aber bringen, im Interesse Deutschlands, aber auch im Inte- es muss dann auch zu einem Ergebnis führen. – Ich habe resse ganz Europas. mit den verantwortlichen Leuten in Singapur gespro- Herzlichen Dank. chen. Sie haben gesagt: Führen Sie doch eine nationale Transaktionsteuer ein, führen Sie doch eine europäische (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Transaktionsteuer ein; dann bauen wir hier drei weitere Thomas Oppermann [SPD]: Reine Ablen- Türme, damit wir noch mehr in Singapur abwickeln kön- kungsrede!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11269

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: häufig das, was Sie richtig machen. Sie reden national, (C) Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die geben bei der Bild die „Eiserne Lady“, und am Ende se- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. hen Sie sich gezwungen, europäisch zu handeln. Das führt Sie in die verblüffende Situation, dass Sie hier per- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): manent Niederlagen als Siege verkaufen müssen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- Liebe Frau Homburger, wenn Sie sagen, die Opposi- ehrte Frau Bundeskanzlerin, 68 Prozent bzw. 71 Prozent tion sei so scharf auf die Euro-Bonds, der Bevölkerung – so eine andere Umfrage – halten Ihr Atommoratorium für ein bloßes Wahlkampfmanöver. (Birgit Homburger [FDP]: Das steht im An- trag!) (Zuruf von der FDP: Kommen Sie mal zum Thema!) muss ich Sie darauf hinweisen: Es war der Christdemo- krat Jean-Claude Juncker, der den Vorschlag gemacht Das taten sie schon, bevor Herr Brüderle diese Wahrheit hat. auch noch ausdrücklich beim Bundesverband der Deut- schen Industrie protokollieren ließ. ( [FDP]: Er wird nie Mitglied der FDP! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU und der FDP – Gegenruf des Abg. und bei der SPD) Thomas Oppermann [SPD]: Ob das gegen ihn Was heißt das? Die Glaubwürdigkeit der deutschen spricht?) Bundeskanzlerin ist in einer zentralen Frage beschädigt. Es ist die Berichterstatterin des Europäischen Parla- Dafür gibt es jenseits dieses Themas einen Grund. Sie ments, Frau Goulard von den französischen Liberalen, machen nicht viel richtig, aber selbst wenn Sie mal et- die genau dies fordert. was richtig machen, machen Sie es (Otto Fricke [FDP]: Das ist falsch! – Weiterer Zu- (Birgit Homburger [FDP]: Falsch?) ruf von der FDP: Sie haben keine Ahnung!) verkehrt. Also hören Sie auf, das bei anderen abzuladen, meine (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Damen und Herren. der FDP – Birgit Homburger [FDP]: Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch absurd! – Dr. h. c. und bei der SPD – Holger Krestel [FDP]: Sie [CDU/CSU]: Oberlehrer!) verstehen davon doch so viel wie der Blinde von der Farbe! – Weitere Zurufe von der CDU/ (B) Es ist richtig – ich erläutere das gern für Sie, Frau (D) Homburger –, skeptisch gegenüber einer deutschen Be- CSU und der FDP) teiligung an der Militäroperation in Libyen zu sein. Es Eine der Wahrheiten ist, dass Sie heute Bedenken war falsch, sich deswegen im Sicherheitsrat zu enthalten. nachkommen, die wir bei der Einrichtung des Stabilitäts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mechanismus in der ursprünglichen Form einer Luxem- und bei der SPD – Zurufe von der FDP) burger Zweckgesellschaft kritisiert haben. Heute legen Sie zwar kein vergemeinschaftetes Modell vor, aber we- Es ist richtig, dass wir dort dringend ein Waffenembargo nigstens schaffen Sie eine völkerrechtliche Grundlage brauchen. Es ist aber falsch, sich anders als selbst die für diesen Stabilitätsmechanismus. Das ist nicht befrie- Türkei nicht an der Durchsetzung dieses Waffenembar- digend, aber ein Schritt in die richtige Richtung. gos zu beteiligen. (Otto Fricke [FDP]: Das Ziel ist richtig, nur er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN findet es falsch!) und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Was?) Aber nach wie vor täuschen Sie die deutsche Öffent- lichkeit über die Ursachen dieser Finanzkrise. Sie hat Es ist richtig, dass wir ein konsequentes Ölembargo für drei Ursachen: Auf der einen Seite ist das die überbor- Libyen brauchen, aber es ist peinlich, liebe Kolleginnen dende staatliche wie private Verschuldung, auf der ande- und Kollegen, dass sich genau dazu der Europäische Rat ren Seite sind es Leistungsbilanzungleichgewichte, und nicht wird durchringen können. Das kennzeichnet diese es ist die Schwäche europäischer Banken. Das lässt sich Politik. eben nicht auf das wahnwitzige Modell Griechenlands (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit seiner Staatsverschuldung reduzieren. Sie wissen und bei der SPD) sehr genau, dass Irland und Spanien nach den Maastricht-Kriterien lange Zeit Musterknaben waren, Dann stellt sich die Frage, wie handlungsfähig wir von denen sich Deutschland zwar hätte eine Scheibe ab- sind. schneiden können, die aber das Problem massiver priva- ter Überschuldung hatten. ( [FDP]: Die Grünen sind nicht regierungsfähig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peer Steinbrück [SPD]: Richtig!) Mit dem Satz: „Selbst da, wo Sie mal etwas Richtiges machen, machen Sie es verkehrt“, ist Ihre Haltung ei- Wir brauchen den Stabilitätspakt. Er ist notwendig, gentlich noch freundlich beschrieben. Sie dementieren aber er ist nicht hinreichend. Das dämmert Ihnen; Sie ha- 11270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Jürgen Trittin (A) ben das an dieser Stelle zugegeben. Es kann eben nicht Deutschland steht schon lange für die Schulden anderer (C) dauerhaft gut gehen, dass die einen nur exportieren und Länder ein. Hören Sie auf, diese einfache Tatsache ge- die anderen nur importieren, meine Damen und Herren. genüber der Bevölkerung vertuschen zu wollen. Wenn wir uns aber in dieser schwierigen Situation be- (Peer Steinbrück [SPD]: Richtig! Das ist eine finden und wenn eine der Ursachen dafür die Schwäche Tatsache!) des europäischen Bankensektors ist, dann gehört es auch dazu, dass Sie als deutsche Bundeskanzlerin den Mut ha- Das hilft nämlich nicht weiter. Am Ende kommt so et- ben, zu sagen, dass zur Rettung von Finanzmärkten – so was immer heraus. schwer das allen fällt; ich glaube, das geht allen Kolle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ginnen und Kollegen hier im Hause so – auch gehört, sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Banken retten zu müssen. Nur muss man dann den Mut KEN) haben, Frau Bundeskanzlerin, diese bittere Wahrheit auszusprechen. Zu der Frage einer einfachen Verlängerung haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regierungserklärung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 27. Oktober 2010 gesagt – ich zitiere –: sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine einfache Verlängerung [des derzeitigen Ret- Aber Sie vermeiden das, weil Sie wissen, dass Ihnen tungsschirms] … wird es mit Deutschland nicht ge- dann Ihr Koalitionsladen um die Ohren fliegt. Die FDP ben. hat lautstark verkündet, wenn es zu einer Aufstockung des Rettungsfonds käme, dann würde sie die Koalition (Birgit Homburger [FDP]: Das ist ja auch so!) beenden. Das ist eine interessante Aussage. Der Ret- Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei tungsfonds ist aufgestockt worden – das ist beschlossen –, dem … private Gläubiger beteiligt werden. und was macht Herr Westerwelle? Er enthält sich wahr- scheinlich jeden Kommentars. (Birgit Homburger [FDP]: Ja!) (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Was ist der Fall? Wir haben eine Überführung. Der ESM DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ist die Fortschreibung des EFSF. SPD – Thomas Oppermann [SPD]: Montag ist die Koalition zu Ende!) (Birgit Homburger [FDP]: Herr Gott noch mal! Wer hat Ihnen dieses Zeug aufgeschrie- Sie sagen: Der Rettungsfonds, der Europäische Stabi- ben?) litätsmechanismus, darf in Zukunft sogar Anleihen von Staaten kaufen. Der EFSF darf das schon jetzt. Die Gläubigerbeteiligung wird nur unter äußerst engen (B) und restriktiven Bedingungen und keinesfalls automa- (D) (Otto Fricke [FDP]: Was? Das ist doch gar tisch möglich sein. Das ist Ihr Kurs. nicht wahr! Das ist schlicht falsch!) Ich kann das fortsetzen. Jahrelang waren Sie gegen Aber es ist eigentlich egal, ob die Europäische Zentral- eine europäische Wirtschaftsregierung. Jetzt machen Sie bank, der ESM oder der EFSF das macht. Sie behaupten, eine 180-Grad-Wendung. Damit der Deutsche Bundes- es gäbe keine Haftungsgemeinschaft. Natürlich gibt es tag das nicht merkt, haben Sie es am Bundestag vorbei die. Wenn die Anleihen ausfallen, ist Deutschland mit ei- gemacht. Das hat Ihnen den zutreffenden Hinweis des nem guten Viertel daran beteiligt. Wegen zusätzlicher Bundestagspräsidenten eingebracht, es mache sich eine Risikovorsorge hat die Bundesbank sogar weniger Ge- gewisse „Wurstigkeit“ im Umgang mit Gesetzen in die- winn überwiesen. Beim ESM sind wir mit 22 Milliarden sem Hause durch die Bundesregierung breit. Euro größter Geldgeber. Die Garantien kommen noch hinzu. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?) (Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP]) In der Sache ist der Schwenk in Richtung Wirtschafts- regierung richtig. Wofür sind die Garantien denn gut, liebe Frau Homburger, wenn nicht, um schwächelnden EU-Staaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unter die Arme zu greifen? Das, was hier beschlossen sowie bei Abgeordneten der SPD) wird, ist nichts anderes als eine Haftungsgemeinschaft. Aber welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Sie wol- Ich sage Ihnen: Es ist auch gut so, dass das eine Haf- len bei den anderen etwas ändern, aber nicht bei sich tungsgemeinschaft ist. selbst. Leistungsbilanzungleichgewichte haben aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwei Seiten und nicht nur eine Seite. Über die Frage der und bei der SPD) Stärkung der Binnennachfrage muss man nicht nur im Zusammenhang mit dem Mindestlohn reden. Frau Bun- Sie haben in einem Antrag geschrieben, dass der deskanzlerin, Sie sagen zu Recht, dass es keine dauer- Deutsche Bundestag erwartet, dass gemeinsam finan- hafte Abkopplung der Lohnentwicklung von der Produk- zierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme aus- tivität geben kann, und sind deswegen gegen die geschlossen werden. Meine Damen und Herren, was ist automatischen Lohnindizes in anderen europäischen denn mit den irischen Anleihen im Wert von 77 Milliar- Staaten. Das gilt aber auch umgekehrt. Es kann auch den Euro, die bei der EZB liegen? Wenn die ausfallen, keine dauerhafte Entkopplung der Lohnentwicklung von sind wir in Deutschland mit dabei. der Produktivität in der Form geben, dass die Reallohn- (Otto Fricke [FDP]: Nein!) quote permanent sinkt, was in Deutschland der Fall ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11271

Jürgen Trittin (A) Das ist ein Defizit, das wir in Deutschland endlich und Michael Link (Heilbronn) (FDP): (C) schnell beheben müssen. Herr Kollege Trittin hat gerade in der Debatte gesagt, dass der EFSF bereits jetzt Anleihen aufkaufen dürfe. Er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat offengelassen, an welchem Markt, aber die Aussage und bei der SPD) war klar. Ich möchte das ganz eindeutig richtigstellen: Ich komme auf die berühmten Euro-Bonds zurück, Der EFSF darf keine Anleihen aufkaufen. Wir müssen die die Europäische Union auflegt, also zu den Kredit- bei diesem wichtigen Thema schon bei der Wahrheit garantien. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken bleiben, Kollege Trittin. wollen, wenn wir beispielsweise mehr in den Ausbau der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Netze oder den Bereich Ausbildung investieren wollen, der CDU/CSU) dann müssen wir nicht nur den Haushalt umbauen. Da- rauf hat der Kollege Steinbrück zu Recht hingewiesen. Er hat des Weiteren dargestellt, dass wir ohnehin Wenn man, wie jetzt vorgeschlagen, auf Projekt-Bonds schon jetzt eine Transferunion hätten. Richtig: Wir ha- zurückgreift, was ist das anderes als eine andere Form ben Struktur- und Kohäsionsfonds. Auch die FDP steht europäischer Verschuldung? zu Struktur- und Kohäsionsfonds. Wir können uns jetzt zwar gern über die Bedeutung des Wortes „Transfer- (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP) union“ unterhalten. Aber die entscheidende Botschaft Ich sage: Es ist richtig, diesen Weg zu gehen. Hören Sie dieser Debatte ist, dass es durch den ESM keine Haf- auf, zu sagen, Sie seien gegen Euro-Bonds. Sie haben tungsgemeinschaft und auch keine Ausweitung der dem Kind nur einen anderen Namen gegeben. Das ist die Transfers gegenüber dem gibt, was bereits jetzt in den Wahrheit. Verträgen zur Struktur- und Kohäsionspolitik steht. Das, lieber Kollege Trittin, was wir jetzt bei der Unterstüt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zung für die weniger entwickelten Regionen solidarisch sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker machen, ist etwas völlig anderes als das, was der ESM Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn! bezüglich einer Nothilfe in einzelnen Fällen macht. Eine Unter Ihrem intellektuellen Niveau ist das! – Transferunion werden Sie hier auch mit noch so vielen Widerspruch bei der FDP) rhetorischen Tricks nicht herbeireden können, eine Haf- Fahren wir fort. Frau Merkel, Sie haben heute hier ge- tungsunion schon gar nicht; denn diese ist durch die Ver- sagt: „Es wird … weder regelmäßige noch dauerhafte handlungslinie der Bundesregierung erfolgreich verhin- Transferleistungen geben.“ Das legt die Frage nahe, ob dert worden. es unregelmäßige oder gelegentliche Transferleistungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gibt. Ich möchte Ihnen eines in aller Deutlichkeit sagen: (B) der CDU/CSU – Alexander Bonde [BÜND- (D) Dieses Europa ist, seit es es gibt, eine Transferunion. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt keine Nebenre- Kohäsionsfonds, Gemeinsame Agrarpolitik – all dies den halten! Gebt es einmal zu! – Gegenruf des sind Transfers. Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwennin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen] [CDU/CSU]: Schreihals!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Diese Transfers sind zum politischen und ökonomischen Präsident Dr. Norbert Lammert: Vorteil auch und gerade Deutschlands. Zur Erwiderung, bitte, Herr Kollege Trittin.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege. Lieber Herr Kollege, zum Ersten: Ich wiederhole gerne mein Beispiel, das ich gerade genannt habe. Bei der Europäischen Zentralbank liegen 77 Milliarden Euro Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Staatsanleihen aus Irland. Deswegen kann man es nicht weiterhin für Führung halten, in Deutschland nationale Reden zu halten und am (Otto Fricke [FDP]: Sie wollen doch jetzt nicht Ende vom gemeinsamen Europa dazu gezwungen zu die Zentralbank beeinflussen!) werden, vernünftig zu sein. Wenn diese 77 Milliarden Euro fällig werden, haften wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dafür. Welchen Grund gibt es, hier öffentlich zu bestrei- ten, dass es eine Haftungsgemeinschaft gibt? Das ist völ- Das verschärft die Europafeindlichkeit und die Europa- lig absurd. müdigkeit. Führung, liebe Frau Bundeskanzlerin, besteht darin, in Europa die Richtung anzugeben. Doch da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herrscht bei Ihnen ein erklecklicher Mangel. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt kommen wir zum Zweiten: Dabei geht es um und bei der SPD) mehr als Technik. (Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie jetzt der Zen- Präsident Dr. Norbert Lammert: tralbank ernsthaft Vorschriften machen? Wol- Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Link das len Sie das oder nicht? – Birgit Homburger Wort. [FDP]: Politischer Einfluss auf die EZB!) 11272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Jürgen Trittin (A) – Ich habe ein Faktum festgestellt. Ich weiß, dass Ihnen Gunther Krichbaum (CDU/CSU): (C) das wehtut. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu (Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie der EZB sa- Ihnen, Herr Kollege Steinbrück. Ich hätte mich gern mit gen, dass sie das tun muss? Wer entscheidet noch mehr Rednern der Opposition auseinandergesetzt. das?) Es hat wahrscheinlich einen tieferen Sinn, dass hier von – Lieber Kollege Fricke, es gibt diese Staatsschulden. allen Fraktionen die Fraktionsvorsitzenden gesprochen Sie sind von der EZB aufgekauft worden. Wir haften, haben und nur die SPD-Fraktion davon abgesehen hat; wenn sie fällig werden. Das ist eine Haftungsgemein- aber das ist eine andere Geschichte. schaft. Um dieses simple Faktum kommen Sie nicht he- (Peer Steinbrück [SPD]: Was geht Sie das rum. an? – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ärgert Sie?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Zum Inhalt Ihrer Rede: Das, was Sie gemacht haben, bringt uns überhaupt nicht weiter. Es war rückwärtsge- Über die FDP muss ich mich zunehmend wundern. wandt und zu großen Teilen besserwisserisch. Genau das Sie hatten einen Außenminister, an den sich viele sozu- brauchen wir in Europa und in den europapolitischen sagen als Benchmark erinnern, nämlich Hans-Dietrich Debatten nicht. Genscher. Er hat in der Frage der Notwendigkeit eines gemeinsamen Europas, in der Frage der Behebung von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wettbewerbsschwächen und in der Frage, ob man dieses der FDP) Europa öffnen soll, gerade nach Osteuropa, immer wie- Ein Zweites. Es bedarf einer bestimmten Chuzpe, um der für dieses gemeinsame Europa gestritten. nicht zu sagen: einer bestimmten Dreistigkeit, sich hier (Birgit Homburger [FDP]: Wir auch!) hinzustellen und solch eine Rede zu halten, wenn man weiß, dass man selbst – ich denke an das Jahr 2003 – einen Eine der Voraussetzungen dieses gemeinsamen Europas aktiven Beitrag zu den heutigen Problemen geleistet hat, war, dass wir gemeinschaftlich darangegangen sind, nämlich die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstums- auch und gerade die Wettbewerbsfähigkeit von Beitritts- paktes. Vieles von dem, was wir heute reparieren müs- ländern, von schwachen Ländern anzuheben. Die ge- sen, ist diesem Umstand geschuldet. samte Erweiterungspolitik ist von Anfang an und perma- nent davon geprägt, dass es Transfers aus wirtschaftlich (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stärkeren Regionen in schwächere Regionen gibt. NEN]: Nennen Sie doch einmal einen Punkt! (B) Einen einzigen Punkt! Eine Stelle, wo Sie das (D) (Otto Fricke [FDP]: Mit konkretem Ziel!) rückgängig machen!) Das hält, übrigens auch in dem Krisenmechanismus, bis Vizepräsident Dr. h. c. : heute an, indem wir Liquidität von starken Ländern in schwächere Länder transferieren. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks? (Birgit Homburger [FDP]: Das hat damit nichts zu tun, verdammt noch mal! – Otto Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Fricke [FDP]: Nein, das haben wir nie ge- Jetzt noch nicht, macht! Nie Liquidität!) (Heinz-Joachim Barchmann [SPD]: Falsch be- Dies geschieht übrigens mit Ihrer Zustimmung. haupten und nicht richtigstellen lassen!) Ich frage Sie: Welchen Grund gibt es, dass Sie diese auch wenn es mich freut, dass meine Rede offensichtlich Errungenschaft Europas, die die Weiterentwicklung Eu- schon zu einem frühen Zeitpunkt dazu führt, dass der ropas so befördert hat – dies war übrigens auch wirt- Blutdruck der Oppositionsfraktionen steigt. schaftlich zu unserem Nutzen –, permanent in öffentli- Noch ein Letztes zu Ihrer Rede. Sie werfen der Bun- chen Veranstaltungen denunzieren? Transfer ist kein desregierung vor, dass die Märkte schneller reagiert hät- Grund zur Denunzierung, Transfer ist eine Grundlage ten. Ich kann dazu nur sagen: Es gibt in der Politik den dieses gemeinsamen Europas. Wer das in Abrede stellt, Anspruch, dass man nicht alles in vorauseilendem Ge- versündigt sich am gemeinsamen Gedanken Europas. horsam macht. Die Ratingagenturen weltweit, alles in al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lem drei Stück, haben meiner Ansicht nach schon etwas sowie bei Abgeordneten der SPD) zu viel zu sagen; aber offensichtlich sehen Sie das an- ders. Präsident Dr. Norbert Lammert: Man muss wissen: Wenn Entscheidungen in Europa Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum getroffen werden, dann werden diese anders getroffen für die CDU/CSU-Fraktion. als hier bei uns im Bundestag oder in den Parlamenten anderer Mitgliedstaaten. In Europa sind Kompromisse (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gefragt. Genau diese waren auch in diesem Fall erforder- der FDP) lich. Ich bin der Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11273

Gunther Krichbaum (A) Merkel und vor allem unserem Bundesfinanzminister der Misserfolg der anderen Länder, vor allem der Part- (C) und seinem gesamten Haus sehr dankbar, dass sich jetzt nerländer in Europa. So war Ihre Rede an diesem Punkt in dem sogenannten Europäischen Stabilisierungsme- allerdings zu verstehen. Genau das wäre aber nicht der chanismus, kurz ESM, die wesentlichen deutschen Posi- Fall. tionen wiederfinden. Dazu sage ich nachher noch mehr. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein! Er (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Och nee!) hat es genau umgekehrt erklärt!) Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen wichtig – bei Die anderen Länder profitieren geradezu davon, dass wir so manchem Kommentar, den man liest oder hört, wird in Deutschland eine wettbewerbsstarke Position haben. das deutlich –, dass wir darauf hinweisen, warum wir das Das geht nicht auf Kosten der anderen. alles überhaupt machen. Es war sicherlich von großem (Peer Steinbrück [SPD]: Sie haben es nicht Nutzen, dass wir heute in der Regierungserklärung von verstanden!) Frau Bundeskanzlerin Merkel nochmals gehört haben, was der konkrete Nutzen auch für uns, für die Menschen Es sind keine kommunizierenden Röhren. in Deutschland ist. Sicher ist: Die Maßnahmen sind im (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ach! Das ist Interesse von Europa. Aber sicher ist auch: Sie sind im doch logisch!) Interesse Deutschlands. Der dritte Schritt ist der Europäische Stabilisierungsme- Wir vergessen oft und allzu sehr, warum wir die ge- chanismus. Er ist die Ultima Ratio und greift nur dann, meinsame Währung, warum wir den Euro seinerzeit aus wenn sich ein Land selbst nicht mehr helfen kann. Dann ist der Taufe gehoben haben. Zwei Drittel aller Exporte der es dazu verpflichtet, ehrgeizige, beherzte Reformpro- Bundesrepublik Deutschland gehen in Länder der Euro- gramme vorzulegen. Dann folgt eine Schuldentragfähig- päischen Union und sichern damit Arbeitsplätze und keitsanalyse – auch dies wurde heute Morgen schon ange- Wohlstand in Deutschland. sprochen – von Europäischer Kommission, IWF und EZB. Wie sah es denn früher aus? Auf- und Abwertungen Nur dann, wenn der Euro als Ganzes in Gefahr ist – ich und Währungsaufkäufe bestimmten das Bild, mit allen wiederhole: nur dann; hier gibt es kein Oder –, wird unter- damit verbundenen Belastungen für die deutsche Wirt- stützend gehandelt. schaft. In der Vergangenheit war es so, dass sogenannte Ein Letztes – weil es hieß, dass die Beteiligung der Fremdwährungsrisiken abgesichert werden mussten, da- privaten Gläubiger nicht ausreichend sei –: Sehr verehr- mit die deutsche Wirtschaft mehr Planbarkeit hatte. Diese ter Herr Kollege Steinbrück, Sie stehen im politischen kosteten Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbe- Leben und wissen, was in Verhandlungen realistisch ist trag. Jahr für Jahr kam es durch den Euro in der deutschen (B) und was nicht. Fakt und Realität ist, dass in diesen Ver- (D) Wirtschaft und im Mittelstand zu größeren Einsparungen, handlungen nicht mehr drin war. Trotzdem findet sich als sie dieses Haus mit jeder Unternehmensteuerreform die Handschrift Deutschlands auch hier wieder. hätte erzielen können. Es ist wichtig, das alles zu erwäh- nen und in Erinnerung zu rufen. Hinzu kommt: Der Euro Um dies zu verdeutlichen, möchte ich aus einem Pa- war in seiner Vergangenheit stabiler, als es die D-Mark je pier zitieren. Darin heißt es: war; auch dies gerät allzu häufig in Vergessenheit. Mit an- deren Worten: Hätten wir ihn nicht, müssten wir ihn heute Wird bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse festge- geradezu erfinden. stellt, dass eine Rückführung der öffentlichen Ver- schuldung mithilfe eines makroökonomischen An- Jetzt zurück zu den Maßnahmen. Wir wollen mehr passungsprogramms auf eine nachhaltige Grundlage Stabilität, und wir wollen mehr Vertrauen. Ich glaube, nicht realistisch ist, wird das Empfängerland ver- dies gelingt auch. Der bevorstehende Europäische Rat pflichtet, aktiv in Verhandlungen nach Treu und wird sich natürlich schwerpunktmäßig mit dem soge- Glauben mit seinen Gläubigern einzutreten, um nannten ESM auseinandersetzen. Aber dies ist eigentlich diese unmittelbar in die Wiederherstellung der erst der dritte Schritt in einer logischen Kette. Schuldentragfähigkeit einzubinden. Die Gewährung von Finanzhilfen steht unter dem Vorbehalt, dass der Der erste Schritt ist die Schärfung und Stärkung des Mitgliedstaat diesbezüglich ein plausibles Sanie- Stabilitäts- und Wachstumspakts, beispielsweise da- rungskonzept vorlegt und sich zu einer angemesse- durch, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte in Zukunft nen und verhältnismäßigen Beteiligung des Privat- auch in Brüssel vorlegen – Stichwort: Europäisches Se- sektors verpflichtet. mester –, nicht weil sich Brüssel zum Oberaufseher ma- chen möchte, sondern weil man dann frühzeitig auf So weit das Zitat. Hier wurde nicht umsonst eine Be- Schieflagen hinweisen kann. Denn viele Probleme, über teiligung der privaten Gläubiger vorgesehen, gerade die wir uns heute beklagen, hätten wir nicht bekommen, auch auf Druck der Bundesrepublik Deutschland. Denn hätten wir nur früher gehandelt. Es ist wichtig, dass wir unsere Position, die Position der Bundesregierung, ist, diese Maßnahme jetzt treffen und damit auch zu mehr dass wir diejenigen, die an den entsprechenden Papieren Stabilität und zu mehr Planbarkeit kommen. verdienen, in die Haftung einbinden wollen. Der zweite Schritt ist der Pakt für den Euro, der uns Ein Allerletztes: Ich glaube, dass gerade die Europäi- zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen wird. Um eines sche Union hiermit ihre Hausaufgaben gemacht hat. aufzuzeigen, Herr Kollege Steinbrück: Der Erfolg, den Wenn ich an andere Stellen dieser Welt schaue, bei- die Bundesrepublik Deutschland hat, ist nicht zeitgleich spielsweise in die USA, in denen die Verschuldung 11274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Gunther Krichbaum (A) 14 Billionen Dollar beträgt, dann fürchte ich, wir werden Gunther Krichbaum (CDU/CSU): (C) uns in Zukunft mit anderen Ecken dieser Welt noch nä- Frau Kollegin Hendricks, die Bundeskanzlerin hat her beschäftigen müssen. heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genau diesen Vielen Dank. Blick zurück nicht gemacht. Sie hätte hier sehr wohl an- fügen können, warum wir diesen Reparaturbetrieb über- (Beifall bei der CDU/CSU) haupt haben aufmachen müssen. Sie hat darauf verzich- tet, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein, hat Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- sie nicht! – Thomas Oppermann [SPD]: Da ha- gin Barbara Hendricks. ben Sie wieder nicht zugehört!) im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Steinbrück. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Kollege Krichbaum, ich möchte auf den Beginn Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer hier Ihrer Ausführungen zurückkommen. Begonnen haben diese Baustelle aufmacht, der muss sich dann auch anhö- Sie damit, Sie wollten sozusagen Ihren Blick in die Zu- ren, warum wir diesen Schlamassel heute überhaupt zu kunft richten. Als Nächstes haben Sie gesagt, Sie müss- beseitigen haben. ten aber etwas zur Änderung des Stabilitäts- und Wachs- tumspakts unter Rot-Grün im Jahre 2003/2004 sagen. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Eben nicht!) Nehmen Sie und vielleicht auch das ganze Haus, ins- Was war nämlich der Grund? besondere die Kollegin Fraktionsvorsitzende der FDP, (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ein die das immer fälschlich behauptet, doch bitte zur Blödsinn!) Kenntnis: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist in der Tat unter anderem auf Initiative von Deutschland im – Jetzt hören Sie auch einmal zu. – Der Grund war, dass Jahre 2003/2004 geändert worden. Der so geänderte Sta- Deutschland damals zusammen mit Frankreich in einer bilitäts- und Wachstumspakt ist durch die Bundeskanzle- verhängnisvollen Entente cordiale – um vielleicht einen rin, Frau Merkel, zusammen mit dem damaligen Bun- belegten Begriff zu benutzen – desfinanzminister, Herrn Steinbrück, im November des Jahres 2005 gegenüber dem Währungskommissar (Heinz-Joachim Barchmann [SPD]: Vorsicht, Almunia ausdrücklich bestätigt worden. Geschichte!) (B) Diese Bundesregierung hat auch keinerlei Initiativen genau für die Aufweichung des Stabilitätspaktes gesorgt (D) unternommen, wesentliche Änderungen rückwirkend so- hat, was dann nachher als Sündenfall und Blaupause da- zusagen wieder abzuwickeln. Keinerlei Versuch ist un- für diente, dass andere, auch kleinere Länder hinterher ternommen worden. kamen und genau diese Tarife aufgeweicht wurden, für die sich damals und auch (Birgit Homburger [FDP]: Das ist ein bemer- nicht ohne Grund eingesetzt hatten, sodass wir genau kenswerter Versuch, Schuld abzustreiten! Wa- diese scharfen Mechanismen bekommen haben. ren Sie es, oder waren Sie es nicht?) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Und was ist Wenn man das Bundesfinanzministerium fragt, wa- mit der Schuldenbremse?) rum nicht, dann wird das Bundesfinanzministerium ant- worten: Ja, weil die allermeisten dieser Maßnahmen Es ist Ihnen unter der damaligen Regierung nichts an- sinnvoll sind und waren. deres eingefallen, als genau diese harten Kriterien aufzu- weichen. Wenn ich das Haus abschließend noch darauf auf- merksam machen darf, dass die so hochgelobte Schul- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denbremse, die wir mit breiter Mehrheit dieses Hauses NEN]: Warum haben Sie es nicht rückgängig und mit Zustimmung des Bundesrates in die Verfassung gemacht?) geschrieben haben, genau diesem so geänderten Mecha- nismus des Stabilitäts- und Wachstumspakts nachgebil- Dadurch wurde Vertrauen vergeudet. Da wurde Ver- det worden ist, dann frage ich Sie: Sind Sie angesichts trauen verspielt. Deswegen haben wir heute viel von dessen endlich einmal in der Lage, diese unzutreffenden dem Schlamassel zu beseitigen, den Sie damals ange- Behauptungen sein zu lassen, oder wollen Sie in Zukunft richtet haben. auch die Schuldenbremse nicht mehr haben? Sie ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – spricht genau demselben Mechanismus. Haben Sie das Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Es ist einfach einfach noch nicht verstanden, oder was ist los? nur falsch, was er sagt! Es ist Unsinn, und er (Beifall bei der SPD – Thomas Oppermann weiß es auch!) [SPD]: Nicht verstanden!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/ Bitte schön, Herr Kollege. CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11275

(A) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Ich bin schon überrascht darüber, was ich heute aus (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Reihen der SPD zur Mitwirkung des Europäischen Wer den Euro stabilisieren will, der muss zum Stabili- Parlaments hören musste. Wir vereinbaren eine Hilfe täts- und Wachstumspakt und zu einer soliden Stabili- zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Deswegen tätskultur zurückkehren. Wenn wir die Ereignisse in Por- muss die Kontrolle dieser Hilfen in den Händen der Par- tugal betrachten, dann fällt schon auf, dass dieser Staat lamente der Mitgliedstaaten liegen. Wer zahlt, schafft an. im Moment Schwierigkeiten hat, die Vorgaben des be- (Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin stehenden Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht der Also, offenbar ist der Druck von außen manchmal not- Rat aber anders!) wendig und auch heilsam. Aber es führt an der Eigenver- antwortung der Mitgliedstaaten kein Weg vorbei. Ich sehe überhaupt keine Grundlage für das Angebot der Europäischen Kommission, hierzu jetzt eine Verord- Das gilt auch für das zweite Ziel, das wir mit unseren nung zu erlassen. Maßnahmen hier verfolgen, nämlich, die Wettbewerbs- fähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Wir müssen er- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reichen, dass sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit NEN]: Herr Juncker hat das aber anders gese- der einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone wieder ei- hen!) nander annähert. Dazu ist sicherlich eine Koordination erforderlich. Vor allem braucht man dafür aber eigene Wer eine Vergemeinschaftung in der Form will, dass das Anstrengungen und den Mut zu eigenen Reformen. Europäische Parlament beteiligt wird, der muss zur Kenntnis nehmen, dass eine Veränderung im vereinfach- Der Kern der Vereinbarungen wird der Europäische ten Vertragsänderungsverfahren überhaupt nicht mehr Stabilisierungsmechanismus sein. Ich bleibe dabei, dass möglich ist. Sie müssen sich also schon entscheiden, was Finanzhilfen nur dann Sinn machen, wenn zugleich ein Sie wollen. Regime zur Umstrukturierung von insolventen Banken Ich habe diesem sogenannten Term Sheet, das uns in und Staaten besteht. Wir müssen Umschuldungen er- möglichen. Dabei müssen wir die Beteiligung der Gläu- dieser Woche vorgelegt worden ist und auf dessen biger durchsetzen. Deshalb bleibe ich dabei, dass der Grundlage die weiteren Verhandlungen jetzt stattfinden sollen, zwei Punkte entnommen, durch die Fragen aufge- Schuldenankauf auf dem Primärmarkt aus meiner Sicht problematisch zu bewerten ist. Wir dürfen nicht dahin worfen werden, und ich bitte, hier nachzusteuern: kommen, dass aus nationalen Schulden vergemeinschaf- Hinsichtlich der Instrumente des Europäischen Stabi- tete Schulden werden. lisierungsmechanismus ist angedacht, dass die Finanz- minister ermächtigt werden, die Regeln autonom zu ver- (B) Meine Damen und Herren von der SPD, das, was Sie (D) ändern. Die Frage, ob das eine Kompetenzübertragung in Ihrem Antrag heute fordern, nämlich dass man eine darstellt, darf man stellen. Ich bitte darum, dass wir Gemeinschafts- und Verbundhaftung einrichtet, genau keine Bereiche schaffen, die der parlamentarischen Kon- das wollen wir nicht. Das dürfen wir nicht, und deswe- trolle entzogen werden. gen lehnen wir das entschieden ab. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gleiches gilt für die Möglichkeit, eine Übergangsre- Finanzhilfen müssen teures Geld bleiben; denn wer gelung für die Gläubigerbeteiligung bei diesen soge- Hilfe bekommt, muss einen Anreiz haben, dass er von nannten Collective Action Clauses zu schaffen. Eine dieser Hilfe auch wieder wegkommt. Herr Bundes- Übergangsregelung bis Ende 2011 würde bedeuten, dass finanzminister, deswegen bitte ich Sie, dass Sie sich da- wir nicht absehen können, was nach der Beschlussfas- für einsetzen, dass die Zinsen für Kredite im Rahmen sung über diesen Europäischen Stabilisierungsmechanis- des Europäischen Stabilisierungsmechanismus höher als mus noch folgt. Deswegen glaube ich, dass es notwendig die Zinsen für Kredite des Internationalen Währungs- ist, darauf hinzuweisen: Grundlage für alle diese Verän- fonds sind. Diese IWF-Kredite sind vorrangig vor den derungen soll ein neuer Art. 136 im Vertrag über die Ar- europäischen Krediten, und deswegen müssen die euro- beitsweise der Europäischen Union sein, der seinerseits päischen Kredite teurer sein. aber so unbestimmt ist, dass konkretisiert werden muss, Ich halte es für unabdingbar, dass die Kreditvergaben welche Folgen das zeitigen kann. Diese Grundlage kann unter den Mitgliedstaaten der Euro-Zone im Einverneh- nur dadurch bestimmbar werden, dass wir völlig unzwei- men beschlossen werden. Ich frage aber schon, wieso bei deutig regeln, nach welchen Verfahrensweisen Finanz- der Vergabe von Krediten auch Staaten mitstimmen sol- hilfen gewährt werden sollen. Deswegen dürfen wir hier len, die zur Finanzierung dieser Kredite nichts mehr bei- keine Hintertüren offenlassen. tragen, weil sie sich selbst schon unter dem Rettungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schirm befinden. Ich bitte, darauf zu achten, dass hier der FDP) kein Hebel entsteht, wodurch ein Mitgliedstaat, der selbst schon Hilfe erhält, eine bessere Vereinbarung und Ich setze mich dafür ein, dass wir dies auch bei der verbesserte Kreditkonditionen durchsetzen kann, weil Umsetzung in nationales Recht beachten, um Lösungen seine Zustimmung zur Kreditvergabe an einen dritten zu finden, die auf dem Boden des Grundgesetzes reali- Staat gefragt ist. Auch hier bitte ich, dass wir uns die sierbar sind. Dazu gehört die Beteiligung des Bundesta- Dinge noch einmal genau überlegen. ges. Nach meiner Auffassung muss der Bundestag nicht 11276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Thomas Silberhorn (A) nur bei der Errichtung dieses Stabilisierungsmechanis- die Europaparteien in Deutschland sind. Denn die euro- (C) mus, sondern bei jeder Aktivierung von Finanzhilfen im päische Idee wurde von Anfang an von uns getragen. Einzelfall beteiligt werden, und zwar in Form der vorhe- rigen Zustimmung, Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter Konrad Adenauer die Annäherung an Frankreich vollzo- (Dr. [DIE LINKE]: Das sagen gen. Diese Annäherung war letztendlich Motor und Sie aber in Richtung Regierungsbank!) Grundlage der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Weiterentwicklung. die konstitutiv für die Gewährung der Hilfe sein soll. Wir sollten es so regeln wie beim Integrationsverantwor- Es war ein weiterer Kanzler der Union, nämlich tungsgesetz: Nur wenn der Bundestag zustimmt, darf Helmut Kohl, der die europäische Währung verwirklicht auch die Bundesregierung zustimmen. Andernfalls muss hat. Diese Währung hat der Europäischen Union einen sie mit Nein stimmen. Das ist meine Position. ungeheuren Integrationsschub verliehen. Das zeigen auch der im Anschluss erfolgte Beitritt einiger Staaten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und die Beitrittswünsche weiterer Länder, die sich alle der FDP sowie des Abg. Dr. Diether Dehm von der gemeinsamen Währung positive Wirkungen er- [DIE LINKE]) warten. Wir sollten auch überlegen, ob wir die Ermächtigung Die Einführung einer gemeinsamen Währung war für den Europäischen Stabilisierungsmechanismus kon- eine historische Zäsur. Damals gab es viele, die daran ditionieren. Die Bundesregierung hat sich gegen Auf- gezweifelt haben, ob es möglich ist, eigenständige Na- käufe auf dem Sekundärmarkt ausgesprochen. Lassen tionalstaaten unter einer gemeinsamen Währung zusam- Sie uns deshalb gesetzlich regeln, welche Instrumente menzufassen. Die Väter der Europäischen Währungs- der Finanzhilfe wir zulassen wollen. Wir dürfen nicht am union haben dieses System aber so angelegt, dass es Ende zu einer Vergemeinschaftung von nationalen gelingen soll und unumkehrbar ist. Schulden kommen. Diesen Rubikon dürfen wir nicht überschreiten. Der Blick zurück zeigt uns, dass wir in Deutschland von der Einführung der gemeinsamen Währung am In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung meisten profitiert haben. Denn wo stünden wir heute viel Erfolg bei ihren Verhandlungen. auch im Hinblick auf die jüngste Finanz- und Wirt- schaftskrise, wenn wir keine starke gemeinsame Wäh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung hätten? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) Das Wort hat nun Kollege Norbert Barthle für die der FDP) CDU/CSU-Fraktion. Allein ein Blick auf den Kurs des Schweizer Franken lässt erahnen, was mit der D-Mark passiert wäre, gäbe es Norbert Barthle (CDU/CSU): diese Währung nicht. Deshalb ist die Stabilität des Euro Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten nicht nur im europäischen Interesse, sondern insbeson- Damen und Herren! Ich will zunächst auf einen weiteren dere auch im nationalen deutschen Interesse. Aspekt eingehen, der mir in der Rede von Herrn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Steinbrück aufgefallen ist. Herr Steinbrück hat aufgrund der FDP) der Tatsache, dass die Verhandlungsergebnisse auf euro- päischer Ebene nicht immer hundertprozentig mit den Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es im euro- Verhandlungspositionen kongruent waren, die Glaub- päischen Raum in den vergangenen Jahren Tendenzen würdigkeit der Bundeskanzlerin infrage gestellt. gab, die zu einer Aufweichung des europäischen Stabili- täts- und Wachstumspaktes geführt haben. Mein Vorred- Ich halte das für sehr bemerkenswert, Herr ner ist bereits darauf eingegangen. Ich will das nicht Steinbrück, zum einen vor dem Hintergrund, dass Sie, wiederholen. soweit ich mich erinnere, früher ganz gut zusammenge- arbeitet haben, und zum anderen, weil Sie dadurch einen Ich will aber auch bemerken, dass wir ein Stück weit Anspruch erheben, an dem Sie sich selbst messen lassen Gefangene unseres eigenen Erfolgs sind. Denn die Au- müssen. Wenn das der Maßstab für Glaubwürdigkeit ist, ßenstehenden, die internationalen Finanzmärkte, neh- dann frage ich Sie, ob bei all Ihren Verhandlungen das men den Euro-Raum inzwischen als eine Einheit wahr. Ergebnis genau der Position entsprochen hat, mit der Sie Das heißt, wenn ein Mitgliedsland schwächelt, sind auch in die Verhandlungen hineingegangen sind. Wenn Sie alle anderen betroffen. Deshalb ist es notwendig, dass diesen Anspruch an sich selbst erheben, frage ich Sie, wir einen Mechanismus einführen, um gegen einzelne wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit aussieht. schwächelnde Mitgliedstaaten, von denen eine Anste- ckungsgefahr für andere ausgeht, gewappnet zu sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Bei den Maßnahmen, die wir jetzt ins Auge fassen, geht es um die Verhinderung von Ansteckungen. Wir ha- Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Ich will zunächst ben zunächst in einer schnellen Nothilfeaktion den Grie- auf die europäische Idee zurückkommen. Ich glaube, chenland-Rettungsschirm und die EFSF aufgebaut, um man kann mit Fug und Recht sagen, dass CDU und CSU schnelle Hilfe leisten zu können, ohne dabei die Eigen- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11277

Norbert Barthle (A) verantwortung der betroffenen Partnerländer beiseitezu- richtet haben. Ich will an dieser Stelle betonen, dass es (C) schieben. Es ist wichtig, auch künftig Hilfe zu leisten – noch einige offene Fragen zur Ausgestaltung dieses Ka- aber nur unter streng kontrollierten Auflagen. pitalstocks gibt. Insbesondere stellt sich die Frage, wie die Einzahlung der deutschen Bareinlage von 22 Milliar- Es ist ein großer Erfolg der deutschen Verhandlungs- den Euro in den Jahren ab 2013 gestaltet werden soll. führung, wichtige Punkte in diesem Regelwerk durchge- Selbstverständlich geht es auch um die Rechte des deut- setzt zu haben. Ich danke ganz besonders Bundeskanzle- schen Parlaments bei der Ausgestaltung und dem Einsatz rin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang des Krisenmechanismus. Auch diesbezüglich werden Schäuble, die klug verhandelt haben, indem immer wie- wir den Gesetzgebungsprozess konstruktiv und kritisch der sehr weitgehende Forderungen eingebracht wurden. begleiten, denn wir alle sind daran interessiert, die Deshalb können wir jetzt davon ausgehen, dass sich Rechte des deutschen Parlaments zu wahren. viele unserer Grundkonstanten im Verhandlungsergebnis abbilden werden. Auch das ist nicht nur im Interesse Eu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ropas, sondern das ist auch im Interesse der deutschen neten der FDP) Bürgerinnen und Bürger. Deshalb fordere ich Sie alle auf, an der Ausgestaltung Wer dies ausblendet, Herr Kollege Trittin, der zün- des ESM und an der Gesetzgebung konstruktiv teilzu- delt an dem Haus, in dem wir gemeinsam wohnen. nehmen. Alle, die hier Skepsis verbreiten, handeln aus meiner Sicht unverantwortlich. Das Zusammenstehen der Mit- Der Bundesfinanzminister hat in diesen Tagen ein gliedsländer in der Europäischen Währungsunion ist in schönes Zitat verwendet, das ich aufgreifen möchte: „Es unserem fundamentalen Interesse. Der Chefvolkswirt kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bö- der Deutschen Bank, Thomas Mayer, hat vor wenigen sen Nachbarn nicht gefällt.“ Wir haben keine bösen Tagen gesagt – ich erlaube mir, ihn zu zitieren –: Nachbarn in Europa; wir sind von guten Nachbarn um- geben. Wir sollten alles dafür tun, dass dies so bleibt, … glaube ich nicht, dass Europa sich auch nur den dass nicht aus guten Nachbarn böse werden, weil sie in- Versuch einer Alternative zur bestehenden Wäh- solvent werden. Lassen Sie uns dies also so ausgestalten, rungsunion leisten sollte. dass wir auch künftig in Frieden und umgeben von guten Das zeigt deutlich, dass wir keine ernsthaften Alternati- Nachbarn leben können. ven haben. Danke. Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Punkte des Europäischen Stabilitätsmechanismus zusammenfassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (D) Erstens. Es geht um die Verschärfung des Stabilitäts- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und Wachstumspaktes in ganz wesentlichen Punkten. Neben einer besseren Haushaltskontrolle – dem soge- Ich schließe die Aussprache. nannten Europäischen Semester – wird es härtere und Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- schnellere Strafen für Schuldensünder geben. Das be- ßungsanträge. trifft sowohl die Neuverschuldung als auch die Schul- denstandsquote in Relation zum BIP. Davon sind auch Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent- wir betroffen; das wissen wir. Unsere Schuldenstands- schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache quote liegt bei annähernd 80 Prozent des BIP, und diese 17/5187. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Regelungen werden uns zwingen, die Verschuldung ab- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- zubauen. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen wer- ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- den. Auch das ist nicht nur im europäischen, sondern nen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthal- auch im nationalen deutschen Interesse. tung der Linken abgelehnt. Zweite Kernbotschaft: Es entsteht ein Pakt für den Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Euro. Dieser Pakt für den Euro ist so ausgestaltet, dass ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache sich die Mitgliedsländer verpflichten, ihre Wirtschafts- 17/5188. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – politik besser zu koordinieren, ihre Wettbewerbsfähig- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- keit zu stärken und gemeinsame Ziele zu vereinbaren, ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die die innerhalb von zwölf Monaten realisiert werden sol- Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. len. Damit wird es langfristig gelingen, Krisenszenarien, wie wir sie beispielsweise in Irland erlebt haben, zu ver- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- meiden. Das Ganze wird durch ein ständiges Monitoring ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf – die Europäer nennen das Scoreboard – unterstützt, um Drucksache 17/5189. Wer stimmt für diesen Entschlie- Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und beseitigen ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – zu können. Auch das ist sowohl im europäischen als Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von auch im nationalen deutschen Interesse. CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. Die dritte Kernbotschaft ist die Einrichtung eines Ret- tungsmechanismus mit einem Kapitalstock, über dessen Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 a bis e sowie die Ausgestaltung meine Vorredner schon hinlänglich be- Zusatzpunkte 4 bis 7 auf: 11278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine), der SPD weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Energieversorgung in kommunaler Hand Auf dem Weg zu einem nachhaltigen, effizien- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, ten, bezahlbaren und sicheren Energiesystem Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weite- – Drucksache 17/5181 – rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Energienetze in die öffentliche Hand – Kom- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) munalisierung der Energieversorgung er- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und leichtern – Transparenz und demokratische Verbraucherschutz Kontrolle stärken Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Breil b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei- ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine be- NIS 90/DIE GRÜNEN schleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken Atomzeitalter beenden – Energiewende jetzt – Drucksache 17/5179 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 17/5202 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- Verbraucherschutz teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Haushaltsausschuss eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Atomgesetzes – Abschalten der acht unsichers- Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann, ten Atomkraftwerke (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 17/5180 – (D) Verlängerung von Restlaufzeiten von Atom- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) kraftwerken – Auswirkungen auf die Entwick- Innenausschuss lung des Wettbewerbs auf dem Strommarkt Rechtsausschuss und auf den Ausbau der erneuerbaren Ener- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gien Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksachen 17/832, 17/3089 – Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Energiewende jetzt Nestle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion – Drucksache 17/5182 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ener- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) giewirtschaftsgesetzes Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss – Drucksache 17/3182 – ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- schuss) Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnolo- gien – Drucksache 17/5148 – – Drucksache 17/5183 – Berichterstattung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Abgeordneter Klaus Breil die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- sen. nologie (9. Ausschuss) Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das Wort. – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11279

(A) Rolf Hempelmann (SPD): Damals haben Sie vorbei am Parlament und vorbei an (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! denen, die schon vor Jahren Verantwortung übernom- Liebe Kollegen! Ich bedauere sehr, dass die Bundes- men haben, lediglich mit den vier Kernkraftbetreibern kanzlerin, die schon in der Debatte zu ihrer Regierungs- Ihren Willen durchgesetzt. erklärung weitgehend durch Abwesenheit geglänzt hat, Trotzdem wollen wir dieses Angebot aufgreifen. Da- auch nun in der Debatte über das wichtige Thema der zu- rüber hinaus wollen wir Ihnen ein Angebot machen. künftigen Energieversorgung nicht anwesend ist. Das Wenn Sie sich die Anträge anschauen, die heute vorlie- verstärkt die Bedenken, dass das, was zurzeit passiert, gen – die von der SPD und die anderen –, dann stellen nämlich die zeitweilige Rücknahme der Laufzeitverlän- Sie fest, dass in diesen Anträgen im Einzelnen beschrie- gerung, mehr ist als nur ein Wahlkampftrick. ben wird, wie die Energiezukunft in Deutschland bei ei- Am 28. Oktober 2010 hat die Bundesregierung die nem beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft und bei Verlängerung der Laufzeiten der 17 deutschen Atom- einem beschleunigten Einstieg in die erneuerbaren Ener- kraftwerke beschlossen. Das ist noch kein halbes Jahr gien aussehen kann. her, 21 Wochen genau. Nun gibt es ein sogenanntes Mo- Die erste Voraussetzung ist, dass Sie es wirklich ernst ratorium. Die sieben ältesten Kernkraftwerke werden meinen, dass nicht das gilt, was Brüderle sagt. Gelten vom Netz genommen. Innerhalb von drei Monaten sol- muss das Wort derjenigen, die sagen, dass das alles ernst len sie auf ihre Sicherheit überprüft werden. Fachleute gemeint sei. Lassen Sie die sieben Kraftwerke, die jetzt sagen, dass das, wenn es seriös gemacht werden soll, vom Netz gehen, dauerhaft vom Netz. Lassen Sie auch mindestens ein Jahr dauert, eher länger. Was nach diesen Krümmel als achtes Kraftwerk dauerhaft vom Netz. Üb- drei Monaten passiert, weiß kein Mensch. Wenn man rigens: Wer sagt, damit sei die Energieversorgung gefähr- aber diejenigen, die in der Koalition Verantwortung tra- det, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der Sektor- gen, fragt – die Medien tun das jeden Tag –, dann stellt untersuchung des Bundeskartellamts deutlich geworden man fest, dass die Antworten ständig unterschiedlich ist, dass über 25 Prozent der deutschen Kraftwerkskapa- ausfallen. zität aus unterschiedlichen Gründen ständig vom Netz sind. Es sind nicht immer 100 Prozent am Netz. Das hat (Beifall bei der SPD) nicht nur etwas mit Wartungen zu tun, sondern das hat Die einen sagen: Nichts wird mehr so sein wie zuvor. auch etwas damit zu tun, dass Kraftwerke gelegentlich, Mit Sicherheit werden nicht mehr alle Atomkraftwerke wie man sagt, „nicht im Geld“ sind. Wir sollten jetzt dafür an das Netz gehen. – Herr Brüderle sagt vor dem BDI: sorgen, dass diejenigen Kraftwerke, die Atomkraftwerke Das muss man nicht so ernst nehmen; das ist letztlich ersetzen können, tatsächlich ans Netz gehen und am Netz (B) dem Wahlkampf und den Landtagswahlen geschuldet. bleiben. (D) (Manfred Nink [SPD]: Hört! Hört!) Die zweite Voraussetzung ist, dass Sie endlich das kerntechnische Regelwerk rechtsverbindlich einführen Was vor einem halben Jahr gegen die Interessen der und dafür sorgen, dass hohe Sicherheitsstandards in Wettbewerber, der großen Vier, gegen den Rat der Wett- Deutschland Realität werden. bewerbsbehörden – Bundeskartellamt und Monopol- Drittens – auch das beinhaltet einer unserer Anträge –: kommission – und im Eildurchmarsch durch das Parla- Verzichten Sie auf Hermesbürgschaften, auf die Kredit- ment, wie selbst der Präsident des Bundestages Norbert versicherung von Atomprojekten im Ausland, zum Bei- Lammert von der Union beklagt hat, und vorbei am Bun- spiel in Brasilien. desrat durchgesetzt wurde, war wahrlich kein Meister- stück. Das ist der Kernbestandteil des sogenannten Ener- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem giekonzepts dieser Bundesregierung. Ich denke, man BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kann sich darauf verständigen – das Ablegen eines einfa- chen Geständnisses wäre eigentlich das Beste, was Sie Wenn Sie sich dieses Projekt anschauen, dann sehen Sie, von der Koalition hier machen könnten –, dass dieses so- dass es in einem erdbebengefährdeten Gebiet realisiert genannte Energiekonzept gescheitert ist. werden soll. Dort gab es schon in der Vergangenheit Vor- fälle. Dort sind beispielsweise schon Maschinenhäuser Sie haben es durchgezogen – ich habe es gesagt –, der Kraftwerksgeneration, die zunächst gebaut wurde, und jetzt auf einmal, beispielsweise gestern im Wirt- abgesackt. Das sollte Warnung genug sein, gerade nach schaftsausschuss, heißt es von den Vertretern der Koali- den Ereignissen in Japan. tion, auch von Staatssekretär Otto vom Bundeswirt- schaftsministerium: Lassen Sie uns gemeinsam an einem In einem unserer Anträge beschreiben wir im Einzel- Konzept arbeiten. Lassen Sie uns einvernehmlich die nen, wie der Systemumbau in Richtung von erneuerba- Energiezukunft gestalten. Lassen Sie uns das miteinan- ren Energien gelingen kann, sodass Energie bezahlbar der tun. – Ich höre das gerne. Ich nehme das ernst, und bleibt, sodass sie sauber und sicher ist. Wir beschreiben ich nehme das auf. Aber ich sage Ihnen: Ich hätte mir ge- in einem zweiten Antrag, wer die Träger dieses Umbaus wünscht, dass das schon vor einem halben Jahr Ihr An- sein können. Das sind nicht die Großen, jedenfalls nicht gebot gewesen wäre. in erster Linie, sondern das sind eher mittelständische Unternehmen und in starkem Maße auch die kommuna- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len Stadtwerke. Schauen Sie sich diese Anträge an, neh- DIE GRÜNEN) men Sie sie ernst – ich hätte das der Kanzlerin gerne per- 11280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Rolf Hempelmann (A) sönlich gesagt –, und laden Sie die Fraktionen des Für mich ist durchaus beeindruckend, wie ruhig und (C) Deutschen Bundestags zu konkreten Gesprächen ein. besonnen die Japaner in dieser schwierigen Situation, die für sie mit Sicherheit die größte Herausforderung seit Verlagern Sie die Diskussion nicht in Kommissionen. dem Zweiten Weltkrieg darstellt, umgehen. Da macht Wir brauchen keine Ethikkommission. Wir haben bewie- mich, das will ich eingangs sagen, schon etwas betroffen sen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, – um nicht zu sagen, dass man sich fast etwas schämt –, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was sich hier in Deutschland abspielt. Zum Teil findet der LINKEN) wirklich eine unerträgliche Selbstbespiegelung in den Medien und in den Diskussionen statt. dass wir mit diesem Thema verantwortungsbewusst um- gehen. Das muss uns nicht von außen gesagt werden. Im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Übrigen gibt es Stimmen von außen schon lange. Wir der FDP) haben sie schon lange ernst genommen. Man hat manchmal fast den Eindruck, dass das Leid, die Also: Ein Herr Töpfer, den wir sehr schätzen, wird in Toten, die Verletzten und die Ereignisse dort insgesamt der geplanten Kommission im Grunde genommen ver- zur Randnotiz werden, wenn wir uns mit unseren innen- heizt. Wir hätten ihn gerne in unsere Diskussionen ein- politischen Spielereien hier selbst zu bespiegeln versu- bezogen. Vielleicht kann man das noch tun. Das wird chen. keine Harmonieveranstaltung. Wir werden miteinander ( [SPD]: Passen Sie auf, was ringen müssen, zum Beispiel um die Frage, wie wir es Sie sagen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE mit dem Ersatz oder der Modernisierung von Kohle- und GRÜNEN]: „Spielereien“ ist der richtige Be- Gaskraftwerken halten. Das ist nicht einfach. Wenn Sie griff! Sie machen ja wohl deutlich, wie Sie Herrn Töpfer dann als Mediator einsetzen wollen, gerne dazu stehen! – Weiterer Zuruf vom BÜND- – herzlich willkommen! –, aber bitte nicht in einer Kom- NIS 90/DIE GRÜNEN: Spielereien? – Hubertus mission, angesiedelt – Heil [Peine] [SPD]: Hat Herr Brüderle recht oder nicht? – Peter Friedrich [SPD]: Wo waren Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie bei der Abstimmung letzte Woche?) Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Japan wird mit Sicherheit auch für uns eine Zäsur be- deuten. Deshalb ist es richtig, innezuhalten, nachzuden- Rolf Hempelmann (SPD): ken und nicht einfach zu sagen: Weiter so! Das sagen wir – außerhalb des Parlaments. nicht; ich glaube, das sagt niemand; (B) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: Sie tun es!) (Beifall bei der SPD) sonst wären wir schlecht beraten. Deshalb machen wir Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ein Moratorium. „Moratorium“ heißt aber nicht, dass Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU- schon am Anfang klar ist, was am Ende herauskommt, Fraktion. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mappus- Moratorium!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) sondern „Moratorium“ heißt, nachzudenken über das, was wir bisher getan haben, Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- NEN]: Das war schlimm genug!) ren! Ich glaube, wir alle stehen nach wie vor unter dem Eindruck der Ereignisse, die in Japan stattfinden. zu prüfen, wie wir im Bereich der Kernkraft maximale Sicherheit – eine 100-prozentige Sicherheit hat es nie ge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vor allen Din- geben und wird es auch nie geben – gen Brüderle!) (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Ereignisse haben deutlich gemacht, welche Folgen Muss es aber geben bei Atomkraft!) ein Erdbeben und ein Tsunami auch in einer Hightechna- tion wie Japan haben können und wie verwundbar wir erreichen können. Es gilt, das zu bewerten und erst dann alle sind. zu entscheiden. Es gilt, sich klarzumachen, was wir tun wollen. Das heißt, Aktionismus, Schnellschüsse helfen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagen Sie uns hier nicht weiter. denn dem BDI?) Bei all der Betroffenheit und all den Diskussionen, Die Toten und das Leid der Menschen berühren uns alle die wir hier haben, sage ich aber auch: Eine sachliche nach wie vor. Deshalb müssen wir alles tun, um den Ja- Erörterung der Themen ist notwendig. Deshalb greife panern zu helfen. Unsere Gedanken, unser Mitgefühl ich gern das auf, was der Kollege Hempelmann hier an- sind bei ihnen. Was wir tun können, um ihnen in dieser gesprochen hat. Bei einer sachlichen Erörterung zeigt schwierigen Situation beizustehen, versuchen wir, zu sich: Die Herausforderungen, die Fragen, die Probleme, tun. die wir im Energiebereich haben, sind heute nicht viel Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11281

Dr. Joachim Pfeiffer (A) anders, als sie vor sechs oder vor zwölf Monaten waren. Jahr 2020 mit anderen Energieformen schließen müssen. (C) Auch in drei Monaten werden die Herausforderungen Ich frage Sie: Wie sollen wir das machen? Einen Einstieg dieselben sein. in die CCS-Technologie, um den CO2-Ausstoß durch Kohlekraftwerke zu verhindern, wollen viele nicht. Den Wir sind uns alle einig, dass wir einen beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie wollen wir alle. Wir wol- Übergang zu den erneuerbaren Energien wollen. len ihn jetzt sogar noch beschleunigen. Es gibt also aller- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hand Fragen, die wir zu beantworten haben. Warum machen Sie es dann nicht?) Zur Versorgungssicherheit. Über 70 Prozent der Genau deshalb haben wir das Energiekonzept verab- Stromversorgung werden heute durch die heimische Pro- schiedet. duktion gedeckt. Erneuerbare und Braunkohle habe ich angesprochen. Es gibt außerdem in geringem Umfang (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Laufzeit heimische Gasproduktion sowie Kernenergie. Bei einem verlängert!) Ausstieg aus Kernenergie und Kohle wird diese Versor- Nicht eine Streckung, sondern eine Beschleunigung des gungssicherheit so nicht mehr gewährleistet sein. Übergangs zu den erneuerbaren Energien war und ist das Im Übrigen sind wir nicht allein auf dieser Welt. Ziel unseres Energiekonzepts. Wenn wir Deutschen vorpreschen, werden uns die Fran- zosen, die Schweizer, die Tschechen, die Schweden, die (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Niemand hat Finnen, die Belgier und die Holländer nicht automatisch die Absicht, eine Mauer zu errichten!) folgen. Bei der Beratung des vorherigen Tagesordnungs- Man muss einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen, punktes haben wir die europäische Währung und die da- etwa bei den Klimazielen. Wir haben das Ziel, nach dem mit verbundenen Notwendigkeiten behandelt. Diese sind Kioto-Protokoll bis 2012 in Deutschland 21 Prozent des bei der Energieversorgung mindestens in dem Maße eine europäische Herausforderung, wie dies im Bereich der CO2-Ausstoßes einzusparen. Das haben wir erreicht, das haben wir im Moment sogar übererfüllt. Wir wollen in Währung der Fall ist. Deutschland bis 2020 40 Prozent des CO2-Ausstoßes Unsere Bürger sind bereit – zumindest im Lichte der einsparen. Fakt ist aber, dass die Kernenergie in aktuellen Ereignisse –, bei einem schnelleren Umbau Deutschland im letzten Jahr rund 150 Millionen Tonnen mehr für die Energieversorgung zu bezahlen. Dass das an CO2-Ausstoß eingespart hat, sprich: Diese Menge mehr kostet, wird sicherlich niemand bestreiten; schließ- wurde nicht emittiert. Wir emittieren im Moment unge- lich müsste der Netzausbau, der den Notwendigkeiten fähr 800 Millionen Tonnen CO2. Das heißt, wir reden sowieso hinterherhinkt, noch schneller vonstatten gehen. immerhin über rund 20 Prozent. Unsere Klimaziele wä- Nicht nur Planungsverfahren müssten beschleunigt wer- (B) (D) ren bei allen Anstrengungen, die wir bisher unternom- den, sondern es müssten auch hohe zweistellige Milliar- men haben, ohne die Kernenergie nicht erreichbar. denbeträge investiert werden. Das Problem der Speiche- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rung, das technologisch noch nicht abschließend gelöst der FDP) ist, ist ebenfalls mit hohen Kosten und vielem anderen verbunden. Das kann einem jetzt gefallen oder nicht; aber Adam Riese lässt sich nicht umgehen. Das sind die Fakten, mit Wir wollen uns diesen Herausforderungen stellen. denen wir es zu tun haben. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen – das will ich ab- schließend ins Zentrum der Überlegungen rücken –, dass Welche Folgen hätte ein noch schnellerer Ausstieg es vor allem um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit aus der Kernenergie? Wir haben das Ziel, bis zum Jahr des Industriestandortes Deutschland geht. In der Wirt- 2020 den Anteil der Erneuerbaren an der Stromversor- schafts- und Finanzkrise haben wir gesehen, wie wichtig gung von heute 17 Prozent auf mehr als 35 Prozent zu der Industriestandort Deutschland ist. Heute spielen der verdoppeln. Vielleicht schaffen wir sogar ein paar Pro- Produktions-, der Forschungs- und der Industriestandort zent mehr. Was machen wir aber mit dem Rest? Bei aller eine herausragende Rolle. Wir müssen die Wertschöp- Energieeffizienz und bei allen Fortschritten, die wir er- fungstiefe erhalten. Deshalb brauchen wir wettbewerbs- reichen wollen, um eine Verdoppelung des Anteils der fähige Strompreise und nicht nur wettbewerbsfähige erneuerbaren Energien von 1990 bis 2020 zu erreichen, Energiepreise. Wenn es Ausschläge beim Öl- und beim wird es sicher nicht gelingen, die Ziele, die wir uns bis- Gaspreis mit internationalen Auswirkungen gibt – Nord- her gesetzt haben, mit einem Ausstieg aus der Kernener- afrika, Mittlerer Osten –, trifft das alle in gleichem gie und einem gleichzeitigen Ausstieg bzw. mit einer Maße. Es trifft uns vielleicht sogar etwas weniger als an- gleichzeitigen Nichtinvestition, beispielsweise im Koh- dere auf der Welt, weil wir beim Thema Energieeffizienz lebereich, zu erreichen. größere Fortschritte gemacht haben. Außerdem zählen wir zu den drei Nationen in der Welt, denen es am besten Kohle ist der größte CO2-Emittent. Die heimische gelungen ist, das Energiewachstum vom Wirtschafts- Braunkohle trägt heute zu 25 Prozent zur Stromversor- wachstum zu entkoppeln. gung in Deutschland bei. Die Steinkohle trägt heute ebenfalls zu fast 25 Prozent zur Stromversorgung bei. Wir gehören schon heute zu denjenigen, die den Das heißt, fast 50 Prozent des deutschen Stromver- höchsten Strompreis in Europa haben. Der Strompreis ist brauchs werden heute durch Kohle erbracht. Deshalb heute neben den Arbeitskosten und der Höhe der Steuern bleibt auch bei noch so großen Anstrengungen eine Lü- einer der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Wettbe- cke von rund 60 Prozent des Energiebedarfs, die wir im werb ist hier kein Selbstzweck, sondern entscheidet über 11282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Joachim Pfeiffer (A) die Schaffung und die Erhaltung von Arbeitsplätzen. nach werde man weitersehen. Nun lese ich heute in der (C) Unser zentrales Bemühen muss sein, die Wettbewerbsfä- Süddeutschen Zeitung, Herr Brüderle, Folgendes higkeit des Industriestandortes Deutschland durch ver- (Zurufe von der SPD) trägliche, wettbewerbsfähige Strompreise zu erhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – es tut mir leid; das muss ich Ihnen vorlesen; das ist der FDP) doch wirklich ein starkes Stück –: (Peter Friedrich [SPD]: Wir freuen uns ja darauf!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Was es denn mit den Meldungen von dem Morato- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. rium auf sich habe, will BDI-Präsident Hans-Peter Keitel wissen. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen. Das soll- – Sie, Herr Brüderle, saßen da ja mit lauter Industriebos- ten wir bei der Fortschreibung des verabschiedeten Ener- sen zusammen. – gieprogramms und bei weiteren Maßnahmen nicht ver- Ausweislich des Protokolls der Sitzung gibt gessen. Ohne die Erhaltung des Industriestandortes Brüderle darauf eine folgenschwere Antwort: „Der werden wir Deutschland nämlich nicht so weiterentwi- Minister bestätigte dies“, ckeln können, wie wir alle hier es wollen. Das sollten wir bedenken. – also das Moratorium – steht darin, „und wies erläuternd darauf hin, dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: daher nicht immer rational seien.“ Spätestens Sonntag ist er ganz am Ende!) (Thomas Oppermann [SPD]: Unerhört!) Im Übrigen sei er, Brüderle, ein Befürworter der Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Kernenergie, auch mit Rücksicht auf Branchen, die Wir sind gut beraten, darauf zu achten, Herr Trittin, besonders viel Energie verbrauchen. „Es könne da- dass der Kernschmelze, die in Japan droht, nicht die her keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz ge- Hirnschmelze in Deutschland folgt. fährde“, befindet Brüderle laut Protokoll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Thomas Oppermann [SPD]: Unerhört!) (B) Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: Das hilft unserem Industriestandort Wissen Sie, Herr Brüderle: Wenn man sich mit so rei- dann auch nicht mehr!) chen Knöppen einlässt, dann sollte man bedenken – das haben Sie wohl vergessen –, dass das deutsche Knöppe Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sind und deshalb ein Protokoll geführt wurde. Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN Linke. und der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin DIE GRÜNEN]: Da stimmt Herr Brüderle Ih- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gregor, nen zu!) musst du eigentlich zu jedem Thema reden?) Herr Brüderle, ich rate Ihnen, das nicht zu bestreiten.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich will aber auf etwas anderes hinweisen: Auch die Ja, Herr Trittin, ich weiß, dass Sie mich gerne hören; Kanzlerin spricht immer von Restrisiko. Restrisiko be- deshalb rede ich zum zweiten Mal. Aber ich verspreche deutet, dass wir, wenn wir je so etwas erleben wie das, Ihnen, heute und morgen nicht wieder zu reden, zumin- was jetzt in Japan geschehen ist, in diesem Land wahr- dest nicht hier. scheinlich gar nicht mehr leben könnten. Niemand hat das Recht, auch nur bei kleinstem Restrisiko die Bevöl- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen kerung dieses Landes einer solchen Gefahr auszusetzen. Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mor- Sie nicht und auch nicht die Bundeskanzlerin. Niemand. gen auch nicht? Das ist gut!) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Katastrophe von Fukushima. Wie schlimm das ist, wissen wir alle. Der Super-GAU ist noch nicht abgewen- Wenn Sie, Herr Brüderle, nun wegen der Landtags- det. Ich habe in einer Stellungnahme von Pflugbeil gele- wahlen die Laufzeitverlängerung aussetzen, aber danach sen, dass der Unfall jetzt schon den Grad von Tscherno- Ihre Politik im Kern weiterverfolgen wollen, kann ich byl erreicht hat. Das Ganze ist also eine beispiellose Ihnen nur sagen, dass das ein verantwortungsloses Spiel Katastrophe. mit den Bürgerinnen und Bürgern ist. Was hat die Regierung gemacht? Sie hat ein Morato- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- rium von drei Monaten beschlossen. Sie hat die Lauf- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zeitverlängerung ausgesetzt, will prüfen und sagt, da- GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11283

Dr. Gregor Gysi (A) Jetzt komme ich auf den Ursprungsfehler. Wir müs- Herr Gysi, das haben wir gestern Abend schon (C) sen uns in unserer Gesellschaft über ein paar Fragen ver- gehört!) ständigen. Zunächst einmal: Mit wem muss eigentlich eine Einigung erzielt werden, wenn eine bestimmte Poli- Herr Kauder, bei der Bankenlobby ist es dasselbe ge- tik durchgesetzt werden soll? Ich habe das schon einmal wesen. Die Bankenlobby hat doch entschieden, wie wir gesagt und wiederhole es: SPD und Grüne haben mit die Krise angeblich lösen. Es entscheidet nicht Frau dem Ausstieg begonnen – das ist ein Verdienst –; aber Merkel, was Herr Ackermann macht, sondern Herr die Bedingungen hierfür haben sie mit der Atomlobby Ackermann entscheidet, was Frau Merkel macht. Selbst ausgehandelt. Warum hatten Sie nicht die Kraft, ihr ein- wenn sie ihm ein Essen ausgibt, entscheidet nicht etwa mal zu sagen, dass der Bundestag der Gesetzgeber ist sie, sondern er, welche 18 weiteren Personen eingeladen und nicht die Atomlobby? Aber weil Sie alles nur mit ihr werden. Das ist eine Verkehrung der demokratischen ausgehandelt haben, war der Kompromiss so unzurei- Verhältnisse in diesem Land. chend. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Zurufe vom Übrigens war es bei der Gesundheitsreform mit der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Pharmaindustrie und den privaten Krankenversicherun- Ich habe damals gefragt, wie Sie eigentlich darauf gen nicht anders. Die haben ebenfalls entschieden, was kommen, zu glauben, dass Sie in 30 Jahren noch regie- hier passiert. ren, um das Ganze zu kontrollieren. Da haben Sie mir (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gesagt: Auch eine nachfolgende Regierung kann von NEN]: Können Sie etwas zum Thema Atom diesem Beschluss nicht abweichen. Aber sie konnte ab- sagen?) weichen, wie Frau Merkel ja nun bewiesen hat. Bei Hartz IV war es genauso. Sie haben an den illegalen (Thomas Oppermann [SPD]: Das werden wir Kungelrunden doch teilgenommen. sehen! – Peter Friedrich [SPD]: Das werden wir noch sehen, Herr Gysi! Warten wir einmal (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Karlsruhe ab!) NEN]: Gregor, gestern war es zu Afghanis- tan!) Union und FDP begingen den schweren Fehler, die- sen Kompromiss, so unzulänglich er war, nun auch noch Herr Beck, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, aufzukündigen. Damit haben Sie eine völlig überflüssige hat dort etwas Verfassungswidriges vereinbart, immer gesellschaftspolitische Auseinandersetzung provoziert. unter Ausschluss der Linken. Es stört Sie, wenn wir von (B) Worum ging es? Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Es Ihren Nebendeals erfahren. All das gefährdet die Demo- (D) ging darum, dass die vier Atomkonzerne einen zusätzli- kratie. Das müssen Sie sich überlegen. chen Profit in Höhe von 120 Milliarden Euro erzielen (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Von den Lin- wollten. Das haben Sie ihnen zugebilligt. ken müssen wir uns über Demokratie nichts Jetzt kommt der Höhepunkt. Dann sagt Frau Merkel erzählen lassen!) zu den Bossen, sie wolle aber auch für den Bund etwas Ich will Ihnen auch sagen, warum die Demokratie ge- haben, und zwar 2,3 Milliarden Euro. Darauf erwidert fährdet wird: weil nichtzuständige Einrichtungen die die Atomlobby, das sei zu viel. Letztendlich einigen sie Entscheidungen treffen. Die Kungelrunde von Herrn sich auf 1,5 Milliarden Euro. Beck ist nicht zuständig. Angerufen war der Vermitt- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatschkopf!) lungsausschuss. Er hatte noch gar nicht getagt. Ich möchte gerne, dass der Bundestag, der Bundesrat und Der Punkt ist doch, dass Sie den Bundestag ausschal- der Vermittlungsausschuss wieder die Entscheidungsgre- ten. mien werden. Entscheidungen dürfen nicht in den illega- len Kungelrunden getroffen werden, an denen Sie sich (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie könnten als beteiligen. Märchenerzähler auftreten!) (Beifall bei der LINKEN) Herr Kauder, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einen selbstständigen Gedanken gegenüber der Bundeskanzle- Wir sind uns einig – zumindest in der Opposition –, rin dass die acht ältesten und pannenreifen AKW sofort und für immer vom Netz genommen werden müssen. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und sagten, Sie wollten mehr als 1,5 Milliarden Euro ha- ben. Dann würde Ihnen die Bundeskanzlerin sagen, dass Die Streitfrage ist: Was wird mit den weiteren neun das gar nicht geht, weil sie ja etwas anderes vereinbart AKW? Ich sage Ihnen: Was Sie hier bieten, ist willkür- hat. Der Bundestag wird von Ihnen zu einem Abnick- lich. Die SPD schreibt, bis 2020 sollten sie abgeschaltet organ gemacht. So etwas geht nicht. Das gefährdet auch werden. Ursprünglich war von einer Laufzeit bis 2023 die Demokratie. die Rede. Jetzt sagen Sie: bis 2020. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lesen Sie ein- neten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: mal den Gesetzentwurf!) 11284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Gregor Gysi (A) Die Grünen sagen: bis 2017. Ich halte das alles für will- ran verdienen, dass wir diese Technik weltweit verkau- (C) kürlich. fen. Wir schlagen etwas ganz anderes vor: dass wir uns Mit dem, was Sie hier zu den Hermesbürgschaften ge- mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissen- sagt haben, haben Sie recht: Die Bundesregierung kann schaftlern, mit Umweltverbänden und mit kommunalen den Bau von Atomkraftwerken nicht auch noch finan- Energieerzeugern beraten und dass die Abschaltung un- ziell begleiten. Hier muss ein Umdenken stattfinden. verzüglich, ohne schuldhaftes Verzögern, das heißt so schnell wie möglich, erfolgt, (Beifall bei der LINKEN) (Ulrich Kelber [SPD]: Herzlich willkommen! Wir brauchen ein Sofortprogramm hinsichtlich der er- Das haben wir schon vor Jahren gemacht!) neuerbaren Energien, gerade in Bayern und in Baden- Württemberg, wo der Anteil der Atomenergie so groß und zwar auf der Grundlage der Berechnungen von ist. Dort muss jetzt wirklich einmal etwas passieren. Fachleuten und nicht basierend auf den willkürlichen Gedanken, die Sie hier in den Raum bringen. Im Übrigen führt die Verlängerung der Laufzeiten bei der Atomenergie zu verstopften Netzen. Dadurch wird (Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil die Entwicklung der erneuerbaren Energien gebremst. [Peine] [SPD]: Wer zu spät kommt, den be- Ich sage das, weil Sie immer so tun, als ob dabei das Ge- straft das Leben, Herr Gysi!) genteil herauskommen würde. Auch hier müssen wir Zu Baden-Württemberg kann ich Ihnen auch noch et- also umdenken. was sagen. Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 müs- Ich füge hinzu, dass wir Stromnetze in öffentlicher sen dauerhaft abgeschaltet bleiben. Auch Philippsburg 2 Hand brauchen. Ich weiß, dass Sie sich darüber immer und Neckarwestheim 2 werden unverzüglich und unum- aufregen; Sie wollen alles privatisieren. Wenn die kehrbar abgeschaltet und können nicht am Netz bleiben. Stromnetze nicht in öffentlicher Hand sind, dann ist die Da die EnBW mehrheitlich dem Land gehört, ist es gar Politik auch nicht zuständig. Wenn die Politik nicht zu- kein Problem, das umzusetzen, egal welche Regierung in ständig ist, dann ist auch die Demokratie nicht zuständig. Baden-Württemberg gebildet wird. Wenn alles privatisiert ist, dann ist es eben bei bestimm- (Zuruf von der SPD: Warten wir es ab!) ten Fragen egal, ob man FDP oder Linke wählt, weil das Parlament gar nicht mehr darüber zu entscheiden hat. – Ja, warten wir das ab. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Thomas Oppermann [SPD]: Atom-Mappus!) NEN]: Das ist ja auch so schon egal!) (B) (D) Das ist aber nur das eine, was wir fordern. Wir brauchen auch bei der Energieversorgung eine Wir fordern darüber hinaus, den Verzicht auf Atom- Dezentralisierung und Kommunalisierung, energie und Atomwaffen in das Grundgesetz aufzuneh- (Beifall bei der LINKEN) men. Das ist dringend erforderlich. Es gibt das schöne Beispiel Österreich. Dort steht das in der Verfassung. weil kleinere Einheiten einfach übersichtlicher sind. Sie Folgt man diesem Beispiel, gibt es auch keine Debatte möchten, dass ein Bürgermeister nichts mehr zu ent- mehr. scheiden hat. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dort benutzt (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Blöd- man Atomstrom, um das Wasser hochzupum- sinn!) pen!) – Ja, natürlich! Wenn Sie alles privatisiert haben, hat der – Herr Kauder, haben Sie doch einmal den Mut und tra- Bürgermeister nichts mehr zu entscheiden, weder hin- gen Sie zur Zweidrittelmehrheit bei. Dann nehmen wir sichtlich der Energiepreise noch hinsichtlich der Wasser- das ins Grundgesetz auf. Danach wird sich im Bundestag preise oder der Mieten. Ich möchte, dass die Politik für nie wieder eine Zweidrittelmehrheit finden, die es än- die öffentliche Daseinsvorsorge zuständig bleibt, damit dert. Dann wären wir endlich endgültig ausgestiegen. die Wahl zwischen uns beiden für die Leute Sinn macht. Genau das brauchen wir. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das ist die Frage, die dahintersteckt. Übrigens liegen in Rheinland-Pfalz noch 20 Atom- bomben der USA. Die müssten abgezogen werden. Der (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir wollen Kalte Krieg ist seit über 20 Jahren vorbei. Wir brauchen keine Situation wie in der DDR!) keine Atomwaffen in Deutschland. – Herr Kauder, quatschen Sie doch nicht immer von der (Beifall bei der LINKEN) DDR. Sie wissen doch gar nicht, wie es dort war. Des Weiteren brauchen wir ein Exportverbot für die (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder Technik, die für die energetische und militärische Nut- [CDU/CSU]: Aber Sie! Sie wissen es!) zung der Atomkraft eingesetzt wird. Es geht wirklich nicht an, dass wir weiterhin damit Profit machen und da- – Ja, ich weiß es; ich habe dort gelebt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11285

Dr. Gregor Gysi (A) (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sie haben aus einem Protokoll zitiert, zu dem der BDI (C) Sie wissen sogar, wie es bei den anderen war, inzwischen erklärt hat, dass meine Ausführungen falsch wo Sie geschnüffelt haben!) wiedergegeben worden sind. Aber ich gebe Ihnen nicht auch noch ein Essen aus, um (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihnen den Osten zu erklären; das geht mir zu weit. sowie bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Herr Kauder, wir brauchen noch etwas – ich sage das Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und auch der FDP, die das grundsätzlich ablehnt –: Wir brau- die Erde ist eine Scheibe! – Hubertus Heil chen natürlich einen Preisstopp und eine staatliche Preis- [Peine] [SPD]: Narrenmund tut Wahrheit regulierung. Das gab es in der Bundesrepublik jahrzehn- kund! – Rolf Hempelmann [SPD]: Es ist noch telang. Was war denn daran so schlimm? Seitdem die schlimmer!) Energieversorgung privatisiert ist, gehen die Preise nach Was ich kenne, ist meine Haltung und die Haltung der oben. Die Konzerne telefonieren miteinander und be- Bundesregierung: Wir wollen in das Zeitalter der erneu- sprechen das. Es gibt doch in diesem Bereich überhaupt erbaren Energien einsteigen. Wir machen verantwor- keinen Markt. Wir haben vier Konzerne, die sich die tungsvolle Politik und halten Kurs. Es ist absurd, uns Bundesrepublik Deutschland feudal aufgeteilt haben. Also brauchen wir auch hier einen anderen Weg. Wahlkampfmanöver vorzuwerfen. Wieder geht es um die Frage der Zuständigkeit der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Politik und der Demokratie. Sie begreifen eine einfache der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten des Tatsache nicht: Der Bundestag wird demokratisch ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen wählt; die Atomlobby wird nicht gewählt, die Chefs der Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mainz Pharmaindustrie werden nicht gewählt, die Chefs der bleibt Mainz, wie es singt und lacht!) Banken werden auch nicht gewählt. Einige von Ihnen stellen sich hin und fordern hier den (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Natürlich sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Das ist verant- werden die gewählt!) wortungslos. Sie wissen ganz genau, dass das unsere Netze überhaupt nicht aushalten können. Das, was Sie Es macht einen Unterschied, dass die Bevölkerung den fordern, ist überhaupt nicht machbar. Bundestag wählen darf, aber nicht den Vorstand der Deutschen Bank. Insofern ist es eine Katastrophe, dass (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der Vorstand der Deutschen Bank mehr zu sagen hat als die Bundesregierung. Genau das müssen wir überwin- Herr Trittin und Herr Gabriel, Sie haben sieben Jahre den. Zeit gehabt, die Kernkraftwerke sofort abzuschalten; Sie (B) haben es nicht getan. Sie sollten etwas mehr die Seriosi- (D) (Beifall bei der LINKEN) tät, Ruhe und Besonnenheit übernehmen, die die Japaner Schließlich sage ich Ihnen: Am Samstag werden im Umgang mit der Atomkatastrophe und den beiden große Demonstrationen stattfinden. Ich bitte Sie – auch Naturkatastrophen gezeigt haben. Sie, Herr Brüderle –, sie ernst zu nehmen. Die Bürgerin- nen und Bürger werden dort ganz entschieden rufen: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten „Atomkraft? Nein, danke!“ Nehmen Sie sie ernst! Veral- der CDU/CSU) bern Sie sie nicht mit einem Moratorium, das überhaupt Japan geht mit diesem Schicksalsschlag gelassen und nicht ernst gemeint war. besonnen um. Teile der Opposition meinen, in Deutsch- (Beifall bei der LINKEN) land Hysterie verbreiten zu müssen. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Oh!) Das Wort hat nun Bundesminister Rainer Brüderle. Das ist der Lage in Japan völlig unangemessen, und das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist der Lage in Deutschland völlig unangemessen. der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und jetzt aufpassen, dass (Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine] nicht wieder falsch protokolliert wird! – [SPD]: Sie sind der Regierung unangemes- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das kann im sen! – Weitere Zurufe von der SPD) Bundestag nicht passieren!) Da wird versucht, aus jeder angeblichen Neuigkeit eine Sensation zu kreieren. Wir sollten uns auch in der Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und politischen Debatte mit etwas mehr Ruhe und Sachlich- Technologie: keit des Themas annehmen. Ja, was in Japan passiert ist, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, war ein Einschnitt: Sie kritisieren, dass ein Zusammenhang zwischen unse- rer Politik und dem Wahlkampf besteht. Sie haben nur (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und?) über Atomkraftwerke in Baden-Württemberg gespro- chen; das nur nebenbei gesagt. für Europa, für Deutschland und für die Welt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Der hat (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht so über alles geredet!) schlimm?) 11286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bundesminister Rainer Brüderle (A) Wir überprüfen bei allen Kernkraftwerken in Deutsch- sein. Wenn konkrete Maßnahmen bei Pumpspeicher- (C) land die Sicherheit erneut umfassend. Die sieben ältesten kraftwerken und Netzen anstehen, machen Sie genau das Kernkraftwerke in Deutschland werden zunächst abge- Gegenteil dessen, was Sie fordern. schaltet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vorüberge- derspruch bei der SPD und dem BÜND- hend!) NIS 90/DIE GRÜNEN) Die Prüfung ist hart, fair und ergebnisoffen. Eine Vor- Rot-rot-grüne Energiepolitik ist eine Nullnummer. Sie festlegung gibt es nicht. Aber eines ist klar: Sicherheit blockieren beim Umbau des Kraftwerkparks. geht vor. Eine ähnliche Überprüfung führen die Verei- nigten Staaten, China und Russland durch. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Falsch!) (Rolf Hempelmann [SPD]: Schon vor einem Sie sollten konsequent mithelfen, dass wir schneller in halben Jahr!) das Zeitalter der regenerativen Energien kommen. Sie können doch nicht behaupten, dass die Landtags- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wahlen im Süden der Republik das Verhalten dieser Län- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb haben der, die genauso vorgehen, beeinflussen würden. Sie die Restlaufzeiten verlängert! Peinlich! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ist Ihre (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rede schon rum? – Bärbel Höhn [BÜND- der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: War das schon alles? Die Zeit während des Moratoriums wird genutzt, damit Was war denn die Aussage?) die neue Lage nach den japanischen Vorfällen seriös überprüft werden kann. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion Zentral für den Umstieg in das Zeitalter der regenera- Bündnis 90/Die Grünen. tiven Energien, den wir wollen, ist der Netzausbau. Wir müssen die Netze schneller ausbauen. Schon heute feh- len in Deutschland 3 600 Kilometer Stromleitungen – Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tendenz steigend. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Brüderle, da kommen Sie (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, was tun Sie nicht mehr heraus. denn? – Gegenruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (D) – Wir stellen ein Konzept für den Netzausbau auf, um LINKEN) diesen zu beschleunigen. Sie haben beim BDI in Anwesenheit von RWE und Eon (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Wahrheit zu Protokoll gegeben. Das jetzt als Fehler Ich habe eine Netzplattform geschaffen, auf der wir auch im Protokoll ausgeben zu wollen, macht Sie noch we- mit NGOs einen Dialog führen, damit wir schneller zu sentlich unglaubwürdiger, als Sie es vorher schon waren. einer Akzeptanz kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN]) LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Überführt sind Sie!) Aber Teile der Opposition sind gegen alles: gegen Kern- kraft, gegen Kohlekraftwerke und gegen Leitungen. Ihr angebliches Atommoratorium ist reine Wahl- kampftaktik. Das haben Sie beim BDI klar zugegeben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!) Dabei brauchen wir heute doch keine Wahlkampftaktik, Das ist unverantwortliche Politik. um auf diese Herausforderungen des Atomunfalls in Ja- pan zu reagieren. Er ist es, der zur Deindustrialisierung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Japans beiträgt. Es sind nicht die erneuerbaren Energien, Eine Deindustrialisierung, die gegen Arbeitsplätze und sondern es ist die Atomenergie, die eine Deindustriali- Wohlstand in Deutschland gerichtet ist, können Sie mit sierung befördert. Das können Sie in Japan genau sehen. Schwarz-Gelb nicht machen. Deshalb sollten Sie mit Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sonnenheit und Vernunft an diese Themen herangehen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie lügen ja LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor- schon wieder, Herr Brüderle!) sichtig!) Wir bringen Schwung in den Netzausbau. Ich stelle Nach dieser nuklearen Katastrophe in Japan sind zwei mir vor, dass wir als Resultat dieser nationalen Aufgabe entscheidende Handlungen zwingend erforderlich: Zum ein Konzept auf den Weg bringen, um diesen Ausbau er- einen müssen wir jetzt dem japanischen Volk in seiner heblich zu beschleunigen. Ich lade Sie ein, mitzuma- großen Not nach Erdbeben, Tsunami und Atomunfall chen. Sie können nicht hier im Bundestag Ja zum Netz- alle Hilfen geben, die uns möglich sind. Dabei sehe ich ausbau sagen, aber vor Ort bei den Blockierern dabei auch große Defizite dieser Regierung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11287

Hans-Josef Fell (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Zum anderen braucht unser Planet endlich einen völlig Wir Grünen haben längst gezeigt, wie eine Beschleu- neuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Erde: nigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien gelingen ohne Atomenergie und wegen des Klimaschutzes auch kann. Das ist nachzulesen im Energiekonzept der Grü- ohne fossile Energien. nen und in den Vorlagen, die wir heute einbringen. Wir machen konkrete Vorschläge, wie dieses Land spätestens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Ende der nächsten Wahlperiode vollständig aus der sowie bei Abgeordneten der SPD) Atomenergie aussteigen kann. Mit dem unter Rot-Grün geschaffenen erfolgreichen Erneuerbare-Energien-Ge- Diesen neuen Entwurf für die Energieversorgung die- setz haben wir bewiesen, dass wir eine solche Politik ge- ser Welt gibt es bereits. Die renommierten kalifornischen gen alle Widerstände aus den Reihen von Union, FDP Universitäten Stanford und Davis, die mit ihren Aus- und Atomwirtschaft machtpolitisch durchsetzen können. gründungen im Silicon Valley die dritte industrielle Re- volution der Welt ermöglicht haben, haben jetzt einen Wir müssen den Ausbau der Windkraft, der Solarener- Plan für die vierte industrielle Revolution der Welt ge- gie, der Wasserkraft, der Bioenergie und der Erdwärme schaffen. Sie sagen: Der gesamte Weltenergiebedarf beschleunigen. Wir müssen den Kommunen mehr Ener- kann danach bis 2030 zu 100 Prozent mit erneuerbaren giehoheit geben. Wir müssen die Energieeinsparpoten- Energien gedeckt werden. Das ist technologisch mög- ziale heben und Bürgerakzeptanz für den notwendigen lich, industriell machbar und hat ökonomisch große Vor- Netz- und Speicherausbau schaffen. Herr Brüderle, die teile. Hauptengstellen liegen übrigens im 110-kV-Netz. Dort finden die Abschaltungen statt. Für den Ausbau dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Netzes kann man Erdkabel nutzen. Doch die Deutsche Energie-Agentur und Sie, Herr Brüderle, sprechen fast Doch statt nun auf die Beschleunigung des Ausbaus nur vom Ausbau der großen 380-kV-Leitungen. Neue der erneuerbaren Energien zu setzen, was Frau Merkel Kohlekraftwerke sind – das ist eine Mahnung an die an- und Sie, Herr Brüderle, in der letzten Woche noch voll- dere Seite des Hauses, an SPD und Linke – für die Um- mundig erklärten, wurde in dieser Woche die Verkün- setzung unseres Energiekonzepts nicht notwendig. Wir dung von neuen Maßnahmen abgesagt. Offensichtlich müssen auch an den Klimaschutz denken. haben sich die Hardliner durchgesetzt. Offensichtlich ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben Sie, Herr Brüderle, Herr Kauder und Herr Fuchs, die (B) Verabschiedung eines Beschleunigungskonzeptes in Sa- Herr Brüderle, Sie wollen nur die großen Leitungen (D) chen erneuerbare Energien verhindert. bauen, um den Windstrom von Nord nach Süd zu brin- gen. Fordern Sie lieber endlich Herrn Mappus in Baden- Es ist wie immer bei Ihrem Regierungshandeln: Eine Württemberg und Herrn Seehofer in Bayern auf, die Ge- leere Versprechung reiht sich an die andere. Statt Mil- nehmigungsblockaden in Sachen Windenergie abzu- liarden in den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren schaffen. Energien zu stecken, wurden die Mittel für erneuerbare Energien im Haushalt 2011 gekürzt, und die Mittel für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Effizienzsteigerung wurden gleich mit gekürzt. Das und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der widerspricht Ihren Worten doch völlig. LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Windstrom kann man mit neuen Windrädern auch in die sowie bei Abgeordneten der SPD) südlichen Bundesländer bringen. Sie haben in der Vergangenheit bewiesen, dass Sie Immer noch halten die Kanzlerin und Sie am uralten den Blick nicht nach vorne richten. Ich will Ihnen Albert kerntechnischen Regelwerk fest, ebenso am Atommana- Einstein in Erinnerung rufen, der gesagt hat, dass man ger Hennenhöfer als Leiter der Atomaufsicht. Alles mit den Denkweisen, die ein Problem verursacht haben, spricht dafür, dass Sie nach der Wahl am kommenden das Problem nicht lösen kann. Das werden die Wählerin- Sonntag wieder einen Pro-Atom-Kurs fahren werden. nen und Wähler am kommenden Sonntag erkennen. Sie Frau Merkel will sich heute auf dem EU-Gipfel für ei- sind mit Sicherheit in der Lage, die Konsequenzen zu nen Stresstest der europäischen Atomkraftwerke einset- ziehen. Die Konsequenz ist: Die Atomparteien müssen abgewählt werden. zen. Da muss sie Herrn Oettinger aber sagen, dass das nicht nach dem alten Euratom-Regelwerk geschehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, kann. Dieses Regelwerk ist zur Analyse der Gefahren bei der SPD und der LINKEN) von Atomkraftwerken, die in Japan aufgetreten sind, un- tauglich. Wir brauchen eine Veränderung der Euratom- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Regeln. Am besten wäre eine Abschaffung der Unter- Das Wort hat nun Michael Fuchs für die CDU/CSU- stützungsmodalitäten. Stattdessen brauchen wir einen Fraktion. neuen EU-Vertrag für erneuerbare Energien, Eurenew. Das wäre die richtige Antwort. Das müsste Frau Merkel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und jetzt in Brüssel auf den Weg bringen. der FDP) 11288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Diskussion zu beginnen, die überhaupt nichts mit diesem (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Unfall zu tun hat, ist schäbig. Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Gysi, von Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – etwas über Demokratie zu lernen, fällt mir wahrlich Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihr Moratorium schwer. Solange Sie nicht in der Lage sind, überhaupt ist schäbig!) anzuerkennen, was Ihre Vorgängerpartei, die SED, in der DDR-Zeit angestellt hat – ich nenne den Mauerbau; die Das ist alles andere als der Situation angemessen. Die Mauertoten leugnen Sie nach wie vor, was unsäglich Sache für Wahlkampfzwecke auszunutzen, ist zynisch ist –, brauchen wir in Sachen Demokratie keine Beleh- und für mich auch abstoßend. rung von Ihnen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Das, was Sie machen, ist doch Wahl- neten der FDP – Widerspruch bei der LIN- kampf!) KEN) Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen. Des Weiteren darf ich Ihnen sagen: Es wäre interes- sant, wenn Sie sich einmal mit Österreichern unterhalten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: würden. Wir haben das vor kurzem getan. Wir haben uns mit dem österreichischen Wirtschaftsminister unterhal- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ten und uns mit ihm auch über die Energieversorgung in Kollegen Heil? Österreich auseinandergesetzt. Was macht man dort? Die Österreicher haben – da gebe ich Ihnen völlig recht – Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): jede Menge Pumpspeicherkraftwerke; das ist auch gut Nein. – Wir haben gesagt: Wir müssen ein Morato- so. Wir wären schon froh, wenn die Grünen in Deutsch- rium machen. Wir setzen die sieben ältesten Kernkraft- land Pumpspeicherkraftwerke nicht verhindern würden. werke in Stillstand, um sie besser überprüfen zu können. Was aber machen die Österreicher nächtens? Sie kaufen nächtens billigen Kernkraftstrom aus Temelin ein, pum- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ihre Reaktion pen damit das Wasser wieder nach oben und verkaufen ist unglaubwürdig! – Christian Lange [Back- ihn tagsüber als Ökostrom nach Bayern. Das ist ein Re- nang] [SPD]: Und was machen Sie nach den cycling, das mir nicht gefällt und das ich hier und auch drei Monaten? Das sagen Sie den Wählern woanders nicht haben möchte. Das sollten Sie zur nicht! Darin liegt der Wahlbetrug!) Kenntnis nehmen. So funktioniert das nicht. Wir wollen in dieser Phase des Moratoriums aus dem, (B) (D) Lassen Sie mich nun zu Japan kommen. Ich bin in was in Japan passiert ist, lernen und zuallererst einmal meinem beruflichen Leben sehr häufig in Japan gewe- feststellen, ob wir daraus Konsequenzen für unsere sen. Ich kann nur sagen: Mir tut das, was dort passiert Kraftwerke ziehen müssen. Das ist wichtig. ist, alles unglaublich leid, und ich empfinde ein tiefes Mitgefühl für die Menschen dort. Mich stört aber in vie- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lerlei Hinsicht, wie wir mit der Situation in Japan umge- Herr Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der hen. Kollegin Kotting-Uhl? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das finde auch ich!) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Auch nicht. – Wir müssen als Allererstes die Frage 400 000 Menschen sind obdachlos. Wahrscheinlich sind stellen: Was sind die technischen Konsequenzen, die wir mehr als 20 000 Tote zu beklagen. Niemand weiß genau, für unsere Kernkraftwerke ziehen müssen? wie viele es tatsächlich sind. Und wir diskutieren hier über Probleme, die die Japaner momentan überhaupt (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind ein nicht wahrnehmen. Wenn Sie sich anschauen, welche Atomlobbyist!) Diskussionen in Japan geführt werden, dann stellen Sie fest, dass es dabei um ganz andere Probleme geht. Dort Ein Tsunami – das wird wahrscheinlich selbst die Grü- geht es eben um 400 000 Menschen, die keine Häuser nen-Fraktion zugeben, wobei Sie im Verdrängen großar- mehr haben und die verzweifelt nach ein paar Habselig- tig sind – ist in Deutschland relativ unwahrscheinlich. keiten suchen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt (Rolf Hempelmann [SPD]: Genau das wollen wollen Sie verharmlosen!) wir vermeiden!) Dennoch haben wir mit Sicherheit Lehren daraus zu zie- Ich sage Ihnen noch etwas: Als ich kurz nach dem hen. verheerenden Tsunami die Worte Ihres Vorsitzenden (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gabriel gehört habe, habe ich gedacht: Hut ab! Das ist NEN]: Es gibt keine hundertprozentige Sicher- staatstragend und vernünftig. Das ist genau das, was man heit!) in dieser Situation sagen kann und machen muss. Aber was anschließend passiert ist, nämlich dass es nur vier Das werden wir mit der IAEO machen. Wir werden dies Stunden gedauert hat, bis Sie angefangen haben, eine dann konsequent in unseren Kernkraftwerken umsetzen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11289

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber die (C) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Wahrheit!) Kollegin Menzner? Ich habe einmal die Zahlen herausgesucht. Als Sie 1998 an die Regierung kamen, betrug der Anteil der erneuer- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): baren Energien 4,7 Prozent. Auch nicht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Jetzt sind es 18 Prozent!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Also generell keine Zwischenfragen? – Gut. Als Sie zu Recht abgewählt wurden, lag dieser Anteil bei 10,2 Prozent. Es gab in sieben Jahren also eine Steige- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein mutiger rung um 5,5 Prozentpunkte. Heute haben wir einen An- Mensch!) teil von 17 Prozent. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): NEN]: Das ist nur wegen dem Gesetz, das Sie Ich möchte gerecht sein und niemandem eine Zwi- abgelehnt haben! – Weitere Zurufe von der schenfrage gestatten. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Strompreise – das hat der Kollege Pfeiffer gerade Seit die Bundeskanzlerin Merkel an der Regierung ist, völlig zu Recht gesagt – sollten wir allerdings im Blick haben wir eine Steigerung um 6,8 Prozentpunkte in fünf behalten. Was ist denn von Anfang an passiert? Die Jahren. Preise sind schon gestiegen. (Peter Friedrich [SPD]: Peinliche Milchmäd- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chenrechnung, Herr Fuchs! Peinlich!) Sie sind ganz schön gleich geblieben!) Es ist schon fast beschämend, Herr Fell, wenn Sie be- Wenn Sie sich den Spotmarkt in Leipzig für das zweite haupten, es würde nicht in erneuerbare Energien inves- Quartal dieses Jahres anschauen, dann werden Sie fest- tiert. Im letzten Jahr sind rund 11,3 Milliarden Euro in stellen, dass der Preis für Großhandelsstrom um unge- erneuerbare Energien investiert worden. fähr 10 Prozent gestiegen ist. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NEN]: Was reden Sie für einen Unsinn?) Das ist falsch!) Es hat noch nie eine so intensive Phase von Investitionen (B) Schon in dieser Woche – diese Zahl ist interessant – (D) in erneuerbare Energien gegeben wie jetzt. Auch das mussten pro Tag circa 800 bis 1 000 Megawatt Strom sollten Sie zur Kenntnis nehmen. importiert werden. Ich frage Sie: Von wo wird dieser Strom importiert? Der Strom ist überwiegend aus Osteu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ropa gekommen, und zwar im Wesentlichen von Kern- der FDP – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE kraftwerken. GRÜNEN]: Das ist nur dank Rot-Grün so! Sie haben das EEG abgelehnt!) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-

NEN]: Die sollen auch abgeschaltet werden! Last, but not least muss auch etwas über CO2 gesagt Helfen Sie da mal mit!) werden. Wir alle hier kämpfen dafür, dass der Klima- schutz Wirklichkeit wird. Das ist schwierig genug, weil Wenn der Strom nicht aus Osteuropa war, dann kam er nicht alle Länder so intensiv Klimaschutz betreiben wie zumindest von Kohlekraftwerken. wir. Sie wissen aber auch, dass die acht Kernkraftwerke, Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wir die jetzt nicht am Netz sind, uns circa 30 Prozent Koh- den Strom nicht zur Verfügung stellen, dann kommt er lendioxidausstoß ersparen. Das sind 48 Millionen Ton- von irgendwo anders her. Es ist völlig richtig, was Herr nen. Fell eben gesagt hat: Der Strom kommt aus der Steck- (Peter Friedrich [SPD]: Milchmädchenrech- dose. nung!) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das habe ich nicht gesagt!) Diese 48 Millionen Tonnen können wir auf kurze Frist nur kompensieren, wenn es uns gelingt, aus Nachbarlän- Aber er muss vorher auch dort hineingegeben werden. dern Strom zu importieren, und zwar dann Strom aus Das ist das große Problem. Sie müssen sich über eines Kernkraftwerken; denn ausschließlich Strom aus erneu- im Klaren sein: Nur mit Wind, nur mit Solar werden wir erbaren Energien bekommen wir aus den Nachbarlän- dieses Problem nicht lösen können. dern nicht. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber mit allen Erneuerbaren!) NEN]: Das sagt die Beratung im Umweltbun- desamt völlig anders!) Mit einem weiteren Punkt muss aufgeräumt werden, nämlich damit, dass es die rot-grüne Koalition war, die Ansonsten werden wir die Klimabilanz Deutschlands die erneuerbaren Energien so weit vorangebracht haben. verschlechtern. Denn alle fossilen Kraftwerke, egal ob 11290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Michael Fuchs

(A) Kohle-, Braunkohle- oder Gaskraftwerke, stoßen CO2 Die zweite Frage: Stellen Sie in Abrede, dass auch bei (C) aus. Da können Sie sich nicht herausreden. uns Kühlsysteme ausfallen können? Wenn Sie dies in Abrede stellen und wenn Sie sagen, es gebe keine Ver- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Stichwort gleichbarkeit, dann muss ich noch einmal auf das hin- Japan! Weiter so!) weisen – es ist relevant –, was Herr Brüderle sagte. Ich Auch das wird ein Problem werden. möchte dies noch einmal zitieren, weil es sehr deutlich ist: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt wissen wir ja, was Sie mit Ihrem Moratorium vorhaben! … dass angesichts der bevorstehenden Landtags- Nichts!) wahlen Druck auf der Politik laste und die Ent- scheidungen daher nicht immer rational seien. Das sehen wir ja schon beim Emissionshandel. Die Preise für Zertifikate sind ebenfalls schon kräftig gestie- Das passt auch zum baden-württembergischen Minister- gen, und zwar von 15 Euro auf 16,50 Euro. Das können präsidenten, zu Herrn Mappus – ich bin Baden- Sie am Spotmarkt beobachten. Sie sollten sich das anse- Württembergerin –, der die Entscheidungen, die gefällt hen. wurden, in den Kontext eines emotionalen Ausnahmezu- standes der Bürgerinnen und Bürger stellte. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Liste vom Spotmarkt! Ich habe sie Vor diesem Hintergrund frage ich Sie als Drittes: hier! Sie reden die Unwahrheit!) Wem stellen Sie als Wirtschaftspolitiker – ich glaube, Für uns geht es um eines: Wir wollen verantwortungs- Sie haben eine ähnliche Denke wie der Wirtschafts- voll Energiepolitik betreiben, und zwar so, dass erstens minister; auch Ihre Argumentation war ähnlich – die Ra- die Energieerzeugung sicher ist – darüber lassen wir tionalität in Abrede: der Bundeskanzlerin oder den Bür- nicht mit uns reden –, dass zweitens die Energie zuver- gerinnen und Bürgern? lässig vorhanden ist Ich bitte Sie, diese drei Fragen zu beantworten. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Weiter (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die letzte so! Das ist die Wahrheit!) Frage verstehe ich zwar nicht, aber okay!) und dass sie drittens auch noch kostengünstig ist, sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher sie bezahlen kön- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nen und die Unternehmen nicht aus Deutschland abwan- Kollegin Menzner, bitte. dern müssen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dorothee Menzner (DIE LINKE): (D) neten der FDP – Christian Lange [Backnang] Herr Kollege Fuchs, ich möchte mich auf ganz we- [SPD]: Abschalten! Abwählen! Mehr kann nige Aspekte Ihrer Rede beschränken. man dazu nicht sagen!) ( [CDU/CSU]: Danke!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie haben versucht, zu suggerieren, dass das, was im- Das Wort zu Kurzinterventionen erteile ich der Kolle- mer als vernachlässigbares Restrisiko bezeichnet wurde, gin Kotting-Uhl und danach der Kollegin Menzner. für Deutschland nicht gelten würde. Aber Sie haben mit keinem Satz darauf Bezug genommen, dass dieses ver- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): meintlich so kleine Restrisiko in Japan, in einem Land, Danke schön, Herr Präsident. – Herr Fuchs, Ihre Rede das sehr hohe Sicherheitsstandards hat – es handelt sich gibt eigentlich Anlass, jetzt eine zehnminütige Kurzin- um eine Sicherheitsphilosophie, die immer als Vorbild tervention zu machen, dargestellt wurde –, Realität geworden ist. Im Gegensatz zu allen bisherigen Katastrophen können die Folgen die- (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Bitte nicht!) ser Katastrophe auch durch den Einsatz von noch so viel Geld und Personal nicht in einem überschaubaren Zeit- aber das würde der Gesamtdebatte wahrscheinlich nicht raum bewältigt werden. Man kann alles Geld der Welt weiterhelfen. Ich möchte Sie vielmehr auf einen Punkt investieren und alle Technik der Welt einsetzen, die Fol- ansprechen, den Sie genannt haben. Sie haben die Ver- gen werden Generationen von Japanerinnen und Japa- gleichbarkeit zwischen dem, was in Fukushima passiert nern zu tragen haben. ist, und dem, was hier passieren könnte, in Abrede ge- stellt und das damit begründet, dass hier keine Tsunamis Dr. Pflugbeil hat in einer Stellungnahme sehr deutlich zu erwarten seien. zum Ausdruck gebracht, dass der Umfang der Freiset- zung von Radioaktivität und die Strahlenwerte in Japan (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Richtig!) in weiten Teilen schon heute dem entsprechen, was wir Ich möchte Ihnen dazu einige Fragen stellen. Erste in Tschernobyl erleben mussten. An dem Diskussionspa- Frage: Stellen Sie Japans Sicherheitsphilosophie, die un- pier der Reaktor-Sicherheitskommission wird deutlich, serer ähnlich ist – es geht um ein hochindustrialisiertes dass selbst die Reaktor-Sicherheitskommission auch in Land, um ein Hochtechnologieland –, in Abrede? Mei- deutschen Kraftwerken erheblichen Nachrüstbedarf nes Wissens hat Japan eine ähnliche Sicherheitsphiloso- sieht. Von daher kann es nicht, wie Sie suggeriert haben, phie. Sprechen Sie das Japan ab? nach drei Monaten so weitergehen wie vorher. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11291

Dorothee Menzner (A) Abschließend möchte ich deutlich machen, dass wir (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) nach meiner Überzeugung zu einer schnellen Entschei- NEN]: Aha! Und Sie sagen, in Deutschland dung kommen müssen. sind solche Katastrophen nicht denkbar?) (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wie lang ist ei- Ein solches Ereignis haben die Japaner bei der Beur- gentlich Ihre Redezeit? Das nimmt ja kein teilung dieser Problematik – das gestehe ich zu – nicht Ende!) bedacht. Das ist auch der Grund, warum wir gesagt ha- ben – dazu stehe ich –: Es ist notwendig, dass wir Even- Diesen Hinweis habe ich bei Ihnen vermisst. Block 1 des tualitäten, die sich aus den Ereignissen in Japan ergeben, Kraftwerks Fukushima 1 sollte diesen Monat vom Netz überprüfen. gehen. Jeder Tag und jeder Monat kann entscheidend sein. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Interessant!) Nicht zuletzt möchte ich Sie und die Öffentlichkeit darauf hinweisen – Sie als Wirtschaftspolitiker müssten Es ist auch logisch und notwendig, dass man die Kern- das eigentlich wissen –: kraftwerke, die am ältesten sind, in Stillstand versetzt, um parallel dazu diese Überprüfung durchzuführen. Nur, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden aber wir wissen nicht schon vorher, was anschließend heraus- recht lange! Sehr lange sogar!) kommt. Die Risiken, die mit Atomkraftwerken verbunden sind, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch, natür- sind nicht versicherbar, sprich: Jeder Häuslebesitzer, lich! Alles sicher!) jede Bürgerin und jeder Bürger trägt dieses Risiko selbst, und sie können sich dagegen nirgendwo versichern. Das Sie wissen ja schon, was bei der Überprüfung heraus- macht deutlich, wie dieses Risiko und dieses Wagnis kommt, bevor Sie überhaupt angefangen haben, nachzu- eingeschätzt werden. denken. Ich danke. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung. (Ulrich Kelber [SPD]: Wenn Sie den Bericht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Reaktor-Sicherheitskommission vom Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion. Herbst gelesen hätten, hätten auch Sie es ge- wusst!) (B) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): (D) – Wenn Sie mich genauso ausreden lassen würden, wie Vielen Dank, Herr Präsident. – Zuallererst möchte ich ich die beiden Kolleginnen habe ausreden lassen, dann ganz kurz das Thema Tsunami ansprechen, Frau Kolle- wäre das höflich; aber das kann ich von Ihnen nicht er- gin. Was in Japan geschehen ist, konnte man sich auch warten. dort bisher nicht vorstellen. Nebenbei: Es hat in der His- torie Japans nie ein Erdbeben dieser Größenordnung ge- Ich gehe einmal davon aus, dass wir in dieser Phase in geben. jedem Einzelfall ernsthafteste Prüfungen durchführen werden. Das ist auch notwendig. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Genau darum geht es!) Kühlsysteme. Es kann durchaus sein, dass wir auf- grund der Erfahrungen, die wir in Japan gewonnen ha- Dies war also das allergrößte Erdbeben, das es dort je- ben, zu dem Ergebnis kommen, dass die Kühlsysteme mals gegeben hat. Die Kernkraftwerke haben dieses Erd- nicht ausreichend redundant aufgebaut sind. Das ist eine beben übrigens völlig unbeschädigt überstanden. Zer- relevante Prüfung, die wir jetzt machen müssen. Dazu stört wurden sie bzw. die Kühlzuflüsse stehe ich. Dies gilt jedoch nicht nur für die alten acht, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Ganz ge- sondern auch für die neuen neun Kernkraftwerke. Sie nau! Sie wurden zerstört!) gehören genauso überprüft. durch den anschließenden Megatsunami, der in dieser Sie behaupten, das Restrisiko werde nicht berücksich- Größenordnung nicht antizipiert wurde. tigt. Wir tun das doch gerade. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ( [SPD]: Super! Ein halbes NEN]: Woher wissen Sie denn das? Es heißt Jahr nach der Verlängerung!) doch immer, das muss man erst analysieren!) Wir sind doch gerade dabei, uns mit diesem Restrisiko Man kann darüber nachdenken, ob es richtig oder sehr intensiv zu beschäftigen; denn wir versuchen, die falsch war, nicht von der Möglichkeit eines solchen Tsu- Prüfungen durchzuführen. Wer macht es denn? Diese namis auszugehen. Bis dato war er nicht denkbar. Man- Bundesregierung hat sofort reagiert. Die Kanzlerin hat che Orte – dieses Drama konnten Sie alle beobachten – zwei Tage nach dem Vorfall gesagt, wir müssen das wurden von dem Tsunami zu fast 90 Prozent zerstört. Restrisiko überprüfen, müssen überprüfen, ob wir alle Kein Mensch, auch niemand in den kleineren Orten an Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben und ob es Erfah- der Küste in der Nähe von Sendai, hat damit gerechnet. rungen oder Lehren gibt, die wir aus Japan mitnehmen 11292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Michael Fuchs (A) müssen. – Das tun wir jetzt. Ich halte das für richtig. Das Peter Friedrich (SPD): (C) Verhalten der Bundesregierung ist klug. Herr Fuchs, angesichts Ihres Mutes verweise ich Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – auf die Kurzintervention, die Sie nachher tätigen kön- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wahlkampf ist nen. das!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ein anderer Widerspruch ist folgender: Die gleiche Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Truppe von Ministerpräsidenten, die bei der Laufzeiten- Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich für die verlängerung unabhängig davon, ob die Zustimmung des SPD-Fraktion. Bundesrates eingeholt werden muss oder nicht, auf ihrer (Beifall bei der SPD) eigenen Unzuständigkeit bestanden hat, sitzt jetzt mit der Kanzlerin bei Atomgipfeln zusammen und verkündet öffentlich, dass sie von der Laufzeitenverlängerung jetzt Peter Friedrich (SPD): wieder herunter will. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Herr Fuchs, zu Ihrer Rede möchte ich jenseits der (Beifall der Abg. Dr. Barbara Hendricks Frage, wie man das Restrisiko genau bewertet, noch ei- [SPD]) nes anmerken: Angesichts der halsbrecherischen Wende, die Ihre Regierung hingelegt hat, und angesichts der Sie hoffen doch inständig darauf, dass unsere Klage Vorgänge in Japan, die uns alle betroffen machen, finde in Karlsruhe Erfolg hat, weil es der einzige Weg ist, auf ich es unverschämt, dass jemand, der sein ganzes politi- dem Sie die Nichtigkeit Ihres Beschlusses hergestellt be- sches Leben dem Lobbyismus für Atomkraft gewidmet kommen und nicht den Schadenersatzforderungen der hat, von hier vorne moralische Beurteilungen gegenüber Atomkonzerne ausgeliefert sein werden. anderen ausspricht, was das Thema Wahlkampf angeht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf vom Deswegen sage ich Ihnen auch: Die erste Amtshand- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomlobby! – lung einer SPD-geführten Landesregierung in Baden- Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist eine Württemberg wird es sein, sich dieser Klage gegen die Frechheit!) Laufzeitenverlängerung beim Bundesverfassungsgericht Ich möchte zu Ihnen sprechen, Kolleginnen und Kol- anzuschließen. legen von der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) tion, um um Zustimmung für unsere Gesetzentwürfe zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werben; denn es ist für Sie die Möglichkeit, Ihren eige- nen Widersprüchen zu entrinnen. Sie ertrinken nämlich Der dritte Widerspruch, der Ihr ganzes Manöver als in Ihren Widersprüchen. durchsichtig und wahltaktisch entlarvt, betrifft die hand- werkliche Umsetzung. Am Dienstag letzter Woche, Herr Brüderle, Sie können es zwar auf einen Proto- 15. März 2011, verkündete der Ministerpräsident des kollfehler schieben, aber ein Wirtschaftsminister mit ei- Landes Baden-Württemberg im Landtag – ich zitiere ner minimalen Restachtung hätte die Gelegenheit ergrif- wörtlich –: fen, hier klarzustellen, was er denn dort tatsächlich gesagt hat. Kernkraftwerke, die nicht den erforderlichen Si- cherheitsanforderungen genügen, werden abge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaltet – nicht in sieben Jahren, nicht in 15 Jahren, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf nicht in 20 Jahren, sondern sofort. vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Er kann sich nicht erinnern!) An einer späteren Stelle in seiner Rede heißt es: Was haben Sie denn tatsächlich gesagt, wenn es ein Pro- Neckarwestheim I wird abgeschaltet – dauerhaft – tokollfehler war? Wer soll Ihnen denn Ihre neue Nach- und stillgelegt. denklichkeit überhaupt abnehmen, wenn Sie, statt die Chance zu ergreifen, hier klarzustellen, was Sie tatsäch- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Drei Monate!) lich gesagt haben, nur sagen, es war ein Protokollfehler, Am Tag darauf verkündet sein oberster Angestellter obwohl wir wissen, dass das, was dort steht, genau Ih- in Sachen Atomstrom – das ist übrigens nicht die für die rem Sprachgebrauch der letzten Wochen entspricht? Atomaufsicht zuständige Frau Gönner, sondern das ist der Vorstandsvorsitzende der jetzt landeseigenen EnBW, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Villis – in seiner Pressemitteilung vom 16. März Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen um 21.30 Uhr: Fuchs? Der Block 1 des Kernkraftwerks Neckarwestheim (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber selber … und der Block 1 des Kernkraftwerks Philipps- keine Zwischenfragen zulassen! – Christian burg … werden seit heute Abend (Mittwoch, Lange [Backnang] [SPD]: Das ist nicht zu fas- 16. März 2011) abgefahren und in der Nacht vom sen!) Netz genommen. Zuvor hatte der Betreiber, die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11293

Peter Friedrich (A) EnBW …, entsprechende Anordnungen des Minis- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) teriums … erhalten. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- gen Michael Fuchs. Diese Anordnungen sehen die vorübergehende Ein- stellung des Betriebs der Anlagen für drei Monate (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Fuchs oder vor. Die Anordnungen wurden mit Verweis auf die Angsthase?) aktuellen Vorkommnisse in japanischen Kernkraft- werken ausgesprochen. Die EnBW hatte bereits am Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Dienstag … erklärt, GKN I vorübergehend freiwil- lig abfahren zu wollen. Am gleichen Tag hatte das Herr Kollege Friedrich, erstens empfinde ich es als Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr eine Unverschämtheit, dass Sie mir vorwerfen, ich sei Baden-Württemberg mitgeteilt, dass eine Sonder- mein ganzes Leben lang ein Kernkraftlobbyist gewesen. prüfung seiner Aufsichtsbeamten an den Standorten (Rolf Hempelmann [SPD]: Er hat es nicht in Philippsburg und Neckarwestheim keine sicher- vorgeworfen, nur gesagt! – Hans-Josef Fell heitstechnischen Defizite ergeben habe. Der Be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben triebszustand der Anlagen ist nach dem Abfahren selbst gesagt, Sie wollten sich „Atom-Fuchs“ vergleichbar mit dem während einer Revision. nennen!) Das sagt die EnBW Baden-Württemberg AG. Ihr Mora- Ich habe ein Unternehmen aufgebaut und 23 Jahre lang torium bietet so viel Rechtssicherheit wie das Ruhenlas- geleitet und viele Arbeitsplätze in Deutschland geschaf- sen eines Doktortitels. fen. Ich weiß nicht, ob Sie das nachweisen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zweitens. Ich habe festgestellt, dass Sie bei EURO- DIE GRÜNEN) SOLAR aktiv sind. Das ist wohl kein Lobbyistenverein? Das ist der größte Lobbyistenverein für die unwirtschaft- Sie wollten in Baden-Württemberg mit Atomkraft lichste erneuerbare Energie, die wir in Deutschland ha- Kasse machen. Deswegen haben Sie die EnBW gekauft. ben. Jetzt tritt das Gegenteil ein: Sie wird zu einem Sanie- rungsfall. Sie hatten und haben keinen Plan B dafür, wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sie den Energiewechsel dauerhaft erreichen wollen und [SPD]: Unverschämtheit, Mis- werden. Wir haben ein Konzept dafür vorgelegt, wie wir ter Angsthase! – Bettina Hagedorn [SPD]: Die bis 2020 aus der Atomkraft aussteigen können. Wir ha- strahlt aber nicht!) ben heute Gesetzentwürfe dafür vorgelegt, wie wir den (B) (D) Energiewechsel schaffen werden. Deswegen werden wir Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: in Baden-Württemberg nach der Wahl das Handwerk, Kollege Friedrich, bitte. den Mittelstand und die Industrie an den Tisch bitten und mit einer SPD-geführten Landesregierung ein sicheres Konzept für den Energiewechsel in Baden-Württemberg Peter Friedrich (SPD): auf den Weg bringen. Herr Fuchs, ich habe nicht behauptet, dass Sie bei al- len Ihren Wortmeldungen und Zitaten in den letzten Jah- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: ren und auch bei Ihrer Rede hier eben als bezahlter Lob- Das ist doch Schwachsinn hoch fünf!) byist tätig waren. – Herr von Stetten, an Ihrer Stelle würde ich mir lieber (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Gedanken darüber machen, mit welchem Restpöstle Sie Herrn Mappus versorgen, wenn er ab Montag auf Ar- Ich habe aber völlig zu Recht behauptet: Durch all Ihre beitsplatzsuche ist, anstatt hier Zwischenrufe zu machen. Einlassungen und Ihr permanentes Störfeuer gegen er- neuerbare Energien in der Großen Koalition und jetzt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wieder wird eindeutig belegt, dass Sie politisch nur im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Interesse der Atomindustrie und für niemanden sonst ar- Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: beiten. Ministerpräsident von Baden-Württemberg!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Damit der Energiewechsel tatsächlich sicher voran- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Joachim kommt und hier nicht zurückgerudert werden kann, wer- Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar den wir in Baden-Württemberg gemeinsam mit der In- nicht!) dustrie, dem Handwerk und dem Mittelstand einen Mit dem, was Sie hier erzählen, machen Sie die Energiewechsel mit Konzept vereinbaren. Dafür brau- Glaubwürdigkeit Ihrer eigenen politischen Wende zu- chen wir einen gesetzlichen Rahmen, den wir mit unse- nichte. ren Anträgen bieten. Stimmen Sie ihnen zu, damit der Wechsel tatsächlich stattfinden kann und hier nicht nur Ich bin übrigens nicht nur Mitglied bei EUROSO- weiter heiße Luft abgesondert wird. LAR, sondern ich besitze sogar Aktien des Bürgerunter- nehmens solarcomplex AG – für 2 000 Euro. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Birgit Homburger [FDP]: Ich auch!) 11294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Peter Friedrich (A) – Kollegin Homburger auch. – Wir setzen uns also für überprüfen, nach denen wir bisher gehandelt haben. Es (C) die richtige Sache ein und sorgen dafür, dass die Ener- ist genau richtig, das jetzt zu tun. giewende vor Ort vorankommt und dass sich die Betrei- Der bekannte englische Ökonom John Maynard ber der Anlagen zur Erzeugung von erneuerbaren Ener- Keynes hat einmal gesagt: „Wenn sich die Fakten än- gien gegen die Atomkonzerne in der Fläche durchsetzen dern, ändere ich meine Meinung“. Genau darum geht es können. Ich sage Ihnen: Für diese Sache kämpfe ich sehr jetzt. Wir müssen überprüfen, ob sich bei den Kernkraft- gerne. werken in Deutschland die Fakten geändert haben. Gerade im Andenken an den verstorbenen Hermann (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Scheer – es ist noch nicht so lange her; ich weiß, dass Sie NEN]: Die haben sich geändert! Das muss auch ihn in diesem Plenum hier immer als Lobbyisten man doch nicht überprüfen!) beschimpft haben – Wenn das der Fall sein sollte, dann muss entsprechend (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: War er ja gehandelt werden. Das warten wir in Ruhe ab. Nach ei- auch!) nem Vierteljahr werden die Ergebnisse vorgelegt. Dann sage ich Ihnen: Ohne und ohne den können wir darüber reden. Mut der Parlamentarier von Rot-Grün wären wir bei den Erneuerbaren bis heute dort stehen geblieben, wo Sie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: noch immer hinwollen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegin Koczy? DIE GRÜNEN) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ja, bitte schön. Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke. – Herr Dr. Solms, Sie haben das Wort Morato- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rium gebraucht. Ich frage Sie, warum dieses Moratorium sozusagen nur bis zum nationalen Tellerrand reicht. An- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): gesichts der Tatsache, dass wir mit deutschem Geld eine Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Hermesbürgschaft für ein Atomkraftwerk in Brasilien Herren! Ich halte es allmählich für nahezu unerträglich, mit veralteter Technologie aus den 70er-Jahren gewäh- wie diese Debatte mit persönlichen, diffamierenden Vor- (B) ren, von dem bekannt ist, dass es auf labilem Untergrund (D) würfen geführt wird. steht und dass eine unabhängige Kontrolle nicht gewährt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ist, in dem Wissen, dass Brasilien das Zusatzprotokoll Volker Kauder [CDU/CSU]: So sind die zum Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, halt! – Gegenruf des Abg. Peter Friedrich frage ich Sie: Warum stehen Sie weiterhin dazu, die Her- [SPD]: Ach, Herr Kauder! – Christian Lange mesbürgschaft für Angra 3 nicht zurückzuziehen in An- [Backnang] [SPD]: So sind sie, die CDUler! betracht dessen, dass sich die Lage auch national verän- Nur noch persönliche Angriffe, wenn sie nicht dert hat? Warum sind Sie nicht bereit, das Moratorium mehr weiterwissen! – Gegenruf des Abg. auch international durchzusetzen und die Grundsatzzu- Volker Kauder [CDU/CSU]: Von mir habt ihr sage für die Hermesbürgschaft für Angra 3 zurückzuzie- noch keinen einzigen gehört!) hen? Das ist dem Ernst der Situation nicht angemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Josef Die Bundesregierung hat auf das entsetzliche Un- Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu glück in Japan schnell und angemessen reagiert. Die sie muss man wissen, dass Fukushima von der tragenden Parteien haben das unterstützt, indem sie das WestLB mitfinanziert wird!) Moratorium in Gang gesetzt haben. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): NEN]: Aber nicht Herr Brüderle! – Rolf Ich möchte in den vier Minuten meiner Redezeit die Hempelmann [SPD]: Warum sagt dann jeder Debatte nicht auf andere Themen lenken. Auch diese etwas anderes über das Moratorium?) Fragen müssen geprüft werden. – Das haben alle getan, die der Mehrheit angehören. Wir (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Der Antrag haben das Moratorium einstimmig ausgesprochen. Da- liegt vor, Herr Kollege Solms! Er steht hier zur ran gibt es nichts zu diskutieren. Debatte an!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jetzt geht es in Deutschland um die Sicherheitskriterien der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜND- für die deutschen Kernkraftwerke. Diese werden über- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus Wahltaktik!) prüft, und danach wird gehandelt. Was bedeutet denn ein Moratorium? Das heißt nichts (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der anderes, als dass man die Zeit nutzt, um die Maßstäbe zu CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11295

Dr. Hermann Otto Solms (A) Im Übrigen dreht sich der ganze Streit nur um die vielmehr geht es uns darum, den Weg zur verstärkten (C) Frage, wie wir aus der Kernenergie herauskommen. Nutzung regenerativer Energien so verantwortungsvoll, vorsorgend und schnell wie möglich einzuschlagen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Bestimmt nicht mit Hermesbürgschaften!) Der Herr Kollege Brüderle hat mit den Eckpunkten Denn alle Parteien fordern übereinstimmend, dass die eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes einen sehr Kernkraftwerke auf Dauer abgeschaltet werden. Wir alle guten Vorschlag gemacht. Es lohnt sich, gemeinsam da- definieren die Kernenergie als Brückentechnologie. Ich rüber zu reden. Diesbezüglich können wir nämlich will versuchen, die Emotionen ein bisschen zu dämpfen. Handlungsbereitschaft zeigen. Wir haben doch schon oft Der Streit dreht sich doch nur darum, wie schnell und erlebt, dass große Infrastrukturinvestitionen in Deutsch- unter welchen Voraussetzungen dies geschehen kann land eine Planungs- und Genehmigungszeit von zehn bis und durch welche Energieformen die Kernenergie er- 20 Jahren in Anspruch nehmen. setzt werden kann. Nur darum geht der Streit. Es geht (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn die Grü- nicht um die Frage „Kernenergie – Ja oder Nein?“. Diese nen dagegen protestieren, noch mal zehn!) Entscheidung ist vor 30 oder 40 Jahren gefallen. Die können Sie heute nicht mehr revidieren. Wenn daran nichts geändert wird, werden wir noch auf lange Zeit Kernenergie brauchen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Kauder [CDU/CSU]) frage? Da brauchen wir eine Handlungsinitiative, und auf diese sollten wir uns konzentrieren, statt diesen Grundsatz- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): streit auf Dauer weiterzuführen. Ich würde jetzt gerne im Zusammenhang sprechen. Ich habe nur noch anderthalb Minuten Redezeit. Im Übrigen, Herr Fell, möchte ich in Erinnerung ru- fen, dass die erste Initiative zur Einspeiseförderung 1990 Jetzt geht es darum, welche Voraussetzungen erfüllt von Wirtschaftsminister kam, sein müssen. Neben der Sicherheit – es ist klar, dass sie Vorrang hat – geht es um Wirtschaftlichkeit, Versor- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gungssicherheit und Klimaschutz. Darüber sollten wir NEN]: Nein! Nein! – Dr. Hermann Ott uns einig sein. Alle drei Rahmenbedingungen müssen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren erfüllt sein. Grüne und CDU/CSU!) (B) Wir können nicht die Kernkraftwerke abschalten und und zwar mit dem Stromeinspeisungsgesetz, das zum (D) sie durch den Import von Kernenergie ersetzen. Das ist 1. Januar 1991 in Kraft getreten ist. ausgeschlossen. Darüber sollten wir uns einig sein. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NEN]: Das kam damals schon aus dem Parla- der CDU/CSU) ment und nicht von der Regierung!) Wir können auf Dauer die Kernenergie nicht durch neue Das haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz Kohlekraftwerke ersetzen. Das geht aus Klimaschutz- fortgesetzt – keine Frage. Aber das Gesetz von Helmut gründen nicht. Auch dazu müssen Sie sich bekennen. Haussmann war die Initialzündung, und darauf haben (Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP] sowie wir das Copyright. des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Vielen Dank. Wenn wir also in das Zeitalter regenerativer Energien (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eintreten wollen, dann müssen wir die regenerativen der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Deswe- Energien so schnell wie möglich marktfähig machen. gen waren Sie auch ganz gegen das EEG! – (Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] Volker Kauder [CDU/CSU], an das Bünd- [SPD]) nis 90/Die Grünen gewandt: Ihr seid arrogante Säcke, damit das klar ist!) Dazu gehört selbstverständlich auch der Ausbau der Hochspannungsnetze, Herr Fell, die Sie ein bisschen dif- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: famiert haben, indem Sie sagten, das müsse durch die Verlegung von Erdkabeln erfolgen. Das wird nicht mög- Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- lich sein. gen Frank Schwabe.

Jetzt geht es darum, wie wir den Prozess beschleuni- Frank Schwabe (SPD): gen können. Wir stehen nicht im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Solms, ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass wenn wir die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängern; Angra 3 ein sehr komplexes Thema ist. Ich würde von (Dr. [SPD]: Ihr habt es doch der Bundesregierung gerne einmal wissen, was es dem- gemacht! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ nächst sonst noch an Bürgschaften für den Bau von DIE GRÜNEN]: Ihr habt das Gesetz nicht zu- Kernkraftwerken in anderen Ländern der Welt geben rückgezogen!) soll. 11296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Frank Schwabe (A) Sie haben gerade deutlich gemacht, dass Sie auch aus Herr Fuchs, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir (C) der Nutzung der Atomenergie heraus wollen. Ich nehme würden Angst und Panik verbreiten. an, Sie sind ebenso wie die Koalition – zumindest gibt sie das vor – gegen den Neubau von Atomkraftwerken. (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Stimmt doch Ich frage Sie: Ist es vor diesem Hintergrund vernünftig auch!) und konsequent, in Deutschland aus der Nutzung der Und was machen Sie? – Das einzige Argument, das Sie Kernenergie heraus zu wollen und den Neubau von noch haben, ist der Preis. Kernkraftwerken auszuschließen, gleichzeitig aber den Neubau von Atomkraftwerken in gefährdeten Gebieten (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das interes- in anderen Ländern durch Exportbürgschaften zu unter- siert Sie ja nicht!) stützen? Sie präsentieren hier falsche Zahlen und behaupten, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Preis sei gestiegen. Weil ich wusste, dass Sie das sagen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) würde, habe ich eine Liste der Spotmarktpreise der ver- gangenen Monate mitgebracht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Die Rednerin hält ein Schaubild hoch) Herr Kollege Solms, bitte. Anfang März, also lange vor der furchtbaren Kata- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): strophe in Fukushima, waren die Preise auf dem Spot- markt höher als jetzt. Hören Sie endlich auf, den Men- Selbstverständlich müssen diese Maßnahmen nach schen Angst zu machen. Sie schüren Panik mit den gleichen Sicherheitskriterien, wie sie für Anlagen Preisargumenten, die nicht stimmen. hier in Deutschland gelten, überprüft werden. Das alles steht unter dem gleichen Vorbehalt. Andererseits dürfen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir uns aber auch nicht als Vormund anderer Länder auf- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der spielen. Diese haben natürlich immer ihre nationale Ent- LINKEN) scheidungshoheit, die wir nicht infrage stellen dürfen. Warum sind Sie in der Defensive? Noch vor einem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten halben Jahr hat Angela Merkel von einer Revolution in der CDU/CSU) der Energieversorgung gesprochen und behauptet, das Energiekonzept sei wirklich ein Jahrhundertwerk und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: umfasse viel mehr als die Laufzeitenverlängerung. – Wir (B) Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Frak- erinnern uns! Solche Worte gehen nicht verloren. Sie ha- (D) tion Bündnis 90/Die Grünen. ben gesagt, es gehe Ihnen mit Ihrem Energiekonzept nicht nur um die Laufzeitenverlängerung. In dieser Wo- che habe ich gefragt, was aus allen anderen 60 Maßnah- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men, die Sie sofort umsetzen wollten, geworden ist. Die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Antwort darauf ist verheerend. Ressortabstimmung? Im reden momentan über die Glaubwürdigkeit der Kanzle- Sommer wird es irgendwelche parlamentarischen Ver- rin, über die Glaubwürdigkeit der Energiepolitik der Ko- fahren geben. Sie haben nichts Konkretes gemacht, au- alition und über Ihre eigene Glaubwürdigkeit, Herr ßer der Laufzeitenverlängerung. Das ist Ihr Energiekon- Brüderle. Sie haben gesagt, das Zitat, das heute in der zept. Presse steht, sei nicht von Ihnen. Gleichzeitig wollen Sie uns nicht mitteilen, was Sie gesagt haben. Das, Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Brüderle, ist nicht glaubwürdig. Wir wissen alle, dass und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Sie ein Freund der Atomwirtschaft sind und die Wirt- LINKEN) schaft beruhigen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der LINKEN) Kollegin Skudelny? Alle anderen haben Sie offenbar richtig verstanden. Die Protokollanten haben es richtig verstanden und die Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wirtschaft auch. Wenn etwa Herr Villis von EnBW sagt, Ja. nach drei Monaten werde ein neues Spiel gespielt, dann hat er Ihre Aussage absolut richtig verstanden. Stehen Judith Skudelny (FDP): Sie endlich zu dem, was Sie wirklich meinen, und versu- chen Sie nicht, die Leute mit unglaubwürdigen Ausreden Frau Höhn, ist Ihnen die Studie des Öko-Instituts im zu vergackeiern. Auftrag des WWF bekannt, wonach die Stromgeste- hungskosten nach dem jetzigen Moratorium um 10 Cent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pro Kilowattstunde steigen sollen? Diese Studie wurde und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der im Hinblick auf einen schnelleren Ausstieg aus der LINKEN – Christian Lange [Backnang] Kernenergie durchgeführt. Das Öko-Institut ist nicht ver- [SPD]: Keine Lügen mehr!) dächtig, ein Lobbyverein zu sein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11297

(A) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cherheit von Herrn Hennenhöfer zu revidieren. Das ist (C) Ich habe mir diese Studie sehr genau angeschaut. Wir die Sicherheit dieser Kanzlerin! hatten gerade ein Gespräch mit Felix Matthes darüber. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Abg. Judith Skudelny [FDP] nimmt wieder und bei der SPD) Platz) Den grün sprechenden Röttgen sehe ich überhaupt – Stehen bleiben! Sonst wird die Zeit für die Beantwor- nicht. Er taucht in der Debatte nicht auf. Grün sprechen, tung Ihrer Frage nicht auf meine Redezeit angerechnet. schwarz-gelb handeln! Er hat den Atomsicherheitsexper- ten Renneberg abgesetzt und Herrn Hennenhöfer wieder Wie gesagt, wir haben uns die Studie genau ange- eingestellt. Das ist Ihre Politik. Am Ende soll dann die schaut. Felix Matthes geht weiter. Er sagt: Wenn man Reaktor-Sicherheitskommission die Standards festlegen. sehr schnell aussteigt, noch in diesem Jahr zehn Atom- kraftwerke vom Netz nimmt und dann in den nächsten (Zuruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ Jahren die anderen, dann würde der Preis um 10 Prozent CSU]) steigen. – Ich sage Ihnen: Die großen Energiekonzerne – Herr Pfeiffer, wer ist denn in der Reaktor-Sicherheits- haben – weil sie das Monopol innehaben – gerade nach kommission und in den Arbeitsgruppen vertreten? Dort der Laufzeitenverlängerung die Preise nur in einem Jahr finden wir die Vertreter von Areva, EnBW, Eon und an- um 7,5 Prozent erhöht – Sie dagegen haben behauptet, deren Kraftwerksbetreiber. Die Betreiber sollen über die dass die Preise sinken werden –, obwohl die Kosten ge- Sicherheit ihrer eigenen Kraftwerke bestimmen. So sieht sunken sind. Das ist Ihre Politik: Laufzeitenverlänge- das Sicherheitskonzept dieser schwarz-gelben Regierung rung und höhere Preise! Das ist das Ergebnis der Politik aus. Das machen wir nicht mit; denn das ist keine Si- von Schwarz-Gelb. cherheit für die Bevölkerung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Es und bei der SPD) sind aber 10 Prozent, nicht 10 Cent! Man muss Am Ende will ich noch etwas zu dem Vorwurf sagen, wenigstens lesen können!) Grüne seien immer gegen den Netzausbau. – Genau. (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihr seid gegen (Judith Skudelny [FDP]: Ich lese im Vergleich alles!) zu anderen! – Gegenruf des Abg. Ulrich Das ist der letzte Vorwurf, der Ihnen noch geblieben ist. Kelber [SPD]: 2 000 Prozent!) Schauen wir uns einmal die Daten der Bundesnetzagen- (B) (D) tur an! Ich verweise auf den Monitoringbericht 2010. Es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gibt 24 Projekte im vordringlichen Bedarf, wir haben Frau Kollegin, Sie haben das Wort. zehn Projekte, bei denen es Probleme gibt, und wir ha- ben drei Projekte, gegen die es Bürgerproteste gibt. Pro- teste gegen die Konzepte dieser drei Projekte, gegen die Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): es Bürgerproteste gibt, kommen nicht nur von den Grü- Danke schön. – Nun zur Sicherheit. Sie behaupten, nen, sondern auch von allen anderen Parteien. Deshalb dass es nur Ihnen um Sicherheit geht. Herr Brüderle hat sage ich: Lasst uns doch gemeinsam überlegen, wer gerade gesagt: Sicherheit geht vor. – Angela Merkel hat wirklich den Netzausbau verhindert. Das sind nämlich gesagt: Sicherheit steht über allem; im Zweifel für Si- die Betreiber, die nicht wollen, dass die erneuerbaren cherheit, darauf können sich die Menschen verlassen. – Energien stärker ins Netz einspeisen. Das ist der Punkt. Ich will deutlich machen, was Angela Merkel selbst, als sie von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin war, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN punkto Sicherheit gemacht hat. Wer war damals für die und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Sicherheit der Atomkraftwerke zuständig? Das war der LINKEN) Abteilungsleiter Hennenhöfer. Was hat Herr Hennenhöfer in der Zeit, als Angela Merkel Umweltministerin war, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gemacht? Ich stelle nur einen Punkt von den vielen Ver- Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. werfungen, für die er verantwortlich ist, und der Lob- byarbeit, die er für die Atomkraft geleistet hat, heraus. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er hat damals gegen den massiven Widerstand der grü- Ja, ich komme zum Ende. – Deshalb schlagen wir nen Umweltministerin in Sachsen-Anhalt die Verstür- Grüne einen Fahrplan vor: Wir wollen in der nächsten zung von Atommüllfässern in Morsleben umgesetzt. Legislaturperiode raus aus der Nutzung der Atomkraft. Alle erinnern sich sicherlich noch an die Bilder, wie der Wir wollen den Ausstieg endgültig machen, wir wollen Bagger die Atommüllfässer einfach hinunterkippt. Alles Ihnen von CDU und FDP jede Möglichkeit nehmen, den ohne jegliche Sorgfalt! Das hat Herr Hennenhöfer durch- Ausstieg wieder zurückzunehmen. Wir wollen das mit gesetzt. Die Lagerung von Atommüll der Kraftwerksbe- Energieeffizienz und mit den erneuerbaren Energien er- treiber in Morsleben war nicht rechtens. Die Sicherheit reichen. von Herrn Hennenhöfer und dieser Kanzlerin ist nichts anderes als Unsicherheit. Nun muss der Staat für Mors- Wir haben einen Antrag vorgelegt – der ist hier mehr- leben über 2 Milliarden Euro aufbringen, um die Unsi- fach erwähnt worden –, der die Hermesbürgschaften für 11298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bärbel Höhn (A) Angra 3 in Brasilien betrifft. Heute können Sie durch Ihr Schritt in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ge- (C) Stimmverhalten deutlich machen: Es gibt keine Milliar- macht haben. Sie haben nämlich nichts dafür getan, dass den mehr aus Deutschland für den Bau eines Atomkraft- die Netze in Deutschland so ausgebaut werden, dass der werks in einem Erdbebengebiet. – Das stellen wir zur Strom möglichst rasch zu den Verbrauchern gelangt. Abstimmung. Ich hoffe, Sie stimmen dem zu. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Danke schön. CSU] – Peter Friedrich [SPD]: Herr, schmeiß Kompetenz vom Himmel!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir stehen – damit wende ich mich dem Energiekon- LINKEN) zept der Bundesregierung zu – auch vor der technologi- schen Herausforderung, wie wir die notwendige Ener- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: giespeicherkapazität schaffen, um die erneuerbaren Das Wort hat nun Kollege Franz Obermeier für die Energien auch dann verfügbar zu haben, wenn wir den CDU/CSU-Fraktion. Strom tatsächlich brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: neten der FDP) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer Grünenkollegin, die ich, weil sie so weit weg sitzt, nicht Franz Obermeier (CDU/CSU): erkenne? Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wie die Debatte jetzt geführt wird, hat im Prinzip mit der Über- Franz Obermeier (CDU/CSU): schrift relativ wenig zu tun. Es geht um die zukünftige Das ist Frau Nestle. Energieversorgung in Deutschland. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wir haben Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dazu Anträge vorgelegt!) Richtig, wunderbar. Vor dem Hintergrund der Wahl am kommenden Sonntag in Baden-Württemberg möchte man keine Chance unge- Franz Obermeier (CDU/CSU): nutzt lassen, um den amtierenden Ministerpräsidenten in Mit Vergnügen, Frau Nestle. Misskredit zu bringen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind nicht (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sagen Sie doch et- so kurzsichtig wie der Brüderle! Der hat mich (B) was zu den Gesetzentwürfen und Anträgen!) vorhin mit Gabriel verwechselt!) (D) Deswegen sprach auch der Generalsekretär der SPD von – Der hat Sie nur in Umrissen gesehen. Baden-Württemberg hier, wenn auch relativ fachunkun- dig. Aber das spielt keine Rolle. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Danke, Herr Obermeier. – Sie sprachen gerade davon, Peter Friedrich [SPD]: Wer hat das Recht, so dass wir Grünen noch nie etwas für den Ausbau der etwas zu beurteilen? – Oliver Krischer Stromnetze getan hätten. Abgesehen von der Tatsache, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso spricht dass wir als einzige Fraktion ein umfassendes Konzept der Umweltminister nicht?) für den Ausbau der Stromnetze vorgelegt haben, frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass es im Moment zu über Es geht um die Frage: Wie erfüllen wir die klassi- 90 Prozent an den Verteilnetzen liegt, wenn erneuerbare schen Vorgaben des Energiekonzepts der Bundesregie- Energien nicht abtransportiert werden können, dass wir rung so, dass sie mit den ökonomischen Belangen unse- seit vielen Jahren dafür kämpfen, diese Verteilnetze res Landes, also mit unseren ureigensten Interessen, in schnell, bürgerfreundlich und unterirdisch zu bauen, und Einklang gebracht werden können? Heute früh gab es zwar zu fast keinen Mehrkosten, und dass insbesondere schon eine Veranstaltung mit Stephan Kohler von der die Union seit Jahren dagegen kämpft, diese bürger- dena. Er hat uns dringend nahegelegt, dass wir uns dem freundliche Lösung umzusetzen, mit der wir schon Effizienzkriterium, das auch im Energiekonzept der längst die Netze hätten, die wir brauchen, und dann fast Bundesregierung eine ganz zentrale Rolle spielt, ver- nichts mehr abgeregelt würde? stärkt zuwenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Ulrich Kelber [SPD]: Deshalb habt ihr um Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Geld spielt ja 60 Prozent gekürzt!) keine Rolle!) Das ist eine Anregung, die wir wirklich ernst nehmen sollen. Wir sollen natürlich auch die Frage der Poten- Franz Obermeier (CDU/CSU): ziale der erneuerbaren Energien intelligent diskutieren. Frau Nestle, vielleicht sollten wir uns im Wirtschafts- Es nutzt nämlich nichts, wenn man blindlings die Wind- ausschuss einmal darüber unterhalten, wo denn die energie ausbaut, aber nicht dafür sorgt, dass das Produkt Widerstände gegen eine unterirdische Verlegung von Strom von dort weggeleitet wird. Die Schau, die Sie hier 110-kV-Leitungen tatsächlich liegen. Aus meinem Wahl- abziehen, soll nur überdecken, dass Sie einen falschen kreis ist mir kein einziger Fall bekannt, bei dem die un- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11299

Franz Obermeier (A) terirdische Verlegung einer 110-kV-Leitung gescheitert davon aus, dass die Kernkraftwerke in Deutschland von (C) wäre. einem Tsunami bedroht sind. Aber Tatsache ist, Frau Nestle, dass wir in Deutsch- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie mal land bei den Höchstspannungsübertragungsnetzen seit was von Forsmark gehört?) Jahren die allergrößten Probleme haben. Ich erinnere Sie an den Fall in Schleswig-Holstein, in dem über zehn Vizepräsidentin Petra Pau: Jahre Prozesse hinsichtlich der Genehmigung und des Baus einer Höchstspannungsübertragungsleitung geführt Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage der Kol- wurden und nach zehn Jahren der Antragsteller aufgege- legin Menzner? ben hat. Das sind unsere Probleme. Franz Obermeier (CDU/CSU): In all den Jahren, in denen wir die Problematik schon kennen – die dena hat zweifelsfrei festgestellt, dass wir Der Frau Kollegin Menzner? Bitte schön. 3 600 Kilometer neue Höchstspannungsübertragungslei- tungen brauchen –, sind in Deutschland ganze 19 Kilo- Dorothee Menzner (DIE LINKE): meter verlegt worden. Das sind unsere Probleme. Herr Kollege Obermeier, Sie betonten eben, dass aus Was die 110-kV-Leitungen betrifft, sollten Sie mir Ihrer Sicht die Verhältnisse von Japan nicht eins zu eins einmal sagen, wo denn Schwierigkeiten bestehen. Kon- auf Deutschland zu übertragen sind. Das mag ja richtig kret gefragt: Wo gibt es Anträge, die nicht genehmigt sein, aber die Japaner sehen sich mit einer Situation kon- wurden? Dann gehen wir der Geschichte gern nach. frontiert, mit der sie nicht gerechnet haben. Stellen Sie in Abrede, dass auch in Deutschland uns heute vielleicht Ich war bei der Frage: Wie schaffen wir den Übergang noch sehr unwahrscheinlich anmutende Ereignisse ein- unter Beachtung des Kriteriums der Versorgungssicher- treten könnten, die eine ähnliche Situation provozieren heit? Kolleginnen und Kollegen, da müssen wir schon könnten? Ich denke zum Beispiel an einen Flugzeugab- zusammenstehen. Wenn es um Genehmigungen geht sturz – verschiedene AKW sind in Einfluggebieten –, – sei es für 110-kV-Leitungen, sei es für Höchstspan- einen länger andauernden Stromausfall – das ist sicher nungsleitungen –, verlange ich von den Kolleginnen und auch nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich –, Kollegen dieses Hauses, dass sie die Anträge dann auch der dann möglicherweise Auslöser für ähnliche Pro- vor Ort begleiten mit dem Ziel, dass die Leitungen mög- bleme ist. lichst umweltverträglich geplant und gebaut werden, so- dass wir nicht den Vorwurf bekommen, dass wir im fer- (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) (B) nen Berlin die Gesetze machen, vor Ort aber mit den (D) Demonstranten gegen die Leitungen auf die Straße ge- hen. Franz Obermeier (CDU/CSU): ( [CDU/CSU]: Das ist leider Liebe Kollegin Menzner, genau mit diesen Themen Realität!) möchte ich mich in den restlichen drei Minuten befas- sen. Das geht nicht, Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen ganz genau, warum ich das eindeutig in eine Richtung (Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Dann kann sage. ich mich ja setzen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Bitte, Sie dürfen sich setzen. Jetzt will ich noch ein Wort zu den scharfen Aus- Eine Eins-zu-eins-Übertragung der Verhältnisse von einandersetzungen über die Kernenergie und über die Japan auf Deutschland ist mit Sicherheit nicht zulässig. Laufzeitverlängerung im Energiekonzept der Bundesre- Dennoch sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht, gierung sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Op- das kerntechnische Regelwerk unter dem Eindruck des- position, bitte tun Sie nicht so, als wären die Verhält- sen, was in Japan passiert ist, zu überdenken, zu ergän- nisse, die in Japan zu der extremen Situation geführt zen und die Dinge einzuarbeiten, die wir aus der Erfah- haben, eins zu eins auf Mitteleuropa und auf Deutsch- rung von Japan heraus noch nicht eingearbeitet haben. land übertragbar! Dabei rede ich ganz konkret von folgenden Fragen: (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das sagt auch Wie sind unsere Kernkraftwerke gegen Erdbeben gesi- keiner!) chert? Wie sieht es mit der Notstromversorgung aus? Noch konkreter: Wie ist die Notwasserversorgung in Dem ist nicht so, dem speziellen Fall in unseren Kernkraftwerken berech- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das hat keiner net? gesagt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kein Mensch, Herr Obermeier!) Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen heute nicht sagen, welches Ergebnis diese Untersuchung zeitigen es sei denn, Sie würden erklären, dass Sie bei uns mit ei- wird. Man wird sich auch über die Frage unterhalten nem Tsunami und einer Welle von 13 Meter Höhe rech- müssen, mit welchen Erdbebenwerten auf der Richter- nen. Nach meinem Sicherheitsbedürfnis und meiner Ein- skala wir in Kontinentaleuropa und mit welchem ent- schätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit gehe ich nicht sprechenden Sicherheitszuschlag wir zu rechnen haben. 11300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Franz Obermeier (A) Diese Fragen werden wir in den nächsten drei Mona- Ulrich Kelber (SPD): (C) ten ganz explizit und in aller Ruhe und Sachlichkeit erör- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und tern. Dann wird es ein Ergebnis geben, und dann wird Herren! Die Plauderrunden deutscher Wirtschaftsver- entschieden, welche kerntechnischen Anlagen den Si- bände werden immer mehr zum deutschen WikiLeaks cherheitsanforderungen entsprechen und welche nicht. der Energiepolitik. Im Spätherbst plauderte dort ein Deswegen ist das Philosophieren über die Frage, was ein RWE-Vorstand aus, dass es einen Geheimvertrag zwi- dreimonatiges Moratorium bedeutet, für meine Begriffe schen der Bundesregierung und den Atomkonzernen völlig fehl am Platz. gibt, der erst mit deutlicher Verspätung der Öffentlich- keit präsentiert wurde. Es ist klug, in diesem Zusammenhang nicht panikhaft und hysterisch zu agieren, sondern die Dinge sachlich (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Den es und richtig zu analysieren und dann vernünftig zu ent- nicht gab!) scheiden. Jetzt lernen wir, was es, wie der Bundeswirtschafts- (Beifall bei der CDU/CSU) minister am 14. März dort ehrlich sagte, mit dem soge- nannten Moratorium auf sich hat. Natürlich ist das Pro- Frau Höhn, mit den Worten „panikhaft“ und „hyste- tokoll nicht fehlerhaft. Ich glaube, die Mehrheit der risch“ habe ich auch Sie gemeint. Das ist mir eingefal- Bevölkerung ist der festen Überzeugung, dass dieses len, als Sie gesprochen haben. Ich will Ihnen sagen: Protokoll der Wahrheit entspricht. Wenn man in drei Monaten nicht fertig wird, lässt sich das Moratorium ohne Weiteres verlängern. Es könnte ja So schön es ist, dass die Wahrheit immer ans Licht sein, dass wir aus irgendwelchen Gründen in drei Mona- kommt, Herr Pfeiffer, so groß ist das Misstrauen, das ten die notwendigen Erkenntnisse aus Japan nicht prä- durch solche Meldungen, durch solches Verhalten in der sent haben. Bevölkerung gegenüber der Politik entsteht. Der Deut- sche Bundestag könnte aber heute wieder Vertrauen zu- Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir im Detail rückgewinnen und der klaren Mehrheitsposition der relativ wenig wissen über die Ursachen dafür, was ge- deutschen Bevölkerung, die ja zu drei Vierteln will, dass rade in Japan passiert ist. Es müsste uns aber schon inte- die Atomkraftwerke zügig abgeschaltet werden, zum ressieren, was konkret die Ursache war. Vor allem Durchbruch verhelfen. Um das zu ermöglichen, legen müsste uns der sicherheitstechnische Unterschied zwi- wir heute den Entwurf eines Abschaltgesetzes zur Ab- schen den jetzt kaputten Anlagen in Japan und unseren stimmung vor. Um das zu ermöglichen, legen wir ein Anlagen interessieren. Das möchte ich auch in Form ei- Programm für eine Energiewende vor. Darüber können (B) ner Synopse dargestellt haben. Das Moratorium lässt Sie heute abstimmen, ganz konkret und ohne jegliche (D) sich also verlängern. Ausflüchte. Frau Höhn, wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass das, (Zuruf des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/ was jetzt schon läuft und auf uns zukommt, eine Preis- CSU]) steigerung für den Stromverbraucher zur Folge hat? Wollen Sie das bestreiten? Nein. Das dürfen Sie nicht In dem Abschaltgesetz geht es um die Rücknahme der bestreiten. Laufzeitverlängerung und die sofortige und dauerhafte Abschaltung der ältesten sieben Atommeiler und des Eines ist doch klar: Wenn das Angebot verknappt Pannenreaktors in Krümmel. Zur Ehrlichkeit gehört wird, dann steigt der Preis für die Nachfrager. Das ist auch dazu, zu sagen, was bei der Anhörung zur Laufzeit- eine Regel, die auch Sie kennen sollten. verlängerung zur Sprache kam. Ich schaue gerade Herrn Kauch, den Sprecher der FDP, der ja nach mir redet, und (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Dött von der CDU/CSU an, die ja beide dabei wa- Offensichtlich ist nichts knapp, sonst wäre der ren. Bei dieser Anhörung war klar, dass Sie ohne jegli- Preis hochgegangen!) che Sicherheitsüberprüfung die Laufzeitverlängerung von acht Jahren für die ältesten Atomkraftwerke durch- Wir legen den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Kern- setzen werden. In dieser Anhörung, die Sie ja zeitlich be- kraftwerke, weil wir die Ängste unserer Bürgerschaft grenzt haben, indem Sie die Debatte mit geschäftsord- ernst nehmen. nungswidrigen Tricks beendet haben, war auch klar, dass die Notstromversorgung in Forsmark und in Krümmel Herzlichen Dank. nicht durch einen Tsunami, sondern durch andere Vor- (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange kommnisse außer Kraft gesetzt wurde. Dort war klar, [Backnang] [SPD]: Abwählen! Abschalten!) dass laut einem von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit vorgelegten Gutachten verschiedene deutsche Atomkraftwerke nicht mehr auf die modernsten Vizepräsidentin Petra Pau: Sicherheitsstandards hochzurüsten sind. In der Sachver- Das Wort hat der Kollege Kelber für die SPD-Frak- ständigenanhörung war auch klar, dass bei vielen Kraft- tion. werken eine Redundanz der Notstromversorgung nicht gegeben ist, kein Schutz vor terroristischen Angriffen (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU: besteht, Notfallwarten fehlen und bei allen älteren Reak- Jetzt kommt der Cheflobbyist!) toren die Abklingbecken, die jetzt in Japan ein großes Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11301

Ulrich Kelber (A) Problem darstellen, außerhalb des Sicherheitsbereichs Deutschland braucht keine Regierung, die Geheim- (C) dieser Kraftwerke liegen. verträge in Kungelrunden abschließt, Moratorien ausruft und Kommissionen einberuft, nur um über Landtags- Zwischen Bundesminister Röttgen, der am Anfang wahlen hinwegzukommen. Deutschland braucht keine nicht da war, dann eine kurze Stippvisite unternommen Regierung, die erneuerbare Energien und Energieeffi- hat, wieder gegangen ist und jetzt wieder hereingekom- zienz blockiert. Deutschland braucht ein selbstbewusstes men ist, um seine Sachen zu packen, Parlament, das seine Aufgabe wahrnimmt. Das heißt: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zustimmung zum Abschaltgesetz und Rückkehr zur Reden darf er auch nicht!) Energiewende. und der Sicherheit in Atommeilern verhält es sich ja wie Vielen Dank. bei Und täglich grüßt das Murmeltier. Jetzt hat er an die (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Presse ein Papier gegeben, in dem den Betreibern von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Atomkraftwerken stahlharte Auflagen gemacht werden. Im Spätherbst gab es schon einmal ein Papier, das die Kosten für Nachrüstungen der bestehenden Atomkraft- Vizepräsidentin Petra Pau: werke auf 50 Milliarden Euro beziffert hat. Der Kollege Kauch hat für die FDP-Fraktion das Wort. Was ist herausgekommen? 500 Millionen Euro zahlt die Industrie pro Reaktor, für den Rest sollen die Steuer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zahlerinnen und Steuerzahler im Notfall aufkommen. Michael Kauch (FDP): Herausgekommen ist auch, dass es keine Liste mit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will den erforderlichen Nachrüstungen gibt und dass teil- mich gar nicht mit den Halbwahrheiten und Unwahrhei- weise bis zu zehn Jahre, also über die Restlaufzeit hi- ten beschäftigen, die Herr Kelber hier verbreitet hat, weil naus, notwendige Nachrüstungen aufgeschoben werden ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger es inzwi- können. schen leid sind, dass die Abgeordneten sich in den De- Herausgekommen ist auch eine Verwässerung der batten der letzten zwei Wochen hier nur wechselseitig Vorschriften im Atomgesetz, die Wegnahme des Klage- vorwerfen, was sie denn versäumt, gemacht oder ver- rechts für Anwohner und der Stopp des aktualisierten meintlich nicht gemacht haben. Wir sollten uns jetzt da- über Tausend Seiten umfassenden Sicherheitskonzepts, rum kümmern, wie wir mit der Situation umgehen, vor des sogenannten kerntechnischen Regelwerks, indem es der wir stehen. (B) vom Minister und dem Atomlobbyisten, der vom Minis- Klar ist für diese Koalition: Wir wollen den Weg in (D) ter als oberster Atomaufseher eingestellt wurde, außer das Zeitalter der Erneuerbaren gehen. Die Kernkraft war Kraft gesetzt wurde. und ist nur Brückentechnologie. Einen solchen Unterschied zwischen Reden und Han- Diese Debatte können wir aber nicht führen, ohne ei- deln nennt man, mit Verlaub, Frau Präsidentin, politische nen Blick auf den Klimaschutz und die Versorgungssi- Hochstapelei. cherheit zu richten. Es kann nicht sein, dass wir diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Debatte führen, ohne auch nur einen Moment darüber DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nachzudenken, welche Auswirkungen die Anträge, die LINKEN) die Opposition hier vorlegt, für den Klimaschutz haben. Im letzten Jahr haben Sie gesagt, Klimaschutz habe Prio- In einem zweiten Antrag haben wir in 40 Punkten rität. Jetzt ist Klimaschutz für Sie völlig egal. Das ist aufgelistet, was jetzt getan werden muss, um die Ener- nicht redlich, meine Damen und Herren. giewende wieder einzuleiten. Es geht um Netzausbau, um Energiesparen, um die Ermöglichung von Investitio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nen durch Stadtwerke bis hin zur Gebäudedämmung. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Lesen Sie unseren Antrag! – Gegenruf Wir erinnern uns: Sie haben in den letzten 16 Mona- des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: ten nicht nur die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlän- Auch das gehört zur Wahrheit!) gert, Sie haben auch die Markteinführung von Minikraft- Das Hochfahren der Kohle- und Gaskraftwerke ver- werken gestoppt, Fernwärme höher besteuert, das schärft die Problematik, unsere Klimaschutzziele zu er- Marktanreizprogramm für Erneuerbare zusammengestri- reichen. chen, die Mittel für das Gebäudedämmungsprogramm, das Sie, Herr Obermeier, gerade als eine wichtige Maß- Dennoch gilt: Fukushima hat die Lage geändert. Si- nahme bezeichnet haben, auf die Sie sich konzentrieren cherheit muss neu gedacht werden. Gleiche Risiken wollen, um 60 Prozent gekürzt und waren auch völlig müssen anders bewertet werden als zuvor. untätig beim Netzausbau. So sieht die Realität der letz- ten 16 Monate aus. Deswegen ist es die gemeinsame Aufgabe aller, die nicht den Bürgerinnen und Bürger vorspielen, man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ könne morgen die Kraftwerke abschalten, die Sicher- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der heitsreserven unserer Kraftwerke zu erhöhen, schärfere LINKEN) Sicherheitsanforderungen nach dem Moratorium zu ver- 11302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Michael Kauch (A) abschieden und deutlich zu machen, dass die Kraft- halt ist das Moratorium nicht ohne Auswirkungen, (C) werke, die nicht nachgerüstet werden können oder bei meine Damen und Herren. denen das wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, abgeschaltet (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) werden. Dies prüfen wir während des Moratoriums. Das ist glaubwürdige Politik, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Heil das Wort. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Reak- (Beifall bei der SPD) toren – ob es nun diese sind oder andere, die momentan weiterlaufen – nicht den Sicherheitsanforderungen, die Hubertus Heil (Peine) (SPD): wir neu definieren werden, entspricht, dann müssen wir Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- uns heute darauf vorbereiten, wie wir schneller in das legen! Herr Brüderle und Herr Kauch, die Glaubwürdig- Zeitalter der erneuerbaren Energien kommen und wie keit ist nur theoretisch sehr einfach wiederherzustellen, wir gegebenenfalls ein befristetes Hochfahren von fossi- wenn man sie einmal verloren hat. Es geht um das alte len Kraftwerken an anderer Stelle ausgleichen können. Motto: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man (Rolf Hempelmann [SPD]: Klimaschutz!) sagt. Wenn man Glaubwürdigkeit verspielt hat – das ha- ben Sie –, ist das zu beachten, was Ihnen die frühere Bi- Ganz klar ist, dass wir bei den erneuerbaren Energien schöfin Margot Käßmann geraten hat. Sie hat in Bezug nicht allein ein Mengenproblem haben. Selbst wenn wir auf Ihren Zickzackkurs in der Atompolitik gesagt, es so große Anreize setzten, dass die Kapazitäten von er- würde ihr persönlich – ich glaube, auch vielen Bürgerin- neuerbaren Energien hochgefahren würden, kämen sie nen und Bürgern in diesem Land – Respekt abnötigen momentan bei diesem Netz nicht zum Verbraucher und und zu mehr Glaubwürdigkeit führen, wenn Sie wenigs- wären in diesem Netz nicht stabil anbindbar. tens einmal den Mut hätten, zu sagen, dass Sie im Herbst Deshalb müssen wir den Engpass für die erneuerba- letzten Jahres falsche Entscheidungen getroffen haben, ren Energien beseitigen, indem wir Netze ausbauen und die jetzt zu korrigieren sind. Diesen Mut haben Sie nicht. Speicher fördern. Das ist das Gebot der Stunde. Sie eiern herum. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem der CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auf der Grundlage der Meine Damen und Herren, beim Netzausbau geht es Erkenntnisse war die Entscheidung richtig!) auch um die Planungszeiten. Es kann doch nicht sein, (B) (D) dass es bei Stromtrassen teilweise Genehmigungszeiten – Können Sie das bitte wiederholen? von acht Jahren gibt. Ich will gar nicht darüber diskutie- (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auf der ren, wie viel davon auf Protest zurückgeht, wie viel auf Grundlage der Erkenntnisse war die Entschei- zu wenige Beamte in den Ländern und wie viel auf den dung richtig! Dazu stehe ich! – Gegenruf des rechtlichen Rahmen, den der Bund ändern kann. Eines Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE ist aber klar: Genehmigungszeiten von acht Jahren gehen GRÜNEN]: Wiederholen Sie das noch einmal nicht. An dieser Stelle müssen Bund und Länder zusam- für das Protokoll! – Christian Lange [Back- menarbeiten. Genau diese Frage werden wir im nächsten nang] [SPD]: Ganz laut für das Protokoll!) Monat mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer besprechen müssen. – „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, hat einmal ein deutscher Politiker gesagt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Brüderle, meine Damen und Herren von der Ko- der CDU/CSU) alition, ich sage in aller Deutlichkeit, dass das, was die Süddeutsche Zeitung heute berichtet hat, der Wahrheit Vizepräsidentin Petra Pau: entspricht: Sie, Herr Brüderle, haben an dem Tag, an Achten Sie bitte auf die Zeit, Kollege Kauch. dem Frau Merkel das Moratorium verkündet hat, das Ganze in internen Runden gegenüber der deutschen Michael Kauch (FDP): Wirtschaft als irrationales Wahlkampfmanöver bezeich- Meine Damen und Herren, Folgendes ist ebenfalls net. Sie können hier nicht so tun, als sei das ein Proto- klar – ich sage das auch sehr deutlich in Richtung der kollfehler; das glaubt Ihnen kein Mensch. Bundesregierung; auch der Bundesfinanzminister muss Die Debatte heute hat gezeigt – im Unterschied zu erkennen, dass wir eine veränderte Lage haben –: Wenn den Demutsschauspielereien der letzten Woche, die Sie wir mehr Gas im Stromsektor brauchen, müssen wir bei an den Tag gelegt haben –, dass Sie schon jetzt versu- der Gebäudesanierung vorankommen, damit weniger chen – die Rede von Herrn Obermeier war ein Beleg da- Gas für Heizzwecke verbraucht wird. für –, die Ereignisse in Japan zu relativieren. Sie beach- (Zurufe von der SPD: Hui!) ten nicht, dass es nicht nur die Vorfälle in Japan gab, sondern auch die Vorfälle in Tschernobyl, 1979 auf Das bedeutet, dass wir das Gebäudesanierungspro- Three Mile Island bei Harrisburg, später in Forsmark gramm in einem größeren Umfang finanzieren müssen, 2007. Die Vorfälle ereigneten sich also auch in hochin- als es bisher vorgesehen ist. Auch für den Bundeshaus- dustrialisierten Hightechländern wie Schweden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11303

Hubertus Heil (Peine) (A) Meine Damen und Herren, Tatsache ist: Sie schaffen Hubertus Heil (Peine) (SPD): (C) es nicht, den Menschen in Deutschland ein X für ein U Wenn ich meinen Gedanken noch beenden darf, sehr vorzumachen. Sie können noch so sehr versuchen, sich wohl, Herr Otto. herauszureden: Sie waren es, die die Restlaufzeiten auch alter, unsicherer Schrottreaktoren um acht Jahre verlän- gern wollten. Sie sollten einmal die Traute haben, hier Vizepräsidentin Petra Pau: im Deutschen Bundestag zu bekennen: Ja, wir haben uns Das wird Ihnen nicht gelingen. Herr Otto wird gleich geirrt. Dann kann man hier weiterreden. Ihre Redezeit verlängern, die demnächst abläuft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Dann dringend Herr Otto, bitte schön. Ich will eines zur Legendenbildung bei der CDU/ CSU sagen. Sie haben im Herbst letzten Jahres das außer (Heiterkeit) Kraft gesetzt, was die Bundesminister Jürgen Trittin und auf den Weg gebracht haben: die Überar- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): beitung des kerntechnischen Regelwerks. Unser Ziel war Ich verlängere gern Ihre Redezeit, Herr Kollege Heil. es, nicht nur den geordneten Ausstieg zu organisieren, sondern auch die Sicherheitsanforderungen für die noch Helfen Sie mir bei Ihrer Argumentation, die lautet, im Netz befindlichen Reaktoren auf den Stand von Wis- die Ereignisse in Japan hätten erwiesen, dass das Ener- senschaft und Technik der Jetztzeit zu bringen und sie giekonzept dieser Bundesregierung falsch sei und dass nicht auf dem Stand der 60er- und frühen 70er-Jahre zu wir allein Fehler gemacht hätten. Das ist das Mantra Ih- belassen. rer Rede. (Birgit Homburger [FDP]: Wir haben es ge- Erklären Sie mir bitte Folgendes: Wenn wir die Lauf- macht und Sie haben es nicht gemacht! Das ist zeitverlängerung nicht beschlossen hätten, wären dann die Wahrheit!) die sieben Meiler, die wir jetzt abgeschaltet haben, im Es waren Bundesminister Röttgen und sein Abteilungs- Rahmen des Konzepts, das Sie vorher verabschiedet hat- leiter, die dafür gesorgt haben, dass dieser Weg ausge- ten, vom Netz, ja oder nein? setzt wurde. Sie könnten das kerntechnische Regelwerk Erklären Sie mir bitte vor diesem Hintergrund: Was sofort wieder in Kraft setzen, wenn Sie denn wollten. hat die Katastrophe in Japan, die wir sehr ernst nehmen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit der Laufzeitverlängerung, die wir im Herbst be- (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlossen haben, zu tun? Entweder erkennen wir, dass (D) alle Kernkraftwerke unsicher sind. Dann müssen sie un- Herr Brüderle, ich will mich mit den wirtschaftlichen abhängig vom Zeitpunkt, zu dem sie errichtet worden Auswirkungen Ihrer komplett gescheiterten Energiepoli- sind, vom Netz genommen werden. Wenn aber die Mei- tik beschäftigen. Für uns alle müsste eigentlich das Ziel ler sicher sind und die Sicherheitsüberprüfung tatsäch- sein, eine sichere, saubere, tragfähige und bezahlbare lich keine neuen Erkenntnisse liefert, frage ich Sie: Wo Energieversorgung für unser Land, für den Industrie- ist der Zusammenhang zwischen Japan und der Verlän- standort Deutschland, zu sichern. Das, was Sie im gerung der Laufzeiten? Herbst mit der Laufzeitverlängerung, der Verlängerung der Restlaufzeiten alter, abgeschriebener Atommeiler, (Ulrich Kelber [SPD]: Wo ist der Zusammen- gemacht haben, hat nicht erst nach der Katastrophe in Ja- hang in Ihrer Rede?) pan zu Folgendem geführt: zu Investitionsstillstand und – Das ist eine konkrete Frage, die auch beantwortet wird. Attentismus. Es ist Tatsache, dass Sie den Großkonflikt wieder aufgerissen haben, der die Republik 30 oder Damit kein Missverständnis aufkommt, Herr Kollege 40 Jahre lang gespalten hat und den Rot-Grün befriedet Heil, sage ich: Japan gibt uns Anlass zum Nachdenken. hat. Das hat dazu geführt, dass keiner mehr so richtig wusste, wo es langgeht. (Zurufe von der SPD: Ach so!) Die EVU, denen zuliebe Sie das gemacht haben, Aber das hat doch nichts mit der Laufzeitverlängerung wussten zwar, dass ihr Oligopol verfestigt wird, haben zu tun, verdammt noch einmal. aber kurzfristig den Fehler gemacht, die Dollarzeichen (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in den Augen wichtiger zu nehmen als die langfristige DIE GRÜNEN) Entwicklung. Aber auch diese Unternehmen mussten da- mit rechnen, dass es Klagen vonseiten des Bundesrates Wenn unsere Kernkraftwerke aufgrund neuer Er- und der Fraktionen dieses Hauses geben würde, mit dem kenntnisse unsicher sind, sind sie abzuschalten. Das hat Ergebnis, dass keiner genau weiß, was läuft. Keiner nichts mit der Frage des Energiekonzeptes zu tun. weiß, wie 2013 die Bundestagswahlen ausgehen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Doch! Doch!) Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Frage des Kolle- Diese Logik erschließt sich mir nicht. Vielleicht können gen Otto? Sie mir dabei etwas nachhelfen. 11304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Erstens. Wir müssen zum geordneten Ausstieg aus (C) Geschätzter Kollege Otto, ich bedanke mich ganz der Atomkraft auf klarer Rechtsgrundlage und nicht mit herzlich für diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegen- windiger §-19-Begründung heit gibt, Aufklärung in Ihren Reihen zu leisten und mit (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das einigen Mythen aufzuräumen, die bewusst verbreitet habe ich nicht gesagt!) werden. zurückfinden. Deshalb: zurück zum rot-grünen Atom- Erstens. Die Laufzeitverlängerung ist natürlich eine konsens! Risikoverlängerung erster Güte; das ist gar keine Frage. Sie haben die Laufzeiten der alten Reaktoren, die Sie in Mit Blick auf den Atomkonsens müssen wir sagen, Ihrem Moratorium nun für drei Monate vom Netz neh- wo wir hinwollen, nicht nur, wo wir herausmüssen. Da- men wollen, um sage und schreibe acht Jahre pro Reak- bei geht es um Energieeffizienz, Energiesparen, moderne tor verlängert. Sie haben also Druckwasserreaktoren der Energieproduktion und erneuerbare Energien. alten Baulinien aus den 70er-Jahren verlängert. Herr Otto, die Vertreter Ihrer Fraktion und Sie als Staatssekretär versuchen immer, die Grünen und andere Gleichzeitig hat Ihr Bundesumweltminister, der ei- so ein bisschen in die Ecke zu stellen – Herr Brüderle hat gentlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist, das auch mit der SPD versucht, ohne dass er dafür einen (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nachweis erbringen konnte –, indem Sie sagen, sie seien NEN]: Wo ist er überhaupt?) gegen Pumpspeicherkraftwerke und Netzausbau. Herr Brüderle, ich empfehle Ihnen: Reden Sie einmal mit dem auf Druck der Atomlobbyisten im Zusammenhang mit Landtagskandidaten der FDP aus dem Hotzenwald in der Laufzeitverlängerung das kerntechnische Regel- Baden-Württemberg, der auch gegen dieses Pumpspei- werk, das die Standards für die Sicherheit von Atom- cherkraftwerk ist. Reden Sie mit CDU- und FDP-Kom- kraftwerken und für ihren Betrieb festlegt, abgelehnt und munalpolitikern, die gegen den Netzausbau sind. So bil- damit die Regelung der Betriebsgenehmigung vom lig will ich es mir gar nicht machen. Aber ich verstehe Tisch gewischt. eines nicht: Warum können Sie nicht begreifen, dass die Akzeptanz des Projektes, das wir gemeinsam wollen – es Sie haben nichts für die Sicherheit getan, sondern das geht um den Ausbau von Hochspannungsleitungen und waren Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel. Sie haben sie Verteilernetzen –, steigen würde, wenn die Menschen die mit diesem Atomkonsens vom Tisch gewischt. Deshalb Sicherheit hätten, dass das zum geordneten Ausstieg aus müssen Sie sich Folgendes zurechnen lassen: Wir hätten der Atomkraft führt? Dann hätten auch die Befürworter die sieben Altmeiler und das Kraftwerk Krümmel vom des Ausbaus bessere Argumente. Dass Sie diesen Zu- (B) (D) Netz genommen. Heute sehen Sie, dass das richtig und sammenhang nicht erkennen, halte ich für kurzsichtig. notwendig ist. (Beifall bei der SPD) Herr Staatssekretär, Sie müssen die Frage beantwor- Herr Otto, ich gebe Ihnen noch ein Argument mit auf ten, ob Sie das eigentlich dauerhaft oder nur für drei Mo- den Weg – Sie sind wie ich Wirtschaftspolitiker; in ein- nate machen wollen. Das könnten Sie der deutschen Öf- zelnen Bereichen sind wir unterschiedlicher Auffassung –: fentlichkeit sagen. Wie Sie diese Planungsunsicherheit hinsichtlich der not- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wendigen Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] und erneuerbare Energien herbeiführen konnten, das [SPD]: Und zwar noch vor der Landtagswahl!) werden Sie sich anrechnen lassen müssen. Ich sage es noch einmal: Kehren Sie zurück auf den Weg der Ver- Herr Otto, Sie müssen zweitens zur Kenntnis nehmen: nunft! Nichts Halbgares und keine Volten schlagen vor Wir haben mit dem Energiekonsens den geordneten Aus- Landtagswahlen! Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeit stieg aus der Atomkraft organisiert, und wir haben die und einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft. Wir Regeln für den Betrieb von Kernkraftwerken verschärft. brauchen ein neues Energiekonzept, das Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik und erneuerbare Energien Sie haben die Regeln vom Tisch genommen, die vorsieht. Das wäre Wirtschaftspolitik aus einem Guss. schon für Probebetrieb, Aufsicht und Genehmigung gal- Das wäre etwas anderes als der Dilettantismus und die ten. Sie haben gleichzeitig – Sie müssen begründen, wa- Klientelpolitik, die Sie hier an den Tag gelegt haben, rum Sie das getan haben – die Restlaufzeiten für alte, ab- Herr Otto. Sie können sich wieder setzen. geschriebene Atommeiler verlängert. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Sie können sich dabei noch so sehr herausreden, aber Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE die deutsche Öffentlichkeit wird Ihnen diesen Eiertanz GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: nicht abnehmen. Deshalb biete ich Ihnen Folgendes an Das war sehr arrogant, Herr Kollege! – Gegen- – wir kennen uns aus anderer Zusammenarbeit, Herr ruf des Abg. Christian Lange [Backnang] Otto, und schätzen uns durchaus –: Für dieses Land ist [SPD]: Das war eine Tatsache!) ein Energiekonsens notwendig, der über mehrere Legis- – Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen. laturperioden und Regierungswechsel halten sollte. Das bieten wir Ihnen mit den heutigen Anträgen unter zwei (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Schlimm ge- Prämissen an. nug!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11305

Hubertus Heil (Peine) (A) An dieser Stelle geht es um die Sache, lieber Herr Kol- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) lege. Das, was passiert ist, ist viel zu ernst, als dass Sie Die Klimaskeptikerin!) das hier einfach so abtun könnten. 68 Prozent der Men- Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist schen in Deutschland würden keinen Pfifferling darauf nicht akzeptabel. setzen, dass Sie es mit diesem ominösen Moratorium ernst meinen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wegen der Rechtsgrundlage sollten Sie einmal in das Es besteht keine Gefahr für die Bürger in unserem Land. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Unsere Kernkraftwerke sind sicher. schauen. Den Artikel „Par ordre du mutti“, (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Mufti!) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen gibt es auch ein Moratorium!) per Anweisung der Bundeskanzlerin, finden Sie dort nicht. Die Energieversorgungsunternehmen bereiten die Ihre Methode – gute Kernkraftwerke unter Rot-Grün, Klagen schon vor, die sie nach der Landtagswahl gegen schlechte unter Schwarz-Gelb; gute Castortransporte un- das einbringen werden, was Sie jetzt rechtswidrig ma- ter Rot-Grün, schlechte unter Schwarz-Gelb – ist billig chen. Deshalb sage ich: Schaffen Sie eine klare Rechts- und erzeugt bei den Bürgern nur Kopfschütteln. grundlage für den geordneten Ausstieg. Wir legen heute (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Entwurf eines Ausstiegsgesetzes vor. Helfen Sie mit, neten der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Ihre damit wir in Deutschland die modernste Energieversor- Rede erzeugt bei Ihrer eigenen Fraktion Grau- gung bekommen, mit erneuerbaren Energien, mit effi- sen!) zienten Kraftwerken und mit Energiesparen. Kommen Sie den Bürgern jetzt doch nicht mit dem Spruch, dass Sie alles schon immer gewusst haben. Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: haben in Ihrer Regierungszeit kein Kraftwerk wegen Si- Herr Kollege Heil. cherheitsbedenken abgeschaltet. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hubertus Heil (Peine) (SPD): Röttgen darf nicht reden, aber Frau Dött! Das Sauber, sicher und bezahlbar – dafür stehen wir. ist die CDU!) Chaos ist Ihre Sache. Wären die Kraftwerke nicht sicher gewesen, wären Sie Herzlichen Dank. verpflichtet gewesen, die Anlagen abzuschalten. (B) (D) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie haben es nicht getan. Sie haben das Gegenteil ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: macht: Sie haben Ihren Ausstiegsbeschluss damals da- Die Kollegin Marie-Luise Dött hat das Wort für die durch erkauft, dass Sie auf zusätzliche Investitionen in CDU/CSU-Fraktion. die Sicherheit der Kraftwerke schriftlich verzichtet ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben. (Widerspruch bei der SPD und dem Marie-Luise Dött (CDU/CSU): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Sie haben geredet, aber nicht gehandelt. So sieht rot- Lichte der schlimmen Ereignisse in Japan führen wir grüne Sicherheitskultur aus. eine sehr intensive Diskussion über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland; das ist richtig. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Ereignisse in Japan lassen ein Weiter-so nicht zu. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Dött, möchten Sie Herrn Kelber die Gelegenheit Warum machen Sie dann weiter so?) zu einer Zwischenfrage geben? Aber was passiert jetzt in Deutschland? Wir erleben eine hemmungslose Instrumentalisierung der Ereignisse Marie-Luise Dött (CDU/CSU): in Japan durch die Opposition für die Durchsetzung ihrer Nein, vielen Dank. – Sosehr uns alle die Bilder aus ideologiegetriebenen Energiepolitik. Japan bewegen: Kehren Sie zu einer sachlichen Diskus- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sion zurück! Das, was in Japan passiert ist, kann und Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird für uns nicht folgenlos bleiben. NEN]: Herr Brüderle hat das instrumentali- (Peter Friedrich [SPD]: Aha! Ihre Rede war siert! Der hat das sogar zu Protokoll gegeben!) aber bisher nicht so!) Wir erleben eine bewusste Verunsicherung der Bürger Wir müssen – hören Sie zu! – neu bewerten und mit er- unseres Landes, um alte Feindbilder und überholte Poli- gänzenden Maßnahmen prüfen. Genau das tun wir jetzt. tikkonzepte von Rot-Grün zu neuem Leben zu erwe- Wir werden die Sicherheitsannahmen zu Erdbebengefah- cken. ren, zu den Auswirkungen von Hochwasserereignissen, 11306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Marie-Luise Dött (A) zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels, zu ter- An dem zentralen Ansatz unseres Konzepts, den Über- (C) roristischen Angriffen, zu Cyberattacken und zu mögli- gang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien mög- chen Gefahren von Flugzeugabstürzen genau prüfen. lichst schnell zu vollziehen, wird nicht gerüttelt. Im Wir werden insbesondere auch die Wirkungen eines Gegenteil: Wir werden diesen Übergang weiter be- möglichen Zusammentreffens verschiedener Scha- schleunigen. densereignisse prüfen. Und wir werden die technische (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Situation in den Kraftwerken genau analysieren – zum Noch?) Beispiel wie die Strom- und Notstromversorgung sowie die externe Infrastruktur ausgelegt sind – und prüfen, Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze wie robust sie bei Schadensereignissen sind. Gründlich- und Speicherkapazitäten beschleunigen. Wir werden ge- keit in der Analyse und Konsequenz im Handeln – das rade auch bei der Erhöhung der Energieeffizienz für ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die Bürger schnelle Fortschritte sorgen. Dafür werden wir in den verlassen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste Pri- nächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen und orität. sehr konkrete Vorhaben auf den Weg bringen. Ein Bei- spiel dafür ist das bereits vorgelegte Eckpunktepapier für Genau weil das so ist, haben wir sofort gehandelt. Wir ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz. haben aus Vorsorgegründen die älteren Kraftwerke vom Netz genommen. Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen – „Atomzeitalter beenden – Energiewende jetzt“ –, geht (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mit manchen Vorschlägen durchaus in die richtige Rich- Ich denke, die sind so sicher!) tung. Aber Sie laufen nicht nur mit dem Titel des An- trags den Ereignissen hinterher; Sie werden nicht wieder ans Netz gehen, bis wir genau wissen, ob sie neuen, noch strengeren Sicherheitskrite- (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Rolf Hempelmann rien gerecht werden. [SPD]: Wer läuft hier hinterher?) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und dann mun- die Energiewende läuft bereits, und wir werden sie in ter weiter!) den nächsten Monaten noch beschleunigen. Wenn Kraftwerke diese neuen, noch strengeren Kriterien (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nicht erfüllen, müssen sie nachgerüstet werden, oder sie der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zick- gehen nicht wieder ans Netz. zack! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn gemacht au- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oder schön ßer Laufzeitverlängerung?) (B) weiter!) (D) Meine Damen und Herren von der SPD, Sie laufen mit Das gilt natürlich auch für die Kraftwerke, die nach 1980 Ihrem schnell zusammengezimmerten Gesetzentwurf ans Netz gegangen sind. Auch diese Kraftwerke werden zur Stilllegung von Atomkraftwerken den Grünen ge- nach den gleichen Kriterien geprüft. nauso hilflos hinterher wie den Linken beim Mindest- lohn. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind sie denn jetzt sicher oder nicht? Warum Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn überprüfen Sie die denn dann, wenn die so si- Sie es mit der Energiewende ernst meinen, dann wird es cher sind?) endlich Zeit, dass Sie sich daran beteiligen. Hören Sie auf, in Berlin lauthals die Energiewende zu fordern und So sieht verantwortlicher Umgang mit Kernenergie aus. sich dann vor Ort bei jedem Streit in die Büsche zu schlagen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Moment mal! Wo machen wir das?) Die in Deutschland in den nächsten drei Monaten stattfindenden Sicherheitsüberprüfungen aller deutschen und jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau nach Kraftwerke sind ein wichtiger Schritt. Aber die Sicher- dem Mund zu reden. Es wird Zeit, dass Sie für die not- heit der Kernkraft ist gerade auch eine europäische Auf- wendigen Stromtrassen werben, statt vor Ort Bürgerini- gabe. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen in tiativen dagegen zu initiieren. Brüssel reichen nicht aus. Die Teilnahme aller Staaten (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE und die Prüfung nach einheitlichen, strengen Kriterien GRÜNEN]: Schauen Sie doch mal, wer vor sind erforderlich. Die Bundeskanzlerin wird dieses Ort dagegen ist! – Bärbel Höhn [BÜND- Thema mit Nachdruck in Brüssel verfolgen. Sie hat auch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Informieren Sie sich dabei unsere volle Unterstützung. mal, Frau Dött!) Die ergebnisoffene Sicherheitsüberprüfung aller deut- Stellen Sie sich nicht scheinheilig hinter Forderungen schen Kernkraftwerke kann dazu führen, dass wir unser nach Erdverkabelung. Energiekonzept nachjustieren müssen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gehen Sie mal (Rolf Hempelmann [SPD]: Am besten in die beichten! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE Tonne werfen!) GRÜNEN]: Sagen Sie mal die ganzen Bei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11307

Marie-Luise Dött (A) spiele, wo Bürger sich wehren! Und zwar im- heim ausgehandelt worden. Er war von vornherein von- (C) mer mit der CDU zusammen!) seiten der Regierung öffentlich gemacht worden; auch das ist ein Unterschied zu Ihnen. Sie haben daraus zitiert Reden Sie mit den Menschen über die Kosten und reden und behaupten, dass der Satz, man wolle die Sicherheits- Sie mit ihnen über die Auswirkungen hinsichtlich Bo- philosophie für Atomkraftwerke beibehalten, belegt, denversiegelung und Landschaftsbild. Wo sind denn da dass Rot-Grün auf zusätzliche Sicherheitsauflagen ver- Ihr ökologisches Gewissen, Frau Höhn, und Ihr umwelt- zichtet hatte. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich nicht den politischer Sachverstand? nächsten Absatz gelesen haben. Vielleicht haben Sie ein- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fach nur etwas abgelesen, das Ihnen andere aufgeschrie- Wo ist denn Ihr Sachverstand? Sie wissen doch ben haben. gar nicht, worüber Sie reden, Frau Dött!) Im nächsten Absatz wird die Pflicht zu periodischen Sagen Sie den Bürgern endlich ehrlich, dass Sonne und Sicherheitsüberprüfungen von Atomkraftwerken erst- Wind den Strom nicht umsonst liefern, dass erneuerbare mals in Deutschland eingeführt; dies findet sich dann Energien zwar richtig, aber noch teuer sind. auch im entsprechenden Gesetz. Das ist das, was Sie (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: jetzt tun. Bei diesen periodischen Sicherheitsüberprüfun- Atomkraftwerke sind teuer für die Bevölke- gen – es sollen übrigens nicht in drei Monaten rung! Morsleben über 2 Milliarden Euro! 17 Atomkraftwerke überprüft werden, sondern man soll Asse! Das ist teuer!) sich ein bis zwei Jahre in allen Details um ein einziges kümmern – werden alle Sicherheitsaspekte betrachtet. Reden Sie nicht vormittags über die Notwendigkeit der Dann wird das anhand des seit 1973, seit dem Kalkar- Speicherung der erneuerbaren Energien, wenn Sie am Urteil, verfassungsrechtlich festgelegten Prinzips Nachmittag zur Demonstration gegen neue Pumpspei- „Nachrüstung nach dem Stand von Wissenschaft und cherkraftwerke gehen. Technik“ nachvollzogen. Haben Sie diesen Absatz gele- sen? Hören Sie jetzt endlich auf, die Unwahrheit – eine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bewusste Unwahrheit kann man mit vier Buchstaben Frau Dött. auch anders bezeichnen – zu wiederholen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Marie-Luise Dött (CDU/CSU): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rolf Führen Sie mit uns und den Bürgern endlich eine ehr- Hempelmann [SPD]: Das „ü“ ist ein Buch- liche Diskussion darüber, wie der Wirtschaftsstandort stabe!) Deutschland mit einem verlässlichen, bezahlbaren und (B) (D) klimaverträglichen Energiemix gesichert und gestärkt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wird. Frau Dött zur Reaktion. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch sowieso nur die Interessen der (Peter Friedrich [SPD]: Letzte Chance!) Wirtschaft vertreten! Das haben Sie doch sel- Dann habe ich noch eine Kurzintervention des Kollegen ber gesagt!) Lenkert. Ich komme zu meinem letzten Satz. Treten Sie end- lich für einen gesellschaftlichen Konsens des Anpackens Marie-Luise Dött (CDU/CSU): ein und organisieren Sie nicht ständig den des Still- Herr Kelber, vielen Dank, dass Sie besonders darauf stands. hingewiesen haben, dass es wichtig ist, sich diese Ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schnitte sehr genau anzuschauen. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! – Peter Friedrich [SPD]: Peinlich!) (Peter Friedrich [SPD]: Dann machen Sie mal! – Ulrich Kelber [SPD]: Genau! Zitieren Sie voll- ständig!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention der Kollege Kelber. Sie haben angesprochen, dass ich als letzte Rednerin verschiedene Punkte thematisiert habe. Es hat mir be- Ulrich Kelber (SPD): sonders viel Freude gemacht, als letzte Rednerin noch Frau Kollegin Dött, Sie müssen mit sich selber aus- einmal zusammenfassen, um welche Debatte es hier machen, ob Sie es in Ordnung finden, als letzte Rednerin überhaupt geht in einer Debatte auf kein einziges Argument Ihrer Vor- (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch nur ab- rednerinnen und Vorredner einzugehen, sondern stoisch gelesen, was vorher aufgeschrieben wurde!) eine Rede abzulesen, die Beschimpfungen der anderen enthält. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. und mit welcher Thematik wir uns hier beschäftigen. Aber eines ist nicht in Ordnung – das kann jeder, der Zurzeit ist es so, Herr Kelber, dass wir aufgrund der uns zuhört oder das Protokoll liest, selbst überprüfen –: schrecklichen Ereignisse in Japan, des Erdbebens und Der Vertrag des Jahres 2000, der zum Atomkonsens ge- des Tsunami, neue Erkenntnisse haben und einiges führt hat, ist öffentlich nachzulesen. Er ist auch nicht ge- wahrscheinlich neu beurteilen müssen. Dies wollen wir 11308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Marie-Luise Dött (A) auf unsere Sicherheitsvorstellungen hinsichtlich unserer Meine zweite Frage betrifft ebenfalls das Thema (C) Kraftwerke anwenden. Preise. Herr Kurth von der Bundesnetzagentur stellte fest, dass die Strompreise in diesem Jahr um 0,5 bis (Ulrich Kelber [SPD]: Nach dem Stand von 1 Cent pro Kilowattstunde hätten gesenkt werden kön- Wissenschaft und Technik!) nen, weil die Spotpreise an der Leipziger Strombörse um Danach wollen wir entscheiden, was gemacht werden über 2 Cent gesunken sind. Die EEG-Umlage stieg um muss, damit wir weiterhin sagen können: Unsere Kraft- 1,5 Cent. Es kam aber flächendeckend zu Preiserhöhun- werke sind sicher. gen, und zwar mit der Begründung: EEG-Umlage. Sind nicht auch Sie der Meinung, dass wir an dieser Stelle Wenn es aufgrund irgendwelcher Nachrüstungen, von eine staatliche Preisaufsicht benötigen, um die Gewinn- denen wir jetzt noch nichts wissen, so wäre, dass sich macherei im Schatten der erneuerbaren Energien mit der das Ganze nicht rechnet und die Kraftwerke vom Netz Behauptung, erneuerbare Energien seien an allem gehen müssten, dann würde dies in der Konsequenz be- schuld, zu begrenzen? deuten, dass wir andere Voraussetzungen unserem Ener- Als Letztes zu Ihrer Aussage, dass der Klimaschutz giekonzept zugrunde legen müssten, wenn es darum von der Opposition nicht ernst genommen würde. Ges- geht, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu errei- tern lagen im Umweltausschuss drei Anträge der Opposi- chen. Diese anderen Voraussetzungen müssten dann be- tion vor, die darauf zielten, verbindliche Klimaschutz- wertet werden. Man müsste sich, da Kernkraftwerke ziele für die Bundesrepublik und die EU festzuschreiben. CO -frei sind, beispielsweise fragen: Wie können wir 2 Alle drei haben FDP und CDU/CSU abgelehnt. unsere Klimaziele erreichen? Können wir Kernkraft- werke einfach ersetzen? Dazu habe ich von Ihnen nur sehr wenig gehört. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Dött. Sie wollen auch aus der Nutzung der Kohle ausstei- gen. Wir brauchen aber eine grundlastfähige Energie, um Marie-Luise Dött (CDU/CSU): in Deutschland Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Herr Lenkert, ich habe gesagt, dass die erneuerbaren All die Fragen, die damit verbunden sind, werden wir Energien noch teuer sind. Sie wissen selbst: Wenn man nach dem Moratorium, nachdem wir die Überprüfung investiert, kostet das eine ganze Menge. Es gibt Investi- durchgeführt haben, beantworten und dann sehr schnell tionszyklen. Investitionen bringen erst dann etwas, wenn handeln. Denn die Ereignisse in Japan und die schreckli- sie abgeschrieben sind. Bei erneuerbaren Energien brau- chen Bilder haben uns vor Augen geführt, dass wir sehr chen wir ein ganz anderes Netz, um die Energie zum schnell – so schnell es möglich ist – aussteigen sollten. Bürger, vor allen Dingen aber zum Mittelstand und zur (B) Das werden wir verwirklichen. (D) Industrie zu liefern. Von daher habe ich gesagt: noch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir werden das machen. Wir müssen aber die Preise im der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Zu Ihrem ma- Auge behalten. nipulierten Zitat sagen Sie nichts? Erst falsch Wie Sie wissen, werden zurzeit Umfragen durchge- zitieren und dann nichts dazu sagen, das ist führt, in denen die Bürger gefragt werden: Wie viel mehr peinlich! – Gegenruf des Abg. Dr. Joachim wären Sie zu zahlen bereit, wenn wir aus der Kernkraft Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach! Sie sind viel pein- aussteigen würden? Im Schnitt würden die Bürger im licher! – Peter Friedrich [SPD]: Schamesröte Jahr etwa 15 Euro mehr für Strom zahlen. Es geht aber wäre angebracht!) nicht nur um den Endverbraucher, um den Bürger, son- dern es geht auch um die Frage: Behalten wir unsere In- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dustrie in Deutschland? Wenn man kein ausgewogenes Herr Lenkert, bitte. Energiekonzept hat, stellt sich auch die Frage: Behalte ich die Arbeitsplätze in Deutschland oder nicht? Ralph Lenkert (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Danke, Frau Präsidentin. – Frau Dött, ich habe ein der FDP) paar Fragen zu Ihrer Rede. Sie machten indirekt darauf aufmerksam, dass erneuerbare Energie viel mehr Geld Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kostet. Sie sprachen ohnehin nur von Kosten. Wir haben Damit schließe ich die Aussprache. gestern im Umweltausschuss – Sie waren anwesend – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf über den Leitfaden für erneuerbare Energien diskutiert. den Drucksachen 17/5181, 17/5202, 17/5179, 17/5180 Darin wurde die Feststellung getroffen, dass bei Investi- und 17/5182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie tionen von 800 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050 im in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einver- Vergleich zur jetzigen Energiepolitik ein zusätzlicher standen. Dann ist das so beschlossen. Gewinn von 660 Milliarden Euro zu erwarten ist. Da stellt sich mir die Frage: Warum gehen wir hier nicht Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Abstim- schneller vor? Dies entspricht in zehn Jahren übrigens mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/ Investitionen von etwa 200 Milliarden Euro. Das war Ih- Die Grünen zur Änderung des Energiewirtschaftsgeset- nen die Bankenrettung in nur zwei Jahren wert. Für eine zes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- sichere Zukunft wäre das angebracht. fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11309

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Drucksache 17/5148, den Gesetzentwurf auf Drucksache sischen Republik über den Güterstand der (C) 17/3182 abzulehnen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf Wahl-Zugewinngemeinschaft zustimmen wollen, bitte ich um ihr Handzeichen. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent- – Drucksache 17/5126 – wurf in zweiter Beratung bei Zustimmung von Bünd- Überweisungsvorschlag: nis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Dagegen Rechtsausschuss (f) haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Fraktion der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend SPD hat sich enthalten. Eine dritte Beratung entfällt c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- dementsprechend. gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes Tagesordnungspunkt 4 c. Wir setzen die Abstimmung zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für – Drucksachen 17/5127, 17/5201 – Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5148 Überweisungsvorschlag: fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Finanzausschuss Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3649 mit dem Titel d) Erste Beratung des von der Bundesregierung „Die Energieversorgung in kommunaler Hand“. Wer eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Bundesrepublik Deutschland und dem Com- ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und monwealth der Bahamas über die Unterstüt- FDP. Dagegen hat die SPD gestimmt. Linke und zung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Informationsaustausch Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- – Drucksache 17/5128 – fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Überweisungsvorschlag: Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3671 mit dem Ti- Finanzausschuss (f) tel „Energienetze in die öffentliche Hand – Kommunali- Rechtsausschuss sierung der Energieversorgung erleichtern – Transparenz e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- und demokratische Kontrolle stärken“. Wer stimmt für gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – kommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bun- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die desrepublik Deutschland und dem Fürstentum Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Die übri- Monaco über die Unterstützung in Steuer- und gen Fraktionen haben dafür gestimmt. (B) Steuerstrafsachen durch Informationsaus- (D) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der tausch Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf – Drucksache 17/5129 – Drucksache 17/5183 mit dem Titel „Keine Hermesbürg- schaften für Atomtechnologien“. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag: Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Antrag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen. f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Re- NEN]: Das ist ja nicht zu fassen! – Zuruf von gierung der Bundesrepublik Deutschland und der SPD: Da kommt es heraus! – Peter der Regierung der Kaimaninseln über die Un- Friedrich [SPD]: Das wird jetzt auch noch mit terstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen Steuergeldern unterstützt!) durch Informationsaustausch Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie – Drucksache 17/5130 – 33 h bis k und 24 sowie Zusatzpunkt 8 a und b auf: Überweisungsvorschlag: 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Finanzausschuss (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- Rechtsausschuss sung der Vorschriften über den Wertersatz bei h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Widerruf von Fernabsatzverträgen und über Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard verbundene Verträge Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 17/5097 – der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Manuel Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der FDP b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zu der Mitteilung der Kommission an das Eu- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- ropäische Parlament und den Rat Auf dem kommen vom 4. Februar 2010 zwischen der Weg zu einer verstärkten europäischen Kata- Bundesrepublik Deutschland und der Franzö- strophenabwehr: die Rolle von Katastrophen- 11310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) schutz und humanitärer Hilfe 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip (C) (KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10) Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre- gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes Europäischen Betriebsräten umsetzen über die Zusammenarbeit von Bundesre- – Drucksache 17/5184 – gierung und Deutschem Bundestag in Überweisungsvorschlag: Angelegenheiten der Europäischen Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Union Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Katastrophenabwehr in Europa effektiv ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union stalten ZP 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weite- – Drucksache 17/5194 – rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbes- Auswärtiger Ausschuss serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – Sportausschuss Finanzierung langfristig sichern Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 17/5185 – Überweisungsvorschlag: i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, Finanzausschuss weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung LINKE Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge – Drucksache 17/5177 – Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Schutz vor militärischem Fluglärm Finanzausschuss (B) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 17/5206 – (D) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Ausschuss für Gesundheit Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer Ab- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver- GRÜNEN einfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesord- für Leistungen der Integrationsfachdienste er- nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie möglichen damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. – Drucksache 17/5205 – Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 34 a bis q. Überweisungsvorschlag: Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tagesordnungspunkt 34 a: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes k) Beratung des Antrags der Abgeordneten zu dem Abkommen vom 20. August 2009 zwi- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, schen der Bundesrepublik Deutschland und Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppelbür- ger Gleiches Rentenrecht in Ost und West – Drucksache 17/4810 – – Drucksache 17/5207 – Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi- Überweisungsvorschlag: gungsausschusses (12. Ausschuss) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss – Drucksache 17/5068 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11311

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Berichterstattung: Lastenausgleichs und zur Änderung des Auf- (C) Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) bauhilfefondsgesetzes (ZEALG) Fritz Rudolf Körper – Drucksache 17/4807 – Paul Schäfer (Köln) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Agnes Malczak schusses (7. Ausschuss) Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be- – Drucksache 17/5086 – schlussempfehlung auf Drucksache 17/5068, den Gesetz- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4810 Berichterstattung: anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf zustim- Abgeordnete Manfred Kolbe men? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- (Essen) entwurf ist angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Die Linke. Die übrigen Fraktionen haben dafür ge- gemäß § 96 der Geschäftsordnung stimmt. – Drucksache 17/5087 – Dritte Beratung Berichterstattung: und Schlussabstimmung. Wer dem zustimmen möchte, Abgeordnete Norbert Barthle den bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – (Erfurt) Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in drit- Otto Fricke ter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Alexander Bonde Tagesordnungspunkt 34 b: Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5086, den Gesetzent- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4807 in von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs der Ausschussfassung anzunehmen. Wer diesem Gesetz- eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom entwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Hand- 16. April 2009 über die Änderungen des Über- zeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Das ist in einkommens vom 5. September 1998 zwischen zweiter Beratung einstimmig angenommen. der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- Dritte Beratung land, der Regierung des Königreichs Däne- (B) mark und der Regierung der Republik Polen und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher (D) über das Multinationale Korps Nordost bitte auf? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig an- – Drucksache 17/4809 – genommen. Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi- Tagesordnungspunkt 34 d: gungsausschusses (12. Ausschuss) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 17/5084 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Juli 2010 zwischen Berichterstattung: der Bundesrepublik Deutschland und den Ver- Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) einigten Arabischen Emiraten zur Vermei- Lars Klingbeil dung der Doppelbesteuerung und der Steuer- Elke Hoff verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Paul Schäfer (Köln) Einkommen – Drucksache 17/4806 – Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5084, den Gesetz- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4809 schusses (7. Ausschuss) anzunehmen. Hier gibt es nur zwei Lesungen. Ich bitte – Drucksache 17/5186 – diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Berichterstattung: gen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Frak- Abgeordnete Manfred Kolbe tion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen ha- Dr. Birgit Reinemund ben zugestimmt. Dr. Thomas Gambke Tagesordnungspunkt 34 c: Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5186, den Gesetzent- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4806 an- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zunehmen. Wer möchte für den Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Zahlung von Entschä- stimmen? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- digungsleistungen bei der Anrechnung des setzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der 11312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Frak- sung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf (C) tionen angenommen. zustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Dritte Beratung in zweiter Beratung einstimmig angenommen. und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher Dritte Beratung bitte auf? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- setzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen und Schlussabstimmung. Wer dafür ist, erhebe sich bitte. – Stimmverhältnis wie vorher angenommen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenom- Tagesordnungspunkt 34 e: men. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Tagesordnungspunkt 34 g: regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Durchführung der Verordnung (EG) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehender gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Aus- und Durchführungsbestimmungen auf über die vorläufige Durchführung unmittelbar dem Gebiet des internationalen Unterhaltsver- geltender Vorschriften der Europäischen Union fahrensrechts über die Zulassung oder Genehmigung des In- verkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln – Drucksache 17/4887 – – Drucksache 17/4985 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- – Drucksache 17/5240 – cherschutz (10. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 17/5199 – Abgeordnete Berichterstattung: Stephan Thomae Abgeordnete Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Süßmair Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Friedrich Ostendorff empfehlung auf Drucksache 17/5240, den Gesetzent- (B) wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4887 in Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (D) der Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte dem Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Gesetzentwurf zustimmen? – Gegenstimmen? – Enthal- lung auf Drucksache 17/5199, den Gesetzentwurf der tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- Bundesregierung auf Drucksache 17/4985 anzunehmen. stimmig angenommen. Wer möchte dafür stimmen? – Wer ist dagegen? – Ent- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung Dritte Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung und Schlussabstimmung. Erheben mögen sich bitte die- der übrigen Fraktionen angenommen. jenigen, die zustimmen wollen. – Wer ist dagegen? – Dritte Beratung Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Tagesordnungspunkt 34 f: Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Stimmverhältnis wie vorher angenommen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Tagesordnungspunkt 34 h: Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrs- gesetzes und anderer Gesetze Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu – Drucksache 17/4144 – dem Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung den Abschluss des Übereinkommens über die (15. Ausschuss) internationale Geltendmachung der Unter- – Drucksache 17/5169 – haltsansprüche von Kindern und anderen Fa- milienangehörigen durch die Europäische Ge- Berichterstattung: meinschaft Abgeordnete Kirsten Lühmann KOM(2009) 373 endg.; Ratsdok. 12265/09 Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- – Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241 – lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5169, den Gesetzentwurf der Bundesre- Berichterstattung: gierung auf Drucksache 17/4144 in der Ausschussfas- Abgeordnete Ute Granold Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11313

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Dr. Eva Högl Tagesordnungspunkt 34 k: (C) Stephan Thomae Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Raju Sharma ausschusses (2. Ausschuss) Ingrid Hönlinger Sammelübersicht 235 zu Petitionen Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5241, in Kenntnis der – Drucksache 17/5060 – Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktio- Tagesordnungspunkt 34 l: nen und Die Linke, dagegen hat die SPD-Fraktion ge- stimmt, enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 34 i: Sammelübersicht 236 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 17/5061 – richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu- Bericht der Kommission an den Rat, das Eu- stimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD. ropäische Parlament, den Europäischen Wirt- Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grü- schafts- und Sozialausschuss und den Aus- nen haben sich enthalten. schuss der Regionen Tagesordnungspunkt 34 m: Anwendung der Richtlinie 2004/48/EG des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates vom Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte ausschusses (2. Ausschuss) des geistigen Eigentums Sammelübersicht 237 zu Petitionen (inkl. 5140/11 ADD 1) (ADD 1 in Englisch) – Drucksache 17/5062 – KOM(2010) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242 – tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange- (B) nommen. (D) Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 34 n: Abgeordnete Ansgar Heveling Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Stephan Thomae ausschusses (2. Ausschuss) Raju Sharma Sammelübersicht 238 zu Petitionen Ingrid Hönlinger – Drucksache 17/5063 – Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- empfehlung auf Drucksache 17/5242, in Kenntnis der tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage- Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer gen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, die übri- stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- gen Fraktionen dafür. gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen und Tagesordnungspunkt 34 o: die SPD-Fraktion gestimmt, dagegen hat Bündnis 90/ Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Die Grünen gestimmt, Die Linke hat sich enthalten. ausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- Sammelübersicht 239 zu Petitionen titionsausschusses. – Drucksache 17/5064 – Tagesordnungspunkt 34 j: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls angenom- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- men. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt, die ausschusses (2. Ausschuss) übrigen Fraktionen waren dafür. Sammelübersicht 234 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 34 p: – Drucksache 17/5059 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Sammelübersicht 240 zu Petitionen tungen? – Diese Sammelübersicht ist einstimmig ange- nommen. – Drucksache 17/5065 – 11314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Chancen nutzen – Jugendfreiwilligendienste (C) tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Ge- stärken genstimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt. Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abge- Tagesordnungspunkt 34 q: ordneter und der Fraktion DIE LINKE Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen ausschusses (2. Ausschuss) statt Bundesfreiwilligendienst einführen Sammelübersicht 241 zu Petitionen – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abge- – Drucksache 17/5066 – ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- GRÜNEN tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu- stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen auf den Weg bringen – Quantität, Qualität gestimmt. und Attraktivität steigern Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 28 a und b – Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, 17/4845, auf: 17/3436, 17/5249 – a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Berichterstattung: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Abgeordnete Markus Grübel zur Einführung eines Bundesfreiwilligendiens- Dr. Peter Tauber tes Sönke Rix Florian Bernschneider – Drucksache 17/4803 – Heidrun Dittrich Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Kai Gehring ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein (13. Ausschuss) Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. – Drucksache 17/5249 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Berichterstattung: Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich (B) Abgeordnete Markus Grübel keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (D) Dr. Peter Tauber Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel für die CDU/ Sönke Rix CSU-Fraktion das Wort. Florian Bernschneider Heidrun Dittrich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kai Gehring neten der FDP)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Markus Grübel (CDU/CSU): richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frauen und Jugend (13. Ausschuss) Heute ist ein denkwürdiger Tag. Wir fassen heute – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Beschlüsse von historischer Tragweite. Nach über 50 Jah- Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer ren beschließen wir das Ende der Pflichtdienste in Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland. Den liebgewordenen Zivi und den liebge- sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian wordenen Grundwehrdienstleistenden gibt es ab 1. Juli Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer nicht mehr. Die Einberufung zum Wehrdienst und damit Abgeordneter und der Fraktion der FDP die Einberufung zum Zivildienst werden wir heute aus- setzen. Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligen- dienste – Bürgerschaftliches Engagement In wenigen Tagen, am 11. April, begehen wir mit ei- der jungen Generation anerkennen und för- nem Festakt 50 Jahre Zivildienst. Im April 1961 haben dern die ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer ihren Ersatzdienst angetreten. Bis heute haben über 2,5 Mil- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, lionen junge Männer diesen Dienst geleistet, zuletzt jähr- Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter lich 90 000. Der Festakt wird eine Art Beerdigung, aber und der Fraktion der SPD es wird eine fröhliche Beerdigung. Wir trauern zwar um Stärkung der Jugendfreiwilligendienste – den Zivildienst, aber wir freuen uns auf die neuen Frei- Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen, willigendienste und den Bundesfreiwilligendienst. Rechtssicherheit schaffen Gerade auch wegen der großen Bedeutung, die der Zi- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, vildienst erlangt hat, stellt uns seine Aussetzung vor eine Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abge- große Herausforderung. Herausforderungen sind immer ordneter und der Fraktion der SPD auch Chancen. Eine solche haben wir mit dem neuen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11315

Markus Grübel (A) Bundesfreiwilligendienst ergriffen. Mit diesem Dienst noch ein Teil der heutigen Mitarbeiter für den neuen (C) ist in kurzer Zeit etwas Großes und Gutes geschaffen Bundesfreiwilligendienst benötigt wird und in den worden; das ist das Fazit der Sachverständigenanhörung. nächsten Monaten und Jahren Veränderungen möglich und auch nötig sind. So wollen wir die administrativen (Ute Kumpf [SPD]: Die haben etwas ganz an- Aufgaben im Zusammenhang mit der Familienpflegezeit deres erzählt!) vom BAZ erledigen lassen und nach außen vergebene Wir ermöglichen damit freiwilliges Engagement in einer Aufgaben auf das BAZ zurückübertragen. sehr großen Breite in Deutschland: im sozialen Bereich, Positiv ist in der Anhörung die vorgesehene Regelung in den Bereichen Ökologie, Kultur und Sport, Integra- für die älteren Freiwilligen aufgenommen worden. Über tion und im Zivil- und Katastrophenschutz. Wir ermögli- 27-Jährige müssen mindestens 20 Stunden pro Woche chen es, dass sich künftig Menschen jeden Alters im leisten. Wir grenzen den Bundesfreiwilligendienst damit Bundesfreiwilligendienst engagieren können. Den jun- klar von anderen Ehrenämtern ab und verhindern, dass gen Männern wird künftig der Wehrersatzdienst nicht das Ehrenamt in der Breite verstaatlicht wird. mehr abverlangt, aber sie dürfen sich freiwillig engagie- ren. Das tut ihnen gut und der Gesellschaft. Wir wollen beim Kindergeld noch eine Veränderung vornehmen. Ich denke, wir sind uns einig, dass auch der Die Opposition trägt jetzt aus meiner Sicht etwas Bundesfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechti- kleinkariert und wenig konstruktiv Kritik vor. Ihre Kritik gung führen sollte. Die Kindergeldfrage soll in einem ist deshalb nicht konstruktiv, weil Sie keine Lösungs- Steuergesetz, zum Beispiel im Steuervereinfachungsge- wege aufzeigen. Es gibt zum Beispiel ein Nebeneinander setz, geregelt werden. Der Betrag von 550 Euro plus von Bundesfreiwilligendienst und Jugendfreiwilligen- 50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbe- diensten. Wir sind uns einig, dass wir beide langfristig darf müsste möglicherweise noch etwas reduziert wer- zusammenführen wollen. Ein einheitlicher Dienst stößt den; aber dafür erhielten die kindergeldberechtigten heute aber an verfassungsrechtliche Grenzen. Es ist nicht Freiwilligen weiter Kindergeld. möglich, den Ländern einfach 350 Millionen Euro zu überweisen, indem wir ihnen zum Beispiel die Einnah- Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel, 35 000 Ju- men durch einen Umsatzsteuerpunkt abtreten, weil die gendfreiwillige und 35 000 Bundesfreiwilligendienst- Länder dann beim Einsatz dieser Gelder völlig frei sind. leistende pro Jahr zu gewinnen, erreichen können, wenn Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Forschung, auch vielleicht nicht gleich zum 1. Juli. Aber auch bisher Polizei, Schuldenabbau – es gibt viele sinnvolle Aufga- war der Dienstantritt beim Jugendfreiwilligendienst in ben, für die die Länder das Geld einsetzen könnten; nur der Regel nicht der 1. Juli, sondern der 1. September. ein Bruchteil würde bei den Freiwilligendiensten an- (B) kommen. Eine Verfassungsänderung in diesem einen Wir haben in letzter Zeit zudem eine hohe Bereit- (D) Punkt ist wenig realistisch. schaft bei Zivildienstleistenden erlebt, den Zivildienst freiwillig zu verlängern. Auch diesbezüglich hat die Op- Die Lösung ist die Schaffung eines Bundesfreiwilli- position seinerzeit viel Kritik vorgetragen. Diese Rege- gendienstes bei gleichzeitigem Ausbau und besserer För- lung hat sich aber bestens bewährt. Sie werden sehen, derung der bestehenden Jugendfreiwilligendienste. Die dass auch der Bundesfreiwilligendienst angenommen Stärke der Freiwilligendienste war schon immer ihre und funktionieren wird. Es spricht einiges dafür, dass Vielfalt. So bunt wie unsere Gesellschaft sind auch die sich die Menschen in unserem Land für einen Bundes- Freiwilligendienste. freiwilligendienst entscheiden werden. Festzuhalten bleibt auch, dass wir noch nie so viel Richtig ist aber auch, dass wir den Zivildienst nicht Geld für die Freiwilligendienste in Deutschland zur Ver- vollkommen ersetzen können. Das ist auch nicht die fügung gestellt haben. Auch die bestehenden Freiwilli- Aufgabe des Bundesfreiwilligendienstes. Einige Stellen gendienste profitieren von dieser Regelung. Bisher ha- werden künftig nicht mehr zu besetzen sein, zum Bei- ben wir den Ländern eine Förderung von 72 Euro pro spiel die als Pförtner in einer Einrichtung. Es ist für Monat für ein Freiwilliges Soziales Jahr gezahlt; künftig junge Menschen schlechterdings keine Herausforderung, sind es 200 Euro pro Monat. Zusätzlich gibt es – auch einen solchen Dienst zu leisten. Dagegen werden wahr- das ist neu – 50 Euro bei besonderem pädagogischen Be- scheinlich Stellen in Pflegeeinrichtungen stark nachge- treuungsbedarf. fragt werden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundesfreiwilligendienst wird uns den Abschied Wieso schreiben Sie das nicht ins Gesetz?) vom liebgewonnenen Zivildienst erleichtern. Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst haben wir in kurzer Zeit Das Koppelungsmodell verhindert, dass sich der Bun- etwas Großes und Gutes geschaffen. Dank möchte ich desfreiwilligendienst zulasten der bestehenden Dienste der Ministerin und dem Ministerium sagen. Dank auch etabliert. Insgesamt werden vom Bund künftig 350 Mil- Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sowie den Ver- lionen Euro eingesetzt. Die Länder bezahlen 12 Mil- bänden für die eigentlich recht konstruktive Diskussion lionen Euro; den Löwenanteil davon tragen Baden- des Entwurfes. Württemberg und Bayern. 8 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen Sozialfonds. (Sönke Rix [SPD]: Wieso „eigentlich“?) Zum Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftli- Die Kritik der Opposition werden wir ertragen. Ich bin che Aufgaben möchte ich anmerken, dass künftig nur sicher: Die Praxis wird die Kritik widerlegen. 11316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Markus Grübel (A) Herzlichen Dank. Unsere Kritik deckt sich mit diesen Kritikpunkten. (C) Wir hatten von Ihnen ein Gesamtkonzept erwartet. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kann nicht nur darum gehen, die Lücke, die durch den Wegfall des Zivildienstes entsteht, mit dem Bundesfrei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: willigendienst zu schließen. Im Rahmen eines Gesamt- Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion. konzeptes hätten die Fragen beantwortet werden müs- sen: Wie können wir das bürgerschaftliche Engagement (Beifall bei der SPD) insgesamt stärken, um den Wegfall des Zivildienstes auf- zufangen? Wie können wir einige Tätigkeiten von Zivil- Sönke Rix (SPD): dienstleistenden in sozialversicherungspflichtige Jobs überführen? Diese Debatte hat nicht stattgefunden. Es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gibt zwar die Ankündigung, die Mittel für den Bereich Weil der Dank meines Vorredners nicht nur an die Kolle- des FSJ aufzustocken. Aber es sind noch keine entspre- gen der Regierungsfraktion, sondern auch an die anderen chenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen Kollegen so schön war, möchte ich auch Ihnen von worden. Es hat auch noch keine intensiven Gespräche Schwarz-Gelb danken, dass Sie den Mut haben, die mit Verbänden und Kommunen darüber gegeben, wie Wehrpflicht auszusetzen, und damit, wie Sie gesagt ha- man die Rahmenbedingungen und die Anerkennung bei ben, ein liebgewonnenes Kind – Sie haben das sicherlich FSJ und FÖJ verbessern kann. Das alles fehlt. Das ist mehr liebgewonnen als wir – gegen ein neues Modell, leider enttäuschend. auf das ich gleich in meiner Rede eingehen werden, ein- tauschen. Dafür gebührt Ihnen Dank, aus welchen Grün- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den auch immer Sie das getan haben. Dieser Mut ist auf DIE GRÜNEN sowie des Abg. jeden Fall einen Dank wert. [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Natürlich besteht die Gefahr einer Doppelstruktur. Es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- gibt unterschiedliche Ansätze. Vonseiten der Regierung geordneten der FDP – Zuruf von der CDU/ und der schwarz-gelben Koalition wird immer wieder CSU: Ich bin gerührt!) betont, ein junger Freiwilliger solle gar nicht merken, welchen Dienst er leistet. Das ist ein richtiger Ansatz. Wir reden heute zum x-ten Mal – schon das ist etwas Ich finde das auch gut. Sie haben dankenswerterweise Tolles; darüber kann man froh sein – über das Thema die Kritik von Verbänden und Opposition aufgegriffen. Freiwilligendienste. Es ist schön, dass wir den Wegfall Das war am Anfang nicht so. Sie haben in diesem Be- des Zivildienstes zum Anlass nehmen, bei den Jugend- (B) reich etwas verändert. Aber es gibt noch Unterschiede (D) freiwilligendiensten etwas zu verbessern; das finde ich und eine unterschiedliche Förderung durch den Bund. Es in Ordnung. Aber nun komme ich auf den Gesetzentwurf gibt auch Unterschiede bei der Ausgestaltung der Kin- zu sprechen, der heute verabschiedet wird. dergeldregelung, genauso wie bei der pädagogischen Be- gleitung und der Anerkennung der Plätze. Nach relativ kurzer Zeit der Diskussion – es war ein ziemlich sportliches Tempo – soll nun zum 1. Juli dieses Auch das ist noch ein Wunsch, den wir gehabt hätten. Jahres der Bundesfreiwilligendienst umgesetzt werden. Sie, Herr Grübel, sagen zwar, der Markt werde entschei- Sie haben gesagt, angesichts der Anhörung und der Ge- den, welche Plätze attraktiv sind – der Posten des Pfört- spräche mit den Vertretern der Fachverbände und den ners im Seniorenheim ist sicher nicht so attraktiv wie der Fachexperten sei alles quasi im Lot und in Ordnung. Das desjenigen, der mit Kindergartenkindern einen Platz ge- liegt in der Natur der Sache. Ich habe auch andere, kriti- stalten kann –; aber es wäre die Aufgabe bei solch einem sche Stimmen gehört, insbesondere bei der Anhörung. Gesetz gewesen, diese Dinge zu überprüfen. Wir können Kritisiert wurde unter anderem die staatliche Steuerung nicht darauf warten, dass der Markt das regelt. Ich hätte eines Freiwilligendienstes. Kritisiert wurde auch die mir gewünscht, dass wir alle Zivildienstplätze überprü- Doppelstruktur. Kritisiert wurde die Regelung im Bun- fen, bevor sie Bundesfreiwilligenplätze werden. desfreiwilligendienstgesetz betreffend das Kindergeld. Sicherlich ist es positiv, dass die Freiwilligendienste für (Beifall bei der SPD) alle Generationen offen stehen sollen. Nichtsdestotrotz Wir haben dankend zur Kenntnis genommen, dass Sie wurde kritisch darauf hingewiesen, dass Jung und Alt erkannt haben, dass beim Kindergeld eine Regelung ge- unterschiedliche Ansprechpartner in den Seminaren und troffen werden muss, aber wir beschließen das Gesetz unterschiedliche Seminarformen brauchen. Es wurde jetzt. Da reicht die Ankündigung nicht aus, dass die un- auch die Aufrechterhaltung des – so heißt es noch – terschiedliche Regelung des Kindergeldes im Jugend- Bundesamtes für den Zivildienst kritisiert. Gefordert freiwilligendienst und im Bundesfreiwilligendienst ir- wurde eine Organisation für Freiwilligendienste auf der gendwann durch die Steuergesetzgebung erfolgt. Wir Basis der Zivilgesellschaft. Es wurden des Weiteren eine würden das gerne jetzt klären; denn der Bundesfreiwilli- wissenschaftliche Begleitung und einheitliche Struktu- gendienst wird zum 1. Juli umgesetzt. Deshalb hätten ren gefordert. Es war zwar die Rede von mittelfristigen wir jetzt gerne Antworten und nicht nur eine Ankündi- und langfristigen Übergängen. Aber eine einheitliche gung. Struktur wurde von der überwiegenden Anzahl der Ex- perten gefordert, genauso wie eine Regelung der Kinder- (Ute Kumpf [SPD]: Und auch das Ohr der geldfrage. Ministerin!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11317

Sönke Rix (A) Ich möchte gerne auf die Widersprüche, die es gab, Die Daten und Fakten sind schon oft genannt worden. (C) eingehen. In der Anhörung wurde erwähnt, dass die Frei- Ich will aber noch einmal betonen, dass ich es für richtig willigendienste quasi auf Pflichtstrukturen stoßen. Das und wichtig erachte, dass die Freiwilligentätigkeit für liegt zum einen an der automatischen Anerkennung der Mann und Frau geöffnet wird, dass sich alle Altersgrup- Plätze, die ich gerade kritisiert habe, aber auch daran, pen einbringen können und dass wir eine breite Varianz dass wir die Verwaltung, die dem Zivildienst zugrunde an Möglichkeiten, sich einzubringen, haben, so etwa in lag, nutzen. Wir hätten Einsparungen vornehmen kön- den Bereichen Sport, Bildung und, was uns als FDP- nen. In Richtung FDP will ich sagen – Graf Strachwitz Fraktion besonders wichtig war, im Bereich Integration; hat das sehr gut auf den Punkt gebracht –: Es ist nicht denn auch hier gibt es viele Bemühungen vor Ort. Die unbedingt im Sinne von jungen Menschen, ein staatli- sollen anerkannt werden. Durch die neuen Strukturen ches Dienstverhältnis einzugehen, wenn man sich für sollen dafür Möglichkeiten eröffnet werden. eine besondere Form von bürgerschaftlichem Engage- ment entscheidet. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten diese Kritik annehmen. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Wille ist ungebrochen da. Über ein Drittel aller DIE GRÜNEN) Deutschen engagieren sich bereits jetzt ehrenamtlich. Von denjenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ abgeschlossen Wir brauchen eine dauerhafte finanzielle und rechtli- haben, könnten sich über 70 Prozent vorstellen, sich wei- che Voraussetzung, um FSJ und FÖJ zu stärken, und terhin zu engagieren, und nahezu 100 Prozent würden es nicht nur eine Ankündigung der Mittelerhöhung. Wir weiterempfehlen. Das heißt, die Deutschen wollen sich brauchen ein Jugendfreiwilligenstatusgesetz. Wir brau- freiwillig engagieren, und sie tun es auch. Deswegen chen keine unterschiedlichen Rechtsformen für unter- wird mir nicht angst und bange bei der Frage, ob wir die schiedliche Freiwilligendienste. Wir brauchen noch in 35 000 Plätze besetzen können. Junge Menschen wollen dieser Legislaturperiode eine Überprüfung des Gesetzes; sich engagieren. Sie sehen dadurch die Chance, neue denn ich gehe davon aus, dass Sie es heute mit Mehrheit Einblicke zu gewinnen, ihren Horizont zu erweitern, beschließen werden. Wir brauchen ein ganzheitliches sich, je nachdem, wie viel Zeit sie einbringen wollen, ein Konzept zur Stärkung der Freiwilligendienste und des Jahr oder länger, auch Themenfeldern zu öffnen, die sie bürgerlichen Engagements, das gemeinsam mit den Län- aus der Schule vielleicht so nicht kannten, sich vielleicht dern abgestimmt werden muss. Dann vermeiden wir im Hinblick auf den zukünftigen Berufsweg zu orientie- Doppelstrukturen. ren. Wir haben damit die Chance für die Gesellschaft, Herzlichen Dank. dass Freiwilligkeit das Miteinander fördert und alle Ge- nerationen zusammenführt. (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich bin der Meinung: Es ist eine sehr gute Reform. Ich möchte mich dafür noch einmal ganz herzlich bedanken. Im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit ist das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ein tolles Signal dieser Koalition. Für die FDP hat Miriam Gruß das Wort. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Miriam Gruß (FDP): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Harald Koch hat das Wort für die Linke. Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede da- mit beginnen, den Jungen Liberalen im Namen der FDP- (Beifall bei der LINKEN) Fraktion zu danken, die vor 20 Jahren den wegweisen- den Beschluss getroffen haben, die Wehrpflicht auszu- Harald Koch (DIE LINKE): setzen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Werte Gäste! Wie Herr Grübel vorhin sagte, wird (Sönke Rix [SPD]: Ich habe vergessen, den der Bundesfreiwilligendienst eine kurze Halbwertszeit Jusos zu danken!) haben. In der Anhörung bemängelten mehrere Sachver- Ich danke den Kolleginnen und Kollegen dieser Koali- ständige die Doppelstrukturen zwischen existierenden tion, die dieses jetzt im Europäischen Jahr der Freiwilli- Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilli- gentätigkeit umsetzen und damit die Konsequenzen ge- gendienst und meinten, mittelfristig sei eine einheitliche zogen haben. Wir legen hiermit eine beachtliche Reform Struktur durch Zusammenführung der Dienste nötig. Der vor, die die Freiwilligentätigkeit auf ganz neue Beine Bundesfreiwilligendienst, so wie er geplant ist, wird stellt, Bewährtes übernimmt, aber auch Neues schafft. schnell wieder Geschichte sein. Ich glaube, dass die Freiwilligentätigkeit in Deutschland Kurzfristig können nun aber gemeinwohlorientierte im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit einen Einrichtungen wegen einer Bevorteilung des staatlich or- ganz starken Impuls von dieser Koalition bekommt. ganisierten Bundesfreiwilligendienstes in Existenznöte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geraten. Bei ihnen wird die Nachfrage nach Jugendfrei- der CDU/CSU) willigendienstplätzen zurückgehen. Für die Linke ist in- 11318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Harald Koch (A) des klar: Es darf keine Freiwilligendienste erster und lidarität. Das – nicht irgendwelche halbgaren Para- (C) zweiter Klasse geben. lellstrukturen – muss gestärkt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Zudem ist erstaunlich, dass die FDP als vermeintliche Wir fordern in unserem Antrag eindeutige Mindest- Partei des Bürokratieabbaus diesen Doppelstrukturen standards für die Durchführung von Jugendfreiwilligen- und diesem Bürokratiemonster – so muss man es ja be- diensten. Diese Dienste müssen klar von Zwangsdiens- zeichnen – mucksmäuschenstill zustimmt. ten wie dem Zivildienst, von sozialversicherungs- (Florian Bernschneider [FDP]: Schön, dass ihr pflichtiger Beschäftigung sowie von Ausbildung abge- uns das jetzt vorwerft! – Norbert Geis [CDU/ grenzt werden. Sie sollten nur Menschen bis 27 Jahren CSU]: Nur nicht übertreiben!) offenstehen, auch um die Abgrenzung zu den Freiwilli- gendiensten aller Generationen zu festigen. Die Anhörung hat gangbare Alternativen aufgezeigt. Wer es mit einem Lern- und Bildungsdienst ernst (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Welche denn? meint, muss auch Mindeststandards in der inhaltlichen Benennen Sie die doch mal!) Ausgestaltung schaffen. Ich spreche nicht von Festle- Es wäre etwas anderes möglich gewesen. gungen zu der Zahl von Seminartagen, sondern von In- halten, die in diesem Bundesfreiwilligendienst konkret Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koali- vermittelt werden sollen. Dies fehlt im Gesetzentwurf tion, hätten Sie auf die Linke gehört, völlig. Das ist wieder einmal typisch: das eine sagen, das (Norbert Geis [CDU/CSU]: Hätten wir heute andere tun. noch die DDR! – Heiterkeit bei Abgeordneten Typisch ist auch, von der Attraktivität des Bundesfrei- der CDU/CSU) willigendienstes zu reden und dann nur eine Obergrenze hätten Sie diese Probleme von vornherein verhindern für Aufwandsentschädigungen einzuziehen. Die Linke können. Die Wehrpflicht gehört nicht nur ausgesetzt, fordert, dass eine angemessene Aufwandsentschädigung sondern ganz abgeschafft. gezahlt wird. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die im Gesetzentwurf vorgesehene freie Verhandelbar- Dann braucht man auch keinen Platzhalter für einen Zi- keit geht im Zweifel immer zulasten der jungen Men- vildienst zu schaffen, der – das ist sicher – nicht mehr schen. Das zeigt die praktische Erfahrung. Wir brauchen (B) zurückkommt. daher dringend eine Untergrenze für das Taschengeld. (D) Alle jungen Leute müssen sich einen solchen Freiwilli- Die durch die Aussetzung der Wehrpflicht und damit gendienst auch leisten können. des Zivildienstes entstehenden Lücken im sozialen Be- reich müssen ohne Zweifel geschlossen werden. Aber Der Linken ist weiterhin wichtig, dass Jugendfreiwil- wir bezweifeln, dass der Weg, den Sie einschlagen, der ligendienste ausschließlich und dauerhaft arbeitsmarkt- richtige ist. Vielmehr müssen neue, sozialversicherungs- neutral sind. Junge Menschen dürfen auch nur in ge- pflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden – für qualifi- meinwohlorientierten Bereichen eingesetzt werden. Der zierte Beschäftigte und mit tariflichem Lohn oder we- bisherige Zivildienst hat die dauerhafte Arbeitsmarkneu- nigstens Mindestlohn. tralität nicht gewährleisten können. Die dort Tätigen (Beifall bei der LINKEN) wurden immer seltener für zusätzliche Arbeiten einge- setzt. Deshalb will die Linke, dass die Arbeitsmarktneu- Jugendfreiwilligendienste haben nur flankierenden Cha- tralität regelmäßig, effizient und streng bei Trägern und rakter. Grundsätzlich dürfen junge wie alte Menschen Einsatzstellen geprüft wird. Wir stellen uns klar gegen nicht Lückenbüßer in einem von Ihnen, liebe Kollegin- jegliche Verdrängung betrieblicher Ausbildungsplätze nen und Kollegen der Koalition, zu verantwortenden sowie sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsver- System des stetigen Sozialabbaus sein. hältnisse. Die Linke will lieber die rechtlichen Grundlagen (Beifall bei der LINKEN) schaffen, um bestehende Jugendfreiwilligendienste wei- ter ausbauen zu können, anstatt einen Bundesfreiwilli- Es müssen ferner bei jedem Träger Mitbestimmungs- gendienst einzuführen; denn Jugendfreiwilligendienste strukturen für die Jugendlichen geschaffen werden. Es als Bildungs- und Lernorte zwischen Schule und Beruf geht um echte Mitbestimmung und nicht nur um die haben eine wichtige individuelle und gesellschaftliche Wahl von Vertretern. Auch die inhaltliche Ausrichtung Funktion. Es wird immer in Abrede gestellt, dass wir das muss mitbestimmt werden können. anerkennen. Auch deshalb haben wir unseren Antrag ge- Es ist aus linker Sicht dringend nötig, die Jugendfrei- stellt. Die Dienste unterstützen bei der Suche nach per- willigendienste für jugendliche Migrantinnen und Mi- sönlicher, gesellschaftlicher und beruflicher Orientie- granten, für Menschen mit Behinderungen sowie für so- rung. Sie verschaffen vielfältige Kompetenzen. Sie zial Benachteiligte zu öffnen. Das halten wir für sehr sensibilisieren für Probleme und ermutigen zur Partizi- wichtig. pation an der Gesellschaft. So gesehen sind Jugendfrei- willigendienste bereits Lernorte für Demokratie und So- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11319

Harald Koch (A) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, wir Grünen die Wehrpflicht für so überflüssig halten, tra- (C) der Bundesfreiwilligendienst ist unnötig. Er ist derzeit gen wir die Aussetzung als historischen Schritt mit. Ihr einziges Aushängeschild im Bereich der Jugendpoli- tik. Schlecht an Ihrem Vorgehen ist allerdings die dilet- tantische und sprunghafte Umsetzung. Sie hätten einmal (Sönke Rix [SPD]: Aushängeschild? So weit überlegen müssen, welche Konsequenzen auf uns zu- würde ich nicht gehen! Nicht einmal ich!) kommen, wenn Wehrpflicht und Zivildienst fallen. Die Bundesregierung handelt an dieser Stelle leichtfertig, Auf zentrale Fragen von jungen Menschen wie auf Fra- weil die Folgewirkungen nicht genug durchdacht wor- gen der Jugendarbeitslosigkeit finden Sie keine Antwor- den sind. ten. Stattdessen werden auch die Jugendfreiwilligen- dienste seit Jahren durch permanente Mittelkürzungen Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer im Bundeshaushalt bei den Jugendverbänden geschwächt. für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgs- Das ist wirklich erbärmlich. Der Bundesfreiwilligen- modell sein. Wer den Zivildienst beendet, muss die Pfle- dienst wird gesicherte Zukunftschancen für junge Men- gemisere und den Fachkräftemangel im Sozialbereich schen nicht ersetzen. dringend bekämpfen. Das hat Minister Rösler ganz klar vernachlässigt. Kurzum: Schaffen Sie die Wehrpflicht ab! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Schaffen Sie reguläre, qualifizierte Arbeitsplätze im so- zialen Bereich! Wer aus den Pflichtdiensten aussteigt, muss für 150 000 junge Männer zusätzlich einen Ausbildungs- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben wir und Studienplatz bereitstellen; sonst droht eine Genera- schon mal gehört!) tion Warteschleife. Ministerin Schavan hat das lange übersehen und dann ausgesessen. Schaffen Sie noch bessere Jugendfreiwilligendienste als soziales Plus! Nehmen Sie sich der Jugendpolitik als Zu- Wer Freiwilligendienste ausbauen will, der muss erst kunftspolitik ernsthaft an! einmal den ersten Schritt tun, nämlich ein Freiwilligen- Danke schön. dienstestatusgesetz machen und sich um eine weitere Stärkung der Zivilgesellschaft kümmern. Mit dem jetzt (Beifall bei der LINKEN – Norbert Geis vorgelegten Gesetzentwurf tut Frau Schröder das glatte [CDU/CSU]: Wir wollen keine FDJ!) Gegenteil. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Norbert Geis [CDU/CSU]: Wieso das denn?) Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. – Das sage ich Ihnen jetzt gerne. Der erste zentrale Kritikpunkt ist, dass der Bundes- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): freiwilligendienst zu ineffizienten Doppelstrukturen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! einer Ungleichbehandlung der bestehenden Freiwilligen- Die Regierung hat uns Grüne ganz klar an ihrer Seite, dienste führt. wenn es darum geht, bürgerschaftliches Engagement und eine Kultur für Freiwilligkeit zu stärken. Sie müssen es (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP – aber auch tatsächlich tun. Der Bundesfreiwilligendienst Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sind doch ist das unausgegorene Ergebnis einer beispiellosen Hau- Sprüche! – Gegenruf vom BÜNDNIS 90/DIE ruckaktion. GRÜNEN: Das ist ein Fakt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Grundkonstruktion ist einfach falsch: Auf der einen und bei der SPD) Seite haben wir die zivilgesellschaftlichen Freiwilligen- dienste vor Ort und auf der anderen Seite einen Bundes- Hatten Kanzlerin Merkel und die Herren Seehofer staatsdienst. Auch Sie haben ja in Ihrer Rede hier einge- und Guttenberg die Wehrpflicht vor einem Jahr noch räumt, dass man langfristig eine Lösung aus einem Guss zum konservativen Marken- und Identitätskern erklärt, benötigt und dass eine Zusammenführung notwendig ist. haben sie diesen mittlerweile über Bord geworfen. Das ist gut, und das war auch mehr als überfällig. Für den (Markus Grübel [CDU/CSU]: Aber der Weg! Zeig Ausstieg aus der Wehrpflicht haben wir Grüne 30 Jahre mal einen Weg auf, der praktikabel ist!) lang geworben; das steht quasi in unserer grünen Ge- Das zeigt doch, dass auch Sie mit dieser Konstruktion burtsurkunde. nicht gut leben können. Es ist ein Kardinalfehler, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das hätten Sie Klasse schaffen will. ja mal unter Rot-Grün machen können!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bis zum Jahr 2005 haben wir bei der SPD leider auf Gra- bei der SPD und der LINKEN – Norbert Geis nit gebissen. Das kann man auch so deutlich sagen. Weil [CDU/CSU]: Das ist falsch!) 11320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Kai Gehring (A) Sie sprechen immer von gleich guten Bedingungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) für alle Freiwilligen und Dienststellen. Das kommt aber sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- nur in Ihren Sonntagsreden vor, nicht aber in Ihrem Ge- KEN) setz. Damit wird eine Chance vertan; denn es ist über- haupt nicht akzeptabel, dass der Bundesdienst höher ge- Sie haben völlig recht: Auch ältere Menschen brau- fördert wird als das bewährte Freiwillige Soziale Jahr chen passgenaue Engagementmöglichkeiten. Dazu ist der Bundesdienst jedoch aus unserer Sicht der falsche und das Freiwillige Ökologische Jahr. Weg. Es gab einen erfolgreichen Freiwilligendienst aller Es wird sich auch in Form geringerer Nachfrage nach Generationen. Hier hätte man ein Nachfolgeprogramm dem Bundesdienst rächen, dass die Eltern von Bundes- auf den Weg bringen können. Aber wenn Sie jetzt die dienstleistenden künftig den Kindergeldanspruch verlie- 20-Stunden-Regel für ältere Freiwillige festschreiben, ren. Hier sparen Sie nicht nur an der falschen Stelle. Mit stellt sich schon die Frage: Welche Auswirkungen hat der Gewährung von Kindergeld hätten Sie wirklich mit das auf die Arbeitsmarktneutralität? der oft beschworenen Anerkennungskultur Ernst machen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können. Das tun Sie nicht. Sie setzen vielmehr Fehlan- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der reize, die Freiwillige, Träger und Dienststellen ausbaden LINKEN) müssen. Diese Arbeitsmarktneutralität, die schon beim Zivil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dienst nicht eingehalten wurde – sonst wäre die Aufre- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- gung gar nicht so groß –, wird hier jetzt womöglich erst KEN) recht nicht eingehalten. Deshalb muss man sich das im- mer wieder anschauen. Ein gelungener Systemwechsel vom Pflichtdienst zu Freiwilligendiensten hätte ein Gesamtkonzept ge- Ein ganz zentraler Kritikpunkt lautet: Statt Bürokra- braucht. Dieses aufzustellen, hat Ministerin Schröder tieabbau betreibt Schwarz-Gelb nichts anderes als Be- versäumt. Sie hätte eine breite gesellschaftliche Debatte standsschutz für das Bundesamt für den Zivildienst. Da- unter Einbeziehung aller Beteiligten initiieren müssen. bei hat das BAZ mit dem Ausstieg aus dem Zivildienst Dazu hätte sie sich auch mehrere Monate Zeit lassen seine Kernaufgabe schlichtweg verloren. können. Aber der selbst verursachte Zeitdruck innerhalb der Koalition hat dazu geführt, dass die zivilgesellschaft- Es ist ein Treppenwitz, dass die Koalition nicht ein- lichen Akteure überrumpelt wurden, dass der vor uns lie- mal mehr schlankere Strukturen anpeilt, obwohl die gende Gesetzentwurf unausgereift und ein fraktionsüber- Ministerin das auch immer wieder angekündigt hat, son- greifender Konsens verhindert worden ist. dern dem BAZ jetzt reihenweise Aufgaben zuweist und (B) zuschaufelt. Das ist das Gegenteil von Bürokratieabbau. (D) Wir befürchten Nachteile für die Erfolgsmodelle FSJ Mich würde es gar nicht wundern, wenn CDU und FDP und FÖJ. Sie bekommen künftig Konkurrenz durch die- in zwei Jahren nach noch mehr Personal für das Bundes- sen Bundesdienst. Langfristig drohen die zivilgesell- amt rufen. schaftlichen Freiwilligendienste verdrängt zu werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Sorge muss man ernst nehmen. Das Bundesminis- und bei der SPD) terium hat zwar mit den Trägern ein Kopplungsmodell verabredet, das die Zahl der Bundesplätze an die FSJ- Alles in allem sind wir der Überzeugung, dass die und FÖJ-Plätze bindet. Sie verweigern aber, dies auch in Bundesregierung die Chance verspielt, mit der Zivilge- Ihr Gesetz hineinzuschreiben. Wenn dieses informelle sellschaft eine nachhaltige Ausbauoffensive für Freiwil- Kopplungsmodell nicht mehr gilt, stellt sich schon die ligendienste auf den Weg zu bringen. Wir Grüne streiten Frage: Was passiert eigentlich mit den bewährten Ju- weiter dafür, Quantität, Qualität und Attraktivität der gendfreiwilligendiensten? Da ist Skepsis angebracht. Freiwilligendienste zu stärken und insgesamt bessere Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu fördern. Anstatt eine neue Bundesbürokratie aufzu- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- bauen, sollten wir die Mittel tatsächlich auf die Förde- KEN) rung von Freiwilligkeit konzentrieren. Weil Sie das nicht Ihr Bundesdienst tritt das Träger- und Subsidiaritäts- tun, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. prinzip mit Füßen. Freiwilligendienste sollten von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zivilgesellschaft, von den Trägern, von den kleinen Ein- und bei der SPD) richtungen, von Verbänden und Vereinen organisiert werden, weil es sich eben um eine besondere Form des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bürgerschaftlichen Engagements handelt. Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das geschieht CDU/CSU-Fraktion. doch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie schaffen aber einen Bundesdienst, der sogar ein öf- fentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet. Das Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): geht nicht nur am Ziel vorbei, sondern auch an der Le- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bensrealität der jungen Generation. Tu was für dein Land, tu was für dich – wer das von jun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11321

Dr. Peter Tauber (A) gen Menschen fordert, der muss in der Tat die richtigen (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) Rahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun wir Das stimmt doch nicht!) mit dem Bundesfreiwilligendienst und mit der Stärkung der Jugendfreiwilligendienste. Unser Antrag liegt Ihnen – Doch, das stimmt. Behaupten Sie nicht das Falsche, vor. Herr Gehring. Sie können es nachlesen. Wir haben da- rüber diskutiert. Sie behaupten es einfach nur. Den Ge- Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag gemein- genbeweis sind Sie hier vorne eben schuldig geblieben. sam vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stärken. Was haben wir getan? Wir haben zunächst ein- Sie wissen, dass die Höhe des Taschengeldes mal die Deckelung der Platzförderung aufgehoben. Jeder im Vordergrund steht! Ich kenne den Gesetzes- Platz im Jugendfreiwilligendienst wird künftig geför- text!) dert. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischen Diese beiden Säulen haben wir, weil die Länder sich werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligen- in der Kompetenzfrage nicht bewegen und der Bund sich dienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Le- auch nicht aus der Verantwortung, die er übernommen gislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung einge- hat, zurückziehen will. Es ist auch gut, dass wir hier mit führt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf zwei Säulen ein Angebot für junge Menschen machen, besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche die sich freiwillig engagieren wollen. Es bleibt dabei: über das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Wir wollen das Ganze so organisieren, dass es keinen Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausge- Unterschied für die Jugendlichen in den Freiwilligen- baut. Künftig können Jugendliche sich auch in der Poli- diensten und im BFD gibt, egal in welcher dieser beiden tik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der In- Säulen sie sich bewegen. Die Hausaufgaben, die wir tegration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihren nach wie vor zu erledigen haben, habe ich angesprochen. Ideen einbringen. Das ist eine gute Sache. Dabei bleibt es auch; das ist keine Frage. Für diesen Bereich stellen wir insgesamt 350 Millio- Es gibt aber noch einige andere Dinge zu tun: Stich- nen Euro zur Verfügung. Ich glaube, man kann mit Fug wort „Anerkennungskultur“. und Recht behaupten: Das ist die große gesellschafts- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: politische Entscheidung, das große gesellschaftspoliti- Nicht reden, sondern handeln!) sche Projekt dieser Legislaturperiode. Ich danke der Ministerin, dass sie nicht mit dem Geld aus dem Zivil- Natürlich müssen wir uns noch intensiv Gedanken da- dienst einen Beitrag zum Sparpaket geleistet hat, sodass rüber machen, was nicht nur wir als Politik, sondern auch (B) wir das heute auf den Weg bringen können. die Träger, die Einrichtungen, die Kommunen sowie die (D) Länder dazu beitragen können, damit es sich für junge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Menschen – neben der Erfahrung, die sie sammeln – Es ist aber natürlich schwierig – damit wende ich lohnt, einen solchen Dienst zu tun. Ich glaube allerdings, mich an den Kollegen Gehring und auch an den Kolle- dass wir dabei nicht nur über einen konkreten Nutzen re- gen Rix –, wenn man einen solchen fundamentalen den müssen, sondern es auch um die Frage der Wert- Wechsel vornimmt. Da bleiben Fragen offen. Auch schätzung geht. heute sind sie noch offen. Der Kollege Grübel hat das (Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kindergeld angesprochen. Man kann auch die Umsatz- NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) steuerbefreiung nennen. Wir haben dort Hausaufgaben zu erledigen. Natürlich müssen wir hier nicht nach unten – Frau Präsidentin, ich glaube, der Kollege möchte eine nivellieren, sondern wir müssen das Ganze evaluieren, Frage stellen. um am Ende besser zu werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: In meiner letzten Rede habe ich Sie eingeladen, dabei mitzumachen. Beim Kollegen Rix habe ich den Ein- Möchten Sie denn die Frage zulassen und damit Ihre druck, dass er sich ein bisschen auf uns zubewegt und Redezeit unendlich verlängern? den Weg mitgeht. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): (Sönke Rix [SPD]: Vertun Sie sich da mal Ich würde die Frage zulassen. nicht! – Gegenruf des Abg. Markus Grübel [CDU/CSU]: Das darf dir jetzt nicht peinlich sein, dass wir gut zusammenarbeiten! – Sönke Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Rix [SPD]: Das ist ein vergiftetes Lob!) Bitte schön, Herr Gehring.

Beim Kollegen Gehring habe ich den Eindruck, dass er Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): am Ende ein wenig in die Sprachmuster zurückfällt, die Ich rede nicht „unendlich“. Keine Sorge! wir am Anfang der Debatte hatten. (Otto Fricke [FDP]: Doch! Das hat die Präsi- Das finde ich sehr schade; denn man kann konstatie- dentin zugesagt!) ren, dass wir jetzt zwei Säulen haben, die entgegen Ihrer Unkenrufe gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Bitte schön, Herr Kollege. 11322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Chance geben, Verantwortung zu übernehmen. Genau (C) Ich höre in den Debatten des letzten Dreivierteljahres das wollen wir mit den Jugendfreiwilligendiensten und – eigentlich seit vielen Jahren –, dass man etwas für die dem Bundesfreiwilligendienst erreichen. Denn wir kön- Anerkennungskultur tun muss. Ich würde gerne wissen nen nicht von der jungen Generation erwarten, dass sie – vielleicht können Sie ein bisschen für die Regierung irgendwann Verantwortung für Deutschland übernimmt, sprechen; Frau Schröder ist zumindest anwesend –: wenn sie vorher keine Gelegenheit hatte, sich selbst und ihre Fähigkeiten zu erproben. Deswegen bleibt es rich- (Zuruf von der CDU/CSU: Was soll das denn tig, dass wir diesen Weg gehen. heißen?) Wir brauchen auch künftig den Thorsten, der bei der Gibt es in der Kultusministerkonferenz, in der Jugend- Caritas alte Menschen pflegt. Wir brauchen die Lisa- ministerkonferenz oder in den ganzen Bund-Länder-Ver- Marie, die in einer Jugendwohngruppe der Diakonie mit einbarungen konkrete Verabredungen zur Verbesserung sozial benachteiligten jungen Menschen arbeitet, die der Anerkennungskultur? Wie ist denn da der Fahrplan? Melanie in der Schutzstation Wattenmeer, die Vogelzäh- Die Bundesebene ist da doch ganz klar in der Initiatoren- lungen vornimmt und Wattexkursionen durchführt, den rolle. Giovanni im Sportverein,

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lieber Kollege, herzlichen Dank für die Frage. Sie Den Mustafa brauchen wir auch! – Zuruf von wissen – ich hoffe, dass Sie es wissen –, dass die Minis- der LINKEN: Was ist mit Marcel und Kevin?) terin bei dieser Frage bereits initiativ ist: Es gibt einen die Heike bei der Hausaufgabenbetreuung des Förder- Gesprächskreis in ihrem Hause, in dem genau diese vereins der örtlichen Schule, den Murat im kommuna- Frage mit den Ländern und Kommunen erörtert wird. len Integrationsprojekt, die Sabine bei der Aktion Süh- (Ute Kumpf [SPD]: Wenn du nicht mehr wei- nezeichen Friedensdienste, die ein Jahr in Israel terweißt, dann gründe einen Arbeitskreis!) verbringt – 800 junge Menschen aus Deutschland ma- chen das gerade –, auch den Lars, der freiwillig Wehr- Sie wissen auch, dass es unheimlich schwierig ist, von- dienst leistet und sagt: seiten des Bundes in gewisse Kompetenzen einzugrei- fen. Ich nenne das Beispiel einer Anerkennung in Form (Ute Kumpf [SPD]: Wo ist Ayse?) zusätzlicher Wartesemester: Das können wir in diesem „Bevor ich in den Hörsaal gehe, trete ich auf dem Ap- Hause, selbst wenn wir es wollten, nicht regeln; dazu pellplatz an und gehe über die Hindernisbahn.“ All das brauchen wir in der Tat die Kultusministerkonferenz und gehört zusammen. Wir müssen jungen Menschen die (B) die Länder. Chance geben, Verantwortung für unser Land zu über- (D) (Sönke Rix [SPD]: Aber das hätte doch in ein nehmen. Wenn das freiwillig geschieht, ist das eine wun- Gesamtkonzept gehört!) derbare Sache. Man kann andere Dinge hinzunehmen: die Frage, ob (Sönke Rix [SPD]: Freiwilligendienst ist auch Freiwillige das, was sie in ihrem Freiwilligendienst leis- ein Lerndienst!) ten, bei einer möglichen Berufsqualifizierung anerkannt Ich habe Sie schon letztes Mal eingeladen, mitzuma- bekommen. Auch das können wir nicht in jedem Fall in chen. Sie haben jederzeit die Chance dazu; die Türen diesem Haus regeln. Wir brauchen ein Miteinander. Wir stehen offen. Vielleicht nutzen Sie sie das nächste Mal. beginnen jetzt; Darüber würde ich mich sehr freuen. (Sönke Rix [SPD]: Zu spät!) Herzlichen Dank. es geht, wie gesagt, um einen Prozess. Es wäre schön, wenn Sie da mitgehen würden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall der Abg. Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herzlichen Dank, Sie dürfen sich gerne wieder setzen. – Rolf Schwanitz hat das Wort für die SPD-Fraktion. Frau Präsidentin, keine Sorge, ich werde nicht ohne (Beifall bei der SPD) Ende weiterreden.

Ich glaube, dass man das Ganze schön mit einem Zitat Rolf Schwanitz (SPD): von Konrad Adenauer zusammenfassen kann. Er hat ein- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und mal gesagt, dass jeder einzelne Bürger das Gefühl und Herren! Drei Feststellungen sind mir heute bei der ab- das Bewusstsein haben muss, dass er selbst Mitträger schließenden Beratung des Gesetzentwurfes wichtig. des Staates ist. Er müsse erkennen und wissen, dass es ein gemeinsames Interesse gibt, das beachtet werden Erste Feststellung. Der Gesetzentwurf ist keine Errun- muss, und dass das in seinem eigenen, ureigensten Inte- genschaft, schon gar keine alternativlose Errungen- resse geschieht. schaft, sondern das Ergebnis einer Notoperation; Sie zie- hen das im Schnellverfahren durch das Parlament. Was heißt das? Wenn man das ernst nimmt, dann muss man jungen Menschen in dieser Gesellschaft die (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11323

Rolf Schwanitz (A) Der Anlass für diese Notoperation ist natürlich die über- lerweile ist diese These mindestens zweifach widerlegt (C) stürzte Aussetzung der Wehrpflicht, die Sie vorgenom- worden. Das geschah zum einen durch die heutige Lage men haben. Genauso, wie Sie die Strukturen im Bundes- selbst. Die Länder geben ausweislich ihrer eigenen Zah- wehrbereich überstürzt auf die neue Situation einstellen, len rund 20 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilli- tun Sie das angesichts des Wegfalls des Zivildienstes gendienste aus. auch bei der sozialen Infrastruktur. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Davon 8 Mil- Sie sind übrigens an dieser Stelle realistisch. Das lionen Euro aus dem Europäischen Sozial- merke ich, wenn ich in den Text des Gesetzes schaue. fonds!) Denn der Gesetzentwurf besagt, es gehe um die Mini- Übrigens stammt der größte Teil davon aus ESF-Mitteln mierung der negativen Effekte. Also bitte schön: Backen und nicht einmal aus originären Landesmitteln. Sie kleine Brötchen. Das ist nicht die soziale Errungen- schaft, sondern der Versuch der Nothilfe aufgrund eines (Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau!) Dilemmas, das Sie selbst geschaffen haben, meine Da- Schon 2011, also in diesem Jahr, stehen diesen men und Herren. 20 Millionen Euro 50 Millionen Euro an Förderung durch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Bund gegenüber. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist doch ein Norbert Geis [CDU/CSU]: Sollen wir den Widerspruch!) Wehrdienst länger behalten?) Es gibt sogar vier Länder, die dafür noch nicht einmal ei- Zweite Feststellung. Anstatt auf wirkliche Reformen gene Landesmittel zur Verfügung stellen. zu setzen und den Freiwilligendienst sowie die bewähr- ten Strukturen zu stärken, sind Sie auf ein altes Staats- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau! Und denken zurückgefallen und haben nun einen neuen, zu- dann wollen Sie die Zuständigkeit auf die Län- sätzlichen staatlichen Freiwilligendienst etabliert – mit der übertragen! – Zuruf des Abg. Florian allen Nachteilen und Folgen, die hier schon diskutiert Bernschneider [FDP]) worden sind. Also tun Sie doch nicht so, als sei das ein verfassungs- Wir haben Ihnen frühzeitig gesagt: Nehmen Sie das widriger Zustand, meine Damen und Herren. freiwerdende Geld – das ist für einen Haushälter nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten selbstverständlich – und weisen Sie große Teile davon des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dem Freiwilligendienst an. Völlig absurd wird diese Frage beim Blick auf das (B) (Markus Grübel [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie (D) nächste Jahr 2012. Dann werden Sie – das kritisieren wir uns den Weg, das verfassungskonform zu ma- nicht – 100 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilli- chen, Herr Kollege! – Gegenruf der Abg. Ute gendienste ausgeben. Das ist das Fünffache der Länder- Kumpf [SPD]: Sie wollten doch nicht!) mittel – ich rechne die ESF-Mittel hinzu – oder das Denn wir wissen: Dort ist die Nachfrage faktisch dreimal Zehnfache der Ländermittel ohne die ESF-Mittel. so groß wie das bisherige Angebot. (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Sie, Frau Ministerin, haben bei dieser Ausgangssitua- Also hören Sie auf mit solch künstlichen Argumenten, es tion diese Option nach meiner Überzeugung niemals gebe keine Finanzierungskompetenz des Bundes. Es gibt ernsthaft erwogen. keine Legimitation für Doppelstrukturen. Das ist die Si- (Beifall bei der SPD) tuation. Sie haben zwei Gegenargumente gebracht, zu denen ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten etwas sagen möchte. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das erste Gegenargument hieß, es gebe ein Gebot der Dritte Feststellung. Sie haben nicht nur im Zusam- institutionellen Vorsorge. Das heißt, für den plötzlichen menhang mit dem Wegfall des Zivildienstes die Situa- Fall, dass die Wehrpflicht wieder aktiviert wird, müsse tion schlecht vorbereitet, sondern Sie haben auch in Ih- man die staatlichen Strukturen vorhalten. – Ich bin ge- rem eigenen Haus die Hausaufgaben nicht gemacht. spannt, ob im Herbst, wenn das Standortkonzept für die ( [SPD]: Genau!) Bundeswehr im Deutschen Bundestag diskutiert wird, die Kasernen in Zellophan gepackt und vorgehalten wer- Damit meine ich natürlich das Bundesamt für den Zivil- den, meine Damen und Herren. dienst. Sie haben erst einmal auf den windigen Vor- schlag von Frau von der Leyen gesetzt, dass dort das Bil- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) dungspaket für Familien mit Kinderzuschlag verwaltet Eigentlich dürfte man solche schlichten Argumente von- werden sollte. Ich weiß gar nicht, wie Beamte aus Köln seiten der Bundesregierung gar nicht mehr zulassen. den Musikunterricht im Erzgebirge hätten kontrollieren sollen. Das zweite Argument, das Sie gebracht haben, war, es fehle beim Freiwilligendienst die Finanzierungskompe- (Heiterkeit bei der SPD sowie des Abg. tenz des Bundes. Deswegen dürfe man nicht über das Dr. [DIE LINKE] – Caren Marks heutige Maß hinausgehen und finanziell fördern. Mitt- [SPD]: Das wusste keiner!) 11324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Rolf Schwanitz (A) Ich bin froh, dass der Bundesrat diesen Unsinn verhin- (Beifall bei der FDP) (C) dert hat, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Florian Bernschneider (FDP): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Nachdem sich diese Situation jetzt erledigt hat, sagen Herren! Ich finde es interessant, mit welcher Doppelzün- Sie: Wir ziehen von Trägern, von Fachleuten, von Ex- gigkeit die Opposition hier argumentiert. Auf der einen perten vor allen Dingen als Regiefunktion Programm- Seite regen Sie sich darüber auf, wie groß der staatliche steuerungselemente zurück in das Amt. Mit dieser Tätig- Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst ist, und beto- keit sollen 120 Beamte in Lohn und Brot kommen. nen, wie schlimm es ist, dass der Staat jetzt auf die Zivil- Dabei wird auch Expertise verloren gehen. gesellschaft Einfluss nimmt. Auf der anderen Seite ha- ben Sie jede Menge Forderungen, was wir noch alles (Ute Kumpf [SPD]: Unverantwortlich!) gesetzlich regeln müssen, damit die Zivilgesellschaft das ja nicht selbst regelt. Auch darüber müssen wir zu gegebener Zeit noch einmal reden. (Caren Marks [SPD]: Nichts verstanden!) Am schlimmsten allerdings finde ich, dass rund Ich sage Ihnen ganz klar: Die Zivilgesellschaft weiß viel 30 Prozent der Beschäftigten des Bundesamtes, also besser, wie der Unterricht pädagogisch zu gestalten ist. etwa 200 Planstellen, bis zum heutigen Zeitpunkt noch Das können wir in einem Gesetz gar nicht so gut regeln. nicht wissen, mit welcher Aufgabe sie künftig ausgestat- tet werden sollen. (Beifall bei der FDP) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit August 2010 debattieren wir hier im Parlament Das ist bei den Kreiswehrersatzämtern so in über die Pläne der Koalition aus Union und FDP zur noch größerem Ausmaß!) Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch über die Ich bedanke mich bei allen Fraktionen, dass gestern Aussetzung des Zivildienstes. Schon im Juni 2010 hat der Haushaltsausschuss Folgendes gesagt hat: Hier muss die Ministerin im Ausschuss angekündigt, eine Erhe- ein Personalkonzept auf den Tisch, das muss im Parla- bung durchzuführen, welche Folgen die Aussetzung der ment beraten werden. – Denn diese Unsicherheit ist ge- Wehrpflicht für den Zivildienst hat. genüber den Beschäftigten und gegenüber dem Steuer- (Caren Marks [SPD]: Angekündigt hat sie zahler völlig unzumutbar. schon viel!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Ich glaube, dass Sie sich jetzt schon ein halbes Jahr lang (D) Sie starten jetzt eine Öffentlichkeitskampagne. In den darüber ärgern, dass es nun Union und FDP sind, die die- Ausschreibungsunterlagen zu dieser Öffentlichkeitskam- sen wichtigen Schritt unternehmen. Das kann ich zwar pagne habe ich einen schönen Satz gefunden, den ich zi- gut verstehen, aber heute, ein halbes Jahr später, kann tieren möchte. Dort heißt es: mir niemand erzählen, dass diese Lesung für ihn überra- schend kommt. Sie können nicht sagen, dass die Bera- Die Kampagne tungen im Schweinsgalopp stattgefunden hätten. – es geht um den Bundesfreiwilligendienst – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) soll darüber hinaus deutlich machen, dass das BMFSFJ kompetent, verantwortlich und erfolgver- Union und FDP haben das vergangene halbe Jahr ge- sprechend auf die Aussetzung der Wehrpflicht rea- nutzt, um offene Fragen gemeinsam zu klären. Es ging giert hat, und die positive Rolle von Bundesfamili- dabei um offene Fragen, die wir uns gestellt haben, und enministerin Schröder kommunizieren. um offene Fragen, die Sie gestellt haben. Zum Beispiel ging es um die Frage, wie wir verhindern können, dass (Caren Marks [SPD]: Das hat sie auch nötig!) der Bundesfreiwilligendienst – das wurde auch heute oft Echte Reformpolitik hätte diese Schminke nicht nötig angesprochen – die Existenz der bestehenden Freiwilli- gehabt. gendienste FSJ und FÖJ gefährdet. Wir legen Ihnen heute eine Antwort auf diese Frage vor: Das Kopplungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten modell und die Stärkung der Jugendfreiwilligendienste der LINKEN) sorgen dafür. Beide Säulen sind nur dann stark, wenn Mehr Mut zu echter Reformpolitik und weniger Engage- beide Bereiche miteinander und nicht gegeneinander ar- ment für die Fassade, das hätte dem Freiwilligendienst beiten. gutgetan und auch Ihnen persönlich. Wir haben das vergangene halbe Jahr auch genutzt, Herzlichen Dank. um die Sonntagsreden, die wir im Zusammenhang mit den Jugendfreiwilligendiensten alle – das sage ich ganz (Beifall bei der SPD) offen – viel zu oft gehalten haben, endlich in konkrete Punkte zu überführen. In Ihren Anträgen heißt es ganz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: abstrakt: Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste neuen Florian Bernschneider hat jetzt das Wort für die FDP- Zielgruppen eröffnen. Wir machen Ihnen jetzt endlich Fraktion. einen konkreten Vorschlag, wie das aussehen kann: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11325

Florian Bernschneider (A) 50 Euro mehr zusätzliche Bildungsförderung für Ju- Grünen gibt darüber gut Auskunft. Darin steht: Wir wol- (C) gendliche mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. len uns jetzt mit Bund, Ländern und Trägern zusammen- setzen und am Kaffeetisch darüber beraten, wie dieses (Abg. Harald Koch [DIE LINKE] meldet sich Gesamtkonzept aussehen soll. zu einer Zwischenfrage) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nicht am Kaffeetisch! Dafür gibt es Gremien! Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage zulas- Es gibt den Bundesrat, die KMK!) sen? – Sehr geehrter Herr Kollege, das alles ist schön und richtig. Aber das ist doch genau das, was Sie hier for- Florian Bernschneider (FDP): dern. Sie fordern jetzt runde Tische, um zu klären, wie es Nein. – Wir haben das vergangene halbe Jahr aber weitergehen soll. auch genutzt, um ein paar Realitäten anzuerkennen, zum Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Am 1. Juli set- Beispiel, dass für FSJ und FÖJ die Länder zuständig sind zen wir die Wehrpflicht aus. Ich finde es toll, dass die und der Bund nur einen relativ geringen Spielraum hat. Grünen zustimmen, und ich finde das sehr vernünftig. Diesen Spielraum nutzen wir jetzt. Statt mit 72 Euro Aber es ist doch nicht vernünftig, sich jetzt zwei, drei werden FSJ-Plätze künftig mit 200 Euro monatlich ge- Jahre lang an runde Tische zurückzuziehen fördert. (Sönke Rix [SPD]: Vorher!) SPD und Grüne gehen auf diese Realitäten in ihren Reden selten ein. Sie haben die Realität aber längst er- und mit den Ländern darüber zu streiten, wer für die kannt. Das sieht man, wenn man ihre Anträge liest. SPD Freiwilligendienste überhaupt zuständig ist. und Grüne fordern in keinem Satz, die Pauschalen bzw. die Bildungsförderung, die wir bei FSJ und FÖJ vorse- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hen, auf über 200 Euro anzuheben. Anscheinend ist Ih- nen also bewusst, dass der Bund viel mehr gar nicht ma- Möchten Sie denn eine Frage der Kollegin Malczak chen kann. Die Linken hingegen fordern mehr als zulassen? 200 Euro. Das habe ich in Ihrem Antrag gelesen. Aller- dings müssen auch Sie anerkennen, dass wir dafür nicht Florian Bernschneider (FDP): zuständig sind. Nein. (Caren Marks [SPD]: Die FDP ist für gar (Caren Marks [SPD]: Sehr souverän!) (B) nichts zuständig!) (D) Ihre Begründung, warum Sie den Bundesfreiwilligen- Das ist wie immer: Wenn linke Politik auf die Realität dienst, die Doppelstrukturen so strikt ablehnen, ist aller trifft, funktioniert das nicht richtig. Ehren wert. Ich finde es vernünftig, dass Sie sagen, Sie (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Realitä- hätten das lieber in einer Säule. Auch wir hätten das lie- ten sind Ihre Spezialität! Ich sage nur: Steuer- ber in einer Säule. Ich versuche Ihnen gerade zu erklä- senkungen!) ren, dass das wegen der Zuständigkeiten von Bund und Ländern nur schwer möglich ist. Aber was ich so absurd Das sieht man in den Ländern, in denen Sie mitregieren. finde, ist, dass Sie diese Doppelstruktur nach wie vor als Schauen Sie einmal in die Länder – ich sage das, weil eines Ihrer Hauptargumente dafür verkaufen, warum Sie das erwähnt wurde –, in denen die Linke die Verantwor- dem Bundesfreiwilligendienst nicht zustimmen können. tung für die Freiwilligendienste trägt. Schauen Sie ein- Was hatten wir denn bis jetzt? Es gab den Zivildienst mal, was die Linke in diesen Ländern für die Freiwilli- und die Freiwilligendienste. gendienste tut, nämlich relativ wenig. (Sönke Rix [SPD]: Der Zivildienst ist aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Markus kein bürgerschaftliches Engagement!) Grübel [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Waren das keine Doppelstrukturen, die da über Jahre Es passiert selten – auch das muss man einmal fest- hinweg bestanden haben? halten –, dass die Forderungen der Opposition hinter de- nen der Regierung zurückbleiben. Die SPD fordert (Caren Marks [SPD]: Das ist ja wohl etwas 30 000 Freiwilligendienstplätze. Die Grünen fordern ganz anderes! Das ist wirklich ein Armuts- eine Verdoppelung der Freiwilligendienstplätze. Wir le- zeugnis!) gen Ihnen heute ein Konzept vor, mit dem eine Ver- War es nicht ungerecht, dass ein Freiwilliger weniger be- dreifachung der Freiwilligendienstplätze in Deutschland kommen hat als ein Zivildienstleistender, obwohl sie die möglich ist. Das geht natürlich nur, weil wir mit der gleichen Aufgaben hatten? zweiten Säule, nämlich dem Bundesfreiwilligendienst, eine Möglichkeit geschaffen haben, die Fördermöglich- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: keiten des Bundes voll auszureizen. Vom Regen in die Traufe ist doch kein Argu- ment!) Deswegen lasse ich mir von Ihnen nicht länger erzäh- len, wir hätten kein Gesamtkonzept vorgelegt. Wie ist Sie haben die Ungerechtigkeit mit der 14-c-Regelung denn Ihr Gesamtkonzept? Ein Blick in den Antrag der noch einmal gesteigert, indem sogar innerhalb der Frei- 11326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Florian Bernschneider (A) willigendienste junge Frauen Nachteile gegenüber jun- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) gen Männern hatten. Herr Kollege. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das kann ja wohl nicht sein!) Florian Bernschneider (FDP): Ich bin zuversichtlich, dass das funktioniert, Frau Prä- Ich gebe zu: Auch uns gelingt es mit diesem Modell sidentin, und komme jetzt zum Ende. nicht, das in eine Struktur zu packen. Aber das ist nichts Neues; das habe ich Ihnen gerade gesagt. Die Doppel- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. strukturen gab es schon in der Vergangenheit. Aber wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – beseitigen wenigstens die Ungerechtigkeiten. Sie konn- Caren Marks [SPD]: Sehr souverän!) ten in der Vergangenheit sehr wohl ruhig damit schlafen, beides zu haben, nämlich Ungerechtigkeiten und Dop- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: pelstrukturen. Deswegen: Nehmen Sie das nicht länger als vorgeschobenes Argument! Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol- legin Malczak. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem An- Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): trag der Linken sagen. Ich habe heute Frau Dittrich als Sehr geehrter Herr Kollege Bernschneider, Sie selbst ausgewiesene Expertin der Linken für bürgerschaftliches haben angekündigt, jetzt würden noch im Nachhinein Engagement vermisst. Aber auch der andere Redner hat Gespräche stattfinden, also doch auch bei Ihnen runde deutlich gemacht, dass bei den Linken einiges durchei- Tische. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, das zu ma- nandergeht, wenn es um bürgerschaftliches Engagement chen, bevor das Gesetz heute hier verabschiedet wird. geht. Das merkt man allein daran, dass das Thema Min- Der Kollege Gehring hat vorhin klargemacht: Uns geht destlohn beim bürgerschaftlichen Engagement immer es nicht um runde Tische, sondern es gibt bestimmte eine herausragende Rolle bei Ihnen spielt. Gremien wie den Bundesrat, die Kultusministerkonfe- renz und die Jugendministerkonferenz. (Sönke Rix [SPD]: Wenn man direkt jemanden anspricht, sollte man auch Zwischenfragen zu- Ich möchte Ihnen nur eine kurze Frage stellen: Mei- lassen!) nen Sie nicht, dass Sie die Zeit im Zusammenhang mit der Verkürzung des Wehrdienstes und des Zivildienstes Bei Ihnen geht auch jetzt wieder etwas durcheinander. auf sechs Monate, die jetzt wieder hinfällig ist, vielleicht (Caren Marks [SPD]: Bei Ihnen geht was besser dafür hätten verwenden sollen, die entscheiden- (B) durcheinander!) den Gremien vorher einzubinden? So müssten Sie nicht (D) schon heute ankündigen, dass die Gespräche im Nachhi- In der Nr. 1 g Ihres Antrags führen Sie aus, dass der Be- nein folgen und dass dann Nachbesserungen kommen. zug des Kindergeldes um die Zeit des Jugendfreiwilli- gendienstes verlängert werden soll. Das ist Ihre Forde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Bernschneider, bitte. Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.

Florian Bernschneider (FDP): Florian Bernschneider (FDP): Frau Kollegin, darauf möchte ich gerne antworten. Ja. Sie wissen: Manchmal ist es eben so, dass erst der eine (Sönke Rix [SPD]: Ein Glück!) einen kleinen Schritt gehen muss, um dann gemeinsam einen großen Schritt zu gehen. So war das bei der FDP Diese Forderung ist völlig unnötig; denn das ist schon und der Union. Sie wissen, dass sich die FDP von An- lange der Fall. Aber ich weiß, was Sie damit meinen, fang an gewünscht hat, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir und es ist lieb gemeint. Darauf sind viele Kollegen ein- konnten dann die Union im Laufe der Verhandlungen da- gegangen. Es geht darum, das Kindergeld im Bundes- von überzeugen, dass es tatsächlich sinnvoll ist, darauf freiwilligendienst einzuführen. Das sollte Ihnen erst ein- zu verzichten. mal bewusst sein. Ich finde das gar nicht schlimm. Sie sollten sich eher fragen, warum Sie es in Ihrer Regierungszeit niemals ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schafft haben, die SPD zu überzeugen. Von daher, Herr Kollege. glaube ich, ist dies kein Grund, die FDP anzugreifen. Ich finde, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Liberalen ha- Florian Bernschneider (FDP): ben es geschafft, den Koalitionspartner davon zu über- Das müssen wir noch schaffen; das ist wichtig. zeugen, die Wehrpflicht auszusetzen. Davon könnten Sie sich eine große Scheibe abschneiden. Die FDP-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, hier noch ein besseres Konzept nachzuliefern. Dazu fin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den zurzeit schon Gespräche statt. der CDU/CSU – Agnes Malczak [BÜND- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11327

Florian Bernschneider (A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, das war nun der Bundesfreiwilligendienst fortsetzen. Was ist da- (C) eher Guttenberg als die FDP!) ran falsch? Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Einfüh- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rung des Bundesfreiwilligendienstes. Das bestätigen die Norbert Geis hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- Zusage und die Anerkennung der großen Verbände, die tion. ich eben genannt habe. Sie alle freuen sich und sind dankbar, dass der Bund einen solchen neuen Dienst er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- richtet. Wir sollten den Bundesfreiwilligendienst so se- neten der FDP) hen, wie er gesehen werden muss. (Sönke Rix [SPD]: Das ist Ihre Interpretation! – Norbert Geis (CDU/CSU): Caren Marks [SPD]: Die ist sehr schräg!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Er ist eine Chance, und zwar nicht nur für Jugendliche, Herren! Natürlich ist die Einführung des Bundesfreiwil- sondern auch für Erwachsene – auch für Rentner –, die ligendienstes eine Reaktion auf die Aussetzung der bereit sind, einen Teil ihres Lebens der Gesellschaft zu Wehrpflicht und damit verbunden des Zivildienstes. Was opfern. Das ist, glaube ich, eine gute Seite innerhalb un- ist daran falsch? Die Aussetzung der Wehrpflicht und serer Gesellschaft; das wird auch nicht geringer. damit verbunden die Aussetzung des Zivildienstes mar- kieren einen der größten Veränderungsprozesse der letz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten 20 Jahre. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Bun- deswehr, sondern vor allem auch auf die soziale Struktur Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: unserer Gesellschaft. Herr Geis, würden Sie eine Zwischenfrage der Kolle- Der Staatsbürger in Uniform war, wie das Gelöbnis es gin Dittrich von der Linken zulassen? sagt – Hunderttausende von Jugendlichen haben dieses Gelöbnis abgelegt –, bereit, seinem Land zu dienen und Norbert Geis (CDU/CSU): das Recht und die Freiheit seines Volkes tapfer zu vertei- Ja, bitte. digen. Das sind die Worte in dem Gelöbnis. Dem Zivil- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Jetzt hast du ei- dienst lag eine ähnliche Aufgabe zugrunde. Der Zivil- nen Fehler gemacht!) dienst hat den Jugendlichen wohl zum ersten Mal in seinem Leben mit der Not und der Bedürftigkeit in unse- rer Gesellschaft konfrontiert. Der Jugendliche hat da sei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) (D) nen Beitrag geleistet. Das dürfen wir heute nicht verges- Bitte schön. sen. Der Zivildienst und die Wehrpflicht haben 50 Jahre lang in unserer Gesellschaft segensreich gewirkt und ha- Heidrun Dittrich (DIE LINKE): ben mit einen großen Anteil daran, dass sich die Jugend- Herr Geis, Sie können sich sicherlich an die Sachver- lichen am Ende in einer ganz großen Zahl mit unserer ständigenanhörung zum Bundesfreiwilligendienst erin- freiheitlichen Gesellschaftsordnung, mit unserem Rechts- nern. Sie haben gerade gesagt: Der Zivildienst, der jetzt staat identifiziert haben. Das war eine große Leistung. wegfallen wird, wird eine große Lücke reißen. Können Sie uns im Parlament vielleicht erklären, wie das Fehlen (Harald Koch [DIE LINKE]: Das waren des Zivildienstes, der arbeitsmarktneutral gewesen sein Zwangsdienste!) soll, eine große Lücke reißen wird? Wie ist dieser Wider- spruch zu erklären? Wie kann es sein, dass auch der Den Gedanken, dass man eine gewisse Zeit seines Le- Bundesfreiwilligendienst arbeitsmarktneutral sein wird? bens dem Gemeinwesen widmet, greift der Bundesfrei- Könnten Sie das bitte einmal erklären? Dann wären wir willigendienst auf; diesen haben zuvor auch schon die hier im Parlament – auch die jungen Menschen auf der Jugendfreiwilligendienste aufgegriffen. Ich halte es für Zuschauertribüne – vielleicht etwas weiter. ausgezeichnet, dass wir die Linie, die in unserer Gesell- schaft entstanden ist, durch den Bundesfreiwilligen- dienst fortsetzen. Norbert Geis (CDU/CSU): Ich glaube nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst Die Abschaffung des Zivildienstes – das ist heute eine Konkurrenz zum Ehrenamt darstellt. Ich glaube schon gesagt worden – reißt natürlich eine Lücke in un- auch nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine Kon- sere Gesellschaft. Gerade weil wir eine älter werdende kurrenz zu den Jugendfreiwilligendiensten oder den Be- Gesellschaft sind und gerade weil viele Menschen in ho- schäftigten darstellt. hem Alter pflegebedürftig sind, große Bedürftigkeit ha- (Sönke Rix [SPD]: Warum nicht?) ben, war es gut und richtig – das haben uns alle Verbände gesagt –, dass wir Zivildienstleistende hatten. Diese Zi- – Er ist ganz anders strukturiert. vildienstleistenden haben zusammen mit den Verbänden, (Sönke Rix [SPD]: Ach, ich dachte, das ist den großen Verbänden wie Caritas, Diakonie, Arbeiter- gleich!) wohlfahrt und anderen Wohlfahrtsverbänden, aber auch zusammen mit kleineren Gruppierungen einen großen Für die Beschäftigten ist es der Beruf, dem diese Men- Dienst an der Gesellschaft erbracht. Diesen Dienst soll schen nachgehen. Der Bundesfreiwilligendienst sieht 11328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Norbert Geis (A) eine Dauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr vor, und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- (C) die Entlohnung ist niedrig. Wir wissen, dass Kleidung ten der FDP) und Wohnraum gestellt und auch ein Taschengeld gezahlt werden kann. Das alles kann für den Beschäftigten im Klaus Riegert (CDU/CSU): Gesamtrahmen der sozialen Fürsorge in unserem Land Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aber kein Ersatz sein. – Sie dürfen sich wieder setzen. Aus Sicht des Unterausschusses Bürgerschaftliches En- (Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Darf ich gagement bin ich froh, dass die ganze Debatte von der nicht nachfragen?) gemeinsamen Sorge und dem Willen getragen war, einen Konsens zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage- ments zu erzielen. Dafür möchte ich herzlich danken. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein, das können Sie nicht. (Sönke Rix [SPD]: Das hat Herr Bernschneider aber gerade anders gesagt!) Norbert Geis (CDU/CSU): In der Tat stehen wir vor einer historischen Zäsur. Wir Ja, das ist nicht möglich. gehen nämlich vom Zivildienst, von einem Zwang, hin zur Freiwilligkeit. Ich glaube, dies ist ein entscheidender Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Die Demokratie fest, dass der Sozialstaat ohne die Freiwilligendienste lebt bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selbst und ohne die vielen bürgerschaftlichen Engagements nicht schaffen kann. Deshalb müssen wir auf Freiheit, – dazu zähle ich auch die Caritas, natürlich auch die Dia- Beteiligung und Teilhabe achten und uns Gedanken ma- konie und die Arbeiterwohlfahrt – nicht aufrechterhalten chen, wie wir junge Menschen motivieren, sich einzu- werden kann. Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür, bringen und im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes, dass er aufrechterhalten werden kann, ist, dass wir Frei- der nicht wie der Zivildienst Zwang ist, sondern freiwil- willige finden, die bereit sind, in diesen Organisationen lig, Dienst für die Gesellschaft zu tun. tätig zu sein. Dabei müssen wir individuelle Aspekte wie die so- Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb die Frei- ziale Situation oder die Flexibilität des Engagements ge- willigen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft nerationsübergreifend beachten, damit das Angebot bei spielen können. Durch die Freiwilligen entsteht eine Berufseinsteigern, Menschen in Übergängen, Schülern, neue Bindungskraft innerhalb der Gesellschaft. Dadurch, Studenten, Vorruheständlern und benachteiligten Men- dass die Menschen aufeinander zugehen, sich gegensei- schen ankommt. Für den Dienst als Bildungsinstrument (B) tig und den Bedürftigen helfen, entsteht Bindung inner- braucht man im Hinblick auf die Freiwilligkeit beson- (D) halb der Gesellschaft. dere Motivation. Forscher würden sagen: Motivation ist entweder intrinsisch oder extrinsisch. – Jetzt sehe ich in Dass es Freiwilligendienste gibt – ob kleinere Organi- ein paar verdutzte Gesichter. Da man in Debatten auch sationen, größere Gruppierungen oder große wie den Ca- etwas lernen soll, ritasverband –, beweist, dass es innerhalb der Gesell- schaft eine Kraft gibt, die nicht dem Staat zugeordnet (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) werden kann, die aber auch nicht dem durch Konkurrenz und Wettbewerb gekennzeichneten Markt zugeordnet habe ich die entsprechende Wikipedia-Definition mitge- werden kann, sondern einen selbstständigen Raum aus- bracht. füllt. Das ist das, was vorhin genannt worden ist. Es geht (Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darum, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu über- NEN]: Oh, Wikipedia! Ich hätte ja nicht ge- nehmen. Das ist das Potenzial, das wir im Freiwilligen- dacht, dass ich mir hier von Abgeordneten der dienst sehen. Er ist eine Art Partizipation an der gesell- Union etwas von Wikipedia vorlesen lassen schaftlichen Wirklichkeit, an dem Leben der muss!) Gesellschaft. Zwischen Staat und Markt entsteht eine dritte Säule: die Säule der freiwilligen Betätigung der Der Begriff intrinsische Motivation bezeichnet das Menschen, der Freiwilligkeit und des bürgerschaftlichen Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun Engagements. (weil es einfach Spaß macht, Ich halte dies für sehr wichtig. Ich bin der Bundesre- – zum Beispiel, wenn für den gierung und der Frau Ministerin außerordentlich dank- FC Bundestag auf dem Fußballfeld rackert – bar, dass wir den Ansatz, für den Zivildienst nun den Interessen befriedigt oder eine Herausforderung Bundesfreiwilligendienst einzuführen, gefunden haben. darstellt). Danke schön. Bei der extrinsischen Motivation steht dagegen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wunsch im Vordergrund, bestimmte Leistungen zu erbringen, weil man sich davon einen Vorteil (Be- lohnung) verspricht oder Nachteile (Bestrafung) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vermeiden möchte. Die neuere Motivationsfor- Der Kollege Klaus Riegert hat das Wort für die CDU/ schung unterscheidet zwischen zwei intrinsischen CSU-Fraktion. und drei extrinsischen Quellen der Motivation. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11329

Klaus Riegert (A) So weit Wikipedia. – Diese Vielfalt, auf den kurzen unterschiedlicher Meinung. Auch der Kollege Schwanitz (C) Nenner gebracht, sollten wir zulassen, und wir sollten hat da die Verfassungslage einmal kurz übergangen. neben dem neuen Bundesfreiwilligendienst auch die bis- herigen Dienste würdigen. Deshalb, glaube ich, ist an (Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht!) dieser Stelle ein herzlicher Dank an die engagierten jun- Im Bereich des Zivildienstes geht es nicht um eine Ab- gen Menschen, Männer und Frauen, im FSJ, im FÖJ, in schaffung, sondern um eine Aussetzung. Auch bei Aus- den Auslandsdiensten und in „weltwärts“ angebracht. setzung des Wehrdienstes wollen wir für die Zukunft die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) notwendigen Rechtsgrundlagen behalten, um auf eine Sicherheitslage vorbereitet zu sein, die eine Wiederein- Dazu müssen wir Angebote machen; das wurde ja richtung des Wehrdienstes, was wir uns alle nicht wün- schon hinreichend diskutiert. Wir müssen auch neue Ein- schen – wir gehen auch nicht davon aus, dass das der satzfelder generieren und dafür werben und hier eine Fall sein wird –, nötig macht. Aufgrund der Verfassungs- neue Kultur der Freiwilligkeit – wie es die Frau Bundes- lage war es zwingend notwendig, den Gesetzentwurf so ministerin genannt hat – herstellen. Die Rahmenbedin- zu gestalten, wie er vorliegt. gungen dafür sind sehr wichtig. Das haben wir ja jetzt die ganze Zeit diskutiert. Ich glaube, außer dem, was wir Wenn Sie noch ein bisschen gewartet hätten, dann hier diskutieren, geht es auch darum, dass wir junge hätten Sie gemerkt, dass ich in meinem Schlusswort ver- Leute für diesen Dienst begeistern. Wir müssen ein posi- suchen wollte, die Brücke in die Zukunft zu schlagen. tives Klima schaffen, damit die jungen Leute, Frauen und Männer, sich freiwillig für den Dienst bewerben. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krücke und keine Brücke!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn man ein neues Instrument wie den Bundesfrei- Herr Kollege, Herr Koch würde Ihnen gern eine Zwi- willigendienst schafft und aus Zwang Freiwilligkeit schenfrage stellen. macht – darüber habe ich ja schon gesprochen –, dann muss man die Instrumente natürlich auch ausprobieren. Klaus Riegert (CDU/CSU): Es ist die Frage, ob man sich zuerst an den runden Tisch Ja, gerne. setzen sollte oder anschließend, wenn man dann auf- grund eines Gesetzes weiß, worüber man spricht. Der Kollege Rix hat es sehr vernünftig formuliert, indem er Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gesagt hat, dass man evaluieren muss. Das heißt, man Bitte schön. muss sich natürlich anschauen: Wie funktioniert das Ge- (B) (Markus Grübel [CDU/CSU]: „Intrinsisch“ setz? Wie kann man es weiterentwickeln, um es dann in (D) hieß das Wort!) eine gute Zukunft zu führen? Wenn irgendwann einmal der Tag kommt, an dem das Harald Koch (DIE LINKE): aufgrund der Verfassungslage zulässig ist, dann kann Werter Herr Kollege, eigentlich wollte ich die Frage man die Freiwilligendienste auch vereinen. schon den Vorrednern aus Ihrer Fraktion stellen. Sie ha- ben sich jetzt auch auf die freiwillig Dienstleistenden, (Sönke Rix [SPD]: Die Verfassungslage lässt FSJ und FÖJ, berufen und haben gesagt, diese würden das heute schon zu! Oder verstoßen wir etwa diesen Dienst angeblich begrüßen. Es gibt einen Rat der die ganze Zeit gegen die Verfassung?) Sprecherinnen und Sprecher der Schleswig-Holsteiner Momentan haben wir aber eine andere Gesetzeslage. FSJler und FÖJler, der über 1 000 der freiwillig Dienen- Deswegen haben wir das so beschlossen. den vertritt und ein Papier erarbeitet hat. Dieses ist im März unter dem Titel – ich halte es einmal hoch – „Was (Sönke Rix [SPD]: Das Freiwilligendienstege- für einen Freiwilligendienst wollen wir haben?“ verab- setz gibt es doch schon! – Kai Gehring schiedet worden. Ich zitiere einmal daraus und möchte [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn dann kurz Ihre Position dazu hören. mit dem Freiwilligendienstegesetz?) Der Bundesfreiwilligendienst ist die unnötige Ein- – Wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie eine richtung einer Doppelstruktur, die für Verwirrung Zwischenfrage stellen, sonst geht das von meiner Zeit der jungen Menschen sorgt, die sich engagieren ab. wollen. (Sönke Rix [SPD]: Nein, ich will Ihre Redezeit Ich will nur sagen: Berufen Sie sich also bitte nicht nicht verlängern!) auf die freiwillig Dienstleistenden in den Freiwilligen- diensten. Ich nehme den Faden wieder auf und knüpfe an meine (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rede an. Und nicht auf den Unterausschuss!) Wir müssen diesen Bundesfreiwilligendienst positiv begleiten, wir müssen junge Menschen für diesen Dienst Klaus Riegert (CDU/CSU): begeistern, und wir müssen die Einsatzstellen auffor- Lieber Herr Kollege, da haben wir – wie die Debatte dern, den Dienst so auszugestalten, dass er attraktiv wird gezeigt hat – ein rechtliches Problem. Da waren wir ja und sich junge Menschen dadurch anerkannt fühlen. 11330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Klaus Riegert (A) Ich glaube – der Kollege Markus Grübel hat das ja Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- (C) schon gesagt –, dass wir heute einen historischen Tag ha- lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf ben. Nach 50 Jahren Zivildienst haben wir heute nämlich Drucksache 17/2117 mit dem Titel „Stärkung der Ju- die Stunde null des Bundesfreiwilligendienstes. Es freut gendfreiwilligendienste – Platzangebot ausbauen, Quali- mich, dass ich als letzter Redner sozusagen den Segen tät erhöhen, Rechtssicherheit schaffen“. Wer stimmt für für dieses Gesetz geben darf. die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- (Caren Marks [SPD]: Den Segen? Ich denke, men. Dafür haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Sie bräuchten Mehrheiten!) Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Dagegen ge- Ob es eine Mehrheit gibt, müssen Sie jetzt bestimmen. stimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Ich wünsche mir 50 gute Jahre für den Bundesfreiwilli- Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter gendienst. Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ableh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache neten der FDP – Sönke Rix [SPD]: Für den Se- 17/3429 mit dem Titel „Chancen nutzen – Jugendfrei- gen haben wir den Papst eingeladen! – Caren willigendienste stärken“. Wer stimmt für diese Be- Marks [SPD]: Ich wusste gar nicht, dass Ge- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- setzentwürfe mit 50 Prozent Mehrheit verab- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. schiedet werden!) Dafür haben gestimmt CDU/CSU und FDP. Dagegen ha- ben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung emp- Ich schließe die Aussprache. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- tion Die Linke auf Drucksache 17/4845 mit dem Titel „Ju- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur gendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes. Bundesfreiwilligendienst einführen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die fehlung auf Drucksache 17/5249, den Gesetzentwurf der Grünen. Dagegen gestimmt hat die Linke. Enthalten hat Bundesregierung auf Drucksache 17/4803 in der Aus- sich die SPD-Fraktion. schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die (B) dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Schließlich und letztlich empfiehlt der Ausschuss un- (D) chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der ter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ableh- Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3436 mit dem Titel „Aufbauoffen- Dritte Beratung sive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen – Quantität, Qualität und Attraktivität steigern“. Wer und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Der Gesetzentwurf ist in der Schlussabstimmung mit angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak- dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenom- tionen, Gegenstimmen der SPD und Grünen und Enthal- men. tung der Fraktion Die Linke. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent- Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 6: schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5255. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag Schlecht, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer ist bei Zustimmung durch die SPD-Fraktion und die Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fraktion Die Linke, bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Beschäftigte am Aufschwung beteiligen – Grünen und bei Ablehnung durch die Koalitionsfraktio- Staatlich begünstigtes Lohndumping aufgeben nen abgelehnt. – Drucksache 17/4877 – Tagesordnungspunkt 28 b. Wir setzen die Abstim- mungen über die Beschlussempfehlung fort. Der Aus- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4692 mit Hierfür ist eine Dreiviertelstunde Debatte dem Titel „Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligen- vorgesehen. – Dazu sehe und höre ich keinen Wider- dienste – Bürgerschaftliches Engagement der jungen Ge- spruch. Dann ist das so beschlossen. neration anerkennen und fördern“. Wer stimmt dafür? – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. Antrag bei Zustimmung durch die Koalitions- und Ab- lehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11331

(A) Michael Schlecht (DIE LINKE): Hinzu kommt, dass in dieser Entwicklung mit den (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Hartz-IV-Gesetzen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Herren! Wir haben in Deutschland ein zentrales Pro- Erwerbslosen eingeführt worden sind. Diese Sanktions- blem, über das im Regelfall sehr wenig geredet wird: möglichkeiten bedeuten, dass einem Erwerbslosen zuge- mutet werden kann, für 2,50 Euro pro Stunde Klos zu (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eines? – Max putzen oder für 3,80 Euro pro Stunde den Hof zu kehren, Straubinger [CDU/CSU]: Das sind die Lin- und zwar vollkommen unabhängig davon, was der Be- ken!) troffene oder die Betroffene in der Vergangenheit an Wir haben in Deutschland seit dem Jahr 2000 eine Qualifikationen und beruflicher Erfahrung erworben hat. Lohnsenkung zu verzeichnen. Der durchschnittliche Be- Erstens ist das zynisch und eine sozialpolitische Kata- schäftigte verdient heute preisbereinigt ungefähr 3 bis strophe. Zweitens hat es aber auch ganz verheerende 4 Prozent weniger als im Jahr 2000, und dies in einem Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten von Ge- Land, in dem wir eine ganz beständige Steigerung der werkschaften, weil sich mittlerweile im Kreise der noch Produktivität haben, wo also eine deutlich stärkere Be- Beschäftigten natürlich herumgesprochen hat, was ei- teiligung an der Entwicklung der Ökonomie möglich nem droht, wenn man Arbeitslosengeld II bezieht. Dies wäre. Das ist ein grandioser Skandal. hat eine ungeheuer disziplinierende Wirkung. Nicht nur (Beifall bei der LINKEN) weil es unsozial ist, sondern auch wegen dieser diszipli- nierenden Wirkung gehört Hartz IV abgeschafft. Das ist Wenn man dann noch berücksichtigt, dass jüngst der völlig klar. Wirtschaftsaufschwung zu dramatischen Steigerungen der Unternehmensgewinne geführt hat und die Bundes- (Beifall bei der LINKEN) regierung mit Bundeskanzlerin Merkel und Minister Um wieder bessere Lohnentwicklungen durchsetzbar Brüderle beständig den Aufschwung bejubelt, dann zu machen, wollen wir die gesamte Agenda 2010 rück- muss man sagen: Sie bejubeln einen Aufschwung der abwickeln. Profite; es ist aber kein Aufschwung, der bei der breiten Masse der Bevölkerung ankommt. Bei der breiten Masse (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) der Bevölkerung herrschen nach wie vor Stagnation, Solange man das nicht macht, wird Deutschland weiter- Lohndumping und Sozialdumping vor. hin ein Land des Lohndumpings und des Sozialdum- In der jüngsten Zeit erleben wir, dass die Regierung pings sein und wird es weiterhin eine schlechte Entwick- den Beschäftigten im Aufschwung sogar noch zuruft: lung der Löhne geben. (B) Eure Löhne können ruhig ein bisschen erhöht werden. – Eine Notmaßnahme, die unmittelbar ansteht, ist die (D) Das ist heuchlerisch und zynisch; denn dass es diese Ent- Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes mit der wicklung überhaupt gegeben hat, hängt damit zusam- Perspektive von 10 Euro. Das ist das Mindeste. Aber wir men, dass durch die Veränderungen am Arbeitsmarkt brauchen vor allen Dingen wieder eine Ordnung am Ar- und die Agenda 2010 die Durchsetzungsmöglichkeiten beitsmarkt. Dazu gehören weitere Etappen wie die Be- und Kampfbedingungen für die Gewerkschaften drama- schränkung von Befristungsmöglichkeiten; Befristungen tisch verschlechtert worden sind. dürfen nur in äußersten Notfällen zulässig sein. (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) Wir brauchen außerdem eine Entwicklung, die dem Zu den Punkten, die zuallererst zu nennen sind, ge- Unwesen der Leiharbeit begegnet. Im Musterländle Ba- hört die Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen, den-Württemberg, wo ich herkomme, ist bei den Be- Leiharbeit und Minijobs. Es ist doch völlig klar, dass es schäftigten vom Wirtschaftsaufschwung nichts zu spü- in einem Tarifbereich, in dem ein großer Teil der Be- ren, ganz im Gegenteil. 80 Prozent der neu geschaffenen schäftigten nur befristet oder in Leiharbeit tätig ist, für Arbeitsplätze sind Arbeitsplätze in der Leiharbeitsbran- die Gewerkschaften außerordentlich schwierig ist, Tarif- che, die alle deutlich schlechter bezahlt sind als die runden durchzuführen und Druck auf die Arbeitgeber Stammbelegschaft. Deswegen brauchen wir mindestens auszuüben. die Einführung von Equal Pay. Obendrauf wollen wir absichern, dass in diesem Bereich zusätzliche Prämien Ich habe es selbst erlebt. In den 80er-Jahren waren die gezahlt werden. Verhältnisse noch anders. Damals herrschte noch eine andere Ordnung am Arbeitsmarkt, und es war sehr wohl (Beifall bei der LINKEN) möglich, in Tarif- und Streikauseinandersetzungen nach- Die einzige Partei, die konsequent für diese Linie haltig Druck auszuüben und den Beschäftigten einen steht – die überhaupt erst wegen der Politik der vier halbwegs angemessenen Anteil am wirtschaftlichen Hartz-IV-Parteien entstanden ist –, ist die Linke. Fortschritt zu sichern. Danke schön. Diese Bedingungen sind durch politisches Wollen ge- rade in den letzten zehn Jahren, begonnen mit der (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger Agenda 2010 durch Rot-Grün und massiv unterstützt [CDU/CSU]: Sehr schlecht, Herr Schlecht! – und fortgesetzt durch Schwarz-Gelb, unterhöhlt worden. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Schlecht, Deshalb haben wir die miserable Lohnentwicklung zu das war schlecht! – Paul Lehrieder [CDU/ verzeichnen, von der ich eben bereits gesprochen habe. CSU]: Das war wirklich sehr schlecht!) 11332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Menschen ohne Schulausbildung und die Menschen (C) Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSU- ohne Ausbildung. Das schadet im Ergebnis auch dem Fraktion. Beitragszahler; denn die Finanzierung von Arbeitslosig- keit ist immer sehr viel teurer als staatliche Zuzahlungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Lohn.

Gitta Connemann (CDU/CSU): Alle diese Effekte sind durch Studien belegt. Selbst Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem Herr Kollege Schlecht, Sie begannen Ihren Vortrag mit Ergebnis: „Ein genereller Mindestlohn – ohne jede Dif- dem Hinweis, es gebe ein Problem in diesem Land. Nach ferenzierung – scheint nicht sinnvoll.“ Man höre! Wir Ihrem Vortrag stimme ich Ihnen zu, und ich nenne das wissen um diese Probleme, und deshalb lehnen wir einen Problem beim Namen: Es sind die Linken. gesetzlichen Mindestlohn ab. Wir wollen, dass jeder eine Chance auf Arbeit hat, insbesondere die Schwächeren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen, dass Familien ein Mindesteinkommen ha- Allein mit dem Ruf nach immer mehr Wohltaten, die ben. Das geht übrigens nicht mit einem einheitlichen ge- angeblich nichts kosten, ist diesem Land sicherlich nicht setzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro; denn die gedient. Entscheidend ist, was man daraus macht. Den- Leistungen, die eine Familie schon heute im Rahmen des ken Sie nur an das Märchen Tischlein deck dich der Ge- Transfereinkommens, zum Beispiel in Form von Ar- brüder Grimm: Auf Zuruf wird aufgetafelt, ohne dass je- beitslosengeld II oder Sozialhilfe, erhält, sind höher als mand zahlt. dieser Mindestlohn. An genau dieses Märchen erinnert mich Ihr Antrag. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es handelt sich dabei – vom gesetzlichen Mindestlohn NEN]: Es geht um den Wert von Arbeit!) bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen – um Es geht aber mit einer Kombination aus fairen Löhnen ein Wünsch-dir-Was der Sozialpolitik. Es gibt nur ein und ergänzenden staatlichen Leistungen. Wir wollen üb- einziges Problem: Im wahren Leben deckt sich kein rigens auch, dass die Menschen, die arbeiten, mehr ha- Tisch von selbst, und irgendjemand zahlt immer die Ze- ben als die Menschen, die nicht arbeiten. Das ist ein be- che. rechtigtes Interesse. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – In Ihrem Falle wären das übrigens die Langzeitarbeitslo- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ sen, die Geringqualifizierten sowie die Arbeitnehmerin- DIE GRÜNEN]: Wie soll denn das mit 3 Euro (B) nen und Arbeitnehmer, die mit ihrem Einkommen die pro Stunde gehen?) (D) Wohltaten finanzieren sollen, die Sie ausschütten wol- Wir wollen Mindestlöhne, aber tarifliche Branchenmin- len. destlöhne, damit die Tarifparteien ihre Souveränität er- Ich will nur auf einige Punkte aus Ihrem Antrag ein- halten und unterschiedliche Branchenbedingungen be- gehen, zunächst auf Ihre Forderung nach einem gesetzli- rücksichtigt werden. So viel zum ersten Beispiel aus chen Mindestlohn von 10 Euro. Ihrem Antrag. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine gute Das zweite Beispiel aus Ihrem Antrag, meine Damen Forderung!) und Herren von der Linken. Sie fordern, dass Arbeitslose nur die Arbeit annehmen müssen, bei der eine Entloh- Das hört sich zunächst einmal verlockend an. Die bittere nung wie zuvor stattfindet. Das klingt auf den ersten Wahrheit ist aber: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu Blick charmant. Das wird zum Beispiel die zwischen- niedrig ist, hilft niemandem. zeitlich arbeitslosen Bankmanager der Hypo Real Estate (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: erfreuen. Bei einem Jahreseinkommen in Höhe von circa Stimmt!) 200 000 Euro aufwärts werden diese auf dem normalen Arbeitsmarkt kaum jemanden finden, der sie beschäfti- Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu hoch ist, kostet Ar- gen könnte. In diesem Fall lässt sich sagen: Willkommen beitsplätze, denn die Firmen, die keine höheren Gehälter in der Arbeitslosigkeit, finanziert von Arbeitnehmerin- zahlen können, müssen Mitarbeiter entlassen. Das sind nen und Arbeitnehmern, vergoldet mit einer Abfindung die Gesetze der Ökonomie, über die auch die Linken und abgesegnet von Ihnen, meine Damen und Herren sich nicht hinwegsetzen können. von der Linken! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ein einheitlicher Mindestlohn nimmt übrigens auch neten der FDP) keine Rücksicht auf Branchen oder Regionen. In Grenz- Beispiel drei. Sie fordern ein bedingungsloses Grund- gebieten geht der Kunde ins Ausland, wenn es in einkommen anstelle des Arbeitslosengeldes II. Deutschland zu teuer ist, zum Beispiel nach Polen. Dort gibt es tatsächlich einen Mindestlohn, aber dieser beträgt (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, 1,85 Euro. das tun wir nicht!) Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet vor allem den Egal wie man sich verhält: Der Steuerzahler zückt das Schwächsten. Als Erste entlassen werden nämlich die Portemonnaie. Ich frage Sie: Wer ist denn der Steuerzah- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11333

Gitta Connemann (A) ler in Deutschland? Das sind die Arbeitnehmerinnen und Mein Fazit ist: Dort, wo die Linken regieren, geht es (C) Arbeitnehmer, die jeden Tag zur Arbeit gehen und mit den Menschen schlechter. zum Teil kleinen Einkommen diesen Staat finanzieren. Das sind nicht nur die großen Bosse, sondern auch die (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war schon Verkäuferin, der Maurer oder der Arbeiter am Band. Ge- immer so!) nau um deren Steuerzahlungen geht es: Deren Steuergel- Ihre Politikmodelle helfen niemandem. Deshalb werden der schütten Sie aus. Ich wünschte mir, dass Sie damit wir Ihren Antrag ablehnen. vorsichtiger umgingen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein Ni- neten der FDP) veau unter der Zimmertemperatur!) Summa summarum kostet Ihr Wunschzettel zig Mil- liarden Euro. Das ist so unseriös, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Max Straubinger [CDU/CSU]: Zulasten der Der Kollege Josip Juratovic hat das Wort für die SPD- Arbeitnehmer!) Fraktion. dass Ihnen inzwischen alle Ihre Finanzpolitiker von der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stange gehen, zum Beispiel Ihr ehemaliger Genosse Ronald Weckesser. Josip Juratovic (SPD): (Katja Kipping [DIE LINKE]: Er arbeitet in- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- zwischen bei der FDP!) nen und Kollegen! Kolleginnen und Kollegen der Lin- Er wurde gefragt, was er denn von diesen Ihren Forde- ken, ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie in Ihrem rungen halte. Er stellte fest: Allerweltsantrag kurz vor den Landtagswahlen in Ba- den-Württemberg und Rheinland-Pfalz alle Forderungen Es werden Dinge versprochen, die nicht einmal platzieren, die Sie in Ihren alten Anträgen gefunden ha- dann eingehalten werden könnten, wenn wir die ben. Die Überschrift von Ihrem Antrag ist gut gewählt; Wahl gewännen. … Das weiß jeder. aber der Inhalt ist sehr mager. Aber die Parteikonzeption laute, Forderungen müssten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht realisierbar sein, sondern nur andere in Zugzwang bringen. Kurzum: Sie verfolgen ausschließlich eine Ein Beispiel für Ihre realitätsfernen Forderungen ist, Tischleindeckdich-Politik der leeren Versprechen. dass in der Zukunft wir Politiker die Mindestlohnhöhe (B) festlegen sollen. Ich sage Ihnen: Das kann nicht funktio- (D) Das erleben übrigens besonders schmerzlich die Men- nieren. schen, die in Ländern leben, in denen die Linken mitre- gieren, zum Beispiel in Berlin, (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Gut!) (Dr. [CDU/CSU]: Und in Wir brauchen stattdessen einen flächendeckenden An- Nordkorea!) fangsmindestlohn von 8,50 Euro, insbesondere die Familien, die Kinder und die Jugend- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schlecht!) lichen, auf deren Rücken gespart wurde. Die Liste der Grausamkeiten von Rot-Rot ist lang. Ich möchte nur ei- der bereits gesellschaftlich mit den Gewerkschaften ab- nige wenige nennen: Kürzung der Sozialhilfe- und Pfle- gestimmt ist. Dann brauchen wir eine Mindestlohnkom- geleistungen um fast 50 Millionen Euro, Kürzung des mission, Blindengeldes, Kürzungen der Leistungen für Senioren- (Beifall bei der SPD) arbeit, Selbsthilfegruppen und Ehrenamt um mehr als 50 Prozent. Das wurde im sogenannten LIGA-Vertrag in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Wissenschaftler ausgestaltet. Dafür wurden im letzten Jahr die Gaspreise analysieren, wie sich Produktivität, Lohnzuwächse, zum wiederholten Mal erhöht. Nicht erhöht wurden über Wachstum und Inflation entwickeln, und danach die viele Jahre die Bezüge der Beschäftigten im öffentlichen Höhe des Mindestlohns festlegen. Dienst. Erst im letzten Jahr hat es eine Erhöhung gege- ben. Aber der Rückstand zu den anderen Ländern ist er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heblich. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einver- Das zeigt einmal mehr: Dort, wo Sie regieren, tun Sie standen! Da sind wir sofort bei Ihnen!) in keiner Weise das, was Sie einfordern. Sie dreschen Phrasen; aber Sie lassen keine Taten folgen. Die Arbeit- Ein zweites Beispiel für Ihre Allerweltsforderungen nehmer, von denen ich gesprochen habe, können über ist der Antistreikparagraf. Das ist wirklich nicht das Pro- den Titel Ihres Antrags „Beschäftigte am Aufschwung blem, das den Gewerkschaften aktuell unter den Nägeln beteiligen“ nur lachen, meine Damen und Herren von brennt. Wir brauchen keine populistischen Allerwelts- der Linken. forderungen, sondern realitätsbezogene Lösungen, und zwar für alle Menschen in unserem Land. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Denen vergeht das Lachen!) (Beifall bei der SPD) 11334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Josip Juratovic (A) Ich habe den Eindruck, dass die Realität in der Welt Fünftens. Leiharbeit schafft eine Entsolidarisierung (C) draußen hier im Parlament – sowohl von links als auch im Betrieb. Man kann in Betrieben oft sehen, dass die von rechts – verdrängt wird. rechte Autotür von einem festangestellten Mitarbeiter eingebaut wird und die linke Autotür von einem Leihar- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihr seid noch beiter, der bestenfalls 70 Prozent des Lohns des festan- nie angekommen in der Realität!) gestellten bekommt. Es kann doch nicht sein, dass die Union und FDP sehen nicht die massiven Verwerfungen Arbeiter für exakt die gleichen Handgriffe unterschied- im Niedriglohnsektor, und die Linke verkämpft sich für lich entlohnt werden. alte Klamotten wie den Antistreikparagrafen. Die tat- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sächlichen Probleme der arbeitenden Menschen und der der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE anständigen Unternehmer werden viel zu wenig wahrge- GRÜNEN) nommen. Das dient nicht gerade dem gesellschaftlichen Zusam- Leiharbeit ist nur ein Beispiel dafür, dass sich die menhalt. Deshalb müssen wir verhindern, dass die Ar- Funktionsweise unserer Wirtschaft in den vergangenen beitnehmer gegeneinander ausgespielt werden. Jahren dramatisch verändert hat. Leiharbeit ist heute Teil der Mischkalkulation in den Betrieben. Billige Leihar- (Beifall bei der SPD) beiter werden in der betriebswirtschaftlichen Logik in Wir müssen verhindern, dass Leiharbeiter als Dank für den Unternehmensprofit von vornherein einkalkuliert. ihre Flexibilität und ihren Lohnverzicht in einer Krise als Das zeigt, dass Leiharbeit nicht mehr, wie sie gedacht Allererste entlassen werden. war, nur Auftragsspitzen abdeckt. Das ist ein klarer Missbrauch von Leiharbeit. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Alles Forderungen der Lin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ken!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet von einem Es wird noch schlimmer: Leiharbeit wird in den Bilan- knallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, son- zen nicht wie Personalkosten behandelt, sondern als dern auf Produktionskostensenkung beruht. Der erste Sonderaufwendung, genau wie der Einkauf von Schrau- Teil dieser Kostensenkung ist die schon angesprochene ben und Toilettenpapier. Das ist menschenunwürdig. Mischkalkulation in den Unternehmen. Es wird genau ausgerechnet, was wie viel kosten darf, und dann wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Druck auf die einzelnen Unternehmensteile ausgeübt, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) insbesondere auch auf Zulieferer und Leiharbeiter. Das (B) (D) geht so weit, dass man bereits mit Zahlungsverzögerun- Lassen Sie mich auf die gesellschaftlichen Auswir- gen bei den Zulieferern von bis zu sechs Monaten kalku- kungen von Leiharbeit eingehen. liert. Erstens. Leiharbeit schafft Kinderarmut. Frau Der zweite Teil dieser Kostensenkung ist die Leis- Connemann, wenn Sie hier von Kinderarmut sprechen, tungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz. Gerade ältere dann sollten Sie zuerst die Niedriglöhne der Eltern als Arbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen voll- Ursache von Kinderarmut bekämpfen. bringen. Daher gibt es bei den Arbeitnehmern eine stei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine der LINKEN) steigende Zahl psychischer Erkrankungen. Unsere Wirtschaft handelt rein wachstums- und pro- Zweitens. Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn fitorientiert. Es gibt nur noch die reine Betriebswirt- wir Niedriglöhne staatlich subventionieren. Rund 92 000 schaft. Die Volkswirtschaft hat niemand mehr im Blick. Leiharbeiter erhalten so wenig Lohn, dass sie ihr Ein- Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vor- kommen durch Sozialhilfe aufstocken müssen. Das kos- bei. Viele der Gründer unserer Nachkriegswirtschaft tet den Steuerzahler 700 Millionen Euro im Jahr. sind heute entsetzt darüber, was ihre Enkel aus der sozia- Drittens. Die Leiharbeit von heute schafft die Armuts- len Marktwirtschaft gemacht haben. rentner von morgen. Leiharbeiter brauchen über 70 Bei- In meinen zahllosen Gesprächen erfahre ich, dass tragsjahre, um eine Rente in der Höhe der Grundsiche- viele Menschen ratlos sind, wenn sie diese einseitige rung zu erhalten. Kein Leiharbeiter kann sich eine Orientierung der Wirtschaft spüren. Angesichts dessen Riester-Rente leisten. müssen wir gemeinsam mit Gewerkschaften, Unterneh- Viertens. Leiharbeiter werden gesellschaftlich stigma- men, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Zi- tisiert. Sie erhalten keine Kredite. Eine Familiengrün- vilgesellschaft überlegen, wie wir unsere Wirtschafts- dung können sie sich finanziell nicht leisten. Kollegin- und Arbeitswelt organisieren. Aber wir dürfen nicht nur nen und Kollegen, in was für einem Land leben wir, nachdenken, sondern wir müssen auch politisch handeln. wenn eine Familiengründung inzwischen zum Luxus ge- Dass die Bundeskanzlerin bei jedem Problem nach einer worden ist? Kommission, einem Moratorium oder nach den Sozial- partnern ruft und dann alles für alternativlos erklärt, ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Zeichen von Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dieser Regierung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11335

Josip Juratovic (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der wirtschaftliche Erfolg spielt sich auch hier auf dem (C) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Rücken der Leiharbeiter ab. Wenn Baden-Württemberg GRÜNEN) wieder das Land der Pioniere werden will, brauchen wir durch faire Arbeitsbedingungen motivierte Arbeitneh- Kolleginnen und Kollegen, wir müssen zeigen: Wir mer. wissen, wie die Realität draußen aussieht, und wir haben die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein, da- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann ist es raus politische Handlungen abzuleiten und die politi- besser, sie wählen CDU!) schen Rahmenbedingungen entsprechend zu setzen. Ein erster Schritt ist die Verabschiedung des von der Meine Damen und Herren der Regierungsparteien, SPD geforderten Tariftreuegesetzes. Öffentliche Aufträge nicht nur reden, sondern endlich auch handeln! sollten nur an gute Arbeitgeber vergeben werden. Ich denke, der Staat sollte als Auftraggeber mit gutem Bei- (Otto Fricke [FDP]: Was machen Sie eigent- spiel vorangehen. lich?) Ein flächendeckender Mindestlohn und das Prinzip (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, was so viele Pro- DIE GRÜNEN) bleme lösen würde und gesellschaftlich unumstritten ist, Die Menschen in Baden-Württemberg brauchen nach könnten sofort eingeführt werden. 57 Jahren endlich wieder verantwortungsvolle und reali- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tätsnahe Politik mit Empathie und Vernunft. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Connemann [CDU/CSU]: Sie regieren in Ber- lin mit! Rot-Rot! Wowereit ist doch stellvertre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tender Bundesvorsitzender, oder?) DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schöne Wahlkampfrede war das, Herr Wir brauchen eine Kultur des Anstands in der Ar- Juratovic! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: beitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft. Kolleginnen und Das hatte mit dem Antrag nicht viel zu tun!) Kollegen, ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass es viele gute Unternehmer gibt, die von der marktradikalen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Logik dazu gezwungen werden, ihren Betrieb durch Der Kollege Dr. Heinrich Kolb spricht für die FDP- schlechte Löhne über Wasser zu halten. Wir müssen Fraktion. diese Arbeitgeber durch einen allgemeinen flächende- ckenden Mindestlohn und durch das Prinzip „Gleicher (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) Lohn für gleiche Arbeit“ vor Lohndumping schützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN) Mit den Anträgen der Linken ist es so: Die Überschriften wechseln; der Inhalt ist immer der gleiche. Auch das, Unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt darf eben nicht was heute vorliegt, enthält wieder viel Bekanntes, Herr nur auf Profitmaximierung ausgerichtet sein, sondern sie Kollege Schlecht. Das einzig Neue – das will ich immer- muss auch eine Antwort auf die Frage geben können: hin festhalten – scheint Ihr Vorschlag zu § 146 SGB III Wie wollen wir in der Zukunft leben? Arbeit ist ein ent- zu sein, den Sie irgendwo aus der Schublade gezogen scheidender Bestandteil des Lebens, weil Arbeit Sinn haben. Allerdings ist mir der aktuelle Hintergrund nicht stiftet. Jeder Mensch will gebraucht werden. Wir brau- ganz schlüssig. chen Respekt und Wertschätzung der Arbeit. Arbeit muss sich außerdem daran messen lassen, ob sie zu mehr (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ Lebensqualität für alle Menschen beiträgt. DIE GRÜNEN]: Das war in den 80er-Jahren problematisch!) Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit sind Werte und Tugenden, die unsere Wirtschaft so groß – In den 80er-Jahren war die Neutralitätspflicht der Bun- und erfolgreich gemacht haben. Wir alle, auch die Unter- desanstalt für Arbeit noch ein Problem. – Ich kann mich nehmer, müssen daher zurück zu den Werten und Tugen- aber nicht daran erinnern, dass die Bundesagentur für den. Arbeit in den letzten Tarifauseinandersetzungen sich für die eine oder andere Richtung eingesetzt hat, was dazu Meine Damen und Herren, am Sonntag hat man in hätte animieren können, Ihren Antrag entsprechend zu Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine Chance, gestalten. Vielleicht wollen Sie nur ein bisschen variie- der Erreichung dieser Ziele näherzukommen. ren; das wäre lobenswert. Sie sollten mehr nachdenken. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt der Dann fällt Ihnen vielleicht noch etwas Besseres ein. Werbeblock!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch in unserem Musterländle ist jeder zweite Job, der Da aufgrund der ständigen Wiederholungen eigent- nach der Krise entstanden ist, in der Leiharbeit angesie- lich alles schon besprochen worden ist, will ich gezielt delt. ein paar Aspekte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie machen (Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!) einen Denkfehler, Herr Kollege Schlecht. Sie gehen da- 11336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Heinrich L. Kolb (A) von aus, der durchschnittliche Beschäftigte verdiene seit beit will ich in der Debatte, die in circa zwei Stunden in (C) dem Jahr 2000 weniger. Den durchschnittlichen Beschäf- diesem Hause zu führen sein wird, gerne mehr sagen. tigten gibt es aber nicht, sondern es gibt Beschäftigte mit jeweils individuellem Entgelt. Ich bezweifle Ihre These, Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. dass es in den vergangenen zehn Jahren bei dem einzel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen Arbeitnehmer tatsächlich zu Lohnkürzungen ge- kommen ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es ist Folgendes passiert – das führt zu dem Ergebnis, Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht das Sie angesprochen haben –: das Wort. Wenn man in einer Volkswirtschaft einen Niedrig- Michael Schlecht (DIE LINKE): lohnsektor einrichtet, so wie es Rot-Grün mit den Ar- beitsmarktreformen der Jahre 2004 und 2005 getan hat, Herr Kolb, da Sie mich in Ihrer Rede angesprochen dann muss das Durchschnittseinkommen dieser Volks- hatten, möchte ich Ihnen noch einmal sagen: An den em- wirtschaft notwendigerweise sinken. Das ist der erste Ef- pirischen Daten kommen Sie nicht vorbei. Entspre- fekt. chende Daten gibt es ja nicht nur von Eurostat und AMECO, sondern auch von der Internationalen Arbeits- Der zweite Effekt ist: In einer Aufschwungphase, in organisation und anderen. Daraus ergibt sich völlig ein- der viele Menschen mit einer geringeren Qualifikation deutig, dass die Realeinkommen in Deutschland in den die Chance bekommen, sich zusätzlich am volkswirt- letzten zehn Jahren preisbereinigt im Durchschnitt – ich schaftlichen Leistungsprozess zu beteiligen, sinken die habe gar nicht vom durchschnittlichen Beschäftigten ge- durchschnittlichen Löhne. In der Krise halten die Unter- sprochen – nehmen diejenigen Beschäftigten, die besonders qualifi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Glei- ziert sind und die über ein hohes Einkommen verfügen, che!) während die Geringqualifizierten, die herangezogen wer- den, um das Leistungsvermögen des Unternehmens in um 3 bis 4 Prozent gesunken sind. Phasen hoher Auslastung zu erhöhen, entlassen werden. Dies erklärt den Befund, den Sie festgestellt haben. Das Skandalöse ist – das regt zumindest mich auf, Sie anscheinend nicht –, dass eine solche Entwicklung nur in Aus meiner Sicht wäre es jedoch falsch, daraus zu Deutschland zu verzeichnen ist. In allen anderen Län- schließen, dass in den vergangenen zehn Jahren in den dern sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahren Unternehmen in Deutschland flächendeckend Lohndrü- mehr oder minder deutlich angestiegen. Nach uns kom- (B) ckerei stattgefunden hat. Im Gegenteil, die Chancen der men gleich Belgien und Österreich mit plus 6 Prozent, (D) Arbeitnehmer haben sich durch die demografische Ent- Frankreich mit plus 10 Prozent, die Niederlande mit plus wicklung und zusätzlich durch den wirtschaftlichen Auf- 15 Prozent. Nur Deutschland liegt bei einer Größenord- schwung verbessert; in Verhandlungen mit den Arbeitge- nung von minus 3 bis minus 4 Prozent, obwohl es doch bern haben sie eine bessere Position als zuvor. Dies wird eines der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa ist. sich in den nächsten Jahren noch deutlicher zeigen. Das ist der eigentliche Skandal. Daran kommen Sie nicht vorbei. Außerdem stellen Sie immer wieder fest, die Zeitar- beit und die befristete Beschäftigung seien der Standard Hinter dieser Durchschnittsbildung verbergen sich na- bei der Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse. Auch da türlich Bereiche, in denen es noch dramatisch schlechter muss man sagen – zu diesem Ergebnis können auch Sie, läuft. Das liegt daran, dass von Rot-Grün im letzten Jahr- Herr Kollege Schlecht, durch Nachdenken kommen –, zehnt – Schröder war immer stolz darauf – sehr erfolgreich dass es ganz normal ist, dass die Unternehmen nach der ein Hunger- und Niedriglohnsektor ausgebaut worden ist. schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise in der Ge- Infolgedessen gibt es Beschäftigte, deren derzeitige Ein- schichte der Bundesrepublik an den Aufbau neuer Be- kommen gegenüber den Einkommen von vor zehn Jahren schäftigung zunächst vorsichtig herangehen, auch was um 10, 20 oder 30 Prozent gesunken sind. Es gibt sicher- die Nutzung solcher Instrumente angeht. lich auch einige Wirtschaftsbranchen, in denen es für Ein- zelne günstiger gelaufen ist, sodass deren Einkommen ge- Wir wissen aus dem letzten Konjunkturzyklus, dass stiegen sind. flexible Beschäftigungsverhältnisse sehr schnell in dau- erhafte Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere in Das Problem der Lohnsenkung ist nicht nur ein Pro- Vollzeitstellen umgewandelt worden sind. Man kann si- blem im Dienstleistungsbereich; Lohnsenkungsprozesse cherlich zu Recht erwarten, dass das auch jetzt wieder gibt es vielmehr längst auch in Bereichen, in denen qua- passieren wird. Die Unternehmer sind gut beraten, wenn lifizierte Beschäftigte arbeiten. In der derzeit laufenden sie qualifizierte Arbeitnehmer an das eigene Unterneh- Tarifrunde für Journalisten in der Zeitungsbranche wird men binden, weil der Arbeitsmarkt in Deutschland in von den Verlegern gefordert, die Gehälter für neu einzu- zwei bis drei Jahren gerade in Bezug auf solche Arbeit- stellende Journalisten um sage und schreibe 25 Prozent nehmer leergefegt sein wird. abzusenken. Der Background dafür, dass mit Verve sol- che frechen Forderungen aufgestellt werden, ist, dass Das waren die Anmerkungen, die ich machen wollte; auch in Zeitungsredaktionen mittlerweile in zunehmen- mehr war heute nicht drin. Kollege Kober wird sicher- dem Maße eine Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen lich noch wichtige Beiträge leisten. Zum Thema Zeitar- eingetreten ist, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11337

Michael Schlecht (A) (Otto Fricke [FDP]: Frau Präsidentin, ist das Sie haben gesagt, die Beschäftigten seien am Auf- (C) noch eine Kurzintervention?) schwung zu beteiligen. Ich möchte feststellen: Uns geht es in der Tat darum, die Menschen am Aufschwung zu dass immer mehr auf Leiharbeiter zurückgegriffen wird, beteiligen. Wir haben die Menschen am Aufschwung be- dass immer mehr befristet eingestellt wird und dass in teiligt: die große Zahl derjenigen, die neue Beschäfti- immer stärkerem Maße Freie eingesetzt werden. Das ist gungsverhältnisse gefunden haben und die aus der Kurz- wirklich ein Skandal. arbeit in ein normales Beschäftigungsverhältnis zurück- gekehrt sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir haben selbst vorgeschlagen – Sie haben den Wirt- Herr Kollege, Sie hatten nicht das Wort zu einer zwei- schaftsminister zitiert –, dass die Tarifpartner Spiel- ten Rede, sondern nur zu einer Kurzintervention. räume nutzen sollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, son- (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Ich wollte dern die der Tarifpartner, die vorhandenen Spielräume ihm noch etwas erklären, weil er es anschei- zu nutzen. Das werden sie verantwortungsvoll tun. Ich nend nicht versteht! Er ist sehr weit weg von bin ein großer Anhänger und Verfechter des Prinzips der der Lebensrealität!) Tarifautonomie. Die Politik sollte sich in die Tariffin- dung meines Erachtens nicht einmischen, sondern sie Möchten Sie erwidern, Herr Kolb? sollte den Tarifpartnern als denjenigen, die sich vor Ort auskennen, das Geschäft überlassen. Damit sind wir in Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): der Vergangenheit gut gefahren und werden es auch in Zukunft tun. Nein, Herr Kollege Schlecht, das kann man nicht sa- gen. Ich stehe mitten im Leben. Ich glaube, dass ich eine Frau Präsidentin, danke dafür, dass Sie mich durch sehr gute und auch nahe Anschauung dessen habe, was Klopfen auf das Ende meiner Redezeit hingewiesen ha- in den Betrieben tatsächlich passiert. ben. Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, und das, was Sie soeben ergänzend vorgetragen haben, ändert daran Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nichts. Bei einer Durchschnittsbetrachtung – es ist Ich habe jetzt einen rhythmischen Hinweis gegeben. gleichgültig, ob man den durchschnittlich Beschäftigten Das geht offensichtlich auch. oder das Durchschnittseinkommen zugrunde legt – zeigt sich: Die Einführung eines Niedriglohnsektors führt im- Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke mer dazu, dass die Durchschnittswerte sinken. für Bündnis 90/Die Grünen. (B) (D) Es ist nicht die FDP gewesen, die den Niedriglohn- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sektor erfunden und gesetzlich verankert hat; vielmehr NEN): haben dafür seinerzeit die Kollegen von SPD und Grü- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen gesorgt. nen und Kollegen! Der Antrag der Linken behandelt (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Sie haben viele richtige und wichtige Themen, die wir hier im Bun- aber immer applaudiert!) destag bereits häufig debattiert haben. Es ist bekannt, dass wir viele der genannten Forderungen unterstützen –Nein. und dazu schon zahlreiche Anträge gestellt haben. Ich kann Ihnen sagen, warum der Effekt in Deutsch- Insgesamt sieht dieser Antrag aber schon ein bisschen land besonders stark ist. Deutschland hatte im Gegensatz nach Wahlkampfhilfe für die Linke in Baden-Württem- zu vielen anderen Ländern in Europa keinen Niedrig- berg aus. lohnsektor, mit dem Ergebnis, dass wir 2004/2005 unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder mehr als 5 Mil- (Zurufe von der FDP: Nicht doch!) lionen Arbeitslose hatten. Da es sich dabei überwiegend Mir soll es aber recht sein. Ich rede gerne zu diesen The- um geringqualifizierte Beschäftigte handelte, hatte men; denn sie sind mir ein Anliegen. Gerhard Schröder damals folgende Idee: Wenn wir diese Menschen in Arbeit bringen wollen, müssen wir Arbeits- Wichtig sind mir diese Themen auch – Herr Kolb, Sie verhältnisse schaffen, bei denen der Lohn, der dort zu sprechen es immer wieder an –, weil wir Grünen sehr Buche steht, auch mit einer geringeren Wertschöpfung wohl wissen, dass die Politik unter Rot-Grün zu Fehlent- erarbeitet werden kann. Bezogen auf das zurückliegende wicklungen beigetragen hat, die korrigiert werden müs- Jahrzehnt ist dieser Effekt in Deutschland deswegen be- sen. Entscheidend ist, dass wir die Augen nicht ver- sonders ausgeprägt. schließen. Schon lange wollen und fordern wir an ver- schiedenen Stellen Korrekturen. Man kann das alles also erklären. Ich habe es Ihnen bewusst erläutert, damit Sie bei Ihrem nächsten Antrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vielleicht von neuen Erkenntnissen und Analysen ausge- hen. Die Arbeitswelt wird zunehmend atypisch: Prekäre Beschäftigung nimmt zu. Viele Menschen erleben tag- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE täglich eine Arbeitswelt, die aufreibender und unsicherer GRÜNEN]: Die FDP auch!) wird, und viel zu viele Menschen arbeiten und können 11338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Beate Müller-Gemmeke (A) dennoch nicht von ihren Löhnen leben. Die Koalition Ich kann in Richtung der Koalitionsfraktionen nur sa- (C) ignoriert diese Realität. gen: Stellen Sie sich endlich ernsthaft dem Thema Min- destlohn; denn alle Menschen haben das Recht, für ihre Ich habe ebenfalls das Zitat von Minister Brüderle ge- Arbeit gerecht und fair entlohnt zu werden. lesen: „Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich.“ Als ich das las, dachte ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – es kommt selten vor –: Recht hat er. Wenn sich die Bun- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- desregierung für Lohnerhöhungen, ausgehandelt durch KEN) die Tarifparteien, ausspricht, muss sie aber auch selber Wir begründen höhere Löhne aus der Perspektive der ihre Möglichkeit nutzen und Verantwortung überneh- Beschäftigten. Sie müssen diese Begründung aber nicht men. Konkret bedeutet das, dass sie für entsprechende teilen; Mindestlöhne und die konsequente Regulierung politische Rahmenbedingungen sorgen muss, damit pre- der Leiharbeit könnten auch mit Ihrer wirtschaftspoliti- kär Beschäftigte, die eben nicht von tariflichen Lohner- schen Programmatik begründet werden, auch mit der höhungen profitieren, endlich Löhne erhalten, von denen wettbewerbspolitischen Tradition der FDP; denn Dum- sie auch leben können. pinglöhne führen zu einer Wettbewerbsverzerrung zulas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten der tariftreuen Betriebe, die vom Markt verdrängt werden, wenn sie faire Löhne zahlen. Die Bundesregierung und insbesondere die FDP ste- hen aber bei allen notwendigen Maßnahmen auf der Sie haben sich auch den Subventionsabbau auf die Bremse. Das geht zulasten der Beschäftigten und der Fahnen geschrieben. Mit Mindestlöhnen und allgemein- Ärmsten in unserer Gesellschaft. verbindlich erklärten Tariflöhnen über dem Niveau des Arbeitslosengeldes II wäre endlich Schluss mit der staat- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nehmen Sie das lichen Subventionierung beispielsweise bei der Leihar- zurück, Frau Kollegin! – Gegenruf des Abg. beit. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da hat die Kollegin völlig recht!) (Beifall des Abg. Josip Juratovic [SPD]) Wir unterstützen zwar nicht alle, aber etliche Forde- Vor allem könnten Sie auch bei der Haushaltskonsolidie- rungen in diesem Antrag, und zwar ohne Wenn und rung punkten, weil höhere Löhne auch zu höheren Ein- Aber. nahmen führen, die Sozialversicherungen stabilisieren und die Sozialleistungen mindern. Alles zusammen (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE würde Ihrer Programmatik voll und ganz entsprechen. LINKE]) (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Wir brauchen eine Regulierung in der Leiharbeit, Ände- sowie bei Abgeordneten der SPD) rungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz, Erleichterun- gen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifver- Programmatik hin oder her: Schlussendlich geht es trägen und ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften. um Gerechtigkeit. Die Politik darf sich nicht einer alter- Wir brauchen insbesondere – das steht nicht im Antrag nativen Zwangsläufigkeit eines freien Marktes unterord- der Linken – eine Reform bei den Minijobs. Davon wür- nen. Die Gesellschaft und die Menschen sind nicht aus- den vor allem Frauen profitieren. schließlich Teil der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft ist Teil der Gesellschaft. Daraus ergeben sich Konsequen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zen für die Politik. In diesem Sinne möchte ich mit ei- und bei der LINKEN – Max Straubinger nem Zitat von Margot Käßmann enden: [CDU/CSU]: Wollen Sie sie abschaffen, Frau Müller-Gemmeke?) Die Schwächsten sind der Maßstab für die Gerech- tigkeit. Wir fordern auch eine Grundsicherung, die gesellschaft- liche, kulturelle und politische Teilhabe ermöglicht. Vielen Dank. Dazu gehört auch unser Antrag, in dem wir ein Sank- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tionsmoratorium fordern. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Der zentrale und wichtigste Punkt ist aber ein gesetz- KEN) licher Mindestlohn. Ich wünsche mir noch immer, dass wir, die Opposition, dabei an einem Strang ziehen. Das Präsident Dr. Norbert Lammert: entscheidende Thema ist momentan nicht die Höhe des Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für Mindestlohns; entscheidend ist, dass überhaupt ein Min- die CDU/CSU-Fraktion. destlohn eingeführt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der FDP) sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Josip Juratovic [SPD] – Dr. Heinrich L. Max Straubinger (CDU/CSU): Kolb [FDP]: Wie viel darf es denn momentan sein?) Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke legt heute wieder ein Sammelsurium – Herr Kolb, wir haben da immer eine sehr klare Mei- der bekannten Vorschläge vor, um damit Wahlkampf zu nung. betreiben; das ist offensichtlich, aber das wird Ihnen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11339

Max Straubinger (A) nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass die Programm- Ich bin natürlich auch über Behauptungen verwun- (C) punkte, die im Antrag vorgestellt werden, zum einen bei dert, dass es den Arbeitnehmern nicht besser gehen den Bürgerinnen und Bürgern nicht verfangen und dass würde. Die Lohnsteigerungen in den Jahren 2008, 2009 zum anderen ihre Umsetzung für den hiesigen Arbeits- und 2010 waren moderat, aber die Preissteigerungsrate markt und die Menschen in Deutschland sehr schlecht lag noch darunter. Somit gab es ein Einkommensplus für wäre. die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist letzt- lich entscheidend. Es werden immer die falschen Vergleiche gezogen. Herr Schlecht, Sie haben hier einen sehr langfristigen Wir sind aus dem Tal der Tränen, das Rot-Grün mit Vergleich der Situation im Jahr 2002 mit der jetzigen Si- der damaligen Politik geschaffen hat und das durch mas- tuation angestellt. Sie entwerfen das Bild einer Gesell- sive Arbeitslosigkeit in Deutschland gekennzeichnet schaft des Jammerns; das trifft in keiner Weise zu. Sie war, herausgekommen. Die Arbeitnehmerinnen und Ar- sollten sich mehr in der Realität bewegen. Es ist festzu- beitnehmer sowie unsere Wirtschaftsbetriebe haben stellen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- letztlich aufgrund der Regierungsverantwortung von mern seit langem nicht mehr so gut gegangen ist wie un- CDU/CSU und FDP Kraft geschöpft. ter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt machen Sie aber auch Wahlkampf! – Beate Müller-Gemmeke In den vergangenen 18 Monaten ist es noch besser ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja worden; richtig dicke! Reden Sie doch mal zum (Beifall bei der FDP) Thema!) denn die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland – unter Das wird auch weiterhin so sein. Damit werden die Men- Rot-Grün waren etwa 5 Millionen Arbeitslose zu bekla- schen eine richtige Grundlage für Beschäftigung haben. gen – ist auf 3 Millionen gesunken; das heißt, 2 Millio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen zuvor arbeitslose Menschen haben eine Arbeit ge- funden. Das ist letztendlich die Grundlage dafür, ein Lassen Sie uns noch einmal die Debatte von heute eigenständiges Leben zu führen. Vormittag zu Gemüte führen. Da hat die versammelte Linke in diesem Haus aufgrund der schrecklichen Ereig- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nisse in Japan gefordert, sofort aus der Nutzung der Das ist aber nicht im Sinne der Linken in unserem Kernkraft auszusteigen. Auch das bedeutet mehr Ar- Lande. Sie fordern hier, die Zumutbarkeitsregeln, die beitslosigkeit in unserem Land, und zwar von gutbezahl- (B) Rot-Grün richtigerweise geändert hat – ich möchte das ten Kräften. (D) anerkennen –, aufzubohren, sodass es beispielsweise für (Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und jemanden, der früher als Architekt beschäftigt war, nicht dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beate mehr zumutbar wäre, einen Job als Bauaufseher anzu- Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nehmen. Das wird in Ihrem Antrag begründet. Wir sehen NEN]: So ein Quatsch!) das anders. Wichtig ist, dass jeder eine zumutbare Arbeit annimmt, weil das letztlich entscheidend dafür ist, am – Natürlich! Die Menschen in den Kraftwerksbetrieben Arbeitsprozess teilnehmen zu können. wollen arbeiten und nicht mit Sozialplänen abgespeist werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Man wundert sich schon, wenn man an Folgendes denkt: Ihre Vergangenheit liegt in der PDS und im Sozia- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE lismus der DDR. Dort gab es eine disziplinierende GRÜNEN]: Wissen Sie, wie viele Arbeits- Pflicht, nämlich die Arbeitspflicht, werter Herr Kollege plätze bei den erneuerbaren Energien anste- Schlecht, hen?) (Zuruf von der FDP: Durfte man eigentlich Das muss man einmal deutlich sagen. streiken in der DDR?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und keine sogenannte disziplinierende Wirkung unter der FDP) dem Gesichtspunkt: Wenn ich arbeite, habe ich auch Sie nehmen letztlich keine Rücksicht auf die Arbeit- mehr zum Leben. – Das ist nämlich ein gewaltiger Un- nehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Linken wollen nur terschied. In der damaligen DDR musste man arbeiten; einen Beitrag zur Deindustrialisierung des Landes leis- trotzdem hat man schlecht verdient. Auch das ist Reali- ten. tät. ( [CDU/CSU]: So ist es! – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- neten der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stehen doch im- Das wollen Sie offensichtlich hiermit erreichen. mer auf der Bremse, wenn es um neue Techno- logien geht!) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das hätten die Linken gerne wieder! – Jörn Ihre Forderung, dass Siemens keine Kraftwerkstechnik Wunderlich [DIE LINKE]: Herr Straubinger mehr exportieren solle, stellt nur ein Arbeitsplatzpro- guckt in die Zukunft!) gramm für die französische, für die amerikanische, für 11340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Max Straubinger (A) die chinesische, für die japanische Industrie sowie mög- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo wer regiert?) (C) licherweise für die Exporteure aus Russland dar. Auf de- in denen Schwarz-Gelb am längsten zusammen regiert ren Technik möchte ich mich nicht verlassen. Da ist es und in denen seit langer Zeit eine christlich-liberale Poli- mir lieber, wenn unser Land funktionierende Sicher- tik gemacht wird. heitstechnik exportiert (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Lieber deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sche Waffen exportieren!) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ganz genau! – Zuruf der Abg. [SPD]) und wenn die entsprechenden Arbeitsplätze in unserem Land gesichert sind, meine Damen und Herren. Das ist beispielsweise in Baden-Württemberg der Fall. Die durchschnittliche Kaufkraft in Baden-Württemberg (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liegt 7 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Dafür gibt Um diese Frage geht es auch am Sonntag bei den es einen Grund. Das fällt nicht vom Himmel. Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in Baden- Wir müssen die Voraussetzungen für Investitionen Württemberg. schaffen. Wir müssen das für Investitionen notwendige (Zuruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE Vertrauen aufbauen, und wir müssen in die Bildung in- LINKE]) vestieren. Deswegen ist es ein Kernanliegen dieser Bun- desregierung, die Bildungsausgaben des Bundes zu er- Wer für Arbeitsplätze ist, tut gut daran, die CDU zu un- höhen. Sie sollen bis zum Jahr 2013 um 12 Milliarden terstützen. Euro erhöht werden. (Zuruf von der SPD: Das hat Sie wieder 1 Pro- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Keine Schulex- zent gekostet! – Weitere Zurufe von der SPD perimente in Baden-Württemberg! – Zuruf der und der LINKEN) Abg. Katja Mast [SPD]) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. In Baden-Württemberg hatten wir schon im Jahr 2006 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die höchsten Bildungsausgaben eines westdeutschen Flächenlandes: 5 000 Euro pro Kind. Wir haben im Rah- men einer Bildungs- und Qualitätsoffensive weitere Präsident Dr. Norbert Lammert: 528 Millionen Euro investiert. Die Schlusssequenz wird als Wahlkampfspot geson- dert gesendet. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut! Das muss auch so bleiben!) (B) (Heiterkeit) (D) Ich kann Ihnen sagen: Das ist die richtige Politik. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Kober Diese Politik hilft den Menschen. Sie sorgt dafür, dass für die FDP-Fraktion. die Menschen aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt (Beifall bei der FDP) erwirtschaften und auf eigenen Beinen stehen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Schwächsten in dieser Gesellschaft angespro- Lieber Kollege Schlecht, Sie haben Ihre Rede mit der chen wurden, möchte ich sagen, dass diese Bundesregie- Aussage begonnen, Deutschland habe ein zentrales Pro- rung dafür gesorgt hat, dass wir in Bildung und bessere blem. Dem möchte ich entgegenhalten: Deutschland hat Teilhabechancen von jungen Menschen investieren. vor allen Dingen einen zentralen Vorteil, eine zentrale (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Kraft mit einer zentralen Idee: Das ist die Politik der GRÜNEN]: Sie haben bei den Schwächsten in christlich-liberalen Koalition. So erfolgreich ist bisher der Gesellschaft gespart!) noch keine Koalition in diesem Land gewesen. Gerade die Schwächsten der Gesellschaft profitieren da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – von. Wir haben das Bildungspaket auf den Weg gebracht Anette Kramme [SPD]: Eine phänomenale und unterstützen damit die Menschen, die Sie vergessen Rede! – Weiterer Zuruf von der SPD: Was für haben. Wir bringen 740 Millionen Euro auf, um gerade ein toller Einstieg!) die Kinder von Langzeitarbeitslosen, von Wohngeld- In die Regierungszeit dieser Bundesregierung fiel die empfängern und Empfängern des Kinderzuschlags zu geringste Arbeitslosigkeit seit 1991. Sie werden anmer- unterstützen. ken, das sei nicht allein die Tat dieser Regierung. Völlig (Beifall bei Abgeordneten der FDP) richtig: Das ist die Tat vieler Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer sowie vieler innovations- und investitions- All das ist Ausweis einer verantwortungsvollen Poli- freudiger Unternehmer. tik, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ganz genau!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die muss auch fortgesetzt werden!) Es müsste Ihnen doch zu denken geben, dass diejenigen Länder am erfolgreichsten sind, und zwar insbesondere die Wohlstand und Teilhabechancen für die Menschen hinsichtlich Arbeitsplätze, Wohlstand und Kaufkraft, schafft. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11341

Pascal Kober (A) Vielen Dank. Lohndumping passt nun einmal nicht zu sozialer Markt- (C) wirtschaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert: GRÜNEN]: Sehr gut!) Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Peter Deshalb ist in solchen Fällen staatliches Handeln not- Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. wendig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE neten der FDP) GRÜNEN]: Das sagen wir schon immer!) Das ist der Grund dafür, dass CDU, CSU und FDP in der Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Regierung Helmut Kohl unter Federführung von Norbert Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Blüm das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffen ha- Zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft ge- ben. Das ist auch der Grund dafür, dass wir in der Gro- hören in der Tat gute Löhne für gute Arbeit. ßen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten das (Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeits- SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ bedingungengesetz novelliert haben. Wir wollten Fol- DIE GRÜNEN – Beate Müller-Gemmeke gendes möglich machen: Dort, wo es notwendig ist, sol- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! – len branchenbezogene Mindestlöhne vereinbart werden Zurufe von der LINKEN: Bravo!) können. In einer sozialen Marktwirtschaft werden die Löhne des- Jetzt schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wir haben wegen in freier Verhandlung zwischen Gewerkschaften mittlerweile in acht Branchen Mindestlöhne. Fünf dieser und Arbeitgeberverbänden festgelegt, geschützt durch Mindestlöhne sind unter der Regierung von CDU/CSU die Tarifautonomie, die in unserem Grundgesetz festge- und FDP eingeführt worden. schrieben ist. Es gibt keinen besseren Weg zu guten Löh- (Burkhard Lischka [SPD]: Da haben Sie sich nen als den über die Tarifautonomie. aber geziert!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nur ein einziger Mindestlohn ist aufgrund des Gesetzes Wenn wir die vergangenen drei Jahre betrachten, in aus der Regierungszeit der CDU/CSU von Rot-Grün denen die Bundesrepublik Deutschland die schwerste festgelegt worden. Wirtschaftskrise seit ihrem Bestehen durchgemacht hat, (Manfred Grund [CDU/CSU]: Welcher war (B) müssen wir feststellen, dass die Tarifpartner, also die Ge- (D) das?) werkschaften und die Arbeitgeberverbände, in hohem Maße verantwortlich gehandelt haben. Sie haben bei- Die Schlussfolgerung lautet also: Mindestlöhne gibt es spielsweise in der Krise Tarifverträge abgeschlossen, in dann, wenn CDU/CSU und FDP regieren, und sie gibt es denen die Beschäftigungssicherung an Nummer eins praktisch nie, wenn Rot-Grün regiert. stand und damit Vorrang hatte, während man bei den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Lohnforderungen sehr bescheiden war. derspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auf der anderen Seite gilt: Jetzt, in Zeiten des wirt- DIE GRÜNEN) schaftlichen Aufschwungs, muss es auch möglich sein, Genauso geht es weiter. Noch heute werden wir hier entsprechende Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmerin- im Deutschen Bundestag das Arbeitnehmerüberlassungs- nen und Arbeitnehmer zu realisieren. Genau das haben gesetz novellieren und damit ermöglichen, dass für die der Bundeswirtschaftsminister und die Bundeskanzlerin Zeitarbeit ein Mindestlohn, eine untere Lohngrenze, gesagt. Sie haben recht damit. Die Tarifautonomie hat festgelegt werden kann. Heute ist also ein Tag, an dem uns geholfen, aus der Krise herauszukommen. Jetzt hilft wir die Grundlage für einen weiteren Mindestlohn, näm- sie, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am lich in der Zeitarbeit, schaffen. Aufschwung teilhaben können. Das ist richtig. (Johannes Kahrs [SPD]: Aber nicht freiwillig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Und es funktio- Am vergangenen Freitag hat der Gemeinsame Tarif- niert schon!) ausschuss einen Mindestlohn für das Wach- und Sicher- heitsgewerbe festgelegt. Jetzt ist der Weg frei, dass auch Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, die Tarifauto- dieser Mindestlohn durch die Bundesministerin für Ar- nomie in Deutschland schlechtzureden. Im Gegenteil: beit und Soziales per Rechtsverordnung festgelegt wer- Sie hat sich bewährt, sie ist erfolgreich, und sie wird den kann. auch in Zukunft erfolgreich sein. Ich wiederhole: Es ist notwendig, dass der Staat dort, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wo die Tariffindung nicht mehr funktioniert, hilft und Richtig ist aber auch, dass es Bereiche gibt, in denen Lohndumping entgegenwirkt. Wir handeln, indem wir sie nicht funktioniert. branchenbezogene Mindestlöhne einführen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Johannes Kahrs [SPD]: Das hat aber lange ge- GRÜNEN]: Genau!) dauert, Herr Kollege!) 11342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Diese Mindestlöhne sind zum größten Teil in Zeiten, in Paul Schäfer (Köln) (C) denen CDU/CSU und FDP regiert haben, festgelegt wor- Agnes Malczak den, bzw. sie werden jetzt neu festgelegt. Damit ist ei- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gentlich klar, wer entgegen aller Verdächtigungen und gemäß § 96 der Geschäftsordnung aller Polemik der eigentliche Begründer von Mindest- löhnen in Deutschland ist, nämlich die christlich-liberale – Drucksache 17/5243 – Koalition. Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Abgeordnete Klaus-Peter Willsch chen bei der SPD und der LINKEN) Johannes Kahrs Dr. h. c. Jürgen Koppelin Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Dr. Gesine Lötzsch diese Debatte offensichtlich wegen der Wahlen am kom- Alexander Bonde menden Sonntag in Rheinland-Pfalz und Baden- Württemberg beantragt worden ist. Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der Präsident Dr. Norbert Lammert: Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Herr Kollege Weiß, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie wegen der zu Ende gegangenen Rede- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zeit zu den Wahlen in Baden-Württemberg und Rhein- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibt es kei- land-Pfalz leider nichts Sachdienliches mehr vortragen nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. können. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nächst dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) de Maizière. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsident, es bedarf in der Tat nur noch einer Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- einzigen Bemerkung. Baden-Württemberg ist mit teidigung: 5 Prozent Wirtschaftswachstum und der niedrigsten Ar- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe beitslosigkeit das Spitzenland in Deutschland. Deswe- Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Wehrrechtsände- gen haben tüchtige Bürgerinnen und Bürger eine tüch- rungsgesetz, das heute abschließend beraten wird, setzen (B) tige Regierung aus CDU und FDP verdient, die diesen wir die Verpflichtung zum Grundwehrdienst zum 1. Juli (D) Kurs fortsetzt. dieses Jahres aus. Zugleich führen wir einen freiwilligen Wehrdienst ein. Beides sind zentrale Elemente auf dem Vielen Dank. Weg zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Ich wieder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hole: Wir reden nicht nur über die Aussetzung der Wehr- pflicht, wir reden gleichzeitig über die Einführung eines neuen freiwilligen Wehrdienstes. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leis- tungsstark, wirksam, international geachtet und im Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Bündnis verankert sowie nachhaltig finanzierbar sind. Drucksache 17/4877 an die in der Tagesordnung aufge- Unser Land braucht Streitkräfte, die auf die gegenwär- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- tige Situation reagieren können und ausreichend vorbe- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung reitet und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen so beschlossen. anzupassen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Das ist der Grund, warum eine Neuausrichtung der Bun- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes deswehr erforderlich ist. zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011 Ich habe bei meinem Amtsantritt – dieser war erst vor (Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 – Wehr- drei Wochen – gesagt, dass ich mir die Zeit nehme, die ich RÄndG 2011) brauche. Das heißt nicht, dass ich Entscheidungen auf die – Drucksache 17/4821 – lange Bank schiebe oder schieben kann. Bis Juni dieses Jahres möchte ich die grundlegenden Festlegungen über Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi- die Zahl der Soldaten, über das Fähigkeitsprofil und über gungsausschusses (12. Ausschuss) die groben Strukturen der Bundeswehr treffen. Auch die – Drucksache 17/5239 – Entscheidung über das Ministerium und die Entschei- dung über die zivile Wehrverwaltung gehören dazu. Alle Berichterstattung: diese Entscheidungen müssen in einem Zusammenhang Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) getroffen, in einem Zusammenhang begründet und in ei- Dr. Hans-Peter Bartels nem Zusammenhang umgesetzt werden. Das habe ich Elke Hoff vor. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11343

Dr.Bundesminister Thomas de Maizière, Dr. Thomas Bundesminister de Maizière der Verteidigung (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schlage Ihnen deshalb vor, dass wir schon nach dem ers- (C) ten Jahr eine Evaluierung dieses Gesetzes und des frei- Die Entscheidung, die Verpflichtung zum Grund- willigen Wehrdienstes durchführen. Dazu werde ich dem wehrdienst auszusetzen, ist richtig, und sie ist nicht mehr Deutschen Bundestag gern einen Bericht vorlegen. Dann infrage zu stellen. können wir sehen, welche Erfahrungen wir damit ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten macht haben und wo wir im Einzelnen nachsteuern müs- der CDU/CSU) sen. Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspoli- Meine Damen und Herren, wir setzen natürlich ver- tisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militä- stärkt auf Nachwuchswerbung. Wir müssen sicherstel- risch nicht mehr erforderlich. len, dass wir die Besten und die Fähigsten für den neuen (Zuruf von der SPD: Na ja!) freiwilligen Wehrdienst gewinnen, und zwar solche Frauen und Männer, die als Soldaten auch eine ethische Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auch Verpflichtung empfinden; ich komme gleich darauf zu- nicht mehr gewährleistet. Es gibt keinen Weg zurück. rück. Ich sage das nicht mit Freude. Denn die Aussetzung der Wehrpflicht heute ist kein Freudenakt. Es ist eine not- Deswegen – aber nicht nur deswegen – auch ein Wort wendige, aber mich nicht fröhlich stimmende Entschei- an die jungen Frauen. Bisher haben wir um junge Frauen dung. als länger dienende Zeitsoldaten geworben, nicht als Grundwehrdienstleistende. Das wird sich jetzt ändern. Entscheidend sind heute nicht mehr hohe Zahlen von Soldaten, sondern professionelle Streitkräfte, die unter Es ist nicht nur aus Gründen der Demografie und eines schwierigen und anspruchsvollen Bedingungen rasch Ergänzungsbedarfs, sondern es liegt auch im Sinne der und erfolgreich im Inland und im Ausland im Rahmen Streitkräfte, dass wir mit dieser tollen Generation junger der verfassungsrechtlichen Grundlagen zum Einsatz ge- Frauen so umgehen und um sie so werben, dass wir viele bracht werden können. von ihnen für die Streitkräfte gewinnen. Ich würde mich freuen, wenn Sie alle dabei mithelfen. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, tritt an die Stelle des verpflichtenden Grundwehrdienstes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ein neuer freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- für junge Frauen und Männer. Weder die verfassungs- NISSES 90/DIE GRÜNEN) rechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage der Wehrpflicht werden gänzlich abgeschafft. Nicht zuletzt Der deutlich verbesserte Wehrsold für den freiwilli- ist dies eine Rückversicherung mit Blick auf die sich in gen Wehrdienst und die Verpflichtungsprämien für Sol- (B) der Zukunft möglicherweise ändernden sicherheitspoliti- daten auf Zeit senden starke Signale. Ich freue mich sehr (D) schen Rahmenbedingungen. über den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der vorsieht, dass man bestimmte Zahlungen wegen der Mit dem freiwilligen Wehrdienst verdeutlichen wir längeren Beratungsfrist des Bundesrates schon vor In- zugleich, dass junge Frauen und Männer Dienst in der krafttreten des Gesetzes leisten kann. Das wäre für uns Bundeswehr im Sinne eines staatsbürgerlichen Engage- eine gute Grundlage, um kurzfristig zu handeln. ments leisten können, ohne sich gleich länger als Soldat auf Zeit verpflichten zu müssen. Das ist ganz ohne Frage Wir streben bessere Unterbringungsstandards für ein Einschnitt. Niemand kann Ihnen heute mit Sicherheit Mannschaften und nach Möglichkeit heimatnahe Ver- sagen, wie viele Freiwillige am 1. Juli zu uns kommen wendungen an. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Fort- werden. geltung der Steuerfreiheit der Geld- und Sachbezüge, der kostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungen Es gibt viele Spekulationen über die Zahlen; dabei wird hinsichtlich der Kurzzeitfreiwilligen und Grund- des Arbeitsplatzschutzgesetzes, all das sind weitere Ele- wehrdienstleistenden viel durcheinandergeworfen. Ich mente einer attraktiven Ausgestaltung des freiwilligen kann das nicht im Einzelnen bewerten. Ich finde es nicht Wehrdienstes. verwunderlich, dass es keine klare Auskunft über die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zahlen gibt; schließlich verabschieden wir erst heute diesen Gesetzentwurf. Ich werde keine Zahl nennen, wie Darüber hinaus wollen wir im Rahmen der Berufsför- viele wohl am 1. Juli den neuen freiwilligen Wehrdienst derung die Möglichkeiten der Teilnahme an Aus-, Wei- antreten werden. Ich freue mich über jede und über je- ter- und Fortbildungsmaßnahmen erweitern. den, der kommt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Satz aus dem Entschließungsantrag der SPD vortragen, Die Frage, ob dieses Gesetz ein Erfolg wird, entschei- den ich mir gerne zu eigen machen möchte – ich zitie- det sich erst im Laufe der Jahre, nicht im ersten Quartal re –: dieses Jahres. Wer freiwillig Wehrdienst leistet, muss besser ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stellt werden als derjenige, der keinen Freiwilligen- dienst versieht. Ich halte es für selbstverständlich, dass gesetzgeberische Entscheidungen – auch diese – auf ihre Praktikabilität (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und gesellschaftliche Akzeptanz überprüft werden. Ich der FDP) 11344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

BundesministerDr. Thomas de Maizière, Dr. Thomas Bundesminister de Maizière der Verteidigung (A) Damit bin ich voll einverstanden. Ich werde Sie daran Grundwehrdienst eingezogen werden, dann ist es mit der (C) erinnern. Wenn wir mit SPD-Wissenschaftsministern allgemeinen Pflicht zum Dienen nicht mehr weit her. über Wartezeiten und Ähnliches reden, dann hoffe ich auf Ihre Unterstützung. Deshalb haben wir Sozialdemokraten bereits in der letzten Wahlperiode den Übergang zu einem freiwilligen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Wehrdienst vorgeschlagen. Dass Sie von der Regie- FDP) rungskoalition nun auf diese Idee eingehen, begrüßen wir ausdrücklich. Unser Konzept orientiert sich an den – Vielen Dank. positiven Erfahrungen mit den FWDL, den 25 000 frei- Nur wenn wir den Dienst attraktiv ausgestalten, si- willig länger Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr. chern wir die personelle Einsatzbereitschaft der Bundes- Auch hier sehe ich einen gemeinsamen Ansatz von Re- wehr. Das alles ist notwendig und unverzichtbar. Aber gierung und SPD. – das soll im Rahmen dieser Rede mein letzter Gedanke sein – neben den rein materiellen Maßnahmen zur Steige- Um Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ko- rung der Attraktivität darf ein Aspekt nicht vernachlässigt alition, nun aber nicht durch zu viele Gemeinsamkeiten werden: Jeder, der sich für einen Dienst in den Streitkräf- zu irritieren, will ich einiges zu Ihrem Umgang mit dem ten entscheidet, ob als freiwillig Wehrdienstleistender Thema Wehrpflicht in den vergangenen Monaten sagen: bzw. als Berufs- oder als Zeitsoldat, muss Anerkennung Dass Ihr damaliger Verteidigungsminister erst theatra- für seinen freiwilligen Dienst erfahren. Wer ausschließ- lisch beteuern musste, mit ihm sei die Abschaffung der lich wegen des Geldes zur Bundeswehr kommt, ist viel- Wehrpflicht nicht zu machen, um dann Monate später leicht genau derjenige, den wir nicht haben wollen. genau dies in die Wege zu leiten, entbehrt nicht gerade einer gewissen persönlichen Konsequenz. Das haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei ihm öfter erlebt; sei es drum. Aber die Verkürzung der Grundwehrdienstzeit von neun auf sechs Monate, Ausschließlich mit finanziellen Anreizen und Ver- wie es Ihr Kompromiss im Koalitionsvertrag vorsah, war günstigungen werden wir den freiwilligen Wehrdienst nun wirklich eine Veralberung Ihres eigenen sicherheits- nicht lebensfähig erhalten und der Bundeswehr nicht politischen Sachverstandes und eine Veralberung der helfen. Ein Soldat muss sich darauf verlassen können, Bundeswehr. dass sein Dienst als das angesehen und geachtet wird, was er ist: als ein Dienst an unserer Gesellschaft, als ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ehrenvoller Dienst für unser Land, auf den der Soldat DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer stolz ist und auf den unser Land stolz ist. [Köln] [DIE LINKE]) (B) Wenn es gelingt, dafür ein größeres Bewusstsein zu W6, das nützt und nutzte niemandem: den Wehr- (D) schaffen – das geht mit keiner Werbekampagne und auch pflichtigen nicht, der Truppe nicht, nicht einmal der Ko- nicht über Nacht, sondern nur im Rahmen eines Prozes- alition. ses, den wir in unserer Gesellschaft anstoßen müssen – und sichtbar zu machen, was Soldaten heute und morgen für unser Land leisten, dann können wir zuversichtlich Präsident Dr. Norbert Lammert: sein, dass auch künftig der Dienst in der Bundeswehr, Herr Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischen- auch der freiwillige Wehrdienst in der Bundeswehr, zum frage des Kollegen Koppelin? Wohle und Nutzen von uns allen ist. Ich bitte Sie auf die- sem Weg herzlich um Unterstützung. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber gern. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Im Sinne der Präsident Dr. Norbert Lammert: Vernunft! – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Hat Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter er wieder kein Rederecht?) Bartels für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Verehrter Herr Kollege, da Sie die Haltung der Union Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): angesprochen haben, möchte ich fragen: Wie war es in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei- Ihrer Partei? Sie waren schließlich in einer Koalition mit gentlich ist dies ein Thema, bei dem hier im Bundestag den Grünen. Ich erinnere daran, dass die Grünen, ähnlich sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten sichtbar werden wie die FDP, für die Aussetzung der Wehrpflicht waren. können. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass die (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bisherige Ausgestaltung der Wehrpflicht nicht mehr halt- Richtig!) bar ist. Wenn fast die Hälfte eines Jahrgangs als untaug- lich ausgemustert wird, damit das Verfassungsgebot der Die Grünen konnten es nicht durchsetzen. Wir haben es Wehrgerechtigkeit nicht zu eklatant verletzt wird, dann in dieser Koalition durchgesetzt. Wie war da die Haltung ist das nicht mehr haltbar und muss geändert werden. der Sozialdemokraten? Erinnere ich mich richtig, dass Wenn aus einem Jahrgang von 400 000 jungen Männern Ihre Verteidigungsminister gesagt haben: Mit uns ist das nur noch 50 000 im Jahr zu einem praktikumsartigen nicht zu machen? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11345

(A) Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Ich lese Ihnen vor, was die Kreiswehrersatzämter in (C) Genau. Deshalb sind wir dabei geblieben. den ersten Tagen dieses Jahres 160 000 wehrpflichtigen jungen Männern per Brief mitgeteilt haben: (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist aber sehr konsequent! – Zuruf von der SPD: Quali- Die Bundesregierung hat beschlossen, ab dem tät setzt sich eben durch!) 1. Juli 2011 die Einberufung zum Grundwehrdienst auszusetzen. – Ja, das hätte eine Frage an die Grünen sein können. Wir hatten kein Problem damit, dass wir als Befürworter Und weiter: der Wehrpflicht in der Koalition mit den Grünen bei der Im Vorgriff auf die geplante gesetzliche Regelung Wehrpflicht geblieben sind. In der letzten Wahlperiode besteht (…) die Möglichkeit, ab dem 1. März 2011 hätte es die Möglichkeit gegeben, mit der Union zu et- was Neuem zu kommen. Das ist offenbar nur unter Ih- – das war schon – rem Einfluss möglich gewesen. freiwilligen Wehrdienst zu leisten. (Lachen bei der FDP – Dr. h. c. Jürgen Ich frage Sie, Herr Minister de Maizière: Wozu bera- Koppelin [FDP]: Mit den Grünen nicht, aber ten wir hier eigentlich noch einen Gesetzentwurf, wenn mit der Union! Das soll mal einer verstehen! – die Regierung der Auffassung ist, es gehe auch ohne? Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt werfen Sie der Union einen Zickzackkurs (Christoph Schnurr [FDP]: Weil wir das Parla- vor! Das ist abenteuerlich!) ment sind!) W6 war ein Kompromiss, der eigentlich eine Win- Wieso machen Sie als Koalitionsfraktionen sich noch die win-Situation hätte werden sollen. Wenn man Kompro- Mühe, Änderungsanträge zum Gesetzentwurf der Regie- misse eingeht, sollten eigentlich beide Seiten gewinnen. rung einzubringen? Die Regierung bewegt sich bei ih- In diesem Fall haben beide verloren. rem Umgang mit dem Parlament hart am Rande der Rechtsstaatlichkeit. Wir Sozialdemokraten werden Ihrem Wehrrechtsän- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derungsgesetz heute nicht zustimmen, weil die Rahmen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bedingungen noch völlig unklar sind. Das erleben wir bei der Wehrpflicht und genauso bei der (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Was?) Rücknahme der von Ihnen durchgesetzten gesetzlichen Wir kennen die Struktur der künftigen Bundeswehr Regelungen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraft- (B) nicht. Was sollen die Freiwilligen dort tun? Wir kennen werke. Es erfolgt einfach eine Rücknahme per Presse- (D) das notwendige Programm zur Steigerung der Attraktivi- konferenz. tät nicht. Das wird Geld kosten. Wird der Freiwilligen- Sie sollten ernsthaft zur verfassungsmäßigen Praxis dienst daran scheitern? Wir wissen nicht, wie Sie künftig zurückkehren. Gesetze verpflichten die Exekutive. Ge- für diesen und für die anderen Freiwilligendienste wer- setze ernst zu nehmen, ist keine freiwillige Leistung der ben wollen. Wollen Sie das überhaupt? Von nichts Regierung, sondern ihre Pflicht – auch beim Übergang kommt nichts. Schauen Sie sich einmal Ihre ersten Frei- zum freiwilligen Wehrdienst. willigenzahlen an. Das ist niederschmetternd. Der Minis- ter sprach heute von einer Evaluation, mithilfe derer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nach dem ersten Jahr geschaut werden soll, ob das alles des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) überhaupt funktioniert. Im Hinblick darauf stelle ich Ihre Reform des Wehrrechts findet nicht isoliert statt, fest: Ihr Wehrrechtsänderungsgesetz ist ein weiteres Ex- sondern sie ist Teil einer weiteren Verkleinerung der periment mit der Wehrpflicht mit dem Ziel der Abschaf- Bundeswehr, um Geld zu sparen. Das Prinzip, auch beim fung. Ich bin etwas unsicher, ob das mit den Koalitions- Militär sparsam zu haushalten, gehört wohl zu den Ge- fraktionen so vereinbart war. Wir haben das bisher an meinsamkeiten hier im Parlament. keiner Stelle so gehört. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ehrlich?) (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Kraut und Rüben! – Elke Hoff [FDP]: Unfug!) Es waren christdemokratische und sozialdemokratische Verteidigungsminister, die unsere Bundeswehr nach dem Ein Wehrrechtsänderungsgesetz für ein Jahr: herzlichen Ende des Kalten Krieges umgebaut und ihren Umfang Glückwunsch! von über 600 000 Soldaten bei der Vereinigung auf heute 250 000 reduziert haben. Seit vielen Jahren ist die Bun- Was uns als Opposition heute am meisten irritiert hat, deswehr eine Armee im Einsatz. Sie hat sich bewährt, ist der völlig wurschtige Umgang der Regierung mit gel- und sie bewährt sich heute – auch in schwierigen Missio- tenden Gesetzen. Ich hoffe, wir sind uns hier im Parla- nen. ment einig, dass die Wehrpflicht noch gilt. Etwas Neues gilt erst dann, wenn wir hier im Deutschen Bundestag Gerade in der heutigen Lage sollten wir mit beliebig ein neues Gesetz beschlossen haben; darüber reden wir anmutenden Sparvorgaben aber vorsichtig sein. Wir wis- gerade. Aber Ihr fabelhafter Minister a. D. hat die Re- sen nicht, was die nächsten Jahre bringen. Wer hätte vor form einfach vorgezogen – ganz ohne gesetzliche Grund- drei Monaten mit dieser Freiheitsbewegung in der arabi- lage. schen Welt gerechnet? Wer war 2001 auf den 11. Sep- 11346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Hans-Peter Bartels (A) tember vorbereitet? Wie lange im Voraus wussten wir, Mit diesem Gesetzentwurf geben wir den Startschuss (C) wann der Kalte Krieg zu Ende geht? Was zeigen die ak- für die vielleicht umfassendste Strukturreform, die diese tuellen Katastrophen in Japan mit Blick auf unsere Fä- Bundeswehr bisher erlebt hat, indem wir die Wehrpflicht higkeit, schnell große Personalkörper für den Katastro- jetzt aussetzen. Dadurch wird uns aber auch die Mög- phenschutz zu mobilisieren? lichkeit eröffnet, künftig Reservisten einzuziehen und im Falle eines Falles auch eine Rekonstitution zu vollzie- Ich will nicht Kassandra spielen, hen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, Sie sind auch keine Frau!) Erlauben Sie mir an dieser Stelle, den Millionen von Wehrpflichtigen meinen Dank auszudrücken, die in den aber, Herr Minister de Maizière, lassen Sie uns vorsich- letzten 56 Jahren Dienst für Deutschland und in der si- tig dabei sein, Fähigkeiten allzu leichtfertig aus der cherheitspolitischen Lagebeurteilung der frühen Jahr- Hand zu geben. Es kann einen raschen politischen Wan- zehnte auch einen wichtigen Dienst für die Sicherheit del geben – zum Guten und zum weniger Guten. Wir Europas geleistet haben. sollten deshalb nicht allzu schnell in die Lage kommen, sagen zu müssen: Die Bundeswehr kann das nicht mehr. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Schockenhoff hat in dieser Woche die Libyen-Poli- der CDU/CSU) tik des Außenministers damit begründet. Das ist nicht Ich möchte mich aber auch bei den vielen Freiwilli- gut, und das stimmt in der gegenwärtigen Lage übrigens gen bedanken. Denn wenn wir wie heute über die Aus- auch nicht. Deshalb wäre es besser, wenn wir uns einig setzung der Wehrpflicht diskutieren, dann erwecken wir wären, dass es keine Bundeswehrreform nach Kassen- immer den Eindruck, als würde die Bundeswehr nur aus lage geben darf. Wehrpflichtigen bestehen. 190 000 Soldaten der Bundes- Der ausgeplante Umfang von 185 000 Soldaten muss wehr sind Zeit- und Berufssoldaten. Auch das müssen jetzt stehen. Zerschlagen Sie nicht diese Minimalstruk- wir berücksichtigen. tur! Seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ein Prozess hin (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt!) zu einer Professionalisierung ab. Die Waffensysteme und Verfahren werden komplexer und machen eine län- Es muss struktursicher sein, dass 15 000 Soldaten frei- gere Stehzeit notwendig. Deswegen und auch vor dem willige Wehrdienstleistende sind; das darf keine variable Hintergrund einer ständigen sicherheitspolitischen Lage- Größe sein, die in den Haushaltslöchern der Zukunft ver- beurteilung ist es notwendig, die Bundeswehr zu profes- schwindet. sionalisieren, und den finalen Schritt zur Professionali- (B) (Beifall bei der SPD) sierung gehen wir mit dem Aussetzen der Wehrpflicht. (D) Lassen Sie uns bitte so viel Gemeinsamkeit herstel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten len, dass nicht jede neue Regierung eine neue Bundes- der CDU/CSU) wehrreform anfangen muss. In den vergangenen Jahrzehnten war es einfach, die Vielen Dank. sicherheitspolitische Lage Deutschlands zu beurteilen. (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Wir lebten in schwierigen Zeiten. Eine undurchdringbare CSU]: Sie kommen so schnell nicht in Versu- Grenze zog sich mitten durch unser Land, und es gab chung!) zwei Blöcke. Jetzt zeigt sich, dass die Volatilität in der politischen Präsident Dr. Norbert Lammert: Lagebeurteilung zunimmt. Ich will nur ein Beispiel nen- Nächster Redner ist der Kollege Rainer Erdel für die nen. Die Frauen und Männer, die Ende der 40er-Jahre FDP-Fraktion. unser Grundgesetz verfasst haben, haben sich sicherlich nicht vorstellen können, dass wir uns im Jahr 2010 mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Piraterie beschäftigen müssen, ein Phänomen, das in den der CDU/CSU) letzten zehn Jahren aufgetaucht ist und uns auch sicher- heitspolitisch beschäftigt. Rainer Erdel (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wenn wir nur noch 17 Prozent eines Jahrgangs unse- Kollegen! Ich danke dem Bundesverteidigungsminister rer jungen Männer als Wehrpflichtige zur Bundeswehr für seine klaren Worte heute an uns alle; denn er hat da- holen, dann kann nicht mehr von Gerechtigkeit gegen- mit einen ganz klaren Weg und ein ganz klares Ziel vor- über diesen jungen Männern gesprochen werden. gezeichnet. Er hat uns mitgeteilt, wie er sich vorstellt, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie diese Strukturreform anzugehen. Das heißt, er schießt bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE nicht aus der Hüfte. So ähnlich kommen mir aber Ihre GRÜNEN) Vorschläge vor, Herr Kollege Bartels. Nein, es gibt ein klares Konzept, einen klaren Masterplan dafür, wie diese In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder Strukturreform stattfinden soll. die Gefahr beschworen, dass ein Staat im Staat entsteht. Ich sehe diese Gefahr nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der LINKEN: Doch!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11347

Rainer Erdel (A) Unsere Zeit- und Berufssoldaten sind bereits jetzt inte- men des – auch das ist interessant – Wehrpflichtgesetzes (C) graler Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie genießen ho- eine neue Statusgruppe ein, die sogenannten freiwillig hes Ansehen. Wehrdienstleistenden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie suggerieren dabei, es handele sich um einen Frei- der CDU/CSU) willigendienst wie andere auch. Es gibt dann aber offen- sichtlich zwei Arten von Freiwilligen: einerseits die Sie tragen Verantwortung in Vereinen und Kirchen und Idealisten, die im Freiwilligen Sozialen Jahr engagiert sind kommunalpolitische Mandatsträger. Auch unter uns sind, und andererseits die freiwillig Wehrdienstleisten- sind einige Berufssoldaten, die sich politisch engagieren. den, die de facto doch berufstätig sind und für die man Deswegen ist dieser Vorwurf absurd und eine Unver- einen materiellen Anreiz schaffen muss. schämtheit gegenüber unseren Zeit- und Berufssoldaten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das führt dazu, dass diejenigen, die beispielsweise der CDU/CSU) ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, mit einem Drittel der Summe derjenigen nach Hause gehen, die den Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich neuen Wehrdienst leisten. Es handelt sich exakt um die freue mich, dass wir im Gegensatz zu der Diskussion Differenz zwischen 400 Euro und 1 200 Euro. Das fin- von vor vier Wochen heute eine sehr sachliche Diskus- den wir nicht nur ungerecht, sondern das finden wir in- sion führen. Gehen Sie diesen Weg mit! Denn im We- akzeptabel. Da gehen wir nicht mit. sentlichen sehe ich bei allen Ihren Vorschlägen ein ge- meinsames Ziel: die Bundeswehr zu reformieren. Gehen (Beifall bei der LINKEN) wir es an! Andererseits nehmen Sie eine scharfe Differenzierung Abschließend wünsche ich Ihnen, Herr Minister, viel zwischen den Quasisoldaten und den Soldaten auf Zeit Tatkraft für das klare Konzept, das Sie geschildert ha- vor. Gegenüber Letzteren sind die neuen freiwillig ben. Die Unterstützung der FDP-Fraktion ist Ihnen dabei Wehrdienstleistenden nämlich benachteiligt. Diese Dis- sicher. kriminierung erklärt sich ganz einfach daraus, dass man bei den Mannschaftsdienstgraden weiter sparen will und Vielen Dank. froh ist, Leute zu haben, die für kleines Geld arbeiten, die man aber dennoch in die Auslandseinsätze schicken (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kann. Denn spätestens nach zwölf Monaten – so steht es in Ihrem Gesetzentwurf – muss man eine Verpflich- Präsident Dr. Norbert Lammert: tungserklärung unterschreiben, dass man bereit ist, in (B) Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die Auslandseinsätze zu gehen. Auch das gefällt uns ganz (D) Fraktion Die Linke. und gar nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es scheint im Übrigen noch gar nicht klar zu sein, wie Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): viele Nachwuchssoldaten gebraucht werden. Der Gene- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass ab ralinspekteur hielt im letzten Sommer 7 500 für ausrei- Juli die Wehrpflicht für die jungen Männer ausgesetzt chend, der Exminister zu Guttenberg auch. Jetzt sind wir wird, ist, finde ich, durchaus ein Grund zur Freude, Herr bei 15 000. Die Zahl hängt natürlich vom Gesamtum- Minister. Keine Wehrüberwachung, Gewissenserklärung fang der Streitkräfte ab. Auch dieser ist nicht festgelegt, und ungewollte Zäsuren der Lebensplanungen mehr: Das ist unklar. Das zeigt, wie konfus Ihr Herangehen ist. ist durchaus gut, vor allem für die Betroffenen oder po- tenziell Betroffenen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass Sie diesen Schritt nur halbherzig und inkonsequent gehen. Auch andere Einzelheiten des Gesetzes sind unver- Spätestens seit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation daulich. Ich nenne nur zwei Beispiele. Die Meldestellen ist die sicherheitspolitische Begründung für den Pflicht- müssen unaufgefordert die Daten aller Jungen und Mäd- dienst an der Waffe entfallen. Wenn man sagt, dass es chen an die Bundeswehr schicken. Das ist mit den Da- auf absehbare Zeit keine konkrete militärische Bedro- tenschutzbestimmungen nicht in Einklang zu bringen, hung gibt, wäre es konsequent gewesen, die Wehrpflicht und das ist eine nicht zu vertretende Privilegierung der nicht nur auszusetzen, mit der Option, dies schnell wie- Bundeswehr gegenüber anderen Arbeitgebern. der rückgängig machen zu können, sondern sie abzu- schaffen. Daran halten wir fest. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Hans-Peter Außerdem fehlt in dem Gesetzentwurf eine klare Vor- Bartels [SPD]: Nächstes Jahr!) gabe, dass Minderjährige nicht angeworben werden sol- len. Die UN-Vereinbarungen zu Kinderrechten und Kin- Zu dieser Zäsur hat sich die Regierung leider nicht dersoldaten sehen einen anderen Umgang vor. durchringen können, weil Sie offensichtlich von der Sorge getrieben sind, ob Sie noch genug junge Leute für Auch diese beiden Punkte sind für uns maßgebliche die Truppe bekommen. Daher führen Sie jetzt im Rah- Gründe, weshalb wir nicht zustimmen werden. 11348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Paul Schäfer (Köln) (A) (Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich Die Mehrheit der Bevölkerung will das auch nicht. (C) [DIE LINKE]: Bundeswehr raus aus der Wahrscheinlich wäre es gut, wenn die Menschen zumin- Schule!) dest die Möglichkeit hätten, sich direkter an solchen Ent- scheidungen der Politik zu beteiligen. Darüber sollte Sie legen einen Gesetzentwurf vor, der mit heißer Na- man nachdenken. del gestrickt und in vielerlei Hinsicht misslungen ist. Das hat den einen Grund, dass die öffentlichen Kassen Vollends abenteuerlich wird es – wir reden ja über wegen Ihrer Bankenrettung klamm sind, Sie aber zu- eine Gesamtreform der Bundeswehr –, wenn Sie jetzt gleich eine Effizienzsteigerung bei der Einsatzarmee auch noch über neue Aufträge für die Soldatinnen und wollen, die Geld kostet. Nur deshalb hat insbesondere Soldaten nachdenken. Sie sollen jetzt auch noch unser Ihr Vorgänger, Herr de Maizière, die Aussetzung der wirtschaftliches Interesse an billigen Ressourcen und Wehrpflicht vorangetrieben, und nur deshalb gibt es Rohstoffen durchsetzen. Es muss definitiv klargestellt diese Eile. werden: Landesverteidigung ja, Wirtschaftskriege nein. – Basta. Dabei ist ein Murksgesetz herausgekommen, und Murksgesetzen stimmen wir nicht zu. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es bleibt mit Blick auf die Veränderungen der inneren Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluss ein paar Verfassung der Bundeswehr richtig, den Staatsbürger in grundsätzliche Anmerkungen: Manche sagen, der Weg- Uniform mehr in das Zentrum zu rücken. Das war in ei- fall der Wehrpflicht verändere das innere Gefüge der nem bestimmten historischen Einschnitt schon einmal Streitkräfte und ihre Stellung in der Gesellschaft erheb- notwendig, nämlich 1969/70, als es darum ging, den lich. An dieser These könnte etwas dran sein. Wenn die überkommenen Traditionalismus aus der Wehrmacht zu alte Klammer von Staatsbürger, Landesverteidigung und überwinden. Damals ging es um Modernisierung. In die- Wehrform, die eigentlich schon länger nicht mehr exis- ser Hinsicht ist einiges gelungen, was wir auch klugen tiert, jetzt vollends aufgelöst wird, dann könnte das mit Soldaten verdanken. Einer davon trägt den Namen einem beträchtlichen Risiko verbunden sein. Ulrich de Maizière. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Mit was für Jetzt geht es darum, unter veränderten Umständen den einem?) Anspruch auf größtmögliche Zivilität in den Streitkräf- ten einzulösen und das Leitbild des Staatsbürgers in Uni- – Das wird doch durchaus diskutiert. Davor können Sie form zu erneuern und mit Leben zu erfüllen. Das ist bis- doch nicht die Augen verschließen. Die Gefahr, dass wir lang nur bruchstückhaft umgesetzt, wenn überhaupt. Das (B) es irgendwann mit einer professionalisierten Kaste von ist eine Aufgabe, der sich der neue Verteidigungsminis- (D) mobilen Einsatzsoldaten zu tun haben werden, für die ter durchaus energisch stellen sollte. sich die Gesellschaft nicht mehr sonderlich interessiert, ist doch gegeben. Da muss man gegensteuern. Das ist die Das Gesetz, das heute verabschiedet werden soll, ist Aufgabe. ein schlechter Auftakt für die Bundeswehrreform. Die Minister haben gesagt, sie wollten sich Zeit zum Nach- (Zuruf der Abg. Elke Hoff [FDP]) denken lassen. Sie sollten über eine Bundeswehr nach- Entscheidend dafür ist aber nicht in erster Linie die denken, die bezahlbar ist, die den veränderten sicher- Wehrform, sondern das sind der Auftrag der Streitkräfte heitspolitischen Erfordernissen entspricht und die und der Stellenwert, den die sogenannte Innere Führung deshalb nach unserer Überzeugung erheblich kleiner und in der Praxis hat. Dieser Maßstab muss für die Bundes- defensiv ausgerichtet sein sollte. wehrreform gelten, die mit diesem Gesetzentwurf auf Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den Weg gebracht werden soll. (Beifall bei der LINKEN) Herr Minister, diese Reform muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Dazu gehört an erster Stelle, zu de- finieren, wofür wir die Bundeswehr überhaupt noch Präsident Dr. Norbert Lammert: brauchen. Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu- ruf des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU]) Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dafür brauchen wir eine gründliche und kritische Be- standsaufnahme der Auslandseinsätze der vergangenen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr 20 Jahre. Es ist ein Grundfehler, die Dinge jetzt auf die Minister de Maizière, ich wünsche Ihnen für die Aus- Erhöhung der Einsatzeffizienz zu verkürzen. Der Afgha- übung Ihres neuen Amtes viel Glück und Erfolg. Ihr nistan-Krieg ist keine Blaupause. Er darf keine Blau- Vorgänger hat Ihnen mit der Bundeswehrreform eine pause sein. Er ist ein abschreckendes Beispiel. Deshalb große Herausforderung vermacht. Allerdings hat er Ih- sagt die Linke: Diese Kriegseinsätze wollen wir nicht, nen auch das ganze Chaos vererbt, das er angerichtet hat. und wir wollen auch keine Reform, die sie effektivieren Wenn man sich die Reform als ein Haus vorstellt, soll. kommt einem das Bild einer Baustelle in den Sinn, auf der nichts an Ort und Stelle ist. Die Baupläne sind nur (Beifall bei der LINKEN) grobe Skizzen, und die Handwerker wissen noch nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11349

Agnes Malczak (A) einmal, wie viele Quadratmeter das Gebäude schließlich haft an der Wehrpflicht als Relikt des Kalten Krieges (C) haben soll. festhalten. Heute beschleicht mich manchmal der ungute Verdacht, dass sich Ihre Stimmen vor allem gegen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Forderung gerichtet haben, ein Konzept zu entwickeln. Herr Verteidigungsminister, Sie müssen sich heute noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht die volle Verantwortung für die bisherigen Fehler sowie bei Abgeordneten der SPD) zu eigen machen. Doch Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Koalition müssen sich den Vorwurf ge- Denn rund acht Monate später hat das Kabinett die Aus- fallen lassen, dass sie schon bei der Schaffung des krum- setzung der Wehrpflicht beschlossen, ohne Konzept. men und schiefen Rohbaus dabei waren. Sie haben auch viel Zeit und viele Mittel für die sinn- In der Expertenanhörung in der vergangenen Woche lose, wirklich völlig vernunftwidrige Verkürzung des wurden nicht nur die zahlreichen Fehler im Wehrrechts- Wehrdienstes auf sechs Monate verschwendet. Aus fi- änderungsgesetz thematisiert. Ein ganz grundlegender nanziellen Gründen musste die Wehrpflicht dann doch Mangel dieses Reformschritts kam wiederholt zur Spra- weichen. Auf einmal fiel auch Ihnen ein, dass die Wehr- che. Die Bundesregierung hat darauf verzichtet, vor der pflicht sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar ist. Reform über heutige und zukünftige Aufgaben, Fähig- Dann musste alles ganz schnell gehen. Heute beraten wir keiten und Grenzen der Bundeswehr zu sprechen. deshalb über ein unausgegorenes Gesetz. Das zeigen auch die zahlreichen Korrekturen der Koalitionsfraktio- (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ nen an dem ersten Entwurf. Diese Änderungen beseiti- DIE GRÜNEN]) gen zwar einige Fehler, aber viele Kritikpunkte bleiben. Das Fundament der Baustelle Bundeswehrreform ist noch viel zu schwach. Nicht zuletzt wurde in der Anhö- Da wäre zum Beispiel die fehlende Altersgrenze für rung aber auch deutlich, dass etliche Rahmenbedingun- den freiwilligen Wehrdienst. Der Entwurf schließt den gen für die Aussetzung der Wehrpflicht noch gar nicht Dienst Minderjähriger nicht ausdrücklich aus, auch geklärt sind. Attraktivität des Dienstes, Nachwuchsge- wenn bestimmte Grenzen gezogen werden. Deutschland winnung, Ausbildung und Verwendung der freiwillig kämpft international aber gegen den Einsatz und die Re- Wehrdienstleistenden sind Stichworte für ungelöste Pro- krutierung von Kindersoldaten. Wir haben das Zusatz- bleme. Wir brauchen hier schnell Antworten. Trotzdem protokoll der UN-Kinderrechtskonvention über die Be- wird mit der Verabschiedung dieses Gesetzes heute ein teiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten 2004 notwendiger und historischer Schritt vollzogen. ratifiziert. Dieses Engagement ist nur glaubwürdig und kann nur glaubwürdig sein, wenn wir bei unserer eige- (B) Wir Grüne haben seit Jahren eine Bundeswehr ohne nen Armee konsequent sind. (D) Wehrpflicht gefordert, und wir hatten und haben dafür gute Gründe. Die allgemeine Wehrpflicht war sicher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heitspolitisch schon lange nicht mehr begründbar. Der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der erhebliche Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer LINKEN) ist nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Doch die Union Deshalb fordern wir in unserem Änderungsantrag den und auch die SPD haben viel zu lange an dieser über- Bundestag dazu auf, beim Kampf gegen den Einsatz von kommenen Wehrform festgehalten. Kindersoldaten in der Bundeswehr Konsequenz zu zei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. sowie des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP] und des Abg. Stefan Liebich [DIE Präsident Dr. Norbert Lammert: LINKE]) Frau Kollegin, darf der Kollege Koppelin eine Zwi- Weniger als die Hälfte aller jungen Männer eines Jahr- schenfrage stellen oder eine Bemerkung machen? gangs hat zuletzt Wehr- oder Zivildienst geleistet. Die Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch ungerecht- Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fertigt. Sie war auch höchst ungerecht. Bitte, gerne. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]) Danke, Frau Kollegin. – Ich habe schon sehr früh, seit ich im Bundestag bin, die Freiwilligenarmee gefordert. Wirklich bitter ist aber, dass Sie so unendlich viel Zeit Wäre es nicht viel besser – man kann manches kritisie- und Ressourcen für nichts verplempert haben. Noch im ren; das billige ich Ihnen zu –, an einem solchen Tag zu- April 2010 haben wir Grüne im Bundestag einen Antrag frieden zu sein – das gilt für Ihre Partei wie für meine –, gestellt, in dem wir von der Bundesregierung gefordert dass wir uns endlich durchgesetzt haben, dass wir die haben, ein schlüssiges, tragfähiges sicherheitspolitisches Freiwilligenarmee bekommen und dass die Wehrpflicht Konzept vorzulegen, mit dem die Bundeswehr ihren ausgesetzt wird? Das ist doch ein großer Erfolg, bei allen Auftrag ohne Rückgriff auf die Wehrpflicht erfüllen Schwierigkeiten, die es noch geben wird. kann. In der namentlichen Abstimmung haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, diesen An- Vielen Dank dafür, dass ich Sie noch etwas fragen trag abgelehnt. Damals dachte ich, Sie würden krampf- darf. Können Sie in Richtung SPD sagen, wie es damals 11350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (A) in Ihrer Koalition war und warum Sie sich nicht durch- Viele der Vorschläge, die wir Grünen seit Jahren auf den (C) setzen konnten? Tisch gelegt haben, werden in der Reformdebatte disku- tiert und begrüßt. Wir haben nicht nur die Abschaffung (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – der Wehrpflicht, sondern auch eine Verkleinerung der Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Armee insgesamt, andere Strukturen und eine andere NEN]: Da ging sie noch in den Kindergarten!) Beschaffungspolitik gefordert. Aber wenn die nächsten Reformschritte genauso stümperhaft erfolgen, können Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir das nicht noch einmal unterstützen. Eine derart man- Ich weiß, dass in der Weizsäcker-Kommission disku- gelhafte Ausfertigung und Umsetzung werden wir nicht tiert wurde, den Wehrdienst auf sechs Monate zu verkür- noch ein weiteres Mal mittragen, selbst wenn dann die zen. Damals fand man das aber unsinnig, sodass man es Vorschläge in der Sache richtig sein mögen. nicht getan hat. Glauben Sie mir: Ich würde tausendmal (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir lieber unter Rot-Grün mit der SPD, die damals leider ohne Sie!) noch nicht so weit war, die Aussetzung der Wehrpflicht beschließen als heute mit Ihnen. – Sie können das auch ohne uns Grüne machen. Es mag Ihnen egal sein, ob Ihre Vorschläge vom Parlament mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN getragen werden oder nicht. und bei der SPD – Christoph Schnurr [FDP]: Ist sie heute so weit?) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Die Dro- hung nehmen wir ernst!) Wieder zurück zum Gesetz. Ein weiterer problemati- scher Punkt ist die Erhebung personenbezogener Daten Aber wir halten eine breite parlamentarische Unterstüt- der 17-Jährigen bei den Meldebehörden und die Spei- zung für die Reform der Parlamentsarmee für notwen- cherung dieser Daten für ein Jahr. Die massenhafte Da- dig. tensammlung soll zum Zwecke der Werbung für den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freiwilligen Wehrdienst eingeführt werden. Dieser Ein- sowie bei Abgeordneten der SPD) griff in die informationelle Selbstbestimmung minder- jähriger Frauen und Männer ist unverhältnismäßig. Ich Denn sie ist eine Voraussetzung für die so oft ange- wundere mich schon sehr, dass die FDP dem zustimmt. mahnte gesellschaftliche Unterstützung. Wir fordern die Sonst schreiben Sie sich den Datenschutz doch auch Bundesregierung daher eindringlich dazu auf, bei den groß auf Ihre Fahne. weiteren Reformschritten eine größere Sorgfalt an den Tag zu legen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Vielen Dank. (D) sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Zuruf von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN FDP: Zu Recht!) sowie bei Abgeordneten der SPD) In dem zweiten Punkt unseres Änderungsantrags – dem können Sie zustimmen – fordern wir den Verzicht auf Präsident Dr. Norbert Lammert: diese Datensammlung. Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Gädechens für die CDU/CSU-Fraktion. Der Zeitdruck, die Fehler, das Chaos – auf der Bau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stelle der Bundeswehrreform wurden die ersten Ele- mente des neuen Hauses errichtet. Aber nicht nur das Fundament ist rissig, auch die Wände sind bisher noch Ingo Gädechens (CDU/CSU): sehr wacklig. Leidtragende dieses Pfuschs am Bau sind Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! am Ende die Soldatinnen und Soldaten, die zivilen Bun- Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat hat deswehrangehörigen und die betroffenen jungen Men- die eingeleitete Reform unserer Bundeswehr eine beson- schen. Herr Minister, wir werden weiterhin sehr kritisch dere Dimension, weil mit der Aussetzung der allgemei- begleiten, wie es mit der Reform weitergeht, und wir nen Wehrpflicht nicht nur eine tiefgreifende Zäsur in un- hoffen, dass Sie als neuer Bauherr systematischer und seren Streitkräften vorgenommen wird, sondern weil wir gründlicher sind als Ihr Vorgänger. Es müssen dringend damit auch auf ein Element in unserer Gesellschaft ver- Nachbesserungen zu diesem Gesetz vorgenommen wer- zichten, das deutlich gemacht hat: Dieser Staat gibt dir den. Deshalb freue ich mich auch über die angekündigte nicht nur etwas, sondern er verlangt auch etwas. Er ver- Evaluation. Mit der Zustimmung zu unserem Ände- langte von gemusterten Männern, dass sie bereit waren, rungsantrag könnte der Bundestag heute schon zwei Pro- ihre Wehrpflicht abzuleisten. Das Signal in die Gesell- bleme abräumen. schaft war klar und deutlich: Man muss bereit sein, die- sem Staat zu dienen, ihn notfalls zu verteidigen, damit Der Abschied von der Wehrpflichtarmee war aber nicht nur die Demokratie geschützt wird, sondern auch längst überfällig und ist in der Sache völlig richtig. Da- die Gesellschaft solidarisch und mit dem notwendigen rum werden wir diesem Gesetz heute trotzdem zustim- Zusammenhalt existieren kann. men. Nun gibt es einige Kollegen im Saal, die über ihre ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und genen Erfahrungen im bisherigen Wehr- oder Zivildienst der FDP) berichten könnten. Ich denke, es waren meist wichtige Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11351

Ingo Gädechens (A) Erfahrungen und erlebnisreiche Zeiten, die viele hier au- heit führen, zu Sicherheit bei den Dienstposten, Sicher- (C) torisieren, ein fachkundiges Urteil über die bisherige heit für das eigene Fortkommen innerhalb oder auch au- Form des Wehrdienstes abzugeben. ßerhalb der Bundeswehr bis hin zur Sicherheit bei der Frage: Welche Standorte bleiben erhalten? Welche ste- (Beifall bei der CDU/CSU) hen zukünftig nicht mehr zur Verfügung? Bei mir persönlich ist es noch ein wenig anders. Wer (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wie ich über Jahrzehnte als Berufssoldat in der Bundes- Dann machen Sie es doch endlich!) wehr gedient hat – als Truppenfachlehrer und Ausbilder, als Vorgesetzter und Dienststellenleiter –, hat bei jedem In den vergangenen Jahrzehnten war aufgrund der si- Stellenwechsel besonders auf die neuen Wehrpflichtigen cherheitspolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht die geblickt und geachtet. In den Jahrzehnten durfte ich eine richtige Wehrform. Deshalb danke ich meinen Kamera- große Menge an Erfahrungen mit der Wehrpflicht sam- dinnen und Kameraden sowie allen Ausbilderinnen und meln. Es war stets hochinteressant, zu sehen, wie aus Ausbildern, die in meist vorbildlicher Weise und unter den jungen Männern, aus den Grundwehrdienstleisten- Berücksichtigung des Prinzips der Inneren Führung den, die oftmals unterschiedliche Bildungsabschlüsse junge Männer ausgebildet haben. hatten und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und Gegenden Deutschlands kamen, echte Kameraden wur- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den. Es waren Männer, denen am Anfang manchmal ein Eine gewaltige Zahl: Rund 7,5 Millionen Wehrpflich- wenig Rücksichtnahme und Toleranz fehlte und die tige haben gelobt, der Bundesrepublik Deutschland treu Schwierigkeiten hatten, sich in die Kameradschaft einzu- zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen ordnen. Dennoch wurden die meisten wichtige Leis- Volkes tapfer zu verteidigen. Dafür möchte ich im Na- tungsträger, auf die man sich selbst in schwierigsten Si- men der CDU/CSU-Fraktion allen ehemaligen und auch tuationen verlassen konnte. Natürlich gab es hin und den noch diensttuenden Wehrpflichtigen herzlichen Dank wieder auch andere. Trotzdem bleibt resümierend als Er- sagen. gebnis, dass der Wehrdienst für viele Männer oft eine sehr wichtige Lebenserfahrung war, die ihnen geholfen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat, als Persönlichkeit zu reifen, um im weiteren Leben Heute und für die Zukunft brauchen wir eine ange- erfolgreich zu sein. passte Form des Dienstes in unserer Bundeswehr, eine Die Bundeswehr im Bündnis war über Jahrzehnte Armee im Einsatz. Was der Einsatz einer Armee wirk- nicht nur Garant der äußeren Sicherheit, sondern durch lich bedeutet, erleben wir besonders schmerzlich in Af- die Wehrpflicht auch so etwas wie die Schule der Na- ghanistan oder auch teilweise auf See im Kampf gegen (B) tion. So gesehen oder, besser gesagt, nur so gesehen Piraterie. (D) müssten wir alles daransetzen, die Wehrpflicht in ihrer Wir brauchen nicht nur das bestmögliche Gerät und bisherigen Form zu erhalten. Die Welt um uns herum modernste Ausrüstung, sondern wir brauchen auch ein – wir hörten es bereits – hat sich aber dramatisch verän- Wehrrecht, das Klarheit schafft und die Menschen rekru- dert. Die Sicherheitslage heute ist eine völlig andere als tiert, die sich einer manchmal gefährlichen, aber stets vor 25 Jahren. Aus einer reinen Verteidigungsarmee fordernden Aufgabe stellen wollen. wurde die Armee der Einheit. Der oftmals steinige Weg führte weiter bis zu einer Einsatzarmee mit schwierigs- Hierzu bietet die Koalition in dem vorgelegten Gesetz- ten Auslandseinsätzen. Dieser Weg war häufig nicht nur entwurf ein neues angepasstes Angebot, das einen frei- holprig, sondern zog sich über mehrere Reformen und willigen 12- bis 23-monatigen Wehrdienst vorsieht. Da- Reförmchen über einen längeren Zeitraum hin und hat rüber hinaus kann der Weg vom Soldaten auf Zeit zum unseren Soldatinnen und Soldaten in vielerlei Hinsicht Berufssoldaten führen, so wie es ihn bereits heute gibt. sehr viel abverlangt. Der bisher vorhandene Werbeeffekt durch die allge- Viel Zeit hat sich die Politik bei ihren Entscheidungen meine Wehrpflicht wird mit ausgesetzt, geht also verlo- genommen, besonders viel unter einem Verteidigungs- ren. Deshalb müssen wir zwangsläufig attraktivitätsstei- minister Scharping und leider auch unter Peter Struck. gernde Maßnahmen einleiten, die neben Berufsförde- Nun beklagt die Opposition schon wieder, es gehe alles rung verstärkt Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnah- viel zu schnell. Herr Schäfer sagt, das Gesetz sei mit der men ins Gesamtportfolio aufnehmen. Auch hier reagiert heißen Nadel gestrickt; man hätte viele Dinge lieber pa- die Koalition konsequent und bringt ein Maßnahmenpa- rallel beraten. Im Verteidigungsausschuss beklagte ins- ket zur Steigerung der Attraktivität auf den Weg. Kreis- besondere die SPD, man hätte sich lieber noch ein wenig wehrersatzämter und Zentren für Nachwuchsgewinnung mehr Zeit genommen. müssen schnellstmöglich so aufgestellt werden, dass Ein- stellungen mit klaren Aussagen und Vorgaben erfolgen Diese Regierungskoalition aber handelt. Sie handelt können. mit Bedacht, aber schnell, weil unsere Soldatinnen und Soldaten reformgebeutelt sind. Der Umstrukturierungsprozess hin zur Freiwilligenar- mee wird all diejenigen, die es gut mit der Bundeswehr (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Dann ist ja meinen, auch weiterhin fordern. Die Regierungskoali- gut!) tion arbeitet intensiv an der Beantwortung vieler Fragen. Die Bundeswehr braucht und will auch endlich Klarheit. Uns geht es neben einer vernünftigen Struktur um die Sie will endlich Entscheidungen, die zu Planungssicher- Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerechte Be- 11352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Ingo Gädechens (A) soldung, um eine gute sanitätsärztliche Versorgung, um dass sie auf dem freien Markt ausreichend geeigneten (C) Fürsorge und um Verpflegung bis hin zur Einsatzvor- Nachwuchs finden kann. und -nachsorge. Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind erst seit wenigen Meine Damen und Herren, die Wehrpflicht war ein Wochen im Amt. Sie persönlich können nichts für den bedeutendes Element in der damals noch jungen Bun- Scherbenhaufen, den man Ihnen hinterlassen hat; andere desrepublik Deutschland. Sie auszusetzen, fällt vielen nennen es ein „gut bestelltes Haus“. Aber die Zeit nicht leicht – der Minister sagte es bereits – und hat zu drängt. Wir müssen den Themenkomplex Nachwuchsge- intensiven, aber auch zielführenden Diskussionen ge- winnung und Attraktivitätssteigerung jetzt zügig ange- führt. hen. Sie haben eine enorme Kraftanstrengung vor sich. Ich will Ihnen ausdrücklich danken für die ersten Ge- Der Bundestag hat gerade in sicherheitspolitischen spräche, die die SPD gemeinsam mit Ihnen führen Fragen und in Fragen der Bundeswehr nach einem größt- konnte, und will Ihnen unsere ehrliche Unterstützung an- möglichen Konsens gesucht und ihn auch sehr oft gefun- bieten, wenn es in den kommenden Wochen darum geht, den. Ich denke – das richte ich an die Kolleginnen und das Versäumte nachzuholen und die Attraktivität der Kollegen der SPD –, man sollte dieser Tradition folgen. Bundeswehr zu steigern. Ich bitte um Zustimmung zum Wehrrechtsänderungsge- setz. (Beifall bei der SPD – Ingo Gädechens [CDU/ Herzlichen Dank. CSU]: Was haben wir denn versäumt?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es sollte in unser aller Interesse sein, dass wir diese Reform zustande bekommen. Die Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee ist ein zentraler Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Pfeiler dieser Reform. Er wird maßgeblich über ihren Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der Erfolg entscheiden. Die Erhöhung der Attraktivität, die SPD-Fraktion. Intensivierung der Nachwuchsgewinnung und die kon- (Beifall bei der SPD) zeptionelle Planung, wie wir die besten Hände und die besten Köpfe in unsere Armee bekommen können, muss integraler Bestandteil jeglicher Reformbemühungen in Lars Klingbeil (SPD): den kommenden Wochen sein. Um es klar zu sagen: Es Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen kann keine Reform der Bundeswehr ohne eine signifi- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aus- kante Erhöhung der Attraktivität geben. setzung der Wehrpflicht ist ein großer politischer, aber (B) auch gesellschaftlicher Schritt in Deutschland. Er mar- Herr Minister, Sie haben recht, wenn Sie sagen, die (D) kiert das Ende einer langen Tradition. Steigerung der Attraktivität ist keine reine Frage des Haushalts. Es geht hier auch um Ansehen, es geht um ge- Die Aussetzung der Wehrpflicht ist richtig. Die Ver- sellschaftlichen Stellenwert, und es geht auch um Über- pflichtung junger Männer zum Grundwehrdienst ist zeugungen und Idealismus. Aber Attraktivität ist auch heute sicherheitspolitisch nicht mehr gerechtfertigt. Mitt- eine monetäre Frage. Deshalb wird es uns nur mit schö- lerweile besteht hierüber im Parlament Konsens über die nen Slogans, mit schönen Bildern und mit Anzeigen- Parteigrenzen hinweg. Ich denke, es ist gut, dass wir uns kampagnen nicht gelingen, ausreichend Nachwuchs für im Grundsatz gemeinsam auf diesen Weg machen. die Bundeswehr zu gewinnen. Eine Bundeswehrreform, (Rainer Erdel [FDP]: Dann stimmt doch zu!) die getrieben ist vom strategischen Parameter der Haus- haltskonsolidierung, wird nicht gelingen. Die Abschaf- Die Aussetzung der Wehrpflicht stellt uns aber auch fung der Wehrpflicht wird gerade am Anfang – das ha- vor eine neue, vor eine gravierende Herausforderung. ben die Experten bestätigt – nicht kostenneutral sein. Es Eine Institution wie die Bundeswehr, die sich bisher da- muss also darum gehen, neue Anreize zu setzen. Herr rauf verlassen konnte, einen Großteil des geeigneten Minister, ich habe die Hoffnung, dass Sie Ihre guten Be- Nachwuchses aus den eigenen Reihen zu rekrutieren, ziehungen zum Finanzminister im Sinne der Truppe nut- muss sich nun dem freien Wettbewerb stellen. Jede zen werden. Schulabgängerin und jeder Schulabgänger steht vor der Frage: Wie geht es weiter? In diesem Moment muss die Bei der Frage der Attraktivität dürfen wir aber nicht Bundeswehr eine ernsthafte Alternative sein, eine Alter- außer Acht lassen, dass sie ebenso wichtig ist für unsere native, die Möglichkeiten bietet und Chancen eröffnet. Soldatinnen und Soldaten, die heute schon als Berufs- und Zeitsoldaten tätig sind. Sie sind wichtige Multiplika- Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions- toren für die Gewinnung von Nachwuchs. Sie berichten fraktionen, ich will es Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: von ihren Erfahrungen in der Truppe und von der Wert- Hier haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. schätzung, die ihnen entgegengebracht wird. Lassen Sie (Beifall bei der SPD – Ingo Gädechens [CDU/ es mich auch an dieser Stelle anmerken: Die weitere CSU]: Doch!) Kürzung des Weihnachtsgeldes war im Übrigen kein Zeichen der Wertschätzung und auch kein positives Si- Sie haben die Wehrpflicht verkürzt, und nun setzen Sie gnal für die Nachwuchsgewinnung. sie aus – und das alles in einem unwahrscheinlichen Tempo. Dabei haben Sie es schlichtweg verpasst, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundeswehr attraktiver zu machen und so aufzustellen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11353

Lars Klingbeil (A) Wenn es uns nicht gelingt, bessere Perspektiven zu Hause bereits im Sommer des letzten Jahres mehrfach (C) schaffen, etwa indem wir Angebote zur Ausbildung, ausführlich diskutiert haben, und zwar nicht nur im Ver- Weiterbildung und zum Studium erhöhen, indem wir teidigungsausschuss, sondern auch im Plenum. Heute auch die Bundeswehruniversitäten öffnen, dann wird die geht es nicht um die Frage, ob wir einen sechsmonatigen Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns nicht Wehrdienst haben, sondern um die Entscheidung – und gelingt, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, etwa das ist eine historische Entscheidung –, ob wir die Wehr- durch ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder pflicht aussetzen. auch durch eine Neuregelung beim Trennungsgeld und der Umzugskostenvergütung, zu erreichen, dann wird (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns der CDU/CSU) nicht gelingt, Laufbahnen anders zu planen und Beförde- Der Minister hat heute gesprochen. Er hat angekün- rungsstaus abzubauen, wird die Bundeswehr nicht at- digt, dass er Ende des Jahres eine Evaluierung vorneh- traktiver werden. men möchte und einmal zurückblicken will, wie viele Ich bin mir sicher, Sie werden genauso wie wir bei junge Frauen und Männer denn den Dienst bei der Bun- Truppenbesuchen auf diese Punkte angesprochen. Die deswehr auf freiwilliger Basis aufnehmen möchten. Und Soldaten und Soldatinnen haben sehr konkrete Vorstel- die SPD spricht schon wieder davon, dass die Koali- lungen, wie man den Dienst attraktiver gestalten kann. tionsfraktionen Experimente auf Kosten der Wehrpflich- Ich finde, an der Stelle sollten wir als Parlamentarier ein- tigen machten! fach einmal genauer zuhören und die Sorgen und Wün- (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: So ist es auch!) sche der Soldaten auch ernst nehmen. – Nein, das ist eben nicht so. Wir wollen zurückblicken. Bei allem haushaltspolitischen Spagat, den wir zu be- Es ist doch richtig, dass man auch einmal zurückblickt, wältigen haben, ist festzuhalten: Soldatinnen und Solda- um dann zu sehen, welche weiteren Maßnahmen man ten und auch die Zivilbeschäftigten verdienen unsere be- einführen und welche Änderungen man vielleicht vor- sondere Aufmerksamkeit. Gerade die letzten Wochen nehmen kann, und zwar nicht im Hinblick auf die Aus- haben uns doch gelehrt, wie schnell sich die weltpoliti- setzung der Wehrpflicht, sondern in Bezug auf die Stei- sche Lage verändern kann. Ich hoffe, uns allen ist noch gerung der Attraktivität einmal bewusst geworden, dass es gut ist, zu wissen, dass wir uns auf eine gut aufgestellte, eine hochmoti- (Rainer Arnold [SPD]: Sie haben überhaupt vierte und gut ausgebildete Bundeswehr in jedem Fall nichts für die Attraktivität getan!) verlassen können. und das Bekanntmachen des ehrenamtlichen Engage- (B) Sehr geehrte Damen und Herren, die Aussetzung der ments, um die Kultur des freiwilligen Dienstes in diesem (D) Wehrpflicht verändert die Bundeswehr maßgeblich. Wir Land vielleicht weiter zu fördern. alle tragen Verantwortung, dass diese Reform gelingt. Herr Minister, dabei haben Sie unsere volle Unterstüt- Als die Kanzlerin auf der Kommandeurstagung in Dres- zung. Ich begrüße diese Ankündigung am heutigen Tage den im letzten Jahr den Soldaten euphorisch zurief, sie ausdrücklich. wünsche gemäß dem Motto „No risk, no fun“ viel Spaß bei der Veränderung, da war ich schon verwundert. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wünsche uns allen in den kommenden Monaten den not- Liebe Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz wird wendigen Ernst, wenn wir die Herausforderungen, die hier am heutigen Tag nicht nur besprochen und debat- vor uns liegen, gemeinsam angehen. tiert, sondern auch verabschiedet. Das ist ein historischer Vielen Dank fürs Zuhören. Schritt. Wir entscheiden heute über ein maßgebliches Momentum im Hinblick auf die Strukturreform, über die (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Aussetzung der Wehrpflicht. CSU]: Machen Sie doch mit! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Dann können Sie Die Wehrpflicht ist ein massiver Eingriff in die doch mitmachen!) Grundrechte junger Männer. Deshalb muss die Begrün- dung für diesen Eingriff in die Freiheit junger Menschen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kontinuierlich überprüft werden. Diese Evaluierung Das Wort hat der Kollege Christoph Schnurr von der wurde vorgenommen. FDP-Fraktion. Die FDP – das ist bekannt und kein Geheimnis – for- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dert die Aussetzung der Wehrpflicht seit Jahren, und zwar nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus sicher- heitspolitischen Erwägungen. Wir brauchen in Zukunft Christoph Schnurr (FDP): keine großen Streitkräfte, sondern eine hochprofessio- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nelle, flexible, gut ausgebildete und gut ausgerüstete Herr Bartels, Sie sind zu Beginn Ihrer Ausführungen Bundeswehr. wieder auf die Frage eingegangen, warum diese Koali- tion den Wehrdienst von neun Monaten auf sechs Mo- Die Union hat intensive Beratungen über diese Frage nate reduziert hat. Ich will Sie gleich am Anfang daran angestellt. Die Kollegen der Union – ich zolle ihnen erinnern, dass wir über diese Frage, diese Entscheidung meinen Respekt – sind zu einem Entschluss gekommen, und diesen Beschluss der Koalition in diesem Hohen der es heute ermöglicht, die Wehrpflicht auszusetzen. 11354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Christoph Schnurr (A) Die Bundeswehr wird mit diesem Gesetz auf die Frei- nen. Auf der anderen Seite bedeutet der Wegfall für die (C) willigkeit und nicht mehr auf die Pflicht setzen. Das hat Bundeswehr, dass sie sich neu organisieren und vor al- selbstverständlich auch für uns als Deutscher Bundestag lem ihre Nachwuchswerbung auf neue Beine stellen Konsequenzen. Natürlich muss die Bundeswehr als Ar- muss. beitgeber noch attraktiver werden. Die Frage des Maß- nahmenkatalogs werden wir daher weiter thematisieren Von den Befürwortern der Wehrpflicht wurde immer und behandeln. Es sind erste Maßnahmen vorgeschlagen hochgehalten, dass gerade die Wehrpflicht dafür sorgt, worden. Diese Maßnahmen sind aber erst der Anfang dass sich die Bundeswehr nicht von der Gesellschaft ab- und sicherlich nicht das Ende, um die Bundeswehr noch koppelt und keine militärische Sonderkultur entsteht, attraktiver zu gestalten. sondern sich der soziale und weltanschauliche Pluralis- mus in unserem Land auch in unserer Armee wiederfin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) det. Zentrales Leitbild dafür ist der Staatsbürger in Uni- Die Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr, die form; das gilt weiterhin, dafür braucht man am Ende Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Infrastruktur keine Wehrpflicht. Aber ohne Wehrpflicht müssen wir der Standorte, die Versetzungshäufigkeit, finanzielle An- ein noch stärkeres Augenmerk darauf richten. reize sowie die Ausbildung und Fortbildungsmaßnah- Wir, der Deutsche Bundestag, entsenden unsere Sol- men sind weitere Aspekte, die in diesem Zusammenhang daten, unsere Parlamentsarmee in Einsätze auf der gan- berücksichtigt werden müssen und auch berücksichtigt zen Welt. Sie sind dort oftmals schwierigen Konflikt- werden. situationen ausgesetzt, die im äußersten Fall auch den Wir brauchen aber auch eine Kultur der Freiwillig- Einsatz von Waffengewalt erfordern. Wir müssen uns keit. Dazu ist vieles gesagt worden. Diese Prozesse soll- dann darauf verlassen können, dass ihr Handeln ethi- ten und werden wir weiter begleiten. schen Maßstäben genügt und die Soldaten vorbildliche Botschafter unseres Landes, unserer Demokratie und un- Zum Schluss möchte ich Ihnen nicht nur empfehlen, serer Werteordnung sind. dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen, sondern auch der Grünenfraktion meinen Dank dafür (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausdrücken, dass sie unserem Gesetzentwurf – ein histo- neten der FDP) rischer Schritt in der Bundeswehrreform, aber auch ein historischer Schritt, wenn man sich die Geschichte der Meine Damen und Herren, wir stellen diese Anforde- Bundeswehr ansieht – heute hier zustimmt. rungen nicht an andere Freiwilligendienste. Ich betone das deswegen, weil vonseiten der Opposition immer (Zuruf von der LINKEN: Das sind Koalitions- wieder gefragt wurde, warum denn der freiwillige Wehr- (B) verhandlungen!) dienst bevorzugt behandelt werde und nicht mit anderen (D) – Das ist keine Koalitionsverhandlung, Frau Kollegin. Freiwilligendiensten gleichgestellt sei. Der Dienst an der Wenn Teile der Opposition der richtigen Entscheidung Waffe ist eben nicht mit anderen Diensten vergleichbar, der Koalition zustimmen, darf ich sie an dieser Stelle die für unser Land genauso wichtig sind, aber einen fun- doch auch einmal loben, glaube ich. damental anderen Charakter haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bei der Bundeswehr gibt es ein überragendes Inte- resse daran, dass wir junge Menschen aus allen Schich- Die Bundeswehr ist gut aufgestellt. In Zukunft wer- ten der Gesellschaft erreichen und für einen Dienst ge- den wir den Weg in die richtige Richtung gehen. winnen. Frau Kollegin Malczak, „erreichen“ heißt in Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerk- diesem Zusammenhang auch, dass wir sie anschreiben samkeit. können müssen. Deswegen ist es gerechtfertigt, dass die Werbung für den freiwilligen Wehrdienst einen Sonder- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) status hat.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der CDU/CSU-Fraktion. Bei den anderen Freiwilligendiensten muss man auch werben!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) – Kollege Gehring, Sie haben jetzt nicht zugehört. Der Dienst an der Waffe ist eben nicht mit anderen Freiwilli- Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): gendiensten vergleichbar. Die anderen Freiwilligen- dienste sind genauso wichtig, aber bei der Bundeswehr Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! – ich sage es noch einmal, weil es wichtig ist – haben wir Mit dem heutigen Beschluss wird die allgemeine Wehr- ein Interesse daran, dass sie einen Querschnitt der Be- pflicht nach 55 Jahren ausgesetzt. Es ist ein historischer völkerung abbildet. Tag in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf der einen Seite entfällt damit für zukünftige Generationen junger (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Männer die Pflicht, einen Wehr- oder Ersatzdienst zu Bei anderen Freiwilligendiensten auch!) leisten. Sie gewinnen dadurch Lebenszeit, die sie zum Beispiel für ihr berufliches Fortkommen einsetzen kön- Dies ist bei anderen Freiwilligendiensten nicht der Fall. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11355

Dr. Reinhard Brandl (A) Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Zu- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem (C) sammenhang von der Steigerung der Attraktivität des Stimmenverhältnis angenommen. Dienstes sprechen, darf das nicht nur mehr Geld bedeu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ten. Die finanziellen Aspekte sind wichtig – das gebe ich bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zu –; aber es ist mindestens genauso wichtig, dass gerade GRÜNEN) wir als Parlamentarier den Soldaten vermitteln, welche zentrale Rolle wir ihnen als Botschafter unserer Demo- Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- kratie und unserer Werteordnung beimessen, dass es eine ßungsanträge. besondere Ehre ist, unser Land im Ausland vertreten zu Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU dürfen. und FDP auf Drucksache 17/5245. Wer stimmt für die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthal- tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen Sie haben recht: Das vermittelt man nicht mit großen der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grü- Anzeigen. Wir müssen vielmehr den Soldaten Wert- nen gegen die Stimmen der SPD und der Linken ange- schätzung entgegenbringen, in Debatten wie heute, in öf- nommen. fentlichen Äußerungen und im persönlichen Gespräch. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf (Christoph Schnurr [FDP]: Völlig richtig!) Drucksache 17/5246. Wer stimmt dafür? – Gegenstim- Das ist der zentrale Beitrag, den wir als Parlamentarier men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag der zur Steigerung der Attraktivität und des Ansehens des SPD-Fraktion ist bei Zustimmung der SPD-Fraktion mit Dienstes und damit für die Zukunft der Bundeswehr leis- den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. ten können und müssen. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Drucksache 17/5247. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ser Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen neten der FDP) der Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion bei Zustimmung der Linken und Enthaltung von Bünd- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nis 90/Die Grünen. Ich schließe die Aussprache. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Grünen auf Drucksache 17/5248. Wer stimmt dafür? – desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie- (B) (D) rung wehrrechtlicher Vorschriften 2011. ßungsantrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abge- Uns liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 lehnt. der Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll neh- men.1) Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 32 auf: Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin schlussempfehlung auf Drucksache 17/5239, den Gesetz- Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin, entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4821 in weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ausschussfassung anzunehmen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Für die Umsetzung der Gleichstellung von Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab- Sinti und Roma in Deutschland und Europa stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag von – Drucksache 17/5191 – Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5244? – Wer Überweisungsvorschlag: stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) trag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen ab- Auswärtiger Ausschuss gelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von beschlossen. Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Fraktion und der Linken. nerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt von Dritte Beratung Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 1) Anlage 2 erinnern uns alle noch an die eindringliche und berüh- 11356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Katrin Göring-Eckardt (A) rende Rede von Zoni Weisz am 27. Januar in diesem genau wie die Menschenrechtsorganisationen, die dage- (C) Hause an dieser Stelle. Wir hatten damals zum ersten gen aufstehen. Mal einen Vertreter der Sinti und Roma eingeladen, bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zu spre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei chen. der SPD, der FDP und der LINKEN) Natürlich reicht es nicht, nach Ungarn zu schauen. Es Ich will ihn mit folgendem Appell aus seiner Rede zi- ist auch notwendig, auf uns selbst zu blicken, auf das ei- tieren: gene Land, in dem nach wie vor Vorurteile gegen Sinti Wir sind doch Europäer und müssen dieselben und Roma, Klischees und manches, was nicht gerade auf Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit glei- gelungene Integration hindeutet, wahrgenommen werden chen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten. können. Wie kann sich die besondere deutsche Verant- wortung jenseits des Applauses von damals und anderer Im Protokoll auf der Homepage des Deutschen Bun- symbolischer Gesten zeigen? In unserem Antrag sagen destages steht, dass Zoni Weisz dies unter Beifall des ge- wir, worum es konkret gehen muss: um die Lebenssitua- samten Plenums gesagt hat. tion der größten in Europa lebenden ethnischen Minder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heit. Diese müssen wir verbessern. Deutschland muss und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sich deswegen auf europäischer Ebene dafür einsetzen, LINKEN und des Abg. Frank Heinrich [CDU/ dass der neue Aktionsrahmen zur Integration von Roma CSU]) rasch entwickelt wird. Deutschland muss darauf hinwir- ken, dass das Rahmenübereinkommen des Europarates Leider ist aus dem gemeinsamen Applaus von damals zum Schutz nationaler Minderheiten in allen Ländern kein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen hervorgegan- – in wirklich allen Ländern –, die diesem Übereinkom- gen. Auf die Gründe, warum es dazu nicht kam, will ich men beigetreten sind, angewandt wird. hier jetzt nicht eingehen, weil es um die Sache geht. Dennoch sage ich: Ich hoffe, dass wir noch eine Chance Die ungarische Ratspräsidentschaft hat Anfang dieses in den Beratungen haben. Jahres angekündigt, die Integration der Roma zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Die Situation in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ungarn habe ich eingangs beschrieben. Lassen Sie mich und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der an dieser Stelle eines deutlich sagen: So wichtig der eu- LINKEN) ropäische Rahmen, die europäische Programme und Ini- tiativen, die in dem Antrag genannt werden, auch immer Wie können wir den Forderungen an uns, die Zoni sind, Europa darf kein Alibi sein. Nein, wir haben auch (B) Weisz in seiner Rede formuliert hat, politisch gerecht in Deutschland eine Verantwortung. Auch hier müssen (D) werden? Zunächst sicherlich, indem wir die historische wir sie zeigen. Die besondere Verantwortung Deutsch- Perspektive betrachten. Wir müssen uns darüber klar lands muss sich da zeigen, wo es um konkrete Menschen sein, dass Sinti und Roma Teil Europas, Teil Deutsch- geht. lands sind. Wir müssen daran erinnern, dass sie in der Geschichte immer wieder Opfer von Verfolgung und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Diskriminierung wurden, was in der Vernichtungspolitik bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) der Nazis seinen Höhepunkt, seinen Extrempunkt fand. Deswegen können wir nicht das aussparen, was die Etwa eine halbe Million Sinti und Roma sind ihr zum Bundesregierung im April 2010 beschlossen hat, das Opfer gefallen. Daraus erwächst für Deutschland eine Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo. Wir alle wis- mehr als besondere historische und selbstverständlich sen, dass im Kosovo Kapazitäten zur Aufnahme, erst auch moralische Verantwortung. recht zur Integration, an allen Ecken und Enden fehlen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben in einem Antrag schon damals das sofortige sowie bei Abgeordneten der SPD) Ende der Zwangsrückführungen gefordert. Das tun wir jetzt wieder und fordern die Bundesregierung auf, sich Auch heute werden Sinti und Roma Opfer aggressiver gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Diskriminierung. In diesen Tagen erreichen uns wieder Abschiebung von Roma in das Kosovo einzusetzen. erschreckende Berichte aus Ungarn, wo die Bürgerwehr der rechtsextremen Jobbik-Partei über Wochen hinweg (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Roma terrorisiert hat. Sie hat ausdrücklich angekündigt, bei der SPD und der LINKEN) dass sie dies auch weiterhin tun will. Es heißt sogar: un- Es ist unerträglich, wenn Kinder, die in Deutschland ge- ter Duldung der örtlichen Polizei. Offenbar, so ist zu er- boren und aufgewachsen sind, in ein Land geschickt fahren, plant diese Organisation weitere Aktionen. Zum werden, das im Grunde kein Ort für sie ist, in dem sie Glück gibt es in Ungarn Menschenrechtsorganisationen, keine Perspektive, keinen anständigen Wohnraum und die dagegen protestieren. Auch die Roma selbst haben auch keine echte Chance auf Bildung haben. zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Trotzdem ist es offenbar so, dass die Hasstiraden, die den Roma entge- „Besondere Verantwortung Deutschlands“ heißt auch, gengeschleudert werden, in Ungarn von vielen gesell- ganz praktisch zu handeln, auch innerhalb Europas. Wa- schaftlichen Schichten vertreten und akzeptiert werden, rum gab es eigentlich keine laute Empörung der Bundes- dass ihnen nicht widerstanden wird. Die Roma brauchen regierung, als Frankreich im vergangenen Sommer unsere Unterstützung, sie brauchen unsere Solidarität, Roma mit drastischen Maßnahmen abschob? Da darf Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11357

Katrin Göring-Eckardt (A) Außenpolitik nicht aufhören. Da muss sie gerade erst an- mahnungen, aber die Diskriminierungen geschahen oft in (C) fangen, wenn sie glaubwürdig sein soll. dem Alltagsmiteinander. Es gab Segregation anstatt Inte- gration sowie eine Ghettoisierung und erschwerte Bil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dungszugänge. Das lag nicht nur an den Personen selbst, bei der SPD und der LINKEN) sondern oft auch an den Strukturen, auch an uns. Ich möchte zum Schluss noch einen Satz von Zoni Weisz zitieren. Er sagte: Menschenhandel wird an der Stelle immer angeführt. In einigen Regionen Europas stammen 80 Prozent derer, Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das die mit Menschenhandel, Zwangsarbeit, sexueller Aus- durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und beutung und Bettelei von Kindern zu tun haben, aus die- verfolgt worden ist, heute – im 21. Jahrhundert – ser Personengruppe. Das darf nicht sein. Das dürfen wir immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen nicht einfach so hinnehmen. Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird. 2006 haben 76 Prozent der Roma in Deutschland Dis- Das müssen wir ändern. Darum unser Antrag. kriminierungen am Arbeitsplatz erlebt; so ist ihre Aus- Vielen Dank. sage. Das ist als solches nicht sofort ein Problem des Rechts; da ist auch ein Teil subjektiv. Aber das dürfen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wir so nicht stehen lassen. Darum müssen wir uns küm- bei der SPD und der LINKEN) mern; denn das darf in unserem Land nicht so sein und bleiben. Deshalb ist für mich der Gedanke klar: Wehret Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Anfängen des Antiziganismus. Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der Gut, dass wir es hier noch einmal vor Augen geführt CDU/CSU-Fraktion. bekommen haben. Danke auch ein Stück weit dafür, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zoni Weisz hier reden durfte, dass dies angestoßen und von Ihnen angenommen wurde. Sie sind uns ein Stück Frank Heinrich (CDU/CSU): vorausgegangen; denn auch wir haben einen Antrag in der Pipeline. Wir möchten gerne in dieser Frage ins Ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- spräch kommen. Vielleicht gibt es da eine Chance. nen und Kollegen! „Für die Umsetzung der Gleichstel- lung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa“ – Ich werde jetzt nicht umfassend über den rechtlichen so lautet der Titel des Antrags der Grünen. Ich bin der Status referieren. In Europa gibt es die Grund- festen Überzeugung, dass wir einen ganz großen Teil rechtecharta, auf die sich jeder EU-Bürger berufen kann. (B) dessen, was wir am 27. Januar hier miteinander erlebt Helmut Schmidt hat 1982 gesagt, dass das Völkermord (D) haben, noch in Erinnerung haben – nicht nur den Ap- war. Helmut Kohl hat das später ebenfalls betont, auch plaus, sondern auch die Bewegtheit – und dass wir uns hier vor dem Hohen Haus. auch über die moralische und geschichtliche Verantwor- tung einig sind. Deshalb bin ich froh darüber, dass ich an Inzwischen gibt es Rahmenabkommen. Wir haben der Stelle den Staffelstab aufnehmen kann. das Jahrzehnt der Integration der Roma. Das muss man natürlich umsetzen. Deshalb bin ich froh, dass es uns Sie haben die historische Perspektive genannt, Frau präsent gemacht wurde. Auch wir, ich persönlich und Kollegin. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Zoni Weisz an meine ganze Fraktion, sind sehr dankbar, dass die Rats- dem Gedenktag zum ersten Mal aus dieser Perspektive präsidentschaft Ungarns der europäischen Roma-Strate- gesprochen, uns dadurch bereichert und diese Farbe in gie auf der Tagesordnung Priorität einräumt. Das begrü- die Diskussion eingebracht hat. Für mich persönlich war ßen wir, und das werden wir unterstützen. Sie werden das sehr bewegend, weil ich selbst – und auch meine das auch in unserem Antrag, der Ihnen bald vorliegen Frau – sehr viele verschiedenste Erlebnisse und Begeg- wird, sehen. nungen mit Mitgliedern dieser Gruppe hatte. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Es ist richtig: Es ist eine der größten Gruppen, die GRÜNEN]: Wann?) noch dazu vernachlässigt wurde, was ihre Wahrnehmung als Geschädigte angeht, als Opfer der NS-Zeit: Es waren Auf den Unterschied werden meine Kollegen, die 500 000. Oft wurde über viele andere Gruppen geredet. gleich reden – unter anderem ein Kollege aus dem In- nenausschuss; ich bin kein Jurist –, genauer eingehen. Heute gehören in Europa 10 bis 12 Millionen Men- Sie sagen, dass Sie der faktischen Ausgrenzung und schen dieser größten ethnischen Minderheit an; wir ha- Stigmatisierung durch die Asylpolitik entgegentreten ben das gerade gehört. Inzwischen gibt es eine klare Be- möchten. Ja, es gibt hohe Vertreter, die das stützen. Auch nennung: Das ist die Gruppe der Roma. Die Identität uns in Deutschland werden Vorwürfe gemacht. Navi bestimmt sich nicht nur aus dem Roma-Sein, sondern Pillay hat deutlich gesagt, dass auch wir hier daran zu ar- auch aus der regionalen und nationalen Kultur, aus der beiten haben. Sie fordern eine Aussetzung des Rücknah- sie stammen. meabkommens. Wir sagen, dass man damit letztlich Besonders im Süden Europas – von der Europäischen auch die Bekämpfung der illegalen Migration unter- Grundrechteagentur wurden immer wieder einige Länder gräbt; das sollte man nicht tun. Wir möchten das Asyl- genannt – sind Diskriminierungen vorgekommen, die recht als solches nicht aussetzen. Wir finden, das ist kein nicht unbedingt struktureller Art waren. Zwar gab es Er- Mittel zum Minderheitenschutz. 11358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Frank Heinrich (A) Die Forderungen, die wir stellen werden – ich möchte Zeichen gesetzt hat, dass wir an diese viel zu lange ver- (C) unserem Antrag nicht vorgreifen –, sind zu großen Tei- gessene Opfergruppe, an die vielen Sinti und Roma, die len identisch mit denen in Ihrem Antrag. Darüber bin ich in ganzen Familien in die Lager der Nazis eingeliefert sehr froh. Sie fordern zum Beispiel das Eintreten gegen worden sind, endlich mehr und auch würdig erinnern jede Form von Antiziganismus in Politik und Zivilge- müssen. sellschaft. Ich habe oft mit Menschen gesprochen, die die KZ (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE überlebt haben. Sie haben gesagt, dass sie zum ersten GRÜNEN]: Wann in etwa dürfen wir mit dem Mal Kinder in den Lagern gesehen haben, als die Sinti Antrag rechnen?) und Roma dorthin verschleppt worden waren. Hundert- tausende wurden ermordet, wurden entrechtet und wur- – Ich werde Ihnen bei Gelegenheit sagen, wann genau den ihres kulturellen Erbes beraubt. Gerade deshalb ist wir ihn einbringen. es so wichtig, dass wir in Verantwortung vor unserer Ge- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die sind auf schichte jeder Diskriminierung der heute in Deutschland einem guten Weg! Die haben noch Beratungs- und in Europa lebenden Sinti und Roma entgegentreten, bedarf!) und zwar nicht nur an Gedenktagen und in Erinnerungs- reden, sondern auch in unserer alltäglichen Politik. Ich sage bewusst: Darauf müssen wir nicht nur als Politi- ker, sondern auch als Einzelne Wert legen. Wir müssen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es benennen, und wir müssen die Menschen auffordern, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sinti und Roma in ihrem Umfeld zu begegnen. CDU/CSU und der LINKEN) Wir müssen EU-weit an einer Verbesserung der Situa- Was uns bei der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar, tion mitwirken. Wir müssen für Chancengleichheit ein- glaube ich, alle besonders betroffen gemacht hat, waren treten. Wir müssen natürlich auch kritische Gespräche seine historischen und aktuellen Bezüge: der Verweis auf mit den Roma führen. Mögliche Themen sind die Rechte die jahrhundertelange Tradition der Ausgrenzung von der Frauen und manche ihrer Vorbehalte gegen Schulbe- Sinti und Roma, aber eben auch der Verweis auf die suche. Wir müssen die europäische Ratspräsidentschaft Kontinuitäten nach 1945, als bei den Behörden weiterhin in ihrer Einstellung, die Roma-Strategie prioritär zu be- mit den Akten der Nazis gearbeitet wurde, wenn es um handeln, unterstützen. Bei den EU-Staaten, die das Rah- Sinti und Roma ging. Er hat uns Beispiele vor Augen ge- menübereinkommen des Europarats zum Schutz natio- führt, wie heute in Rumänien und Bulgarien Roma dis- naler Minderheiten noch nicht anerkannt haben, müssen kriminiert werden, wie in Ungarn Rechtsextremisten Ju- wir dafür werben. Wir müssen die eingesetzte Task den, Sinti und Roma überfallen. (B) Force unterstützen. Wir wünschen uns natürlich eine (D) Einbeziehung der Vertreter der Roma in alle Gespräche, Wir haben es eben schon gehört: Mit etwa die es dazu gibt. 12 Millionen Menschen sind die Roma die größte Min- derheit in Europa. Das Europäische Parlament hat schon Danke für die Initiative. Danke für den 27. Januar 2008 beschlossen, eine europäische Strategie für die 2011 – die Gedenkveranstaltung hat mich sehr bewegt –, Roma zu entwickeln. Wir erwarten dafür in den nächsten danke Zoni Weisz für den Anstoß zum Nachdenken über Wochen einen neuen EU-Rahmen. Wir setzen uns dafür dieses Thema und danke, dass dieser Anstoß angenom- ein – ich will das ausdrücklich unterstützen –, dass die men wurde. Ich bin gespannt, wie wir weiter damit ver- Anstrengungen der EU verstärkt werden. Noch mehr set- fahren. zen wir uns dafür ein, dass sich auch die Mitgliedstaaten Danke für die Aufmerksamkeit. daran halten. Auf europäischer Ebene sind hierzu schon einige gute Beschlüsse gefasst worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie erinnern sich sicherlich daran, dass die EU-Justiz- kommissarin Frau Reding im letzten September den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: französischen Präsidenten wegen der Gruppenabschie- Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin bung von Roma aus Frankreich scharf kritisieren musste Kerstin Griese. und eine Klage der EU-Kommission wegen Diskriminie- (Beifall bei der SPD) rung aufgrund der ethnischen Herkunft oder Rasse ange- droht hat. Die EU hat hierzu also schon eine sehr eindeu- tige Position. Kerstin Griese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen es sehr, dass sich die ungarische Rats- Uns alle hat die Rede von Zoni Weisz am Gedenktag für präsidentschaft vorgenommen hat, bald, noch in den die Opfer des Nationalsozialismus, am 27. Januar, hier nächsten Wochen, die Anstrengungen auf europäischer in diesem Haus sehr beeindruckt und betroffen gemacht. Ebene zur Integration der Roma zu verstärken. Dies soll Er hat davon berichtet, wie er als siebenjähriger Junge auch Teil der Strategie „Europa 2020“ werden. Denn seine Familie verloren hat, die in den Zug nach Ausch- nachhaltiges Wachstum heißt auch, dass man alle Bevöl- witz getrieben worden war. Meine beiden Vorredner ha- kerungsgruppen teilhaben lässt: an Bildung, an Gesund- ben schon gesagt, dass es das erste Mal war, dass ein heit, an Integration und auch an guten Wohnmöglichkei- Vertreter der Opfergruppe der Sinti und Roma an diesem ten. Wir erwarten, dass gerade zu diesen Themen, zu Gedenktag hier gesprochen hat und damit ein deutliches Bildung, Gesundheit und Wohnen, in der EU-Strategie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11359

Kerstin Griese (A) deutliche Worte gefunden werden. Dazu muss auch gehö- Lassen Sie uns versuchen, einen gemeinsamen Be- (C) ren, dass die Sinti und Roma an der Entwicklung dieser schluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen, Strategie von Anfang an beteiligt werden und dass trans- in dem die Grundüberzeugung zum Ausdruck kommt, parent überprüft wird, welche Fortschritte es gibt. dass wir mehr tun müssen, um der Diskriminierung von Sinti und Roma bei uns und in Europa entgegenzuwirken Es ist in dieser Debatte schon zu Recht gesagt wor- und das Problem der menschlichen Schicksale, die bei den: Wir schauen nicht nur nach Europa, sondern auch einer Abschiebung drohen, so zu lösen, dass wir unse- darauf, was bei uns los ist. Es gibt noch immer offene rem Anspruch an ein humanes Miteinander in Europa und subtile Diskriminierung. In einer aktuellen Studie gerecht werden! mit dem Titel „Die Abwertung der Anderen. Eine euro- päische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen Heute Morgen ist schon viel über Europa diskutiert und Diskriminierung“ wurde untersucht, inwieweit worden. Zu einem Europa der Zukunft und zu einer Stra- Menschen, die eigentlich, rein rechtlich, gleichberechtigt tegie für ein Europa 2020 gehört neben der wirtschaftli- sind, diskriminiert werden und inwieweit in ihnen an- chen Gemeinschaft auch eine Gemeinschaft sozialer, hu- dere oder Fremde gesehen werden. Das Erschreckende manitärer und demokratischer Standards, in der ist, dass dabei herausgekommen ist, dass Sinti und Roma Minderheiten gewürdigt werden und bessere Chancen in der Unbeliebtheitsskala mit 79 Prozent Spitzenreiter bekommen. Deshalb meine Bitte – die Sachlichkeit der im Spektrum der Menschenfeindlichkeit waren. Es wur- Debatte, aber auch die Gemeinsamkeit, mit der wir uns den viele Beispiele gefunden – in Aschermittwochsre- auf die Rede vom 27. Januar dieses Jahres beziehen, den, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche und stimmen mich ein wenig hoffnungsfroh –: Lassen Sie im öffentlichen Leben –, die belegen, dass Sinti und uns real etwas zur Verbesserung der Situation der Men- Roma diskriminiert werden. schen unternehmen! Auch dies ist schon erwähnt worden: Ein besonderes Vielen Dank. Problem ist die Abschiebung von Roma aus Deutschland in den Kosovo, weil sie dort häufig diskriminiert wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den, keine Gesundheits- und Sozialleistungen bekom- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der men und keine Chance auf Bildung und Arbeit erhalten. LINKEN) Das ist besonders dann problematisch, wenn es sich um Familien mit Kindern handelt, die entweder hier geboren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder aufgewachsen sind, oder wenn es sich um alte, pfle- Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Serkan gebedürftige oder traumatisierte Menschen handelt. Wir Tören. wissen aus Berichten von Vertretern internationaler Or- (B) (D) ganisationen und deutscher Sozialverbände, die vor ei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nem Jahr mit einer Delegation im Kosovo waren, dass abgeschobene Familien von Roma dort auch direkte Ge- Serkan Tören (FDP): walt erlebt haben. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Si- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tuation der Roma und Sinti in Deutschland und Europa NEN]: Und die Kinder haben in der Schule greifen wir ein wichtiges Thema auf. Denn eines gehört keinen Unterricht bekommen!) zu den ganz traurigen Kapiteln der europäischen Histo- rie: die Geschichte der Roma in Europa, die über Jahr- Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an die Innen- zehnte hinweg mit Unterdrückung, Diskriminierung und minister aller Länder, die Ermessensspielräume in Ein- Ausgrenzung verbunden war. Der schlimmste Abschnitt zelfallprüfungen großzügiger zu nutzen. war zweifelsfrei ihre Verfolgung während der Zeit des (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Dritten Reiches, einer Zeit, der mehrere Hunderttausend BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Menschen zum Opfer gefallen sind. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011 Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vonseiten der hier im Deutschen Bundestag hat Zoni Weisz uns allen SPD-Fraktion sind der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen seine Empfindungen sehr eindrucksvoll geschildert. sehr dankbar für die Initiative zu diesem Antrag; stre- ckenweise haben wir sogar schon ein bisschen gemein- Wenn man die verschiedenen Staaten Europas be- sam daran gearbeitet. Auch nach Ihrer Rede, Kollege trachtet, kann man eines festhalten: Die gegenwärtige Heinrich, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir es in den Situation der Roma stellt sich doch sehr unterschiedlich Ausschussberatungen schaffen können, einen gemeinsa- dar. Nehmen wir etwa viele Staaten Mittel- und Osteuro- men Antrag zu erarbeiten. Wir brauchen eine Positionie- pas! Dort leben heute die meisten Roma. Die Probleme rung, die im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet, der betroffenen Menschen sind in diesen Staaten am damit wir aus der Rede von Zoni Weisz vom 27. Januar deutlichsten zu erkennen. Es geht dabei um schlechte dieses Jahres Lehren ziehen und real und konkret etwas Wohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde für die Sinti und Roma erreichen können. Bildungschancen. Noch gravierender ist jedoch die so- ziale Situation. Diese ist oft durch Ausgrenzung und Iso- Wir sollten den Appell, dass ein Volk, das über Jahr- lation geprägt. hunderte diskriminiert und verfolgt worden ist, nun eine bessere Zukunft braucht, wirklich ernst nehmen. Des- Dass die Kinder der Roma in gesonderten Klassen ge- halb mein Appell gerade an die Koalitionsfraktionen: trennt von den anderen Kindern unterrichtet werden, ist 11360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Serkan Tören (A) mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates in der Regel nicht Serbisch und Albanisch sprechen kön- (C) nicht vereinbar. nen, da sie in Deutschland aufgewachsen sind. Diese Kinder sprechen zu Hause Romanes, Deutsch oder eine (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE andere Sprache. In der Regel sprechen sie aber nicht die GRÜNEN]: Überhaupt nicht!) Mehrheitssprache der jeweiligen Gegend im Kosovo. Es Wenn die Wohnungen der Roma in räumlich getrennten ist also nicht gewährleistet – das wurde flächendeckend Gebieten oder Stadtvierteln liegen, dann zementieren berichtet –, dass die Kinder, die wir dorthin abschieben, sich Integrationsprobleme; dann existiert ein Klima, das überhaupt beschult werden können, wenn sie von ihren von gegenseitigen Vorurteilen und Missverständnissen Eltern in die Schule geschickt werden. Entweder sitzen geprägt ist. Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgren- sie dort und können dem Unterricht nicht folgen oder sie zung zu durchbrechen und die Roma besser zu integrie- gehen logischerweise irgendwann einfach nicht mehr ren, ist eine Herausforderung, die viele europäische hin, weil ihnen nicht geholfen wird. Staaten noch nicht ausreichend bewältigt haben. Sie hatten einen Fall geschildert. Ich wollte Sie Eines gehört ebenfalls zur Wahrheit: Auch innerhalb schlicht und ergreifend bitten, diese Umstände im Rah- der Gemeinschaften der Sinti und Roma muss zum Teil men ihrer Beratungen über den zu erwartenden Antrag ein Umdenken stattfinden. Verbesserte Rahmenbedin- zu berücksichtigen. Es ist vielleicht nicht der Haupt- gungen haben keinen positiven Effekt, wenn sie von den punkt. Denn es gibt nicht nur Probleme mit der Bereit- betroffenen Volksgruppen nicht als Chance begriffen schaft der Eltern, ihre Kinder wirklich beschulen zu las- werden. Ein verbesserter Zugang zu Bildung ist unbe- sen. Es gibt auch Probleme bei denjenigen, die von dingt notwendig. Die Eltern müssen ihre Kinder dann Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden. Es aber auch zur Schule schicken. gibt von staatlicher Seite kein Angebot einer entspre- chenden Beschulung. Wir sollten zumindest im Hinblick (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auf die Fälle, für die wir mittelbar verantwortlich sind, der CDU/CSU) weil wir die betreffenden Personen abgeschoben haben, Die Gleichstellung von Sinti und Roma in allen gesell- in Zukunft darauf achten, dass dieses Problem in Ge- schaftlichen Bereichen ist absolut wünschenswert. So- sprächen mit der Regierung des Kosovo angesprochen lange aber innerhalb der Familien der Sinti und Roma wird. Ich möchte Sie mit dieser Zwischenbemerkung bit- Frauen zum Teil unterdrückt werden, häuslicher Gewalt ten, dies zu berücksichtigen. Vielleicht können Sie kurz ausgesetzt sind und ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht dazu Stellung nehmen. wahrnehmen können, kann eine tatsächliche Gleichstel- lung von Frauen auch nicht erfolgen. Serkan Tören (FDP): (B) (D) (Kerstin Griese [SPD]: Das ist ein bisschen zu Mit Sicherheit werden wir uns diese Thematik bei der pauschal, finde ich!) Antragsberatung innerhalb der Koalition näher an- schauen; das ist ganz klar. Ich habe hier auf einen ande- Wir beraten heute den Antrag der Fraktion der Grü- ren Sachverhalt aufmerksam gemacht, den es durchaus nen für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und gibt – an dieser Stelle dürfen wir uns auch nicht ver- Roma in Deutschland und Europa. Als christlich-liberale schließen oder ein Thema tabuisieren –: Es geht darum, Koalition werden wir in Kürze einen eigenen, sehr viel dass Eltern in der Community ihre Kinder bewusst nicht ausgewogeneren und sachorientierten Antrag zur Situa- zur Schule schicken. Das ist ein weiter verbreitetes Phä- tion der Sinti und Roma in Europa in den Deutschen nomen als das, das Sie beschrieben haben. Insofern ist Bundestag einbringen. unser Hauptanliegen, uns erst einmal darum zu küm- mern. Das andere Thema werden wir uns in der weiteren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Antragsberatung natürlich auch anschauen, Herr Kollege Herr Kollege Tören, erlauben Sie eine Zwischenfrage Winkler. des Kollegen Winkler? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜND- Serkan Tören (FDP): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist genau anders- Ja. rum!) Als christlich-liberale Koalition werden wir in Kürze Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einen eigenen, sehr viel ausgewogeneren und sachorien- NEN): tierten Antrag zu der Situation der Roma und Sinti in Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich hatte mich bereits Europa in den Deutschen Bundestag einbringen; ich vor zwei Sätzen zu einer Zwischenfrage gemeldet, als sagte es bereits. Wir möchten damit Folgendes zum Aus- Sie den Schulbesuch und die Eltern, die ihre Kinder druck bringen: Uns ist das Thema sehr wichtig, und wir nicht zur Schule schicken, angesprochen haben. wollen eine Verbesserung der Situation der Roma und Sinti. Ohne Schärfe in die Debatte bringen zu wollen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir letztes Jahr mit ei- In dem Antrag der Grünen werden die aktuellen Be- ner Delegation des Innenausschusses im Kosovo waren. mühungen der Bundesregierung in keinster Weise er- Dort wurde uns berichtet, dass die aus Deutschland in wähnt, beispielsweise die aktive Arbeit in internationalen den Kosovo abgeschobenen Kinder der Sinti und Roma Foren wie der OSZE oder die Arbeit im Europarat, der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11361

Serkan Tören (A) die Integration der Roma und Sinti in Europa auf vielfäl- Petra Pau (DIE LINKE): (C) tige Weise fördert. Auch unterstützt die Bundesregierung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im seit vielen Jahren zahlreiche Menschenrechtsprojekte zur Dezember vorigen Jahres wurde hier in Berlin der Euro- Unterstützung der Roma und Sinti im Rahmen des EU- päische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma verliehen. Stabilitätspaktes für Südosteuropa bzw. des regionalen In ihrer Laudatio verwies Frau Professor Dr. Rita Kooperationsrates für Südosteuropa. Die Bundesregie- Süssmuth auf die zahlreichen Diskriminierungen von rung arbeitet eng mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Sinti und Roma europaweit, und sie mahnte: Roma im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bun- des zusammen. Es geht nicht um Minderheitenrechte, sondern um Menschenrechte. Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir uns, dass sich die Bundesregierung weiterhin zur Verbesserung der (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Menschenrechtslage der Roma und Sinti einbringt. Was DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angelika Graf uns als FDP besonders wichtig ist: Wir bekämpfen expli- [Rosenheim] [SPD]) zit den Menschenhandel, welcher unter Roma und Sinti Diesen Gedanken möchte ich hier gerne einführen. aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation ver- mehrt auftritt. Die Bundesregierung fördert auch EU- Wenn wir über die Gleichstellung von Sinti und Roma weite Kampagnen wie „Dosta!“ zur Verbesserung der in Deutschland und Europa diskutieren, dann reden wir Lage der Roma und Sinti und zum Abbau von Vorurtei- nicht primär über Sinti und Roma, sondern debattieren len und Ausgrenzung. Die Bundesregierung unterstützt vielmehr über Bürgerrechte und Menschenrechte in das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Deutschland und in der Europäischen Union. Hier gibt Sinti und Roma in Heidelberg, welches Forschungsar- es eklatante Defizite. beiten und Promotionen in diesem Bereich ideell und Vor knapp einem Jahr war ich in Ungarn – ebenso wie materiell ermöglicht. Als christlich-liberale Koalition DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger und Romani Rose, möchten wir in dem Zusammenhang insbesondere die der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und ungarische EU-Ratspräsidentschaft auffordern: Setzen Roma. Neonazis hatten ein Haus in Brand gesteckt. Als Sie den eingeschlagenen Weg zur Umsetzung einer um- der Familienvater mit seinem fünfjährigen Sohn dem In- fassenden Roma-Strategie weiter fort. ferno entkommen wollte, wurden sie beide erschossen, All dies werden wir auch in unserem eigenen Koali- weil sie Roma waren. tionsantrag zur Situation der Roma und Sinti thematisie- In Italien und Frankreich wurden Sinti und Roma iso- ren. Damit arbeiten wir effektiv auf eine Verbesserung liert oder des Landes verwiesen. Auch in der Slowakei, (B) der Lebenssituation der Roma und Sinti in Europa hin. in Bulgarien und Rumänien werden Sinti und Roma teils (D) All diese von mir erwähnten Bemühungen der Bundesre- wie Aussätzige behandelt. Sie sind de jure EU-Bürgerin- gierung kommen in dem Antrag der Grünen leider kaum nen und Bürger. De facto aber werden sie pauschal aus- vor. gegrenzt. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einige Worte zu Das sind die Aufgaben, über die wir heute reden. Ich dem Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo sagen. Die bin dankbar, dass Bündnis 90/Die Grünen einen so weit- Forderungen der Grünen nach einem generellen Ab- gefassten Antrag vorgelegt haben. schiebestopp bzw. nach einer Aussetzung des Rücknah- meabkommens mit dem Kosovo sind aus meiner Sicht In meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf in Berlin sehr problematisch und zu kurz gedacht. Die schwierige gibt es eine Gedenkstätte. In Berlin fanden 1936 Olym- soziale und wirtschaftliche Lage von Roma und Sinti al- pische Spiele statt. Die Reichshauptstadt sollte von Zi- leine kann kein generelles Abschiebehindernis darstel- geunern gesäubert werden. Die meisten Sinti und Roma, len. Grundsätzlich möchte ich sagen: Ein Abschie- die damals in Marzahn interniert waren, wurden später bestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute im KZ in den Gaskammern ermordet. Wir haben kein Krisenentwicklungen, also nur eine Ultima Ratio. Recht, diese Geschichte zu vergessen, aber wir haben die gemeinsame Pflicht, neuen Anfängen zu wehren. Als christlich-liberale Koalition verfolgen wir das Ziel: Die Situation der Roma und Sinti in Europa muss (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem verbessert werden. Als FDP-Bundestagsfraktion nehmen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- wir uns dieser Herausforderung an, und wir werden in geordneten der CDU/CSU und der FDP) Kürze zusammen mit dem Koalitionspartner einen abge- Dabei spreche ich nicht nur von der extremen Rechten. rundeten und in sich stimmigen Antrag vorlegen. Ausgrenzung beginnt oft in der Mitte der Gesellschaft. Vielen Dank. Sinti und Roma werden noch immer oder schon wie- der diskriminiert: bei der Bildung, bei der Gesundheit, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) beim Arbeiten, beim Wohnen, sozial, kulturell, rechtlich. Darauf macht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: aufmerksam. Die Linke unterstützt ihn weitgehend. Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke. Überfällig ist auch, dass die EU eine gemeinsame Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma verab- (Beifall bei der LINKEN) schieden will. Aber dieses EU-Papier entlässt keinen 11362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Petra Pau (A) Staat aus seiner nationalen Verantwortung, auch Deutsch- zite, die es bis zum heutigen Tage gibt, hinweggegangen. (C) land nicht. So müssen wir leider bis heute feststellen, dass es in Eu- ropa in einzelnen Ländern nach wie vor nicht nur eine ba- (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie nale Diskriminierung und Benachteiligung dieser Volks- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gruppe gibt. Hier ist in erster Linie die Europäische GRÜNEN) Union gefragt. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür dank- Das ist der Kern, über den wir zu diskutieren haben. bar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das Schicksal und die Situation der Roma dieses Jahr zu einem zentra- Es wurde schon angesprochen: Die Bundesrepublik len Thema gemacht hat, und das vor dem Hintergrund, Deutschland will weiterhin hier lebende und Schutz su- dass es in Ungarn selbst problematische Situationen gibt. chende Sinti und Roma in den Kosovo abschieben. Dort sind sie dem Ungewissen und Schlimmerem ausgelie- Hier in Deutschland gibt es weder eine staatliche Dis- fert. Die Linke hält das im doppelten Sinn für unmora- kriminierung noch eine Ausgrenzung dieser Volks- lisch: gegenüber der Geschichte und gegenüber den gruppe aus dem Schul- oder Gesundheitsbereich. Aber Menschen, die davon betroffen sind. es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftli- che Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Hause vermutlich klar. neten der SPD) Wichtig ist – darauf müssen wir immer wieder hin- Lassen Sie mich zum Schluss ganz persönlich eine weisen –, dass die rechtmäßig in Deutschland lebenden Bitte äußern: Die heutige Debatte ist bei allen Differen- Sinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe haben. zen – vielleicht gibt es kleine Unterschiede – sehr ver- antwortungsvoll geführt worden und war von Vorhaben (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE geprägt, die aus allen Fraktionen vorgetragen wurden. GRÜNEN]: Theoretisch! – Memet Kilic Lassen Sie die Debatte am heutigen Nachmittag und die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben folgende Beratung, in der auch die Anträge der anderen Sie doch selber nicht!) Fraktionen diskutiert werden, nicht folgenlos bleiben. Es Aber diese Möglichkeiten werden leider nicht ausrei- geht nicht darum, dass wir diesen Antrag unverändert chend genutzt. Nicht ohne Grund hat der Deutsche Bun- beschließen, sondern darum, dass wir uns um die Bür- destag 2007 festgestellt – die Kollegin Graf wird sich an ger- und Menschenrechte auch dieser Bürgerinnen und den von der Großen Koalition eingebrachten Antrag er- Bürger der Europäischen Union kümmern und ihnen hel- innern –, dass bei den Bemühungen, die soziale Situation fen, diese Rechte wahrzunehmen. von Roma zu verbessern, auch die Hürden in der Roma- Gesellschaft überwunden werden müssen. In vielen Fa- (B) Danke schön. (D) milien, so haben wir festgestellt, bestehen Vorbehalte (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem hinsichtlich eines Schulbesuchs der Kinder. Bildung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- wird dort nicht als Chance verstanden, obwohl sie eines geordneten der FDP) der wichtigsten Instrumente darstellt, dem Teufelskreis aus Armut und Arbeitslosigkeit zu entkommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Fragen Sie doch Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der mal nach den Ursachen!) CDU/CSU-Fraktion. – Das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Text des Beschlusses. – Mitunter werden Kinder von ihren Eltern von der Schule genommen, um zum Unter- Erika Steinbach (CDU/CSU): halt der Familie beizutragen oder bereits in jungem Alter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- verheiratet zu werden. Jungen und Mädchen werden in- ren! Ich bin dem Präsidium des Deutschen Bundestages nerhalb der Roma-Gesellschaft oft ungleich behandelt, ausdrücklich dankbar, dass am 27. Januar dieses Jahres sodass der Anteil der Roma-Frauen ohne Schulbildung Zoni Weisz die Rede zur Erinnerung an die Befreiung jenen der Männer übersteigt. der Insassen der KZ gehalten hat. Es war eine eindringli- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind che und anrührende Rede, die unter die Haut gegangen Dinge, die den Kindern aus solchen Familien den Weg in ist. Er hat nicht nur erinnert, sondern gemahnt. Er hat eine gute Zukunft versperren. Wir müssen in Gesprächen uns gemahnt, dass es auch heute noch schwierige Situa- mit den Repräsentanten der Roma für diese Probleme tionen für die Sinti und Roma in Europa gibt. sensibilisieren und deutlich machen: Ihr müsst eure Kin- Ja, es ist richtig, dass die Situation der Roma immer der in die Schule schicken. Ihr dürft eure Frauen nicht noch nicht in allen europäischen Ländern befriedigend verprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheira- ist. Sie ist außerordentlich problematisch und zum Teil ten. – Diese Dinge versperren den Menschen den Weg in prekär. Die Achtung und der Schutz von Minderheiten das Miteinander in unserer Gesellschaft. zählen zu den Kopenhagener Kriterien, die alle Staaten (Beifall bei der CDU/CSU) erfüllen müssten, bevor sie der Europäischen Union bei- treten können. Aber wie in einigen anderen Bereichen Deshalb haben wir seinerzeit die Bundesregierung auf- auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfahren in der gefordert, in Gesprächen mit Vertretern der Roma in Frage der Roma sehr leichtfertig über gravierende Defi- Deutschland und in anderen europäischen Ländern da- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11363

Erika Steinbach (A) rauf hinzuwirken, dass sie sich innerhalb ihrer Gemein- heitsversorgung ist miserabel. Frauen und Kinder wer- (C) schaft dafür engagieren, diese Defizite zu beheben. Sei- den Opfer von Menschenhandel. Das ist in menschen- tens der Bundesregierung gibt es viel Unterstützung für rechtlicher Hinsicht eine unmögliche Situation. Daher diese Volksgruppe. Die Bundesregierung unterstützt den kann ich die Mahnung von Zoni Weisz nur unterstützen: Zentralrat der Sinti und Roma, und es gibt inzwischen Verschließen wir nicht die Augen vor der oft menschen- – was ich sehr begrüße – eine Gedenkstätte, die daran er- unwürdigen Lebenssituation vieler Roma in Europa! innert, was den Sinti und Roma im Dritten Reich wider- fahren ist. Wir sollten aus unserer deutschen Warte he- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ raus in Gesprächen mit Vertretern dieser Volksgruppen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sehr deutlich machen, dass wir ihr Schicksal kennen und FDP) an ihrer Seite stehen. Wir müssen sie aber auch animie- Es ist nicht das erste Mal – Frau Steinbach hat das an- ren, Teil unserer Gesellschaft zu werden. gesprochen –, dass wir dieses Thema aufnehmen. Der Herr Weisz ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es Antrag der ehemaligen Großen Koalition ist uns allen einem Roma gelingen kann, nicht nur Teil der Gesell- vielleicht noch in Erinnerung. Roma, Sinti, Gitanos und schaft zu werden, sondern auch eine herausgehobene Manouches bilden zusammen die größte ethnische Min- Position zu erringen und ein höchst respektables Amt zu derheit Europas. Sie werden – das muss man ganz klar bekleiden. Er hat uns mit seiner Rede bewegt und auf ansprechen – nicht nur in Osteuropa diskriminiert, son- das Schicksal der Roma aufmerksam gemacht. dern zum Beispiel auch in Deutschland, wo neben den 70 000 Sinti und Roma mit deutschem Pass viele aus (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist oberlehrer- Osteuropa leben. Das Leben für diese Bevölkerungs- haft, was Sie da machen!) gruppe ist oft nicht einfach; denn auch bei uns sind Vor- Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir noch eine urteile prävalent. Frau Steinbach und Herr Tören, ich ganze Menge gemeinsamer Arbeit vor uns haben. möchte keine Schärfe in die Debatte bringen, aber man- ches, was Sie vorgetragen haben, war doch sehr pau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schal. (Erika Steinbach [CDU/CSU]: Ich habe zi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tiert!) Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion. Nicht jeder Roma wendet Gewalt in der Familie an. Auch Bildungsferne kann man nicht generell der ganzen (Beifall bei der SPD) Volksgruppe zur Last legen. (B) (D) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenigen Tagen hat das Europäische Parlament eine Re- Sinti und Roma werden leider häufig Opfer von ras- solution zur Lage der Roma verabschiedet, und heute sistisch motivierter Gewalt. In Deutschland besuchen sprechen wir im Bundestag über einen Antrag der Grü- Sinti- und Roma-Kinder trotz Normalbegabung überpro- nen zur Umsetzung der Gleichstellung der Roma in Eu- portional häufig Förderschulen. Sinti und Roma sind ropa. Ich denke, das ist eine Konsequenz aus dem, was auch kaum in politischen Vertretungen und Institutionen uns Zoni Weisz im Januar mitgegeben hat. vertreten. Der Antrag der Grünen nimmt Bezug auf seine Rede – diese habe ich als erschütternd und zutiefst berührend Ich finde es gut, dass sich die ungarische Ratspräsi- in Erinnerung – zum Gedenktag für die Opfer des Natio- dentschaft trotz der Aktionen der Rechtsextremisten in nalsozialismus. Zoni Weisz hat vor uns allen nicht nur Ungarn dieses Themas annimmt und versucht, eine so- seine schrecklichen Erlebnisse als Kind während des Na- ziale Integration der Roma in Europa zu befördern. Das tionalsozialismus geschildert – ich kann mich gut daran Europäische Parlament hat eine Entschließung verab- erinnern, wie er geschildert hat, dass er seine Angehöri- schiedet, in der auf die wachsende Stigmatisierung so- gen im Zug hat wegfahren sehen und sie nie wiedergese- wie den aufkommenden Antiziganismus im politischen hen hat –, sondern er ist auch auf die heutige Lebens- Diskurs und in der breiten Öffentlichkeit hingewiesen situation vieler Sinti und Roma in Europa, insbesondere wird. Zudem wird in dieser Entschließung die Rückfüh- in den osteuropäischen Ländern, eingegangen. Er hat rung von Roma in mehreren Mitgliedstaaten als „frag- diese Situation als menschenunwürdig beschrieben. Sinti würdig“ bezeichnet. und Roma werden ausgegrenzt, systematisch schlechter- Seit 2008 schieben Frankreich und Italien Roma mas- gestellt, leben oft in Gettos und werden bei Gelegenheit siv in den Kosovo ab. Mit dem deutsch-kosovarischen schnell des Landes verwiesen. Rücknahmeabkommen vom April 2010 ist auch bei uns Ich selbst war einige Male in osteuropäischen Län- faktisch der Weg frei für die Abschiebung von circa dern und habe dort auch Roma-Siedlungen besucht. Ich 11 700 Roma. habe vorgefunden: Es gibt keine Stromversorgung und (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das passiert leider nur eine schlechte Trinkwasserversorgung. Die Abwas- auch!) serentsorgung ist teilweise ebenfalls sehr schlecht. Die Sinti und Roma, mit denen ich gesprochen habe, haben Nach einer UNICEF-Studie sind – das wurde vom Kol- zudem über behördliche Willkür geklagt. Die Gesund- legen Winkler schon angesprochen – die Hälfte davon 11364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Minderjährige, von denen zwei Drittel in Deutschland (Beifall der Abg. [FDP]) (C) geboren wurden, die hier sozialisiert sind und Deutsch- land als ihre Heimat sehen. Die Studie fand heraus, dass Wir tun uns dennoch mit dem vorliegenden Antrag – es drei von vier abgeschobenen Kindern in dem Land, in ist bereits erwähnt worden, dass die CDU/CSU und die das sie verbracht werden, nicht mehr in die Schule ge- FDP einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema vorle- hen, weil die Familien dort zu arm und ohne Beschäfti- gen werden – etwas zu leicht. Der Antiziganismus – ich gung sind, Sprachbarrieren haben – wenn sie hier bei uns verweise noch einmal auf die Nürnberger Geschichte – aufgewachsen sind, können sie die Sprache des Landes ist ein Thema, mit dem wir uns inhaltlich auseinander- nicht, in das sie verbracht werden – oder ihnen Papiere setzen müssen. Er hat offenbar in Europa Wurzeln, die fehlen. Deshalb ist es richtig, dass SPD-geführte Bun- nur ganz schwer auszureißen sind. Da gilt es nach unse- desländer besonders sensibel mit den Rückführungen rer Auffassung anzusetzen. Es gibt nach wie vor eine umgehen und umfassende individuelle Einzelfallprüfun- Vielzahl von Klischees und sehr viel Unwissenheit über gen durchführen. Nordrhein-Westfalen führt beispiels- die Lebensweise der Sinti und Roma. Die Klischees und weise keine Kinder, ältere oder pflegebedürftige Men- Vorurteile werden gerne kultiviert und führen wie alle schen zurück. Vorurteile und Klischees zu sozialer Ausgrenzung. Des- halb ist es notwendig, dass wir uns mit diesem Thema Ich darf Sie daran erinnern, dass unser ehemaliger beschäftigen. Wir werden das mittels eines Antrags tun. CDU-Kollege Professor Dr. Christian Schwarz-Schilling, der ehemalige Hohe Repräsentant der internationalen Ich will aber deutlich sagen, warum wir dem Antrag Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und hoch- des Bündnisses 90/Die Grünen heute nicht zustimmen geschätzte Menschenrechtsverteidiger, mit Blick auf die können. Er suggeriert, es gebe gezielte Abschiebungen Situation der Kinder die Abschiebung der Roma verur- in das Kosovo. Frau Kollegin Graf, wer das Rückfüh- teilt und sie als historisch verantwortungslos bezeichnet. rungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Ich denke, wir sollten die Mahnungen von Zoni Weisz den Abschiebungen von Frankreich gleichstellt, neigt aufnehmen und mit und für Sinti und Roma europaweit schon sehr zu Pauschalisierungen, um es vorsichtig aus- Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben entwi- zudrücken. ckeln. Deswegen habe ich mich sehr über Ihren Beitrag (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gefreut, Herr Kollege Heinrich. Ich habe die Hoffnung, der FDP – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: dass wir aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, wirk- Ich habe das nicht gleichgestellt!) liche Perspektiven entwickeln, wie wir in diesem Haus zu einer Lösung dieses Problems kommen. Ich würde es Sie tun Ihrem Anliegen damit keinen Gefallen. sehr begrüßen. (B) Worum geht es? Es geht darum, dass in erster Linie (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die manchmal wirklich bedauerlichen wirtschaftlichen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und sozialen Verhältnisse des Heimatlandes nicht da- LINKEN) rüber hinwegtäuschen dürfen, dass wir es mit zwei ver- schiedenen Problemen zu tun haben. Das eine ist die so- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ziale Situation der Sinti und Roma hier in Deutschland Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat und in Europa, wo sie als Flüchtlinge Zuflucht gefunden nun der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSU- haben; das andere ist das Asylrecht. In ihrem Antrag ver- Fraktion das Wort. suchen die Grünen – es tut mir leid, wenn ich das sagen muss –, gewollt oder ungewollt, beides über einen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kamm zu scheren. neten der FDP) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da werden Menschen real abge- Michael Frieser (CDU/CSU): schoben, ganz real!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Nürnberger Abgeordneter ist man mit Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass das deutsche den Themen Alltagsdiskriminierung und Intoleranz his- Asylrecht auch in dieser Frage anzuwenden ist. Wir torisch auf besondere Art und Weise verknüpft. Das gilt müssen letztendlich darauf Rücksicht nehmen, dass die ganz besonders für die Diskriminierung von Sinti und völkerrechtliche Praxis, was die Anwendung des Asyl- Roma. Der Verweis auf die schändlichen Nürnberger rechts und die Anerkennung des Flüchtlingsstatus anbe- Rassegesetze darf hier nicht fehlen. Sie wissen, dass von trifft, zu wahren ist. diesem unsäglichen Blutschutzgesetz von 1936 auch Sinti und Roma betroffen waren. Am ehemaligen Stand- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ort des Nürnberger Industrie- und Kulturvereins erinnert Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischen- heute ein Gedenkstein daran. Wir müssen uns immer frage des Kollegen Ströbele? wieder dieses Unrechts bewusst werden, damit wir für die Zukunft daraus Lehren ziehen können. Ich bin stolz, dass es zur Gründung des Landesverbandes Bayern der Michael Frieser (CDU/CSU): Deutschen Sinti und Roma in Nürnberg kam. Ich hono- Gern. Wenn ich den Gedanken noch schnell zu Ende riere vor allem den Beitrag, den Sinti und Roma zur Ge- bringen darf, stehe ich für die Beantwortung einer Zwi- denkstättenarbeit in Nürnberg leisten. schenfrage selbstverständlich zur Verfügung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11365

Michael Frieser (A) Ich will noch einmal darauf abzielen, dass es einen nicht sozusagen historisch auch noch legitimieren. Des- (C) deutlichen Unterschied gibt. Auf der einen Seite steht halb sind es zwei verschiedene Dinge. Das eine ist, hier der ehrenwerte Ansatz: Wir müssen sozialer Benachteili- alles zu tun, um eine soziale Teilhabe zu ermöglichen; gung, Ausgrenzung überall dort begegnen bzw. sie ver- das andere ist, dort, wo es rechtlich zulässig und notwen- hindern und abstellen, wo wir sie antreffen. Aber auf der dig ist, Menschen wieder in eine Situation zurückzufüh- anderen Seite müssen wir auch das, was wir an asyl- ren, die ihnen angestammt ist und aus der sie eigentlich rechtlichen Grundlagen und an rechtmäßigen, legalen kommen. So verstehe ich den politischen Auftrag. Formen der Rückführung haben, beachten. Vielen Dank. Herr Kollege, bitte schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Ströbele. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Danke, Herr Kollege. – Geben Sie mir recht darin, Drucksache 17/5191 an die in der Tagesordnung aufge- dass die Sinti und Roma, die sich derzeit in Deutschland führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- aufhalten und jetzt von der Abschiebung oder Rückfüh- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung rung bedroht sind, aus ihrem Heimatland, nämlich dem so beschlossen. Kosovo, nicht aus ökonomischen Gründen weggegangen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: sind, sondern deshalb, weil man sie nach der Befreiung des Kosovo dort systematisch verfolgt hat, weil man ihre – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Häuser angesteckt hat und weil sie um ihr Leben fürch- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten ten mussten? Bei mir hier im Deutschen Bundestag sind Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer- danach mehrere Delegationen angekommen, die diese überlassungsgesetzes – Verhinderung von Leute vertreten haben bzw. selber aus dem Kosovo ka- Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung men und mir im Einzelnen berichtet haben, welcher – Drucksache 17/4804 – scheußlichen Verfolgung sie im Kosovo ausgesetzt wa- ren, weswegen sie dann in die Nachbarländer gegangen – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- sind, aber auch nach Deutschland, insbesondere übrigens neten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der (B) nach Bayern; gerade in der Nähe von München sind sie (D) heute ansässig. Wenn man diese Leute jetzt gegen ihren Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei- Willen mit Gewalt wieder dahin zurückbringt, müssen nes Gesetzes zur strikten Regulierung der Ar- sie berechtigterweise befürchten, dass die Verfolgung, beitnehmerüberlassung derentwegen sie dort weggegangen sind, sie erneut trifft. – Drucksache 17/3752 – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Michael Frieser (CDU/CSU): – Drucksache 17/5238 – Herr Kollege Ströbele, die Antwort auf diese Frage soll zeigen, dass es um zwei unterschiedliche Problem- Berichterstattung: bereiche geht. Das eine ist die durchaus nachvollzieh- Abgeordnete Jutta Krellmann bare Situation, was den Aufenthalt anbetrifft. Das andere ist die Frage der Rückführung. Ich gebe Ihnen in diesem Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je Punkt natürlich recht: Viele von ihnen sind nicht freiwil- ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der lig von dort weggegangen; das steckt ja in dem Begriff Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. der Vertreibung. Für uns ergibt sich nach den asylrechtli- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die chen Grundsätzen und der völkerrechtlichen Praxis eine Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es entscheidende Frage: Ist durch die geänderte Situation in dagegen Widerspruch? – Das scheint nicht der Fall zu der Heimat eine Rückkehr möglich? sein. Dann ist das so beschlossen. Am Schluss dieser Rede darf ich mir erlauben, noch Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- einen Gedanken vorzutragen. Gerade dieser Punkt macht nerin der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen mich etwas ratlos: Vollenden wir damit nicht sogar das, das Wort. was einmal verbrecherisch begann? Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben, müssen an einen Ort, an den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sie vielleicht nicht wollten. Die entscheidende Frage ist – so verstehe ich die völkerrechtliche Praxis –, dass wir Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für alles tun müssen, um ihnen die Rückkehr wieder zu er- Arbeit und Soziales: möglichen. Also ist doch unsere Unterstützung in erster Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zah- Linie dort gefragt. Das ist, glaube ich, der Punkt. Wir len stimmen. Wir haben ein glänzendes Wachstum von dürfen das, was einmal durch Unrecht eingetreten ist, 3,6 Prozent. Wir haben 41 Millionen Menschen in Ar- 11366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) beit; das ist ein Rekordwert. Wir sind zuversichtlich, Es wird eine Lohnuntergrenze für die Verleihzeit und (C) dass die Arbeitslosigkeit 2011 im Jahresschnitt unter der für die verleihfreie Zeit geben. Sie wird für Inländer und 3-Millionen-Grenze sein wird. für Ausländer gelten. Ferner haben wir uns darauf ver- ständigt, dass der Zoll die Einhaltung der Lohnunter- Ja, die Zahlen stimmen. Dennoch glauben viele Men- grenze kontrolliert. Hier wird der gleiche Mechanismus schen in unserem Land, dass etwas nicht stimmt. Unter wie bei der Kontrolle der Mindestlöhne nach dem Ar- dem Druck des globalen Wettbewerbs drohen unfaire beitnehmer-Entsendegesetz greifen. Das geht aber nur Arbeitsbedingungen am unteren Rand des Arbeitsmark- mit einer sorgfältigen Abgrenzung der Prüfzuständigkei- tes Fuß zu fassen. Es sind insbesondere Vorfälle aus dem ten und der Kontrollbefugnisse der Bundesagentur für Bereich der Zeitarbeit gewesen, die den Menschen die- Arbeit einerseits und der Zollbehörden andererseits. Wir sen Eindruck vermittelt haben. Einige haben Schlupflö- brauchen dazu die erforderliche Zeit. cher ausgenutzt, um die Stammbelegschaft systematisch schlechterzustellen. Das ist weder der Sinn von Zeitar- Sie alle wissen, meine Damen und Herren, dass die beit noch die Intention des Gesetzes. Wer seiner Beleg- entsprechenden Regelungen in Vorbereitung sind und schaft kündigt, um sie für die gleiche Arbeit zu schlech- dass sie rechtzeitig eine Kontrolle der künftigen Lohnun- teren Löhnen als Zeitarbeiter wieder einzustellen, der tergrenze gewährleisten. kündigt den fairen Umgang miteinander auf. Abschließend möchte ich noch etwas zum Thema (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Equal Pay sagen. Es ist nicht in Ordnung, wenn Men- Das wollen wir nicht tolerieren. Deshalb schließen wir schen für die gleiche Leistung in demselben Betrieb dau- mit diesem Gesetz die Gesetzeslücke. erhaft ungleich bezahlt werden. Wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeitar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – beit kann für Geringqualifizierte eine wichtige Alterna- Anette Kramme [SPD]: Dann machen wir tive zur Arbeitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei doch gemeinsam ein Equal Pay!) Drittel der Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma an- Im Gesetz steht: Es gilt Equal Pay, fangen, vorher nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat keinen Berufsabschluss. Sie haben als Zeitarbeitnehme- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nur in der Pra- rinnen und -arbeitnehmer volle Arbeitnehmerrechte: xis nicht!) Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, und sie sind so- gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Leiharbeitern und zialversicherungspflichtig beschäftigt. Auf der anderen Stammbelegschaft, es sei denn, die Tarifparteien einigen Seite gibt die Zeitarbeit Unternehmen die Möglichkeit, sich auf eine abweichende Lösung. Ich weiß sehr wohl, ihren Personalbedarf flexibel zu decken. Sie gibt ihnen (B) dass es einen unseligen Tarifparteienwettbewerb nach un- (D) Beweglichkeit für Auftragsspitzen oder besondere Pro- ten gegeben hat. Das war übel. Das hat dem Ansehen der jekte. Wir sind uns deshalb einig, dass wir aus diesen Zeitarbeit richtig geschadet. Gründen die Zeitarbeit brauchen. Das ist auch einer der Gründe, warum vor gut acht Jahren SPD und Grüne die (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie ge- Zeitarbeit flexibilisiert haben. Wir sind nach wie vor der schützt!) Überzeugung, dass der Grundgedanke richtig ist, da- durch Menschen in Arbeit zu bringen, weil Arbeit immer Ein Gerichtsurteil hat hier jetzt eine Zäsur gesetzt; das ist besser als Arbeitslosigkeit ist. richtig. Für uns bleibt es aber unstreitig, dass die Tarifau- tonomie erst einmal Vorrang hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) Meine Damen und Herren, wir stehen heute eher vor einer anderen Herausforderung. Es geht einerseits da- Erst wenn sie versagt, muss der Staat eingreifen. rum, die Flexibilität zu erhalten, und andererseits darum, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Fairness in der Zeitarbeit zu sichern. Hierzu trägt auch die europäische Leiharbeitsrichtlinie bei, die wir Deshalb erwarten wir jetzt, dass die Sozialpartner ihre vollständig, eins zu eins, umsetzen. Am 1. Mai werden Freiräume nutzen und sich mit Augenmaß auf eine An- wir unseren Arbeitsmarkt vollständig öffnen, auch für näherung an Equal Pay verständigen. die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den acht neuen EU-Mitgliedstaaten. Sie sind willkommen auf un- (Katja Mast [SPD]: Neun Monate!) serem Arbeitsmarkt. Was wir aber nicht wollen, ist, den Wenn die Tarifparteien innerhalb eines Jahres keine Arbeitsmarkt für ausländische Billiglöhne öffnen. Des- Tariflösung finden, dann halb habe ich mich immer klar für eine Lohnuntergrenze in der Leiharbeit ausgesprochen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Setzen Sie eine Kommission ein!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) werden wir eine Kommission einsetzen, Wir ziehen jetzt in der Leih- und Zeitarbeit eine gesetzli- che Lohnuntergrenze ein, die auf Vorschlag der Tarif- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das übliche Instru- partner durch Rechtsverordnung festgelegt wird. ment dieser Regierung, um nichts zu tun!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die an ihrer statt die Regeln für Equal Pay auslotet und neten der FDP) dem Gesetzgeber einen Vorschlag unterbreiten muss. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11367

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mindestlohnes in Form einer absoluten Lohnuntergrenze (C) neten der FDP – Christian Lange [Backnang] gesprochen haben, gesagt hätten, dass diese Regelung, [SPD]: Wie viel Kommissionen gibt es eigent- die von Ihnen ursprünglich nicht im Gesetz vorgesehen lich mittlerweile in der Bundesregierung?) war, aber durch die Annahme der Beschlussempfehlun- gen des Ausschusses quasi dem Gesetzeswerk als Omni- Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über- bus aufgesetzt wird, Ihnen in zähen Verhandlungen in zeugung, dass die Tarifautonomie ein schützenswertes der Nacht vor allen Dingen gegen den Widerstand der Instrument ist. Es ist aber eben auch unsere gemeinsame FDP abgerungen werden musste. Aufgabe, sicherzustellen, dass der Sozialstaat wirkt. Das gelingt meines Erachtens am besten in einem breiten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? – Weiterer Konsens und nicht im Streit. Heute gehen wir einen ers- Zuruf von der FDP: Mehrfache Wiederholung ten und wichtigen Schritt in diese Richtung. macht das nicht wahrer!) Danke. Wir Sozialdemokraten haben also in diesen Verhandlun- gen dafür gesorgt, dass vor Inkrafttreten der Arbeitneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) merfreizügigkeit am 1. Mai 2011 zumindest ein Mindest- lohn als gesetzliche Lohnuntergrenze eingeführt wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben dafür gesorgt, nicht Sie – mit Copyright, Frau Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD- Dr. von der Leyen, sollten Sie sich an dieser Stelle aus- Fraktion. kennen –; das zu erwähnen, wäre ein Akt der Höflichkeit gewesen. (Beifall bei der SPD) Gleichwohl kann ich nicht feststellen, dass dieser Ge- Hubertus Heil (Peine) (SPD): setzentwurf zureichend ist, um das zu erreichen, was of- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fensichtlich beabsichtigt ist, nämlich den Missbrauch Frau Bundesministerin, diese Beratung bietet vielleicht von Zeit- und Leiharbeit zu bekämpfen. die Gelegenheit, einmal grundsätzlich darüber zu reden, (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn die was der eigentliche Sinn und Zweck von Arbeitnehmer- SPD alles richtig gemacht hätte, hätten wir gar überlassung, also von Zeit- und Leiharbeit, überhaupt nichts zu tun! Dann könnten wir den Bundes- ist. tag abschließen und nach Hause gehen!) (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Gar keiner!) – Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Ich weiß nicht, ob Schon hier gibt es einen Widerspruch zu dem, was Sie, Sie sich mit diesem Thema irgendwann einmal beschäf- (B) (D) Frau Ministerin, eben gesagt haben. Wir sind nicht der tigt haben oder hier nur rumkrakeelen wollen. Die Wahr- Meinung, dass das, was wünschenswert wäre und was heit ist: Zeit- und Leiharbeit wird in diesem Land massiv Sie hier in leuchtenden Farben beschrieben haben, tat- missbraucht. sächlich eingetreten ist. Die Daten geben nämlich nicht (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Mein Gott! her, dass Zeit- und Leiharbeit im Wesentlichen eine Art Sie sind aber nervös!) arbeitsmarktpolitisches Instrument ist, um Menschen in Arbeit zu führen. Nach Studien des Instituts für Arbeits- Frau von der Leyen, an einem der Abende, an denen markt- und Berufsforschung ist ein sogenannter Klebeef- wir keine Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses fekt, also die Tatsache, dass Menschen über Zeit- und hatten, hatte ich noch den Nachtrhythmus drauf und Leiharbeit tatsächlich in feste Beschäftigung bzw. ordent- konnte nicht richtig schlafen, weil wir sonst immer mit- liche Arbeit kommen, nur in 7 Prozent der Fälle festzu- einander verhandelt haben. In dieser Nacht hatte ich die stellen. Gelegenheit, einmal das Nachtmagazin der ARD zu se- hen. Dort wurde die Situation sehr gut beschrieben. Es Gleichwohl kann man aus wirtschaftspolitischer Sicht gab ein Interview mit zwei Beschäftigten: der eine argumentieren, dass Zeit- und Leiharbeit als Flexibili- Stammbelegschaftskollege, der andere Leiharbeitnehmer; tätsinstrument sinnvoll für die Abdeckung von Auftrags- beide in einem Hamburger Unternehmen tätig; beide die spitzen von Unternehmen sein kann. In diesem Sinne gleiche Qualifikation; beide die gleiche Tätigkeit. Der sind die Gewerkschaften und auch wir Sozialdemokraten eine Unterschied war, dass der Kollege Leiharbeiter we- nicht der Meinung, dass man Zeit- und Leiharbeit ver- niger Urlaub hat als der Stammbelegschaftsbeschäftigte. bieten sollte. Als Instrument zur Abdeckung von Auf- Der wesentliche Unterschied war, dass er trotz gleicher tragsspitzen der Unternehmen ist sie akzeptabel. Frau Tätigkeit 900 Euro weniger bekommt. Das nehmen Men- Ministerin, es darf aber nicht sein, dass Zeit- und Leihar- schen als entwürdigend wahr, wenn sie es zu erleben ha- beit in Deutschland weiter als Instrument des Lohndum- ben. pings und damit zum Lohndrücken missbraucht wird. Das ist aber leider Realität in diesem Lande. Aber auch der Stammbelegschaftskollege war nicht glücklich über die Situation, weil er trotz Ihres Placebo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetzes nach wie vor damit rechnen muss, dass er zu- DIE GRÜNEN) künftig durch jemanden ersetzt wird, der schlechter be- zahlt wird. Genau an dieser Stelle versagt Ihr Gesetz. Sie hatten wenig Redezeit, ich habe auch wenig Rede- zeit, aber die Höflichkeit hätte es geboten, Frau Ministe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rin, dass Sie, als Sie eben über die Einführung eines DIE GRÜNEN) 11368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Hubertus Heil (Peine) (A) Ihr wohlfeiler Hinweis auf eine Tarifautonomie, die in (Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre schön ge- (C) diesem Bereich eben nicht mehr funktioniert, ist eine wesen, wenn Sie bei der Anhörung dabei ge- Ablenkung davon. Zu Recht zitieren Sie, dass das Ar- wesen wären!) beitnehmerüberlassungsgesetz bis dato im Prinzip den Wir wollen auch eine zeitliche Befristung auf ein Jahr, Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kennt. Sie was den Einsatz von Zeit- und Leiharbeitern betrifft. verschweigen aber, dass das nicht die Regel ist, Frau Ministerin. Sie verschweigen das. Und Sie wissen ganz Das Wichtigste ist aber – und das ist der Geist der genau – da können Sie sich auch nicht herausstehlen –, EU-Richtlinie zur Leiharbeit, die bis zum 5. Dezember dass wir dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nicht dieses Jahres umzusetzen ist –, dass wir uneingeschränkt effektiv begegnen können, wenn wir nicht den Grund- den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ als Gesetzgeber durchsetzen wollen. Mindestlohn ist das eine. Wir sind im Gesetz scharfschalten. stolz darauf, dass wir Ihnen das abringen konnten. Ich nehme es als ein Stück Heuchelei wahr, wenn die (Lachen bei der CDU/CSU) für Arbeit und Sozialordnung zuständige Ministerin an- Das reicht aber nicht, weil „Gleicher Lohn für gleiche kündigt – ich darf das zitieren, was Sie eben gesagt ha- Arbeit“ das ist, was die Menschen brauchen. ben –: Wir schauen uns ein Jahr lang noch einmal an, ob sich etwas bewegt, und drohen damit, nach einem Jahr eine Kommission einzusetzen. – Was für eine Ankündi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gung! Diejenigen, die Zeit- und Leiharbeit missbrau- Herr Heil. chen, zittern wirklich davor, dass Sie eine Kommission einsetzen. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Ich sage Ihnen: Wer den Menschen das verweigert, Frau Ministerin, die Wahrheit ist: Wir hätten längst in der hat keine Ahnung von der Lebensrealität dieser Men- den Verhandlungen – ich glaube, sogar mit Ihnen – eine schen. Es ist unwürdig, was Sie hier abziehen. Deshalb bessere Lösung erzielt, was den Grundsatz „Gleicher werden wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen Lohn für gleiche Arbeit“ betrifft, wenn Sie nicht in Gei- können. selhaft eines Koalitionspartners namens FDP wären, der nicht einmal nach neun Monaten gleichen Lohn für glei- Herzlichen Dank. che Arbeit wollte, sondern sich dafür eingesetzt hat, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ selbst nach neun Monaten dauerhaft nur der Grundlohn DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: gleich ist, nicht aber die Zuschläge. Sie, die FDP und die Das ist aber schwach!) (B) CDU/CSU, verhindern den Kampf gegen den Miss- (D) brauch von Zeit- und Leiharbeit. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der DIE GRÜNEN) FDP-Fraktion. Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich nur sa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen: Dieses Gesetz beinhaltet zwar einen großen Fort- schritt, was die Lohnuntergrenze betrifft. Deshalb wer- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): den wir dem Antrag ganz folgerichtig zustimmen. Wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben das zusammen mit den Grünen in den Verhand- Lieber Kollege Heil, ich schätze Sie eigentlich sehr; aber lungen durchgesetzt. Ich halte dies für eine gute Nach- ich finde das, was Sie hier tun, nicht konsequent. Wenn richt. Das ist überfällig. Es ist notwendig, dass wir vor Sie mit uns der Meinung sind, dass wir hier – insbeson- dem 1. Mai zumindest zu einem Mindestlohn in dieser dere was den Antrag anbelangt – in die richtige Richtung Branche kommen. Zureichend ist es aber nicht. gehen, dann sollten Sie auch die Größe aufbringen, die- sen Schritt am Ende komplett mitzugehen, das heißt, Wenn man dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit dem Gesetz insgesamt zuzustimmen. effektiv begegnen will, sind einige weitere Dinge not- wendig, Frau Ministerin. Das können Sie unserem Ent- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) schließungsantrag entnehmen. Wir wollen die Mitbe- Das fände ich richtig. Schade, dass Sie das verweigern stimmungsrechte der Betriebsräte ausweiten, was den wollen. Einsatz von Zeit- und Leiharbeit betrifft. Warum verwei- gern Sie das eigentlich? Wir wollen gleiche Teilhabe der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer beim Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie schon Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen, beispielsweise einmal Art. 38 gelesen?) Kinderbetreuung, Gemeinschaftsverpflegung und Beför- So viel zum Thema „Konsens und gemeinsames Bemü- derungsmitteln. Wir wollen die konzerninterne Verleihe hen“. an dieser Stelle einschränken. Das halte ich für dringend notwendig. Wir wollen vor allen Dingen, dass es keine Ich will für uns, die FDP, erstens festhalten: Die Zeit- Verträge von Fall zu Fall gibt – Stichwort: Synchronisa- arbeit ist für uns ein wichtiges Instrument zur Gewähr- tionsverbot. leistung von Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wir wollen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11369

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Zeitarbeit erhalten und auch künftig am deutschen Ar- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (C) beitsmarkt gangbar machen. GRÜNEN]: Die Opposition hat Angebote ge- macht!) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Noch weiter gangbar machen?) Wir wollten das Thema angehen – das haben wir ge- sagt –; aber dabei wollten wir eine Auffanglinie schaf- Wir haben aber immer gesagt: Wir wollen keinen Miss- fen, damit die Tarifpartner im Vorfeld tätig werden. brauch der Zeitarbeit. Wir treten Tendenzen, Stammbe- Nach langen Verhandlungen mussten wir am Ende fest- legschaften durch Zeitarbeiter zu ersetzen, deutlich ent- stellen: „We agree to disagree.“ Wir sind nicht auf einen gegen. Deswegen haben Kollege Schiewerling und ich Nenner gekommen. Jetzt machen wir genau das, was wir sehr frühzeitig, zu Beginn letzten Jahres, gesagt: Wir anfangs vorhatten: Wir fordern die Tarifpartner auf, im werden mit einer Drehtürklausel genau dies verhindern, Vorfeld tätig zu werden und ausdifferenziert – Branche nämlich dass Belegschaften entlassen und über Zeitar- für Branche, entsprechend den jeweiligen Bedingungen – beitsunternehmen zurückgeholt werden. Wir sind auch aufzuzeigen, was hier Equal Pay bedeutet und welche der Meinung: Zeitarbeit darf kein Mittel zur Lohndiffe- Frist angemessen ist. Wir wollen – da stehen wir weiter- renzierung nach unten sein; auch das wollen wir defini- hin bereit – eine Auffanglinie schaffen und sagen: Am tiv nicht. Ende, nach einer bestimmten Frist, muss immer klar sein, dass Equal Pay gezahlt wird. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Realität!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Deswegen sind wir in den Verhandlungen konkrete Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Schritte gegangen. Herr Kollege Heil, die Verhandlun- gen waren nicht einfach – das will ich festhalten –; aber Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): wir sollten hier keine Legendenbildung betreiben. Wir Ja, ich gestatte sie. Sie kommt gerade noch rechtzeitig haben gemeinsam eine Lohnuntergrenze verabredet, die in der Redezeit. Danke, Herr Heil. am Ende auf Ihren Wunsch hin – das will ich hier bestä- tigen – als absolute Lohnuntergrenze ausgestaltet wurde. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Wir sind diesen Schritt auch deswegen mitgegangen, FDP und der CDU/CSU) weil sich durch die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit – Sie können es auch Mindestlohn nennen – in Deutsch- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: land de facto nichts ändern wird; denn die Tarifautono- Herr Heil, bitte schön. mie funktioniert in diesem Bereich. Es ist der Bereich (B) (D) mit der mit Abstand höchsten Tarifbindung: 98 Prozent Hubertus Heil (Peine) (SPD): der Arbeitsverhältnisse sind tarifgebunden, entweder di- Ich mache das gerne. Das ist eine Art Wiedergutma- rekt durch Tarifmitgliedschaft oder durch Bezugnahme chung: Ihr Kollege Otto hat mir vorhin in der Energiede- auf Tarifverträge. Es wird sich für die deutschen Zeitar- batte zu etwas mehr Redezeit verholfen. beitsunternehmen und die bei ihnen angestellten deut- schen Zeitarbeiter de facto nichts ändern. Aber es gibt Herr Kolb, ich habe in diesem Zusammenhang zwei einen Schutz gegen die erwarteten und – vor allen Din- ernsthafte Fragen, verbunden mit der Bitte um präzise gen von Ihnen – befürchteten Verwerfungen am Arbeits- Antworten. markt aufgrund der Freizügigkeit ab dem 1. Mai; diesen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich versuche Schritt gehen wir mit. das!) Zweitens. Die FDP-Fraktion hat sehr früh auf das Es geht mir um Klarstellungen zu den Verhandlungen, Thema Equal Pay hingewiesen. damit da keine Legendenbildung stattfindet. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Erstens. Ist es richtig, dass Sie in den Verhandlungen Monaten!) erreichen wollten, dass es in den ersten neun Monaten einer Beschäftigung keinen gesetzlich vorgeschriebenen Wenn Sie sich erinnern: Im Sommer letzten Jahres – da gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und Sie diese Zeit waren Sie noch sehr mit der Diskussion über Mindest- pauschal als Einarbeitungszeit definiert haben? Ist es lohn und Freizügigkeit beschäftigt – richtig, dass Sie erst nach neun Monaten Beschäfti- gungszeit den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Ar- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, beit“ uneingeschränkt per Gesetz durchsetzen wollten, nein!) wissend, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerin- nen und Leiharbeitnehmer weniger als drei Monate in ei- haben wir gesagt, dass die Durchsetzung von Equal Pay nem Unternehmen beschäftigt sind? eigentlich kein Problem ist. Man muss sagen – Herr Heil, ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen –: Bei Zweitens. Ist es richtig, dass Sie unter „Equal Pay“ den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss und in der nicht das verstehen, was heute übrigens im Gesetz steht, Arbeitsgruppe hat nicht die SPD Angebote gemacht, nämlich dass es sich auf wesentliche Arbeitsbedingun- sondern die Koalition. Wenn Sie sich erinnern, von wem gen inklusive Arbeitsentgelt bezieht? Stimmt es, dass jeweils die Angebote vorgetragen wurden, werden Sie Sie den Gesetzentwurf einfach umdrehen wollten und das bestätigen müssen. auch nach neun Monaten Beschäftigungszeit kein Equal 11370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Hubertus Heil (Peine) (A) Pay in dem Sinne zulassen wollten, wie es jetzt im Ge- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C) setz steht, sondern nur bezogen auf den Grundlohn, dass Aus meiner Sicht, Herr Kollege Heil, gehört auch das Sie also die Zuschläge herausrechnen wollten? dazu, was ich jetzt noch gesagt habe. Können Sie mir das bitte bestätigen, um zu unterstrei- Was die konkrete Ausgestaltung der Frage nach Equal chen, warum wir „agree to disagree“, weil wir faule Kom- Pay – dabei gibt es in der Tat eine Bandbreite – anbe- promisse zulasten der Arbeitnehmer nicht mitmachen langt, haben die Verhandlungen in einer Arbeitsgruppe wollen? stattgefunden. Sie haben verwirrende Ergebnisse gelie- fert. Es hieß zunächst, man habe sich auch über Fragen Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): verständigt wie: Was heißt Equal Pay? Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für die Frage (Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] und die Gelegenheit, zu präzisieren. [SPD]) (Anton Schaaf [SPD]: Schön bei der Wahrheit Dann hieß es, der Kollege Heil habe den Konsens in bleiben, Herr Kollege!) dieser Unterarbeitsgruppe wieder aufgekündigt, sodass Wir haben uns in den Verhandlungen – wenn Sie Zah- ich mich außerstande sehe, zu bestätigen, dass wir uns len nennen, kann ich das umgekehrt auch tun – aus sehr auf irgendetwas an dieser Stelle hätten verständigen kön- unterschiedlichen Ecken aufeinander zubewegt. Es ist nen. Sie wollten das selbst nicht; das muss man auch sa- richtig, dass die Koalition zunächst ein Angebot über gen. zwölf Monate gemacht hat. Es ist richtig – das darf ich (Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] auch sagen –, dass Sie vom allerersten Tag an weniger [SPD]) wollten und das in einer sehr forschen Art und Weise vorgetragen haben. Es ist richtig, dass wir uns im Laufe Sie waren da vielleicht ein Stück weit ferngesteuert. der Verhandlungen aufeinander zubewegt haben. (Lachen bei Abgeordneten der SPD sowie des Wenn ich das recht erinnere, standen wir, bevor wir Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – festgestellt haben, dass wir nicht übereinkommen, bei Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin direkt neun und Sie bei drei Monaten. Von den jeweiligen gewählter Abgeordneter! Ich lasse mich nicht Startpunkten aus betrachtet ergibt sich ungefähr eine fernsteuern! Ich weiß nicht, wie das in der gleiche Entfernung. An dieser Stelle haben wir nicht FDP ist!) weiter verhandelt, weil man gesehen hat, dass es keinen Ich habe durchaus Verständnis für Dinge, die im Hinter- Sinn macht, und weil wir eine andere Wahrnehmung hat- grund von Verhandlungen ablaufen. (B) ten. (D) Ich kann nur sagen: Die Koalition hat sich wirklich Ich habe das in den Verhandlungen als „masochisti- fair und nach Kräften bemüht, die Zeitarbeit zu moderni- schen Ansatz“ bezeichnet; denn nach Ihnen ist es nur sieren und die Fehler, die Sie bei den Hartz-Gesetzen ge- gut, wenn es wehtut. Wir haben gesagt: Wir wollen macht haben – so muss ich Sie verstehen, Herr Heil –, schon das Signal an die Zeitarbeitsunternehmen senden: ein Stück weit zurückzunehmen, Ihr könnt nicht ewig so weitermachen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) neten der FDP) Aber das muss nicht dazu führen, dass Arbeitsverhält- aber dabei das Instrument der Zeitarbeit nicht kaputtzu- nisse bedroht werden. machen. Dabei sind wir nicht übereingekommen. Jetzt werden (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE wir erleben – da bin ich mir sicher; die Signale haben GRÜNEN]: Er ist schon lange über die Rede- wir jedenfalls –, dass sich die Zeitarbeitsunternehmen zeit, oder?) und die Einsatzbranchen Gedanken machen werden – das ist übrigens keine unverbindliche Ankündigung – In diesem Sinne werden wir uns mit Interesse an- und wir innerhalb der nächsten zwölf Monate – – schauen, wie es weitergeht. Wir stehen dazu, dass auch der zweite Teil, die Umsetzung der Kontrolle, noch (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war nicht kommt. meine Frage, Herr Kollege! Die zweite hätte ich gern beantwortet!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben Sie nur nicht gemacht, weil Sie Angst hatten, dass – Sie bekommen auch die zweite Frage beantwortet, es zustimmungspflichtig wird, Herr Kollege wenn der Präsident zustimmt. Kolb!) Da dürfen Sie sich auf uns als Verhandlungspartner ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lassen. Jeder kann Fragen stellen, wie er will, und jeder kann antworten, wie er will. So ist es. Wir werden auch weiterhin dafür garantieren, dass es einen Missbrauch der Zeitarbeit in Deutschland mit uns (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Präsident, nicht geben wird. das war ein Zwischenruf! – Weitere Zurufe von der SPD) Danke für die Aufmerksamkeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11371

Dr. Heinrich L. Kolb (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel in der Leiharbeitsbranche sagt die Linke Nein. Wir brau- (C) Troost [DIE LINKE]: Unglaublich!) chen keinen Mindestlohn, wir brauchen Equal Pay, (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der weil der Mindestlohn dazu führt, dass die Leiharbeiter Fraktion Die Linke. weiterhin weniger verdienen als die Stammbelegschaft. (Beifall bei der LINKEN) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für die verleihfreie Zeit braucht ihr auch den Mindestlohn!) Jutta Krellmann (DIE LINKE): – Da bin ich aber noch nicht. Ich bin noch bei der Arbeit. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen In der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde beispielsweise verdient man in der untersten Entgelt- es immer nett, wenn Sie sich streiten. Sie sollten weiter- gruppe 13,77 Euro. Da der Mindestlohn in der Leihar- machen. Das ist interessant. beitsbranche im Westen 7,60 Euro beträgt, verdient ein (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lernen Sie Leiharbeitnehmer etwa 45 Prozent weniger als ein noch was, Frau Kollegin! – Zuruf von der Stammbeschäftigter. Der Mindestlohn darf nur in der ver- FDP: Sie könnten uns ein bisschen Redezeit leihfreien Zeit gelten. Für die Arbeit gilt: Gleiches Geld abgeben!) für gleiche Arbeit. Wir nehmen heute circa einer Million Menschen das (Beifall bei der LINKEN) Menschenrecht auf gleiches Geld für gleiche Arbeit. Ich Als Zweites regelt die Bundesregierung den Drehtür- zitiere aus Art. 23 der Erklärung der Menschenrechte: effekt. Sie verhindert zwar, dass eine Firma ihre Be- Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen schäftigten zu einem schlechteren Entgelt über eine ei- Lohn für gleiche Arbeit. gene Leiharbeitsfirma beschäftigen darf. Wenn diese Personen allerdings sechs Monate arbeitslos oder woan- (Beifall bei der LINKEN) ders beschäftigt waren, ist das wieder möglich. Wo ist die Verbesserung? Die Umgehung ist vorprogrammiert. Früher war Leiharbeit dafür da, Auftragsspitzen abzu- Es liegt auf der Hand, was man machen muss, um die fangen. Die Hartz-Gesetze von Rot-Grün haben es er- Beschäftigten wieder einstellen zu können. möglicht, dass die Leiharbeit inzwischen zum Billig- lohnsektor geworden ist. Die Bundesregierung behauptet zudem, mit ihrem (B) Gesetz über Leiharbeit schaffe sie einen Mindestlohn, (D) Die Zeche zahlen die Leiharbeiternehmer. der nicht unterschritten werden kann. Das ist schlicht (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) nicht wahr. Auch hier ein Beispiel: Adecco, eine der größten Leiharbeitsfirmen weltweit, zeigt, wie es geht. In meinem Wahlkreis gibt es einen Leiharbeitnehmer, Bereits jetzt müssen Beschäftigte neue Arbeitsverträge der fünf Jahre unter dem Leiharbeitstarifvertrag des unterschreiben. Der Unterschied war für sie kaum zu Christlichen Gewerkschaftsbundes arbeiten musste. Die- merken. Statt Adecco GmbH stand Adecco Outsourcing ser ist jetzt ungültig. Deshalb steht ihm der gleiche Lohn GmbH im Arbeitsvertrag. Was hat sich geändert? Die wie einem Stammbeschäftigten zu. Für ihn heißt das in Kolleginnen und Kollegen sind keine Leiharbeitnehmer Zahlen: Er ist in fünf Jahren um 28 000 Euro betrogen mehr. Adecco hat sie in die konzerneigene Werkver- worden. tragsfirma ausgegliedert, und für Werkvertragsbeschäf- Leiharbeit ist und bleibt ein milliardenschweres Ge- tigte gilt der Mindestlohn nicht. So einfach ist das. schäft, das auf dem Rücken der Beschäftigten betrieben (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: wird. Wer profitiert davon? Einerseits profitieren die Fir- Unglaublich!) men, die Leiharbeiter einsetzen. Sie senken ihre Lohn- kosten und entledigen sich der Verantwortung für ihre Für die Kolleginnen und Kollegen heißt das, dass Beschäftigten. Andererseits profitiert die Leiharbeits- selbst die schlechten Bedingungen, die wir hier beschlie- branche. Allein der Marktführer Randstad konnte seinen ßen sollen, schon jetzt unterlaufen werden. Das Gesetz Umsatz von 2002 bis 2010 verdreifachen. Die Bosse bei der Bundesregierung ist Murks. Randstad freuen sich mittlerweile über einen fetten Um- (Beifall bei der LINKEN) satz in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzei- tig ist für viele Leiharbeitnehmer der Monat zu lang, um Leiharbeit darf nur dafür da sein, Auftragsspitzen aufzu- von dem Geld leben zu können. fangen. Die schwarz-gelbe Regierung entscheidet gegen die Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir mit der Lohn- Mehrheit der Deutschen. Eine Umfrage der Wochenzei- drückerei Schluss machen. Die Linke sagt: Gleiches tung Die Zeit ergab, dass 91 Prozent der Deutschen für Geld für gleiche Arbeit. Wenn Sie das Wohl der Leihar- Equal Pay in der Leiharbeit sind. Doch was macht die beitnehmerinnen und -arbeitnehmer im Auge haben, Bundesregierung? Statt endlich gleichen Lohn für glei- müssen Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, damit che Arbeit einzuführen, beschließt sie einen Mindest- sich endlich etwas bewegt und wir diese unsozialen Be- lohn in der Leiharbeitsbranche. Zu einem Mindestlohn dingungen endlich abschaffen. 11372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Jutta Krellmann (A) Vielen Dank. rungsverantwortung 2004/2005 damals gemacht haben. (C) Können Sie mir das bestätigen? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Bündnis 90/Die Grünen. NEN): Kollege Kolb, ich bestätige Ihnen, dass wir unsere Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meinung geändert haben. NEN): (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Un- Es wäre schön, wenn auch die FDP das hin und wieder sere Position in Sachen Leiharbeit ist bekannt. Unsere einmal täte. zentralen Forderungen sind die konsequente Anwendung von Equal Pay, eine Flexibilitätsprämie für Leiharbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, kräfte in Höhe von 10 Prozent und die Wiedereinführung bei der SPD und der LINKEN – Dr. Wolfgang des Synchronisationsverbots. Wir meinen, nur eine kon- Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sequente Regulierung stoppt den Missbrauch in der NEN]: Das dauert!) Leiharbeit. Denn Politik muss meiner Meinung nach schlichtweg (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – auch schauen, wie Gesetze wirken und welche Entwick- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also das Gegen- lungen und Fehlentwicklungen es gibt. Wir haben immer teil von dem, was Rot-Grün in der Regierungs- gesagt: Wir haben andere Erwartungen gehabt. Ich zeit beschlossen hat!) nenne zum Beispiel den Klebeeffekt, der nicht eingetre- ten ist. Wir haben nicht damit gerechnet, dass beispiels- – Herr Kolb, stellen Sie doch eine Frage. weise die Christlichen Gewerkschaften Nicht nur die Interessen der Wirtschaft und der Leih- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die sogenann- arbeitsbranche dürfen im Mittelpunkt stehen, sondern ten!) die Politik muss auch den Beschäftigten in der Leihar- beit gerecht werden. Sie haben einen berechtigten An- so in diese Branche gehen und einen solchen Lohndruck spruch auf die gleichen Arbeitnehmerrechte, auf faire machen, wie sie es getan haben. Löhne und gute Arbeitsbedingungen wie alle anderen (B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Weitsicht (D) Beschäftigten auch. hat gefehlt!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Herr Kolb, ich bin jetzt dran. – Wenn Fehlentwicklun- Frau Kollegin Müller-Gemmeke, erlauben Sie eine gen zu sehen sind, dann muss die Politik Verantwortung Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb? übernehmen. Dann muss man auch die Größe haben, zu sagen: Da sind Dinge gelaufen, die wir so nicht haben wollten. – Deswegen muss man dann Maßnahmen er- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- greifen, damit die Fehlentwicklungen wieder gestoppt NEN): werden. Das finde ich überhaupt nicht schlimm, sondern Aber natürlich. richtig.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Bitte schön, Herr Kolb. der SPD) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Täter- Opfer-Ausgleich!) Ich wünsche mir, dass das auch die FDP irgendwann ein- mal macht. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ha- Das soll jetzt ausgleichende Gerechtigkeit sein. – Ich ben sich die Grünen in allem geirrt während möchte nur auf Verantwortlichkeiten hinweisen. Ich er- ihrer Regierungszeit?) innere mich noch – ich bin lange genug im Deutschen Ich habe gerade von den gleichen Rechten der Be- Bundestag –, dass Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen als schäftigten geredet. Wir meinen, dass der Gesetzentwurf besonders wichtig erkannt hatte, dass die Zeitarbeit ge- dem nicht gerecht wird. Einzig und allein die Lohnunter- rade auch Menschen mit geringerer Qualifikation die grenze ist ein richtiger und vor allem auch ein notwendi- Möglichkeit zur Integration in den Arbeitsmarkt eröff- ger Schritt. Dieser Lohnuntergrenze werden wir nachher net. Ist es nicht ein bisschen so, dass Sie hier wie der zustimmen. Der Gesetzentwurf in Gänze aber ist und weibliche Zauberlehrling stehen? Ich glaube, die Geis- bleibt eine Minimalreform, der wir nicht zustimmen ter, die Sie riefen, werden Ihnen jetzt zu viel. Sie machen werden; denn Sie werden Ihrer Verantwortung den Leih- jetzt die Drehung zurück. Das, was Sie jetzt verändern arbeitskräften gegenüber nicht gerecht. wollen und als Ihre Vorschläge präsentiert haben, ist doch das glatte Gegenteil dessen, was Sie in der Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11373

Beate Müller-Gemmeke (A) Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, Sie suggerieren bestreikten Betrieben eingesetzt werden dürfen. Vor al- (C) immer wieder, die Leiharbeitsbranche sei eine Branche lem haben wir auch beantragt, dass die arbeitsvertragli- wie alle anderen auch. Fakt ist aber: In keiner anderen che Bezugnahme auf Tarifverträge gestrichen und der Branche müssen so viele Beschäftigte aufstockendes Zugang zur betrieblichen Weiterbildung erleichtert wird, Arbeitslosengeld II beantragen. Schon heute muss der damit der Gesetzentwurf zumindest der EU-Richtlinie Staat circa eine halbe Milliarde Euro pro Jahr an Trans- über Leiharbeit gerecht wird. Leider hatten wir keinen ferleistungen für Leiharbeitskräfte ausgeben. Darin sind Erfolg. Nicht einmal über diese Minimalforderungen ha- die langfristigen Kosten von Leiharbeitskarrieren noch ben Sie ernsthaft diskutiert. gar nicht enthalten; denn die niedrigen Rentenansprüche führen die Menschen direkt in die Altersarmut. Keine Der Gesetzentwurf bleibt also nahezu bedeutungslos andere Branche wird in diesem Umfang staatlich sub- für die Beschäftigten. Die Interessen der Leiharbeits- ventioniert. branche und der Wirtschaft bedienen Sie aber. Das kann ich nur Klientelpolitik pur nennen. Vor allem spalten Sie Sie betonen auch immer, dass der Großteil der Leihar- die Gesellschaft mit dem unregulierten Anstieg der Leih- beitskräfte vorher arbeitslos war. Das ist richtig, aber es arbeit weiter, und zwar nicht nur in Arm und Reich, son- ist auf gar keinen Fall eine Rechtfertigung für die Leih- dern auch in regulär und prekär Beschäftigte. Soziale arbeit. Natürlich kündigt kein Mensch sein festes Ar- Gerechtigkeit und verantwortungsbewusste Politik sehen beitsverhältnis, um in der Leiharbeit für kurze Zeit und anders aus. unter schlechteren Arbeitsbedingungen weniger zu ver- dienen. Deutlich wird aber, dass der Beschäftigungsauf- Vielen Dank. bau stark in die Leiharbeit geht und Stammbelegschaften (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schleichend ersetzt werden. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Auch der sogenannte Klebeeffekt ist ein Mythos. Ge- KEN) rade einmal 7 Prozent der Leiharbeitskräfte werden in reguläre Beschäftigungen übernommen. Diese Bilanz ist Vizepräsidentin Petra Pau: unterirdisch und zeigt, dass die Leiharbeit als arbeits- Für die Unionsfraktion hat der Kollege Schiewerling marktpolitisches Instrument nicht funktioniert. Das wird das Wort. von dieser Regierung wohl auch nicht gewollt; denn die Unternehmen profitieren doppelt: Sie erhalten Flexibili- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tät und billige Arbeitskräfte. Die Leiharbeitskräfte hin- neten der FDP) gegen leiden unter einer doppelten Belastung: Sie ver- dienen weniger und haben keinen sicheren Job. Das ist Karl Schiewerling (CDU/CSU): (B) ungerecht und nicht fair. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Die heutige Entscheidung zur Leiharbeit im Bundes- Die Arbeitnehmerüberlassung hat eine lange Geschichte. tag ist also wichtig. Es geht darum, ob wir den Umbau in Sie hat nicht erst im Jahre 2001 begonnen; es gab sie da- der Arbeitswelt hin zu noch mehr prekärer Beschäfti- vor auch schon. Durch Hartz I wurde allerdings bewirkt, gung befördern oder stoppen. Wir Grünen entscheiden dass sie sich von einem arbeitsmarktpolitischen Instru- uns für eine soziale Arbeitswelt. Sozial ist, was gute Ar- ment zu einer Branche entwickelt hat. Dies geschah, beit schafft. weil die Rahmenbedingungen durch die damalige Ge- setzgebung unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tuation, der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwie- sowie bei Abgeordneten der SPD) rigen Entwicklung in den Sozialsystemen verändert Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, lange haben wir wurden. Dadurch sollte wesentlich mehr Flexibilität in auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung warten diesen Bereichen entstehen. müssen. Jetzt aber geht es ganz schnell. Am Montag Mittlerweile gibt es circa 1 600 Zeitarbeitsfirmen. In fand die Anhörung statt, und heute, drei Tage später, der Tat gibt es in 98 Prozent dieser Firmen einen Tarif- wird das Verfahren schon abgeschlossen. Dies geschieht, vertrag; die allermeisten dieser Tarifverträge wurden mit wie ich finde, trotz dieses wichtigen Themas auch noch DGB-Gewerkschaften abgeschlossen. zu einer sehr späten Tageszeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Besser spät als der FDP) nie!) Ich verurteile das überhaupt nicht. Vom Grundsatz her In der Anhörung wurden vielfältige Bedenken von Ex- gilt Equal Pay. Ich kenne die Geschichte sehr genau. perten geäußert. Sie ignorieren komplett die Gewerk- schaften und vor allem auch Teile der Wissenschaft. Das (Zuruf von der LINKEN: Ich auch!) hat uns aber nicht überrascht. Wenn wir wollen, dass Equal Pay in der Zeitarbeitsbran- Gestern in der Ausschusssitzung haben wir auf unsere che gilt, dann brauchen wir in dieser Branche ab 2013 Maximalforderungen verzichtet und versucht, mit kon- einfach keine Tarifverträge mehr abzuschließen. Da- kreten Änderungsanträgen einige wenige Verbesserun- durch würden wir völlig problemlos Equal Pay für alle gen des Gesetzentwurfs zu erreichen. Wir haben bei- erreichen. spielsweise beantragt, dass die Auszubildenden in die Drehtürklausel einbezogen werden, dass Betriebsräte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mehr Rechte erhalten und dass Leiharbeitskräfte nicht in neten der FDP) 11374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: branche sehr differenziert zu betrachten. Es geht nämlich (C) Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischen- nicht nur um Stundenlöhne von 5,40 Euro; dieses Bei- frage der Kollegin Vogler? spiel, das eine bestimmte Branche, nämlich ungelernte Arbeitskräfte, betrifft, haben Sie gerade genannt. Viel- Karl Schiewerling (CDU/CSU): mehr ist das Tarifsystem in der Zeitarbeitsbranche sehr Ja. ausdifferenziert. Im Münsterland, aus dem wir beide kommen, gibt es auch Zeitarbeitsfirmen, die ihren Mitar- beitern 16 Euro die Stunde zahlen. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wahrschein- Kollege. – Mich würde interessieren, wie Sie auf 98 Pro- lich, weil sie sonst 20 kriegen würden!) zent kommen. Es gibt ja ein Urteil des Bundesarbeitsge- Ich kenne Industriebetriebe, die Wert darauf legen, dass richts, das festgestellt hat, dass bestimmte Gewerkschaf- vom ersten Tag an Equal Pay gilt. Diese Betriebe kennen ten überhaupt nicht tariffähig sind. Sie nennen sich zwar auch Sie. Ich glaube, dass es notwendig ist, von dem ge- christlich, sind meiner Auffassung nach aber weder samten Kübel der Verwerfungen, den Sie über der Zeit- christlich noch Gewerkschaften. Deren Tarifverträge arbeit ausgießen, ein wenig Abstand zu nehmen, die sind von Anfang an nichtig und ungültig. Wie bewerten Dinge sehr differenziert zu betrachten und genau zu Sie diese Tatsache? Welche Vorstellungen haben Sie, um überprüfen, an welchen Ecken wir Veränderungen benö- dem Wildwuchs, dass Arbeitgeber mit bestimmten Ge- tigen. Genau das tun wir. werkschaften Tarifverträge abschließen, die gar nicht im Interesse der Beschäftigten sind, und dass Gewerkschaf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta ten auf Veranlassung von Arbeitgebern gegründet wer- Krellmann [DIE LINKE]: Wenn die Leute alle den, nur um Dumpinglöhne in ihren Betrieben aufrecht- zu wenig verdienen, kann ich das nicht diffe- zuerhalten, entgegenzutreten? renziert betrachten!) Bei uns im Münsterland arbeiten Beschäftigte in der Ich glaube allerdings, dass es in den vergangenen Jah- Leiharbeitsbranche für 5,60 Euro pro Stunde. Jeden ren – das gestehe ich gerne zu, und deswegen handeln Donnerstagabend gibt es extra verlängerte Öffnungszei- wir heute – zu Verwerfungen gekommen ist, weil Be- ten bei der GAB, bei den Argen, damit die Leute dort er- triebe ihre Betriebskonzeption darauf abgestellt haben, gänzendes ALG II beantragen können. Halten Sie das mit möglichst niedrigen Löhnen und durch Ausgliede- tatsächlich für würdige Arbeitsbedingungen? Ich glaube, rungen in eigene Zeitarbeitsfirmen geschäftsfähig zu hier müssen Sie noch ordentlich nachlegen und noch ein- sein. (B) mal genau überprüfen, wie die Situation bei uns im (D) Münsterland tatsächlich ist. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ja! Ge- schäftsmodell Lohndumping!) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Dies steht in deutlichem Widerspruch zur sozialen Liebe Frau Kollegin Vogler, die Situation ist auch im Marktwirtschaft, zur sozialen Verantwortung und zum Münsterland sehr differenziert zu beurteilen. Handeln eines ehrbaren Kaufmanns, der nicht nur Um- Erstens. Tarifverträge werden von Gewerkschaften sätze, sondern auch seine Mitarbeiter im Blick haben geschlossen, egal in welchem Bereich. Die 98-prozen- muss. tige Tarifbindung haben wir. Ein Teil der Tarifverträge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wurde als nicht gültig eingestuft – dennoch gibt es zur Stunde Tarifverträge –; ich gehe davon aus, dass dies im Mit dem heute vorliegenden Gesetz führen wir mit Nachhinein geregelt und nachgeholt wird. Es bestehen der sogenannten Drehtürklausel eine Regelung ein, die sicherlich Probleme. Sie haben aber nichts mit Grund- dem einen Riegel vorschiebt. Außerdem verhindern wir satzfragen im Hinblick auf Tarifverträge zu tun, sondern Verwerfungen im Bereich der Zeitarbeit, zu denen es betreffen gewerkschaftliche Entscheidungen in einem aufgrund der Herstellung der vollständigen Arbeitneh- ganz bestimmten Bereich. merfreizügigkeit in der EU ab dem 1. Mai dieses Jahres kommen könnte. Darüber hinaus schaffen wir für die Zweitens. Ich will Ihnen gerne sagen, dass auch ich Verleihzeiten und die verleihfreien Zeiten eine Lohnun- einen Stundenlohn von 5,40 Euro nicht gut finde. Sehen tergrenze, die wie ein Mindestlohn wirkt. Im Übrigen Sie: Deswegen schaffen wir mit diesem Gesetz die Vo- werden wir mit diesem Gesetz die europarechtskonfor- raussetzungen für eine Lohnuntergrenze. Wir wollen sol- men Regelungen umsetzen. che Löhne verhindern. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir ja in der Anhörung gehört!) Ich hoffe sehr, dass Sie dem zustimmen. 3 Prozent aller Beschäftigten sind in Deutschland in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings! Wir einer Zeitarbeitsbranche tätig. Nicht ganz Deutschland sind wirklich gespannt, ob die dann zustim- arbeitet in Zeitarbeit, sondern nur 3 Prozent aller Be- men!) schäftigten. Drittens möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang (Zuruf von der LINKEN: Und das ist gar sagen: Ich halte es schon für notwendig, die Zeitarbeits- nichts?) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11375

Karl Schiewerling (A) Das sind – zugegebenermaßen – 1 Million Menschen. wahl zum Thema Zeitarbeit etwas sorgsamer zu sein. (C) Die Branche erlebt einen deutlichen Aufschwung. In der Die Menschen, die dort arbeiten, möchten auf das, was Aufschwungphase geht es Betrieben darum, Auftrags- sie leisten, stolz sein. spitzen aufzufangen – ich erlebe das immer wieder – und (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie möchten flexibel auf den Personalbedarf der Wirtschaft zu reagie- es!) ren. Ich sage sehr deutlich: Das gelingt, auch dank der guten Zusammenarbeit mit den Regionalagenturen vor Sie haben Respekt für die Arbeitsleistung, die sie erbrin- Ort. Davon profitieren übrigens nicht nur alle Zeitar- gen, verdient. beitsfirmen, die wir kennen, sondern auch eine Zeitar- beitsfirma, an der der DGB beteiligt ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es zeigt sich, dass Betriebe zurzeit mit Festanstellun- Vizepräsidentin Petra Pau: gen zögern; ich halte das für falsch. Sie vergeben eher Kollege Schiewerling, achten Sie bitte auf die Zeit. zeitlich begrenzte Verträge. Das ist für unsere gesell- schaftliche Entwicklung hochgefährlich, weil sich junge Menschen, die keinen Dauerarbeitsplatz bekommen, Karl Schiewerling (CDU/CSU): nicht für Kinder und Familie entscheiden. Wir sind da- Ich komme zum Schluss. – Zweitens. Ich glaube, dass bei, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, einen wichtigen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit und zu mehr Wir haben die Verwerfungen, die es im Augenblick Regelungen in diesem Bereich machen. Das ist nicht nur gibt, im Blick; das gilt auch für andere Bereiche. Ich für die Beschäftigten, sondern auch für die Akzeptanz frage mich, ob es notwendig ist, jemanden länger als der Branche und damit für die Betriebe wichtig. zwölf Monate an einen Betrieb zu verleihen. Ich glaube, dass das nichts mehr mit Zeitarbeit zu tun hat, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein Regelarbeitsverhältnis ist. Wir sollten das gut im neten der FDP) Blick behalten. Ich will auch deutlich sagen, dass es Zeitarbeit nicht Vizepräsidentin Petra Pau: nur in der Wirtschaft gibt. Es gibt sie leider auch im Das Wort hat die Kollegin Kramme für die SPD-Frak- kommunalen Bereich und in Wohlfahrtsverbänden, und tion. zwar in einer Form, wie ich sie nicht vermutet hätte. (Beifall bei der SPD) Leiharbeit kommt insbesondere im Bereich der Pflege vor. Die Arbeiterwohlfahrt in Essen zum Beispiel hat zu Anette Kramme (SPD): meinem großen Erstaunen ein komplettes Geschäftsmo- (D) (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dell entwickelt. Kollegen, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen von (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Im Bundestag den Unionsparteien und der FDP, ich frage mich immer haben wir auch Leiharbeit!) Folgendes: Liegt bei Ihnen Sarkasmus oder Zynismus vor? Ist es schlichtweg der Balken im Auge, wenn Sie Sehr deutlich möchte ich sagen, dass ich den Klebe- über die Zustände in der Leiharbeit reden? effekt durch Vermittlung nicht geringschätze. Die Werte schwanken übrigens, Frau Kollegin Krellmann, zwi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie ist nah dran!) schen 8 und 15 Prozent; Ich kann nur sagen: Ich nehme ein komplette Realitäts- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Genau! Rich- verkehrung wahr. tig!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN – das ist nicht genau festgelegt. Diesen Klebeeffekt gibt es Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Manche haben ei- aber. Ich begrüße das außerordentlich. Hier macht sich nen Balken im Auge und ein Brett vorm die Zeitarbeit als eine Brücke zur dauerhaften Beschäfti- Kopf!) gung sehr positiv bemerkbar. Ihr Gesetzentwurf ist löchrig wie ein Schweizer Käse. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Man kann auch sagen, er sieht aus wie ein Sack voller neten der FDP) Kartoffeln, in dem es nur eine einzige genießbare Kar- toffel gibt. Bei aller Diskussion dürfen wir eines nicht übersehen: Der Aufschwung, den wir in der Wirtschaft erleben, ist Wir alle wissen, dass es zwei Kernprobleme im Be- auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Weniger Menschen reich der Leiharbeit gibt. Das eine Problem ist: Die Leih- sind im Bereich der Kurzarbeit tätig. Wir haben einen arbeit ist eine Niedriglohntätigkeit. Viele Menschen, die deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Es ist zu in der Leiharbeit beschäftigt sind, bekommen nicht nur einem nach einer solchen Krisensituation nie gekannten Niedriglöhne, sondern Armutslöhne. Das andere Pro- Aufschwung im Bereich der sozialversicherungspflichti- blem ist: Immer mehr Menschen sind in der Leiharbeit gen Beschäftigungsverhältnisse gekommen. beschäftigt. Das liegt daran, dass Stammarbeitnehmer durch Leiharbeitskräfte substituiert werden. Das macht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Abrüstung!) uns große Sorgen. Denn Menschen in der Leiharbeit sind Ich möchte Ihnen abschließend zwei Dinge sagen: über die Armutslöhne, mit denen sie auskommen müs- Erstens. Ich würde der Opposition raten, in ihrer Wort- sen, sozial nur unzureichend abgesichert. Vor allem be- 11376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Anette Kramme (A) reitet es große Sorgen, wenn man sich ausrechnet, was richtlinie vor. Danach sind Abweichungen vom Grund- (C) diese Menschen eines Tages an Rente bekommen wer- satz Equal Pay nur dann gestattet, wenn es Regelungen den. Es ist volkswirtschaftlich auch äußerst unökono- zur Sicherung des Gesamtschutzniveaus der Leiharbeit- misch, über SGB II Jahr für Jahr 500 Millionen Euro an nehmer gibt. Hier haben Sie jegliche Regelung unterlas- Aufstockungsleistungen zuzuzahlen und damit Dum- sen. pingunternehmen in dieser Republik letztlich finanziell zu unterstützen. Meine Damen und Herren, wir brauchen drei Dinge: Wenn Sie einen Gesetzentwurf zum Arbeitnehmer- Erstens. Wir brauchen Equal Pay und Equal Treat- überlassungsgesetz vorlegen, könnte man denken, dass ment, um die Verdrängung von Stammarbeitnehmern zu Sie damit die Kernprobleme der Leiharbeit angehen und verhindern. auf die Realität eingehen. Das ist aber leider nicht zu be- Zweitens. Wir brauchen eine Höchstüberlassungs- obachten. dauer, um ebenfalls zu verhindern, dass dieser Verdrän- Sie legen hier eine winzige Regelung vor, mit der ge- gungswettbewerb stattfindet. gen die sogenannte Drehtürmethode vorgegangen wer- Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zu- den soll. Was ist diese Drehtürmethode? Dabei geht es sammenhang ist für uns: Es muss ein Synchronisierungs- darum, dass Arbeitnehmer zunächst in einem Stamm- verbot geben, weil wir in der Realität immer mehr fest- unternehmen beschäftigt waren, dort entlassen worden gestellt haben, dass Leiharbeitsverträge mit Arbeit- sind oder mit der Arbeit aufgehört haben, weil sie nur ei- nehmern parallel zum Auftrag des Entleihunternehmens nen befristeten Arbeitsvertrag hatten, danach in einem abgeschlossen werden. Das kann und darf nicht sein. Leiharbeitsunternehmen auftauchen und am gleichen Arbeitsplatz weiterarbeiten. Eine allerletzte Konstellation sei an dieser Stelle ge- nannt: Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist schaden nie. Betriebsräte können gut und flexibel mit die sogenannte AWO-Methode!) Leiharbeit umgehen, wenn sie auch Rechte haben, um Es ist richtig: Das ist ein Problem, das gelöst werden auf die spezifische Situation im Unternehmen einzuge- muss. In der Gesamtproblematik der Leiharbeit in das hen. aber eine Marginalie. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. Die Regelung kann durch Arbeitgeber auch ganz (Beifall bei der SPD) leicht umgangen werden, indem sie mit dem Leiharbeits- unternehmen einfach absprechen: Schickt mir andere (B) Leiharbeitnehmer. – Dann muss kein Equal Pay gelten, Vizepräsidentin Petra Pau: (D) wie es vorgesehen ist. Man kann auch mit einem kom- Der Kollege Vogel hat für die FDP-Fraktion das Wort. plett fremden Unternehmen der Leiharbeit zusammenar- beiten, zu dem es nie Kontakte oder Berührungspunkte (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gegeben hat. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Sie schreiben in dem Gesetzentwurf weiter: Leihar- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beit soll nur noch vorübergehend sein. – Damit reagieren Wir haben eben ja schon darüber geredet: Als Sie, liebe Sie auf die EU-Leiharbeitsrichtlinie. Europäische Richt- Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die linien sind aber so auszulegen, dass sie effektiv sind. Das Zeitarbeit flexibilisiert haben tun Sie an dieser Stelle nicht, sondern Sie sagen: Vo- rübergehend ist alles, was irgendwann einmal ein Ende (Anton Schaaf [SPD]: Da waren Sie doch noch hat. gar nicht hier, Herr Kollege Vogel!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorübergehend!) – ich habe mir vom Kollegen Kolb umfangreich berich- Zu solch einem Ende kann es aber natürlich auch erst in ten lassen, lieber Toni Schaaf –, hatten Sie doch in Wahr- 10 oder 15 Jahren kommen. heit – wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie das zu – zwei Ziele im Blick: Sie hatten einerseits natürlich ein (Beifall bei der SPD) Flexibilitätsinstrument für die Unternehmen im Blick, andererseits aber doch auch – zumindest hoffe ich das Dabei hat sich der europäische Gesetzgeber durchaus et- für Sie – den Einstieg für Arbeitslose in den Arbeits- was dabei überlegt, zu sagen, dass Leiharbeit nur vo- markt. rübergehend geleistet werden soll. Es geht hierbei darum, dass Dauerarbeitsplätze in Jetzt sagen Sie: Es hat Fehlentwicklungen gegeben; Stammunternehmen vorhanden sein sollen, dass die Be- die wollen wir korrigieren. Ich frage Sie: Was sind denn schäftigung primär dort stattfinden soll, zu guten Kondi- diese Fehlentwicklungen? Ist es eine Fehlentwicklung, tionen, und dass die Leiharbeit ihre Probleme hat, wes- dass zwei Drittel der Arbeitslosen, die in der Zeitarbeit halb mit ihr nur Auftragsspitzen abgedeckt und Vertre- tätig sind, darüber den Einstieg in den Arbeitsmarkt fin- tungsregelungen umgesetzt werden sollen. den? Ist es eine Fehlentwicklung, dass drei Viertel davon dauerhaft im Arbeitsmarkt bleiben und dass 40 Prozent Ein weiteres Problem lösen Sie ebenfalls nicht. Damit der Unqualifizierten, die in der Zeitarbeit beschäftigt liegt ein gravierender Verstoß gegen die EU-Leiharbeits- sind, darüber in den Arbeitsmarkt kommen? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11377

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dass sie 40 Pro- Deswegen zitiere ich, was Herr Walwei gesagt hat: (C) zent weniger verdienen, Herr Vogel, runterge- Bei Equal Treatment muss man ganz klar sagen, drückt werden! – Anette Kramme [SPD]: Dass dass dies ab dem ersten Tag und ohne Ausnahme sie nach drei Monaten wieder gefeuert wer- die Zeitarbeit erheblich verteuern würde. Die Inan- den! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. spruchnahme ginge dann definitiv zurück. Da muss Kolb [FDP]: Ja oder nein, Herr Heil?) man ganz klar sagen, dass damit dann Zugangs- Wenn das so ist, dann kann ich für die christlich-liberale hürden für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer Koalition nur sagen: Wir sagen, das ist eine Errungen- wachsen würden. Es käme im Grunde zur Rache schaft und keine Fehlentwicklung. Diese wollen wir er- des Gutgemeinten. halten. Das wollen wir nicht. Wir wollen das auch für die Gerin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gerqualifizierten erhalten. Deshalb sagen wir: Die Tarif- partner regeln das Equal Pay. Aber vielleicht meinen Sie mit der Fehlentwicklung etwas anderes. Vielleicht meinen Sie Ereignisse in der Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben ebenso Art von schwarzen Schafen, die die Zeitarbeit missbrau- wie ein anderer Kollege von Heuchelei gesprochen und chen, wie wir es bei Schlecker und bei der Arbeiterwohl- gesagt, dass das Aufgabe der Politik sei. Das ist der Un- fahrt im Ruhrgebiet erlebt haben. Schönen Gruß an die terschied zwischen Ihnen und uns: Wir wollen den Tarif- Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da könnten Sie partnern nicht die Brosamen überlassen, die übrigblei- positiv Einfluss nehmen. ben, nachdem die Politik alles geregelt hat. Wir vertrauen den Tarifpartnern, dass sie eine gute Lösung finden wer- Wenn Sie das meinen, dann frage ich mich, warum den. Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Genau das führen wir nämlich ein: eine Anti-Schlecker-Klausel und (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der einen Mindestlohn mit Blick auf die ausländischen Zeit- CDU/CSU) arbeitsunternehmen. Nur dann, wenn sie nicht handeln, werden wir nach ei- nem Jahr tätig. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Weil Sie das mit Schlecker nicht verstanden haben!) In diesem Sinne ist festzustellen: In der Frage des Equal Pay wird es entweder eine guten Lösung der Tarif- Wenn das die Fehlentwicklungen sind, dann könnten Sie partner oder durch die Kommission geben, die wir nach zustimmen. Ich habe heute von Ihnen keinen Grund ge- einem Jahr einsetzen. hört, dem Gesetzentwurf in irgendeinem Punkt nicht zu- (B) zustimmen. Ich habe das Gefühl, Sie meinen es mit der (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit einer Ar- (D) Korrektur von Fehlentwicklungen nicht richtig ernst, beitsgruppe! Wenn wieder keiner weiterweiß, liebe Kolleginnen und Kollegen. dann gibt es einen Arbeitskreis!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alle anderen Probleme, die Sie beklagen, die die Zeitar- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gleicher Lohn beit aber nicht kaputtmachen würden, sind gelöst. In die- für gleiche Arbeit zum Beispiel steht nicht sem Sinne kann ich nicht erkennen, warum Sie dem Ge- drin!) setzentwurf nicht zustimmen. Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Auch wir Ich kann nur erkennen, dass Sie viel Schauspiel be- meinen, dass es bei der Zeitarbeit noch einen Punkt gibt, treiben und wir uns um die Probleme der Menschen der korrigiert werden muss, damit die Zeitarbeit nicht kümmern. nur ein Steg in den Arbeitsmarkt ist, sondern eine Brü- Vielen Dank. cke. Dabei geht es um das Equal Pay. Das haben wir sel- ber thematisiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Mo- DIE GRÜNEN]: Die Arbeitnehmer brauchen naten!) die FDP wirklich nicht!) – Ja, lieber Kollege Heil. – Wir wissen, dass es mit dem Equal Pay nicht ganz einfach ist. Es kann auch, zum Bei- Vizepräsidentin Petra Pau: spiel wenn man es ab dem ersten Tag vorsieht, wie Sie es Der Kollege Lehrieder hat für die Unionsfraktion das wollen, negative Effekte haben. Ich zitiere kurz, was Wort. Herr Walwei vom IAB in der Anhörung gesagt hat. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist übrigens interessant, dass in der Anhörung, von der der FDP) auch Sie heute häufig gesprochen haben, kein einziger Kollege von Ihnen, liebe Opposition, auch nur eine ein- zige Frage an die anerkannt unabhängigen Akteure BA Paul Lehrieder (CDU/CSU): und IAB gestellt hat. Sie haben nur die von Ihnen selbst Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! bestellten Sachverständigen befragt. Liebe Kollegen! In der Diskussion wurde bereits einiges ausgeführt. Wir führen die zweite und dritte Beratung (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unangenehme des Gesetzentwurfs durch, der den Missbrauch bei der Wahrheiten will die SPD nicht hören!) Zeitarbeit unterbinden soll. 11378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Paul Lehrieder (A) Lieber Kollege Hubertus Heil, wir haben lange ver- Unser Ziel ist es aber, allen arbeitsfähigen Menschen die (C) handelt. Es wäre gut, wenn Sie als SPD das Ergebnis der Möglichkeit zu bieten, einer Arbeit nachzugehen. Verhandlungen mittragen könnten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre schön neten der FDP) gewesen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das Arbeit zu haben, ist besser als gar keine Arbeit. Die tragen wir mit! Das ist der Mindestlohn! Da Zeitarbeit ist daher auch ein Sprungbrett in eine feste Be- stimmen wir zu! Aber den restlichen Schrott schäftigung. Sie ist die Chance für jeden, der Arbeit brauchen wir nicht!) sucht; Kollege Vogel hat auf diesen Aspekt bereits hin- Wir haben vieles mit in den Gesetzentwurf hineinver- gewiesen. handeln können. Wir haben uns sehr viel Mühe mit Ih- Der Leiharbeit haben wir es zu verdanken, dass ge- nen gegeben. Es wäre schön, wenn Sie das ganze Paket rade in den Krisenzeiten der letzten Jahre Geringqualifi- mitschultern könnten. zierte und Arbeitslose eine Chance auf Beschäftigung (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann hätten Sie hatten. Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeit- sich mehr bewegen müssen! Sie sind halt nicht arbeitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbil- gut genug!) dung, und zwei Drittel hatten vor ihrer Anstellung keine Arbeit. Kollege Vogel hat gerade die Anhörung angespro- chen, die am Montag stattgefunden hat. Auf meine (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Frage, ob durch die Zeitarbeit eine Verdrängung regulä- GRÜNEN]: Logisch!) rer Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang er- Die Flexibilität der Zeitarbeit machte es möglich, den folgt, hat der Sachverständige Walwei ausgeführt, dass konjunkturellen Aufschwung schneller in Beschäftigung das nach seiner Erkenntnis gerade nicht der Fall ist. umzusetzen. Denn, wie Sie selber gesagt haben, Herr Heil, haben viele Leiharbeitnehmer nach einer kurzen Frist das Un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- ternehmen verlassen. Insofern kommt es nicht zu einer wie des Abg. Johannes Vogel [Lüdenscheid] spürbaren Verdrängung aus regulären Beschäftigungs- [FDP]) verhältnissen. Sicherlich – das soll nicht in Abrede gestellt werden – Wir haben auch festgestellt, dass durch die von Ihnen ist in der Zeitarbeitsbranche, die sich von einem Arbeits- vorgegebene gesetzliche Regelung Möglichkeiten zum marktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelt Missbrauch gegeben waren. Der Gesetzentwurf sieht hat, einiges unglücklich gelaufen. Schlupflöcher, die auf (B) deshalb Regelungen vor, um die Fälle von Scheinzeitar- Kosten der Arbeitnehmer ausgenutzt wurden, werden (D) beit zu vermeiden, in denen den Arbeitnehmern gekün- mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nun ge- digt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer zu schlossen. Folgende Kernpunkte sind darin enthalten. schlechteren Bedingungen und Löhnen wieder im ehe- Erstens erfolgt eine Ausdehnung der Erlaubnispflicht maligen Unternehmen zu beschäftigen. Auf die Drehtür- der Arbeitnehmerüberlassung auch auf solche Überlas- klausel wurde bereits zu Beginn der Debatte von unserer sungen, mit denen keine Gewinnerzielungsabsicht ver- Ministerin hingewiesen. bunden ist, sowie auf solche, die nicht auf Dauer ange- Wer Zeitarbeit auf diese Weise missbraucht, um Ar- legt sind. beitslöhne zu drücken, der untergräbt ein an sich gutes Zweitens wird in Zukunft verhindert, dass zuvor ar- Instrument der Arbeitsmarktpolitik und verkennt den beitslose Leiharbeitnehmer für einen Zeitraum von bis Sinn der Zeitarbeit. zu sechs Wochen von einem Unternehmen zu einem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Nettogehalt beschäftigt werden, das dem zuletzt gezahl- der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- ten Arbeitslosengeld entspricht. NIS 90/DIE GRÜNEN]: 7 Prozent!) Drittens wird den Zeitarbeitnehmern nun das Recht Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nun eingeräumt, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen sichergestellt, dass ein solcher Missbrauchsmechanismus oder -diensten zu erhalten. nicht mehr möglich ist. Zugleich wird damit die EU- Last, but not least – viertens – geht der Entleiher die Leiharbeitsrichtlinie des Europäischen Parlaments und Verpflichtung ein, Leiharbeitnehmer über freie Stellen des Rates vom 19. November 2008 in nationales Recht im Unternehmen in Kenntnis zu setzen. umgesetzt. Wir gewährleisten damit, dass die Zeitarbeit nicht mehr als Drehtür zur Absenkung von Arbeitslöh- Ein weiterer zentraler Punkt ist die Festlegung einer nen und Arbeitsbedingungen genutzt werden kann. Wir absoluten Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit. Eine sol- leisten damit einen notwendigen und wichtigen Beitrag che haben wir in Höhe von 7,60 Euro für die alten und zur Verbesserung eines für den Arbeitsmarkt bewährten 6,65 Euro für die neuen Bundesländern eingeführt. Instruments. Erlauben Sie mir, am Ende meiner Redezeit noch ein- Selbstverständlich ist es wünschenswert, feste Anstel- mal auf das viel gerühmte Equal Pay einzugehen. Lieber lungen bzw. unbefristete Arbeitsverträge auf dem Ar- Herr Kollege Heil, Equal Pay soll im Laufe der nächsten beitsmarkt zu haben. Das ist bei über 95 Prozent der Be- Monaten insbesondere bei auslaufenden Tarifverträgen schäftigungsverhältnisse in unserem Land auch der Fall. von den Tarifvertragsparteien diskutiert bzw. in Tarifver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11379

Paul Lehrieder (A) träge hinein verhandelt werden, die wir dann mit den Ar- Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- (C) beitgeberverbänden und mit den Gewerkschaften für all- haltung der SPD-Fraktion angenommen. gemeinverbindlich erklären können. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- Die Forderungen der SPD zeigen, dass ihr sehr viele ßungsanträge. Gewerkschafter davongelaufen sind. Wir halten es für Wir stimmen zuerst über den Entschließungsantrag sinnvoll, dass die Tarifvertragsparteien, denen wir ein der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5253 ab. Wer großes Vertrauen entgegenbringen, innerhalb des nächs- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt ten Jahres – auf diesen Zeitraum hat die Frau Ministerin dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan- hingewiesen – Regelungen anstreben, die wir dann über- trag ist abgelehnt. prüfen werden und übernehmen können. Das ist allemal gescheiter, als sich aus der Hüfte heraus auf eine Begren- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- zung der Verleihdauer auf einen Zeitraum zwischen drei ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf und neun Monaten – Kollege Heil und Kollege Kolb hat- Drucksache 17/5254. Wer stimmt für diesen Entschlie- ten davon gesprochen – zu entscheiden. ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Lassen Sie uns das prüfen. Es wird ja auch in Zukunft Handlungsbedarf geben. Lassen Sie uns dieses an sich Wir kommen zu dem von der Fraktion Die Linke ein- vernünftige Instrument weiterentwickeln. gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur strikten Regulie- rung der Arbeitnehmerüberlassung. Der Ausschuss für Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Ge- setzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/ Vizepräsidentin Petra Pau: 3752 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Ich schließe die Aussprache. entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- wurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Ver- hinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zu- Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter satzpunkt 9 auf: Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- 10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD sache 17/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierung (B) auf Drucksache 16/4804 in der Ausschussfassung mit Mit Transparenz und parlamentarischer Be- (D) den in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben teiligung gegen die Ausweitung von Rüstungs- anzunehmen. exporten Die Fraktion der SPD hat getrennte Abstimmung über – Drucksache 17/5054 – die Maßgaben beantragt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ich rufe daher zunächst die in der Beschlussempfeh- Auswärtiger Ausschuss (f) lung genannten Maßgaben auf. Ich bitte diejenigen, die Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe diesen zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind die in Entwicklung der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben mit den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der (Federführung strittig) FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, Ich lasse jetzt über die übrigen Teile des Gesetzent- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- wurfs auf Drucksache 17/4804 abstimmen. Ich bitte die- NIS 90/DIE GRÜNEN jenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuver- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind lässigkeit konsequent aussetzen auch die übrigen Teile des Gesetzentwurfs mit den Stim- men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die – Drucksache 17/5204 – Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom- Überweisungsvorschlag: men. Der Gesetzentwurf ist somit in allen Teilen in Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss (f) zweiter Beratung angenommen. Verteidigungsausschuss Dritte Beratung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Entwicklung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 11380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Ich bitte diejenigen, die an dieser Aussprache teilha- NATO bzw. in der NATO gleichgestellte Staaten nur in (C) ben wollen, sich einen Platz im Plenum zu suchen, und begründeten Einzelfällen geliefert werden kann. Ich sage diejenigen, die eine Aussprache zu anderen Themen füh- aber auch: Es bestand und es besteht immer die Gefahr ren wollen, das Plenum zu verlassen. – Frau Ministerin der unterschiedlichen Interpretation, ob bei konkreten von der Leyen, ist es möglich, dass wir mit den Beratun- Entscheidungen die politischen Grundsätze eingehalten gen fortfahren? wurden bzw. werden oder nicht. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Der zweite Grund, warum es notwendig ist, jetzt ent- gin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion. sprechende Initiativen zu ergreifen, ist folgender: Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat angekündigt, dass (Beifall bei der SPD) sie von einer restriktiven zu einer verantwortungsbe- wussten Exportpolitik übergehen will. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! doch nicht Ihr Ernst!) Was ist der Grund für unseren Antrag und für einen Neu- anfang? Wir teilen die Einschätzung der evangelischen Das lässt Schlimmes vermuten, zumal die europäische und der katholischen Kirche, die uns in der Gemeinsa- Rüstungslobby auf die Lockerung der Bestimmungen für men Konferenz Kirche und Entwicklung auffordern, in den Rüstungsexport drängt. der Rüstungs- und Waffenexportpolitik Deutschlands ei- Der dritte Punkt ist – ich glaube, da sind wir uns alle nen Neuanfang mit Transparenz und parlamentarischer einig –: Beteiligung zu machen. Vor dem Hintergrund meiner elfjährigen Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat – das (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Jetzt Entwicklungsministerium ist seit 1998 dort Mitglied – schauen wir mal!) unterstütze ich diesen notwendigen Neuanfang aus tiefer eigener Überzeugung und Erfahrung. Ich meine das Die Erfahrungen vieler europäischer Länder, Frank- durchaus selbstkritisch. reichs, Italiens, Spaniens, Großbritanniens und auch Deutschlands, mit Waffen- und Rüstungsexporten unter (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem Zeichen geostrategischer Stabilität an nordafrikani- sche Länder und Länder des Nahen Ostens in den letzten Welche konkreten Gründe gibt es aktuell? Durch die Jahren und zum Teil Jahrzehnten zeigen, wie notwendig Umstrukturierung der Bundeswehr verfügen die deut- Transparenz sowohl in unserem Land als auch in ande- schen Streitkräfte zukünftig über Waffen und Rüstungs- ren europäischen Ländern für derartige Exportentschei- güter, die nicht mehr benötigt werden. Die Gefahr ist dungen ist. Wären diese Verhaltensweisen früher öffent- (B) groß, dass diese Waffen weltweit und damit auch in Kri- (D) lich diskutiert worden, hätten viele Entscheidungen sengebiete exportiert werden. Deutschland darf aber keinen Bestand gehabt. nicht dazu beitragen, dass damit Konflikte in anderen Regionen angeheizt werden. Das hätte entsetzliche Kon- Wir alle haben gelernt – das ist hoffentlich ein Ergeb- sequenzen für das Leben von Menschen. nis dieser Debatte –: Waffenlieferungen in Länder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, darf es nicht ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Entsprechende Entwicklungen bei der Umstrukturie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rung von Armeen gibt es in vielen Industrieländern. Auch deshalb ist es notwendig, dass der gemeinsame Es ist natürlich wichtig, dass man Waffenembargos be- Standpunkt der Europäischen Union zu Rüstungsausga- schließt. Aber sie werden doch immer erst beschlossen, ben aus dem Jahr 2008 endlich von allen EU-Ländern, wenn die Krisensituation schon eingetreten ist. An- auch von Deutschland, in einer rechtlich bindenden schließend wird oft genug Business as usual betrieben. Form gefasst wird; denn mit diesen acht Kriterien wer- Eine solche Praxis muss ein Ende haben. den Festlegungen für eine restriktive Waffen- und Rüs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des tungsexportpolitik in der Europäischen Union insgesamt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) getroffen. Dazu gehören unter anderem die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen des Empfängerlan- Wir fordern deshalb eine restriktive Genehmigungs- des, die Achtung der Menschenrechte und des humanitä- praxis, die eine Kultur der Zurückhaltung erkennen lässt ren Völkerrechts durch das Empfängerland, die Frage, und die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch die ob das betreffende Land in einer Region mit bewaffneten Hintertür einer europäischen Harmonisierung verwäs- Konflikten oder in einer Spannungsregion liegt, und die sert. Wir fordern, nicht Lobbyinteressen zu bedienen, in- Frage, wie sich ein solches Empfängerland gegenüber dem Exportrichtlinien aufgeweicht werden, sondern An- der internationalen Gemeinschaft verhält. sätze der Konversion wiederzubeleben, um die zivile Produktion deutscher Unternehmen, die neben Rüs- Rot-Grün hat, beginnend im Jahr 1999 und dann im tungsgütern in vielen Fällen auch zivile Produkte her- Jahr 2000, sehr restriktive politische Grundsätze für den stellen, zu stärken. Waffen- und Rüstungsexport erarbeitet, die für das Ver- halten der Bundesregierung prägend sein sollten, und Gerade jetzt, da Deutschland als nicht ständiges Mit- man hat sie so ausgestaltet, dass in Länder außerhalb der glied in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden ist, for- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11381

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) dern wir die Bundesregierung auf, die Verhandlungen Vizepräsidentin Petra Pau: (C) für ein weltweites Waffenhandelsabkommen im Jahr Der Kollege Fritz hat nun für die Unionsfraktion das 2012 zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen und Wort. dabei vor allen Dingen abrüstungspolitisch engagierte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Nichtregierungsorganisationen in die Beratungen einzu- der FDP) beziehen. Ziel des Abkommens muss es sein, eine mög- lichst große Zahl von Staaten – ich verweise auf China, Russland und die USA – auf grundlegende Prinzipien Erich G. Fritz (CDU/CSU): zur Begrenzung und Kontrolle der Rüstungstransfers zu Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol- verpflichten und völkerrechtlich bindende Richtlinien leginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Frie- für alle Rüstungsexporte zu entwickeln. denspolitik und muss Friedenspolitik sein. Daran gibt es seit der Gründung dieser Republik keinen Zweifel. Was Die Zahl der Exportgenehmigungen für sogenannte Rüstungsexportpolitik angeht, liebe Frau Kollegin kleine und leichte Waffen, also für Massenvernichtungs- Wieczorek-Zeul, haben wir in diesem Parlament eine waffen in Zeitlupe, wie sie Kofi Annan genannt hat, lange gemeinsame Praxis. Das hängt auch damit zusam- muss endlich drastisch reduziert werden. Hier müssen men, dass das Verhalten nach Änderung von Mehrheiten entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden. in der Regel nicht kurzfristig geändert wurde. Aus dem Wort „verantwortungsvoll“ zu schließen, unsere Politik Der Kern unseres Antrags – da bitte ich alle Kollegin- sei nicht mehr restriktiv, passt, finde ich, überhaupt nicht nen und Kollegen um Unterstützung –, besteht aber da- in die Diskussion in diesem Hause zu dem komplizierten rin, dass wir den Vorschlag der Gemeinsamen Konferenz Thema Rüstungsexport. Kirche und Entwicklung für eine stärkere parlamentari- sche Beteiligung bei Rüstungs- und Waffenexportent- Sie wissen ganz genau, dass durch den Lissabon-Ver- scheidungen aufgreifen. Wir formulieren in unserem An- trag, durch den Binnenmarkt vieles, von dem wir früher trag: ausgegangen sind, von der Praktikabilität des Umgangs und der Kooperation innerhalb der Europäischen Union Ein geeignetes Instrument dafür her nicht mehr passt. Deshalb gibt es Bedarf, da etwas zu ändern, und das soll gemacht werden. – für die frühzeitige Einbeziehung des Deutschen Bun- destages in den Entscheidungsprozess – Reden Sie doch bitte nicht klein, was stets das Ziel der Bundesregierungen und vor allen Dingen des Bun- könnten vertrauliche Beratungen im Unteraus- destages war! Es waren immer Kollegen aus dem Deut- schen Bundestag, die das vorangetrieben haben, indem (B) schuss des Auswärtigen Ausschusses des Deut- (D) schen Bundestages für „Abrüstung, Rüstungskon- sie gesagt haben: Lasst uns eine gemeinsame europäi- trolle und Nichtverbreitung“ sein … sche Exportkontrollpolitik betreiben, weil sie, wenn der Standard höher wird, auf jeden Fall insgesamt bessere Wir gehen davon aus, dass die Kolleginnen und Kol- Ergebnisse zeitigt als viele nationale Ansätze mit den legen in diesem Hause, und zwar in allen Fraktionen, ein Zwängen, die Sie dargestellt haben. Insofern kann ich Interesse daran haben, die Beteiligung des Deutschen das, was Sie hier vorgetragen haben, nicht ganz verste- Bundestages zu stärken, und bieten deshalb ausdrücklich hen. an, einen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten, mit Ich kenne logischerweise all die Themen und Papiere, dem Ziel, diese Rechte des Deutschen Bundestages zu auf die Sie sich beziehen. Ich sage hier nur: Der Antrag, erweitern. Schweden zum Beispiel hat einen solchen den Sie eingebracht haben, über den zu reden wir Gele- Prozess der parlamentarischen Beteiligung. genheit haben werden, enthält, was Veränderungen an- Zum Schluss. Die nordafrikanischen Länder brauchen geht, etwa hinsichtlich der parlamentarischen Beteili- Chancen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Per- gung, keine neuen Vorschläge. Das diskutieren wir seit spektiven für die Jugendlichen, die aufbegehren. Sie 20 Jahren. müssen ihre Militärausgaben drosseln und die Mittel für (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja, aber Bildung, Arbeit und zivile Entwicklung einsetzen. Insge- jetzt müssen wir es mal machen!) samt befanden sich laut dem Bonner International Center for Conversion im Jahr 2009 elf Länder der Region – Jetzt passen Sie einmal auf. Nordafrika/Naher Osten unter den Ländern mit den Der Vorschlag, das Parlament, das ich als den wich- höchsten Militarisierungsgraden. Das wichtigste Boll- tigsten Kontrolleur ansehe, was Rüstungsexportpolitik werk gegen mögliche islamistische Gewalt ist aber die angeht, zumindest teilweise zur Genehmigungsbehörde Unterstützung von Demokratie und Zukunftsperspekti- zu machen, hat zwei Seiten, die man ernsthaft betrachten ven in diesen Ländern; es ist nicht die Lieferung von muss. Das Beispiel Schweden repräsentiert eine Seite. Waffen. Die dortige Praxis habe ich mir schon vor Jahren ganz genau angesehen und immer wieder mit Kollegen disku- Ich danke Ihnen. tiert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bedenken Sie einmal Folgendes: In deutschen Groß- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE städten wurde sehr ausgiebig über die Einrichtung von GRÜNEN) Vergabeausschüssen in Form von politischen Gremien 11382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Erich G. Fritz (A) diskutiert, die die Aufträge für die Stadt verteilen. Wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Sie sich heute umschauen, dann stellen Sie fest, dass es nicht mehr viele davon gibt. Es ist nämlich nicht gut, die Vizepräsidentin Petra Pau: Dinge zu vermischen. Außerdem ist die Anfälligkeit, Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion etwa für Korruption, viel zu groß, wenn man die Dinge Die Linke. nicht auseinanderhält. Wir sind bereit, ernsthaft darüber zu reden; schließlich gibt es gute Argumente für beide (Beifall bei der LINKEN) Positionen. Denken Sie aber daran, dass das kein Thema ist, das man von Anfang an für zentral erklären muss, Jan van Aken (DIE LINKE): nur weil es starke Kräfte gibt, die das fordern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Wir haben in diesem Bereich eine Trennung zwischen in den letzten Wochen mehrfach gehört, dass Deutsch- Exekutive und Legislative. In diesem Fall geht es um land eine strenge Rüstungsexportkontrolle habe. Das ist exekutives Handeln. Es geht nicht nur um die Genehmi- wirklich eine Legende. gung von wenigen Großaufträgen. Dem Bundestag ist (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist keine im Übrigen noch nie verweigert worden, rechtzeitig in- Legende!) formiert zu werden. Jeder Kollege, der sich darum küm- merte, konnte sich informieren und kann das auch heute Damit müssen wir endlich einmal aufräumen. noch. Es geht um Folgendes: Zur Bundesverwaltung ge- (Beifall bei der LINKEN) hört das Bundesausfuhramt und das Zollkriminalinstitut. Die Kontrollfähigkeiten des Zolls sind – das wissen Sie Denn wenn es eine strenge Exportkontrolle gäbe, dann aufgrund Ihrer früheren Mitwirkung ganz genau – immer wäre Deutschland doch nicht weltweit die Nummer drei stärker geworden. Das führt dazu, dass Unternehmen der waffenexportierenden Länder, dann hätte Deutsch- häufiger eine Unbedenklichkeitserklärung beantragen. land auch keine Waffen an Libyen, an Ägypten, an Dadurch ist die Anzahl der Genehmigungen dieser An- Saudi-Arabien und all die anderen Länder geliefert, für träge enorm gewachsen. Es gibt in diesem Bereich eine die jetzt plötzlich ein Waffenembargo gilt und gegen die große Sensibilität, auch der Unternehmen. Niemand will der Westen möglicherweise Krieg führt. Ich möchte das sich in die kriminelle Ecke stellen. Das ist auch gut so. einmal an drei Beispielen aufzeigen: Das alles jetzt in die Verantwortung des Bundestags zu Erstens. Was passiert eigentlich mit den Waffen, wenn stellen, das ist keine positive Entwicklung. Damit sind sie erst einmal exportiert worden sind? Das weiß kein auch Schwierigkeiten verbunden. Mensch. Das muss man sich einmal vorstellen. Es ist aus- Meine Redezeit ist seltsamerweise fast vorüber. reichend, wenn eine Waffenschmiede wie Heckler & (B) (D) Koch, die Maschinenpistolen herstellt, ein Schreiben vor- (Heiterkeit) legt, in dem zum Beispiel Mexiko versichert: Ja, die Ma- – So ist das manchmal, wenn man sich nicht an das Kon- schinenpistolen, die wir kaufen, bleiben bei uns im Land. zept hält. Wir liefern sie nicht weiter. – Danach kontrolliert das nie wieder jemand. Angesichts dessen sage ich immer: Jede Die Praxis der Kontrolle, an der Sie beteiligt waren, Frittenbude in Deutschland wird besser kontrolliert als Frau Wieczorek-Zeul, führt dazu, dass wir ganz viele de- Waffenexporte. Wenn ich in Hamburg eine Frittenbude likate Probleme haben, bei denen es berechtigte Ein- aufmache, dann reicht es nicht aus, dass ich am Anfang wände gibt. Auch heute kann blockiert werden. Die Aus- ein Schreiben schicke, in dem ich bestätige: Ja, ich mache einandersetzungen wegen Genehmigungsverfahren, die jeden Tag sauber und wechsle jede Woche das Öl. – Da sich über Jahre hinziehen, sind nicht beliebt. Ich bin den- kommen natürlich regelmäßig Kontrolleure und kontrol- noch für restriktive Verfahren, weil die Folgen falscher lieren das. Bei den Waffenexporten ist das nicht der Fall. Entscheidungen immer bedacht werden müssen. Das führt dazu, dass deutsche Waffen bei allen Krie- Zu den anderen Themen will ich jetzt nichts sagen. gen in der Welt auftauchen. In Mexiko hat zum Beispiel Ich will nur noch anführen, dass Siegfried Lenz in seiner Heckler & Koch jetzt ein Strafverfahren am Hals, weil Novelle Schweigeminute, die der eine oder andere viel- deutsche Gewehre plötzlich in Provinzen auftauchen, für leicht gelesen hat, den schönen Satz geschrieben hat: die ein Embargo gilt. Beim Krieg in Georgien sind plötz- Was wir verschweigen … ist mitunter folgenreicher lich Sondereinheiten mit deutschen G36-Sturmgewehren als das, was wir sagen. aufgetaucht. Diese Gewehre hätten dort gar nicht sein dürfen; dafür gab es nie eine Genehmigung. Oder den- Das gilt auch für dieses Thema. Deshalb sind wir für ken Sie an den Sohn von Gaddafi, der neulich in Tripolis Transparenz, für Kontrolle und für eindeutige, klare Ver- mit einem deutschen Sturmgewehr vom Typ G36 we- fahren. delte. Das hätte nie dort sein dürfen. Wenn man nicht (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kontrolliert, wo die Waffen in den einzelnen Ländern GRÜNEN]: Informationen vor allem!) verbleiben, dann kommt es natürlich dazu, dass sie wild in die ganze Welt exportiert werden. Wenn Sie mit uns darüber reden möchten, was man bes- ser machen kann, sind wir dabei. Populistischen Forde- (Beifall bei der LINKEN) rungen stimmen wir aber nicht zu. Man sollte sich einmal anschauen, was die Amerika- Danke. ner machen. Die Amerikaner haben eine entsprechende Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11383

Jan van Aken (A) Endverbleibskontrolle. Sie schicken gerne einmal Kon- bestimmte Regionen und Staaten, die Menschenrechte (C) trolleure ins Land, die nachschauen, ob die Waffen wirk- verletzen, oder wohin auch immer Waffen geliefert wer- lich da geblieben sind, wohin sie geliefert wurden. Das den. ist doch das Mindeste, was Deutschland machen könnte. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass Deutschland (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gar keine Waffen mehr exportieren sollte. neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens: die Frage der Menschenrechte. Es war hier Mit einer vernünftigen Endverbleibskontrolle, die mit mehrfach die Rede von den Rüstungsexportrichtlinien Transparenz, klaren Menschenrechtskriterien und dem der Bundesregierung. Diese können Sie getrost in die Verbot des Exports von Kleinwaffen einhergeht, könnte Tonne drücken; sie sind völlig unverbindlich. Es gibt in ein Anfang gemacht werden. Darauf könnte man sich Deutschland kein Verbot des Exports von Waffen in jetzt schon verständigen; das fände ich gut. In ein paar menschenrechtsverletzende Staaten. Das muss man ein Jahren kommt es dann zu einem Totalverbot. für alle Mal klarstellen. Es handelt sich um eine unver- bindliche Richtlinie. Es wird nämlich abgewogen zwi- Ich bedanke mich bei Ihnen. schen den Fragen, wie viel Geld verdient wird, wie (Beifall bei der LINKEN) wichtig ein Land in politischer Hinsicht ist und wie es mit der Einhaltung der Menschenrechte im betreffenden Land aussieht. Die Menschenrechte fallen am Ende im- Vizepräsidentin Petra Pau: mer hinten herunter. Anders kann man doch gar nicht er- Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDP- klären, dass nach Saudi-Arabien Tausende von Sturmge- Fraktion. wehren geliefert werden, (Beifall bei der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Panzer!) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Es obwohl die Bundesregierung selber in ihrem Menschen- ist schade, dass wir am letzten Freitag nicht die – in der rechtsbericht schreibt, dass dort dauerhaft schwere Men- Qualität ganz anderen – Anträge der SPD und der Grü- schenrechtsverletzungen stattfinden. nen beraten haben. Das hätte uns deutlich mehr gebracht, Es reicht insofern nicht aus, auf die Menschenrechte als sich ausschließlich mit dem populistischen Klientel- hinzuweisen, sondern eine rechtsverbindliche Regelung antrag der Linken zu beschäftigen. Der Antrag der Lin- muss her. ken hat nur dazu gedient, in irgendwelchen Antifa-Ver- (B) öffentlichungen zu zeigen, dass schon etwas läuft und (D) (Beifall bei der LINKEN) wer hier gut und böse ist. Ich bin dafür, dass als minimaler Standard festgelegt (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele wird, dass in ein Land, in dem es nach dem Menschen- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben rechtsbericht der Bundesregierung dauerhaft schwere Sie gegen Antifa?) Menschenrechtsverletzungen gibt, keine Waffen mehr exportiert werden dürfen. – Punkt! Hier darf dann keine Das war doch der einzige Zweck. Die heutige Debatte Abwägung mehr vorgenommen werden. hätte also schon früher stattfinden können. (Beifall bei der LINKEN) Frau Wieczorek-Zeul, was Sie hier vorgelegt haben, ist zwar seriöser, ich wage aber, zu bezweifeln, dass Ihre Drittens: die Frage der Transparenz. Man muss sich Fraktion Ihnen und damit sich einen Gefallen damit ge- einmal vorstellen, dass wir und die Öffentlichkeit zum tan hat, Sie hier als Rednerin vorzuschicken. Beispiel von einer Lieferung von Panzern nach Chile, die die Bundesregierung genehmigt, erst anderthalb Letzte Woche gab es den neuesten Rüstungsexportbe- Jahre später erfahren. Das darf doch wohl nicht wahr richt. Wenn man die Zahlen darin liest, fällt einem auf, sein. Das Mindeste ist – das finde ich auch richtig –, dass dass zwischen dem Jahr 2003 und heute ein Gesamtvolu- wir vorab informiert werden, welche Anträge vorliegen men an Kriegswaffenexporten aus Deutschland pro Jahr und was wann wohin gehen soll, damit wir gegebenen- im Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro zu verzeichnen ist. falls einschreiten können. Heute kann niemand mehr die Das sind, um einmal die Größenordnung klarzustellen, Waffen, die nach Libyen gegangen sind, zurückholen. etwa 0,15 Prozent des Gesamtexports. Ein Jahr sticht da- Erst vor einigen Wochen haben wir erfahren, wie viele bei heraus, nämlich das Jahr 2005. Damals waren nicht Waffen im Jahr 2009 dorthin exportiert wurden. Für das nur Sie als Entwicklungshilfeministerin, sondern auch Jahr 2010 liegen uns ja noch gar keine Daten vor. Außenminister Joseph Fischer im Bundessicherheitsrat vertreten. In diesem Jahr wurden Kriegswaffen mit einem Schließlich unterstütze ich die Forderung der SPD, Wert von 1,63 Milliarden Euro exportiert. Das machte dass die Exporte von Kleinwaffen drastisch reduziert 0,26 Prozent des Gesamtexports aus. werden. Das aber einfach nur in den Raum zu stellen, än- (Christoph Schnurr [FDP]: Hört! Hört!) dert nichts. Die SPD und die Grünen haben diese Forde- rung schon 1998 erhoben; hinterher sind die Exporte von Jetzt könnten wir natürlich denken, dass es sich dabei Kleinwaffen aber gestiegen. Hier müssen Sie klare Gren- vielleicht um besondere Exporte in verbündete NATO- zen ziehen. Es müssen Verbote erlassen werden, dass in Staaten handelte. Wenn man sich das Ganze etwas ge- 11384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) nauer anschaut, kommt man zu dem Ergebnis, dass von kurrenzunternehmen aus anderen Ländern der Europäi- (C) den 1,6 Milliarden Euro Exporte im Wert von 911 Mil- schen Union regelrecht Werbung: Kauft diese Produkte lionen Euro in Entwicklungsländer gingen, für die Sie nicht bei deutschen Unternehmen, sondern kauft sie bei zuständig waren, Frau Wieczorek-Zeul. uns. Wir haben zwar möglicherweise schlechtere Pro- dukte, aber bis die deutschen Anbieter ihre Exportgeneh- (Christoph Schnurr [FDP]: Hört! Hört!) migung bekommen, habt ihr schon längst, was ihr Dennoch sagten Sie uns gerade: Waffenlieferungen in braucht. – Das ist doch die Realität. Länder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, sind Wir müssen überlegen, wie wir zu schnellen Verfah- zu untersagen. ren kommen, die natürlich auch zu einer Ablehnung ei- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Natür- nes Antrags führen können. Um dies zu erreichen, kann lich!) das Ziel sinnvollerweise nur eine Harmonisierung euro- päischer Anforderungen an die Exportbestimmungen für – Entschuldigung, Sie waren die dienstälteste Ministe- Dual-Use-Produkte sein. rin, als Schwarz-Rot abgewählt wurde. Sie waren jahre- lang zuständig. Kaum sind Sie aus dem Amt, erzählen (Beifall bei der FDP) Sie uns hier etwas vom Pferd und sagen, was einzu- schränken sei. Nur dann, wenn wir gleichgerichtete Vorschriften haben, besteht kein Konkurrenzverhältnis mehr innerhalb der (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das habe Europäischen Union und innerhalb der NATO. ich schon lange erzählt!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das ist doch wirklich nicht glaubwürdig. GRÜNEN]: Wollen Sie jetzt aus Deutschland liefern oder nicht?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Genau in dem Jahr, in dem Rot-Grün hauptverant- Meine Damen und Herren, der Kollege Fritz hat wortlich war, stieg die Anzahl der Kriegswaffenexporte. schon das meiste zu der Forderung nach einer Vorabbe- Jetzt werden wieder Kriegswaffen im Wert von etwa fassung des Deutschen Bundestages gesagt. Wir haben 1,3 Milliarden Euro exportiert. eine Exekutive und eine Legislative. Wir tun uns keinen Gefallen – ich habe dasselbe gesagt, als ich in einem an- Kriegswaffenexport ist in seinem Wesen kein Pro- deren Parlament Oppositionspolitiker war –, wenn wir blem des Kleinwaffenexports. Kleinwaffen sind sozusa- als Parlament bei klassischen Angelegenheiten der Exe- gen Stangenware auf diesem Markt. Diese Länder, auch kutive unsere Finger im Spiel haben. Wir haben gar nicht Saudi-Arabien, können sie überall kaufen. Das große die Kompetenz und die Mitarbeiter dafür. (B) Problem und die ernsthafte Herausforderung sind hoch- (D) technologische Waffensysteme. Wenn Sie dieses Thema (Jan van Aken [DIE LINKE]: Sie nicht, aber beleuchten, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass eine be- wir schon!) sondere Herausforderung darin besteht, dass die Absatz- – Herr van Aken, Sie natürlich schon. Sie haben Mitar- märkte innerhalb der NATO und innerhalb der EU in den beiter dafür; Sie haben Tausende von Beamten in Ihrer Jahren des Kalten Krieges deutlich größer waren. Gott Fraktion, die einzelne Rüstungsexportgenehmigungsan- sei Dank haben wir mittlerweile eine andere Sicherheits- träge prüfen können. – Das glauben Sie doch wohl selber lage. Daher sind die entsprechenden Unternehmen jetzt nicht. Das ist doch völliger Blödsinn; Sie betreiben hier in der Bedrängnis, nur noch wesentlich geringere Stück- nur Populismus. Wenn Sie sich ernsthaft damit beschäf- zahlen verkaufen zu können, was die Stückpreise erhöht. tigen, kommen Sie nicht zu dem Ergebnis, dass der Allerdings haben die Staaten der Europäischen Union Deutsche Bundestag eine Rüstungsexportkontrollbe- feste Budgets, was zusätzlichen Druck bedeutet. hörde werden kann; das ist ausgeschlossen. Der Geheim- Die einzig sinnvolle Forderung, die wir in diesem Be- schutz und Nachrichtendienste wie der BND sind in die- reich aufstellen müssen, lautet doch, dass es innerhalb sem Bereich beteiligt. der Europäischen Union nicht nur, was die Rüstungsun- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ternehmen angeht, sondern auch, was die Rüstungsbud- GRÜNEN]: Das ist kein Grund!) gets betrifft, zu einer Harmonisierung und Integration kommt. Nur dann können die Stückzahlen innerhalb un- Man kann das doch nicht im Deutschen Bundestag ma- serer Wertegemeinschaft so erhöht werden, dass der öko- chen. nomische Druck, Exporte in Länder außerhalb der EU zu Im Übrigen kommt es oft zu der Situation, dass es im tätigen, nicht mehr in der Weise besteht wie im Moment. Zuge eines solchen Genehmigungsverfahrens zu einer Die Forderung lautet also, die Rüstungsprogramme in- Rücknahme des Antrags kommt; mit dieser Möglichkeit nerhalb der Europäischen Union zu harmonisieren. kann man dem Unternehmen eine öffentliche Darstel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lung ersparen. So handelt man sinnvoll. Diese Bundesre- gierung und diese Koalition werden dieses Thema ge- Ein weiteres Thema ist Dual Use. Dazu habe ich am nauso verantwortlich wie die Vorgängerregierungen vergangenen Freitag ebenfalls schon etwas gesagt. Auch handhaben. hier ist es doch nicht so, wie Sie suggerieren: dass die deutschen Unternehmen diejenigen sind, die andere an (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE den Rand drängen. Vielmehr machen zahlreiche Kon- GRÜNEN]: Genauso unverantwortlich!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11385

Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) Wir werden in einem Spannungsfeld von berechtigten Die Lobby der Menschenrechte kann mit den Wirt- (C) Interessen unserer Industrie und Sicherheitsinteressen schaftsinteressen hier gar nicht mithalten. Der Kollege eine vernünftige Abwägung treffen. Ich habe auch ange- Lindner hat uns schon letzte Woche eindrücklich vor sichts der beteiligten Minister überhaupt keine Sorge, Augen geführt, was die Koalition von einer restriktiven dass hier planlos die Schleusen geöffnet werden. Alle Exportpolitik hält, als er hier zum Thema Rüstungsex- Damen und Herren, die sich mit dieser Aufgabe beschäf- porte ein flammendes Bekenntnis zur Exportnation tigen, handeln verantwortungsvoll; sie ist bei ihnen in Deutschland abgegeben hat. guten Händen. Die SPD erhebt in ihrem Antrag die berechtigte For- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE derung nach Transparenz und parlamentarischer Beteili- GRÜNEN]: Wie kommen dann die ganzen gung. Im Kern der Forderung steht die frühzeitige Waffen nach Nordafrika?) Einbindung des Deutschen Bundestages in die Genehmi- Herzlichen Dank. gungsverfahren. Diese Forderung teilen wir Grünen, da die Bundesregierung nur so gezwungen werden kann, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ihre Entscheidungsgründe offenzulegen.

Vizepräsidentin Petra Pau: Richtig ist auch die Forderung, die Konversion von Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie zu unterstützen; legin Keul das Wort. denn gerade der europäische Markt wird aufgrund der Sparmaßnahmen künftig nicht mehr wie im bisherigen Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Umfange für die Abnahme von Rüstungsgütern zur Ver- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und fügung stehen. Die Rüstungsexportrichtlinie ist eindeu- Kollegen! Gestern haben wir in den Ausschüssen über tig: „Beschäftigungspolitische Gründe“ dürfen bei der den Rüstungsexportbericht debattiert, aber leider nicht Genehmigung „keine ausschlaggebende Rolle spielen“; über den von 2010, sondern über den von 2009. Es ist der Rüstungsexport in Drittstaaten darf „nicht zum Auf- wieder einmal über ein Jahr ins Land gegangen; die im bau zusätzlicher, exportspezifischer Kapazitäten füh- Berichtszeitraum gelieferten Waffen sind längst im Ein- ren“. satz. Auch wenn wir den Antrag der SPD grundsätzlich un- 2009 wurden Exporte im Wert von mehr als terstützen, habe ich einige Verbesserungsvorschläge. Zu- 5 Milliarden Euro genehmigt. Dabei wurde nicht nur an nächst einmal greift der Titel des Antrags zu kurz. Wir verbündete Demokratien geliefert: Der Wert der geneh- sind nicht nur dafür, „die Ausweitung von Rüstungsex- (B) migten Kriegswaffenausfuhren an Drittstaaten war mehr porten“ zu stoppen; es geht uns darum, den Umfang der (D) als doppelt so hoch wie der Wert der Ausfuhren an EU- Rüstungsexporte zu verringern. und NATO-Staaten. Dabei darf nach der Rüstungsexport- richtlinie der Bundesregierung eigentlich nur in Ausnah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mefällen an Drittstaaten geliefert werden. Diese Ent- Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, die Rüstungsexport- wicklung ist ganz klar gesetzeswidrig. richtlinie und den EU-Kodex für Waffenausfuhren in das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Außenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um den Normen Darüber hinaus ist die Berücksichtigung menschen- damit eine höhere Verbindlichkeit zu verschaffen. rechtlicher Standards in dieser Richtlinie festgeschrie- Wir sind außerdem für die konsequente Übertragung ben. Dennoch wurde an Mubarak, Gaddafi und andere der Federführung vom Wirtschaftsministerium an das Despoten geliefert. Auswärtige Amt, wo die Einschätzung von Krisenregio- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Bei nen und Menschenrechtslagen deutlich besser aufgeho- Fischer auch! Unter Rot-Grün auch!) ben sein dürfte. Saudi-Arabien hat gleich eine ganze Waffenfabrik be- Zuletzt noch einige Worte zu Heckler & Koch: Da wir kommen. bereits am 10. Februar über den Antrag der Linken de- Das Problem liegt auf der Hand: Die Bundesregie- battiert haben, mache ich es kurz. Das Unternehmen rung unterliegt in diesen Bereichen weder einer parla- steht im Verdacht, Waffen nach Mexiko geliefert zu ha- mentarischen noch einer gerichtlichen Kontrolle. Sie ben, und zwar in Provinzen, in die es nicht hätte liefern trifft ihre Exportentscheidungen in geheim tagenden dürfen. Die Bundesregierung hat deswegen die Geneh- Gremien, ohne sich dafür irgendwo rechtfertigen zu migung der Ausfuhranträge nach Mexiko ausgesetzt. Da müssen. der Verdacht der Unzuverlässigkeit aber gerade nicht das Empfängerland, sondern das exportierende Unterneh- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das fällt men betrifft, reicht es nicht, die Aussetzung auf Mexiko euch rechtzeitig ein!) zu beschränken. Sie fühlt sich zur Auskunft über einzelne Ausfuhrgeneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN migungen und deren Begründung nicht verpflichtet. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist KEN – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Also ein es!) politischer Schuldspruch!) 11386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Katja Keul (A) Leider musste die Fraktion der Linken unbedingt Das ist klassische Aufgabe von Verwaltung und Regie- (C) noch die Forderung nach einem Totalverbot aller Waffen- rung. Der Kollege Fritz hat es vorhin ausgeführt. exporte anhängen und dazu das Grundgesetz bemühen. Aber wir üben parlamentarische Kontrolle aus. Diese (Katja Kipping [DIE LINKE]: Eine gute For- Aufgabe müssen wir ernst nehmen. Ich bin zum Beispiel derung!) in dem Punkt, den Sie in Ihrem Antrag aufführen, näm- lich dass die Rüstungsexportberichte schneller vorgelegt Wahrscheinlich wollen Sie einfach nicht, dass wir Ihren werden müssen, völlig Ihrer Meinung. Frau Kollegin Anträgen zustimmen. Aber bei uns ist es anders: Wir Keul hat es ebenfalls angesprochen. freuen uns über Ihre Zustimmung. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Elf Jahre Vielen Dank. im Bundessicherheitsrat!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber warum Sie jetzt plötzlich bei der Frage der Par- sowie bei Abgeordneten der SPD) lamentsbeteiligung auf die Position der Linken um- schwenken, ist mir nicht erklärbar. Vizepräsident : (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Weil das Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner die Forderung der evangelischen und der ka- hat unser Kollege Dr. Reinhard Brandl von der Fraktion tholischen Kirche ist! – Zurufe von der FDP) der CDU/CSU das Wort. – Diese Position haben Sie übernommen. Ich möchte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- über die Gründe nicht spekulieren; das ist Ihre Sache. neten der FDP) Mich stört aber, dass Sie in Ihrem Antrag unter- Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): schwellig den Eindruck erwecken, dass die Bundesregie- rung bei der Genehmigung von Exportgeschäften seit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Ihrem Ausscheiden aus der Regierung plötzlich verant- und Kollegen! Ich wundere mich schon darüber, welche wortungslos handelt. Debatte wir heute führen und – genauer gesagt – was die SPD heute hier fordert. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Elf Jahre Bundessicherheitsrat! Das ist schon spektaku- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja!) lär!) Der Wunsch, dem Parlament ein Mitspracherecht bei Das ist nicht gerechtfertigt; das wissen Sie auch. Deswe- Rüstungsexporten einzuräumen, ist nicht wirklich neu. (B) gen verwenden Sie in Ihrem Antrag vorsichtshalber auch (D) Am 19. Oktober 2000 hat zum Beispiel die damalige nur Formulierungen wie „es könnte sein“, „es besteht die PDS einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem sie Gefahr, dass … “ und „das kann dazu führen“. genau das fordert. Meine Damen und Herren von der SPD, ich erspare es Ihnen, jetzt darzulegen, mit welcher Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, dass die Begründung die Redner der SPD dies damals abgelehnt Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Ex- haben. port von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus Ihrer rot-grünen Regierungszeit und der Gemeinsame (Christoph Schnurr [FDP]: Das wäre aber inte- Standpunkt der Europäischen Union aus 2008 unverän- ressant!) dert Grundlage für Genehmigungen sind. Die christlich- Ich könnte die SPD-Reden von damals heute fast selbst liberale Koalition hat daran nichts geändert. halten. Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfolgen Meine Damen und Herren, Sie waren danach noch einzelfallbezogen unter besonderer Berücksichtigung neun Jahre an der Regierung beteiligt. Warum haben Sie der außenpolitischen Position und der Menschenrechts- denn in dieser Zeit keine Parlamentsbeteiligung einge- lage im Empfängerland. Genehmigungen werden nur er- führt? teilt, wenn zuvor der Endverbleib im Endempfängerland sichergestellt ist. Auch an diesem Verfahren haben wir (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja!) nichts geändert. Die Kriterien, die in Ihrer Regierungs- Zumindest mit Blick auf die Zeit bis 2005 können Sie zeit galten, gelten auch heute noch. wohl nicht sagen, dass es an uns gelegen habe. Vizepräsident Eduard Oswald: (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Da kön- Kollege Dr. Reinhard Brandl, gestatten Sie eine Zwi- nen Sie uns viel erzählen!) schenfrage des Kollegen Ströbele? Ich vermute, dass es nicht an den Grünen lag, sondern daran, dass Sie selbst es nicht als sinnvoll erachtet ha- Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): ben. Da hatten Sie recht: Wir sind als Parlament keine Ja, ich gestatte sie. Genehmigungsbehörde. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Exeku- Vizepräsident Eduard Oswald: tive! – Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja! Dann hat der Kollege Ströbele jetzt Gelegenheit, eine Ja!) Zwischenfrage zu stellen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11387

(A) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu bezeichnen und diese Menschen damit in eine be- (C) NEN): stimmte Ecke zu stellen. Danke, Herr Präsident. – Sie haben mich aufmerken Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. lassen, als Sie gesagt haben, der Endverbleib werde si- chergestellt. Wie wird er sichergestellt? Was sagen Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dazu, dass die Regierung des Landes, in das geliefert [CDU/CSU]: Sehr wird – das gilt zum Beispiel im Fall von Mexiko –, nicht gut!) einmal darüber informiert wird, dass es eine Einschrän- kung gibt? Wie soll angesichts dessen der Endverbleib Vizepräsident Eduard Oswald: sichergestellt werden? Können Sie mir das erklären? Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege Jan van Aken. Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Es ist richtig, dass es Fälle wie den gibt, den Sie an- Jan van Aken (DIE LINKE): sprechen. Wir erfahren davon manchmal aus der Presse. Ich möchte nur kurz auf die Debatte, die wir in der Auch ich habe mich geärgert, als ich Gaddafi gesehen letzten Woche hier geführt haben, zurückkommen. Herr habe oder als gemeldet wurde, dass Heckler & Koch Fritz, ich habe Sie in der letzten Woche an dieser Stelle Waffen in eine Unruheprovinz geliefert haben soll. einen Rüstungslobbyisten genannt. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wenn es denn so (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das fand ich stimmt!) schlimm!) Der Punkt ist: Das müssen wir aufklären. Im Fall von Das würde ich gerne zurücknehmen, weil ich noch nicht Heckler & Koch sind Gerichte dafür zuständig. Diese weiß, ob Sie ein Rüstungslobbyist sind oder nicht. Ich Ermittlungen warten wir ab. weiß das von einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion. Herr Kauder zum Beispiel vertritt gerne Heckler & Koch als Jedes Jahr werden viele Anträge gestellt. Ich glaube, Anwalt. Von Ihnen weiß ich das aber nicht. Deswegen es sind 16 000 Anträge. Das ist eine große Zahl. entschuldige ich mich an dieser Stelle für diesen Vor- wurf. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die prüft dann alle Herr van Aken!) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das war eine gute Kurzintervention!) Wenn es in Einzelfällen zu Problemen kommt, dann muss man daraus lernen. Das ist ja richtig. (B) Vizepräsident Eduard Oswald: (D) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Kollege Fritz, wollen Sie antworten? GRÜNEN]: Sie können das gar nicht sicher- stellen!) Erich G. Fritz (CDU/CSU): Vielen Dank für die Zwischenfrage, Herr Kollege. Ich nehme das gerne entgegen, Herr Präsident.

Es gibt einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag, der Vizepräsident Eduard Oswald: mich stört. Sie stellen sehr undifferenziert jede mögliche Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Daher Ausweitung von Rüstungsexporten als Gefahr für den schließe ich die Aussprache. Frieden dar. Es findet sich zum Beispiel kein Hinweis darauf, dass der größte Teil der tatsächlich ausgeführten Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Kriegswaffen in NATO-, der NATO gleichgestellte oder den Drucksachen 17/5054 und 17/5204 an die in der Ta- EU-Länder geht. 2009 waren es 76 Prozent. Da stellt gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. sich die Frage, wie Sie es grundsätzlich mit der deut- Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der schen Rüstungsindustrie halten. Mich stört die Doppel- CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung züngigkeit, mit der hier manchmal gesprochen wird. Wir beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die fordern hier immer wieder – diesbezüglich gibt es einen Fraktionen der Sozialdemokraten und des Bünd- breiten Konsens –, dass die Bundeswehr für ihre Aufga- nisses 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung ben bestmöglich ausgerüstet wird. Ich bin froh, dass wir beim Auswärtigen Ausschuss. wesentliche Kompetenzen dafür in unserem eigenen Land haben. Das liegt in unserem ureigenen sicherheits- Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der politischen Interesse. Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Aus- Es versteht wirklich jeder, dass man mit dem Export schuss. von Rüstungsgütern sehr sensibel umgehen muss. In Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? – Deutschland haben wir ein Genehmigungs- und Kon- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Überwei- trollverfahren dafür gefunden. Das haben Sie in Ihrer sungsvorschläge sind abgelehnt. Regierungszeit praktiziert, und wir haben es fortgeführt. Deshalb ist es unfair, eine ganze Branche und damit die Jetzt lasse ich über die Überweisungsvorschläge der Arbeit vieler Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, in den Betrieben pauschal zu verurteilen, als unethisch nämlich Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft 11388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Eduard Oswald (A) und Technologie. Wer stimmt für diese Überweisungs- Initiative zu diesem Gesetz zur Änderung des Infektions- (C) vorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – schutzgesetzes stammt aus den Reihen der Abgeordne- Die Überweisungsvorschläge sind angenommen. Damit ten von CDU/CSU und FDP. liegt die Federführung zu beiden Vorlagen beim Aus- schuss für Wirtschaft und Technologie. Das gemeinsame Ziel ist es, mit den vorhandenen gu- ten Instrumenten – auch mit den Instrumenten, die die Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf: Vorgängerregierungen geschaffen haben – die Menschen in Deutschland künftig vor solchen Krankenhausinfek- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ tionen besser schützen zu können, als dies bisher der Fall CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines … ist. Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutz- gesetzes und weiterer Gesetze (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Drucksache 17/5178 – Ein Problem bei diesen Infektionen ist nicht allein Überweisungsvorschlag: ihre hohe Zahl, sondern der Anteil an resistenten Erre- Ausschuss für Gesundheit (f) gern. Fachleute beziffern den Anteil der Krankenhausin- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald fektionen in Deutschland aufgrund dieser Erreger auf bis Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weite- zu 20 Prozent. In den Niederlanden – zum Vergleich – rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE beträgt dieser Anteil gerade einmal 1 Prozent. Krankenhausinfektionen vermeiden – Tödli- Man kann solche Resistenzen durch den richtigen che und gefährliche Keime bekämpfen Einsatz von antibiotischen Medikamenten verhindern. Deswegen sieht dieses Gesetz die Einrichtung einer – Drucksache 17/4489 – „Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“ Überweisungsvorschlag: am Robert Koch-Institut vor. Das ist eine wissenschaftli- Ausschuss für Gesundheit (f) che Kommission, die Leitlinien für den richtigen Ge- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und brauch von Antibiotika entwickeln soll. Denn uns geht Verbraucherschutz es nicht nur darum, Infektionen, die es gibt, zu bekämp- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung fen, sondern auch darum, Infektionen durch einen besse- ren und optimalen Einsatz von Antibiotika von vornhe- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten rein zu verhindern. Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN (B) Die Existenz solcher Gesetze allein reicht aus unserer (D) Prävention von Krankenhausinfektionen ver- Sicht nicht aus. Zum Teil gibt es zwar schon gute Emp- bessern fehlungen; die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie ist hier nur ein Beispiel. Aber wir müssen auch dafür sor- – Drucksache 17/5203 – gen, dass solche Gesetze dann in der Praxis umgesetzt Überweisungsvorschlag: werden. Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Am Robert Koch-Institut gibt es bereits eine Kom- Verbraucherschutz mission; sie heißt „Kommission für Krankenhaushy- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die giene und Infektionsprävention“, kurz: KRINKO. Diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Kommission hat schon längst Empfehlungen entwickelt, höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wie beispielsweise die Prozesse in den Kliniken, aber auch die baulichen Maßnahmen daraufhin ausgerichtet Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes- werden können, um die Anzahl von Krankenhausinfek- regierung hat zunächst Bundesminister Dr. Philipp tionen künftig zu reduzieren oder sie gar ganz zu vermei- Rösler. den. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Problem ist nur, dass solche Vorschläge bisher der CDU/CSU) nur empfehlenden Charakter haben. Mit diesem Gesetz bekommen diese Fachempfehlungen eine höhere Ver- Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: bindlichkeit. Wir stellen damit sicher, dass es nicht nur Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten gute Gesetze und nicht nur gute Vorgaben gibt, sondern Damen und Herren Abgeordnete! Schätzungen zufolge dass diese Vorgaben im klinischen Alltag auch umge- gibt es jährlich 400 000 bis 600 000 sogenannte Kran- setzt werden. So können die Menschen vor Krankenhaus- kenhausinfektionen und aufgrund solcher Infektionen infektionen besser geschützt werden. jährlich circa 7 500 bis 15 000 tote Menschen in Deutsch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) land. Es trifft dann meist die Älteren, die Schwachen und im wahrsten Sinne des Wortes die Kranken im System. Erreichen wollen wir dies, indem wir den Ländern die All diese Menschen haben keine Lobby. Sie haben keine Möglichkeit geben, ohne ein eigenes Landeshygienege- Interessenvertreter – mit einer Ausnahme: Diejenigen, setz eine Hygieneverordnung auf Grundlage des Infek- die genau die Interessen dieser Menschen vertreten, sind tionsschutzgesetzes des Bundes auf den Weg zu bringen. die Abgeordneten des Deutschen Bundestages; denn die Bisher gibt es nur sieben Bundesländer, die eine solche Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11389

Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) eigene Hygieneverordnung haben. Wir wollen nicht nur, Krankenhaushygiene – setzt Standards und gibt Empfeh- (C) dass mehr Länder Hygieneverordnungen auf den Weg lungen. Aber das Problem, das wir in der Tat haben – das bringen und dass sie dies schneller tun, sondern wir wol- haben Sie richtig beschrieben, Herr Minister –, ist, dass len auch möglichst einheitliche Standards. Nach diesem diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden; sonst Gesetzestext wäre die Einheitlichkeit dadurch gegeben, müssten wir uns heute hier im Hause nicht über dieses dass immer dann davon auszugehen ist, dass man den Thema unterhalten. Stand der Wissenschaft eingehalten hat, wenn man die Ich glaube, wir brauchen uns nicht über die Zahl, wie Empfehlungen der KRINKO befolgt. Damit stellen wir viele Menschen sich infizieren, zu streiten. Jeder Ein- beide Ziele sicher: mehr und schneller erlassene Hygie- zelne ist einer zu viel. Wer mit Menschen gesprochen neverordnungen auf Landesebene und gleichzeitig eine hat, die Angehörige durch solch eine Infektion im Kran- Vereinheitlichung. Erreger machen nicht an Landesgren- kenhaus verloren haben, weiß das. Diese Infektionen zen halt. Deswegen hat es Sinn, die Schutzmaßnahmen können auch Amputationen zur Folge haben. Der Lei- nicht an Landesgrenzen auszurichten, sondern möglichst densweg für die Betroffenen ist lang. Zu dem Leid des bundeseinheitlich auszugestalten. Einzelnen kommen die hohen Kosten der Behandlung Ebenso wollen wir dafür sorgen, dass die Ergebnisse solcher Infektionen hinzu. solcher Maßnahmen künftig gemessen werden können Was müssen wir tun? Wie können wir eine Lösung und diese Ergebnisse veröffentlicht werden, damit die finden? Ich weiß, dass ein Argument ist, dass wir auf der Menschen ein Stück weit selbst einen Einblick in die Bundesebene nicht viel tun können, weil die Kranken- Hygienesituation in den jeweiligen medizinischen Ein- häuser Länderangelegenheit sind. Wir sollten uns, wenn richtungen bekommen. Auch das kann bewirken, dass wir Ihren Gesetzentwurf betrachten, fragen, ob wir alle der Anreiz für die Kliniken größer wird, selber für bes- nicht mutiger sein sollten. Es gibt schon jetzt über alle sere Hygienemaßnahmen zu sorgen. Fraktionen hinweg weitaus bessere Vorschläge, die Kran- Ebenso möchten wir, dass die Menschen, die heute kenhaushygiene zu verbessern. Ich weiß, dass selbst die mit resistenten Erregern befallen sind, schon im ambulan- Kollegen Ihrer eigenen Fraktion deutlich weitreichen- ten und nicht erst im stationären Bereich als Hochrisiko- dere Vorschläge gemacht haben, als man sie jetzt in Ih- patient erkannt werden und dass sie, noch bevor sie mit rem Gesetzentwurf findet. Das finde ich bemerkenswert. solchen hochresistenten Stämmen stationär im Kranken- Sie haben zum Beispiel gesagt, dass die Länder die haus aufgenommen werden, davon befreit, also saniert Verordnung jetzt umsetzen sollen; bisher hätten das nur werden. Dadurch wird verhindert, dass sich solche Erre- sechs oder sieben Länder getan. Das ist richtig; aber ger in den Kliniken verbreiten. Wir wollen die betroffe- dann müssen Sie, finde ich, den Ländern eine Frist set- nen Menschen, wie gesagt, von vornherein im ambulan- (B) zen. Es bringt nichts, dies auf den Sankt-Nimmerleins- (D) ten Bereich von diesen Erregern befreien und damit Tag zu vertagen. Die Länder sollten nicht wieder unend- einen höheren Schutzgrad in den Kliniken erreichen. lich viel Zeit haben, um etwas für die Krankenhaushy- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) giene zu tun. Insgesamt können wir feststellen, dass es schon heute Kollege Spahn und ich sind beide aus NRW. Es gibt durchaus gute Maßnahmen gibt, zum Beispiel die „Ak- dort ein bemerkenswertes Projekt, bei dem es ein Scree- tion Saubere Hände“, die ganz konkret in den klinischen ning von Risikopatienten direkt bei der Aufnahme im Alltag integriert werden können. Wir brauchen aber wei- Krankenhaus gibt. Dieses anerkannte Projekt hat schon tere Instrumente; wir haben einige vorgeschlagen. Fach- tolle Erfolge erzielt. Ich verstehe nicht, warum so etwas leute gehen davon aus, dass man die Zahl der Infektio- nicht als Standard in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen nen durch bessere Hygienemaßnahmen langfristig um 20 wird. bis 30 Prozent senken kann. Es sollte unser gemeinsa- (Beifall bei der SPD) mes Ziel sein, die Zahl der Krankenhausinfektionen zum Schutz der Patientinnen und Patienten zu senken. Ich denke, es ist eine wichtige Entscheidung, Risiko- patienten direkt bei Aufnahme zu screenen. Die Daten Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und Zahlen, die wir dabei gewinnen, müssen ausgewer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tet und transparent gemacht werden. Vor allen Dingen ist es wichtig, sie der Forschung zur Verfügung zu stellen, damit herausgefunden werden kann, warum es zu diesen Vizepräsident Eduard Oswald: Infektionen kommt. Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Bärbel Bas von der Fraktion der Sozialdemokraten. Außerdem brauchen wir deutlich mehr Fachpersonal; das werden auch meine Kollegen sicherlich noch anspre- (Beifall bei der SPD) chen. Wir haben auf diesem Gebiet schon Know-how verloren, und zwar massiv. Selbst wenn wir jetzt auf Bärbel Bas (SPD): Bundesebene die Forderung aufstellen, dass es ab einer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Krankenhausgröße von 300 oder 400 Betten in jedem ist in der Tat ein äußerst wichtiges Thema. Das Robert Krankenhaus Hygienefachärzte gibt, müssen wir fest- Koch-Institut – dessen Namensgeber hat nicht grundlos stellen: Wir können diese Forderung nicht erfüllen, weil einen Nobelpreis für seine Forschung in dem Bereich be- das nötige Hygienefachpersonal nicht vorhanden ist. kommen und gilt heute als Vorreiter für die moderne Dennoch finde ich, dass eine solche Regelung, bezogen 11390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Bärbel Bas (A) auf eine bestimmte Bettenanzahl oder Fallzahl, auf jeden (CDU/CSU): (C) Fall als Standard in dieses Gesetz gehört. Ich glaube, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ihre FDP-Kollegen haben eine Größenordnung von Kollegen! Ob im Krankenhaus, in der Praxis, im Pflege- 30 000 Fällen vorgeschlagen. Diese Regelung sollte man heim – geschwächte Menschen geben sich überall, wo in das Gesetz aufnehmen. Man darf nicht so vage blei- sie unterwegs sind, jeden Tag millionenfach die be- ben. rühmte Klinke in die Hand. Nun möchte ich nicht be- haupten, dass die Türklinken in diesem Zusammenhang (Beifall bei der SPD) das größte Problem sind. Aber in der Tat – der Herr Ein weiterer Aspekt ist – ich habe das mit Spannung Minister hat es erwähnt – ist die Zahl der Krankenhaus- gelesen; deswegen will ich darauf zu sprechen kommen –: infektionen und vor allem die Zahl derjenigen, die daran Sie sagen, dass ambulant tätige, niedergelassene Ärzte sterben, allzu hoch. Diese Zahl ist sogar höher als die der Sanierungen durchführen und dafür eine Abrechnungs- Verkehrstoten, die wir in diesem Land jedes Jahr zu ver- ziffer bekommen sollen. Ich persönlich halte das – abge- zeichnen haben. Es ist daher richtig, dies zu ändern. sehen davon, dass es vielleicht Geldverschwendung ist – Heute ist somit ein guter Tag für die Patientinnen und medizinisch bzw. aus hygienischen Gründen nicht für Patienten in unserem Land. sinnvoll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Patient wird, der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink eine Woche oder 14 Tage nachdem er beim Arzt war, ins [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Krankenhaus aufgenommen. In der Zwischenzeit war er vielleicht im Pflegeheim oder zu Hause und hat sich den Ich denke, es ist nicht nur ein guter Tag, sondern auch Keim schon wieder irgendwo anders eingefangen. Ich ein gutes Jahr für die Patientinnen und Patienten. Denn finde, es ist medizinisch sinnvoller, in ein Aufnahme- wir bringen nicht nur diesen Entwurf eines Gesetzes zur screening in einer stationären Einrichtung zu investieren, Änderung des Infektionsschutzgesetzes in den Bundes- als es im ambulanten Bereich durchführen zu lassen. Ich tag ein, sondern wir werden ihm auch ein Patienten- glaube, es bringt uns in Sachen Hygiene überhaupt nicht schutzgesetz folgen lassen, um die flächendeckende Ver- weiter, das Aufnahmescreening weiterhin niedergelasse- sorgung mit Ärzten im Land sicherzustellen. Außerdem nen Ärzten zu überlassen. Das macht für mich in medizi- werden wir, ebenfalls noch in diesem Jahr, ein Patienten- nischer und hygienischer Hinsicht keinen Sinn. rechtegesetz erarbeiten, mit dem wir dafür sorgen wer- den, dass sich Patienten und Leistungserbringer mehr (Beifall bei der SPD) auf Augenhöhe begegnen.

(B) Wir brauchen Eingangsscreenings im Hinblick auf (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Da bin ich ge- (D) Risikogruppen. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Ih- spannt!) ren Blick nach NRW zu richten, sich mit dem Projekt, von dem ich sprach, zu beschäftigen und sich die ent- Im europäischen bzw. im internationalen Vergleich sprechenden Zahlen anzuschauen. Es wurde in diesen stehen wir übrigens gar nicht so schlecht da. Es gibt Län- Bereich investiert. Es ist nachgewiesen, dass sich In- der, in denen die Infektionsraten noch höher sind als in vestitionen in die Krankenhaushygiene im Verhältnis Deutschland. Allerdings gibt es auch Länder, die deut- 1 zu 10 rechnen. Ich finde, das ist bemerkenswert und lich geringere Infektionsraten zu verzeichnen haben. Wir auf Bundesebene nachahmenswert. müssen und wollen uns an den Ländern orientieren, die es bisher besser machen als wir. Ich kann Sie nur auffordern, alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen – seien sie von den Linken, seien es (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) unsere Vorschläge zum Hygienepersonal, seien sie von Die Problematik liegt vor allem darin, dass viele In- Ihrer eigenen Fraktion –, ernst zu nehmen und diesen fektionen durch zunehmend resistente Keime entstehen, Gesetzentwurf deutlich zu verbessern. Wir brauchen die dann nur schwer therapierbar sind und eine sehr eine Verbesserung im Bereich der Hygiene, damit die lange Behandlungsdauer erfordern. Es kommt hinzu, Menschen, wenn sie ins Krankenhaus kommen, keine dass unsere Gesellschaft älter wird. Älter werdende Pa- Angst mehr haben müssen, dass sie sich möglicherweise tienten sind natürlich noch anfälliger. infizieren und das Krankenhaus noch kränker verlassen, als sie es waren, bevor sie ins Krankenhaus kamen. Deswegen werden wir drei Wege gehen, um zu einer Verbesserung der Situation zu kommen: Erstens. Wir Herzlichen Dank. werden mit diesem Gesetz die Hygienequalität unmittel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bar in den Einrichtungen verbessern. Zweitens. Wir wer- der LINKEN) den für einen sachgerechteren Einsatz von Antibiotika sorgen, um Resistenzen zu minimieren. Drittens. Wir werden sektorübergreifend für mehr Prävention sorgen. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Als Nächster hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unser Kollege Lothar Riebsamen von der Fraktion der CDU/CSU das Wort. Ich komme zu meinem ersten Punkt: die Verbesse- rung der Hygienequalität. Dazu brauchen wir alle Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desländer im Boot. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11391

Lothar Riebsamen (A) (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ tungen zukünftig in Haftung genommen, wenn unsere (C) DIE GRÜNEN]: Welche sind denn nicht im Vorgaben nicht eingehalten werden. Boot?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben es gehört: Es sind bisher sieben Bundesländer Ein zweiter Punkt ist der gezieltere Einsatz von Anti- im Boot. Baden-Württemberg gehört seit dem 1. Januar biotika, um Resistenzen zu minimieren. Wir werden eine 2011 dazu. 7 Bundesländer von 16 haben eine Hygiene- neue Kommission einrichten, die sich mit antiinfektiver verordnung erlassen. Daran mag man erkennen, dass die Resistenz und Therapie beschäftigt. Die erarbeiteten Priorität noch nicht in allen Ländern an der gleichen Standards werden Gesetzescharakter und dadurch ein Stelle gesetzt wird. Wir werden die Länder daher moti- größeres juristisches Gewicht erhalten. Der Gemeinsame vieren, im föderativen Wettbewerb zu handeln. Wir wer- Bundesausschuss wird verpflichtet, diese Indikatoren den aber auch für Wettbewerb um Qualität innerhalb der auf der Grundlage der etablierten Systeme – Erfassung, Einrichtungen sorgen. Auswertung und Rückkopplung – für einen rationalen Es ist richtig, den Richtlinien zur Krankenhaushy- Einsatz zu erarbeiten, damit Antibiotika nur dort einge- giene, die es beim Robert Koch-Institut bereits gibt, Ge- setzt werden, wo es tatsächlich auch angezeigt ist. setzes-charakter zu verleihen, um ihnen mehr juristisches Ein dritter Punkt ist die sektorübergreifende Präven- Gewicht zu geben. Es muss klar sein, dass die Einhal- tion. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf entspre- tung des Standes der Technik und der Wissenschaft zu- chende Anreize schaffen und die vertragsärztliche Ver- künftig verpflichtend sein muss. Ein Baustein dafür wird gütung verändern. Das Screenen von Risikopatienten, ein Mehr an Qualitätssicherung und Transparenz sein. zum Beispiel vor planbaren Operationen, und das Sanie- Dafür ist es notwendig, Indikatoren zu schaffen, die eine ren wird vergütet, um das Risiko innerhalb der Kliniken Vergleichbarkeit ermöglichen. und auch sektorübergreifend – wie gesagt: Der Erreger kann vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder in die Pra- Wir werden den Gemeinsamen Bundesausschuss auf- xis transportiert werden – zu reduzieren. fordern, den Kliniken, den Einrichtungen und uns ent- sprechende Indikatoren vorzugeben. Die Risikolage ist Mit der Änderung dieses Infektionsschutzgesetzes von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Es werden wir eine deutliche Verbesserung für die Patienten reicht nicht aus, schlicht und ergreifend Informationen in Bezug auf ihr Leid erlangen, über die Anzahl der Infektionen ans Schwarze Brett zu tackern oder im Internet zu veröffentlichen. Wir brau- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) chen Vergleichbarkeit. Es muss für jeden nachvollzieh- aber wir werden auch ein deutliches Mehr an Wirtschaft- (B) bar sein – auch für die Patientinnen und Patienten –, ob lichkeit für die Krankenhäuser und auch für die gesetzli- (D) es sich um eine vermeidbare Infektion handelt. Kolibak- che Krankenversicherung insgesamt erreichen. terien haben beispielsweise nichts in einem Hüftgelenk zu suchen. ( [SPD]: Funktioniert nicht!) Freilich sind Vorleistungen der Einrichtungen not- (Bärbel Bas [SPD]: Das stimmt allerdings!) wendig, und es gibt eine große Anzahl von Krankenhäu- Es muss für jeden nachvollziehbar sein, ob es sich um ei- sern, die Risikopatienten vor geplanten Operationen nen deutlich komplexeren Sachverhalt handelt. auch bisher schon screenen und isolieren, wenn dies not- wendig ist. Dies hat sich bewährt. Diese Krankenhäuser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben kapiert, dass es sich rechnet. Sie haben kapiert, dass man zuerst zwar Geld in die Hand nehmen muss, es Es nützt herzlich wenig, Pläne zu machen, wenn diese zum Schluss aber günstiger und wirtschaftlicher für sie Pläne nicht umgesetzt werden. Deswegen werden wir ist, das Screening durchzuführen. auch Vorgaben zur Umsetzung machen. Ich habe am Wochenende mit einem Architekten geredet, der den Zukünftig haben wir hinsichtlich der Qualität ein Auftrag hat, einen OP-Saal zu sanieren, auch in hygieni- Mehr an Wettbewerb in unseren Einrichtungen, und wir scher Hinsicht. Er hat mir erzählt, dass während seiner haben zukünftig mehr Transparenz in den Einrichtungen. ersten Aufnahme der Situation ein leitender Mitarbeiter Dadurch erreichen wir mehr Sicherheit für die Patientin- mit einem Tablett voller Wurstbrötchen durch den asepti- nen und Patienten. schen Bereich des OPs gewandelt ist. Da nützen Hygie- Deswegen gibt es mit diesem Gesetzentwurf, mit der nerichtlinien natürlich nichts. Vermeidung von Infektionen, nur Gewinner. Die größten (Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gewinner sind die Patienten in unserem Land. NEN]: Es kommt darauf an, wie viele Antibio- Herzlichen Dank. tika in der Wurst sind!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Da nützen auch große bauliche Maßnahmen nichts. Der Faktor Mensch spielt eine große Rolle. Deswegen Vizepräsident Eduard Oswald: kommt den Führungskräften in den Häusern eine beson- Als Nächster hat unser Kollege Harald Weinberg von dere Verantwortung zu. Sie dürfen es nicht ignorieren, der Fraktion Die Linke das Wort. wenn im nachgeordneten Bereich Fehler gemacht wur- den. Mit diesem Gesetz werden die Leiter der Einrich- (Beifall bei der LINKEN) 11392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Harald Weinberg (DIE LINKE): len. Wir brauchen bundeseinheitliche wirksame (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Sanktionen für den Fall, dass dagegen verstoßen wird. Kollegen! Dieser Gesetzentwurf zur Krankenhaushy- giene kommt zu spät. (Beifall bei der LINKEN) ( [CDU/CSU]: Ach je!) Viertens. Durch die Vergütungsregelungen und Inves- titionszuschläge für Krankenhäuser müssen Anreize für Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Linksfraktion, die Einhaltung von Hygienestandards geboten werden. meine Fraktion, hat bereits 2009 einen Antrag zur Be- kämpfung von Krankenhausinfektionen vorgelegt. Das Fünftens. Es müssen entsprechende Fachkräfte ausge- Robert Koch-Institut hat gute Richtlinien erlassen. Die bildet werden, weil es bis jetzt so wenige gibt. Niederlande und andere Staaten zeigen, wie die Zahl der Sechstens. Der massenhafte Einsatz von Antibiotika Krankenhausinfektionen durch konsequente Hygiene- in der kommerziellen Tierhaltung und auch die übermä- standards wirksam gesenkt werden kann. ßige Anwendung beim Menschen haben zu einer drama- Während die schwarz-gelbe Koalition durch die tischen Zunahme von multiresistenten Keimen geführt. Schweinegrippe zu großem Aktionismus befeuert Der Antibiotikaeinsatz ist daher auf das medizinisch not- wurde, sah die Bundesregierung beim Thema Kranken- wendige Maß zu beschränken. haushygiene jahrelang weg. Tausende Menschenleben (Beifall bei der LINKEN) hätten gerettet werden können, wenn früher effektive Maßnahmen ergriffen worden wären. All dies haben wir schon mit unserem Antrag von 2009 gefordert. Unseren damaligen Antrag lehnte die (Beifall bei der LINKEN) Union übrigens mit der Begründung ab, die Bundesre- An Krankenhausinfektionen sterben in Deutschland gierung sei, soweit ihre Zuständigkeit das zulasse, be- mehr Menschen als an den Folgen von Verkehrsunfällen, reits tätig geworden. Es gebe mit dem Infektionsschutz- illegalen Drogen, Aids und Selbsttötungen zusammen- gesetz und den Krankenhaushygieneverordnungen schon genommen. Sogar der Bund spricht in seiner Gesund- effektive Regelungen zur Prävention. Deswegen hat die heitsberichterstattung von bis zu 40 000 Toten jedes Union damals den Antrag abgelehnt. Jahr. Das sind bis zu 100 Tote jeden Tag. Dieser Zustand Die FDP, damals Oppositionsfraktion, meinte, dass war und ist durch nichts zu rechtfertigen. für die Einhaltung hygienischer Standards in erster Linie (Beifall bei der LINKEN) die Krankenhäuser selbst die Verantwortung trügen. Die Bundesregierung dürfe hierfür nicht verantwortlich ge- (B) Hinter diesen Zahlen verbergen sich tragische Einzel- macht werden. Deswegen hat sie damals dem Antrag (D) schicksale. Insbesondere Patienten mit einem relativ nicht zugestimmt. – Auf einmal geht es doch. schwachen Immunsystem sind betroffen, also Neugebo- rene und ältere Menschen. Im epidemiologischen Be- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martina Bunge richt der EU über Infektionskrankheiten von 2010 wird [DIE LINKE]: Wenigstens lernfähig!) die Zunahme von Krankenhausinfektionen noch vor der Bedrohung durch pandemische Influenza und HIV als Nachdem die Presse häufiger über skandalöse Zu- größte Gefahr eingeordnet. Verlaufen diese Infektionen stände und Tote in Krankenhäusern berichtet hat, konn- nicht tödlich, können sie trotzdem schwerwiegende ten Sie die Suche nach einer Lösung für das Problem of- Schädigungen an verschiedenen Organen hervorrufen. fensichtlich nicht weiter auf die lange Bank schieben. Es Bleibende Behinderungen und Amputationen können die bewegt auch die Bürgerinnen und Bürger: Allein in der Folge sein. letzten und in der aktuellen Wahlperiode sind 20 Petitionen, also Eingaben und Beschwerden von Be- Wirksame Maßnahmen für die Verbesserung der troffenen und Bürgern, zum Thema Krankenhaushy- Krankenhaushygiene sind also mehr als überfällig: giene beim Deutschen Bundestag eingegangen. Erstens. Die von der Kommission für Krankenhaus- In diesen Tagen fühle ich mich an die Geschichte von hygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-In- Ignaz Semmelweis erinnert. Das war ein ungarisch- stitut aufgestellten Richtlinien müssen flächendeckend österreichischer Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts umgesetzt werden. – also vor 150 Jahren – das verstärkte Auftreten von Kindbettfieber in Krankenhäusern mit Gebärstationen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) auf mangelnde Handhygiene bei den Ärzten und dem Zweitens. Es ist eine grundsätzliche Meldepflicht für Personal zurückgeführt hat. Infektionen mit multiresistenten Keimen und ein ver- Seine Erkenntnisse wurden von der Mehrheit seiner bindliches Screening bei der Aufnahme in stationäre Fachkollegen damals als spekulativer Unfug abgelehnt, Einrichtungen einzuführen. weil sie nicht zur herrschenden Lehrmeinung passten. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Semmelweis starb im Irrenhaus, und es gab Gerüchte, Bärbel Bas [SPD]) die besagen, er sei von seinen eigenen Ärztekollegen dorthin abgeschoben worden, weil er zu unbequem war. Drittens. An allen Krankenhäusern müssen Fachärz- tinnen und Fachärzte für Hygiene und Hygienefach- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist da jetzt die kräfte die Einhaltung von Hygienestandards sicherstel- Parallele?) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11393

Harald Weinberg (A) Seine Erkenntnisse zur Krankenhaus- und Handhy- in vielen anderen Bereichen. Man muss aber deutlich sa- (C) giene setzten sich erst zwei Ärztegenerationen später zu gen, dass der Erkenntnisgewinn zu lange gedauert hat. Anfang des 20. Jahrhunderts durch. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Betroffenen darauf Ich selber komme aus Münster. Dort kann man erle- verlassen können müssen, sich im Krankenhaus nicht ben, dass konsequentes Handeln und ein strikter Hy- neue, weitere und schwerwiegende Krankheiten zuzu- giene- und Präventionsplan dazu führen, dass die Infek- ziehen. Es ist zu hoffen, dass es nicht zwei Generationen tionsraten in den Krankenhäusern massiv gesenkt dauert, bis das der Fall ist. werden können, nämlich auf ungefähr 1 Prozent wie in den Niederlanden. (Beifall bei der LINKEN) Als Münsteranerin weiß ich auch, dass man, wenn Nun bewegt sich die Regierung endlich in die richtige man einen Unfall hat und in ein grenznahes Kranken- Richtung. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierung haus kommt, als Risikopatient gilt, weil wir – jedenfalls bleibt aber hinter dem zurück, was möglich und notwen- bislang – so schlechte Hygienestandards haben. Das al- dig ist, um Deutschland in Sachen Krankenhaushygiene les ist ernst zu nehmen und ein Hinweis darauf, dass wir in die europäische Spitzengruppe zu führen. Wir werden große Defizite haben. in den weiteren Beratungen darauf drängen, dass die er- forderlichen Verbesserungen vorgenommen werden. Der Gesetzentwurf versucht, einige Problemfaktoren anzugehen, und zwar vor allen Dingen mit Regelungen, Vielen Dank. die über die Länderverordnungen zum Tragen kommen sollen. Ein Defizit ist aber, dass Sie die Dinge, die man (Beifall bei der LINKEN) im Bundesinfektionsschutzgesetz regeln könnte, nicht auch dort regeln, zum Beispiel das Instrument des Scree- Vizepräsident Eduard Oswald: nings, das sich in den Niederlanden so gut bewährt hat. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste hat unsere Warum gibt es dazu keine gesetzliche Vorgabe im Bun- Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion desinfektionsschutzgesetz? Das leuchtet mir nicht ein. Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Eine solche Vorgabe würde dazu führen, dass wir bun- desweit einen bestimmten Standard hätten, der überall Bitte, Frau Kollegin. – sowohl in Krankenhäusern als auch in anderen Ein- richtungen – einzuhalten wäre. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Harald Weinberg [DIE LINKE]) (D) (B) lieben Kolleginnen und Kollegen! Ganz so martialisch wie mein Vorredner will ich nicht an das Thema heran- Diesen wichtigen Schritt könnte man gehen. Es ist nicht gehen. Es ist zwar leicht, am Ende eines Erkenntnispro- nachvollziehbar, dass Sie dieses Problem, obwohl wir zesses zu sagen: „Wir haben es schon immer besser ge- eine Bundeskompetenz dafür haben, nicht auf Bundes- wusst; jetzt kommt zum Glück die Erkenntnis zum ebene angehen. Tragen“, Die Niederlande profitieren davon, dass sie seit Jahr- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Man hätte zehnten eine sehr restriktive Antibiotikastrategie haben. unserem Antrag vielleicht zustimmen können! – Was machen wir? Wir setzen erneut eine Kommission Katja Kipping [DIE LINKE]: Das hat er so ein. Es gab ja schon eine Vorläuferkommission; ich nicht gesagt!) konnte bei meiner Recherche allerdings keinerlei Ergeb- nisse oder Zwischenberichte finden. Die neue Kommis- aber ich glaube, man muss ein bisschen fairer damit um- sion soll jetzt zwar verbindliche Empfehlungen abgeben, gehen. aber das wird dauern. Wir brauchen einen ganz konkre- (Zuruf von der LINKEN: Lieber ehrlich damit ten Plan, um in der ambulanten medizinischen Versor- umgehen!) gung wirklich zu einem viel restriktiveren Antibiotika- einsatz zu kommen. –Wie gnädig. Wir wissen alle, dass eine neue und sehr gefährliche In der Tat liegt ein Gesetzentwurf zur Verbesserung Quelle von MRSA die Landwirtschaft, die Tierzucht, ist. der Krankenhaushygiene vor, dessen Inhalt noch vor Was ist diesbezüglich vorgesehen? Dieser gesamte Be- zwei Jahren vom größeren Teil dieses Hauses abgelehnt reich ist in dem Gesetzentwurf komplett ausgeklammert worden ist. Das sehe ich genauso. Man sieht, dass es ei- worden. Es gibt keine gezielten Maßnahmen für die Be- nen längeren Erkenntnisprozess gegeben hat, der zu der schäftigten in der Landwirtschaft. Ich habe keinen einzi- Einsicht geführt hat, dass wir nicht weiter nur auf frei- gen Ansatz in diesem Papier dazu gefunden, was wir in willige Maßnahmen und das Engagement der Länder landwirtschaftlich geprägten Regionen ganz gezielt ma- und Kommunen bei der Hygieneüberwachung setzen chen müssen, um zu weiteren Fortschritten zu kommen. können, sondern auf allen Ebenen konsequent arbeiten müssen. So lässt sich die Vorgeschichte beschreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist zwar nicht verkehrt, auf die verschiedenen frei- willigen Instrumente einzugehen. Diese nutzen wir auch Da besteht ein massiver Nachbesserungsbedarf. 11394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Maria Anna Klein-Schmeink (A) Der Gesetzentwurf liefert aber eine gute Vorlage, um Wir haben festzustellen, dass jedes Jahr in Deutsch- (C) im Sinne des Patientenschutzes voranzukommen. Ich land Tausende Menschen an Infektionen, die sie sich in bitte aber darum, zusätzlich die Frage eines neuen EBM verschiedenen Versorgungsbereichen zuziehen, erkran- noch einmal genauer zu betrachten. Es geht nicht darum, ken und schlimmstenfalls auch sterben. Das Risiko im Anreize zu schaffen. Es geht darum, wirksame Instru- Vergleich zum Straßenverkehr ist hier bereits mehrfach mente wie das Screening sehr zielgerichtet einzusetzen, beschrieben worden. Diese Auffassung teilen wir. Wir und zwar nicht als zusätzliche Einkommensmöglichkeit haben in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die für Ärzte, sondern um im Übergang zwischen ambulan- Zahl schwer behandelbarer Infektionen, ausgelöst durch ter und stationärer Versorgung sowohl Risiken auszu- mehrfach resistente Erreger, seit Jahren zunimmt. schließen als auch die Sanierung von MRSA zu gewähr- Ebenso ist festzustellen, dass ein übermäßiger und undif- leisten. ferenzierter Einsatz von Antibiotika – auch in der Tier- zucht – ganz wesentlich zu Entstehung und Vermehrung Heute liegt tatsächlich ein Vorschlag für einen Schritt neuer resistenter Keime beigetragen hat. Schließlich ha- in Richtung Patientenschutz auf dem Tisch. Wir müssen ben wir festzustellen, dass es regional gut funktionie- allerdings zusehen, dass er auch wirklich stringent und rende Netzwerke gibt, die sich der Problemlage ange- tatkräftig umgesetzt wird. nommen haben, jedoch leider nicht flächendeckend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Analyse des Vorgehens anderer Länder, aber auch und bei der SPD) der Ergebnisse einiger Modellprojekte – auch aus Ihrem Heimatort, Frau Klein-Schmeink – zeigt, dass es An- Vizepräsident Eduard Oswald: sätze gibt, die man verfolgen kann. Die Schlussfolgerun- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat unser gen, die wir daraus gezogen haben, sind in den Gesetz- Kollege Lars Lindemann von der Fraktion der FDP das entwurf aufgenommen worden. Wort. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Aber nicht stringent!) Durch Verbesserung der Hygienequalität und Verän- Lars Lindemann (FDP): derung des Einsatzes von Antibiotika lassen sich tau- sendfaches Leid vermeiden und erhebliche Kosten spa- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren; darauf ist schon hingewiesen worden. Die ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ersparnisse werden weit über den Aufwendungen lie- Weinberg, die Regierung hat nichts auf die lange Bank gen, die die Umsetzung des Gesetzes nach sich ziehen geschoben, wie Sie ganz am Anfang behauptet haben. (B) wird. Es ist deshalb richtig, dass nun alle Bundesländer (D) Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode sehr be- verpflichtet werden, auf der Grundlage des Infektions- müht, das Thema aufzugreifen. Es hat zwar eine gewisse schutzgesetzes Hygieneverordnungen zu erlassen, die Zeit gedauert, bis wir zu diesem Entwurf gekommen sodann beispielsweise die erforderliche Ausstattung mit sind. Aber das Thema stand von Anfang auf der Agenda. Hygienefachkräften in den adressierten Einrichtungen (Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE verbindlich vorschreiben. Es ist richtig, dass die Emp- LINKE]) fehlungen des RKI in Sachen Hygiene für die Adressa- ten einen verbindlichen Charakter erhalten. Es ist zudem Das Eingeständnis des Zurückbleibens hinter eigent- zielführend, dass neben der Kommission für die Erarbei- lich als selbstverständlich empfundenen Hygienestan- tung von Hygienerichtlinien eine Kommission, die den dards im Gesundheits- und Pflegebereich in Deutschland Ursachenzusammenhang zwischen der Art und Weise ist nicht angenehm. Es ist auch keine annehmbare Bot- der Verordnung von Antibiotika und der Entstehung von schaft für die Patientinnen und Patienten in unserem Resistenzen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, einbe- Land. Darüber sind wir uns alle einig; das brauchen wir, rufen wird. denke ich, hier nicht weiter zu erörtern. Es ist richtig, dass die Verantwortlichen in den adres- Unser Problem liegt darin, dass es viele unterschiedli- sierten Einrichtungen verpflichtet werden, den Stand der che Versorgungseinrichtungen in diesem Land gibt, die medizinischen Wissenschaft hinsichtlich Hygiene und mit großer Selbstverständlichkeit Hervorragendes auf auch der Verordnung von Antibiotika einzuhalten haben, dem Gebiet der Hygiene leisten, jedoch nicht alle so er- der sich dann in den jeweils aktuellen Empfehlungen der folgreich sind, wie wir uns das wünschen und vorstellen. Kommissionen ausdrückt. Es ist richtig, dass den Leitern Daran müssen wir miteinander arbeiten. der adressierten Einrichtungen verpflichtend aufgegeben wird, das Auftreten von nosokomialen Infektionen bei Dies erkennend, geht es in dem von der Koalition vor- Häufungen dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden gelegten Gesetzentwurf nicht in erster Linie darum, das und über die Landesbehörden auch dem RKI mitzutei- Verhalten Einzelner zu pönalisieren oder öffentlich zu len. sanktionieren, sondern darum, die systemischen Unzu- länglichkeiten – so will ich das nennen – herauszuarbei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten und diesen dann mit gesetzgeberischem Handeln ent- gegenzuwirken. Mit den vorgesehenen Vergütungsregeln werden die Voraussetzungen für ein verbessertes Screening und die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sanierung der betroffenen Patienten geschaffen. Ich bin Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11395

Lars Lindemann (A) auf Ihrer Seite, dass wir da mehr tun können. Darüber keine sichere und erfolgreiche Behandlung der Patien- (C) werden wir noch Gespräche führen. ten. Auf eine sichere Behandlung haben Patientinnen und Patienten jedoch einen Anspruch. Zudem wird es Vorgaben zur sektorenübergreifenden Qualitätssicherung geben, die, wenn die Indikatoren ge- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) funden und veröffentlicht sind, zu einem qualitätsför- Daher ist es auch so wichtig, dass wir in den Universitä- dernden Wettbewerb führen werden. ten wieder flächendeckend Lehrstühle für Hygiene ha- Zum Schluss. Ich freue mich über die sachorientierten ben. Vorschläge und inhaltliche Unterstützung durch die Op- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- position. Sie hat konkrete Vorschläge gemacht, aus de- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nen hervorgeht, wie wir gemeinsam an einer Verbesse- NEN) rung arbeiten können. Ich bin zuversichtlich – und ich werbe ausdrücklich bei Ihnen, meine Damen und Herren Als ich studiert habe, gab es diese noch. Ich habe in mei- der SPD –, dass wir uns in den anstehenden Berichter- nem Staatsexamen noch eine Prüfung in Hygiene able- stattergesprächen über das eine oder andere auseinander- gen müssen. Das halte ich auch für richtig. setzen können und dass es uns gelingt, unserem gemein- samen Ziel der Reduzierung von Infektionsraten zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schutz aller Betroffenen ein Stück weit näherzukom- Nun geht die Bundesregierung das Problem der Kran- men. kenhaushygiene mit einem Gesetzentwurf an, aber es ist Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. – das ist schon gesagt worden – ein äußerst zaghafter Entwurf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Besser als der GRÜNEN]) von !) Ein Beispiel sind die Antibiotikaresistenzen. Die Ursa- Vizepräsident Eduard Oswald: chen für Antibiotikaresistenzen sind komplex. Eine Ur- Vielen Dank, Herr Kollege Lindemann. – Nächste auf sache führt der Gesetzentwurf ausdrücklich auf. Es ist meiner Rednerliste ist unsere Frau Kollegin Dr. Marlies die unsachgemäße Verordnung von Antibiotika, und Volkmer von der Fraktion der SPD. zwar sowohl für Menschen als auch für Nutztiere. Doch statt eine Strategie vorzustellen, wie man damit sinnvoll (Beifall bei der SPD) umgehen kann, gründet die Bundesregierung eine neue Kommission, (B) (D) Dr. Marlies Volkmer (SPD): (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schon Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- wieder! Das ist ja unglaublich!) gen! Jeder von uns hat sicherlich schon von solchen tra- gischen Ereignissen gehört: Jemand geht wegen einer zusätzlich zur bereits bestehenden Kommission für Routineuntersuchung ins Krankenhaus und verstirbt dort Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Aber an einer Sepsis. Oder ein Mensch muss nach einem Un- was passiert denn, wenn die Leiter von medizinischen fall künstlich beatmet werden und bekommt dann im Einrichtungen den Empfehlungen solcher Kommissio- Krankenhaus eine schwere Lungenentzündung, auf die nen nicht folgen? Nichts passiert. Wir brauchen aber für kein Antibiotikum anspricht. solche Fälle Sanktionsmöglichkeiten, zum Beispiel in Form von Vergütungsabschlägen, die Krankenhäuser al- Das sind leider keine bedauernswerten Einzelfälle, lethalben dann hinnehmen müssen. sondern das ist hunderttausendfache Realität in deut- schen Krankenhäusern. Wir haben leider auch 7 500 bis Ein Thema, das Sie bei der Erstellung des Gesetzent- 15 000 Todesfälle wegen Krankenhausinfektionen in wurfes überhaupt nicht auf dem Radarschirm hatten, ist Deutschland. die unzureichende Personalausstattung der Kliniken. (Zuruf von der FDP: Deshalb handeln wir (Beifall bei der SPD) jetzt!) Je größer der Zeitdruck, desto flüchtiger wird zum Bei- Diese Zahl zeigt schon ein Problem: Wir wissen über- spiel die Händedesinfektion ausfallen. Das ist nun ein- haupt nicht, wie viele Krankenhausinfektionen wir ge- mal eine ganz einfache und wirkungsvolle Methode in nau haben. Erstens werden nicht alle Fälle diagnostiziert, der Hygiene. Ein Vergleich zwischen Deutschland und zweitens werden nicht alle Fälle gemeldet, und drittens den Niederlanden ist aufschlussreich. In einer deutschen werden die gemeldeten Fälle nicht zusammengeführt. Intensivstation versorgt eine Pflegekraft drei Patienten, Das ist ein unhaltbarer Zustand. in den Niederlanden ist das Verhältnis nahezu eins zu eins. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, (Beifall bei der SPD) wenn Sie weiter auf Kosten der Beschäftigten in den Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung und eine Krankenhäusern sparen, wie mit der letzten Gesund- Verhaltensänderung, und zwar sowohl in den Einrichtun- heitsreform geschehen, wird sich der Zeitdruck in den gen des Gesundheitswesens als auch in der Politik. Es Krankenhäusern weiter erhöhen. Das steht einem konse- darf nicht so sein, dass Hygiene das fünfte Rad am Wa- quenten Hygienemanagement und einer Senkung der In- gen ist; denn ohne einen guten Hygienestandard gibt es fektionsraten absolut entgegen. 11396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Marlies Volkmer (A) (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE Einrichtungen zu erlassen. Durch einheitliche Standards (C) LINKE] – Christian Lange [Backnang] [SPD]: und Qualitätsberichte sowie durch zusätzlichen Exper- So ist es!) tenrat und Präventionsmaßnahmen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft lassen sich – das sagen Das ist aber das Letzte, was wir gebrauchen können; Fachleute – rund 30 Prozent der Infektionen mit Klinik- denn es darf nicht sein, dass jemand wegen einer Kran- keimen vermeiden. kenhausinfektion kränker aus dem Krankenhaus heraus- kommt, als er hineingegangen ist. Hinzu kommt, dass wir Anreizsysteme für die nieder- gelassenen Ärzte schaffen wollen, die bereits im Vorfeld (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verhindern sollen, dass gefährliche Keime überhaupt in der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE die Krankenhäuser gelangen. GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Ein Auslöser der öffentlichen Diskussion über man- Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Volkmer. – Jetzt hat gelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern waren als Nächster unser Kollege Erwin Rüddel für die Frak- zweifellos die beklagenswerten Vorfälle im vorigen tion der CDU/CSU das Wort. Sommer auf der Intensivstation der Universitätsklinik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mainz. Auch wenn sich zwischenzeitlich herausgestellt hat, dass diese nicht die Folge mangelnder Hygiene, son- Erwin Rüddel (CDU/CSU): dern einer Vergiftung aufgrund einer verseuchten Infu- sionslösung waren, hätte dies für das zuständige Gesund- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 2011 wird das Jahr der Patientinnen und Pa- heitsministerium in Mainz Veranlassung sein können, eine eigene Hygieneverordnung für die Ärzte und Kran- tienten. kenhäuser in Rheinland-Pfalz zu erlassen, wozu die Ge- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das Jahr setzeslage dem Land durchaus Handhabe gegeben hätte. der Kommissionen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher insbesondere den vorliegenden Gesetzentwurf. Ich freue mich über die Die verantwortliche Ministerin in Mainz, Frau Dreyer, durchaus positive Bewertung dieses Gesetzentwurfs hat dies allerdings versäumt, durch die Opposition. Ich denke, wir werden bei diesem (Mechthild Rawert [SPD]: Gibt es das schon Gesetz zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden. in Baden-Württemberg?) (B) Mit dem Gesetz werden die Voraussetzungen geschaf- und das steht leider auch beispielhaft für Defizite und (D) fen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern und bei Versäumnisse der Gesundheitspolitik in Rheinland- medizinischen Behandlungen durchgreifend zu verbes- Pfalz. sern sowie die Infektionsrate durch Krankenhauskeime deutlich zu reduzieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Mel- Auch deshalb ist es gut und richtig, dass nun der Bund dungen über infektionsbedingte Todesfälle, die mit die Initiative ergreift und wir den vorliegenden Gesetz- Recht Unruhe und Sorgen in der Bevölkerung ausgelöst entwurf beraten. Für uns ist dabei entscheidend, dass haben. Nach vorsichtiger Schätzung von Experten sind Hygienepersonal in die Krankenhäuser kommt, dass die in Deutschland durch Infektionen in Kliniken, die auf Hygieneleitlinien des Robert-Koch-Instituts verbindlich mangelnde Hygiene zurückzuführen sind, jährlich zwi- werden und dass es jährliche Qualitätsberichte gibt. schen 7 500 und 15 000 Todesfälle zu beklagen. Darüber Nicht recht verständlich ist mir in diesem Zusammen- hinaus erkranken jedes Jahr schätzungsweise rund hang die Kritik der Deutschen Krankenhausgesellschaft 400 000 bis 600 000 Patientinnen und Patienten an In- an unserem Vorhaben. Der Kampf gegen mangelnde fektionen, die im Zusammenhang mit einer medizini- Sauberkeit, unzureichende Reinigung oder verschmutz- schen Maßnahme stehen. Nach anderen Schätzungen tes Operationsgerät in unseren Krankenhäusern sollte muss sogar von noch höheren Fallzahlen ausgegangen eine bare Selbstverständlichkeit sein. werden. Ja, es stimmt: Wir wollen, dass Hygienebeauftragte Unabhängig davon, welcher Einschätzung wir jeweils und zusätzliche Ärzte neu eingestellt werden, damit in Glauben schenken und mehr Plausibilität zubilligen wol- deutschen Krankenhäusern das Augenmerk verstärkt auf len: Es besteht in jedem Fall ein dringender Handlungs- Sauberkeit und Hygiene gelegt wird. Das wird Geld kos- bedarf. Jede zusätzliche Infektion bedeutet persönliches ten. Auf der anderen Seite aber werden diese Mehrkos- Leid. ten dadurch mehr als ausgeglichen, dass Infektionen mit (Beifall der Abg. Johannes Singhammer [CDU/ all ihren entsprechenden Folgekosten in großer Zahl ver- CSU] und Lars Lindemann [FDP]) mieden werden. Durch das Gesetz werden die Bundesländer verpflich- Der GKV-Spitzenverband hat mit Recht darauf hinge- tet, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Ver- wiesen, dass die Krankenhäuser allein in diesem Jahr ordnungen zur Infektionshygiene und zur Prävention 1,9 Milliarden Euro zusätzlich von den Beitragszahlern von resistenten Krankheitserregern in medizinischen erhalten. Mit diesem Geld sollte sich einiges bewirken Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11397

Erwin Rüddel (A) lassen, um die hygienische Situation in unseren Kliniken , weiterer Abgeordneter und der (C) zu verbessern. Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen korrigieren – Pflicht zur Abmahnung einfüh- Der Gemeinsame Bundesausschuss wird dazu geeignete ren Standards und Vergleichsmarken entwickeln, die für die Qualitätsberichte der Krankenhäuser als Richtschnur – Drucksachen 17/1986, 17/4281 – dienen werden. Berichterstattung: Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb sind wir auf dem richtigen Weg. Wir unterstützen den Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto- Gesundheitsminister in seinem Bestreben, auf diese koll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgender Weise unser Gesundheitswesen zu stärken. Wir werden Kolleginnen und Kollegen – ich lasse die Fraktionsbe- deshalb gemeinsam – dabei schließe ich die Opposition zeichnung jetzt weg und erwähne nur die Namen –: Kol- mit ein – für eine bundeseinheitliche gesetzliche Rege- legin Gitta Connemann, Kollege Ottmar Schreiner1), lung zur Verbesserung der Hygiene in Krankenhäusern Kollegin Gabriele Molitor, und anderen medizinischen Einrichtungen sorgen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegin Sabine Zimmermann, Kollegin Ingrid Hönlinger, Kollege Ulrich Lange und Kollege Johannes Vizepräsident Eduard Oswald: Vogel. Die Reden sind somit zu Protokoll genommen.2) Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim- Aussprache. mung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehme- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen rinnen und Arbeitnehmer (Schutz vor Kündigung wegen auf den Drucksachen 17/5178, 17/4489 und 17/5203 an eines unbedeutenden wirtschaftlichen Schadens). Der die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Es spricht Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- niemand dagegen. Dann sind die Überweisungen so be- sache 17/4281, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD schlossen. auf Drucksache 17/648 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das (B) Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthal- (D) a) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak- tungen? – Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord- Gesetzes zur Erweiterung des Kündigungs- nung die weitere Beratung. schutzes der Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer (Schutz vor Kündigungen we- Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 12 a. Wir gen eines unbedeutenden wirtschaftlichen kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Schadens) Fraktion Die Linke zum Verbot der Verdachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen – Drucksache 17/648 – bei Bagatelldelikten. Der Ausschuss für Arbeit und So- ziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- fehlung auf Drucksache 17/4281, den Gesetzentwurf der ordneten Wolfgang Neškoviæ, Jan Korte, Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/649 abzulehnen. Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – eines Gesetzes zum Verbot der Verdachts- Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter kündigung und der Erweiterung der Kün- Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- digungsvoraussetzungen bei Bagatelldelik- schäftsordnung die weitere Beratung. ten Tagesordnungspunkt 12 b. Wir kommen zur Abstim- – Drucksache 17/649 – mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion ses für Arbeit und Soziales (11. Aus-schuss) Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ungerechtigkei- ten bei Bagatellkündigungen korrigieren – Pflicht zur – Drucksache 17/4281 – Abmahnung einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Berichterstattung: Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb che 17/4281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1986 abzulehnen. Wer stimmt b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales 1) Der Redebeitrag lag zu Redaktionsschluss nicht vor und wird zu ei- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- nem späteren Zeitpunkt abgedruckt. ten Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, 2) Anlage 3 11398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Eduard Oswald (A) für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (C) tungen? – Die Beschlussempfehlung ist somit angenom- men. Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten und Leistungseinschränkungen im Zwölften Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel, Buch Sozialgesetzbuch abschaffen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – Drucksache 17/5174 – CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Überweisungsvorschlag: Meierhofer, , Angelika Brunkhorst, Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Haushaltsausschuss Räume stärken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre – Drucksachen 17/2478, 17/5117 – keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Berichterstattung: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Abgeordnete Marlene Mortler Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. Bitte Heinz Paula schön, Frau Kollegin. Horst Meierhofer Kornelia Möller (Beifall bei der LINKEN) Markus Tressel Katja Kipping (DIE LINKE): Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 9. Fe- Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden fol- bruar 2010 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass gender Kolleginnen und Kollegen: Kollege Horst die Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig sind und Meierhofer, dass das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzmi- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nimum für Hilfebedürftige dem Grunde nach unverfüg- (B) bar ist. Dieses Urteil ging zurück auf eine Klage von (D) Kollege Heinz Paula, Kollegin Marlene Mortler, Thomas Kallay. Nur wenige Tage nach dem Urteil drohte das zuständige Jobcenter Frau Kallay unter win- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) digen Vorwänden eine 100-prozentige Sanktion an. 100- prozentige Sanktion meint den kompletten Entzug der Kollege Dr. Ilja Seifert, Kollege Markus Tressel, Kol- Hartz-IV-Leistung. lege Klaus Brähmig und Kollege Dr. Edmund Geisen.1) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Un- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten glaublich!) der CDU/CSU) Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Da Der Beifall zeigt, dass alle einverstanden sind, dass die macht ein Erwerbsloser von seinen rechtsstaatlichen Reden zu Protokoll genommen werden. Rechten Gebrauch, klagt, bekommt Recht, aber kurz da- rauf droht seiner Frau der komplette Entzug des ohnehin (Mechthild Rawert [SPD]: So meinten die das niedrigen Hartz-IV-Regelsatzes. Hier deutet sich doch nicht!) an, dass Sanktionen disziplinierend eingesetzt werden und die Wehrhaftigkeit von Betroffenen untergraben sol- – Okay, den Eindruck habe ich auch gehabt. len. Deswegen gehören sie abgeschafft. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (Beifall bei der LINKEN) schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Tourismus und Zum Glück kannte die Familie einige Abgeordnete. Als Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Ent- es Nachfragen aus ganz unterschiedlichen politischen wicklung ländlicher Räume stärken“. Der Ausschuss Richtungen gab, wurde diese Androhung auch zurückge- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- zogen. che 17/5117, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und Doch nicht jeder, der von Sanktionen betroffen ist, hat FDP auf Drucksache 17/2478 anzunehmen. Wer stimmt dieses Glück. Jährlich werden mehr als 700 000 Sanktionen für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- verhängt. Eine Sanktion bedeutet in diesem Zusammen- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- hang, dass die ohnehin niedrigen Regelleistungen gekürzt men. werden. Die Wirkung dieser Sanktionen ist verheerend. Zum einen widersprechen sie dem Grundrecht auf ein so- 1) Anlage 4 ziokulturelles Existenzminimum, zum anderen führen sie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11399

Katja Kipping (A) bei den Betroffenen zu Existenzangst, ja, zu richtiger Die Linke fordert deswegen: Weg mit den Sanktio- (C) existenzieller Not. Um das noch einmal zu verdeutlichen: nen. Wir fordern, die vorhandene Erwerbsarbeit durch Jeden Monat sind im Durchschnitt 12 000 Menschen vom Arbeitszeitverkürzung gerechter zu verteilen. kompletten Entzug der Hartz-IV-Leistungen betroffen. Ja, wir lehnen Zwang zur Arbeit genauso ab wie Er- Ja, selbst Schwangere werden mit dem kompletten Ent- werbslosigkeit wider Willen; denn beides widerspricht zug der Leistungen bedroht, wenn sie nicht jeden 1-Euro- unserem Verständnis von einer freiheitlichen und einer Job, nicht jedes Jobangebot annehmen. humanistischen Gesellschaft. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zumutbar!) Insofern möchte ich mit dem Zitat des Humanisten Die Betroffenen werden durch diese Sanktionsmöglich- Erich Fromm enden. Er sagte, keit wehrlos gegenüber ausbeuterischen Arbeitsverhält- daß der Mensch unter allen Umständen das Recht nissen. hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung Ich habe von einem Fall gehört, bei dem eine Frau in usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das einem Bewerbungsgespräch nur kritisch die Höhe des unter keinen Umständen eingeschränkt werden angebotenen Lohnes, der übrigens sehr niedrig war, hin- darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Be- terfragt hat. Daraufhin ist sie nicht eingestellt worden. Es treffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“. wurde ein Vermerk angefertigt, dass dort kritisch nach- gefragt worden ist, und ihre Unterlagen wurden mit die- So weit der Humanist Erich Fromm. sem Vermerk an die Bundesagentur zurückgeschickt. Vielen Dank. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Diese Fälle (Beifall bei der LINKEN) würde ich gerne einmal sehen!)

Ihr wurde sofort der Regelsatz gekürzt mit dem Hinweis Vizepräsident Eduard Oswald: darauf, das sei ein Fall von fehlender Mitwirkung. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat unser Kollege Dr. Carsten Linnemann von der Fraktion der Hinzu kommen enorm hohe Fehlerquoten. 37 Prozent CDU/CSU das Wort. aller Widersprüche gegen Sanktionen ist in Gänze statt- gegeben worden. Das heißt, dass diesen Leuten nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weislich zu Unrecht das Existenzminimum vorenthalten wurde. Ich möchte Sie einmal erleben, wenn Ihnen über Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): (B) Monate hinweg die Diäten einfach nicht überwiesen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kipping, (Beifall bei der LINKEN) herzlichen Dank für die Einführung. In der Tat machen Sie den Vorschlag, die Sanktionen abzuschaffen, sodass Hier reden wir über Menschen, die wirklich kaum ein fi- die Menschen, die von der Solidargemeinschaft Unter- nanzielles Polster haben. stützung bekommen, am Ende keiner Kontrolle mehr un- terliegen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ich würde Sie da auch einmal gerne sehen wollen, Frau (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau Kipping!) der Punkt!) Das zentrale Argument der schwarz-gelben Bundesre- Die Frage ist: Macht das Sinn? Diese Frage muss man gierung lautet – Zitat –: sich stellen. Wir verneinen das, und ich will es Ihnen auch begründen. … Sanktionen dienen dazu, die Besetzung von Ar- Zunächst einmal müssen wir uns fragen: Welche beitsplätzen zu unterstützen … Gruppen werden von der Solidargemeinschaft unter- Schauen wir uns doch einmal das Verhältnis von offe- stützt? nen Stellen zu Erwerbslosen an. Wenn wir die offiziellen Zum einen ist das die Gruppe der Menschen, die am Statistiken betrachten und nur die offensichtlichsten Rande der Gesellschaft stehen. Dabei handelt es sich um Tricks bei der Berechnung von Arbeitslosen herausneh- Menschen, die sich nicht selber helfen können. Sie kön- men, erhalten wir folgendes Ergebnis: Auf eine offene nen nicht, wie Röpke sagt, wenn sie Hilfe suchen, ihren Stelle kommen zehn Erwerbslose. Egal wie sehr sie sich rechten Arm nehmen. Das sind Menschen, die unsere bemühen, müssen von diesen zehn also neun leer ausge- Unterstützung brauchen – wie geistig Behinderte, kör- hen. Das ist nüchterne Mathematik. perlich Behinderte und andere. Diese Menschen brau- Das heißt, das Problem ist nicht die angebliche Ar- chen Solidarität, und zwar nicht nur die normale Solida- beitsunwilligkeit; das Problem ist, dass es diese Ge- rität, sondern die bedingungslose Solidarität. sellschaft nicht schafft, die vorhandene Erwerbsarbeit (Beifall bei der CDU/CSU) gerecht zu verteilen, zum Beispiel durch Arbeitszeit- verkürzung. Zum anderen gibt es die Menschen, über die Sie spre- chen, nämlich die SGB-II-Empfänger. Das sind Lang- (Beifall bei der LINKEN) zeitarbeitslose, die von der Solidargemeinschaft unter- 11400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Carsten Linnemann (A) stützt werden, also von den Menschen, die mit ihren und andere Dinge zahlen. Natürlich gehören auch die (C) Einkommensteuern und Umsatzsteuern das soziale Netz Menschen dazu, die einkaufen gehen und mit der Mehr- in Deutschland finanzieren. Das kann man ja einmal aus- wertsteuer einen Beitrag leisten; aber in erster Linie sind sprechen. Auch die Langzeitarbeitslosen brauchen un- es die Menschen, die den Kuchen, der in Deutschland sere Solidarität – aber nicht bedingungslos. Das ist der verteilt wird, erst erwirtschaften. Das ist so. Damit habe Unterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik. ich nichts Falsches gesagt, sondern nur das, was Realität ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt habe ich so viel über Solidarität gesprochen. Was steckt hinter Solidarität? Das Ganze ist nichts ande- Lassen Sie mich zu den Schranken zurückkommen. res als eine Vertragsvereinbarung zwischen Menschen, Wir brauchen Schranken, damit das Prinzip der Gegen- die in das System einzahlen, also die Solidargemein- seitigkeit funktioniert, damit wir ein gutes Zusammenle- schaft, und Menschen, die das Geld abrufen und gleich- ben in der Gesellschaft haben. zeitig eine Gegenleistung erbringen. Es ist also nichts anderes – Herr Zimmer, Sie haben es letztens gesagt – (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) als das Prinzip der Reziprozität. Das heißt, Solidarität ist Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil anscheinend kaum keine Einbahnstraße, sondern beruht auf dem Prinzip der noch jemand zuhört – Sie haben eben auch nicht zuge- Gegenseitigkeit. hört, sonst hätten Sie die Frage nicht gestellt –, Für diese Gegenseitigkeit bedarf es Schranken. Diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schranken sind wichtig, damit – – neten der FDP) in die Wirtschaftsgeschichte einsteigen. Ich bin Fan von Vizepräsident Eduard Oswald: Adam Smith, dem alten Schotten, der gesagt hat: Es be- Schnaufen Sie einmal schnell durch. Es gibt den darf verschiedener Schranken, damit das Zusammenle- Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zu- ben funktioniert. In der Familie gibt es eine natürliche lassen? Schranke, weil der eine für den anderen einsteht: Wenn mein Bruder einen Platten hat, helfe ich ihm; da brau- Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): chen wir keine Gesetze. Ja, gerne. (Zuruf von der LINKEN: Wenn Menschen ar- beitslos sind, dann helfen sie doch auch!) Vizepräsident Eduard Oswald: (B) Jetzt ist die Zwischenfrage unserer Kollegin gerne er- Eine Ebene höher finden wir die Schranke in der Dorfge- (D) laubt. meinschaft, im Vereinsleben – Adam Smith bezeichnet sie als die „Schranke der Ethik“ –: Man tut etwas oder Johanna Voß (DIE LINKE): tut es nicht; man läuft nicht nackt über den Sportplatz, Ich habe vernommen, dass Sie annehmen, dass Men- weil man das einfach nicht tut. schen, die keiner Berufstätigkeit nachgehen, keine für Wenn diese Schranken nicht funktionieren, dann die Gesellschaft nützliche Arbeit verrichten. kommen gesetzliche Schranken zum Einsatz, damit das (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das hat er nie Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert. Bei Hartz IV gesagt! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Zu- machen wir nichts anderes: hören! Sind Sie in einer anderen Debatte?) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne jede Menge Mütter, die ihre Kinder erziehen. Nackt über den Sportplatz laufen?) Ich kenne jede Menge Menschen, die Steuern zahlen, Damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert, weil sie Lebensmittel, Kleidung und alle Sachen, die sie brauchen wir Schranken. Sanktionen sind hier ein Instru- für ihren alltäglichen Bedarf benötigen, einkaufen und ment. Wir nutzen dieses Instrument, damit das, was die natürlich wie jeder andere auch Mehrwertsteuer zahlen. Solidargemeinschaft einzahlt, sachgerecht verwendet Natürlich tragen sie zur Solidargemeinschaft bei. Wieso wird. Ich bin sicher, dass das System der Sanktionen diskreditieren Sie hier Menschen, bloß weil sie vom Ar- funktioniert. beitsprozess ausgeschlossen sind? Was meinen Sie, wie viele dieser Menschen sich in dieser Zeit gegen Atom- Frau Kipping, Sie haben absolute Zahlen genannt; das kraft oder für sehr viele andere Sachen engagieren, die ist clever. Man muss aber sagen, dass die Quote der ohne bürgerschaftliches Engagement überhaupt nicht Fälle, in denen es zu Sanktionen kommt, in den verschie- mehr laufen würden, weil so viel weggekürzt worden denen Bundesländern zwischen 2 und 4 Prozent liegt. ist? Das System funktioniert. Insofern räume ich Ihrem An- trag wenig Chancen ein. Wir können gerne im Aus- (Beifall bei der LINKEN) schuss darüber reden; aber wir werden diesen Antrag nicht unterstützen. Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Ich bedanke mich, wünsche Ihnen einen schönen Ich habe eben versucht, zu erklären, was die Solidar- Abend und zu dieser Zeit auch eine geruhsame Nacht. gemeinschaft ist. Das sind in erster Linie die Menschen, die in Deutschland arbeiten gehen, Einkommensteuer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11401

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: quote von 7 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist (C) Vielen Dank für die höfliche Schlussformel. – Als viel zu hoch. Nächste hat unsere Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Fraktion der SPD das Wort. Wir wissen: Ein fehlender Schulabschluss oder eine Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort. abgebrochene Berufsausbildung stellen besonders (Beifall bei der SPD) schwere Vermittlungshemmnisse dar. Deshalb muss es unser Ziel sein, Jugendliche auf ihrem Weg ins Berufsle- ben mit aller Kraft zu unterstützen und zu begleiten. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: der Linken! Sie beklagen in Ihrem Antrag Sanktionen Was hat das mit Sanktionen zu tun?) und Leistungseinschränkungen bei Hartz IV und in der Wir von der SPD haben hierfür 2008 einen Rechtsan- Sozialhilfe. Es ist richtig: In beiden Gesetzen sind ent- spruch auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses sprechende Möglichkeiten verankert. Ich stimme Ihnen geschaffen und den Ausbildungsbonus auf den Weg ge- zu: Gerade vor dem Hintergrund des Urteils der obersten bracht. Bis zum September 2010 haben mehr als 40 000 Verfassungsrichter zur Grundsicherung vom Februar Altbewerberinnen und Altbewerber durch den Ausbil- 2010 gehören Sanktionen und Leistungskürzungen auf dungsbonus eine echte Berufseinstiegschance erhalten. den Prüfstand. Deshalb haben wir bereits am 30. No- Das, meine Damen und Herren, ist eine gute Investition vember 2010 einen Entschließungsantrag zu diesem in die Zukunft. Thema eingebracht. (Beifall bei der SPD) Die Erfahrungen mit dem Instrument der Sanktionen im Sozialgesetzbuch II zeigen, dass diese in der Regel Es ist unfassbar, dass ausgerechnet dieses wichtige stark überschätzt werden. Die bessere Alternative zu Förderinstrument von Ministerin von der Leyen nicht Sanktionen ist die intensive Betreuung und Unterstüt- verlängert wurde. zung von langzeitarbeitslosen Menschen durch deren (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das Fallmanager. kann man doch so nicht sagen! – Karl (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Schiewerling [CDU/CSU]: Wieso, es ist doch wohl wahr!) verlängert worden! – Gegenruf der Abg. Anette Kramme [SPD]: Es ist verlängert wor- Eines wissen wir genau: Die große Mehrheit der Ar- den nur für Insolvenzfälle! – Weitere Zurufe) (B) beitsuchenden will arbeiten und wäre froh, wenn ein (D) passender Arbeitsplatz zur Verfügung stünde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns steht ganz klar das Fördern im Vordergrund. Sanktionen dürfen nie- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) mals Schikane oder Demütigung, sondern lediglich ein Unser Anliegen muss deshalb sein, so viel Unterstützung letztes Druckmittel sein. zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wie irgend Wir müssen uns die Sanktionsmöglichkeiten sehr ge- möglich zu leisten. Leider geht die schwarz-gelbe Bun- nau anschauen. Gänzlich auf sie zu verzichten, halte ich desregierung den genau entgegengesetzten Weg. Sie für falsch; denn wir brauchen auch ein Instrument zur kürzt ausgerechnet bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik Durchsetzung von Zielvereinbarungen bei der Eingliede- massiv. Im Vergleich der Jahre 2010 und 2011 wurde der rung und zum Schutz vor Missbrauch. Mittelansatz von 6,6 Milliarden Euro auf 5,3 Milliarden Euro eingedampft. Das bedeutet durchschnittliche Bud- Wie sieht es nun in der Sozialhilfe aus? Sie ist das un- getkürzungen um 21 Prozent gegenüber 2010. terste Auffangnetz für besonders hilfebedürftige Men- schen. Deshalb müssen wir hierbei ganz besonders da- (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: In der rauf achten, dass das Existenzminimum abgesichert ist Krise!) und nicht unterschritten wird. Einige Jobcenter wie zum Beispiel das in meinem Wahl- Es gibt zwei „Sanktionsparagrafen“ in der Sozialhilfe, kreis sind noch härter betroffen und müssen mit bis zu die §§ 26 und 39 SGB XII. In § 39 heißt es: 30 Prozent weniger auskommen. Das, meine Damen und Herren, ist der falsche Weg. Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Ver- pflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit oder die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Teilnahme an einer erforderlichen Vorbereitung ab, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vermindert sich der maßgebende Regelsatz in einer ersten Stufe um bis zu 25 vom Hundert, bei wieder- Fördern kostet erst einmal Geld. Doch es rechnet sich holter Ablehnung in weiteren Stufen um jeweils bis mittel- und langfristig auf jeden Fall. Sie, liebe Kollegin- zu 25 vom Hundert. Die Leistungsberechtigten sind nen und Kollegen der Linken, sprechen in Ihrem Antrag vorher entsprechend zu belehren. die jugendlichen Arbeitslosengeld-II-Bezieher unter 25 Jahren an. Nach einer aktuellen Bertelsmann-Studie Ich habe im Sozialamt meines Wahlkreises nachge- haben 58 400 Jugendliche im Jahr 2009 die Schule ohne fragt, wann und wie oft diese Möglichkeit der Leistungs- Abschluss verlassen. Das entspricht einer Abbrecher- kürzung eingesetzt wird. Die Antwort lautete: nie. 11402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Gabriele Hiller-Ohm (A) Nach der Reform der Grundsicherung 2005 unter gewissen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der (C) Rot-Grün sind alle Leistungsempfänger, die mehr als Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein. Sie drei Stunden täglich arbeiten können, aus der Sozialhilfe sagen sehr deutlich, dass der Gestaltungsspielraum bei herausgenommen und in Hartz IV überführt worden. den Leistungen zur Sicherung der physischen Existenz Das bedeutet, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen, sehr eng begrenzt ist und er nur etwas größer ist, wenn es überhaupt nicht erwerbstätig sein können. Deshalb ist es um Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichen richtig, diesen Paragrafen infrage zu stellen. Wenn er Leben geht. keine Bedeutung mehr hat, sollten wir ihn streichen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit bei diesem so wichti- Anders verhält es sich mit § 26, in dem es heißt: gen Thema. Die Leistung soll bis auf das zum Lebensunterhalt (Beifall bei der SPD) Unerlässliche eingeschränkt werden 1. bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendung Vizepräsident Eduard Oswald: des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermö- Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Als Nächs- gen vermindert haben in der Absicht, die Vorausset- ter spricht für die FDP-Fraktion Kollege Pascal Kober. – zungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leis- Bitte schön, Kollege Kober. tung herbeizuführen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2. bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen. Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der So weit wie möglich ist zu verhüten, dass die unter- haltsberechtigten Angehörigen oder andere mit ih- Sozialstaat hat zwei Seiten. Auf der einen Seite gibt es nen in Haushaltsgemeinschaft lebende Leistungsbe- diejenigen, die auf die Leistungen des Sozialstaates an- gewiesen sind, und auf der anderen Seite gibt es diejeni- rechtigte durch die Einschränkung der Leistung mitbetroffen werden. gen, die mit ihrer Hände oder ihrer Köpfe Arbeit das erwirtschaften, was der Sozialstaat als Leistung denjeni- Dieser Paragraf kommt zumindest in meinem Wahl- gen zur Verfügung stellt, die auf Leistung angewiesen kreis so gut wie nie zur Anwendung. Die wenigen Fälle sind. Beiden Seiten muss die Politik gerecht werden. betreffen Rückforderungen von zu viel ausbezahlter So- Deshalb ist das Sozialgesetzbuch II – das sind die soge- zialhilfe. Es werde in jedem Einzelfall sehr genau ge- nannten Hartz-IV-Gesetze – geprägt vom Prinzip des prüft – das erfuhr ich von dem Sozialamt in meinem Förderns auf der einen und des Forderns auf der anderen Wahlkreis –, ob eine Rückzahlung überhaupt möglich sei Seite. (B) (D) und inwieweit Angehörige möglicherweise unter einer Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Menschen Leistungskürzung zu leiden hätten. Wenn eine Rückzah- schulden sie sich gegenseitig. Beide Seiten sind sich So- lung unzumutbar sei, werde darauf verzichtet. lidarität schuldig. Deshalb geht kein Weg daran vorbei, Auch wenn Leistungsmissbrauch nur selten vor- dass die einen Steuern zahlen, durch die die Sozialleis- kommt, halte ich es für richtig, diese Sanktionsmöglich- tungen finanziert werden, und zugleich die anderen das keit zum Schutz der Solidargemeinschaft aufrechtzuer- ihnen Mögliche tun, um aus ihrer Notsituation herauszu- halten. kommen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr gut! Das ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) richtig!) Im Bereich des Förderns hat diese Regierung schon Menschen, die Sozialleistungen widerrechtlich in An- einiges unternommen, um gerade bei diesem Aspekt zu spruch nehmen, müssen mit Konsequenzen rechnen. Das Verbesserungen zu kommen. Mit der Jobcenterreform gilt für die Sozialhilfe und gleichermaßen für Hartz IV. haben wir sichergestellt, dass die Betreuung der Men- In § 1 des Sozialgesetzbuches XII steht als erster Satz, schen weiterhin vernünftig und kompetent aus einer und zwar nicht erst seit dem Urteilsspruch der Bundes- Hand erfolgt. Zudem haben wir den Schlüssel für die verfassungsrichter vom letzten Jahr: Betreuung durch die Jobcenter im Rahmen des SGB II auf 1: 75 für die unter 25-Jährigen und auf 1: 150 für die Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsbe- über 25-Jährigen gesenkt. Damit möchten wir sicherstel- rechtigten die Führung eines Lebens zu ermögli- len, dass die Mitarbeiter der Jobcenter gezielt auf die chen, das der Würde des Menschen entspricht. spezifischen Probleme der Arbeitsuchenden eingehen Diesen Leitsatz müssen wir natürlich insbesondere im und sie besser bei der Arbeitsaufnahme unterstützen Hinblick auf Leistungskürzungen sehr genau im Auge ha- können. ben. Das Gesetz sieht deshalb vor, dass Leistungen nicht Wir werden in den kommenden Wochen mit der Re- beliebig, sondern nur bis auf das Unerlässliche gekürzt form der arbeitsmarktpolitischen Instrumente sicherstel- werden dürfen. Das bedeutet, das materielle Existenzmi- len, dass diese Instrumente in Zukunft gezielter und wir- nimum darf nicht angetastet werden. Einschränkungen kungsvoller zum Wohle der Arbeitsuchenden eingesetzt sind nur im Bereich des soziokulturellen Existenzmini- werden können. mums möglich. Dies steht aus meiner Sicht nicht im Wi- derspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vom 9. Februar 2010. Die Bundesrichter räumen einen der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11403

Pascal Kober (A) Doch zum Aspekt des Förderns gehört auch der Wir sollten nicht so tun, als würden die Jobcenter Sank- (C) Grundsatz des Forderns. tionen aus Jux und Tollerei verhängen. Das ist mit Si- cherheit nicht der Fall und wird den Mitarbeiterinnen (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) und Mitarbeitern in den Jobcentern nicht gerecht. Aus diesem Grund werden Eingliederungsvereinbarun- Was werden wir machen? Wir werden mit Sicherheit gen abgeschlossen. Darin enthalten sind genau die Maß- auf die Ausbildung und die Stärkung der Kompetenz der nahmen, die nach Ansicht des Jobcenters hilfreich für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern set- Arbeitsaufnahme sind. Ich finde, es ist nicht verwerflich, zen, gerade in der nahen Zukunft. Aber es wäre auch wenn wir im Rahmen der Eingliederungsvereinbarungen schon heute ungerecht, es diesen Personen gegenüber so den Menschen gegenüber Erwartungen formulieren, wie darzustellen, als würden sie Sanktionen aus Jux und Tol- zum Beispiel Terminen im Jobcenter nachzukommen, lerei aussprechen. eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen zu schreiben oder notwendige Fortbildungen zu besuchen. Natürlich (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das macht doch wäre es uns am liebsten, wenn keine Sanktionen ausge- niemand! Die haben Einsparvorgaben!) sprochen werden müssten, weil wir keine Probleme bei Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Soli- der Aktivierung hätten und die Menschen immer sehr ein- darität durch die Gesellschaft, aber dafür kann die Ge- fach einen Job finden würden. Es stellt sich aber die sellschaft auch eine Gegenleistung erwarten. Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wenn je- mand diese Hilfe bewusst oder vielleicht auch unbewusst Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nicht in Anspruch nimmt, aber dennoch die Unterstüt- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zung der Solidargemeinschaft erwartet. Der Antrag der Linken schlägt vor, in diesem Fall Vizepräsident Eduard Oswald: komplett darauf zu verzichten, Sanktionen auszuspre- Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Als Nächster chen. Doch was wäre die Folge eines solchen Verzichts? käme, wenn er die Rede nicht zu Protokoll gegeben Er würde sicherlich nicht mehr Menschen in Arbeit brin- hätte, der Kollege Markus Kurth von der Fraktion gen. Aussagen von Mitarbeitern der Jobcenter verdeutli- Bündnis 90/Die Grünen. Die Rede ist damit zu Protokoll chen uns, dass für viele Menschen, gerade für junge genommen. Menschen, solch eine Sanktion unter Umständen ein hilfreicher Schuss vor den Bug sein kann. (Heiterkeit – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Arbeitsverweigerung! Sanktionen!) Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung zwi- schen denjenigen, die sich bemühen – egal ob die Bemü- Jetzt ist – er steht schon da – der Kollege Paul (B) Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU aufgerufen. (D) hungen erfolgreich oder erfolglos sind –, und denjeni- gen, die keinerlei Anstrengungen unternehmen. Dies (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Pascal halte ich für ungerecht, und es trägt auch nicht zur Moti- Kober [FDP]: Ein sehr guter Mann!) vation der Arbeitsuchenden bei. Zudem müssen wir die Frage stellen, welche Akzep- Paul Lehrieder (CDU/CSU): tanz die Grundsicherung für Arbeitsuchende bei den Er- Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident Edi werbstätigen, also denjenigen, die die Grundsicherung Oswald, ich darf Ihnen an dieser Stelle – trotz vorge- durch ihre Arbeit finanzieren, hätte, wenn es keine Not- rückter Stunde – zu Ihrem noch heute aufgenommenen wendigkeit zur Eigeninitiative gäbe. und souverän ausgeübten Amt recht herzlich gratulieren und wünsche Ihnen viel Vergnügen an dem Amt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie zeichnen gerne ein Bild, das zeigen soll, dass so gut wie (Beifall) jeder Bezieher von Arbeitslosengeld II von Sanktionen betroffen wäre. Aber tatsächlich betrifft das nur einen Vizepräsident Eduard Oswald: ganz geringen Teil der Arbeitsuchenden. Laut einer Stu- Die Ovationen werden zu jeder Zeit entgegengenom- die des IAB betrug die Quote der tatsächlich mit Sank- men. Vielen Dank. tionen belegten Personen im Jahr 2010 nur 3,7 Prozent. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wo ist Paul Lehrieder (CDU/CSU): dann das Problem? – Katja Kipping [DIE Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin LINKE]: Ein Damoklesschwert!) Kipping hat vorhin in ihrer Rede hier ausgeführt, die Er- werbsarbeit gerechter zu verteilen sei Aufgabe staatli- Das zeigt, wie hoch die Motivation der Arbeitsuchenden chen Handelns. Von zehn Arbeitslosen bekommt nur ei- ist. Das zeigt auch, wie hoch die Kompetenz der Mitar- ner den Job, sagte sie. Das traurige Beispiel der beiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ist, wenn Schwangeren, die sich um jeden Job bemühen muss, es um die Unterstützung der Arbeitsuchenden geht. rührt einen direkt zu Tränen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Keinen Zynismus!) Ich kann Ihnen versichern, dass es den Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern in den Jobcentern sicherlich nicht Frau Kollegin Kipping, Sie wissen genauso gut wie ich, leichtfällt, in Einzelfällen Sanktionen auszusprechen. dass die Vermittlung nur in zumutbare Beschäftigungs- 11404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Paul Lehrieder (A) verhältnisse erfolgt. Das heißt, eine Hochschwangere würde zu schützen. Zunächst ist also vorrangig, dass das (C) wird kaum in eine körperlich anspruchsvolle Tätigkeit Erwerbseinkommen bzw. der Lebensunterhalt mit eige- vermittelt werden können. nen Mitteln gesichert wird. Erst dann können wir staatli- che Mittel, Mittel, die wir anderen Bürgern durch Steu- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber in alle zu- ern von ihrem Erwerbseinkommen weggenommen mutbaren! Auch in Großküchen!) haben, an die Bedürftigen ausreichen. Der Staat weist Arbeit nicht zu; der Staat bietet Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an. Wenn aber die Arbeit aus Gründen, die die Allge- neten der FDP) meinheit nicht tolerieren kann, nicht angenommen wird, dann gebietet es die Sachwalterstellung der Behörden für Liebe Frau Kipping, zu Ihrer wohlgefälligen Aufklä- die kargen öffentlichen Mittel, dass man sie effizient ein- rung: Unser Sozialstaatsprinzip ist keine Kuh, die im setzt. Das steht ausdrücklich im Urteil des Bundesver- Himmel frisst, aber auf Erden Milch geben kann. Das fassungsgerichts vom 9. Februar 2010. heißt, wir müssen das, was wir verteilen, irgendjeman- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem vorher abnehmen. Wir müssen es erwirtschaften. Wir können nur das ausgeben, was wir eingenommen Wir sind nicht diejenigen, die Arbeit verteilen. Sie ha- haben. Deshalb ist Sozialpolitik auch immer Wirt- ben gerade das Recht auf Arbeit angesprochen. Liebe schaftspolitik. Wir haben vorhin – da waren Sie leider, Frau Kollegin Kipping, aus Sozialromantik heraus wer- sicherlich wegen wichtiger Termine, verhindert – eine den Sie wahrscheinlich die DDR im Auge gehabt haben. wunderbare Debatte zum Arbeitnehmerüberlassungsge- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist eine Un- setz geführt. In dieser Debatte hat Ihre Kollegin terstellung!) Krellmann ausgeführt: Die Linkspartei ist gegen einen Mindestlohn in der Leiharbeit. – Das möchte ich in die- In der DDR hat es ein Recht auf Arbeit gegeben; es hat ser Debatte wiederholen, weil es eine ungeheuerliche aber auch eine Pflicht zur Arbeit gegeben. Sagen Sie mir Aussage ist. doch einmal, wie sich ein Bürger in der DDR hätte sank- tionslos durch das System mogeln können, wenn es eine (Widerspruch von der LINKEN) für ihn zumutbare Tätigkeit gab. Ich nehme das zur Kenntnis. Jetzt steht es zweimal im (Katja Kipping [DIE LINKE]: In dieser Frage Protokoll des Bundestages. Nehmen Sie das heute verteidige ich die DDR in keiner Weise!) Abend mit nach Hause. Freuen Sie sich: Die Linkspartei war heute gegen Mindestlohn. – Darüber freue ich mich. – Frau Kollegin Kipping, wir Danke schön. (B) leben im Hier und Heute. Im Urteil des Bundesverfas- (D) sungsgerichts wurde ausgeführt – ich darf mit Erlaubnis (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des geschätzten Herrn Präsidenten zitieren –: neten der FDP – Dr. Kirsten Tackmann [DIE Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungs- LINKE]: Nicht mal das haben Sie verstanden!) anspruch auf Gewährleistung eines menschenwür- digen Existenzminimums erstreckt sich nur auf Vizepräsident Eduard Oswald: diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich Birkwald das Wort. sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte nur ganz Hygiene und Gesundheit …, als auch die Sicherung kurz klarstellen, dass Sie vorhin wohl leider nicht richtig der Möglichkeit … zu einem Mindestmaß an Teil- zugehört haben, Herr Kollege. Wir haben gesagt, dass habe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi- wir für Equal Pay in der Leiharbeit eintreten, weil für schen Leben umfasst … uns das Prinzip gelten muss: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nur deshalb haben wir gesagt, dass in der Leihar- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha!) beit ein Mindestlohn nicht die Lösung ist. Wir wollen, Die Verfassung gebietet also nicht die Gewährung be- dass Arbeit gleich bezahlt wird. darfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistun- (Beifall bei der LINKEN) gen, so das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 2010. Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Vizepräsident Eduard Oswald: Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz greift nur dann, wenn andere Mittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Vielen Dank. – Herr Kollege Lehrieder, Sie stehen be- Existenzminimums nicht zur Verfügung stehen. Wenn reits. Das heißt, Sie wollen antworten? einem Menschen diese Mittel fehlen, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermö- Paul Lehrieder (CDU/CSU): gen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist Wenn ich darf, Herr Präsident, sehr gerne. – Lieber der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Kollege Birkwald, es gibt zwei Komponenten – das wis- Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatli- sen Sie so gut wie ich, auch aus unserer Diskussion im chen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die Menschen- Ausschuss –: die Verleihzeit und die verleihfreie Zeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11405

Paul Lehrieder (A) (Pascal Kober [FDP]: Aha!) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C) LINKE Wir wollen – anders als Ihre Partei – die Arbeitnehmer auch in der Nichtverleihzeit durch einen Mindestlohn in Solidarität mit den Demokratiebewegungen in der Leiharbeit schützen. Das haben wir gegen Ihren er- den arabischen Ländern – Beendigung der klärten Willen getan. Diejenigen, die die Arbeitnehmer deutschen Unterstützung von Diktatoren richtig schützen, sitzen auf dieser Seite des Hauses und – Drucksachen 17/4671, 17/5147 – nicht auf Ihrer. Berichterstattung: Danke schön. Abgeordnete Philipp Mißfelder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Günter Gloser neten der FDP – Zurufe von der SPD und der Marina Schuster LINKEN: Oh!) Sevim Dağdelen Kerstin Müller (Köln) Vizepräsident Eduard Oswald: ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Ich sehe keine weiteren Wünsche nach einer Kurzin- Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, tervention. Ich schließe die Aussprache. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5174 an die in der Tagesordnung aufge- Libyen-Krieg sofort beenden führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- – Drucksache 17/5173 – verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Das ist also der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. sowie Zusatzpunkt 10 auf: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst 13 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Kollege Dr. Rainer Stinner für die Fraktion der FDP. – CSU und FDP Bitte schön, Kollege Dr. Stinner. Die arabische Welt – Region im Aufbruch, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Partner im Wandel (B) – Drucksache 17/5193 – Dr. Rainer Stinner (FDP): (D) Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herren! Herr Präsident, auch ich freue mich, dass ich Dr. , Kerstin Müller (Köln), Ute heute, an Ihrem ersten Arbeitstag, unter Ihnen reden Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion darf. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nicht unter, sondern vor ihm! – Heiterkeit) Nordafrikas und des Nahen Ostens Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erfolg und freue mich – Drucksache 17/5192 – auf vergnügliche gemeinsame Stunden hier im Deut- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schen Bundestag. richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann zunächst zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, feststellen, dass wir uns im Deutschen Bundestag von Klaus Brandner, Dr.h.c.Gernot Erler, weiterer ganz links bis ganz rechts zur Überraschung vieler in der Abgeordneter und der Fraktion der SPD Öffentlichkeit völlig einig sind. Wir sind uns einig, dass Reformprozesse in Nordafrika und Nahost sich deutsche Soldaten nicht am militärischen Einsatz im umfassend fördern Libanon beteiligen sollen. (Günter Gloser [SPD]: In Libyen!) – Drucksachen 17/4849, 17/5146 – – Entschuldigung, in Libyen. Aber was den Libanon be- Berichterstattung: trifft, sind wir uns hoffentlich auch einig. Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) Günter Gloser (Günter Gloser [SPD]: Das ist ein anderes Ka- Marina Schuster pitel!) Sevim Dağdelen Kerstin Müller (Köln) Diese Einigkeit geht in der Öffentlichkeit weitestge- hend unter, weil sie von dem Streit darüber, wie wir zu d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dieser Entscheidung gekommen sind, überlagert wird. richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) Diese Einigkeit wird auch von einigen Mitgliedern die- zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim ses Hauses durchbrochen. Frau Wieczorek-Zeul zum Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, Beispiel hat sich anders geäußert. Da befindet sie sich in 11406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Rainer Stinner (A) guter Gesellschaft mit Peter Scholl-Latour. Die beiden, byen zu beteiligen – das ist bis heute nicht geschehen –, (C) das Traumpaar deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, andererseits aber bereit ist, Truppen in sein Nachbar- und Bruderland Bahrain zu schicken, um dort den Wi- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist wohl derstand und die Freiheitsbewegungen niederzuhalten wahr!) und eventuell niederzuknüppeln. Die arabische Welt sind in dieser Frage nämlich derselben Meinung. muss sich fragen lassen, auf welchem Weg sie eigentlich ist. (Günter Gloser [SPD]: Da könnte man aber auch andere Beispiele nennen!) Ich befürchte nach wie vor, dass, nachdem die Kam- pagne seit sechs Tagen läuft, zunehmend der Eindruck Man kann über den Weg zu dieser Entscheidungsfin- erweckt wird, es handele sich ein weiteres Mal um eine dung sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein. Die reine Aktion westlicher Staaten, die „natürlich“ nur ihre Bundesregierung hat sich entschlossen, sich im UN-Si- Ölinteressen vertreten und deshalb dort aktiv werden. cherheitsrat zu enthalten, weil sie nicht möchte, dass sich Ich fordere die arabische Welt daher von hier aus auf, ih- Deutschland militärisch beteiligt. Die Grünen sind ande- ren Beitrag zur Friedens- und Freiheitsbewegung in die- rer Meinung; das kann man so sagen. Ich glaube aber, sen Ländern zu leisten. liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat Ja gesagt und Es liegen zur heutigen Debatte Anträge von allen sich anschließend genauso verhalten hätte, wie Sie es ja Fraktionen vor. Ich möchte kurz auf diese Anträge ein- wollen – wenn sie also entschieden hätte, dass sich gehen. Ich bin doch sehr erstaunt, dass heute, am Deutschland nicht militärisch beteiligt –, würden wir 24. März dieses Jahres, sowohl von der Linkspartei als eine ähnliche Diskussion über die deutsche Beteiligung auch von der SPD Anträge vorliegen, die ich nur mit führen. Das kommt auf dasselbe heraus. dem Wort „antiquarisch“ bezeichnen kann. Wir stehen (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Paul heute, am 24. März 2011, unter dem Eindruck von Li- Lehrieder [CDU/CSU] – Hans-Christian Ströbele byen. Da kann doch die Linke nicht einen Antrag vom [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das 8. Februar 2011 einbringen, in dem der Rücktritt von stimmt nicht! – Zuruf von der FDP: Selbst Mubarak gefordert wird. Herr Ströbele hätte Ja gesagt!) (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – Meine Damen und Herren, es wird vielfach verges- Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist aber sen, dass die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates echt peinlich! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: aus mehreren Teilen besteht und dass in nur einem Teil Sie haben doch verhindert, dass der Antrag (B) von militärischen Maßnahmen die Rede ist, nämlich in vorher drankommt!) (D) den Absätzen 4, 5 und 6. Darüber hinaus sind in dieser Glauben Sie wirklich, dass wir Sie dabei ernst neh- Resolution weitere Maßnahmen beschrieben, an denen men? Wir haben unseren Antrag an die aktuelle Situa- sich die Bundesregierung natürlich außerordentlich tion angepasst und ihn gestern eingebracht. Die Grünen gerne beteiligt, zum Beispiel an Boykotten, Sanktionen haben das genauso getan. Doch auch die SPD ist nicht etc. viel besser dran als die Linkspartei: Ihr Antrag ist vom (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE 22. Februar 2011. Es steht viel Richtiges und Gutes da- GRÜNEN]: Und an Waffenlieferungen!) rin; das will ich gar nicht bestreiten. Aber auch Sie sind in Ihrem Antrag nicht auf die Situation in Libyen einge- Leider erleben wir in diesen Tagen, dass sich in ande- gangen. ren Ländern ähnliche Szenen abzuspielen beginnen, wie wir sie auch in Libyen beobachten können. In meiner Wir werden die Anträge ablehnen, weil wir einen um- letzten Rede habe ich auf die Situation in Bahrain hinge- fassenden und, wie ich finde, abgewogenen Antrag vor- wiesen. Heute erleben wir dramatische Zustände in Sy- gelegt haben, der mit der zugegebenermaßen schwieri- rien. Ich möchte all diejenigen in diesem Hause und gen Positionierung Deutschlands – das will ich gar nicht draußen im Lande, die der Meinung sind, man solle bestreiten – sauber und ehrlich umgeht. Ich glaube, dass diese Situation mal eben mit Militär bereinigen, fragen: es richtig ist, diesen Antrag heute im Deutschen Bundes- Sind Sie der Meinung, dass der Einsatz militärischer tag zu verabschieden. Auf diese Weise können wir ge- Mittel auch in Syrien richtig wäre, wenn sich die Ent- meinsam einen Beitrag leisten, um die schwierige Situa- wicklung dort, was wir nicht hoffen, fortsetzen sollte? tion in der arabischen Welt einer Besserung zuzuführen. Ich glaube, wenn wir das zu Ende denken, kommen wir Ich habe die Hoffnung, dass es in einigen Ländern bald zu der Überzeugung, dass dieses Vorgehen insgesamt aufwärts geht – das kann Tunesien oder Ägypten sein – sehr fragwürdig ist. und dass der Diktator Gaddafi bald abdankt und seine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Untaten nicht weiter treiben kann. Ich hoffe, dass nicht der CDU/CSU) noch weitere Länder mit kriegerischen Auseinanderset- zungen überzogen werden. Das ist unsere Hoffnung. Un- Allerdings stehen wir vor dem Hauptproblem, dass ser Beitrag, den wir leisten können, umfasst Entwick- die arabische Welt, um die es primär geht, nach wie vor lungshilfe und Zusammenarbeit. Das wollen wir gerne ein völlig konfuses Bild abgibt; das muss ich so deutlich tun. Wir wollen das Mögliche beitragen, damit sich die sagen. Der Widerspruch besteht darin, dass Katar auf der Situation in dieser Region verbessert und sie pazifiziert einen Seite angekündigt hat, sich an der Aktion in Li- wird. Wir wollen einen Beitrag zur Stabilisierung der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11407

Dr. Rainer Stinner (A) Region leisten. Das ist Aufgabe Deutschlands und Euro- grafiekenntnisse haben wir auch noch. Aber das eine (C) pas. Dieser Aufgabe wollen wir gerne nachkommen. schließt das andere nicht aus. Vielen Dank. Ich denke, die Welt schüttelt teilweise den Kopf über Deutschland, genauer gesagt über den Außenminister (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und die Kanzlerin. Denn der Außenminister hat vor we- nigen Wochen – da hat er auch die Unterstützung dieses Vizepräsident Eduard Oswald: Hauses gefunden – noch gesagt: Wir wollen den ersten Vielen Dank, Kollege Dr. Rainer Stinner. – Jetzt unser Schritt gehen. – Das ist auch passiert. Kollege Günter Gloser für die Fraktion der Sozialdemo- kraten. Aber was ist dann eigentlich passiert? Nichts ist pas- siert. Er hat nur gesagt: Ich bin beeindruckt und entsetzt (Beifall bei der SPD) aufgrund der schrecklichen Bilder aus Tripolis und ganz Libyen. Jetzt müssen wir kluge Antworten finden. Günter Gloser (SPD): Gaddafi muss weg. – Wo bleiben die klugen Antworten? Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich natürlich Wie soll er weggehen? Nicht einmal in dem Mandat der auch, dass ich vor einem schwäbischen Präsidenten ste- Vereinten Nationen ist ein Regimewechsel vorgesehen. hen darf. Ich sage es noch einmal: Das ist ein sehr starker Schlin- gerkurs. Eine Sinuskurve ist dagegen geradlinig.

Vizepräsident Eduard Oswald: Einige Worte auch zu Syrien. Die Nachrichten, die Bayerisch-schwäbisch! uns heute von dort erreichen, sind erschütternd. Es ist von zahlreichen Toten die Rede; die Angaben schwan- ken zwischen 37 und 100. Das ist sehr betrüblich. Ich Günter Gloser (SPD): kann nur auch von dieser Stelle aus die Verurteilung Bayerisch-schwäbisch. – Liebe Kolleginnen und Kol- noch einmal wiederholen und an das syrische Regime legen! Wir reden heute zu später Stunde über die Lage appellieren, sich mit den legitimen Forderungen der Be- im Norden Afrikas und im Nahen Osten. Nach zunächst völkerung nach demokratischen Reformen, der Wahrung hoffnungsvollen Entwicklungen in Tunesien und in der Menschenrechte und Meinungsfreiheit in angemes- Ägypten bedrücken uns gegenwärtig der blutige Bürger- sener Weise auseinanderzusetzen und die Anwendung krieg, aber auch das menschenverachtende Vorgehen roher Waffengewalt sofort einzustellen. Die syrische Gaddafis und seiner Anhänger gegen die Freiheitsbewe- Führung sollte sich an den positiven und nicht an den ne- gung in Libyen umso mehr. Auch wenn es zu später gativen Beispielen der jüngsten Zeit dafür, wie man ei- (B) Stunde ist: Ich finde es gut, dass wir darüber debattieren. nen Umbruch organisieren und was man zulassen kann, (D) Lieber Herr Kollege Stinner, auch wenn es spät ist, hätte orientieren. ich mir gewünscht, dass Sie in der Lage gewesen wären, in Ihren Aussagen etwas zu differenzieren. Es gibt aber auch positive Entwicklungen in der Re- gion. So ist das Referendum in Ägypten ein Hoffnungs- (Beifall bei der SPD) zeichen für Demokratie. Natürlich gibt es hier auch noch Nicht nur die Lage in Libyen bedrückt uns. Auch das viele Gefahren. Eine Gefahr besteht darin, dass alte Eli- Verhalten der Bundesregierung in der Weltgemeinschaft ten noch immer so fest im Sattel sitzen, dass sie am Ende zur Libyen-Frage ist deprimierend und lässt leider nicht auch im neuen System die Oberhand behalten. Dadurch den Rückschluss zu, es sei vom Ende her gedacht, so wie würden die friedlichen Revolutionäre vom Tahrir-Platz es der Bundesaußenminister heute in einem Zeitungsbei- um die Früchte ihres mutigen Einsatzes betrogen. Das trag zu suggerieren versucht hat. Ich will jetzt gar nicht darf nicht passieren. Deshalb müssen wir auf einen so sehr auf die neutrale Position im Sicherheitsrat der Wahltermin in angemessener Frist, auf die sofortige Vereinten Nationen abheben. Ich gebe Ihnen völlig Freilassung aller politischen Gefangenen und auf die in- Recht: Es ist das Recht jedes Abgeordneten und jeder ternational überprüfbare Einhaltung der Menschenrechte Abgeordneten, eine eigene Position zu finden. Es han- drängen. delt sich hierbei um eine schwierige Frage. Aber wo Nach Jahrzehnten des Ausnahmezustandes sind das bleibt gegenwärtig eigentlich die politische Initiative der keine kleinen Schritte; es sind gewaltige Änderungen, Bundesregierung zur Deeskalation der Situation? Man die noch dazu von den Militärs angestoßen werden müs- kann doch wirklich niemandem mehr erklären, weshalb sen, die ja jetzt die Macht haben. Ohne den anhaltenden sich die Bundesmarine bei Vorliegen eines Mandates der Druck der ägyptischen Öffentlichkeit und ohne den ent- Vereinten Nationen nicht an der Unterbindung von Waf- scheidenden Einsatz der internationalen Partner Ägyp- fenlieferungen an Gaddafi im Mittelmeer beteiligen soll. tens wird das nicht funktionieren. Dabei wurde das doch seit Wochen von Außenminister Westerwelle gefordert: Embargos, Embargos, Embargos. In Tunesien wurde die Freiheit gewonnen und der Jetzt aber hält man sich zurück. Ich verstehe das nicht. Diktator gestürzt. Das Land steht aber vor ähnlichen Das hat alles nichts damit zu tun, dass man vom Ende Problemen, wie uns eine Delegation der Schwesterpartei her denkt. Wer das tut, der muss dringend die Waffenzu- der SPD in diesen Tagen bei ihrem Besuch erläutert hat: fuhr in diesem Konflikt unterbinden. Man kann auch Eine junge Bevölkerung, die im Gegensatz zur Bevölke- nicht einfach sagen: Es gibt aber noch eine andere rung in manchem Nachbarland mehrheitlich sogar her- Grenze, die zum afrikanischen Kontinent. – So viel Geo- vorragend ausgebildet ist, sucht nicht nur nach Freiheit 11408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Günter Gloser (A) und Würde, sondern auch nach einer beruflichen und so- Wir dürfen jetzt den alten Fehler nicht wiederholen, (C) zialen Perspektive. Demokratie nur im Norden Afrikas zu fördern und in an- deren arabischen Ländern nur auf Sicherheit und ver- Freiheitsdividende heißt für diese Menschen, dass sie meintliche Stabilität durch die gegenwärtigen Regierun- an einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung teilha- gen zu setzen. Wir werden hier neue Konzepte brauchen, ben können. Dafür müssen die richtigen Reformen einge- und wir werden sie – das sage ich in aller Klarheit – leitet werden. Dafür muss aber auch die Europäische nicht im Rahmen der bisherigen Haushaltsansätze um- Union die richtigen Schritte tun. Die Festung Europa – in setzen können. Anführungszeichen – muss für Waren – auch für Agrar- erzeugnisse – und in begrenztem Ausmaß auch für Ar- Im Antrag der Koalition zur heutigen Debatte heißt es beitskräfte geöffnet werden. auf der fünften Seite: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Bundestag begrüßt ausdrücklich die führende DIE GRÜNEN) Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen Eine wirkliche Mobilitätspartnerschaft mit Ländern wie Wochen gespielt hat. Tunesien ist auch in unserem Interesse; denn ich denke, Ich schlage Ihnen vor, den Text der Regierungsfraktio- wenn Fachkräfte aus Tunesien für einige Jahre in nen folgendermaßen zu ändern: Der Deutsche Bundestag Deutschland arbeiten und danach bei der Existenzgrün- hätte es begrüßt, wenn die Bundesregierung eine füh- dung im eigenen Land unterstützt werden, dann kommt rende Rolle gespielt hätte. das auch der deutschen Wirtschaft zugute. Ich will in diesem Zusammenhang Algerien und Ma- Vielen Dank. rokko aber nicht vergessen. Angesichts der wirtschaftli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Entwicklung hat Algerien schon länger die Chance DIE GRÜNEN) gehabt, die Erlöse aus dem Öl- und Gasgeschäft endlich für die wirtschaftliche Entwicklung und für die politi- sche und soziale Teilhabe einzusetzen. Dies wäre im In- Vizepräsident Eduard Oswald: teresse der vielen jungen Menschen, aber auch der Zu- Vielen Dank, Kollege Günter Gloser für die Fraktion kunft des Landes. der Sozialdemokraten. Positiv ist zu vermerken, dass König Mohammed VI. Der Nächste auf meiner Rednerliste ist unser Kollege weitere Reformen in Marokko angekündigt hat, dem Joachim Hörster für die Fraktion der CDU/CSU. Parlament und der Regierung mehr Rechte zukommen (B) lassen möchte und dem Menschenrechtsrat Unabhängig- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) keit garantiert. Dabei darf es aber nicht bleiben. Der Ab- bau der sozialen Ungleichheiten im Lande muss drin- Joachim Hörster (CDU/CSU): gend forciert werden. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschlie- mit der Erwartung in diese Debatte gegangen, dass es ßend einige Sätze zu den vorliegenden Anträgen: uns um die Frage geht, wie wir mithelfen und mitsteuern können, dass die Umwälzungen, die sich in dem einen In fast allen Reden und Antragstexten ist zu verneh- oder anderen arabischen Land andeuten, befördert wer- men, dass sich Europa eine historische Chance bietet, den und in die richtige Richtung laufen. Das Verjagen Demokratie und Freiheit in der arabischen Welt zu unter- des Autokraten ist das eine; das Installieren einer demo- stützen. Fast nie wird aber der notwendige Schluss da- kratischen Ordnung ist das andere. raus gezogen, dass unsere Reaktion auf diese Chance nicht kleinteilig und leisetreterisch sein darf, sondern Noch kann man nicht erkennen, dass in einem einzi- dass sie klar und deutlich sein muss. gen der Staaten, in denen gegenwärtig Auflehnung ge- gen die Regierungen und die Machthaber stattfindet, Mit einer Fortschreibung der bisher schon betriebe- Positionen bezogen würden, die mit unseren demokrati- nen europäischen Nachbarschaftspolitik unter den strik- schen Grundsätzen übereinstimmen. Deswegen ist es, ten Vorgaben durch den bisherigen Finanzrahmen allein glaube ich, wichtig, dass wir uns von vornherein darüber werden wir der Situation der Region jedenfalls nicht ge- im Klaren sind, dass wir nicht global von einer arabi- recht. Insofern sind auch die insgesamt guten Vorschläge schen Welt oder von Nordafrika sprechen können, Kol- der Europäischen Kommission und die Beschlüsse des lege Gloser, weil die Staaten Nordafrikas weder in der Europäischen Rates zur Mittelmeerpolitik nicht ausrei- Vergangenheit in der Lage waren noch in der Zukunft in chend. der Lage zu sein scheinen, die Arabische Maghreb- Denn es geht nicht nur um ein bisschen mehr Kondi- Union tatsächlich mit Leben zu füllen und sich wechsel- tionierung von Hilfeleistungen. Es muss um einen wirk- seitig zu stützen. Die Staaten Nordafrikas könnten ganz lichen Pakt für Demokratie und Entwicklung im Mittel- alleine über alle Mittel verfügen, um ihr Land aufzu- meerraum gehen. Das große Wort Marshallplan habe ich bauen, ihrer Jugend eine Ausbildung zu gewähren und selbst in diesem Zusammenhang benutzt. Auch wenn Arbeitsplätze für sie mitzufinanzieren. Wir müssen da- historische Vergleiche gelegentlich hinken, stehe ich zu rauf achten, dass auch in der arabischen Welt eine Per- diesem Wort; denn es zeigt die Dimension dieser Auf- spektive in den Ländern selbst entsteht, die dieses wol- gabe. len. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11409

Joachim Hörster (A) Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Deutschen – weil Sie, Herr Kollege Gloser, eben Syrien angespro- (C) Bundestag, Herr Kollege Gloser. Ich war damals Vorsit- chen haben – auch daran erinnern, dass Syrien das erste zender der deutsch-arabischen Parlamentariergruppe; arabische Land war, das auf den Besitz von Massenver- Sie waren Vorsitzender der deutsch-maghrebinischen nichtungswaffen verzichtet hat, um an dem Barcelona- Parlamentariergruppe, und der Kollege Ernst Hinsken Prozess teilnehmen zu können. Es gibt also verschiedene war Vorsitzender der deutsch-ägyptischen Parlamen- Optionen. tariergruppe. Die „Tage der Arabischen Welt“ fanden vom 1. bis 3. Dezember 2004 statt und waren eine ein- Der Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin malige Angelegenheit. So etwas hat es weder davor noch haben recht, wenn sie sagen, dass die arabischen Länder danach in vergleichbarer Weise gegeben. Wir hatten über – die Bevölkerungen in den arabischen Ländern – selbst 180 Gäste aus 18 arabischen Ländern, die wir zum Teil definieren müssen, was sie wollen. Das wird nicht von selbst ausgesucht haben. Die Hierarchien standen nicht heute auf morgen gehen; das braucht Zeit. im Vordergrund. Amru Mussa war unter den Rednern. Eine der Klagen, die zum Beispiel gegen den Reform- Der frühere Bundeskanzler Schröder hat teilgenommen, prozess und die Verfassungsänderungen in Ägypten vor- und Bundestagspräsident Thierse hat die Veranstaltung gebracht werden, ist die, dass es nur zwei Organisatio- mit eröffnet. Wir haben damals als Bundestag insgesamt nen gibt, die in der Lage sind, innerhalb so kurzer versucht, losgelöst von unseren politischen Positionen Fristen Parteistrukturen aufzubauen und sich Wahlen zu einen einheitlichen Einfluss auf die arabischen Länder stellen. Die eine ist die frühere Regierungspartei, die an- auszuüben und deutlich zu machen, wie man vorgehen dere sind die Muslimbrüder. Alle anderen aus dem bür- könnte. gerlichen, zivilen Bereich haben keine echten Chancen. Vielleicht wäre die jetzige Situation geeignet, dass Das sind Dinge, über die wir nachdenken müssen. wir als Deutscher Bundestag an die neuen Kräfte in den Das Anstreben der Demokratie und freier Wahlen ist betreffenden Ländern herantreten und mit ihnen darüber richtig. Wir sollten diese Bestrebungen überall unterstüt- diskutieren, was sie vorhaben und welche Ziele sie ver- zen. Aber wir sollten bei der Unterstützung von freien folgen. Wahlen darauf achten, dass Gruppierungen gewählt wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den, die auch bereit sind, wieder von der Macht zu las- neten der FDP) sen, falls die Mehrheiten einmal anders ausfallen. Jede neue Verfassung, die jetzt entsteht, muss auch ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mal daraufhin geprüft werden, ob damit auch das, was wir unter Demokratie verstehen, zustande kommt. Wir Wenn diese Selbstverständlichkeit implementiert werden (B) Europäer neigen dazu, immer gleich Schuldbekenntnisse kann, dann haben wir den Wechsel erreicht. (D) abzugeben, wenn es darum geht, wie wir mit unseren Vielen Dank. Nachbarn umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Barcelona-Prozess aus dem Jahre 1995 war aller- dings ein genialer Vorgang. Im Barcelona-Prozess waren drei Körbe vorgesehen: eine Kooperation im Bereich der Vizepräsident Eduard Oswald: Sicherheit, eine Kooperation im Bereich des Handels Vielen Dank, Kollege Joachim Hörster. und der Ausbau der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesell- Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kolle- schaft ist genau der Bereich, in dem die politischen Par- gin Sevim Dağdelen. teien und die Nichtregierungsorganisationen auftreten und in dem die Wissenschaft und die Medien frei agieren (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth können. In einer ganzen Reihe von Ländern ist auch Po- [Kyffhäuser] [FDP]: Sprechen Sie mal über sitives geschehen. Die Entwicklung in Tunesien wäre Mubarak! Was gibt’s Neues über Mubarak?) ohne den Barcelona-Prozess nicht vorstellbar gewesen; denn der Barcelona-Prozess hat dazu geführt, dass die Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Analphabetenrate in Tunesien außerordentlich gering ist, dass der Mittelstand größer ist als in jedem anderen ara- Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- bischen Land und dass eine sehr starke Vernetzung mit men und Herren! Auf die Frage, ob die deutschen Waf- Europa – auch in Form persönlicher Kontakte – vorhan- fenlieferungen an Libyen, also an Ihren Gaddafi, nicht den war. falsch gewesen wären, besaß der Vorsitzende der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, gestern im Auch wenn man es jetzt Mittelmeerunion oder wie deutschen Fernsehen die Dreistigkeit, zu antworten: auch immer nennt, sollte man dieses Modell nicht ein- fach zu den Akten legen, weil es uns ermöglicht hat, mit Ja, es ist immer ein Fehler, in solche Systeme Waf- unseren Nachbarn in der arabischen Welt in organisierter fen zu liefern. Weise zu kooperieren. Hier im Deutschen Bundestag findet man in Ihrem An- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- trag kein Wort dazu. Deshalb nehmen wir der Koalition neten der FDP) ihre plötzliche Unterstützung für die Demokratiebewe- gungen in der arabischen Welt nicht ab. Dass der Palästina-Konflikt die Sache am Ende zum Erliegen gebracht hat, ist sehr bedauerlich. Ich will aber (Beifall bei der LINKEN) 11410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) Während wir hier debattieren, werden Menschen in Grüne haben einen Stillhaltepakt mit den Monarchodik- (C) der arabischen Welt ermordet. Die Diktatoren benutzen taturen in der arabischen Welt. deutsche Waffen, die unter Ihrer Regierung und unter (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Müller Schwarz-Rot, aber auch schon unter Rot-Grün geliefert [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wurden. Nun versuchen Sie, die Öffentlichkeit massiv zu waren immer schon für Monarchie!) täuschen und die Wirklichkeit zu verbiegen. Doch ge- nauso wie bei Ihrem Atommoratorium: Dieses Tricksen, Ist es Ihnen mit Jugoslawien, mit Ihrer indirekten Betei- Tarnen und Täuschen wird nicht aufgehen. ligung am Krieg gegen den Irak, mit dem nunmehr neun Jahre dauernden Afghanistan-Krieg nicht genug? Wie (Beifall bei der LINKEN) viele Tote muss es noch geben? Sagen Sie endlich ein- mal Nein zu einem Krieg, nur ein einziges Mal, bitte Sie liefern weiter Waffen in Länder, wo Parteien ver- schön! boten sind, wo von Opposition, Koalitions-, Versamm- lungs- und Meinungsfreiheit keine Rede sein kann, wo (Beifall bei der LINKEN – Gitta Connemann Tausende Menschen ohne Anklage in Haft sind und ge- [CDU/CSU]: Sie machen sich einfach lächer- foltert werden, wo Frauenrechte mit Füßen getreten wer- lich!) den, wo Demonstrationen mit tödlicher Gewalt aufgelöst Leider hat die Linke auch hier ein Alleinstellungs- werden, und all das mit Ihrer Hilfe und Unterstützung. merkmal. Sie ist die einzige Partei im Deutschen Bun- Wozu all die Waffen dienen, die allein 2009 an Bahrain, destag, die für eine friedliche Außenpolitik streitet. Sie Katar, Oman, Saudi-Arabien, die Emirate und den Irak, ist die einzige Partei, die keine Waffen an Diktatoren lie- aber auch an Syrien, Marokko, Libyen, Kuwait, Jorda- fern will. Sie ist die einzige Partei, für die Krieg kein nien, Algerien und Tunesien im Wert von fast 1 Mil- Mittel der Politik ist, sondern die gravierendste Men- liarde Euro geliefert wurden, war stets klar: zur Kon- schenrechtsverletzung. trolle und Unterdrückung der Bevölkerung. Ich sage es noch einmal: Wenn Sie die Demokratiebe- (Lachen bei Abgeordneten der FDP) wegungen in der arabischen Welt unterstützen wollen, dann bedarf es einer radikalen Wende. Eine Wende kön- – Da lachen Sie! Ich finde das ganz schön zynisch. – Mit nen Sie erreichen, wenn Deutschland autoritären Regi- diesen Waffen, deutschem Tränengas, deutschen Wasser- men keine Waffen mehr liefert, mit denen diese Regime werfern und Ihrer Ausbildungs- und Ausstattungshilfe ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger ermorden. für Polizei und Militär dieser Regime werden nun die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern blu- (Beifall bei der LINKEN) tig niedergeschlagen. Solange Sie das tun, sind Sie voll- Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, mit dem wir (B) (D) kommen unglaubwürdig. uns mit den Menschen in der arabischen Welt solidari- (Beifall bei der LINKEN) sieren und die Unterstützung der autoritären Regime be- enden wollen. In den Anträgen der Koalition wie der SPD findet (Beifall bei der LINKEN) sich konsequenterweise kein einziges Wort dazu. Man muss deshalb schlussfolgern: Es geht Ihnen um ein Wei- ter-so. Sie wollen die Demokratie in den arabischen Län- Vizepräsident Eduard Oswald: dern nicht fördern. Sie wollen hingegen die Diktaturen Als Nächste hat unsere Kollegin Kerstin Müller für dort weiterhin stützen. Erst als Ben Ali und Mubarak fie- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. len, stoppten Sie Ihre Rüstungsexporte. Die Parteien Ben Alis und Mubaraks hatten bis zuletzt Platz an der Seite Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der SPD in der Sozialistischen Internationalen. Ange- Die Grünen sollen die einzige monarchistische Partei sichts dieses fortgesetzten Desasters sagt die Linke: Be- Deutschlands sein? Das hat uns noch niemand vorge- enden Sie endlich Ihre Unterstützung von Diktatoren! worfen. Sie dürfen sich nicht weiter zum Erfüllungsgehilfen der (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deutschen Rüstungslobby machen. Der Bundestag muss NEN) endlich die Außenpolitik wieder selbst in die Hand neh- men. Ich kann das leider nicht ernst nehmen, Frau Dağdelen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind seit drei Monaten Zeugen von Veränderungen in der Noch ein Wort an die Grünen. In Ihrem Antrag wird arabischen Welt, die so niemand vorhergesehen hat und die Bombardierung Libyens regelrecht begrüßt. Sie fei- mit denen so kaum jemand gerechnet hat. Es ist sehr be- ern sogar die Zusage der Teilnahme der beiden monar- dauerlich, dass die Europäer nicht gemeinsam und multi- chistischen Diktaturen Katar und Vereinigte Arabische lateral auf diese großen Herausforderungen reagieren, Emirate an den Luftangriffen auf Libyen. Das ist einfach sondern dass bei ihnen leider nationale Alleingänge das skandalös. Bild bestimmen. (Beifall bei der LINKEN) Damit meine ich nicht nur Libyen; wir haben auch an- dere Fehler der EU und der Außenbeauftragten erlebt. Man findet im Forderungsteil Ihres Antrages kein einzi- Wenn das so bleibt, dann wird das – davon bin ich über- ges Wort zu Saudi-Arabien. Man möchte fast meinen: zeugt – langfristig verheerende Konsequenzen haben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11411

Kerstin Müller (Köln) (A) Daher ist es zunächst einmal absolut erforderlich, dass Natürlich hat man eine schwierige Abwägung zu tref- (C) Europa zu einer gemeinsamen Politik gegenüber den fen. Außer bei der Fraktion Die Linke sind in allen Frak- Ländern der arabischen Welt findet. Sonst wird unser tionen Abwägungen vorgenommen worden. politischer Einfluss in der Zukunft gegen null gehen, und die Menschen werden sich von Europa abwenden, weil (Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE sie sich im Stich gelassen fühlen. LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Sie haben gerade gesagt, dass Sie keine schwierigen Abwägungen treffen, weil Sie sowieso wissen, wie Sie Die erste Konsequenz muss sein, dass wir mit der abstimmen werden. – In den anderen Fraktionen ist das Politik der doppelten Standards in der deutschen und eu- anders gewesen. Die meisten treffen ihre Entscheidung ropäischen Außenpolitik Schluss machen. Das heißt, nach schwierigen Abwägungen. Es besteht ein Eskala- dass wir Bilanz ziehen und klar sagen, dass es falsch war, auf Stabilität durch Despoten zu setzen, anstatt De- tionsrisiko, und es gibt keine chirurgischen Eingriffe. mokratie und Menschenrechte zu fördern. Das war ein Natürlich ist auch die Durchsetzung der Flugverbotszone Irrweg. Das heißt auch – das sage ich sehr deutlich –, eine militärische Intervention, und es ist bitter: Wenn das dass Rüstungsexporte in solche Länder künftig unter- Militär eingreift, dann hat die Politik bereits versagt. bleiben müssen. Jahrelang hat die Politik, auch Frankreich, Gaddafi ho- fiert, Libyen aufgerüstet und sich einen Terroristen he- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rangezogen. Dennoch kommen viele in meiner Fraktion bei dieser Abwägung zu dem Schluss: Ohne den Be- Europa darf – auch das muss auf den Prüfstand – schluss des Sicherheitsrates und das schnelle Eingreifen keine Budgethilfe mehr leisten, ohne sie an die Umset- zung von demokratischen und rechtsstaatlichen Refor- wären Tausende in Bengasi und Misurata schon tot. Des- men zu knüpfen. Wir brauchen darüber in Europa und halb ist der Sicherheitsratsbeschluss, die Resolution auch in der Kommission endlich eine Debatte. 1973, konsequent und richtig. Er war notwendig und richtig, und er ist ein Ausdruck der Responsibility to (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Da ist Deutschland protect, zu der sich die gesamte internationale Gemein- Vorbild!) schaft verpflichtet hat. Ich teile die Ansicht von Herrn Gloser, dass wir un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sere Märkte für Produkte aus der Region öffnen müssen. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie Das ist absolut wichtig; denn die jungen Menschen sind doch mal etwas zu Katar oder zu Saudi-Ara- nicht nur für politische Rechte auf die Straße gegangen, bien!) sondern auch für ökonomische Perspektiven, aus sozial- (B) ökonomischen Gründen. Deshalb ist es absolut wichtig, Selbst wenn bei dieser Abwägung die Risiken über- (D) wie sich Europa in dieser Hinsicht verhalten wird. wiegen, hätte man im Sicherheitsrat mit Ja stimmen und Schließlich muss die Mittelmeerunion endlich be- erklären können, dass man nicht bereit ist, alle Maßnah- erdigt werden. Herr Hörster, Sie sprachen von der Mit- men mitzutragen. Ich finde es nicht einsichtig, dass man telmeerunion und dem Barcelona-Prozess. Wir stimmen jetzt zur eigenen politischen Entlastung AWACS-Flug- dem zu, was im Koalitionsantrag steht. Es muss darum zeuge im Luftraum von Afghanistan zur Verfügung gehen, die von Sarkozy initiierte Mittelmeerunion zu be- stellt. Das ist ein schlechter Deal. Herr Stinner, Sie ha- erdigen und die europäische Nachbarschaftspolitik zu ben gesagt, man wolle sich an allen anderen Maßnahmen überarbeiten und auszuweiten. der Resoultion beteiligen. Warum beteiligt man sich zum Beispiel nicht an der Durchsetzung des Waffenembar- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gos? SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich fand die Vorschläge des Außenministers gar nicht sowie des Abg. Günter Gloser [SPD]) so schlecht. Ich habe nur die Befürchtung, dass nach dem diplomatischen Desaster in der Libyen-Frage un- Ich finde schwer verständlich, warum wir hier nicht die sere Durchschlagskraft in Europa nicht mehr sehr groß Anfrage der Bundesregierung bekommen, ob wir uns an sein wird. Warum sollten Frankreich oder andere Süd- der maritimen Absicherung des Waffenembargos beteili- länder unseren Vorschlägen folgen, nachdem wir einen gen, und dass wir stattdessen morgen im Eilverfahren nationalen Alleingang gemacht haben? Ich glaube, das über Afghanistan reden, obwohl es keine Eilbedürftig- Vorgehen Deutschlands hat Europa in dieser extrem keit in dieser Sache gibt. wichtigen Frage gespalten und unsere Glaubwürdigkeit bei der UNO beschädigt. Ich glaube, im Ergebnis war das eine schwerwiegende Fehlentscheidung der deutschen Diplomatie, an der wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leider noch lange zu knabbern haben werden und die sowie bei Abgeordneten der SPD) auch Auswirkungen auf unser Standing in der arabischen Welt haben wird. Darunter werden wir noch lange leiden; davon bin ich überzeugt. Man kann bezüglich der Motive und des Vielen Dank. Vorgehens von Sarkozy Zweifel haben, aber er ist jetzt erst einmal gestärkt. Wir wurden leider auch noch von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gaddafi gelobt; das ist einfach eine Katastrophe. und bei der SPD) 11412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: rade in diesen Staaten im übrigen Nahen Osten mit (C) Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Thomas Silberhorn für die Fraktion CDU/CSU das Wort. Es ist bemerkenswert, welche weitreichenden Verän- Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn. derungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben. Man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kann diese Entwicklung auch als eine schrittweise Eska- lation lesen. Während in Tunesien der Umsturz noch weitgehend friedlich verlaufen ist und es in Ägypten nur Thomas Silberhorn (CDU/CSU): kurze Zeit zu gewaltsamen Übergriffen kam, mobilisiert Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Edi, in Libyen das Regime Gaddafi jetzt alle Kräfte und führt (Heiterkeit bei der CDU/CSU) nachgerade einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Die größte Gefahr für den arabischen Aufstand ist, dass zu dieser späten Stunde vor nahezu leeren Zuschauerrän- Machthaber die Augen vor der Realität verschließen, gen zu reden, nicht erkennen, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und mit ro- ( [CDU/CSU]: Aber vollem her Gewalt um sich schlagen. Deshalb ist es notwendig, Saal! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Aber dass die internationale Gemeinschaft unzweideutig zum wir sind bei dir!) Ausdruck bringt, dass sie das nicht toleriert und dass Re- gime, die gegen die eigene Bevölkerung Gewalt anwen- zählt nicht gerade zu meinen liebsten Vergnügungen, den, ihre Legitimation verlieren. aber erstmals unter deiner Präsidentschaft vortragen zu dürfen, beflügelt mich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der doch mal was zu Saudi-Arabien!) CDU/CSU und der FDP) Welchen Beitrag können wir für das Gelingen der Neuordnung in Nordafrika und im Nahen Osten leisten? Vizepräsident Eduard Oswald: Militärische Mittel dürfen nur bei schwersten Menschen- Wir warten die Rede mal ab. rechtsverletzungen oder Völkermord in Betracht kom- men. Wo sie eingesetzt werden, muss die Gefahr einer (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Eskalation eingedämmt werden. Wer sich militärisch en- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gagiert, muss sich klar darüber sein, was das politische SPD) Ziel ist und wie der Einsatz beendet werden soll. Deswe- gen war es mit Blick auf Libyen richtig, dass Deutsch- (B) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): land die politischen Ziele der UN-Resolution 1973 un- (D) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Tune- terstützt, aber sich nicht an Militäraktionen beteiligt. sien und Ägypten steht nun Libyen im Zentrum eines epochalen Wandels, der sich derzeit im Nahen Osten und Wir haben bei Sanktionen eine internationale Füh- in Nordafrika vollzieht. Die Sehnsucht der überwiegend rungsrolle gespielt. Die Vereinten Nationen und die Eu- jungen Bevölkerungen nach Freiheit, nach politischer ropäische Union gehen gezielt gegen Personen und Insti- Teilhabe ist unwiderruflich geweckt. Die Veränderun- tutionen vor. Es entfaltet Wirkung, den Zugang zu gen, deren Zeugen wir derzeit sind, können das Tor zu Finanzquellen abzuschneiden und zu verhindern, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenrech- international platzierte gewaltige Vermögen von den je- ten und individueller Freiheit öffnen. weiligen Machthabern dazu genutzt werden, Angriffe gegen die eigene Bevölkerung zu finanzieren. Der Wandel wird sich aber nicht automatisch und Die Europäische Union hat gestern die vierte Sank- nicht linear vollziehen, also nicht so, dass ohne großes tionsrunde gegen das Gaddafi-Regime verhängt. Insbe- Zutun ein Regime nach dem anderen geradezu wie von sondere ist zu begrüßen, dass darin Sanktionen gegen selbst fallen würde. Die Reformbewegungen werden fünf Tochtergesellschaften der nationalen Ölgesellschaft vielmehr Rückschläge zu verkraften haben, und sie wer- Libyens enthalten sind. Das bedeutet faktisch ein Öl- den harte Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Doch embargo, für das sich die Bundesregierung in der Euro- die Chancen stehen gut, dass das Streben nach einer päischen Union mit Nachdruck eingesetzt hat. neuen und besseren Zukunft letztlich die Beharrungs- kräfte der alten Ordnungen überwindet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass die Reformbewegung in Tunesien deutlich auf Dis- Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeutung tanz zum Vorgängerregime ging und rasch nach Ägypten für den Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten sind übergeschwappt ist. Viel wird jetzt davon abhängen, ob die Unterstützung beim Übergang zur Demokratie, die freie und faire Wahlen in diesen Ländern gelingen. Wenn Mobilisierung reformorientierter Kräfte in Staat und Ge- dort ein friedlicher Übergang zu Demokratie und Frei- sellschaft sowie die Hilfe bei der wirtschaftlichen Ent- heit stattfindet, dann wird das der Reformbewegung in wicklung. Die wirtschaftlichen Faktoren, nämlich die der gesamten Region Dynamik verleihen; das wird sich Lebensmittelpreise, haben eine zentrale Rolle bei diesen auch auf andere Staaten ausweiten. Tunesien und Ägyp- Umbrüchen gespielt. Deswegen ist die Neuordnung der ten können damit zu Schrittmachern in ihrer Region wer- Region auch und gerade eine ökonomische Frage. Nur den. Deswegen wird nicht umsonst die Entwicklung ge- dann, wenn es den Reformkräften gelingt, für bessere Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11413

Thomas Silberhorn (A) Lebensverhältnisse zu sorgen, wird der Übergang zur Drucksache 17/5146, den Antrag der Fraktion der SPD (C) Demokratie dauerhaft über den notwendigen Rückhalt in auf Drucksache 17/4849 abzulehnen. Wer stimmt für der Bevölkerung verfügen. diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Bundesregierung leistet auf vielfältige Weise Hilfe. Insbesondere die Transformationspartnerschaft, die Tunesien und Ägypten angeboten worden ist, ist ein Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- wichtiger Ansatz, der Vorbild sein kann für andere Staa- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die ten in der Region. Diese Maßnahmen stehen allen Part- Linke mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebe- nern in der Europäischen Union offen. Ich denke, wegungen in den arabischen Ländern – Beendigung der Deutschland hat damit angemessen und schnell auf die deutschen Unterstützung von Diktatoren“: Der Aus- Erfordernisse vor Ort reagiert. schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5147, den Antrag der Fraktion Die Linke (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf Drucksache 17/4671 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Für die Entwicklung der Region ist die Hilfe beim tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen natürlich ebenso wichtig. Ich will darauf hinweisen, dass Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke sowohl die politischen Stiftungen als auch die kirchli- auf Drucksache 17/5173 mit dem Titel „Libyen-Krieg chen Hilfswerke dabei eine unverzichtbare Rolle spie- sofort beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer len. Sie sind bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abge- vor Ort unterwegs und haben Kontakte geknüpft auch zu lehnt. Kräften, die jetzt diese Reformbewegungen mittragen. Das zeigt, dass sich das Engagement gerade unserer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: politischen Stiftungen langfristig auszahlt. Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Bei aller Unterstützung, die von außen geleistet wer- Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Ab- den kann: Im Kern muss die Kraft für den Wandel von geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Innen kommen. Die Bevölkerungen der arabischen Staa- GRÜNEN ten müssen ihren eigenen Weg finden. Wir können im Wissenschaftliche Redlichkeit und die Quali- Rahmen unserer Möglichkeiten dort helfen, wo wir um tätssicherung bei Promotionen stärken Unterstützung gebeten werden. Wir leisten, was möglich ist, damit sich die Chance auf Demokratie und Freiheit – Drucksache 17/5195 – (B) entfaltet, damit der Wandel in der arabischen Welt ge- Überweisungsvorschlag: (D) lingt. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vielen Dank. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Gleicke [SPD]: Ich möchte jetzt nicht erleben, Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich wie es ist, wenn Sie mal nicht beflügelt sind!) um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Monika Grütters, Dr. Reinhard Brandl, René Röspel, Vizepräsident Eduard Oswald: Dr. Martin Neumann, Das ist der Beifall für den letzten Redner gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Dr. Petra Sitte, Krista Sager.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache Drucksache 17/5195 an den Ausschuss für Bildung, For- 17/5193 mit dem Titel „Die arabische Welt – Region im schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Aufbruch, Partner im Wandel“. Wer stimmt für diesen Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – ist die Überweisung so beschlossen. Der Antrag ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5192 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- mit dem Titel „Für eine neue Politik gegenüber den Län- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes dern Nordafrikas und des Nahen Ostens“. Wer stimmt zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimment- Absatzförderungsfonds der deutschen Land- haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. und Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- und Holzwirtschaft empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Reformpro- – Drucksache 17/4558 – zesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf 1) Anlage 6 11414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Eduard Oswald (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Frank Tempel, (C) ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (10. Ausschuss) (Beifall bei der LINKEN) – Drucksache 17/5167 – Dr. Konstantin von Notz.

Berichterstattung: Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Abgeordnete Marlene Mortler Dr. Wilhelm Priesmeier Der europäische Einigungsprozess hat unter anderem Dr. Christel Happach-Kasan zu einem Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrol- Dr. Kirsten Tackmann len unter den Schengen-Partnern geführt. Bürgerinnen Friedrich Ostendorff und Bürger können sich heute weitgehend unbeschränkt innerhalb der EU bewegen; Waren und Dienstleistungen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sind nahezu grenzenlos unterwegs. Diese positive Ent- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – wicklung hat Europa insgesamt gestärkt. Allerdings nut- zen diese Freiheiten auch die Straftäter, die nicht an den (Günter Gloser [SPD]: Schade!) Grenzen haltmachen. Die neuen, illegalen Möglichkei- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Folgende Kolle- ten für Kriminelle, europäisch vernetzt vorzugehen, dür- ginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge- fen wir bei allen Fortschritten auf keinen Fall unter- geben: Marlene Mortler, Dr. Wilhelm Priesmeier, schätzen. Daher zählt es zu den elementaren Aufgaben Dr. Christel Happach-Kasan, der Europäischen Union, ihren Bürgern die Freiheit, die Sicherheit und das Recht zu gewährleisten. (Beifall bei der FDP) Vor diesem Hintergrund müssen wir wirksame Instru- Dr. Kirsten Tackmann, mente zur gemeinsamen Gefahrenabwehr und Strafver- (Beifall bei der LINKEN) folgung schaffen und weiterentwickeln. Unsere Aufgabe ist es, den europäischen Polizei- und Strafverfolgungs- Friedrich Ostendorff.1) behörden auch nach Wegfall der Grenzkontrollen eine Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- effektive und effiziente Aufgabenerledigung zu ermögli- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- chen. fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Hierfür ist der erleichterte Informationsaustausch 17/5167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf zwischen den Behörden in Europa eine entscheidende Drucksache 17/4558 in der Ausschussfassung anzuneh- Ausgleichsmaßnahme für eine wirksame Strafverfolgung (B) men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der und Gefahrenabwehr. Es gilt: Nur wer hinreichend in- (D) Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- formiert ist, kann die richtigen Maßnahmen ergreifen. chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- Und hinreichend informiert heißt beim heutigen Täter- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. verhalten, oft auch über Grenzen hinweg, also euro- Dritte Beratung päisch informiert zu sein. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Genau das ist das Ziel des vorgelegten Gesetzentwur- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – fes: Anlass für das Vorhaben ist der Rahmenbeschluss Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- 2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die wurf ist angenommen. Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: der Europäischen Union. Diese sogenannte schwedische Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Initiative soll nunmehr in innerstaatliches Recht umge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die setzt werden. Vereinfachung des Austauschs von Informa- Hierdurch sind Änderungen im Bundeskriminalamt- tionen und Erkenntnissen zwischen den Straf- gesetz, im Bundespolizeigesetz, im Gesetz über die inter- verfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der nationale Rechtshilfe, in der Strafprozessordnung, im Europäischen Union Zollfahndungsdienstgesetz und im Zollverwaltungsge- – Drucksache 17/5096 – setz, in der Abgabenordnung, im Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und schließlich im SGB X notwendig. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Für den Austausch von Informationen zwischen den Rechtsausschuss Mitgliedstaaten dürfen künftig keine strengeren Rege- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die lungen gelten als innerhalb eines Mitgliedstaates. Die- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die ser Gleichbehandlungsgrundsatz ist der zentrale Aspekt Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Armin des Vorhabens und orientiert sich an den rechtlichen Schuster, Dr. Eva Högl, Gisela Piltz, Möglichkeiten des Informationsgeberlandes. Eine Da- tenübermittlung von Berlin nach Malmö soll also künftig (Beifall bei der FDP) unter den grundsätzlich gleichen gesetzlichen Voraus- setzungen erfolgen können wie von Berlin nach Lörrach. 1) Anlage 7 Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz schafft eine völlig Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11415

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) neue Qualität bei der innereuropäischen Zusammenar- Prioritäten der EU für den Raum der Freiheit, der Si- (C) beit. cherheit und des Rechts für den Fünfjahreszeitraum von 2010 bis 2014 festlegt. Damit bildet sie den Rahmen für Weiterhin darf künftig die Beantwortung von Ersu- zahlreiche politische Maßnahmen der Union auf Gebie- chen aus dem europäischen Ausland nur noch bei Vor- ten wie der Justiz, der öffentlichen Sicherheit, der Ein- liegen konkreter Ausnahmetatbestände verweigert wer- wanderung und des Asyls. Hierbei ist es wichtig, die den. Danach ist beispielsweise eine Übermittlung von richtige Balance zwischen sicherheitspolitischen Inte- personenbezogenen Daten unzulässig, wenn hierdurch ressen und Freiheitsrechten zu wahren. Wir Sozialdemo- wesentliche deutsche Sicherheitsinteressen des Bundes kratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine Ausge- oder der Länder gefährdet würden. wogenheit von Freiheit uns Sicherheit. Schließlich gilt es, bei dem gesamten Vorhaben noch einen weiteren Aspekt zu beachten: den Datenschutz. Mit dem Rahmenbeschluss 2006/960/JI aus dem Immerhin geht es hier um den grenzüberschreitenden Jahre 2006 formulierte der Rat ein zentrales Ziel der Austausch von personenbezogenen Daten. Aus diesem Europäischen Union. Es besteht darin, ihren Bürgerin- Grund muss der Datenschutz durchgängig Beachtung nen und Bürgern ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten. finden. Dies ist ein zentrales Anliegen der Bundesregie- Nur durch eine engere Zusammenarbeit der Strafverfol- rung. Es wird auf gar keinen Fall so sein, dass unsere gungsbehörden der Mitgliedstaaten beim Austausch von hohen innerstaatlichen Datenschutzstandards im Zuge Informationen und Erkenntnissen über Straftaten und einer Übermittlung an einen anderen europäischen Mit- kriminelle Aktivitäten kann eine effektive länderüber- gliedstaat gesenkt werden. greifende Prävention und Strafverfolgung und damit ein möglichst hoher Schutz für die Bürgerinnen und Bürger Der vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt diese Vorgabe in Europa gewährleistet werden. Jedem Mitgliedstaat umfassend. Insbesondere unterliegen die Daten nach wurde die Möglichkeit eingeräumt, die für die Strafver- der Übermittlung einer besonderen Zweckbindung. Der folgungsbehörden relevanten Daten anzufordern und Gesetzentwurf macht klar, dass die Daten nur für die auf deren Ersuchen hin zu erhalten. Das ist ein wichtiger Zwecke, für die sie übermittelt wurden, genutzt werden Schritt hin zu einer wirksamen Bekämpfung von Krimi- dürfen. Von dieser strengen Zweckbindung darf nur ab- nalität, den wir als SPD ausdrücklich unterstützen. gewichen werden, wenn es um die Abwehr einer gegen- wärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Si- Zwei große Fortschritte beinhaltet der Rahmenbe- cherheit geht. Diese enge Ausnahmeregelung ist schluss gegenüber den bisherigen Rechtshilfebestim- angemessen. mungen, auf die ich hinweisen möchte: Zum einen schreibt er den sogenannten Gleichbehandlungsgrund- Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird (B) satz bzw. Grundsatz der Verfügbarkeit personenbezoge- (D) Deutschland seinen europäischen Verpflichtungen aus ner Informationen fest, der besagt, dass Informationen dem Rahmenbeschluss nachkommen. Darüber hinaus den Strafverfolgungsbehörden aus anderen Ländern in wird der Informationsaustausch zwischen den Strafver- der gleichen Art und Weise zugänglich gemacht werden folgungsbehörden in Europa erheblich erleichtert. Letz- teres ist ausdrücklich im Interesse Deutschlands. Daher müssen wie den inländischen Behörden. Zum anderen ist diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. enthält der Rahmenbeschluss Regelungen zu Beantwor- tungsfristen. So soll auf Ersuchen aus EU-Staaten in Eil- fällen innerhalb von acht Stunden, in normalen Fällen Dr. Eva Högl (SPD): innerhalb von zwei Wochen geantwortet werden. Bislang Kriminalität ist kein nationales Problem und macht wurde der Informationsaustausch zwischen den Mit- vor Ländergrenzen nicht halt. Menschenhandel, Terro- gliedstaaten durch rechtliche Hindernisse und kompli- rismus oder Korruption sind internationale und damit zierte Verwaltungsstrukturen beeinträchtigt. Eine mehr- länderübergreifende Straftaten, denen auch nur länder- monatige Wartezeit, wie sie bisher nicht selten die Regel übergreifend effektiv begegnet werden kann. war, wäre nunmehr ausgeschlossen. Mit dem Gleichbe- Ein flexibler und zuverlässiger Austausch von straf- handlungsgrundsatz und der Fristenregelung beschrei- verfolgungsrelevanten Informationen zwischen den Mit- ten die europäischen Staaten einen neuen und richtigen gliedstaaten der Europäischen Union, Art. 87 Abs. 1, Weg. Abs. 2 a AEUV, ist aus diesem Grund ein wichtiger Bau- Leider hat es Deutschland bisher versäumt, den Rah- stein bei der wirksamen Bekämpfung der internationalen menbeschluss trotz Ablauf der Umsetzungsfrist in natio- Kriminalität. Der Vertrag von Lissabon stärkt in dieser nales Recht umzusetzen. Wir begrüßen daher, dass die Beziehung bereits die Rolle von Eurojust und Europol, Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf vorgelegt Art. 85 und Art. 88 AEUV, die die Mitgliedstaaten in ih- hat, um die notwendige Umsetzung in deutsches Recht rer Zusammenarbeit bei Ermittlungen, Strafverfolgun- zu vollziehen. Mit dem Entwurf des Gesetzes über die gen und der Prävention und Bekämpfung von Kriminali- Vereinfachung des Austauschs von Informationen und tät und Terrorismus unterstützen. Das ist ein wichtiger Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden Schritt auf dem Wege der Verbesserung der polizeilichen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union schlägt die und justiziellen Zusammenarbeit in der EU. Bundesregierung Änderungen bei einer Reihe von Ge- Darüber hinaus hat die Europäische Union mit dem setzen vor, darunter das Gesetz über die internationale im Dezember 2009 verabschiedeten Stockholmer Pro- Rechtshilfe in Strafsachen, das Bundeskriminalamtge- gramm eine ganzheitliche Strategie vorgelegt, die die setz und das Bundespolizeigesetz.

Zu Protokoll gegebene Reden 11416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Eva Högl (A) Die SPD unterstützt ausdrücklich den Rahmenbe- dern auch darüber hinaus. Deshalb können wir dem Ge- (C) schluss zur Erleichterung des Informationsaustausches setzentwurf der Bundesregierung zustimmen. zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied- staaten und damit auch die Umsetzung durch das ge- Gisela Piltz (FDP): plante Gesetz. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des nur verfügbare Daten übermittelt werden sollen, also die Rechts ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit Daten, die bei der ersuchten Behörde vorhanden sind von herausragender Bedeutung. Es ist daher notwendig, und die ohne Ergreifen von Zwangsmaßnahmen erhoben innerhalb Europas die Zusammenarbeit der Sicherheits- worden sind. Eine Übermittlung von Daten, die erst behörden zu verbessern. durch Zwangsmaßnahmen erhoben werden müssten, wird nicht gestattet. Dabei darf aber keiner der drei Aspekte – Freiheit, Sicherheit und Recht – ins Hintertreffen geraten. Eine Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme vom Zusammenarbeit, die sich nur an der Sicherheit orien- 11. Februar 2011, dass der Begriff der „durch Zwangs- tiert, dabei aber die Freiheit über Gebühr einschränkt maßnahmen erlangten Erkenntnisse und Informationen“ und dem Recht durch mangelnde rechtsstaatliche Siche- legal definiert wird. Der Polizei wäre sonst der Datenab- rungen nicht ausreichend Rechnung trägt, genügte den gleich als ein wichtiges Instrument im grenzüberschrei- Anforderungen an eine vernünftige Politik in der dritten tenden Austausch von Informationen genommen. Die Säule nicht. SPD hält genau wie die Bundesregierung eine Legalde- finition des Begriffes für nicht notwendig. Da ohnehin Der unter der schwedischen Ratspräsidentschaft ent- nur Daten ausgetauscht werden können, die bereits vor- wickelte Rahmenbeschluss folgt dem Gedanken eines handen sind und aufgrund einschlägiger nationaler Vor- einheitlichen EU-weiten Raums der Freiheit, der Sicher- schriften abgeglichen werden, spielt die Frage keine heit und des Rechts. Dabei ist es grundsätzlich nachvoll- Rolle, ob die Daten durch Zwangsmaßnahmen erlangt ziehbar, dass in diesem kein Unterschied gemacht wer- werden können, da diese ohnehin einem Verwertungsver- den soll zwischen dem Datenaustausch der zuständigen bot unterlägen. innerstaatlichen Behörden und den zuständigen Behör- den anderer EU-Mitgliedstaaten. Dennoch muss natür- Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lich berücksichtigt werden, dass ein einheitlicher Raum spielt bei der Weitergabe von Informationen der Daten- der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht bedeu- schutz eine besonders große Rolle. Ein modernes euro- tet und auch nicht bedeuten darf, dass Strafverfolgung päisches Netzwerk zum Informationsaustausch bedarf nicht mehr in nationaler Hoheit steht. Es ist daher rich- auch eines gewissenhaften einheitlichen Schutzes der zu tig, dass eine nationale Behörde nicht über die Regeln, (B) übertragenden Daten. Der Grundsatz der Verfügbarkeit die für die innerstaatliche Datenübermittlung gelten, hi- (D) zielt darauf ab, die vorhandenen nationalstaatlichen naus verpflichtet ist, Behörden anderer Mitgliedstaaten und gemeinschaftlichen europäischen Informationssys- Daten zur Verfügung zu stellen. Damit wird gewährleis- teme miteinander zu vernetzen, sodass die Daten für die tet, dass die deutschen Behörden unseren Standard wah- verschiedenen Sicherheitsbehörden abgerufen, gespei- ren können, wenn Ersuchen bearbeitet werden. chert und übermittelt werden können, auch wenn sie nur durch das Einverständnis des jeweiligen Mitgliedstaates Richtig und wichtig ist auch die Zweckbindung der eingeholt werden dürfen. Eine wirksame Strafverfolgung übermittelten Daten. Die strikte Zweckbindung und das über Ländergrenzen hinweg zum Schutz kollektiver Si- ausdrückliche Verbot, übermittelte Daten zu Beweiszwe- cherheitsinteressen darf den Individualschutz der Unions- cken im Strafverfahren zu verwenden, sofern keine dies- bürgerinnen und Unionsbürger nicht beeinträchtigen. bezügliche ausdrückliche Zustimmung vorliegt, ist eine Es ist notwendig, jedem Missbrauch vorzubeugen und zentrale rechtsstaatliche Absicherung. den Grundrechteschutz, wie in Art. 16 AEUV sowie in Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Rechtsprechung deutlich gemacht, dass in der Übermitt- und der Europäischen Menschenrechtskonvention fest- lung von Daten ein eigener Grundrechtseingriff zu sehen gelegt, vollständig zu achten. ist, der dem Eingriff bei der Erhebung gleichzustellen ist. Da es sich bei den hier infrage stehenden Daten um Meine Fraktion und ich begrüßen den Schritt der eu- sensible Daten handelt, muss ein hohes Niveau an Da- ropäischen Staaten hin zu einer gegenseitigen Akzeptanz tenschutz sowie an Rechtsschutz gewährleistet sein. Zu- von rechtlichen Strukturen und Entscheidungen sowie zu dem muss stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. einem umfassenden Informationsaustausch im Bereich Daher hat die FDP-Fraktion immer angemahnt, dass der Strafverfolgung. Der Umsetzung des Rahmenbe- derartige Daten nur dann übermittelt werden dürfen, schlusses von 2006 gestehen wir dabei eine besondere wenn die Schwere der Straftat, die in Rede steht, die Da- Rolle zu. Nach der Umsetzung in nationales Recht ist es tenübermittlung verhältnismäßig macht. Insofern ist es wichtig, den Austausch von Strafverfolgungsdaten zwi- gut, dass die Datenübermittlung verweigert werden schen den Mitgliedstaaten der EU zu überwachen und kann, wenn die Straftat im Empfängerland mit einer die Funktionalität und Wirksamkeit der Austauschnetz- Freiheitsstrafe von einem Jahr oder weniger bedroht ist. werke kontinuierlich zu überprüfen. Wir unterstützen eine intensive und weitgehende Zusammenarbeit der Wenngleich mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf Mitgliedstaaten untereinander und auf europäischer im Wesentlichen nur Anpassungen nationaler Rechts- Ebene – nicht nur im Bereich der Strafverfolgung, son- vorschriften, die sich auf den Rahmenbeschluss bezie-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11417

Gisela Piltz (A) hen, vorgenommen werden, dürfen wir nicht die Augen In der Europäischen Union existiert kein verbindli- (C) davor verschließen, dass, wie die Bundesregierung in ih- cher, einklagbarer Datenschutzstandard. Es existieren rer Begründung schreibt, „neue Maßstäbe“ bei der Da- jeweils bereichsspezifische Datenschutzbestimmungen tenübermittlung gesetzt werden. Diese Maßstäbe dürfen mit eher zweifelhaften Datenschutzniveaus, zum Beispiel aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion aber nicht nur zu Europol, Schengen oder zum Prümer Ratsbeschluss. die Interessen der Strafverfolgungsbehörden sein, son- Es gibt aber keine Anwendbarkeit des Strafrechtes auf dern müssen ebenso die Grundrechte, insbesondere den die Datenschutzrichtlinien und -vorschriften. Der einzig Datenschutz und den Rechtsschutz, umfassen. Die geltende Rechtsakt ist das völlig veraltete völkerrechtli- Schnelligkeit und Leichtigkeit der Datenübermittlung che „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der muss durch strikte rechtsstaatliche Sicherungen flan- automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“ kiert sein. der Mitglieder des Europarates von 1981. Die Liberalen erkennen ausdrücklich die Bedeutung Der Mangel bei den Rechtsstaats- und Menschen- der europäischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung rechtsstandards in einigen EU-Ländern zeigte sich bei- von Kriminalität und Terrorismus an. Ebenso steht aber spielsweise beim sogenannten „Krieg gegen den Ter- die Achtung der Grundrechte für uns an vorderster ror“. Die vom BND-Untersuchungsausschuss benannten Stelle. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Fälle bewiesen, dass grundlegende Rechtsstaats- und Gratwanderung deutlich, die bei der Abwägung von Menschenrechtsstandards massiv verletzt wurden und Freiheit und Sicherheit stets gegeben ist. Aus Sicht der bei neuerlichen Terroranschlägen auch künftig wieder FDP-Fraktion ist dies den federführenden Bundesminis- verletzt werden dürften. So gab es in den Mitgliedstaaten terien der Justiz und des Innern gelungen. Die FDP- Polen, Litauen und Rumänien sogenannte Black Sites, Fraktion wird weiterhin sorgsam darauf achten, dass in also inoffizielle Gefängnisse der CIA, in denen unter der EU bei allen Beschlüssen alle Aspekte der dritten Folterbedingungen inhaftierte Verdächtige bei ihren Säule gleichermaßen berücksichtigt werden. Vernehmungen mit Informationen aus unter anderem in Deutschland geführten strafrechtlichen Ermittlungsver- fahren konfrontiert wurden. Frank Tempel (DIE LINKE): Die Umsetzung des Ratsbeschlusses durch den Ge- Unbestritten gibt es die Notwendigkeit für einen bes- setzentwurf der Bundesregierung wird von der Linken seren Austausch von Erkenntnissen zwischen den Straf- strikt abgelehnt. Der Ratsbeschluss zielt darauf, keinen behörden der Mitgliedstaaten in der Europäischen Unterschied mehr zwischen innerstaatlichen und euro- Union. Bei vielen Straftaten ist die grenzüberschreitende päischen Strafverfolgungsbehörden zu machen, wenn es Kriminalität zur Normalität geworden. Eine grenzüber- (B) darum geht, bei den Strafverfolgungsbehörden vorhan- (D) greifende Ermittlungszusammenarbeit ist eher noch die dene oder verfügbare Informationen zur Verfügung zu Ausnahme. stellen. Damit geht der Rechtsakt grundsätzlich über Re- Bisher lief der zwischenstaatliche Datenaustausch gelungen zum Austausch von Informationen und Er- kenntnissen zwischen Strafverfolgungsbehörden hinaus, von Ermittlungsbehörden weitgehend über das Mittel die auf Art. 39 des Schengener Durchführungsüberein- des Rechtshilfeersuchens. Lange Wartezeiten und aus- kommens, SDÜ, beruhen. Art. 39 SDÜ verpflichtet die bleibende Reaktionen auf Anfragen waren die Regel. Mitgliedstaaten zwar zu gegenseitiger Hilfe im Interesse Das war ein äußerst unbefriedigender Zustand. der vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung von In den letzten Jahren hat sich in der EU der Ansatz strafbaren Handlungen, überlässt es jedoch dem natio- der „weitgehend diskriminierungsfreien Verfügbarkeit nalen Recht, die Art der Zusammenarbeit auszugestal- von Daten“ durchgesetzt. Ermittelnde Behörden eines ten. Mitgliedstaates sollen grundsätzlich und zeitnah auf die Nach dem Ratsbeschluss hingegen gibt es für die an- vorhandenen Ermittlungsdaten des anderen Mitglied- gefragten Mitgliedstaaten lediglich ein Rückweisungs- staates zugreifen können. Für den Informationsaus- recht bei Informationen und Erkenntnissen, die durch tausch mit dem EU-Ausland dürfen keine strengeren Zwangsmaßnahmen erlangt wurden, und wenn dies mit Regelungen als für den Austausch von Strafverfolgungs- dem nationalen Recht nicht vereinbar ist. Für eine der- daten im Inland bestehen. Bis zum 26. August 2011 müs- art weitgehende grenzüberschreitende Verfügbarkeit sen die EU-Beschlüsse zum Datenabgleich, resultierend strafrechtlicher Ermittlungsdaten fehlt es indes, wie ge- aus dem „Ratsbeschluss zur Vertiefung der grenzüber- sagt, an der Grundvoraussetzung eines unabhängig von schreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Be- einer Einzelfallprüfung vollzogenen Informationsaus- kämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreiten- tausches: ein angemessener rechtstaatlicher, insbeson- den Kriminalität“, umgesetzt sein. dere datenschutzrechtlicher, Standard innerhalb der EU. So weit, so gut. Der Prozess zur Schaffung der techni- Es fehlen insbesondere klare Regelungen im Hinblick schen und rechtlichen Voraussetzungen zum Austausch auf den Zweck der Datenabfrage, den von der Datenver- von Strafverfolgungsdaten findet allerdings vor dem arbeitung betroffenen bzw. auszuschließenden Perso- Hintergrund eines nicht vorhandenen europäischen Da- nenkreis, die Begrenzung der Übermittlung von DNA- tenschutzrechtes, eines national völlig unterschiedlichen Daten auf bestimmte Deliktbereiche, die Speicherfristen Datenschutzniveaus und teilweise unzureichender der Daten im anfordernden Land sowie ein Weitergabe- Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards statt. verbot an dritte Dienststellen und Drittstaaten.

Zu Protokoll gegebene Reden 11418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Frank Tempel (A) Die unscharfe Trennung von Polizei, Geheimdiensten staaten der Europäischen Union, der sogenannten (C) und Militär in verschiedenen Mitgliedstaaten lässt er- schwedischen Initiative aus dem Jahr 2006, dienen. warten, dass übermittelte Daten nach Belieben in deren Dass man die Umsetzungsfrist, die im Dezember 2008 nationale Datenbanken eingespeist und nicht im Sinne auslief, seelenruhig und deutlich hat verstreichen las- der deutschen Rechtsprechung verwendet werden. Wei- sen, kann ich angesichts der schwerwiegenden daten- terhin ist völlig unklar, wie die Einhaltung von daten- schutzrechtlichen Kritik, die am Konzept des Rahmenbe- schutzrechtlichen Fragen auf der europäischen und na- schlusses in den letzten Jahren immer wieder geübt tionalen Ebene parlamentarisch überprüft werden kann. wurde, verstehen. Warum Deutschland ausgerechnet jetzt den Rahmenbeschluss umsetzen soll, wo ein Bericht Man muss es klar sagen: Der Austausch von Ermitt- der Kommission über dessen Umsetzung und die Reform lungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten ohne ausrei- des EU-Datenschutzrahmens kurz bevorstehen, er- chende Rechtsgrundlage wird den Wert der so erlangten schließt sich mir aber nicht. Die Erkenntnisse aus dem Ermittlungsergebnisse vor Gericht reduzieren. Verurtei- Bericht der Kommission und aus den Fachdebatten zur lungen, zumindest vor deutschen Gerichten, werden un- Reform des EU-Datenschutzrahmens sollten auf jeden wahrscheinlich, wenn der Wert von Beweisen zweifelhaft Fall gebührende Berücksichtigung finden. ist. Der Rahmenbeschluss und sein Umsetzungsgesetz Der Bundesregierung muss man ins Stammbuch bezwecken den möglichst ungehinderten und beschleu- schreiben, dass sie mit großem Fleiß die Umsetzung von nigten Datenaustausch zwischen den Polizei- und Straf- Beschlüssen der EU ins deutsche Recht betreibt, mit de- verfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Der Da- nen man die Befugnisse europäischer Sicherheitsbehör- tenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmte den massiv ausweitet. Zu vermuten ist gar, dass man über Gefahrensituationen oder Verdachtstaten beschränkt. den Umweg europäischer Verordnungen den hohen, vom Der Kreis der Behörden, die untereinander – offenbar Bundesverfassungsgericht vorgegebenen, Datenschutz- kreuz und quer – Daten austauschen sollen, ist sehr standard aushebeln möchte. Sie rührt aber keinen Fin- groß: Jede Behörde, die befugt ist, Straftaten oder krimi- ger, wenn es um die Ausgestaltung eines europäischen nelle Aktivitäten aufzudecken, zu verhüten, aufzuklären Datenschutzes geht, der die Bürgerinnen und Bürger vor und Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, kann Daten an staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre schützen soll. deutsche Behörden übermitteln oder Daten von deut- Die Linke fordert eindringlich den Einsatz der Bundes- schen Behörden anfragen. Es reicht, dass der betref- regierung auf europäischer Ebene für die Sicherung in- fende Mitgliedstaat die Polizei-, Strafverfolgungs-, dividueller Rechte, Rechtsstaatlichkeit und datenschutz- Steuer-, Ausländer-, Gesundheits- oder sonstige Be- rechtlicher Standards nicht unter den vom hörde gegenüber dem Rat der EU als zuständig benannt (B) Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Niveaus! hat. Die Möglichkeiten, die Übermittlung von Informa- (D) tionen auf Anfrage einer EU-ausländischen Behörde zu Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verweigern, sind sehr eng. Die Übermittlung von Daten NEN): von Stuttgart nach Györ oder Barcelona soll praktisch so behandelt werden wie die Übermittlung von Daten Wir befinden uns im Jahr 2011, 15 Monate nach In- von Stuttgart nach Wiesbaden. Die Fristen für die Über- krafttreten des Vertrages von Lissabon, nach dem nun mittlung sind zudem äußerst kurz. Zwischen acht Stun- endlich das Europäische Parlament bei der europa- den und zwei Wochen hätte eine deutsche Behörde Zeit, rechtlichen Regelung des Datenschutzes und des Aus- die Daten auf der Grundlage eines holzschnittartigen tauschs personenbezogener Daten auch im Bereich des Formblatts zu übermitteln. Auch spontane Übermittlun- Polizei- und Strafrechts entscheidend mitbestimmen gen zwischen den als zuständig benannten Behörden kann. Das ist wichtig und im Hinblick auf die anste- verschiedener EU-Mitgliedstaaten zwischen Litauen hende Gesamtreform des EU-Datenschutzrahmens und und Portugal soll es geben, wenn konkrete Gründe für die datenschutzrechtlichen Herausforderungen eines die Annahme bestehen, dass die Informationen für die Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den Prävention oder Verfolgung schwerer Straftaten nützlich es rechtlich und politisch zu gestalten gilt, auch notwen- sein könnten. dig. Es verwundert unter diesen Voraussetzungen nicht, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die dass sowohl Vertreter von Regierungen und Sicherheits- Vereinfachung des Austauschs von Informationen und behörden als auch Datenschützer davon ausgehen, dass Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden die Umsetzung der schwedischen Initiative zu einem der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dient der deutlichen Anstieg und zur Beschleunigung des Informa- Umsetzung eines eher beunruhigenden Relikts aus alten tionsaustausches in der EU führen wird. Zeiten, in denen EU-Recht noch hinter verschlossenen Türen ohne effektive parlamentarische Kontrolle durch Wir Grüne wollen ein starkes Europa, einen starken das Europäische Parlament gemacht werden konnte, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aber wenn sich nur die Vertreterinnen und Vertreter der Regie- Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit und Recht auf rungen und der jeweiligen Innenministerien der Mit- der anderen Seite müssen in einem ausgewogenen Ver- gliedstaaten einig waren. Das Gesetz soll der Umsetzung hältnis stehen. Eine „Securitization“ Europas unter eines EU-Rahmenbeschlusses über die Vereinfachung Preisgabe der Grundrechtserrungenschaften Deutsch- des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen lands wollen wir nicht. Nach Lissabon wollen und müs- zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied- sen wir auch das EU-Grundrecht auf Datenschutz in

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11419

Dr. Konstantin von Notz (A) Art. 8 der nunmehr verbindlichen EU-Grundrechtecharta verweist diesbezüglich auf den Rahmenbeschluss zum (C) in die Waagschale werfen. EU-Haftbefehl. Darüber hinaus begnügt sich das vorge- schlagene Umsetzungsgesetz mit einem vagen Verweis Der alte Rahmenbeschluss über den Informations- auf Art. 6 des EU-Vertrages, um zu beschreiben, wann austausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehör- die Übermittlung aus grundrechtlichen Erwägungen he- den, den wir hier umsetzen sollen, basiert auf der Fik- raus unterbleiben muss. tion, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staaten in etwa vergleichbar sind. Träfe das zu, könnte man Da- Zweitens nützt das Umsetzungsgesetz die Umset- ten zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in- zungsspielräume nicht, die der EU-Rahmenbeschluss nerhalb der EU tatsächlich weitgehend unbedenklich den Mitgliedstaaten gewährt. So fehlt es zum Beispiel an austauschen. Dass aber ein EU-weit vergleichbares Da- der Normierung einschränkender Modalitäten für Spon- tenschutzniveau im Sicherheitsbereich bedauerlicher- tanübermittlungen. Es fehlt außerdem an begrenzenden weise noch längst nicht Wirklichkeit ist, sondern pure Regelungen über die Weitergabe der Daten an Drittstaa- Fiktion, bestreitet meines Wissens niemand. Wer es be- ten außerhalb der EU. Als letztes Beispiel für die feh- streitet, der sollte den datenschutzrechtlich völlig unzu- lende Nutzung des Umsetzungsspielraums zugunsten der reichenden EU-Rahmenbeschluss zum Datenschutz aus Grundrechte möchte ich anführen, dass das Umset- dem Jahr 2008 an den Vorgaben des Bundesverfas- zungsgesetz keine inhaltlichen Anforderungen an die Er- sungsgerichts für die Erhebung und Verarbeitung von suchen um Datenübermittlung an Drittstaaten enthält personenbezogenen Daten durch Polizei- und Strafver- und dadurch der Übermittlung von nichterforderlichen folgungsbehörden messen. Er oder sie wird feststellen Überschussinformationen Tür und Tor öffnet. müssen, dass nichts von diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sich als EU-rechtliche Pflicht in dem Rahmen- Drittens möchte ich darauf hinweisen, dass auch die- beschluss wiederfindet. Die Mitgliedstaaten konnten ses Umsetzungsgesetz offenbar wieder zur Ausweitung sich 2008 aus gutem Grund gar nicht auf die Normie- bundesdeutscher exekutiver Handlungsspielräume rung datenschutzrechtlicher Standards für die Datenver- durch die Hintertür genützt werden soll. Wie schon zahl- arbeitung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden reiche Umsetzungsgesetzentwürfe der Bundesregierung auf nationaler Ebene einigen. Der Rahmenbeschluss be- zuvor enthält auch dieses Gesetz Rechtsverschärfungen, schränkt sich deshalb auf den Datenaustausch zwischen die mit der EU-Vorlage, dem Rahmenbeschluss, gar den betreffenden Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Das nichts zu tun haben. So soll zum Beispiel durch Änderun- kann schon deshalb keinen ausreichenden Datenschutz gen im Bundespolizeigesetz und im BKA-Gesetz das Da- garantieren, weil die übermittelten Daten im Empfän- tenschutzniveau für die Datenübermittlung in Nicht-EU- gerland mit den dort erhobenen Daten zusammengeführt (B) Staaten abgesenkt werden. Künftig können die „schutz- (D) werden. Auch die Rechte der Betroffenen werden durch würdigen Interessen der betroffenen Personen … auch den Rahmenbeschluss Datenschutz nicht ausreichend dadurch gewahrt werden, dass der Empfängerstaat oder gewährleistet. Von einem vergleichbaren datenschutz- die empfangende zwischen- oder überstaatliche Stelle rechtlichen Schutzniveau in der EU oder gar einer euro- im Einzelfall einen angemessenen Schutz der übermittel- parechtlich abgesicherten Harmonisierung des Daten- ten Daten garantiert“. Einzelfallregelungen entsprechen schutzes im Bereich des Polizei- und Strafrechts kann nicht unseren rechtsstaatlichen und grundrechtlichen daher nicht die Rede sein. Schutzstandards. Das lassen wir uns nicht so einfach un- Unter dieser Voraussetzung können wir nicht einfach terjubeln, und das sollten auch Sie, meine Damen und ein Gesetz verabschieden, das den praktisch ungehin- Herren von den Koalitionsfraktionen, nicht tun! derten und beschleunigten Datenaustausch mit einer Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam und Unzahl von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in in aller Ruhe, bestenfalls unter Hinzuziehung externen der ganzen EU ermöglicht. Sachverstands, über diesen komplexen Gesetzentwurf So weit zu dem an sich schon beunruhigenden Kon- beraten und anschließend besonnen über das weitere zept des Rahmenbeschlusses zum Informationsaus- Vorgehen entscheiden. Lassen Sie uns den vielfältigen tausch und seines Umsetzungsgesetzes. Lassen Sie mich Entwicklungen im Sicherheitsrecht Europas Rechnung weitere konkrete Gründe nennen, warum wir diesen Ge- tragen, die sich seit dem Erlass des Rahmenbeschlusses setzentwurf einer gründlichen Prüfung unterziehen soll- 2006 vollzogen haben. Lassen Sie uns gemeinsam ein ten. klares Ja zu Europa formulieren, gleichzeitig aber un- missverständlich klarmachen, dass es mit uns keinen Erstens fehlt es dem Gesetz an vielen Stellen an der Ausverkauf von Datenschutzstandards über die europäi- verfassungsrechtlich gebotenen Normenklarheit. Es be- sche Hintertür geben wird. nennt nicht die Behörden der EU-Mitgliedstaaten, in die Daten übermittelt werden dürfen, sondern verweist Rechtsanwenderinnen und -anwender sowie Richterin- Vizepräsident Eduard Oswald: nen und Richter zu diesem Zweck auf eine Liste, die ir- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- gendwo beim Generalsekretariat des Rates liegen muss. fes auf Drucksache 17/5096 an die in der Tagesordnung Das Umsetzungsgesetz benennt auch die Straftaten aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- nicht, in deren Zusammenhang Daten spontan in andere weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Mitgliedstaaten übermittelt werden können, sondern Überweisung so beschlossen. 11420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Eduard Oswald (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- Sofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und die derung des Urheberrechtsgesetzes Neubaustrecke Wendlingen–Ulm – Drucksache 17/5053 – – Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893, Überweisungsvorschlag: 17/5172 – Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: Ausschuss für Bildung, Forschung und Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ich lese die Na- Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeord- men der Kolleginnen und Kollegen vor, damit die Frak- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionen wieder Beifall geben können: Ansgar Heveling, NEN (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Transparenter Stresstest für die Leistungsfä- René Röspel, higkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21 (Beifall bei der SPD) – Drucksachen 17/5041, 17/5236 – Stephan Thomae, Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann (Beifall bei der FDP) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Dr. Petra Sitte, Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Stefan (Beifall bei der LINKEN) Kaufmann, Ulrich Lange, Ute Kumpf, Werner Krista Sager.1) Sollten die Kolleginnen und Kollegen Simmling, nicht da sein, bitte ich, Ihnen mitzuteilen, dass sie hier (Beifall bei der FDP) mit Beifall bedacht worden sind. (B) Sabine Leidig, Winfried Hermann. (D) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/5053 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Dann ist die Überweisung so beschlossen. hat empfohlen, die Anträge von SPD, Linken und Bünd- nis 90/Die Grünen, die im Wesentlichen einen Baustopp Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatz- zum Ziel haben, abzulehnen. Der Ausschuss hat weiter- punkt 11 auf: hin empfohlen, den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen 21 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zu einem „Transparenten Stresstest für die Leistungsfä- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und higkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21“ ebenfalls abzu- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) lehnen. Alle zur Debatte stehenden Anträge sind meiner Ansicht nach mit dem Schlichterspruch des Schlichters – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Dr. Heiner Geißler obsolet geworden, was ich im Einzel- Beckmeyer, Rainer Arnold, Sören Bartol, wei- nen gerne erläutern möchte. terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zunächst zum Antrag der SPD. Nach dem Schlichter- Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur spruch hätte die SPD die Chance gehabt, ihren Zick- Volksabstimmung zackkurs beim Thema Stuttgart 21 zu beenden. Diese Chance hat sie offensichtlich aus wahltaktischen Grün- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine den nicht genutzt. Der Schlichterspruch zu Stuttgart 21 Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, betont, dass eine Volksabstimmung verfassungswidrig weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE wäre und daher nicht in Betracht kommt. Mit etwas Er- LINKE staunen nehme ich zur Kenntnis, das dies offenbar auch Stuttgart 21, Neubaustrecke Wendlin- von SPD-Parteichef Siegmar Gabriel so gesehen wird. gen–Ulm und das Sparpaket der Bundesre- Oder wie ist die Aussage zum Volksentscheid vom gierung 10. März dieses Jahres in der “Südwestpresse“: „viel- leicht braucht man das jetzt gar nicht mehr“ zu interpre- – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried tieren? Leider wurde Herr Gabriel noch am selben Tag Hermann, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, vom SPD-Spitzenkandidaten und Möchtegern-Minister- präsidenten Dr. zurückgepfiffen. Herr 1) Anlage 8 Schmid hält weiter an seiner merkwürdigen Konstruk- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11421

Dr. Stefan Kaufmann (A) tion eines verfassungswidrigen Volksentscheids fest. Ich Gleise, Weichen, Signale und Bahnsteige inklusive der (C) kann nur dringend abraten, einen solchen Volksent- Eisenbahnstrecken rund um Stuttgart – erfasst werden scheid zu initiieren. Die Äußerungen des Präsidenten müssen. Die Ergebnisse aus 100 simulierten Betriebsta- des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle sind gen bilden dann die Grundlage, um die Leistungskapazi- eindeutig. Ich zitiere ihn aus der „Süddeutschen Zei- tät beurteilen zu können. In den „Stuttgarter Nachrich- tung“ vom 16. Oktober 2010: ten“ am Montag war zu lesen, dass Sie selbst einräumen, dass nur die Bahn über die technischen Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernst- Möglichkeiten für eine Computersimulation verfügt; haftes Problem für die Verwirklichung von Infra- dennoch sei Ihre stark vereinfachte Berechnung aussa- strukturprojekten dar. Irgendwann muss hier ein gekräftig. Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden Das ist doch hanebüchen! Ich sage Ihnen, für was Ihr haben. Aktionismus aussagekräftig ist: Es handelt sich um ei- nen weiteren unredlichen, aber durchschaubaren Ver- Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Einen Volks- such, die Stuttgarter vor der Landtagswahl zu verunsi- entscheid wird es nicht geben. Der SPD rate ich davon chern und gegen die Zukunft aufzuwiegeln. Auf diese ab, ihren parteiinternen Streit in dieser Sache auf dem billige Wahlkampfmasche werden die Bürgerinnen und Rücken der Baden-Württemberger auszutragen. Bürger hoffentlich nicht hereinfallen. Seriös sind Ihre Zum Antrag der Linken möchte ich zwei Punkte beto- Berechnungen einmal mehr nicht. nen. Erstens hat die Schlichtung deutlich gemacht, dass Zu Ihrem Antrag, der die Forderung nach einem so- das Projekt Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke ein ei- fortigen Baustopp enthält, möchte ich noch Folgendes genwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG ist. anmerken: Mit der Schlichtung wurden die von Ihnen Zweitens haben unabhängige Wirtschaftsprüfungsge- geforderten offenen Gespräche mit allen Beteiligten ge- sellschaften im Laufe der Schlichtung zudem bestätigt, führt. Der Bau wurde hierfür weitgehend unterbrochen. dass das Projekt ausreichend finanziert ist. Auch für die Bis ins kleinste Detail wurden die in Ihrem Antrag gefor- Neubaustrecke, also das im Bundesverkehrswegeplan derten unterschiedlichen Aspekte des Gesamtprojekts enthaltene Teilprojekt, wurde die Wirtschaftlichkeit offengelegt und intensiv diskutiert. Im Ergebnis sprach nochmals bestätigt. Ihr Antrag ist daher folgerichtig ab- sich der Schlichter Dr. Heiner Geißler klar für eine zulehnen. Fortführung des Projekts und eine Weiterentwicklung zu Eine dem Wahlkampf in Baden-Württemberg geschul- Stuttgart 21 Plus aus. Nehmen Sie diese Tatsache bitte dete totale Realitätsverweigerung erleben wir derzeit endlich zur Kenntnis. bei den Grünen. Sie haben die Faktenschlichtung gefor- (B) Lassen Sie mich nochmals kurz die Chancen des Pro- (D) dert, Sie haben die Person des Schlichters vorgeschla- jekts für meine Heimatstadt Stuttgart und das Land Ba- gen und Sie haben dem Verfahren zugestimmt. Da Ihnen den-Württemberg skizzieren: Mit Stuttgart 21 und der das Ergebnis nicht passt, vermitteln Sie nun den Ein- Neubaustrecke Wendlingen–Ulm stärken wir nicht nur druck, als hätte es den Schlichterspruch nie gegeben. den Fernverkehr, sondern insbesondere auch den Regio- Darüber hinaus wollen Sie nun am Stresstest beteiligt nalverkehr in der Region Stuttgart und darüber hinaus. werden; dem dient der jüngste der Anträge. Diese Betei- Mit dem Fildertunnel wird die Region südlich von Stutt- ligung ist im Schlichterspruch aber nicht vorgesehen. gart inklusive des Flughafens durch schnellere Verbin- Wie Sie wissen, wird die Bahn beginnend im April einen dungen viel besser ans Nahverkehrsschienennetz ange- Stresstest durchführen und die Ergebnisse durch das schlossen. Mit der Neubaustrecke nach Ulm wird die schweizerische Sachverständigenbüro SMA überprüfen gesamte Region Oberschwaben optimal an die Landes- lassen. So wurde es im Rahmen der Schlichtung verein- hauptstadt Stuttgart angeschlossen. Mehrere durchgän- bart. Der Stresstest soll im Juni abgeschlossen sein. gige Regionalexpresslinien werden künftig neben U- und Dies ist ein ebenso transparentes wie öffentliches Ver- S-Bahn eine dritte Netzspinne bilden. All dies wird in der fahren – so wie von Ihnen gefordert. Die Bahn wird den vom Autoverkehr sehr stark belasteten Region Stuttgart Stresstest eben nicht hinter verschlossenen Türen durch- entscheidend dazu beitragen, den Personenverkehr von führen. Die Öffentlichkeit wird über die Schritte des der Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Neubau- Stresstests informiert, und die Bahn wird die Arbeit in ei- strecke nach Ulm und der weitere Ausbau nach Augs- nem Dialogforum zur Diskussion stellen. burg bringen eine Entlastung der A 8, eine der am Da Sie sich aber ungern an Vereinbarungen halten, stärksten frequentierten Autobahnen in Deutschland. sind Sie sechs Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg Dies sahen selbst die Grünen bis zum Jahr 2009 so. Eine noch einen Schritt weitergegangen und haben die Er- überzeugende Alternative zur Neubaustrecke haben sie gebnisse eines eigenen Stresstests präsentiert, bei dem auch in der Schlichtung nicht vorgebracht. Die Variante Stuttgart 21 – man glaubt es kaum – durchfällt. Bedau- durchs dichtbesiedelte Neckartal wirft beispielsweise erlicherweise haben Sie niemanden, etwa von der Bahn die Frage nach der prinzipiellen Planfeststellungsfähig- oder den Projektbefürwortern, an Ihrem eigenen kleinen keit auf. Unabhängig davon werden die Bewohner des Stresstest beteiligt. Sie stellen nur immerzu Forderungen Neckartals die zusätzlichen Belastungen nicht wider- an die anderen. Wohlgemerkt, die Bahn selbst benötigt standslos hinnehmen. Die geplante Neubaustrecke über ein halbes Jahr für das komplizierte Verfahren. Das Wendlingen–Ulm verläuft dagegen weitgehend durch Vorhaben ist deshalb so zeitaufwändig, weil zunächst weniger dichtbesiedeltes Gebiet. Weil sie parallel zur alle für Stuttgart 21 geplanten Bahnanlagen – wie Autobahn gebaut wird, kann eine Zerschneidung der

Zu Protokoll gegebene Reden 11422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Dr. Stefan Kaufmann (A) Landschaft verhindert werden. Auch der Bau der Neu- der Bedeutungslosigkeit versunken. Lange Zeit hat die (C) baustrecke hat im Übrigen schon begonnen. Lassen Sie baden-württembergische SPD das Großprojekt mitge- uns diese Strecke zügig vorantreiben. tragen. Als man sah, wie die Medien sich gegen das Pro- jekt wandten, suchte man mit Händen und Füßen einen Zum Schluss möchte ich noch auf die städtebaulichen Grund, ebenfalls gegen den neuen Bahnhof sein zu dür- Vorteile für Stuttgart selbst eingehen. Ich halte es für fen. Man forderte eine Volksabstimmung, wohl wissend, richtig, dass die freiwerdenden Flächen dauerhaft dem dass das Land Baden-Württemberg gar nicht zuständig Versuch von Grundstücksspekulationen entzogen wer- ist, wohl wissend, dass die Mehrheit der Baden- den. Eine umfassende Bürgerbeteiligung zur Gestaltung Württemberger für Stuttgart 21 ist. Hauptsache war, hat bereits begonnen. Es wird ein neues lebendiges dass man endlich einen Grund gefunden hatte, zumin- Wohnquartier und eine Erweiterung des Schlossgartens dest für einen sofortigen Baustopp sein zu können. Sie um mindestens 20 Hektar geben. An den Nahverkehr haben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag sagen, dass große wird das Quartier bestens angeschlossen. Schon heute Verkehrsinfrastrukturprojekte von der Unterstützung sind die Vorarbeiten für neue U-Bahnlinien sichtbar. unserer Gesellschaft leben. Deshalb fand die Schlich- Insgesamt überwiegen also die verkehrlichen und die tung statt, bei der alle Argumente pro und kontra darge- städtebaulichen Vorteile des Projekts deutlich. Die legt wurden. Geben Sie der DB AG doch die Zeit, den in Schlichtung hat erfreulicherweise auch dazu beigetra- der Schlichtung beschlossenen Stresstest durchzuführen gen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger so- und die Leistungsfähigkeit des kommenden Tiefbahnho- wohl in Baden-Württemberg als auch in der Region fes zu beweisen! Stuttgart das Projekt inzwischen befürwortet, wie die re- Wie nicht anders zu erwarten, wollten auch die Lin- präsentativen Umfragen zeigen. ken auf den Protestzug aufspringen. Der heute disku- Ich darf Sie daher bitten, den Beschlussempfehlungen tierte Antrag zeigt, dass die Linken nicht bis zum Rand des Ausschusses zu folgen und alle vier heute zur Dis- ihres Tellers blicken können, geschweige denn darüber kussion stehenden Anträge abzulehnen. hinaus. Es ist richtig, dass jeder Euro nur einmal ausge- geben werden kann; aber es gibt in unserem Lande Zu- Ulrich Lange (CDU/CSU): kunftsprojekte, die notwendig für unsere Gesellschaft, für unsere Wirtschaft, für unsere Arbeitnehmer und Ar- Stuttgart 21 ist nicht nur für die baden-württembergi- beitgeber sind. Dazu gehört der Aufbau einer funktio- sche Landeshauptstadt, sondern für ganz Deutschland nierenden Infrastruktur. Wir müssen unsere Wirtschaft ein Leuchtturmprojekt. Es ist richtig, und es ist wichtig. am Laufen halten, wenn wir die sozialen Leistungen wie Genauso richtig ist aber auch, dass im Vorfeld viel zu Hartz IV bezahlen wollen; denn jede Wohltat, die verteilt wenig auf die Bevölkerung eingegangen, die Bevölke- werden kann, muss erst verdient werden. Sie als Nach- (D) (B) rung bei diesem Großprojekt nicht mitgenommen wurde. folger der DDR-Diktatur wissen leider nicht, was Es ist das herausragende Verdienst von Heiner Vorsorge für die Zukunft bedeutet. Sie haben es inner- Geißler, dass es zu einer Befriedung, ja zu einer Versöh- halb weniger Jahrzehnte geschafft, die Wirtschaft in nung innerhalb der zerstrittenen Bevölkerung kam und Ostdeutschland zugrunde zu richten, die Verkehrsin- eine Lösung gefunden wurde, obwohl kaum jemand eine frastruktur verrotten zu lassen. Dass Sie sich jetzt gegen Lösungsmöglichkeit sah. Insbesondere die Grünen hat- den Bau zukunftsorientierter Maßnahmen wie Stutt- ten nicht damit gerechnet, dass es zu einer Lösung kam, gart 21 und den Neubau der Strecke Wendlingen–Ulm und nur sehr wenige Grüne, wie der Tübinger Bürger- wenden, wundert eigentlich nicht wirklich. meister , waren Demokraten genug, um das Die Schlichtung hat den verkehrlichen Nutzen von Schlichtungsergebnis zu akzeptieren. Stuttgart 21 bestätigt. Die dadurch bedingte höhere Die Grünen hatten auf eine weitere Eskalation im Zu- Leistungsfähigkeit hat mehrere offensichtliche positive sammenhang mit Stuttgart 21 gehofft, um weiter in der Effekte: Gunst der Wähler zu steigen. Anschließend machte sich Erstens Regionalverkehr: Der neue Durchgangs- starke Enttäuschung breit, nicht weil die Bedeutung und bahnhof wird in alle Richtungen verbunden. So ist kein die Richtigkeit von Stuttgart 21 bestätigt wurden, son- Zug mehr gezwungen, zu wenden, und kann direkt Kurs dern weil es keine spektakulären Demos mehr gab, auf auf seinen nächsten Haltebahnhof nehmen. Dadurch denen man sich als Aktivist gegen jeglichen Ausbau dar- wird die Reisezeit verkürzt. stellen konnte. Deshalb werden jetzt Scheinanträge ge- stellt, um das Thema am Kochen zu halten. Meine Da- Zweitens Fernverkehr: Stuttgart ist mit den Städten men und Herren von den Grünen, Sie schüren innerhalb Ulm, Augsburg und München über eine uralte Strecke der Stuttgarter Bevölkerung bewusst Ressentiments, um verbunden, auf der teilweise nur 70 Stundenkilometer die Spaltung in der Gesellschaft voranzutreiben, eine gefahren werden dürfen. Durch den Neubau der Strecke Spaltung, die die Schlichtung zum Glück beendet hat. Wendlingen–Ulm wird künftig eine Hochgeschwindig- Sie haben die von Ihnen geforderte Schlichtung durch keitstrasse geschaffen, mit der Folge, dass die Fahrzeit Heiner Geißler erhalten. Akzeptieren Sie endlich das Er- von Stuttgart nach Ulm von 54 auf 28 Minuten nahezu gebnis, beenden Sie Ihre Hetzkampagnen! halbiert wird. In der öffentlichen Wirkung wurden immer nur die Drittens. Die Fahrzeit bis München wird von derzeit Grünen als Gegner von Stuttgart 21 wahrgenommen. über zweieinviertel Stunden – 139 Minuten – auf etwas Nur die Grünen haben davon profitiert; die SPD ist in mehr als eineinhalb Stunden – 102 Minuten – reduziert.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11423

Ulrich Lange (A) Viertens Güterverkehr: Durch die Neubaustrecke gen und den Kritikern das Feld überlassen, nach dem (C) kommt es zu einer Entlastung der bestehenden Strecke, Muster: Wir haben ja die Beschlüsse, und das wird sich sodass dort zusätzliche Kapazitäten entstehen. schon alles beruhigen. Für die anwohnenden Schwaben wirkt sich der Aus- Mit einigen Aufklärungsveranstaltungen und Ausstel- bau auch direkt positiv aus. So kommt es zu einer deutli- lungen, so dachte man, seien die Stuttgarter Bürgerin- chen Verbesserung der Flughafenanbindung mit deutli- nen und Bürger genug informiert. Diese Einschätzung cher Verkürzung der Reisezeiten aus den südlichen war falsch. Es stellt sich aber auch die Frage, warum Landesteilen: sich dieser massive Protest erst im Sommer 2010, als die Von Tübingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr- Pläne längst beschlossen und bekannt waren, formierte? zeit von 64 auf 35 Minuten – 29 Minuten Zeitgewinn. Kam der Protest angesichts der anstehenden Landtags- Von Reutlingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr- wahlen im März 2011 vielleicht einigen gerade recht? zeit von 75 auf 25 Minuten – 50 Minuten Zeitgewinn. Der Vorschlag eines Volksentscheides wurde im Land- Von Nürtingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr- tag Baden-Württemberg mit den Stimmen von CDU, FDP zeit von 68 auf 11 Minuten – 57 Minuten Zeitgewinn. Von und Grünen abgelehnt. Stattdessen wurde die Schlich- Horb zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 66 tung von Ministerpräsident Mappus als Lösungsweg prä- Minuten auf 33 Minuten – 33 Minuten Zeitgewinn. sentiert, als Notbremse nach dem indiskutablen und ver- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposi- heerenden Einsatz der Polizei am „schwarzen tion, geben Sie Ihre Haltung als Dauerblockierer auf, Donnerstag“. steigen Sie ein in den Zug der Zukunft, und unterstützen Sie den Ausbau von Stuttgart 21 und der Strecke Wend- Die Schlichtung vor laufender Kamera trug zwar zur lingen–Ulm! Die kommenden Generationen werden es Entgiftung der aufgeheizten Stimmung bei, aber nicht Ihnen danken. zur Befriedung. Das Positive an dieser Form der Her- stellung von Öffentlichkeit war: Ein Mythos wurde ent- zaubert. Es geht bei Stuttgart 21 nicht um Leben oder Ute Kumpf (SPD): Tod. Es geht um ein Infrastrukturprojekt, und es geht um Die heute zur Debatte stehenden Anträge sind in ei- unterschiedliche Auffassungen, wie wir in Stuttgart und ner Phase entstanden, als die Stimmung in Stuttgart ge- Baden-Württemberg Stadtentwicklung und Mobilität gen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hochkochte, als ein nachhaltig gestalten. Es geht darum, wie wir zukünftig Teil der Bürgerschaft in Stuttgart sich aufgewühlt gegen mehr Verkehr von der Straße auf ein modernes europäi- die Pläne von Stadt, Bahn und Land stellte und rebel- sches Schienenverbundnetz bringen, wie wir die Ver- lierte, als die Politiker als „Lügenpack“, „Mafiosi“ und (B) kehrsträger besser miteinander vernetzen und wie wir (D) „Kannibalen“ diffamiert wurden, als die politische Welt neugewonnene Fläche in Stuttgart zu einem hoffentlich vereinfacht wurde in „Ihr da oben“ und „Wir da unten“. nachhaltigen Innenstadtquartier entwickeln. Wir, das Die Gegner des Projektes Stuttgart 21 redeten über sind Stuttgart und Baden-Württemberg als leistungs- die gewählten Vertreter in den Parlamenten im Bund, im stärkste Wirtschaftsregion Europas. Land und in der Kommune, als seien wir alle Rosstäu- scher und Berufsversager, die nichts Richtiges zustande Bei der Schlichtung sind Details und Expertenwissen bringen. Politiker und Experten wurden in einen Sack zu einer höchstkomplexen Planung auf den Tisch gekom- gesteckt, und es wurde kräftig draufgeschlagen. Stutt- men, das öffentliche Interesse war riesengroß – Phoenix gart 21 wurde bundesweit zum Bürgerprotest schlecht- verzeichnete einen Zuschauerrekord. hin. Heiner Geißler hat in seinem Schlichterspruch vom Angesichts dieser Entwicklung forderte die SPD im 30. November 2010 eine Reihe von Kritikpunkten der Land wie im Bund einen Volksentscheid über Stuttgart 21 Gegner aufgenommen, die bei der weiteren Planung und und die Zustimmung zum Projekt, da dieser aufgewühlte Durchführung des Projekts Stuttgart 21 berücksichtigt Volkszorn nur auf diese Weise befriedet werden kann. Ein werden sollen. Schwachstellen wurden identifiziert, die ungewöhnlicher Vorschlag, da das Projekt in den ver- beseitigt werden sollen. Das Projekt Stuttgart 21 soll gangenen Jahren alle parlamentarischen Hürden ge- baulich attraktiver, umweltfreundlicher, behinderten- nommen hatte; denn Stuttgart 21 wurde bereits über freundlicher und sicherer gemacht werden. Im Klartext zehn Jahre hinweg in den parlamentarischen Gremien heißt das, aus Stuttgart 21 wird Stuttgart 21 plus. von Stadt, Land und Bund debattiert. Rund 60 Alternati- ven wurden beleuchtet und wieder verworfen, ehe am Zum zentralen Ergebnis der Stuttgart-21-Schlichtung Ende Stuttgart 21 als beste Variante übrig geblieben ist. gehört der verordnete Stresstest. Die SPD unterstützt den Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss die Die Eskalation im Sommer 2010 ist den politisch Ver- Deutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahn- antwortlichen der Stadt Stuttgart und der schwarz-gel- hofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau be- ben Landesregierung zuzuschreiben – allen voran Ober- findliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzen- bürgermeister Schuster und Ministerpräsident Mappus. stunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann. Aber auch die Bahn trägt Mitschuld daran, dass sich der Protest gegen Stuttgart 21 aufschaukeln konnte. Sie sind Beim Schlichterspruch und Stresstest dürfen Bahn, für den Kommunikations-GAU verantwortlich. Sie ha- Land und Stadt keine politischen Spielchen treiben. ben sich lange auf die Zuschauertribünen zurückgezo- Transparenz hat höchste Priorität.

Zu Protokoll gegebene Reden 11424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Ute Kumpf (A) Die Deutsche Bahn AG muss den Stresstest öffentlich mehr werden die Zwischenergebnisse sowie die weitere (C) gestalten und im Dialog mit den Kritikern bleiben. Die Realisierung des Projektes durch ein von der Landesre- Bahn darf nicht den Eindruck erwecken, hinter ver- gierung geschaffenes Dialogforum begleitet. Unter Lei- schlossenen Türen zu agieren. tung des Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Zen- trums für Luft- und Raumfahrt (DLR), Professor Die Proteste halten trotz der Schlichtung an, zwar Dr. Johann-Dietrich Wörner, wird der partnerschaftli- weniger vehement, aber sie finden statt, montags und che Dialog mit den Projektgegnern fortgesetzt. Mit dem samstags mit nachlassender Beteiligung. Daher halten Forum wird eine Plattform geschaffen, die über den wir es nach wie vor für unumgänglich, unseren vorge- Austausch hinaus Anregungen und Vorschläge bei der schlagen Weg einer Volksabstimmung zu gehen. weiteren Realisierung des Projekts erarbeitet und ein- Wir alle sind gut beraten, neue Wege der Beteiligung bringt. So kann in verschiedenen Dialoggruppen, bei- zu gehen und dafür die rechtlichen Grundlagen zu schaf- spielsweise zur Baubegleitung oder zur Parkgestaltung, fen. Wir müssen Antworten auf die Frage geben, wie wir die Umsetzung von Stuttgart 21 aktiv begleitet werden. künftig Bürgerbeteiligung bei Großprojekten gestalten. Wir sind somit auf einem guten und richtigem Weg. Wir beschleunigen die Zustimmung zu Projekten Gleichwohl dürfen wir uns nicht zurücklehnen, son- nicht, indem wir weniger Beteiligung möglich machen. dern müssen die bei Stuttgart 21 aufgezeigten Defizite Zustimmung zu Großprojekten kann gewonnen werden, im Planungsverfahren aktiv angehen. Wir brauchen bei wenn frühzeitig, umfassend und nachvollziehbar infor- künftigen Großprojekten eine verbesserte Transparenz, miert wird, Beteiligungsformen neu entwikkelt und die kürzere Planungsverfahren sowie zu einem früheren Vorschläge aus der Bürgerschaft aufgenommen werden. Zeitpunkt mehr Bürgerbeteiligung. Wir als FDP-Bun- destagsfraktion haben bereits in einem Positionspapier Der Ausbau der Rheintalbahn und das Konzept „Ba- „Beteiligung und Erneuerung – 16 Punkte zur Bürger- den 21“ der Bürgerinitiativen im Rheintal können hier beteiligung und Planungsbeschleunigung bei privaten Vorbild sein. und öffentlichen Investitionen“ Wege aufgezeigt, wie das Auch wir in den Parlamenten müssen unsere Haus- Planungsrecht bürgerfreundlicher gestaltet werden kann, aufgaben machen. Lassen wir bei den großen Verkehrs- ohne dabei auf die nötige Infrastruktur zu verzichten. projekten das populistische Süppchenkochen! Das Säen Denn wir brauchen auch in Zukunft staatliche Infra- von Misstrauen – so wie jüngst durch das Schnellgut- strukturprojekte und große private Investitionsvorhaben achten der Grünen zum Stresstest – und das Surfen auf in Deutschland. Forschung und Entwicklung befördern der Skandalisierungswelle führen in die Irre und zerstö- neue Technologien. Neue Technologien schaffen neue ren das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Industrien, eine schnellere und bessere Bahn mit neuen (B) Schienenwegen und Bahnhöfen, klimafreundliche Ener- (D) Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf den gie nicht ohne neue Anlagen zur Energiegewinnung und Weiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstim- neue Leitungsnetze. mung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojekte brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem Wir müssen Bürokratie abbauen und Verfahren ver- 27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid auf einfachen, um staatliche und private Investitionen zu be- den Weg gebracht werden kann. schleunigen und um zusätzliche Wachstumsimpulse zu Wir, die SPD, stehen zu S 21 und auch zu S 21 plus. setzen. Zugleich müssen wir weiterhin hohe Umwelt- Wir stehen als SPD aber auch dafür, dass ein derartig schutzstandards gewährleisten sowie mehr Transparenz wichtiges Projekt nicht über zehn Jahre hinweg unter der Verfahren und mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen, Polizeischutz gebaut wird. Der Schlichterspruch um die Akzeptanz für Großprojekte zu verbessern. In braucht die demokratische Legitimation, und das geht diesem Sinne setzt die FDP-Bundestagsfraktion sich für nur über einen Volksentscheid. einen Paradigmenwechsel ein. Wir wollen einerseits die Verfahren und Prozesse beschleunigen und andererseits die Bürger stärker einbeziehen. Werner Simmling (FDP): Eine im Sommer 2010 ziemlich angespannte Situa- Information und Beteiligung ist kein Recht, das der tion um das Projekt Stuttgart 21 wurde in einem modell- Staat seinen Bürgern gewährt, sondern das Grundprin- haften Schlichtungsverfahren zu einem für alle Beteilig- zip einer freien und liberalen Bürgergesellschaft. Bür- ten annehmbaren Ergebnis geführt. Allen voran gilt gerbeteiligung und Planungsbeschleunigung widerspre- unser Dank der hervorragenden Arbeit des Schlichters chen sich dabei in einem Rechtsstaat nicht, sondern sie Dr. Geißler. Alle am Schlichtungsverfahren beteiligten ergänzen sich. Denn eine frühzeitige Bürgerbeteiligung Gruppen haben am 30. November 2010 den Schlichter- bedeutet auch stärkere Akzeptanz, reduziert damit die spruch, der auch die Durchführung eines Stresstests for- Zahl der Klagen und beschleunigt am Ende das Verfah- dert, akzeptiert. Während der Schlichtung wurde verein- ren. Dabei sind eine stärkere Nutzung neuer Medien, bart, dass die DB AG den Stresstest unter Begutachtung beispielsweise E-Governance, anzustreben und die Öff- der Firma SMA durchführt. Auch damit haben sich alle nung des Planungsrechts für Mediationsverfahren sowie Beteiligten einverstanden erklärt. Die DB AG hat be- eine stärkere Rolle von Bürgerentscheiden bei der Be- reits frühzeitig mitgeteilt, dass der Stresstest nicht hinter stimmung der Eckpunkte des Planungsverfahrens her- verschlossenen Türen stattfinden wird, wie die Fraktion vorzuheben. Wir werden dem Deutschen Bundestag in Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag behauptet. Viel- Kürze die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11425

(A) Sabine Leidig (DIE LINKE): strecke Wendlingen–Ulm mit 35 Promille steiler sein (C) Zum notwendigen Ausstieg aus dem unterirdischen wird als die Geislinger Steige und dass dort wohl gar Projekt Stuttgart 21 will ich nichts mehr sagen. Es ist keine Güterzüge fahren werden. Im Rheintal dagegen entlarvt, und die Gegenargumente sind publik – dank oder um Fulda herum müsste dringend ausgebaut wer- der starken Protestbewegung. den, damit mehr Güterverkehr auf der Schiene rollen kann – aber da fehlen die Investitionsmittel. Das heißt: Am vergangenen Samstag konnten alle, die es woll- Die sündhaft teure Neubaustrecke nutzt dem Schienen- ten, sehen und hören: Der Widerstand gegen Stutt- güterverkehr rein gar nichts; im Gegenteil: Sie behin- gart 21 wird wieder stärker. Die Irritationen, die es im dert die Verlagerung von der Straße auf die Schiene. Zusammenhang mit dem unverantwortlichen, einseiti- gen und anmaßenden Schlichterspruch von Heiner Aber warum hält Herr Ramsauer daran fest? Er for- Geißler gab, spielen kaum mehr eine Rolle. Es waren ciert PPP-Projekte, bei denen Autobahnen mit Geldern wieder 50 000, die gegen dieses Projekt, das für die privater „Investoren“ finanziert und realisiert werden, Stadt und den Schienenverkehr zerstörerisch wirkt, auf denen dann die Mauteinnahmen zufließen. Aktuell treibt die Straße gingen. der Bundesverkehrsminister den sechsspurigen Ausbau der Autobahn Augsburg–Ulm auf diese Weise voran, Der Regisseur Volker Lösch hat dort in 600 Sekunden nachdem der Abschnitt München–Augsburg bereits 60 Lügen vorgetragen, die zur Begründung von S 21 an- durch PPP ausgebaut wurde. Als Nächstes wäre in die- geführt werden, und sie widerlegt. Und wie schon bei ser Logik der Autobahnausbau Ulm–Stuttgart dran. vorhergehenden Kundgebungen skandierten die Leute: „Lügenpack! Lügenpack!“ Das ist es, worüber ich re- Die „Schwäbische Zeitung“ schreibt am 3. Januar den will. 2011: Selbstverständlich verwende ich nicht den Begriff Privatautobahn: Der Albaufstieg wird teuer. Nach „Lügenpack“; aber sowohl die Bundeskanzlerin Frau dem erfolgreichen Pilotprojekt München–Augs- Merkel als auch der Verkehrsminister Herr Ramsauer burg steht nun die Strecke nach Ulm auf dem Pro- und der Ministerpräsident Herr Mappus verspielen in gramm. eklatanter Weise politische Glaubwürdigkeit und fügen damit der demokratischen Kultur Schaden zu. Das Und weiter heißt es zu den PPP-Autobahnprojekten: dürfte das Parlament nicht geschehen lassen. Sicher ist: Ohne reichlich Lastwagen rechnet sich Zunächst zur Kanzlerin, die vor einigen Monaten ve- die Sache nicht. Die Investoren reagieren höchst hement für das Projekt und gegen ein Bürgerbegehren hellhörig auf jeden Versuch, mehr Güter mit der (B) gesprochen hat, weil ansonsten die Vertrauenswürdig- Bahn zu transportieren. (D) keit Deutschlands bei Investoren und Wirtschaftspart- nern leide. Dieselbe Frau Merkel hat gerade offenbart, Es scheint, dass der Verkehrsminister lügt, wenn er dass solche Schwarzmalerei mitnichten der Wahrheit sagt, dass er die Schiene stärken will. In Wahrheit ist er entspricht. Bis vor kurzem hat sie behauptet, dass Atom- „ein Mann der Straße“, wie ihn die „Financial Times kraftwerke weiterlaufen müssen, weil sonst unsere Ener- Deutschland“ bei Amtsantritt vorstellte. gieversorgung gefährdet sei. Nach dem Super-GAU von Fukushima und vor den Landtagswahlen wurden jetzt Schließlich noch ein Wort zum baden-württembergi- sieben alte Atomkraftwerke abgeschaltet. Es ist kein schen Ministerpräsidenten: Herr Mappus kaufte mit viel Licht ausgegangen. Aber einigen ging ein Licht auf: Tat- Steuergeld den Atomstromenergiekonzern EnBW. Dabei sächlich ist ein kompletter Ausstieg aus der Atomenergie spielt ein Mappus-Freund, der Investmentbanker Dirk möglich. Aber das wurde bestritten, um den Energiekon- Notheis, eine wichtige Rolle. Derselbe Herr Notheis ist zernen die Extraprofite von 1 Million Euro täglich aus eng mit dem Projekt der Bahnprivatisierung verbunden. jedem abgeschriebenen AKW zu sichern. Dazu schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 14. Dezem- ber 2010: Übrigens hängt auch die Deutsche Bahn AG in der Atomseilschaft; sie ist an einem AKW beteiligt und fährt Mit einem Staatsauftrag, der Notheis besonders am erheblich mit Atomstrom. Wenn es die Bundeskanzlerin Herzen lag, war er … 2008 gescheitert: Unter dem ernst meinen würde mit ihrer neuen Atomkraftskepsis, Code-Namen „Oktoberfest“ wollte der Badener ... dann müsste sie dem einen Riegel vorschieben; immer- die Deutsche Bahn an die Börse bringen. hin handelt es sich hier um ein Unternehmen, das sich zu 100 Prozent in Bundeseigentum befindet. Die DB AG Eine äußerst unglaubwürdige Zickzackpolitik: Mappus muss sich komplett von der Atomenergie verabschieden lässt Baden-Württemberg einen Energieriesen kaufen, und auf regenerative Energien umsteigen! Zudem muss der sich besonders für Atomstrom engagiert. Der Ver- der Chef von RWE, Jürgen Großmann, den der Ver- mittler des Geschäfts ist ein engagierter Bahnprivatisie- kehrsminister im Aufsichtsrat der DB AG platziert hat, rer. Eine Woche vor der Wahl nimmt man einen Atom- ausgetauscht werden. meiler vom Netz, der auch noch Atomstrom an die Bahn lieferte. Und was würden Mappus und Merkel nach der Zweitens zu Bundesverkehrsminister Ramsauer: Er Wahl machen, wenn sie diese ohne allzu große Blessuren verweist immer wieder auf die europäischen Güter- überstehen sollten? Die Mehrheit der Bevölkerung weiß ströme und die großen Verkehrsachsen in Europa. Aller- darauf eine Antwort: Das Ganze ist lediglich ein Manö- dings wissen wir inzwischen alle, dass die S-21-Neubau- ver – dann gingen die Atomkraftwerke wieder ans Netz.

Zu Protokoll gegebene Reden 11426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Sabine Leidig (A) Übrigens: Am meisten Beifall erhielt Volker Lösch den waren. Doch ein entscheidender Akteur saß nicht (C) auf Lüge 59. Sie lautet: Mappus und Merkel behaupten, mit am Tisch. Der Bund bzw. das Bundesverkehrsminis- der 27. März sei „die Volksabstimmung über S 21“. terium hielt sich fein raus. Warum eigentlich? Wahr ist, dass der Kampf – unabhängig vom Ausgang Die Frage stellt sich vor allem, weil der Bund der der Wahl – weitergehen wird! Hauptzahler für den Umbau des Bahnknotens Stutt- So wie der Laufzeitverlängerungsdeal nicht der Ener- gart 21 und für die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm ist. giesicherheit diente, sondern den Stromkonzernen, die Dies war ein großer Mangel des Verfahrens; denn so mit jedem Tag, an dem ein abgeschriebenes AKW wei- fanden seine Interessen keinen Eingang in das Schlich- terläuft, 1 Million Euro machen, so dient Stuttgart 21 tungsergebnis. Die Konsequenzen für den Bundeshaus- nicht einem besseren Bahnverkehr, sondern den Tunnel- halt insbesondere bei der Neubaustrecke Wendlin- bohr-, Beton- und Immobilienkonzernen. gen–Ulm, die bereits heute eine Deckungslücke von 865 Millionen Euro aufweist, wurden nicht berücksichtigt, So wie die Bevölkerung bei der Atomkraft getäuscht obwohl Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke des Bundes worden ist, wird sie bei S 21 belogen. So wie AKW dem gar nicht funktioniert, sondern ohne Schienenanschluss Ausbau erneuerbarer, dezentraler Energien entgegen- im Nichts stehen würde. stehen, steht S 21 dem Ausbau einer besseren Bahn im Weg. Dabei ist das Schlichtungsergebnis für Stuttgart 21 vernichtend gewesen, und der Bund als Eigentümer der Es ist höchste Zeit für eine andere Politik: Atomkraft- DB AG und verantwortliche Instanz für den Aus- und werke abschalten – jetzt und für immer! Und: Stuttgart 21 Neubau des bundeseigenen Schienennetzes hätte davon abblasen und stattdessen bahnsinnige Alternativen bauen! höchst alarmiert sein müssen, insbesondere was die Wirtschaftlichkeit des Projektes betrifft. Denn der zen- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): trale Satz im Schlichterspruch von Heiner Geißler lau- In der heutigen Debatte zum Umbau des Stuttgarter tete: „Ich kann den Bau des Tiefbahnhofs nur befürwor- Hauptbahnhofs reden wir zunächst über drei Opposi- ten, wenn entscheidende Verbesserungen vorgenommen tionsanträge vom September 2010, die sich alle, wenn werden.“ auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, für einen so- Mit anderen Worten, Stuttgart 21 in seiner alten Form fortigen Baustopp des Projektes Stuttgart 21 und für ist tot. Es weist eklatante Mängel im Betriebskonzept mehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen auf, und der geplante unterirdische Engpass könnte nur und Bürger einsetzen. Darüber hinaus diskutieren wir durch erhebliche, teure Nachbesserungen beseitigt wer- einen aktuellen Antrag meiner Fraktion für einen trans- den. Damit sind neue Planfeststellungsverfahren nötig, (B) parenten Stresstest zur Leistungsfähigkeit des unterirdi- die einen erheblichen Zeitverzug und massive Kosten- (D) schen Bahnprojektes Stuttgart 21. steigerungen bedeuten. Anlass für die Anträge vom September letzten Jahres Dies bestätigt unser Misstrauen und die Forderung waren die monatelangen Proteste und Großkundgebun- unseres Antrages vom September 2010. Ein Baustopp ist gen der Gegner des Projektes, die seit dem Abriss des so lange zwingend erforderlich, bis die Wirtschaftlich- Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs täglich zu keit und Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 überprüft Tausenden kreativ und friedlich gegen Stuttgart 21 de- wurde. Erst danach kann eine Entscheidung über das monstrierten. Sie stammen also aus der Zeit vor dem Projekt endgültig gefällt werden. Versuch der baden-württembergischen Landesregierung am 30. September 2010, mit einem unverhältnismäßig Doch wie sieht nun diese Überprüfung von Stuttgart 21 harten Polizeieinsatz das Projekt gewaltsam durchzuset- nach der Faktenschlichtung in Stuttgart aus? Heiner zen, was zur Eskalation der Situation führte. Hunderte Geißler hatte in seinem Schlichterspruch sehr deutlich Menschen, die in Stuttgart im Park friedlich gegen die gemacht, dass der unterirdische Tunnelbahnhof nur als Baumfällarbeiten der Deutschen Bahn AG demonstrier- Stuttgart 21 plus funktioniert. Deshalb forderte er unter ten, wurden verletzt. Die politische Verantwortung dafür anderem die Erweiterung des Bahnhofs von ursprüng- tragen Ministerpräsident Mappus und Innenminister lich acht geplanten Gleisen auf zehn Gleise sowie zahl- Rech, nicht der Polizeipräsident; der trägt seine eigene reiche zusätzliche Baumaßnahmen an den Zulaufstre- Verantwortung als Polizeichef. cken, und er forderte, dass die DB AG im Rahmen einer Belastungssimulation eines sogenannten Stresstestes Erst dieser Eklat, der in eine bundesweite Diskussion den Nachweis erbringen müsse, dass Stuttgart 21 über- über die unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeit haupt in der Lage ist, in Spitzenbelastungszeiten die be- bei Großprojekten und die Durchsetzung solcher Pro- haupteten 30 Prozent mehr an Kapazität gegenüber dem jekte gegen massiven Widerstand aus breiten Schichten bestehenden Kopfbahnhof zu erbringen. der Bevölkerung mündete, führte dazu, dass Gegner und Trotzdem behaupteten DB AG sowie das Land und Befürworter des Projektes sich an einer Art rundem seine Partner schon unmittelbar nach der Schlichtung, Tisch unter Leitung von Heiner Geißler zur sogenannten die von Geißler geforderten Nachbesserungen seien gar Faktenschlichtung trafen. Das führte zur Versachli- nicht notwendig. Der Stresstest werde ergeben, dass man chung der Diskussion und dazu, dass endlich deutlich so verfahren könne, wie ursprünglich geplant. mehr – allerdings noch längst nicht alle – Fakten auf den Tisch kamen, als sie den Parlamenten in Stadt, Land Das ist ja an sich schon bezeichnend, weil damit und auf Bundesebene zuvor je zugänglich gemacht wor- quasi das Ergebnis schon vorher feststeht und man den

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11427

Winfried Hermann (A) vielgelobten Schlichter Heiner Geißler Lügen straft, be- Das ist skandalös und verantwortungslos. Und des- (C) vor der Stresstest überhaupt vollzogen wurde. Verwun- halb kann ich Ihnen nur zurufen: Kommen Sie endlich derlich ist es jedoch nicht, wenn man weiß, dass die DB zur Vernunft, und stoppen Sie dieses unsägliche Projekt! AG den Stresstest hinter verschlossen Türen durchführt Investieren wir in einen zukunftsfähigen Schienenver- und weder unabhängige Experten noch Kritiker des Ak- kehr in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik. tionsbündnisses daran beteiligt werden sollen. Bei Stutt- gart 21 soll genauso verfahren werden wie in den Jahren Vizepräsident Eduard Oswald: zuvor. Die DB AG präsentiert Ergebnisse, die auf Zah- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- len, Daten und Fakten basieren, die nur der DB AG zu- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und gänglich sind und die der Eigentümer Bund und im Falle Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5172. Der Aus- von Stuttgart 21 auch die übrigen Projektpartner dann schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- so glauben müssen. Die angebotene Einsicht im Nachhi- empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der nein ist keine echte Kontrolle, weil man nicht weiß, was SPD auf Drucksache 17/2933 mit dem Titel „Kein Wei- an Daten eingegeben wurde. Die öffentliche Kontrolle terbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung“. Wer unterbleibt, obwohl maßgeblich die Steuerzahlerinnen stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- und Steuerzahler für die Risiken und die damit verbun- probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist denen Kostensteigerungen aufkommen müssen. Stattdes- angenommen. sen werden die Bürgerinnen und Bürger erneut damit Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- abgespeist, dass das Projekt durch parlamentarische lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa- Beschlüsse legitimiert sei, obwohl diese auf der Grund- che 17/2914 mit dem Titel „Stuttgart 21, Neubaustrecke lage fragwürdiger Informationen bzw. besser gesagt Wendlingen–Ulm und das Sparpaket der Bundesregie- Nichtinformationen zustande gekommen sind. rung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Das ist für uns in höchstem Maße unglaubwürdig, lung ist angenommen. und darauf wollten wir uns verlassen. Schließlich muss- ten wir in den letzten Jahren seit Gründung der DB-Ak- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- tiengesellschaft schon viele schlechte Erfahrungen mit be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- der Informationspolitik des DB-Konzerns sammeln. trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- Deshalb hat die grüne Landtagsfraktion in den letzten che 17/2893 mit dem Titel „Sofortiger Baustopp für Wochen eine eigene Studie zur Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm“. Stuttgart 21 in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist dra- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- (B) matischer als befürchtet. Stuttgart 21 erbringt nur dann probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist (D) die Leistung, die der unsanierte Kopfbahnhof bereits angenommen. heute erbringen kann, wenn alle von Heiner Geißler auf- Zusatzpunkt 11. Abstimmung über die Beschluss- gestellten Nachbesserungen vorgenommen werden, also empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und das sogenannte Stuttgart 21 plus vollständig umgesetzt Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion wird. Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts DB AG und das Land wollen also gegen allen gesun- Stuttgart 21“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- den Menschenverstand Milliarden sinnlos verschleu- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5236, den Antrag dern für ein Projekt, das nichts anderes kann als der alte der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache Bahnhof, nur damit dieser unter der Erde verschwindet. 17/5041 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlussemp- Und der Bund schaut tatenlos zu. fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Und was sind die Konsequenzen? Es werden auf schlussempfehlung ist angenommen. Jahrzehnte große Teile der Haushaltsmittel für den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Schienenausbau für ein sinnloses Doppelprojekt ver- schwendet. Sie, liebe Regierungskoalitionäre, nehmen Beratung des Antrags der Abgeordneten damit wider besseres Wissen in Kauf, dass der Ausbau Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion von Projekten mit immenser verkehrlicher und volks- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirtschaftlicher Bedeutung wie zum Beispiel der Ausbau der Hafenhinterlandstrecken von den Nordseehäfen in Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusver- Richtung Südeuropa deshalb aufgeschoben werden kehr muss. Für die Folgen nämlich, dass die Güter dort nicht – Drucksache 17/5057 – rechtzeitig auf die klimafreundliche Schiene verlagert werden können und ab 2017 vor dem dann hervorragend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) ausgebauten Gotthardtunnel in der Schweiz im Stau ste- Rechtsausschuss cken bleiben, sind Sie voll verantwortlich. Ebenso sind Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Sie voll verantwortlich, wenn der erst vor wenigen Ta- Verbraucherschutz gen hier im Hause versprochene anwohnerfreundliche Ausschuss für Tourismus Ausbau der Rheintalbahn sich noch um Jahrzehnte ver- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die zögert, weil die Mittel sinnlos vergraben werden. Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die 11428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Eduard Oswald (A) Reden der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Vogel, Reise anbieten oder den Fahrgast auf andere Weise ent- (C) Ulrich Lange, , Heinz Paula, Patrick schädigen. Döring, Eigentlich muss man den Fernbusverkehr nicht für (Beifall bei der FDP) die Fahrgäste attraktiv machen, denn er ist es bereits. Thomas Lutze, Dr. Anton Hofreiter. Die Fahrgäste haben keinerlei Gepäcktransfersorgen, und sie kommen für deutlich weniger Geld von A nach B als mit anderen Verkehrsmitteln. Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Die auf der EU-Ebene beschlossene Verordnung zu Die Fahrgastrechteverordnung ist unter Mitwirkung den Fahrgastrechten im Kraftomnibusverkehr regelt alle aller Beteiligten rechtmäßig zustande gekommen. Bei nationalen und grenzüberschreitenden Linienverkehrs- dem Vermittlungsverfahren auf EU-Ebene wurden be- dienste im Langstreckenverkehr bei einer Entfernung ab reits circa 50 Änderungen zum Entwurf des Rates mitge- 250 Kilometer. Sie tritt im Frühjahr 2013 in Kraft, und teilt und teilweise übernommen. Unter anderem wurde die Nationalstaaten haben die Möglichkeit, eine Schon- der Geltungsbereich von 500 auf 250 Kilometer abge- frist von vier Jahren mit einer einmaligen Verlängerung, senkt, und statt der zunächst vorgesehenen drei grundle- also insgesamt acht Jahren, zu beschließen. genden Fahrgastrechte sind nun zwölf aufgeführt. Folgende wesentliche Regelungen wurden im Ver- Die Grünen hatten während des gesamten – seit 2005 mittlungsausschuss auf europäischer Ebene vereinbart: währenden – Prozesses die Gelegenheit, sich einzubrin- gen und ihre Argumente vorzubringen. Verzögert sich die Abfahrt um mehr als 90 Minuten, haben die Fahrgäste bei Fahrten mit planmäßiger Die Verordnung sieht nicht ohne Grund davon ab, Dauer von über drei Stunden Anspruch auf Imbisse und alle Fahrgastrechte auf alle Streckenlängen auszuwei- Erfrischungen. Im Fall einer Unterbrechung der Fahrt, ten. Von „Rechtlosigkeit“ der Buspassagiere kann keine eines Unfalles oder bei Verspätungen, die eine Über- Rede sein. Bestimmte Basisrechte – auf Information bzw. nachtung erfordern, muss der Anbieter zusätzlich die auf Hilfeleistung nach Unfällen – gelten auch unabhän- Hotelkosten für maximal zwei Übernachtungen von bis gig von der Streckenlänge. zu 80 Euro pro Nacht aufkommen. Würden die von den Grünen gemachten Vorschläge Wünscht ein Fahrgast, nach einer Reiseantrittsver- so verwirklicht, hätte dies zur Folge, dass der Fernbus- spätung von 120 Minuten von der Reise zurückzutreten, verkehr so teuer wäre, dass kaum ein Fahrgast ihn be- hat er das Recht auf die volle Fahrpreiserstattung. zahlen könnte bzw. wollte, und das wäre dann erst recht (B) Die Verordnung sieht zudem eine Entschädigung in kein verantwortungsvolles Handeln im Interesse der (D) Höhe von 50 Prozent des Fahrpreises zusätzlich zur Er- Verbraucher. stattung des regulären Fahrpreises vor, wenn ein Anbie- ter nach einer Verspätung von zwei Stunden eine Fahrt Im Übrigen arbeiten die Unternehmen bereits jetzt annulliert und diese auch nicht auf geänderter Strecken- sehr gut mit der im Antrag erwähnten Schlichtungsstelle führung oder mit anderen Transportmitteln durchführen für den öffentlichen Personenverkehr e. V. (söp) zusam- kann. men. Aus deren Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist. Der Anbieter ist nur bei Naturkatastrophen oder ex- Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen hier nur vier tremen Wetterbedingungen, die eine sichere Weiterreise den Busverkehr. Dies ist nicht Ausfluss fehlender Fahr- unmöglich machen, hiervon befreit. gastrechte, sondern eher die Folge großer Fahrgastnähe. Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes Für verlorene oder beschädigte Gepäckstücke sollen Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, so- Busunternehmen zukünftig mit bis zu 1 200 Euro haften, dass diese ihn weiterempfehlen und wiederkommen. es sei denn, die nationale Gesetzgebung sieht höhere Entschädigungsleistungen vor. Des Weiteren ist eine Außerdem dürfte die von den Grünen darüber hinaus Haftungssumme von bis zu 220 000 Euro für Todesfälle geforderte verpflichtende Beteiligung an einer Schlich- und Verletzungen von Fahrgästen vorgesehen. tungsstelle zwar unter gewissen Voraussetzungen recht- Insgesamt wurde eine ausgewogene Lösung im Euro- lich möglich sein. Doch muss dazu deutlich gesagt wer- päischen Parlament erzielt, die sowohl die Rechte der den, dass bereits heute, unabhängig vom Verkehrsmittel, Busreisenden schützt und dennoch die Existenz der zu- der Zugang zur Schlichtungsstelle gewährleistet ist. Au- meist kleinen und mittleren Busunternehmen sichert. ßerdem wird durch einen Schlichterspruch nicht das Recht ausgeschlossen werden, auch ein rechtsbindendes Der Geltungsbereich der Verordnung umfasst zwar Urteil vor einem staatlichen Gericht erstreiten zu dür- nur die Touren mit einer Gesamtlänge ab 250 Kilometer, fen. aber auch Passagiere, die nicht die gesamte Strecke mit- fahren, genießen den Schutz der Verordnung und haben Ich bin der Meinung, dass es jetzt erst einmal gilt, die somit ein Recht auf Schadenersatz. Regelungen in der Praxis zu beobachten, um dann bei Bedarf weitere Maßnahmen zu ergreifen. Dies gilt auch bei Annullierungen von Reisen, Über- buchungen oder Verspätungen. Hier muss der Veranstal- Ich wünsche den Ausschussmitgliedern intensive und ter zwingend eine andere Lösung zur Fortsetzung der konstruktive Diskussionen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11429

(A) Ulrich Lange (CDU/CSU): ist also in besonderer Weise von Straßenzustand, Ver- (C) Der Schutz der Verbraucher ist ein wichtiges Recht in kehrsfluss und Witterung abhängig. Daher ist eine über- Deutschland. Auch der Fahrgast muss geschützt werden, mäßige Haftung für Verspätungsschäden äußerst pro- egal ob er mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Bus un- blematisch, weil die Verspätungen in der Regel auf terwegs ist. Mit ihrem Antrag auf Fahrgastrechte im Umständen beruhen, die vom Busunternehmer nicht be- Busverkehr suggerieren die Grünen unter dem Deck- einflussbar sind. mantel des Verbraucherschutzes, dass Buspassagiere, die weniger als 250 km reisen, in Deutschland nahezu Die Vorstellung der Grünen vom Busverkehr gehen rechtlos seien. Dies ist aber nicht der Fall. Auch diese an der Realität vorbei. So soll die diskriminierungsfreie Busfahrgäste haben viele Rechte, beispielsweise das Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten Verbot der Diskriminierung von Fahrgästen aufgrund und mobilitätseingeschränkten Personen zwingend vor- ihrer Nationalität; das Verbot der Diskriminierung von geschrieben werden. Aber nicht jeder Bus hat eine Hub- Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mo- einrichtung, um einem Schwerstbehinderten den Ein- bilität sowie finanzielle Entschädigungen bei Verlust stieg zu ermöglichen. Das haben nur wenige Busse. oder Beschädigung ihrer Mobilitätshilfen infolge eines Wollen Sie alle anderen vom Wettbewerb ausschließen? Unfalls; Mindestvorschriften für die Information aller Die besten Rechte auf dem Papier nützen nichts, Fahrgäste vor und während der Fahrt sowie allgemeine wenn sie praxisfern sind. Ein Kardinalfehler bei Ihnen Unterrichtung über ihre Rechte an den Busbahnhöfen von den Grünen ist, dass Sie bei Ihren Überlegungen und über das Internet; Einrichtung eines Verfahrens für nicht die Unternehmer mit ins Boot nehmen. Wie bei die Bearbeitung von Fahrgastbeschwerden; die Benen- Stuttgart 21 der Fehler gemacht wurde, die Bevölkerung nung unabhängiger nationaler Stellen in allen Mitglied- nicht in die Planungen einzubeziehen, ignorieren Sie die staaten mit dem Auftrag, die Verordnung durchzusetzen berechtigten Belange der mittelständigen Busunterneh- und Verstöße gegebenenfalls zu ahnden. mer und stellen Ihre Forderungen realitätsfremd vom Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf fernen Schreibtisch aus. die vorhergehende Anfrage der Grünen auf den beste- henden Rechtsschutz für die Buspassagiere hingewie- Zu Ihrer Forderung, eine verpflichtende Beteiligung sen. Sowohl im Busreiseverkehr als auch im Linienver- von Busfernreiseunternehmen an der Schlichtungsstelle kehr liegen die Rechte der Fahrgäste und die Haftung für den öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, vorzuse- der Unternehmen an der europäischen Spitze. hen, möchte ich Ihnen sagen, dass die Busunternehmen schon lange sehr gut mit der SÖP zusammenarbeiten. Es Wir stehen der europarechtlichen Regelung von muss nicht alles juristisch vorgeschrieben werden. Ha- Fahrgastrechten auch im grenzüberschreitenden Bus- (B) ben Sie etwas Vertrauen in unsere soziale Marktwirt- (D) fernlinienverkehr positiv gegenüber. Dieser kann jedoch schaft. Auch im Busverkehr werden sich langfristig die nicht eins zu eins auf den Nah- und Regionalverkehr kundenfreundlichen Busunternehmen durchsetzen. übertragen werden. Denn während nach Kommissions- angaben im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr Aus dem söp-Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die jährlich europaweit 72,8 Millionen Busfahrgäste beför- Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist. dert werden, waren es 2008 allein im ÖPNV in Deutsch- Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen 1 509 die land 5,4 Milliarden Busfahrgäste. Dies stellt für die Bahn, 98 den Flugverkehr und 4 den Busverkehr. Dies praktischen, wirtschaftlichen und verwaltungsbezoge- ist nicht ein Anzeichen für fehlende Fahrgastrechte, son- nen Folgen europaweit verbindlicher individueller dern für große Fahrgastnähe und Kundenzufriedenheit. Fahrgastrechte eine völlig andere Dimension dar. Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, so- Der Antrag der Grünen ist nicht fachdienlich. Er wird dass diese wiederkommen und ihn weiterempfehlen. zu keinen besseren Busverbindungen führen, sondern im Gegenteil, er würde, wenn er denn durchkäme, zu weni- Fahrgastrechte auch im Buslinienverkehr sind wich- ger Wettbewerb und damit zu weniger Verbindungen bei tig. Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Über- wesentlich höheren Fahrpreisen führen. Dies wollen wir triebene Forderungen führen nur zu weniger Wettbe- nicht. Dies ist mit uns nicht zu machen! werb, geringerem Angebot und hohen Fahrpreisen. Das Verspätungen – egal ob in der Bahn, im Flieger, im ei- ist nicht im Sinne der Verbraucher und der Fahrgäste. genen Auto oder mit dem Bus – sind immer unangenehm. Treten Sie ein in einen konstruktiven Dialog mit den be- Aber wir müssen natürlich im Falle einer Verspätung troffenen Unternehmen, um einen für alle Seiten akzep- fragen: Wer hat die Zeitverzögerung verursacht, wer ist tablen Kompromiss zu finden. schuld? Wenn ein Stau aufgrund eines Unfalls entsteht, wenn der Busfahrer bei plötzlich auftauchendem Nebel Ulrike Gottschalck (SPD): oder Blitzeis seine Geschwindigkeit halbieren muss, Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten kann da der Busunternehmer mit allen Folgekosten in sind gesetzlich verankerte Rechte für Verbraucherinnen Regress genommen werden? und Verbraucher, die wirksam durchgesetzt werden, sehr Im Gegensatz zu den Bahnen fahren die Busse auf öf- wichtig. Wir wollen, dass Kundinnen und Kunden fentlichen Straßen und nicht auf Sondertrassen. Verspä- grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe mit Anbietern von tungen im Busverkehr gehen in der Regel auf Straßen- Dienstleistungen und Produkten am Markt teilnehmen und Witterungsverhältnisse zurück. Der Busfernverkehr und agieren können.

Zu Protokoll gegebene Reden 11430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Ulrike Gottschalck (A) Im Bereich der Fahrgastrechte hat die sozialdemo- Schlichtungsstelle söp vorzusehen, wenngleich wir wis- (C) kratische Bundesministerin der Justiz, , sen, dass eine verpflichtende Beteiligung bei einem in der Großen Koalition das Fahrgastrechtegesetz Schlichtungsverfahren einen Widerspruch in sich selbst durchgesetzt. Es trat am 29. Juli 2009 in Kraft. darstellt. Wir hoffen jedoch, durch solch eine pointierte Formulierung einen Prozess voranzutreiben, um mehr Mit diesem Gesetz wurden die deutschen eisenbahn- Verkehrsunternehmen dazu zu bringen, sich der söp an- rechtlichen Vorschriften an die Verordnung (EG) zuschließen. Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflich- Denn es ist uns doch allen klar, dass ohne die freiwil- ten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr angepasst. Mit lige Mitarbeit der Verkehrsunternehmen eine Schlich- diesem Gesetz wurden die Rechte der Fahrgäste maß- tung nicht möglich sein kann. Es liegt auch in der Natur geblich verbessert und gegenüber den europäischen eines Schlichterspruchs, dass er nur erfolgreich ist, Vorgaben erheblich erweitert. Bahnkundinnen und wenn sich beide Streitparteien daran freiwillig gebun- Bahnkunden erhalten ab einer Verspätung von 60 Minu- den fühlen. Außerdem kommt die Schlichtung immer erst ten einen Anspruch auf Erstattung von 25 Prozent des dann zum Einsatz, wenn der oder die Reisende von dem Fahrpreises. Bei einer Verspätung ab 120 Minuten er- betroffenen Verkehrsunternehmen keine befriedigende halten sie dank dieses Gesetzes einen Anspruch auf Er- Antwort erhalten hat. Die Befürchtung mancher Ver- stattung von 50 Prozent des Fahrpreises. kehrsunternehmen, vom Staat in ein Schlichtungsver- fahren gezwungen zu werden, entbehrt einer realen Ein sehr wichtiger weiterer Schwerpunkt dieses Ge- Grundlage. Vielmehr gibt es gute Gründe auch für Ver- setzes ist die Möglichkeit für den Fahrgast, eine Schlich- kehrsunternehmen, sich freiwillig einem verkehrsüber- tungsstelle anzurufen, wenn es zu Streitfällen mit einem greifenden Schlichtungsverfahren anzuschließen. Eisenbahnunternehmen kommt. Brigitte Zypries hat mit dem von ihr durchgesetzten Mit dem Gesetz von Brigitte Zypries ist die soge- Fahrgastrechtegesetz für den Bereich Bahn auch die nannte Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personen- Rechte von behinderten Personen und Personen mit ein- verkehr e. V., abgekürzt söp, gegründet worden. Diese geschränkter Mobilität sehr gestärkt. Das Gesetz Schlichtungsstelle hat mittlerweile sehr erfolgreiche Ar- schreibt vor, dass Bahnhöfe, Bahnsteige, Fahrzeuge und beit geleistet und sich eine parteiübergreifende Anerken- sonstige Einrichtungen für Personen mit eingeschränk- nung erworben, parteiübergreifend sowohl im poltischen ter Mobilität zugänglich sein müssen. Wir begrüßen den Spektrum als auch bei Fahrgästen und Verkehrsunter- Vorstoß der Grünen, mit ihrem vorliegenden Antrag zu nehmen. Die söp kann immerhin eine Schlichtungsquote fordern, diese Rechte auch auf den Bereich Bus auszu- von 91 Prozent aufweisen. Und das heißt, dass bei dehnen. (B) 91 Prozent der Fälle, die von der söp bearbeitet worden (D) sind, beide Streitparteien den Schlichterspruch der söp Gerade angesichts der Aktivitäten der Bundesregie- angenommen haben. Oftmals konnte durch einen solchen rung, mit dem seit Januar vorliegenden Referentenent- Schlichterspruch sogar das Vertrauensverhältnis zwi- wurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle das schen Fahrgast und Verkehrsunternehmen wiederherge- Fernverkehrsmonopol der Bahn aufzugeben und ab stellt werden. 2012 einen Fernbusverkehr in Deutschland zulassen zu wollen, kommt der Stärkung der Fahrgastrechte im Bus- Aus vielen Informationsquellen weiß ich, dass dieses bereich eine besondere Bedeutung zu. System gut gelingt. Die Passagiere kommen an die Ent- schädigungen, die ihnen zustehen, ohne vorher zeit-, Der Entwurf zur Personenbeförderungsgesetz-No- nerven- und kostenaufwendig vor deutschen Gerichten velle der Bundesregierung wird mehr Fahrgäste von der zu klagen, was bei einem Streitwert zwischen 50 und Schiene auf den Bus umleiten. Die Möglichkeit, Sozial- 100 Euro und darunter oftmals nicht wirklich ernsthaft und Qualitätsstandards vorzugeben, wird durch den Ge- in Betracht gezogen wird. Unter dem Dach dieser setzentwurf ausgehebelt. Eine nichtregulierte Freigabe Schlichtungsstelle beteiligen sich heute mehr als des Fernlinienbusverkehrs ohne Mautpflicht und Fahr- 120 Verkehrsunternehmen im Sektor Bahn, Bus, Schiff, gastrechte ermöglicht den Fernlinienbussen niedrige ÖPNV und teilweise auch im Flugbereich freiwillig am Preise, die dem Schienenverkehr Fahrgastverluste und Schlichtungsverfahren. Streckenstilllegungen bescheren werden. Will man wirk- lich gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Fernbus Dieser Ansatz der verkehrsträgerübergreifenden und Fernzug, muss man auch für beide Verkehrsmittel Schlichtung schafft Kundenfreundlichkeit, Stärkung der gleiche Fahrgastrechte vorschreiben. Verbraucherrechte und gleiche Augenhöhe von Kunden und Dienstleistern, die in vielen anderen Bereichen nicht Schließlich beinhaltet der Antrag von Bündnis 90/Die vorhanden ist. Deshalb setzen wir Sozialdemokratinnen Grünen einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt. Ohne und Sozialdemokraten uns für eine möglichst breite Be- eine Durchsetzung der Verbraucherrechte im Busfern- teiligung der Verkehrsunternehmen am Schlichtungsver- verkehr ab dem ersten Kilometer, wie es die Grünen in fahren unter dem Dach der söp ein. dem vorliegenden Antrag fordern, würden nach der ak- tuell vereinbarten EU-Verordnung über die Fahrgast- Wir unterstützen den vorliegenden Antrag von Bünd- rechte im Omnibusverkehr die Fahrgastrechte erst nach nis 90/Die Grünen, „Stärkung der Fahrgastrechte im der Überschreitung einer Reisedistanz von 250 Kilome- Fernbusverkehr“, auch in dem Punkt, die verpflichtende tern gelten. Das heißt, dass für Busse von Aachen nach Beteiligung von Busfernreiseunternehmen an der Trier, von Luxemburg nach Saarbrücken oder von Berlin

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11431

Ulrike Gottschalck (A) nach Stettin keinerlei Entschädigungsregeln gelten wür- Wenngleich wir einer Änderung des Personenbeför- (C) den, würden wir die kürzlich verabschiedete EU-Verord- derungsgesetzes aus bekannten Gründen nicht zustim- nung eins zu eins in Deutschland umsetzen. Das können men wollen, wird es wohl, sobald die Gesetzesänderung wir nicht akzeptieren. durch ist, auf deutschen Straßen zu wesentlich mehr Busfernverkehr kommen. Da müssen wir vorsorgen! Es ist uns bewusst, dass die Forderungen von Bünd- nis 90/Die Grünen in ihrem vorliegenden Antrag über Verbraucherrechte ab dem ersten Kilometer durch- den gegenwärtigen Status quo der vorhandenen Fahr- setzen zu wollen, ist sinnvoll, sofern es sich dabei um gastrechte hinausgehen, auch über den Status quo der Fernverkehr handelt. Entschädigungsansprüche bei Fahrgastrechte, die wir für den Bahnbereich durch das Verspätungen zu fordern, um ein verkehrsübergreifend Fahrgastrechtegesetz von Brigitte Zypries erreicht ha- gleiches Schutzniveau zu erreichen, ist ebenfalls sinn- ben. Die Grünen fordern Entschädigungsansprüche be- voll. Allerdings sollte hier genau überlegt werden, ob reits ab 30 Minuten Verspätung und nicht erst ab 60 Mi- man dann nicht auch die Fahrgastrechte verkehrsüber- nuten, wie es das Fahrgastrechtegesetz vorsieht. Eine greifend anpasst. Das heißt im Klartext: Entschädigung Forderung des vorliegenden Antrags lautet ebenfalls, ab 60 Minuten Verspätung. So ist es auch bei der Bahn ein verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau geregelt. Diese Position haben wir bereits in der vergan- für Fahrgäste zu erreichen. Sollen beide Forderungen, genen Wahlperiode vertreten, und dabei bleiben wir! Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätung für Busreisende und verkehrsträgerübergreifendes Die Forderung, Schadenersatzansprüche auf den tat- Schutzniveau für alle Fahrgäste, gleichzeitig umgesetzt sächlich entstandenen Folgeschaden zu gewährleisten, werden, müssten auch die Fahrgastrechte für Bahnkun- betrachten wir eher mit Skepsis. Soll ein Busunterneh- den entsprechend weiter ausgebaut werden. men wirklich für ein Musicalticket in Hamburg aufkom- men, wenn der Bus aus Berlin sich verspätet hat? Wir setzen uns für umfassende Rechte für Fahrgäste ein; deshalb können wir auch den vorliegenden Antrag Das Recht auf Nutzung anderer Verkehrsmittel ohne unterstützen. Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang zusätzliche Kosten dürfte selbstverständlich sein. Dies aber auch, dass wir nicht an jeder einzelnen Forderung unterstützen wir natürlich. des vorliegenden Antrags mit aller Macht festhalten Ebenso selbstverständlich muss eine diskriminie- werden. Wir können die Stoßrichtung des vorliegenden rungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, Seh- und Antrags unterstützen; allerdings werden nicht alle For- Mobilitätseingeschränkten sein. Darüber diskutieren derungen dieses Antrags von uns als unabdingbar be- wir nicht. trachtet. Über die eine oder andere Forderung werden wir sicherlich noch einmal vertieft diskutieren. Eine Beteiligung der Reise- und Fernbusunterneh- (B) men an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per- (D) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten set- sonenverkehr e. V. fordern wir genauso wie Bündnis 90/ zen uns für die Stärkung der Rechte der Fahrgäste ein, Die Grünen. An dieser Stelle sei eine kurze Aufforderung haben in Regierungsverantwortung zur Stärkung der an die Fluggesellschaften erlaubt, sich ebenfalls an die- Fahrgäste einiges erreicht und freuen uns, wenn wir, wie ser Möglichkeit einer außergerichtlichen Schlichtung zu der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beteiligen. Auch das fordern wir seit langem mit Nach- zeigt, in diesem Bereich einen Bündnispartner gefunden druck. haben. Bereits in dem Antrag „Reisende besser schützen“ Heinz Paula (SPD): haben wir Informations- und Vermittlungszentren an al- Ich gehe davon aus, dass wir alle eine Stärkung der len Verkehrsknotenpunkten als kritisch und nicht durch- Fahrgastrechte im Fernbusverkehr wollen. führbar angesehen. Wenn Sie das Gleiche nun auch in Ihrem Antrag zu Fahrgastrechten im Omnibusfernver- Am 15. Februar dieses Jahres hat das EU-Parlament kehr fordern, halten wir das wiederum für nicht durch- die Verordnung über Fahrgastrechte im Busverkehr an- führbar. Gegen eine Evaluierung und Erfassung mit Ver- genommen. Nach Stärkung der Fahrgast- und Passa- spätung oder nicht beförderter Personen im Busverkehr gierrechte im Luft-, Eisenbahn- und Schiffsverkehr re- haben wir nichts einzuwenden. Diese Forderung dürfte gelt diese Verordnung erstmalig Fahrgastrechte auch für aber so lange vernachlässigbar sein, bis das Personen- den Busverkehr. Dies ist lobenswert! beförderungsgesetz geändert ist. Es ist seit Jahren ein Grundanliegen der SPD-Fraktion, die Rechte der Ver- Allerdings gehen diese Rechte nicht weit genug. Dass braucher zu stärken; viele Initiativen wurden bereits er- Fahrgastrechte erst ab 250 Kilometer gelten sollen, ist griffen. nicht hinnehmbar. Dass Menschen mit Behinderungen keine verbindliche Assistenz zusteht, ist beschämend. Das Anliegen des Antrages ist richtig. Ich halte eine Extreme Wetterbedingungen und damit auch höhere Ge- Zustimmung aller Fraktionen für wünschenswert. walt sind nicht genauer definiert und hinterlassen damit einige Schlupflöcher. Patrick Döring (FDP): Daher begrüßen wir den Antrag von Bündnis 90/Die Nach langen und zähen Verhandlungen einigten sich Grünen. Besonders begrüßen wir Verbraucherpolitiker, das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten vor dass sie die Fahrgastrechte im Busfernverkehr auf na- wenigen Monaten auf die Einführung weitreichender tionaler Ebene stärken wollen. und europaweit einheitlicher Fahrgastrechte im Busver-

Zu Protokoll gegebene Reden 11432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Patrick Döring (A) kehr. Ebenso wie im Luft- und Eisenbahnverkehr gelten Staat natürlich regulierend eingreifen, sollte nach der (C) ab dem Frühjahr 2013 auch für Fahrgäste im nationalen Liberalisierung ein Marktversagen beobachtet werden. sowie internationalen Buslinienfernverkehr gleiche Haf- Aber bitte nicht vorher! tungsregeln und Entschädigungsansprüche. Darüber Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst die hinaus werden mit der neuen Verordnung, die in allen Praxis der Verordnung zu beobachten und zu analysie- Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht darstellt, ren, ehe wir, wie in dem uns vorliegenden Antrag der Mindestvorschriften für die Information aller Fahrgäste Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, über zusätz- vor und während der Reise verankert. Menschen mit Be- liche Maßnahmen diskutieren, die weit über die Forde- hinderung oder eingeschränkter Mobilität soll zusätzli- rungen der Europäischen Union hinausgehen. che Unterstützung zukommen. Das sind Ansätze, die ich sehr begrüße. Thomas Lutze (DIE LINKE): Mit der neuen Verordnung wird das europäische Re- Fahrgäste im Fernbusverkehr genießen weit weniger gelwerk schließlich für die Nutzer aller Verkehrsarten Rechte als die Nutzerinnen und Nutzer anderer Ver- vervollständigt. Doch wie bei so manchem, was aus kehrsträger. Auch die jüngsten Festlegungen auf euro- Brüssel kommen, steckt auch hier der Teufel im Detail. päischer Ebene bleiben weit hinter dem Notwendigen Lassen Sie mich nur auf zwei kleine, jedoch nicht minder zurück. Der rechtliche Schutz für Reisende im Fernbus- wichtige Punkte eingehen: verkehr ist, verglichen mit den übrigen Verkehrsträgern, Der erste Punkt ist das Subsidiaritätsprinzip. Bei grenz- der schlechteste. Besonders bei Verspätungen sind die überschreitenden Linienverkehren scheint es durchaus Regelungen völlig unzureichend. sinnvoll, ja sogar wünschenswert, europaweit einheit- Mit der Klausel von den „extremen Wetterbedingun- liche Mindeststandards bei den Fahrgastrechten festzu- gen“ hat überdies dieselbe schwammige Formulierung legen. Doch im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr ihren Weg ins Regelwerk gefunden, die schon im Bereich werden in Europa jährlich nur 72,8 Millionen Fahrgäste des Flugverkehrs fast ausschließlich zum Nachteil der befördert. Im deutschen ÖPNV waren es im Jahr 2008 Kundinnen und Kunden ausgelegt wird. In einem sol- hingegen über 5,3 Milliarden Fahrgäste, die den Bus chen Fall gelten die Fahrgastrechte nicht. wählten. Um die Größenordnung noch einmal zu verdeut- lichen: Der gesamte grenzüberschreitende Buslinienfern- Schätzungen zufolge werden 60 Prozent der Ver- verkehr in der Europäischen Gemeinschaft entspricht kehrsnachfrage auf Fernbuslinien aus dem schienenge- gerade einmal 1,4 Prozent des deutschen Buslinienver- bundenen Verkehr abgezogen. Deshalb ist es gerade im kehrs im ÖPNV. Vor diesem Hintergrund erschließt es Hinblick auf die Liberalisierung des Fernbusverkehrs sich mir nicht, warum inländische Busverkehre und ins- dringend geboten, auch die Anbieter von Busreisen (B) (D) besondere der öffentliche Personennahverkehr aus Brüs- rechtlich in die Pflicht zu nehmen. Wettbewerbsvorteile sel reglementiert werden sollen. für den Reiseverkehr auf der Straße dürfen nicht über die fehlenden Rechte der Fahrgäste gewonnen werden. Ferner sei angemerkt, dass die Organisation und Fi- Der Fernbusreiseverkehr muss beim Schutz der Fahr- nanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in gäste mindestens mit dem Bahnsektor gleichziehen. Deutschland gemäß Regionalisierungsgesetz immer noch den Ländern obliegt. Und natürlich steht es den Dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wie nach Landesrecht zuständigen Aufgabenträgern frei, bei beispielsweise Rollstuhlfahrer, weiterhin von der Nut- der Umsetzung der Nahverkehrspläne auch über den in zung von Fernbuslinien ausgeschlossen werden können, der Verordnung gefundenen Kanon grundlegender Fahr- weil eine Beförderungspflicht und eine zwingende ent- gastrechte hinauszugehen. sprechende technische Ausstattung der Fahrzeuge nicht vorgesehen ist, ist schlicht eine Unverschämtheit. Die Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion können kom- Bundesregierung ist hier in der Pflicht, Art. 9 der UN- munale Verkehre immer noch am besten dort geregelt Behindertenrechtskonvention Geltung zu verschaffen werden, wo sie auch stattfinden, nämlich vor Ort. und diskriminierende Barrieren auch im Busfernlinien- Der zweite Punkt, der von der FDP-Bundestagsfrak- verkehr abzuschaffen. tion stets wachsam und kritisch begleitet wird, ist die Der vorliegende Antrag der Grünen greift einige wei- Frage der Verhältnismäßigkeit. Im Rahmen der Novel- tere wichtige Punkte zur Verbesserung der Rechtssitua- lierung des Personenbeförderungsgesetzes ist die christ- tion von Fahrgästen im Fernlinienbusverkehr auf, von lich-liberale Koalition gerade dabei, den deutschen denen die Linke einige unterstützen kann. Buslinienfernverkehr zu liberalisieren. Mit diesem ord- nungspolitisch längst überfälligen Schritt bietet sich die Ich freue mich auf die weiteren Beratungen. Chance, Angebot und Qualität des Fernverkehrs in Deutschland spürbar zu verbessern. Bei der angestreb- Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten Marktöffnung gibt es jedoch zahlreiche Punkte, die Die Vorteile des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmit- beachtet werden müssen. Insbesondere dürfen wir den teln sind unbestritten. Vom Effizienzvorteil des öffent- vielen kleinen und mittelständischen Busunternehmern lichen Verkehrs profitieren Verbraucher und Umwelt durch die Auferlegung von Pflichten keine Kosten auf- gleichermaßen. Weniger Energieverbrauch bedeutet we- bürden, die für die Unternehmen nicht zu überwindende niger Mobilitätskosten, weniger Emissionen und weni- Marktzutrittsschranken darstellen. Dessen ungeachtet ger Umweltfolgekosten. Und nicht zu vergessen: Öffent- muss, um auch das mit aller Deutlichkeit zu sagen, der liche Verkehrsmittel bieten Mobilität für alle, also auch

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11433

Dr. Anton Hofreiter (A) für Kinder, Ältere, mobilitätseingeschränkte Personen Hinzu kommt, dass durch die Ungleichbehandlung (C) und sozial Schwache. der verschiedenen Verkehrsträger bestehende Wettbe- werbsverzerrungen weiter verschärft werden. So zahlen Umso wichtiger ist es, den öffentlichen Verkehr at- Eisenbahnen – im Gegensatz zu Bussen – nicht nur auf traktiver zu gestalten. Menschen steigen gern auf die öf- jedem Streckenkilometer eine Maut in Form von Tras- fentlichen Verkehrsmittel um, wenn das Angebot stimmt. senpreisen; vielmehr gelten für die Bahn auch deutlich Überall dort, wo ein Angebot neu geschaffen oder nen- stärkere Fahrgastrechte. Gerade vor dem Hintergrund nenswert verbessert wurde, schnellen die Fahrgastzah- der in Deutschland anstehenden Liberalisierung des len in die Höhe. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik muss Buslinienverkehrs ist eine solche künstliche Verzerrung deshalb der Kunde stehen. zwischen zwei konkurrierenden Verkehrsmitteln nicht akzeptabel. Das bedeutet: Wir brauchen hohe Pünktlichkeitsquo- ten und einen Taktfahrplan, der schnellstmögliche Ver- Eine unserer wichtigsten Forderungen ist daher, die bindungen sicherstellt. Aber auch das Angebot an Bera- Verbraucherrechte im Busfernverkehr schon ab dem ers- tung und der Service müssen stimmen. Reisen muss für ten Kilometer durchzusetzen und Entschädigungsan- Eltern mit Kindern, Rollstuhlfahrer, geheingeschränkte sprüche ab 30 Minuten Verspätung vorzusehen, um ein Personen und Reisende mit Gepäck komfortabel sein. verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau für Deshalb ist eine durchgehend barrierefreie Bahninfra- Fahrgäste zu erreichen. struktur nicht nur für mobilitätseingeschränkte Perso- nen wichtig. Von entscheidender Bedeutung ist aber, die diskrimi- nierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, sehein- Zudem brauchen wir verbindliche, leicht verständli- geschränkten und mobilitätseingeschränkten Personen che Fahrgastrechte. Denn Fahrgastrechte sind das A zwingend vorzuschreiben. Die Bundesregierung verfügt und O für die Verbraucher. Gestärkte Fahrgastrechte be- nach eigener Auskunft weder über aktuelle Informatio- deutet, auf Verspätungen rechtzeitig aufmerksam zu ma- nen zur Barrierefreiheit von Fernbuslinien, noch beab- chen, entstandene Schäden in vollem Umfang zu erset- sichtigt sie, die Genehmigung des innerstaatlichen Bus- zen, Ausweichmöglichkeiten frei zur Verfügung zu fernlinienverkehrs an den Einsatz barrierefreier Busse stellen sowie verbraucherfreundliche und barrierefreie zu binden. Dieses Handeln widerspricht ganz klar Art. 9 Informationspflichten zu Reiseverbindungen, Fahrplä- und 20 der UN-Behindertenrechtskonvention. Zudem nen, voraussichtlichen Störungen und Verspätungen verschärft es noch die Zugangsbedingungen für die öf- vorzuschreiben. Fahrgäste dürfen nicht länger mit Mini- fentlichen Nah- und Fernlinienbusse insofern, als auch malstandards abgespeist werden. zukünftig in neue Barrieren investiert werden kann. (B) (D) Doch genau das ist in Deutschland der Fall. Die eu- Wir brauchen verkehrsübergreifende Regelungen, die ropäischen Regelungen segmentieren nach Transport- das Verbraucherschutzniveau für Kunden des öffentli- mitteln. Die im Februar erlassene Verordnung über chen Verkehrs bestimmen und gleichzeitig Unternehmen Fahrgastrechte im Busverkehr sollte Buspassagieren Planungssicherheit in Bezug auf mögliche Ansprüche mehr Rechte bei Verspätungen, Annullierungen oder von Kunden geben. Dies muss einerseits auf europäi- ähnlichen Ärgernissen zukommen lassen und die Stan- scher Ebene vorangetrieben werden; andererseits sind dards denen im Bahnverkehr anpassen. Doch die Ver- verbraucherfreundlichere Strukturen im nationalen Rah- ordnung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Im Vergleich zu men durchzusetzen. Die Grünen werden deshalb einen den anderen Verkehrsträgern fallen die Rechte für Bus- verkehrsträgerübergreifenden Antrag aufsetzen, in dem, reisende am schlechtesten aus. im Sinne der Verbraucherfreundlichkeit und Barriere- freiheit, Informationspflichten zu Reiseverbindung, Ein wirksamer Schutz der Passagiere im europäi- Fahrplänen, Fahrtverlauf, voraussichtlichen Störungen schen Busverkehr wird vor allem dadurch verhindert, und Verspätungen sowie der barrierefreie Zugang zu al- dass nennenswerte Fahrgastrechte erst bei einer Entfer- len Verkehrsträgern festgeschrieben werden. nung von über 250 Kilometern Anwendung finden. Da- Auch die Einrichtung einer unabhängigen, verkehrs- mit gelten für den größten Teil aller Busfahrten in Eu- übergreifenden Schlichtungsstelle, wie sie CDU, CSU ropa effektiv keine umfassenden Fahrgastrechte. und FDP in ihrem Koalitionsvertrag verankert haben, Beschämend ist auch, dass die Rechte der Menschen mit aber bis heute nicht angegangen sind, ist für die Stär- eingeschränkter Mobilität bescheiden sind: Verbindli- kung der Verbraucherrechte im öffentlichen Verkehr un- che Ansprüche auf Unterstützung im Busverkehr wird es abdingbar. Denn Rechte müssen auch durchgesetzt wer- nicht geben. den können. Sowohl für Unternehmen als auch für die Schließlich wurde den Busunternehmen ein weiteres Reisenden hat sich dieses Verfahren der außergerichtli- Schlupfloch eröffnet: Im Falle „extremer Wetterbedin- chen Streitbeilegung bei Bahnreisen bewährt. Umso gungen“ – die nicht genau bestimmt sind – werden die wichtiger ist es, dieses Angebot für alle Verkehrskunden Fahrgastrechte ausgesetzt. Schon bei der Umsetzung bereitzustellen. der Fluggastrechte-Verordnung hat sich gezeigt, dass diese Klausel eindeutig auf Kosten der Reisenden geht. Vizepräsident Eduard Oswald: Das würde auch die Schaffung unabhängiger Schlich- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf tungsstellen, die dringend geboten ist, nicht ausmerzen Drucksache 17/5057 an die in der Tagesordnung aufge- können. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- 11434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Vizepräsident Eduard Oswald (A) verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist so Bei der Anwendung von Zwangsmitteln – dies sind nach (C) beschlossen. Gesetz Hieb- und Schusswaffen, Reizstoffe und Explo- sivmittel – sind alle in Deutschland Polizeidienst ver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: richtenden Beamtinnen und Beamten streng an den Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser Jelpke, , Frank Tempel, weiterer Ab- Grundsatz ist kein Novum, denn das UZwG trat im Jahr geordneter und der Fraktion DIE LINKE 1961 in Kraft. Sie fordern in Ihrem Antrag etwas, was seit 50 Jahren Bestand hat. Deshalb ist der Antrag nich- Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei tig. Außerdem – das möchte ich hier noch einmal massiv beschränken betonen – steht es jedem, der den Einsatz eines Zwangs- – Drucksache 17/5055 – mittels gegen sich vermeiden möchte, frei, den Anweisun- Überweisungsvorschlag: gen der Polizei Folge zu leisten. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Es liegt doch in der Natur der Sache, dass Zwangs- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe mittel eine Art von Wirkung entfalten müssen, da an- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die sonsten der Vollzug der polizeilichen Anordnung gegen Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die den Widerstand nicht erfolgen könnte. Bei Einsatz der Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Günter Pfeffersprays besteht die Wirkung aus einer zeitlich be- Baumann, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, grenzten Reizung der Schleimhäute. Somit schließt der Einsatz eines solchen Zwangsmittels die Lücke zwischen (Beifall bei der FDP) einfacher körperlicher Gewalt und dem Einsatz von Ulla Jelpke, Schusswaffen. Vor Einführung des Pfeffersprays bei den Polizeien der Länder und der Bundespolizei wurden Stu- (Beifall bei der LINKEN) dien zur Wirkung und zu eventuellen Gefahren von Pfef- Wolfgang Wieland. ferspray durchgeführt. Es ist kein Todesfall in Deutschland bekannt, bei dem Günter Baumann (CDU/CSU): als Ursache der vorherige Gebrauch von Pfefferspray Ich möchte, bevor ich mich zu dem beschämenden nachgewiesen wurde. Auch die in Ihrem Antrag auftau- Antrag der Linkspartei äußere, unseren Bundespolizis- chende amerikanische Bürgerrechtsbewegung ACLU tinnen und Bundespolizisten meinen Dank für Ihr großes hat entgegen dem Bekunden der Linkspartei eben nicht Engagement zum Schutz der Bevölkerung aussprechen. festgestellt, dass 26 Personen nach dem Einsatz von (B) Pfefferspray gestorben sind; vielmehr hat sie festge- (D) Ich nenne diesen Antrag beschämend; denn Sie, Mit- stellt, dass das Pfefferspray nicht die primäre Ursache glieder der Linken, unterstellen den Beamtinnen und Be- der der American Civil Liberties Union bekannten To- amten, nicht nur den Tod von Menschen in Kauf zu neh- men, sondern dies auch noch leichtfertig, expansiv und desfälle in Kalifornien zu sein scheint. unverhältnismäßig zu tun. Diesen Grundgedanken Ihres Außerdem möchte ich anmerken, dass ich es für sehr Antrags weise ich entschieden zurück. bedenklich halte, wenn man sich für die Begründung des Die Zahl der im Einsatz verletzten Landes- und Bun- Antrags auf ein „Gutachten“ stützt, das ein Mitglied der despolizisten steigt von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2010 wur- eigenen Partei verfasst hat. den so viele Bundespolizisten wie noch nie angegriffen, seit solche Attacken im Jahr 2000 erstmals statistisch Es ist immer möglich, dass es bei der Anwendung von erfasst wurden. 2010 kam es zu über 2 000 Attacken ge- Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt bei dem Betroffe- gen Bundespolizisten. Im Vergleich zu 2009 bedeutet nen zu – möglichst vorübergehenden – Beeinträchtigun- dies einen Anstieg von 33 Prozent. gen kommt. Aber auch hier ist festzuhalten und noch- mals zu verdeutlichen, dass Pfefferspray nur dann Ich nenne hier nur einige Ereignisse: 1. Mai 2008, eingesetzt wird, wenn mildere Zwangsmaßnahmen zur Berlin: 103 verletzte Polizisten; 1. Mai 2009, Berlin: 479 Durchsetzung der polizeilichen Verfügung keinen Erfolg verletzte Polizisten; 19. Februar 2011, Dresden: 82 ver- haben. Und auch in diesem Fall wird der Einsatz grund- letzte Polizisten. Hier sprach die Gewerkschaft der Poli- sätzlich vorher angekündigt, um den Personen die Mög- zei von einer „Explosion der Gewalt durch linksextremis- lichkeit zu geben, dieses Ereignis durch ihre eigene Ent- tische Straftäter“ gegen die Polizei. Die Beamten wurden scheidung noch abzuwenden. unter anderem mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Fla- schen beworfen. Für die polizeiliche Aufgabenstellung ist der Einsatz von Pfefferspray grundsätzlich völkerrechtlich zulässig. Sicherlich demonstriert eine Vielzahl der Menschen Pfefferspray ist für den Polizeieinsatz ein geeignetes friedlich. Wie jedoch die eben genannten Zahlen zeigen, Mittel. Technische Weiterentwicklungen machen heutzu- ist die Gewaltbereitschaft einiger Demonstranten ex- tage gezieltes Sprühen möglich; somit kann die Gefähr- trem gestiegen. dung unbeteiligter Dritter ausgeschlossen werden. Die Anwendung von Pfefferspray ist im Gesetz über Folglich zielt auch die Gefährdung von unbeteiligten den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Ge- Dritten bei Demonstrationen als Begründung des An- walt durch Vollzugsbeamte des Bundes, UZwG, geregelt. trags für ein Verbot von Pfefferspray ins Leere. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11435

Günter Baumann (A) Ich möchte kurz resümieren: Pfefferspray ist ein zu- lich erlaubt auch das Gesetz über den unmittelbaren (C) gelassener Reizstoff, es ist völkerrechtlich zulässig und Zwang, UZwG Bund, in § 10 Abs. 2 den Schusswaffenge- wird nur eingesetzt, wenn es erforderlich ist und eine ge- brauch gegen eine Menschenmenge. Der Einsatz von eignete sowie angemessene Maßnahme ist. Deshalb Schusswaffen ist ein viel schärferes Mittel als der Ein- bleibt hier nur eine Entscheidung zu treffen: Der Antrag satz von Pfefferspray und mit deutlich größerer Gefahr der Linken ist eindeutig abzulehnen. für Leib und Leben verbunden. Deshalb muss es möglich bleiben, unterhalb des Schusswaffengebrauchs über ein Wolfgang Gunkel (SPD): polizeiliches Einsatzmittel zu verfügen. Die Fraktion Die Linke spricht in ihrem Antrag eine Die Forderung nach einer massiven Einschränkung Problematik an, die in der Tat bei den geschilderten Er- geht zu weit. Bedingte Einschränkungen halte ich für eignissen in Stuttgart im September des vergangenen ausreichend. Diese sind aber in den Polizeigesetzen der Jahres zutage getreten ist. Länder bereits enthalten. Auf § 52 Abs. 1 Polizeigesetz Baden-Württemberg wurde bereits hingewiesen. Wir alle haben wohl noch die erschreckenden Bilder vor Augen, wie gegen überwiegend friedliche Demons- Ferner ist im UZwG des Bundes und der Länder der trantinnen und Demonstranten mit unnötiger Härte vor- Einsatz von Zwangsmitteln detailliert geregelt und un- gegangen wurde, wobei auch Pfefferspray zum Einsatz terliegt stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kam. So gibt es Videos, in denen Beamte zu beobachten der über allen polizeilichen Handlungen „schwebt“. sind, die ungezielt bzw. wahllos Pfefferspray einsetzen, Verstöße gegen diese Bestimmungen bei Einsätzen der um Demonstrantinnen und Demonstranten zum Verlas- Polizei sind natürlich zu verfolgen und müssen gegebe- sen des Ortes zu veranlassen. Hierbei hätte auch einfa- nenfalls strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. che körperliche Gewalt, wie zum Beispiel das Wegtra- Ein Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem gen, als milderes Mittel gereicht. hier vorgelegten Inhalt ist deshalb nicht erforderlich. Das baden-württembergische Polizeigesetz schreibt in § 52 Abs. 1 vor, dass das angewandte Mittel unmittelba- Gisela Piltz (FDP): ren Zwangs – und als solches ist der Einsatz von Pfeffer- Es ist schon erstaunlich, dass die Fraktion Die Linke spray zu bewerten – nach Art und Maß dem Verhalten, in ihrem Antrag so tut, als lebten wir in einem Polizei- dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen staat, in dem Polizisten wahllos und willkürlich den Tod sein muss. Wenn, wie in Stuttgart geschehen, auch eine von Menschen hinnehmen, um sich das Leben leichtzu- große Anzahl älterer Leute, junger Familien und Kinder machen. Das finde ich schon ein starkes Stück! friedlich an einer solchen Versammlung teilnimmt, dann (B) ist es offenkundig, dass der Einsatz von Pfefferspray ge- Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland, seien (D) gen diese Personen nicht verhältnismäßig ist. sie von der Bundespolizei oder von den Polizeien der Länder, die sich im Prinzip jedes Wochenende bei Groß- Deshalb beantragte die SPD-Fraktion im Landtag veranstaltungen für die Gewährleistung der Sicherheit in von Baden-Württemberg den Untersuchungsausschuss Gefahr begeben und die bei Demonstrationen oft genug „Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30. September verletzt werden, sind doch nicht die, die sich vor allem 2010 im Stuttgarter Schlossgarten“, der die politische mit Rechtsbruch hervortun; im Gegenteil. Verantwortung für den harten Polizeieinsatz offenlegen sollte. Diese Verantwortung trägt nach Ansicht der Aber auf einen Antrag der Linksfraktion, in dem klar- SPD-Fraktion der Ministerpräsident Mappus, der bei gestellt und auch eingefordert wird, dass vom Versamm- einer Vorbesprechung die Entscheidung an sich zog und lungsrecht Gewalt nicht umfasst ist, können wir wahr- den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray scheinlich lange warten. Da wird mit zweierlei Maß billigte – so das Ergebnis des Untersuchungsausschus- gemessen; im Grunde wird hier überhaupt ganz maßlos ses. argumentiert: Wenn Steine auf Polizisten geworfen wer- den, machen Sie die Augen zu und behaupten hinterher Aus meiner polizeilichen Arbeit kenne ich den Einsatz noch, dass die armen Demonstranten bestimmt von der von Pfefferspray sehr wohl, allerdings immer nach dem bösen Polizei provoziert wurden. Wenn aber Polizistin- Grundsatz, einfache körperliche Gewalt dem Einsatz nen und Polizisten gegen Randalierer vorgehen, dann schwerwiegenderer Hilfsmittel vorzuziehen. Vordring- soll ihnen nach Meinung der Linken am besten nur noch lich dient er im Rahmen des unmittelbaren Zwangs dazu, erlaubt sein, Rechtsbruch mit Streicheleinheiten zu be- Gefahren abzuwehren und den Schusswaffengebrauch kämpfen. Das kann aber nicht funktionieren. Das ist mit zu vermeiden. Diese Einsatzweise findet im Wesentli- unserem Rechtsstaat auch nicht vereinbar. chen im Einzeldienst Anwendung und soll einen Störer vorübergehend angriffsunfähig machen. Hierbei ist Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland sind selbstverständlich zu beachten, nicht auf die Augen des an Recht und Gesetz gebunden, und Sie müssten eigent- Betroffenen zu zielen. lich ganz genau wissen, wie eng und strikt das Regelwerk ist, innerhalb dessen Einsätze der Polizei stattfinden. Im- Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem merhin regiert die Linkspartei ja bedauerlicherweise in Antrag, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen einigen Bundesländern und hat dort die Verantwortung zu verbieten, die sich in Ansammlungen wie einer De- für die Polizei. Da frage ich mich: Darf die Polizei in monstration oder bei einem Fußballspiel befinden. Das Berlin zum Beispiel bei Naziaufmärschen oder bei den halte ich für übertrieben und nicht zielführend. Schließ- 1.-Mai-Steinewerfern solche Teilnehmer von Demonstra-

Zu Protokoll gegebene Reden 11436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Gisela Piltz (A) tionen, die das Recht brechen, nur durch exzessives Ku- und massiv gegen Demonstranten, Fußballfans oder (C) scheln dazu bewegen, sich an Recht und Gesetz zu hal- Einzelpersonen eingesetzt wird. ten? Nein, natürlich nicht. Die Polizei muss die Wie unverhältnismäßig diese Einsätze oftmals sind, Möglichkeit haben, unseren Rechtsstaat zu schützen. erwies sich zum Beispiel am 30. September vorigen Jah- Ich erinnere daran, dass die Linke im Grunde möchte, res in Stuttgart, als die Menschen, die gegen das Milliar- dass der Polizei vollkommen die Hände gebunden sind: dengrab Stuttgart 21 protestiert haben, massiv mit Pfef- Wasserwerfer finden Sie schlecht, Wegtragen finden Sie ferspray beschossen wurden. Noch schlimmer war es schlimm, Schlagstöcke dürfen nicht eingesetzt werden, dann beim Castortransport im November. Dort hat al- Schutzkleidung von Polizisten finden Sie provokant usw. leine die Bundespolizei fast 2 200 Sprühdosen ver- usf. Am Ende müssen Sie sich fragen, ob Sie überhaupt braucht. Insgesamt waren Hunderte von Verletzten zu wollen, dass es in einem Rechtsstaat eine Polizei gibt. beklagen. Die Fraktion Die Linke hält es für absolut un- verantwortlich und undemokratisch, so mit Demon- Es ist selbstverständlich richtig, dass innerhalb eines stranten umzuspringen. klaren Regelwerks die Polizei notfalls auch mit unmittel- barem Zwang reagieren kann. Dabei muss die Durchset- Denn gerade beim Einsatz gegen größere Menschen- zung des staatlichen Gewaltmonopols in unserem mengen nehmen die Einsatzführungen und die politisch Rechtsstaat natürlich immer an den Regeln der Verhält- Verantwortlichen zwangsläufig in Kauf, dass auch völlig nismäßigkeit orientiert sein. Zudem muss jede Maß- unbescholtene Bürger in Mitleidenschaft gezogen wer- nahme – und das ist ja auch der Fall – nachprüfbar sein. den. Und wir reden hier nicht nur von Verletzten. Wir können vielmehr von Glück reden, dass es bei diesen Die Linke will hier den Eindruck erwecken, dass ge- Einsätzen keine Toten gegeben hat. nau diese Richtschnur fehlt. Dabei kann man über dieses Denn Pfefferspray ist eben nicht das handliche, nütz- Thema ja durchaus ernsthaft und in Ruhe diskutieren. liche Allroundmittel, als das es benutzt wird. Vielmehr Auch der Landtag in Baden-Württemberg befasst sich in ist Pfefferspray eine potenziell tödliche Waffe, der schon seinem Untersuchungsausschuss mit dem Einsatz von Dutzende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Das Pfefferspray. ist wissenschaftlich längst erwiesen; nur hat bislang nie- Natürlich muss jedes Einsatzmittel der Polizei immer mand die politische Schlussfolgerung daraus gezogen. wieder auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Dazu hat dieses Parlament nun durch unseren Antrag Natürlich müssen auch neue Erkenntnisse in diese Be- die Gelegenheit. wertung einbezogen werden, vor allem wenn diese sich Inwiefern ist Pfefferspray hochgefährlich? Man kann auf gesundheitliche Gefahren beziehen. generalisierend sagen: Kerngesunde Menschen können (B) (D) das Reizgas mehr oder weniger wegstecken. Verletzun- Aber zu einer ernsthaften Befassung gehört auch, gen an den Schleimhäuten, insbesondere an den Augen, dass man festhält, dass Pfefferspray nicht generell Men- tragen auch sie davon; aber Langzeitschäden haben sie schen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Ver- meist nicht zu befürchten. Doch bei gesundheitlich vor- letzung bringt. In aller Regel ist es vielmehr so, dass es belasteten Menschen sieht das ganz anders aus: Wer sich um ein Mittel handelt, das gerade ohne dauerhafte unter Asthma leidet, bestimmte Allergien hat, Psycho- Schädigung der Durchsetzung unmittelbaren Zwangs pharmaka nehmen muss, dauerhaft Kokain oder Amphe- dient. Das heißt nicht, dass man es nicht immer wieder tamine konsumiert oder eine Herz-Kreislauf-Schwäche hinterfragen muss; auch das gehört selbstverständlich hat, für den wird der Kontakt mit Pfefferspray extrem in unserem Rechtsstaat dazu. gefährlich. Am schlimmsten sind dabei die möglichen Eine ernsthafte Debatte darüber würde ich gerne füh- Reaktionen eines allergischen Schocks, die entstehen ren. Aber auf dem Niveau, auf das die Linke sich hier be- können. In Stellungnahmen des US-Justizministeriums, gibt, ist das nicht möglich. aber auch beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundes- tages ist nachzulesen, dass es dieses Risiko gibt. Alleine in den letzten zwei Jahren waren in Deutschland mindes- Ulla Jelpke (DIE LINKE): tens fünf Todesopfer zu beklagen. Selbst die Bundesre- Die Fraktion Die Linke will den Einsatz von Pfeffer- gierung sagt: spray durch die Bundespolizei massiv beschränken. Denn Pfefferspray bzw. sein chemischer Ersatz ist eine Bei bestimmungsgemäßer Exposition von gesunden gefährliche, unter Umständen tödliche Waffe. Nicht von Personen sind in der Regel keine bleibenden ge- ungefähr steht auf den Sprühgeräten, die man im Waf- sundheitlichen Schäden zu erwarten. fenladen kaufen kann, eindeutig, dass sie nur gegen Das hat sie auf eine Kleine Anfrage von uns geant- Tiere eingesetzt werden dürfen. Doch eine Ausnahme wortet. Damit bestätigt sie verklausuliert, dass kranke gibt es: Die Polizei darf auch Menschen mit Pfeffer- Personen sehr wohl gefährdet sind. Doch die tödlichen spray besprühen. Risiken und Nebenwirkungen bezeichnet sie zynisch als „Einzelrisiken“. Die Linke meint allerdings: Ein Mittel, Und da müssen wir leider feststellen, dass die Polizei das den Tod hervorrufen kann, darf, wenn überhaupt, keineswegs nur in Fällen akuter Notwehr zum Pfeffer- nur extrem zurückhaltend eingesetzt werden. spray greift. Vielmehr haben wir gerade im vorigen Jahr gesehen, dass Pfefferspray zum ganz normalen Mittel ei- Niemand kann Situationen ausschließen, in denen nes Polizeieinsatzes geworden ist und flächendeckend eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben existiert

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11437

Ulla Jelpke (A) und der Einsatz von Pfefferspray gegen einen Gewalttä- übung von Zwang, und das gilt auch, wenn sich die Poli- (C) ter als akute Notwehr vertretbar erscheint. Viele Frauen zei großen, aggressiven Gruppen gegenübersieht. Ge- führen es mit sich, um sich gegen angreifende Männer rade in diesem Fall ist nicht zu erkennen und nicht wehren zu können. Aber es darf einfach nicht sein, dass vorher zu ermitteln, wer eine Allergie hat, wer von solche Reizgase gegen Menschen eingesetzt werden, die Asthma betroffen ist oder wer bestimmte Krankheiten friedlich protestieren. Nehmen wir Stuttgart 21: Die hat. Besonders hier kommen die Risiken von Pfeffer- Räumung des Schlossparks ohne Pfefferspray hätte viel- spray also voll zum Tragen. leicht ein paar Stunden länger gedauert. Aber was ist Verbieten klingt wie eine einfache Lösung. Wer das schon die mögliche Verzögerung dieses unsinnigen Bau- fordert, muss schon sagen, welchen Ersatz er anbieten projekts gegen das Risiko, durch wahllosen Pfeffer- kann. Durch die Menge jagende Reiterstaffeln können es sprayeinsatz schwerste Gesundheitsschäden zu verursa- ja wohl nicht sein. Deshalb gilt: Wir brauchen aussage- chen? Denn es kann doch keiner ausschließen, dass kräftige, ehrliche Studien zum Pfefferspray. Wir brau- unter den Demonstranten etliche Menschen mit Asthma chen gegebenenfalls Alternativen. Pfefferspray ist offen- oder Allergiker sind. Das Gleiche gilt für den Protest ge- bar nicht das erhoffte „mildere Allheilmittel“. gen den Castortransport. Auch der Einsatz gegen soge- nannte Randalierer, die eventuell nur einfache Ruhestö- rungen verursachen, muss unterbunden werden. Denn Vizepräsident Eduard Oswald: gerade weil solche Personen häufig Drogen konsumiert Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf haben, ist Pfefferspray für sie unvergleichlich viel ge- Drucksache 17/5055 an die in der Tagesordnung aufge- fährlicher. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos- Wir können mit unserem Antrag nur den Pfefferspray- sen. einsatz der Bundespolizei einschränken. Es ist für uns ein Gebot der politischen Vernunft, aber auch schlicht Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: der Gesundheit, auf Länderebene nachzuziehen. Ge- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul nauso wenig, wie man in Menschenmengen mit Schuss- Schäfer (Köln), Inge Höger, Jan van Aken, weite- waffen hineinschießen darf, darf man sie mit Pfeffer- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE spray überziehen. Beachtung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes bei dem Evakuierungseinsatz in Libyen Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Jahrzehnten gehören Reizstoffe wie Pfefferspray – Drucksache 17/5175 – zur gängigen Ausrüstung der Polizei. Eingeführt wurden (B) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge (D) sie als das „mildere Mittel“. Wo früher Schlagstöcke Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite- oder die Schusswaffe eingesetzt werden mussten, sollte rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE nun die Chemie die Ausübung des unmittelbaren Zwangs auf schonendere Weise ermöglichen. Sei es bei Großein- Stopp der Überwachung des libyschen Luft- sätzen oder bei Festnahmen von Gewalttätigen, man raums durch AWACS-Luftfahrzeuge hoffte, mit CN/CS-Gas – vulgo: chemische Keule – Ver- – Drucksache 17/5176 – letzungen und Schlimmeres vermeiden zu können. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Wir mussten lernen: Auch CN/CS-Gas kann zu erheb- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die lichen Verletzungen führen, von leichten Verätzungen Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael über ernsthafte Schäden an Augen und Schleimhäuten Brand, Dr. Wolfgang Götzer, Lars Klingbeil, Dr. Rainer bis hin zu schwersten Komplikationen bei bestimmten Stinner, Vorerkrankungen. Dabei trifft es nicht selten auch den, der es einsetzt. Es ist also keine geeignete Waffe zum (Beifall bei der FDP) Beispiel bei Gegenwind. Inge Höger, Das jetzt gebräuchliche Pfefferspray sollte alle diese (Beifall bei der LINKEN) Probleme lösen. Aber dieser Wunsch ging nicht in Erfül- lung. Denn auch bei den heute üblichen Reizstoffen Vo l k e r B e ck . kommt es zu teils erheblichen Verletzungen, selbst wenn sie gesunde Menschen treffen. Richtig gefährlich kann es Michael Brand (CDU/CSU): aber für Menschen mit Asthma oder bestimmten Aller- Die Evakuierung deutscher und anderer Staatsange- gien sowie in Wechselwirkung mit Medikamenten oder höriger aus Libyen durch unsere Bundeswehr am manchen Drogen werden. Dann drohen akute Atemnot 26. Februar 2011 war richtig und erfolgreich. Dafür und Ersticken, Organschäden oder gar der Tod. danken wir den Soldatinnen und Soldaten sehr. Die Eva- kuierung duldete angesichts einer humanitären Notlage Das mag nicht häufig passieren; aber hier gilt: Jeder keinen Aufschub, zumal Gefahr im Verzug wahr. Schwerverletzte ist einer zu viel, und Tote darf man schon gar nicht in Kauf nehmen. Polizeiliche Mittel dür- Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wur- fen nicht schwere Verletzungen in Kauf nehmen; das ge- den insgesamt 132 Personen mit zwei Bundeswehrflug- bietet die Verhältnismäßigkeit. Das gilt bei der ganz zeugen vom Typ C-160 Transall evakuiert, darunter konkreten, auf eine bestimmte Person zielenden Aus- 22 deutsche Staatsbürger. An Bord waren laut Auskunft 11438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Michael Brand (A) der Bundesregierung – Bundestagsdrucksache 17/5002 mung nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und (C) vom 11. März 2011 – neben der Transall-Besatzung ins- den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen gesamt 20 Soldaten der Bundeswehr, 8 Feldjäger und nicht zu erwarten ist. 12 Fallschirmjäger. In den Luftfahrzeugen wurden dem- nach Pistolen P8 und P7, Gewehre G3ZF, G36 sowie Dies war bei den in der Vorbemerkung der Bundesre- MG3 mitgeführt. gierung und der Antwort auf die Frage 1 dargestellten Flügen zur Evakuierung deutscher und Staatsbürger an- Die Transportflugzeuge starteten und landeten auf derer Länder der Fall. Aufgrund der gegebenen Bedro- Kreta. Mit an Bord waren seinerzeit Sicherungskräfte; hungslage bestand zum Zeitpunkt der entsprechenden als Landezone diente der im Osten Libyens gelegene Entscheidungen die klare Erwartung, dass die eingesetz- Flughafen Nafurah. Bereits am 22. und 23. Februar ten Soldaten durch libysche Kräfte nicht bedroht sind, hatte die Bundeswehr nach eigenen Angaben insgesamt ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen und mithin 130 EU-Bürger ausgeflogen, darunter 103 Deutsche. nicht in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen wer- Neben Deutschland haben auch weitere Staaten wie den würden. In diesem Zusammenhang wird auf die Aus- zum Beispiel die USA, China, die Türkei, Frankreich, führungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Ur- Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande, Por- teil vom 7. Mai 2008 (BVerfGE 121, 135; AWACS- tugal Österreich, Rumänien und Bulgarien eigene Einsatz Türkei) verwiesen. Danach führt sogar erst die Staatsbürger evakuiert. qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaff- nete Auseinandersetzungen zur parlamentarischen Zu- Weiter geht aus der Antwort der Bundesregierung stimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes deut- hervor, dass die an der Evakuierung deutscher Staats- scher Soldaten (Bundestagsdrucksache 17/5002). bürger beteiligten Kräfte der Bundeswehr, die uns heute hier im Hohen Hause beschäftigen, durch das Einsatz- Dass der Deutsche Bundestag die Wahrung seiner führungskommando geführt wurden und der Einsatz der Rechte einfordert und auf deren Einhaltung pocht, ist Kräfte auf Anforderung des Krisenstabes des Auswärti- schlicht seine Pflicht. Daran darf es keinerlei Abstriche gen Amtes erfolgte. geben. Die Obleute der Fraktionen im Verteidigungsaus- Im vorliegenden Falle verweise ich auf die obige ju- schuss wurden beim Rückflug am 25. Februar nach der ristische Würdigung. Den Antrag der Fraktion Die Trauerfeier in Regen für die in Afghanistan getöteten Linke lehnen wir ab. Soldaten von Herrn Generalinspekteur Wieker über die bevorstehende Evakuierung unterrichtet, der SPD-Ob- Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): mann telefonisch. (B) Am 26. Februar dieses Jahres wurden 132 Personen, (D) Nach erfolgreichem Einsatz wurden die Vorsitzenden die sich in einer äußerst schwierigen humanitären Lage der Bundestagsfraktionen am 25. Februar spätabends befanden, mit zwei geschützten Transall-Maschinen aus und am nächsten Tag von Außenminister Westerwelle te- dem Raum Nafura evakuiert und außer Landes ge- lefonisch unterrichtet; die Vorsitzenden, stellvertretenden bracht. Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und Verteidi- Die Transall-Maschinen wurden von insgesamt 20 deut- gungsausschusses wurden am 26. Februar schriftlich schen Soldaten begleitet, die zum Zwecke der Selbstver- durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr teidigung Waffen mit sich führten. Klare Erwartungshal- und im Verlauf des 27. Februar durch die Staatssekre- tung von Beginn der Evakuierungsaktion an war, dass es täre des Auswärtigen Amtes und des BMVg telefonisch zu keinem Einsatz der mitgeführten Waffen kommen über den Verlauf der durchgeführten Evakuierungen un- werde. terrichtet. Darüber hinaus erhielt der genannte Perso- nenkreis am 4. März eine schriftliche Unterrichtung. Die Linke vertritt nun gemeinsam mit der SPD und den Grünen die Auffassung, dass der Evakuierungseinsatz der Der Bundestag ist vor Beginn und während des Ein- nachträglichen Genehmigung durch den Bundestag be- satzes in geeigneter Weise unterrichtet worden. dürfe, weil es sich um einen Einsatz bewaffneter Streit- Die beteiligten Soldaten waren nach Auskunft des kräfte im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes han- Verteidigungsministeriums angewiesen, die Waffen nur dele. zur Selbstverteidigung und Nothilfe sowie erforderli- Diese Auffassung ist rechtlich unzutreffend. Dass dies chenfalls zur Durchsetzung der Evakuierung einzuset- durchaus auch der Linken bewusst ist, zeigt sich an der zen. relativ geduldigen Zurückhaltung, mit der die Fraktion Zur rechtlichen Bewertung ist die Feststellung von auf den angeblich rechtswidrigen Bundeswehreinsatz erheblicher Bedeutung, dass seitens der Bundesregie- reagiert hat. Möglicherweise möchte die Linke aber rung die klare Erwartung bestand, dass die mitgeführten auch angesichts bevorstehender Landtagswahlen einen Waffen nicht würden eingesetzt werden müssen. humanitären Rettungseinsatz nicht als rechtswidrig ver- urteilen. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz findet nur bei ei- nem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Aus- Umso verwunderlicher ist jedoch die Kritik von den land Anwendung. Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist Grünen und der SPD, sollten diese doch mittlerweile die nicht anzunehmen, wenn eine Einbeziehung deutscher Voraussetzungen des Parlamentsvorbehalts kennen, Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Unterneh- nachdem sie es waren, die im Jahr 2003 mit dem Einsatz

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11439

Dr. Wolfgang Götzer (A) deutscher Soldaten in AWACS-Aufklärungsflugzeugen rungsflugzeuge für einen operativen Einsatz verwendet (C) über der Türkei gegen die Verfassung verstoßen haben. werden. Die Evakuierungsflüge vom 26. Februar dieses Jah- Es bestehen somit im Sinne des AWACS-II-Urteils aus res jedenfalls waren verfassungsrechtlich zulässig. Die dem Jahr 2008 „greifbare tatsächliche Anhaltspunkte Einholung eines vorherigen oder nachträglichen Man- für eine drohende Verstrickung“ der Soldaten, die der- dats des Bundestages nach dem Parlamentsbeteili- zeit im Rahmen von OAE im Mittelmeer tätig sind, „in gungsgesetz war und ist nicht erforderlich. Bei der Maß- bewaffnete Auseinandersetzungen“, die in Umsetzung nahme handelte es sich um keinen Einsatz bewaffneter der UN-Resolution zur Einhaltung der Flugverbotszone Streitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG, da nach der geführt werden. erfolgten Lageeinschätzung der Bundesregierung aus Nach diesem AWACS-II-Urteil ist ein Mandat des Ex-ante-Sicht nicht zu erwarten war, dass die Soldaten Bundestages erforderlich, sobald solche „greifbaren in bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden tatsächlichen Anhaltspunkte“ bestehen. Die Schiffe, die würden. sich im Rahmen von OAE im Mittelmeer befinden, wer- Im Jahr 2008 stellte das Bundesverfassungsgericht in den aus demselben Grunde nationalem Kommando un- seinem sogenannten AWACS-II-Urteil fest, dass dies terstellt und abgezogen. aber das entscheidende Merkmal ist. Im Urteil heißt es Der Antrag der Linken ist damit gegenstandslos. dazu, dass ein Auslandseinsatz der Bundeswehr im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nur dann ge- Lars Klingbeil (SPD): geben ist, wenn – unabhängig von der Bewaffnung der entsandten Soldaten – „die Einbeziehung deutscher Sol- Die Frage, ob der Evakuierungseinsatz in Libyen daten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu Ende Februar dieses Jahres unter das Parlamentsbetei- erwarten ist“. Die „bloße Möglichkeit“ – diese musste ligungsgesetz fällt, lässt sich auf folgende Frage redu- bei der Luftevakuierung aus Nafura als Vorsichtsmaß- zieren: War zu erwarten, dass die Soldatinnen und Sol- nahme einkalkuliert werden und führte zu der Entsen- daten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen dung bewaffneter Soldaten – „reicht hierfür nicht aus“, werden oder nicht? so Karlsruhe. Wenn eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unter- nehmung zu erwarten ist, dann handelt es sich nach § 2 Sowohl das Bundesverteidigungsministerium als Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes um einen auch das Auswärtige Amt gingen vor Beginn der Luft- Einsatz im Sinne desselben. Dies hätte zwar nicht zur evakuierung davon aus, dass die entsandten deutschen Konsequenz gehabt, dass das Parlament im Vorhinein Soldaten ihre Waffen nicht einsetzen werden, denn es lag (B) dem Einsatz zustimmen muss, denn nach § 5 des Parla- (D) keine konkrete Gefährdungslage vor. Weder das Win- mentsbeteiligungsgesetzes ist eine nachträgliche Zu- tershall-Lager in Nafura noch die zu evakuierenden Per- stimmung des Deutschen Bundestages möglich. sonen dort waren konkret bedroht. Allerdings befanden sie sich in einer humanitären Notlage, da ihre Vorräte Unter Abs. 1 steht dort: zur Neige zu gehen drohten und es unmöglich war, das Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub Lager auf dem Landweg zu verlassen. dulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmung Im Übrigen wurde das Gaddafi-Regime über die Ak- des Bundestages. Gleiches gilt für Einsätze zur Ret- tion vorab informiert. Die fehlende Reaktion konnte als tung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen, konkludente Zustimmung gewertet werden. solange durch die öffentliche Befassung des Bun- destages das Leben der zu rettenden Menschen ge- Auch die Tatsache, dass nur zwei leicht gesicherte fährdet würde. Flugzeuge und lediglich 20 leichtbewaffnete Soldaten zur Evakuierung von immerhin 132 Menschen entsandt Es besteht kein Zweifel, dass dieser Fall in Libyen wurden, zeigt, dass die Bundesregierung tatsächlich nie eingetreten war. Ich bin daher auch der Überzeugung, von einer konkreten Bedrohungslage ausgegangen ist dass die Bundesregierung klug und im Sinne aller ge- und auch nicht ausgehen musste, sodass kein bewaffne- handelt hat. Es war wichtig und notwendig, die Evakuie- ter Einsatz im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG vorlag. rung durchzuführen. Wir alle haben uns bei denen zu be- danken, die diese Maßnahme durchgeführt haben. Zu dem Antrag der Linken, der sich auf den AWACS- Einsatz mit deutscher Beteiligung im Mittelmeerraum Dass Absatz 2: bezieht, ist Folgendes zu sagen: Der Bundestag ist vor Beginn und während des Einsatzes in geeigneter Weise zu unterrichten. Nachdem sich die westliche Allianz nun auf eine Schlüsselrolle der NATO im Libyen-Einsatz geeinigt hat, ebenfalls erfüllt wurde, berichtete mir der außenpoliti- wird die Bundesregierung 300 deutsche Soldaten, die sche Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Mützenich. Besatzungsmitglieder von AWACS-Aufklärungsflugzeu- Der letzte Absatz in § 5 regelt jedoch, wie im Nach- gen sind, nach Afghanistan schicken, um die NATO- gang mit dem Parlamentsvorbehalt umzugehen ist: Partner im Libyen-Einsatz zu entlasten. Gleichzeitig werden alle deutschen Soldaten vom NATO-Einsatz im Der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz ist unver- Mittelmeer abgezogen. Der Grund dafür ist, dass nicht züglich nachzuholen. Lehnt der Bundestag den An- auszuschließen ist, dass Bilder der AWACS-Aufklä- trag ab, ist der Einsatz zu beenden.

Zu Protokoll gegebene Reden 11440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Lars Klingbeil (A) War die Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh- den; der Hintergrund des Einsatzes war jedoch (C) mung in Libyen also zu erwarten, so hätte die Bundesre- vergleichbar. Bei der Operation Libelle kam es zu einem gierung zeitnah die Zustimmung des Parlaments bean- Schusswechsel auf dem Flugplatz, die Einbeziehung in tragen müssen. eine bewaffnete Unternehmung war also gegeben und der Bundestag hat im Nachgang dem Einsatz zuge- Wenn die Bundesregierung davon ausgegangen ist, stimmt. Ich halte es jedoch für sehr problematisch, die dass eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh- Parlamentsbeteiligung davon abhängig zu machen, ob mung nicht zu erwarten war, dann benötigt dieser Ein- es wirklich zu einem Beschuss kam oder ob nur die Ge- satz nach § 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nicht fahr dafür bestand. die Zustimmung des Bundestages. Die Frage ist also: Konnte die Bundesregierung davon ausgehen, dass Warum die Bundesregierung dem Antrag auf Zustim- keine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu mung zum Einsatz nicht nachkommt und weiterhin auf erwarten war? dem Standpunkt beharrt, dass es sich um einen humani- Die mediale Berichterstattung lässt diesen Schluss tären Einsatz ohne Risiko einer Einbeziehung in eine be- nicht wirklich zu. Es war von bis zu 1 000 Soldaten im waffnete Unternehmung handelte, ist für mich daher un- Einsatz zu lesen. Sechs Transall-Maschinen, drei Schiffe verständlich. und zwei Fregatten waren im Einsatz. Die Berichterstat- Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass ein sol- tung darüber ließ den Schluss zu, dass der Einsatz als cher nachträglicher Antrag im Deutschen Bundestag äußerst riskant einzuschätzen war und daher auch eine breite Zustimmung finden würde. Es handelt sich streng geheim durchgeführt wurde. hierbei ja um einen Einsatz zur Evakuierung deutscher Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehr und anderer europäischer Staatsbürger. überrascht als die mediale Berichterstattung, ist die Do- kumentation des Einsatzes durch die Bundesregierung Zweitens müssen wir Politiker unseren Worten auch selbst. Auf dem Internetauftritt des Bundesministeriums Taten folgen lassen. Über alle Parteigrenzen hinweg der Verteidigung ist zum Einsatz – dort als Operation stellen wir immer wieder die Wichtigkeit und Besonder- Pegasus betitelt – unter anderem zu lesen: heit der Parlamentsarmee heraus. Zu Recht, denn sie hat nicht nur ihre geschichtliche Existenzberechtigung, Die Landung im völlig unüberschaubaren Krisen- sondern sie ist auch eine große Errungenschaft. Auch gebiet war für die Soldaten nicht ohne Risiko. Es wenn der Parlamentsvorbehalt oft gescholten wird, bin bestand die Gefahr, dass der libysche Diktator, ich der Überzeugung, dass die Streitkräfte der Zukunft Muammar al-Gaddafi, die besetzten Ölanlagen der weiterhin vom Parlament kontrolliert werden müssen. Stadt bombardieren und so auch die dort tätigen (B) Nur so stellen wir sicher, dass ihr Einsatz durch demo- (D) Europäer gefährden könnte. Was die Soldaten nach kratische Willensbildung zustande kommt. Anstatt dies der Landung in einem vom Bürgerkrieg erfassten mit Leben zu füllen, versteckt sich die Regierung hinter Land erwartet, ist unklar. der Auslegung und der Interpretation von Paragrafen. Weiter schreibt das BMVg: Ich bin der festen Überzeugung: Im Zweifel sollte sich die Regierung parlamentsfreundlich verhalten. Über Angst sprechen die Soldaten nicht. Sie haben Respekt vor ihrer Aufgabe, weil sie nie genau wis- Drittens geht es mir um die Glaubwürdigkeit von sen, was auf sie zukommt. Die Stimmung könnte Politik. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine plötzlich umschlagen, selbst Angriffe sind nicht breite Unterstützung in der Öffentlichkeit haben, wenn auszuschließen. es darum geht, deutsche Staatsbürger aus Krisengebie- ten zu evakuieren. Wenn die Einschätzung des Auswärti- In einem Video auf der Seite beschreibt ein Soldat die gen Amts und des BMVg nun in diesem Fall ergeben, Gefahrenlage und die damit verbundenen Risiken. So dass für die Evakuierung bewaffnete Soldatinnen und wurden die Soldaten darauf vorbereitet, dass in Libyen Soldaten im Einsatzgebiet vonnöten sind, dann steht ih- möglicherweise Luftabwehrraketen eingesetzt werden nen das als verantwortliches Ressort zu. Wenn wir nun würden. aber auf der einen Seite stets betonen, dass in Deutsch- Dies alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass land das Parlament über den Einsatz von Soldaten im sehr wohl das Risiko einer Einbeziehung in eine bewaff- Ausland entscheidet, auf der anderen Seite aber Bilder nete Unternehmung bestand. Die Einschätzung der Lage von bewaffneten Soldaten in Libyen auftauchen und kein durch die Soldaten im Einsatz dürfte auch dem BMVg Beschluss des Bundestages vorliegt bzw. beabsichtigt und dem Auswärtigen Amt und somit der Bundesregie- ist, haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem. rung vorgelegen haben und vorliegen. Es ist daher meine Auffassung, dass nach dem Parlamentsbeteili- Dr. Rainer Stinner (FDP): gungsgesetz der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz Die Anträge der Linken sind vollkommen überflüssig durch die Bundesregierung unverzüglich nachzuholen und falsch. Wir brauchen zu diesem Thema nun wirklich ist. keinerlei Nachhilfe durch eine Fraktion, die sich bei Im Jahr 1997 führte die Bundeswehr einen ähnlichen Klagen zu Bundeswehreinsätzen vor dem Bundesverfas- Einsatz durch. Mit der Operation Libelle wurden deut- sungsgericht reihenweise schallende Ohrfeigen abge- sche Staatsbürger aus Albanien ausgeflogen. Ob die Ge- holt hat. Nun wollen Sie Ihre absurde Rechtsauffassung, fahrenlage zu vergleichen ist, müssen Experten entschei- mit der Sie in Karlsruhe ausnahmslos gescheitert sind,

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11441

Dr. Rainer Stinner (A) hier im Bundestag anbringen, aber hier werden Sie ge- Einsatz handelt. Das ist natürlich völlig lächerlich. Ich (C) nauso scheitern. halte es für ausgesprochen angemessen, dass die Bundesre- gierung – unabhängig von irgendeiner rechtlichen Ver- Selbstverständlich beachtet die Bundesregierung pflichtung – das Parlament informiert, wenn sie deutsche peinlich genau das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ein li- Staatsbürger aus einer Situation evakuiert, die alle Schlag- beral geführtes Außenministerium ist die beste Gewähr zeilen des Tages bestimmt hat. Wollen Sie wirklich in einer dafür. Wir Liberale haben nach dem rot-grünen AWACS- solchen Lage lieber nicht informiert werden? Das kann Einsatz während des Irakkrieges eine Klage vor dem doch nicht Ihr Ernst sein. Ich bedanke mich ganz aus- Bundesverfassungsgericht eingereicht und, im Gegen- drücklich beim Auswärtigen Amt und bei Außenminister satz zu den Kollegen der Linken, vollumfänglich Recht Westerwelle für die konstruktive und offene Informa- bekommen. tionspolitik zu dieser Operation. An genau diesem Urteil orientiert sich auch das Han- Die FDP-Fraktion lehnt also beide Anträge mit sehr deln der Bundesregierung, und zwar in beiden Fällen: In guten Gründen ab und empfiehlt der Fraktion der Lin- einem Antrag fordern Sie die schon erfolgte Beendigung ken, sich einmal zu den verfassungsrechtlichen Gege- der Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten an dem benheiten von Bundeswehreinsätzen unterrichten zu las- AWACS-Einsatz zur Überwachung des libyschen Luft- sen, aber bitte nicht durch die Rechtsvertreter, mit denen raums. Die Bundesregierung hat dies in exakt dem Mo- Sie in der Vergangenheit in Karlsruhe ständig geschei- ment getan, als die Operation begann, eine bewaffnete tert sind. Unternehmung im Sinne des Parlamentsbeteiligungsge- setzes zu werden. Das ist eine völlig konsequente, strin- gente und verfassungsgemäße Handlungsweise. Des- Inge Höger (DIE LINKE): halb ist dieser Antrag überflüssig. Seit dem 19. März 2011 führt eine „Koalition der Wil- ligen“ kriegerische Angriffe auf libysches Territorium Ihr anderer Antrag, der die Nachmandatierung des durch. Bei der Verabschiedung der Resolution 1973 des Evakuierungseinsatzes in Libyen fordert, ist schlicht und UN-Sicherheitsrates, die als Legitimation für die Bom- ergreifend falsch. Aus der Urteilsbegründung zum bardierungen dient, hat sich die deutsche Regierung AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt enthalten. Sie hat ebenfalls klargemacht, dass sich sich völlig unstreitig, dass der Evakuierungseinsatz in Deutschland nicht an dieser Operation beteiligen wird. Libyen eben kein bewaffneter Einsatz im Sinne des Par- Die Linke begrüßt es, dass in diesem Fall deutsche Au- lamentsbeteiligungsgesetzes war und deshalb auch nicht ßenpolitik etwas besonnener ist, als wir es aus anderen vom Deutschen Bundestag mandatiert werden muss. Ich Krisengebieten dieser Welt kennen. empfehle Ihnen, dieses Urteil noch einmal gründlich zu (B) lesen. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Be- Allerdings war die deutsche Regierung gerade im Vor- (D) gründung: feld der internationalen Angriffe auf Libyen keineswegs Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung militärisch abstinent. In der Operation Pegasus wurden deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinanderset- unter Beteiligung von bis zu 1 000 Bundeswehrsoldaten, zungen besteht, wenn sie im Ausland Waffen mit darunter schwer bewaffnete Sondereinheiten, Zivilisten sich führen und ermächtigt sind, von ihnen Ge- aus Libyen evakuiert. Die Marine hat mit drei Schiffen und brauch zu machen. Denn es kann dadurch je nach 700 Soldaten 450 Menschen, die aus Libyen nach Tunesien dem Verlauf des tatsächlichen Geschehens dazu geflohen waren, nach Ägypten gebracht. Die „Tages- kommen, dass die Bewaffnung in die Anwendung schau“ spekulierte damals, dass „die Guttenberg-geschüt- von Waffengewalt mündet. Solange es sich aller- telte Bundesregierung … schöne Fernsehbilder und dings rechtlich nur um eine Ermächtigung zur Schlagzeilen von geretteten Ägyptern auf einer deutschen Selbstverteidigung handelt und der Einsatz selbst Fregatte“ benötigte, denn mit ein bis zwei zivilen Flugzeu- einen nicht-militärischen Charakter hat, ist, wie der gen wäre der Transport in wesentlich kürzerer Zeit möglich Senat bereits festgestellt hat, die Schwelle der Zu- gewesen. Zudem waren mehr als 70 deutsche Soldaten als stimmungsbedürftigkeit nicht schon durch diese Er- Besatzungsmitglieder beteiligt an der Überwachung des mächtigung erreicht. libyschen Luftraums im Vorfeld des Krieges, also bis zum 19. März, vielleicht sogar bis zum 22. März. Erst am Bei der Evakuierung hat es sich ohne jeden Zweifel 22. März hat die Bundesregierung ihre Beteiligung an um einen Einsatz mit nichtmilitärischem Charakter in den entsprechenden Verbänden offiziell aufgekündigt. diesem Sinne gehandelt. Dass die Bundesregierung eine zusätzliche Sicherheitskomponente mit dem Recht zur Für zwei dieser Militäroperationen – für die Opera- Selbstverteidigung mitgeschickt hat, spricht dem nicht tion Pegasus und für die Überwachung des libyschen entgegen, wie das Gericht ausdrücklich feststellt. Wir Luftraums im Vorfeld des Krieges – wäre eine Mandatie- sollten auch wirklich nicht dazu kommen, der Bundesre- rung des Einsatzes durch den deutschen Bundestag not- gierung Vorwürfe zu machen, wenn sie sich für noch so wendig gewesen. Leider hat die Bundesregierung weder unwahrscheinliche Eventualitäten vorbereitet. vor dem Einsatz den Bundestag beteiligt, noch hat sie dies im Nachhinein getan. Hierdurch wurden und werden Auch vor Ihrer weiteren Argumentation kann ich Sie nur gesetzlich garantierte Rechte der Parlamentarierinnen warnen: Sie sehen in der Unterrichtung der Fraktionsvor- und Parlamentarier missachtet. Das Parlaments- sitzenden durch die Bundesregierung vor dem Einsatz ei- beteiligungsgesetz regelt ganz eindeutig, dass das Parla- nen Beweis dafür, dass es sich um einen zu mandatierenden ment – und nicht die Regierung – verantwortlich ist für

Zu Protokoll gegebene Reden 11442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

Inge Höger (A) die Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streit- vorlegen müssen. Auch damals ging es „nur“ um die (C) kräfte. Überwachung des Luftraums des NATO-Partners Tür- kei. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist im- Brigadegeneral Volker Bescht machte in einem Inter- mer dann ein Bundestagsmandat nötig, wenn „greifbare view in der Zeitschrift „Bundeswehr Aktuell“ ausführ- tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstri- lich klar, dass keineswegs mit einem reibungslosen Ver- ckung in bewaffnete Auseinandersetzungen“, so die lauf der Operation zu rechnen war: Randnote 78 der Urteilsbegründung, vorliegen. Diese Die Gefahren stellten die Flugabwehrsysteme auf Anhaltspunkte gab es während der gesamten Zeit der libyscher Seite dar … Es stellte sich auch die Beteiligung deutscher Soldaten an der Überwachung Frage, wer den Luftraum kontrolliert … Außerdem des libyschen Luftraums. war offen, wie sich die libysche Marine bei unserem Alles in allem missachtet die Bundesregierung syste- Eintritt in die Hoheitsgewässer verhalten wird. matisch die Rechte des Parlaments. Die Absicht dahin- Unklar war auch, welche Kräfte die Region kontrol- ter haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitions- lieren, aus der evakuiert wurde. Folglich war es allein vertrag längst aufgezeigt: Sie planen Änderungen des eine Frage des Zufalls, dass die Mission tatsächlich Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Die Folge wäre, dass friedlich verlief. Es handelt sich also um eine bewaffnete die Kontrollrechte des Parlaments weiter eingeschränkt Unternehmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Parlamentsbetei- werden, sodass in vielen Fällen nur noch ein kleines ligungsgesetz. Selbst wenn sich die Bundesregierung ausgewähltes Kontrollgremium über die Realität der je- hier auf Gefahr im Verzug beruft, müsste sie dem Bun- weiligen Militärschläge informiert wird und entscheidet. destag im Nachhinein unverzüglich ein Mandat vorle- Auf diesem Wege wird die Bundeswehr Stück für Stück gen. Dies ist jedoch nicht geschehen und nicht beabsich- zur Regierungsarmee. Die Linke sagt zu dieser Entwick- tigt. Wir müssen also feststellen: Die Bundesregierung lung klar und entschieden Nein. Die Linke wird dafür setzte 1 000 Soldaten in einem Kontext ein, in dem mit kämpfen, dass über deutsche Militärpolitik nicht hinter bewaffneten Auseinandersetzungen zu rechnen war, und verschlossenen Türen entschieden wird. behauptet dennoch, dass daran das Parlament nicht zu beteiligen sei. Dies ist für die Linke völlig inakzeptabel. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch kühner wird die Argumentation der Regierung Es ist schon erstaunlich, dass die Bundesregierung ein bei der Überwachung des libyschen Luftraums durch ums andere Mal Nachhilfe in Fragen der Parlamentsbe- deutsche AWACS-Besatzungsmitglieder. Einerseits gab teiligung benötigt. Die Beteiligung des Parlaments ist Staatssekretär Christian Schmidt bei der gestrigen Fra- keine lästige Pflichtaufgabe, wie es die Bundesregierung zu sehen scheint, sondern sie ist in einer Demokratie der (B) gestunde zu, dass auf Daten, die bei dieser NATO-Ope- (D) ration erhoben wurden, natürlich auch sämtliche NATO- Ausdruck und die notwendige Folge der Gewaltentei- Mitglieder Zugriff haben. Andererseits meint Staatsekre- lung. Dieses grundlegende rechtsstaatliche Prinzip aber tär , er könne ausschließen, dass dadurch verletzt die Bundesregierung immer wieder aufs Neue. ein Beitrag für die „exekutiven Handlungen“ – so kann Die Bundesregierung möchte die Evakuierungsmis- man Bombardierung auch nennen – geleistet worden sion Nafurah, auch bekannt als Operation Pegasus, wäre. Nach NATO-Angaben überwachten AWACS-Sys- nicht nachträglich mandatieren. Der Bundesminister teme seit dem 7. März rund um die Uhr den libyschen des Auswärtigen vertritt in einem Schreiben an mich die Luftraum. Schmidt weiß aber nur von Überwachungs- Auffassung, dass es sich bei der Evakuierungsmission maßnahmen ab dem 12. März. Schon längere Zeit vor um einen humanitären Einsatz gehandelt habe, der nicht dem 19. März war absehbar, dass es zu einer internatio- mandatierungspflichtig sei. Der Einsatz sei mit der kla- nalen Militärmission kommen würde, mit der eine Flug- ren Erwartung verbunden gewesen, dass die Soldaten verbotszone über Libyen durchgesetzt werden sollte. ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen. Deswegen Trotzdem hatte die Bundesregierung keine Bedenken, müsse nicht gemäß § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteili- sich an einer Unternehmung zu beteiligen, bei der nie- gungsgesetzes der Bundestag beteiligt werden; es greife mand ausschließen kann, dass sie eben doch der Vorbe- die Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2. reitung kriegerischer Angriffe diente. In gewisser Weise taten sowohl Staatssekretär Hoyer als auch sein Kollege Diese Rechtsauffassung ist falsch. Es war die Bun- Schmidt in der gestrigen Fragestunde so, als wären sie destagsfraktion der FDP, die im Jahr 2003 eine Organ- am 19. März völlig überrascht davon gewesen, dass Li- klage beim Bundesverfassungsgericht einreichte, weil byen angegriffen wurde und als hätte es erst ab diesem sie das Parlament im Zuge des damals beschlossenen Monat eine Veranlassung gegeben, die deutsche AWACS- AWACS-Einsatzes im Irak-Konflikt nicht ausreichend Besatzung abzuziehen. Es war jedoch schon Tage vorher einbezogen gesehen hatte. Das Bundesverfassungsge- absehbar, dass hier eine militärische Eskalation bevor- richt gab der FDP-Fraktion in einem wegweisenden Ur- stand. teil vom 7. Mai 2008 Recht. Nun will der Außenminister, der damals einer der Kläger war, nichts mehr davon Das Bundesverfassungsgericht hat bereits am 7. Mai wissen. Er missachtet die Rechte des Deutschen Bundes- 2008 ein Präzedenzurteil gefällt, das sich auf einen ver- tages, die Pflichten der Bundesregierung, und er miss- gleichbaren Fall bezog. Damals wurde festgestellt, dass achtet auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. die Bundesregierung im Jahr 2003, im Vorfeld des Irak- krieges, ein Bundestagsmandat für den Einsatz von Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass AWACS-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung hätte ein dem Parlamentsvorbehalt unterliegender Einsatz

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11443

Volker Beck (Köln) (A) bewaffneter Streitkräfte dann vorliegt, wenn deutsche sondern dann gab es die qualifizierte Erwartung, dass (C) Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmun- der Einsatz in die Anwendung von Waffengewalt würde gen einbezogen sind. Eine Parlamentsbeteiligung sei münden können. Es handelte sich bei der Operation entgegen der engen Auffassung, die in dem damaligen Pegasus demnach um einen Einsatz bewaffneter Streit- Verfahren von der Bundesregierung vertreten wurde, kräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 des Parlamentsbe- nicht erst bei tatsächlicher Anwendung von bewaffneter teiligungsgesetzes und eben nicht um einen Ausnahme- Gewalt notwendig. Andererseits lässt das Gericht die tatbestand nach § 2 Abs. 2. bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu be- waffneten Auseinandersetzungen kommt, auch nicht Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil genügen. Es verlangt eine sogenannte qualifizierte Er- fest, dass angesichts der Funktion und Bedeutung des wartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinander- wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts seine setzungen. Der Unterschied der qualifizierten Er- Reichweite nicht restriktiv bestimmt werden dürfe. Viel- wartung von der bloßen Möglichkeit bewaffneter mehr sei der Parlamentsvorbehalt im Zweifel parla- Auseinandersetzungen soll zum einen darin liegen, dass mentsfreundlich auszulegen. Insbesondere könne das es greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass Eingreifen des Parlamentsvorbehalts nicht von den poli- ein Einsatz nach seinem Zweck, den konkreten politi- tischen und militärischen Bewertungen und Prognosen schen und militärischen Umständen sowie den Einsatz- der Bundesregierung abhängig gemacht werden. Geht befugnissen in die Anwendung von Waffengewalt mün- es noch deutlicher? den kann. Zum anderen sollen eine besondere Nähe der Anwendung von Waffengewalt erforderlich und die Ein- Angesichts dieser klaren Rechtslage ist die Weige- beziehung unmittelbar zu erwarten sein. Anhaltspunkte rung der Bundesregierung unverständlich. Noch unver- für die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten sieht ständlicher wird sie, wenn man berücksichtigt, dass der das Bundesverfassungsgericht gegeben, wenn diese im Bundesminister des Auswärtigen selber die Fraktions- Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von vorsitzenden des Deutschen Bundestages vor dem Ein- ihnen Gebrauch zu machen. satz ausdrücklich gemäß § 5 Abs. 2 des Parlamentsbe- teiligungsgesetzes informierte. § 5 trägt die Überschrift Unter diese höchstrichterlichen Vorgaben muss jetzt „Nachträgliche Zustimmung“. Wie kann der Minister der tatsächliche Sachverhalt subsumiert werden. Man sollte meinen, dass dies insbesondere für einen Juristen diese nachträgliche Zustimmung verweigern, wenn er wie den Bundesminister des Auswärtigen kein Problem doch ausdrücklich nach dieser Vorschrift handelte? darstellt. Zur Sachverhaltsdarstellung empfiehlt sich ein Um eins klarzustellen: Meine Fraktion unterstützt Blick auf die Homepage derer, die den Einsatz durchgeführt den Evakuierungseinsatz inhaltlich. Doch wir sorgen (B) (D) haben: auf die Seite www.bundeswehr.de. Generalleutnant uns angesichts solch rechtsstaatlicher Ignoranz um die Rainer Glatz, der Befehlshaber des Einsatzführungskom- Rechte des Deutschen Bundestages. Das Parlamentsbe- mandos der Bundeswehr und damit verantwortlich für den teiligungsgesetz formuliert in § 5 Abs. 3 Satz 1 einen Im- Evakuierungseinsatz, wird dort mit folgenden Worten zi- perativ: „Der Antrag auf Zustimmung ist unverzüglich tiert: nachzuholen“. Insofern meint der Antrag der Fraktion Wir haben Glück gehabt, denn diese Evakuierungs- Die Linke das Richtige; doch eigentlich ist es nicht die operation war nicht unkritisch. Aufgabe des Parlaments, die Bundesregierung zur Ein- haltung ihrer genuinen Pflichten aufzufordern. Nichts- und weiter: destotrotz werden wir diesem Antrag zustimmen, auch Mit ihrem Einsatz in einer durchaus unübersichtli- wenn dieses Verfahren eigentlich nicht vorgesehen ist. chen Situation haben die Soldatinnen und Soldaten Denn die eigentliche Konsequenz bei einer unterbliebe- Gefahr für Leib und Leben deutscher und ausländi- nen Parlamentsbeteiligung ist der Weg nach Karlsruhe. scher Staatsbürgerinnen und -bürger abgewendet. Wir behalten uns diesen erneuten Gang zum Bundesver- fassungsgericht ausdrücklich vor. Die Bundesregierung Am Ende des Berichts heißt es: allerdings sollte sich diese Peinlichkeit ersparen und dem Deutschen Bundestag ein Mandat für den Evakuie- Der stellvertretende Kommandeur der Division Spezielle Operationen, Brigadegeneral Volker rungseinsatz in Nafurah vorlegen. Bescht, war der Führer des Einsatzverbandes vor Den zweiten Antrag der Fraktion Die Linke werden Ort und stellte fest, dass die Sicherheitslage zu kei- wir ablehnen. Wir finden es richtig, dass die Bundesre- ner Zeit unterschätzt werden durfte. Obwohl beide gierung nicht ohne ein Mandat des Bundestages operie- Flüge angemeldet waren, galt die Lage insgesamt ren möchte. Umso verwunderlicher ist es aber, dass die als kritisch. Bundesregierung den Bundestag nicht bittet, die Umset- Wenn die Bundeswehr selber angibt, sie habe Glück zung des Waffenembargos seeseitig vor der libyschen gehabt und die Lage sei kritisch gewesen, wenn voll be- Küste zu unterstützen. Wenn man dem libyschen Volk waffnete Fallschirmjäger und Feldjäger im Einsatz sind helfen will, muss man dafür sorgen, dass keine Waffen und ein Verband aus knapp 1 000 Soldatinnen und Sol- ins Land kommen. Die deutsche Marine war vor Ort. Mit daten aufgestellt werden muss, dann bestand nicht ein- dem Abzug der Schiffe zerschlägt die Bundesregierung fach nur die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Ein- weiteres Porzellan. Und wir fragen die Bundesregie- satz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, rung: Wo ist ihr Antrag?

Zu Protokoll gegebene Reden 11444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Sie werden es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind (C) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5175. Wer (Beifall bei Abgeordneten der FDP) stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tages auf morgen, Freitag, den 25. März 2011, 9 Uhr, ein. (Iris Gleicke [SPD]: Schade eigentlich!) Ich wünsche einen schönen Abend. Vielen herzlichen Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über den An- Dank! trag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5176. Die Sitzung ist geschlossen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. (Schluss: 22.41 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11445

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Binder, Karin DIE LINKE 24.03.2011 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 24.03.2011 DIE GRÜNEN Brinkmann SPD 24.03.2011 (Hildesheim), Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 24.03.2011 Bernhard Claudia DIE GRÜNEN

Buchholz, Christine DIE LINKE 24.03.2011 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 24.03.2011 DIE GRÜNEN Bülow, Marco SPD 24.03.2011 Schmidt (Eisleben), SPD 24.03.2011 Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 24.03.2011 Silvia

Burkert, Martin SPD 24.03.2011 Sendker, Reinhold CDU/CSU 24.03.2011

Dr. Danckert, Peter SPD 24.03.2011 Süßmair, Alexander DIE LINKE 24.03.2011

Ernstberger, Petra SPD 24.03.2011 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 24.03.2011

Ferner, Elke SPD 24.03.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 24.03.2011

Friedhoff, Paul K. FDP 24.03.2011 Zapf, Uta SPD 24.03.2011

(B) Gerster, Martin SPD 24.03.2011 (D) Anlage 2 Groschek, Michael SPD 24.03.2011 Erklärung nach § 31 GO Hänsel, Heike DIE LINKE 24.03.2011 des Abgeordneten Dr. Patrick Sensburg (CDU/ Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 24.03.2011 CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines DIE GRÜNEN Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vor- schriften 2011 (Wehrrechtsänderungsgesetz Hintze, Peter CDU/CSU 24.03.2011 2011 – WehrRÄndG 2011) (Tagesordnungs- punkt 30) Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 24.03.2011 Erstens. Ich werde dem Gesetzentwurf aufgrund per- DIE GRÜNEN sönlicher Bedenken nicht zustimmen. Klöckner, Julia CDU/CSU 24.03.2011 Zweitens. Grund meiner Ablehnung ist die im Gesetz- entwurf enthaltene Aussetzung der Wehrpflicht, die ich Kressl, Nicolette SPD 24.03.2011 aus zwei zentralen Gründen für falsch halte:

Krüger-Leißner, SPD 24.03.2011 Am schwersten wiegen bei mir sicherheitspolitische Angelika Bedenken. Gerade in Zeiten asymmetrischer Konflikte benötigt unser Land eine breit aufgestellte und personell Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 24.03.2011 gut ausgestattete Bundeswehr. Die vorgesehene Wieder- DIE GRÜNEN einführung der Wehrpflicht käme in einem solchen Fall aller Voraussicht nach zu spät, um neuen Bedrohungs- Kunert, Katrin DIE LINKE 24.03.2011 szenarien gegenübertreten zu können. Zudem wird ohne die Wehrpflicht und damit ohne eine hinreichende Zahl Laurischk, Sibylle FDP 24.03.2011 an Reservisten die Mobilmachungs- und Aufwuchsfä- higkeit für den Fall der Landes- und Bündnisverteidi- Nahles, Andrea SPD 24.03.2011 gung deutlich geschwächt. Des Weiteren bin ich der Meinung, dass nicht hinreichend geklärt ist, welche An- Nietan, Dietmar SPD 24.03.2011 forderungen das 21. Jahrhundert an unsere Verteidi- gungspolitik stellt. Ohne eine konsequente Analyse 11446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) dessen ist eine solch grundlegende Reform nicht zielfüh- Ihre gemeinsame Begründung lautet, die Arbeitsge- (C) rend. richte würden bei Kündigung nach Diebstahl etc. grund- sätzlich zugunsten von Arbeitgebern entscheiden. Diese Zudem sprechen für mich klare gesellschaftspoliti- würden ihren Abwägungsspielraum nicht nutzen. Als sche Gründe gegen eine Aussetzung der Wehrpflicht, die Kronzeugin diente die Kassiererin Barbara Emme, die faktisch einer Abschaffung gleichkommt. Das Maß der einen Pfandbon mit einem Wert von 1,30 Euro unter- gesellschaftlichen Verankerung der Bundeswehr in der schlagen hatte. Bevölkerung wird durch die Aussetzung deutlich zu- rückgehen. Damit wird ein zentraler Eckpfeiler des Hätten Sie sich nur besser informiert, meine Damen Selbstverständnisses der Bundeswehr geschwächt. Dies und Herren von der Opposition. Ja, Diebstahl und Unter- ist für mich vor dem Hintergrund der sicherheitspoliti- schlagungen geringwertiger Sachen können ein Kündi- schen Lage nicht zielführend. Der „Bürger in Uniform“ gungsgrund sein. Straftat bleibt Straftat. Oder wie die – wie ihn insbesondere der Wehrpflichtige darstellt – ist Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt für die Bundesrepublik ein wichtiges Scharnier zwischen feststellte: unserer Gesellschaft und der Bundeswehr. Hierauf Es gibt in dem Sinne keine Bagatellen. Jeder frage möchte ich nicht verzichten. Meiner Meinung nach sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Ta- sollte die Wehrpflicht auch zukünftig erhalten bleiben. sche nehmen lassen würde, bevor er reagiert. Gleichzeitig begrüße ich, dass sich die Bundeswehr durch eine weitgehende Wehrreform auf die neuen He- Die Kündigung ist aber niemals als Sanktion für ein rausforderungen einstellt. vergangenes Fehlverhalten berechtigt. Sie ist es nur dann, wenn auch in Zukunft Störungen zu erwarten sind. Jeder Arbeitsrichter muss also prüfen, ob ein Arbeitge- Anlage 3 ber mit Recht sagen kann, dass sein Vertrauen unheilbar zerstört ist, oder ob das Interesse des Arbeitnehmers an Zu Protokoll gegebene Reden seinem Arbeitsplatz größeres Gewicht hat. zur Beratung Der Arbeitsrichter prüft, er wägt ab, entgegen Ihren – Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des Vorwürfen ausgewogen – in vielen Fällen zugunsten der Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerin- Arbeitnehmer. Leider sind diese Fälle nur nicht so me- nen und Arbeitnehmer (Schutz vor Kündi- dientauglich wie der Bienenstich-, der Frikadellenfall gung wegen eines unbedeutenden wirt- oder eben der Fall von Barbara Emme. Das BAG ent- schaftlichen Schadens) schied zu ihren Gunsten. Spätestens seit dieser Entschei- (B) dung haben Ihre Anträge ihre Berechtigung verloren. (D) – Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Ver- Denn die Richter haben einmal mehr gezeigt, dass sie in dachtskündigung und der Erweiterung der Einzelfällen die Grenzlinie immer genauer und treffen- Kündigungsvoraussetzungen bei Bagatellde- der ziehen können als ein starres Gesetz – insbesondere likten diese Gesetzentwürfe, die handwerklich lieblos und rechtlich haltlos bis radikal sind. – Beschlussempfehlung und Bericht: Unge- rechtigkeiten bei Bagatellkündigungen kor- Nähme man die Entwürfe ernst, könnte ein Arbeit- rigieren – Pflicht zur Abmahnung einführen nehmer schon am ersten Arbeitstag stehlen – und den- noch könnte ihm nicht gekündigt werden. Was wäre (Tagesordnungspunkt 12 a und b) dann eigentlich bei kleineren Beleidigungen, Tätlichkei- ten oder geringfügigen sexuellen Belästigungen? Gitta Connemann (CDU/CSU): Wären wir vor Ge- Die ausnahmslose Unzulässigkeit der Verdachtskün- richt, wäre heute der Zeitpunkt für eine Rücknahme – in digung – wie von den Linken gewünscht – würde auch diesem Fall Ihrer Anträge und Gesetzentwürfe, meine beim schwerwiegenden Verdacht des sexuellen Miss- Damen und Herren von der Opposition –, denn diese brauchs psychisch Kranker gelten. In der jüngsten Ent- laufen ins Leere. So lautet jedenfalls das einhellige Ur- scheidung des BAG zur Verdachtskündigung ging es um teil der Sachverständigen. Der Bund der Richterinnen eben einen solchen Fall. Ein Krankenpfleger stand im und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit brachte es auf den dringenden Verdacht, eine psychisch Kranke gezwungen Punkt – ich zitiere –: „Die Gesetzentwürfe würden die zu haben, ihn oral zu befriedigen. Hier wären dem Ar- derzeitige Rechtslage weder für Arbeitgeber noch für beitgeber, einem Heim, laut Antrag der Linken zukünftig Arbeitnehmer verbessern.“ Weitere Kommentare von die Hände gebunden. „systemwidrig“ bis „ungeheuerlich“ will ich Ihnen er- sparen. Nebulös bleibt auch der Begriff des Bagatells. Nach dem Willen der Linken geht ein bisschen Diebstahl bis Was bewegt Sie? Vordergründig das Kündigungs- 5 Euro. Da sehe ich schon die Schlagzeilen: „Mitarbeiter schutzrecht. Zukünftig soll es keine Kündigung ohne wegen 5,01 Euro gekündigt“. Abmahnung bei sogenannten Bagatelldelikten geben. Die erste Tat soll folgenfrei bleiben. Dabei soll die Es bleiben weitere offene Fragen: Gilt die Fünf-Euro- Grenze nach einem Vorschlag 5 Euro sein. Nach dem Regel nur für Geldbeträge oder auch für Produkte? Gilt Willen der Linken sollen auch Verdachtskündigungen der Einkaufs- oder der Verkaufspreis? Wenn eine Floris- unwirksam sein. tin eine Rose und 2,50 Euro aus der Kasse mitgehen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11447

(A) lässt, werden diese Beträge addiert oder für sich berech- Mit seiner Entscheidung vom 10. Juni 2010 hat der (C) net? Gilt diese Regel für Angestellte von Unternehmen Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichtes bereits im ers- oder auch für Staatsdiener? Wie häufig darf der Geselle ten Leitsatz festgestellt, dass zum Nachteil des Arbeitge- in einem Handwerksbetrieb 5 Euro oder Schrauben im bers begangene Eigentums- und Vermögensdelikte unab- Wert von 5 Euro klauen? Einmal in der Woche? Einmal hängig von ihrer Strafbarkeit und unabhängig vom Wert im Monat? Wird es dann im Gegenzug dem Handwerks- des Tatobjektes und der Höhe des Schadens als Grund meister erlaubt, seinem Gesellen 5 Euro im Monat weni- für eine Kündigung in Betracht kommen. ger zu überweisen? Ist das dann auch eine Bagatelle? Darf der Arbeitgeber die „zu klauende Menge“ vorsorg- Im zweiten Leitsatz stellt das Gericht auf die einzel- lich vom Gehalt abziehen, weil mit dem Diebstahl zu fallbezogene Prüfung und die Interessenabwägung ab. rechnen ist? Und wo verbucht er diese Summe? Damit ändert sich auch in Zukunft die ständige Recht- sprechung des BAG nicht, wonach die Zwei-Schritte- Im Ernst: Wenn ein Kassierer Geld aus der ihm anver- Prüfung erforderlich ist: Erstens muss das dem Arbeit- trauten Kasse klaut, dann sind weder 4,99 Euro noch nehmer vorgeworfene Verhalten an sich als wichtiger 5,01 Euro das Problem. Das Problem ist der Vertrauens- Grund geeignet sein. Zweitens muss auch eine Interes- verlust. Das Problem ist das zerstörte Vertrauensverhält- senabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände nis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Frage, des Einzelfalls die außerordentliche Kündigung rechtfer- die sich stellt, lautet: Ist nach dem Zerstören des Vertrau- tigen. ensverhältnisses eine Weiterbeschäftigung zumutbar? Nein. Insofern kann es keine Bagatellen geben. Entgegen mancher Äußerungen von nicht immer rechtskundigen Politikern und juristisch nicht immer sat- Das Problem, das wir heute debattieren, reicht tiefer. telfesten Medienvertretern liegt in einer rechtswidrigen Es geht um Fragen des Anstandes, des Vertrauens, von und vorsätzlichen Handlung, die gegen das Vermögen Regeln. Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts des Arbeitgebers gerichtet ist, immer eine schwerwie- Ingrid Schmidt brachte es in einem Interview wie folgt gende Pflichtverletzung vor. Damit kommen Eigentums- auf den Punkt – ich zitiere –: oder Vermögensdelikte grundsätzlich immer unabhängig vom Schadenseintritt als Grund für eine außerordentli- Meine Frage ist eine andere. Wie kommt man ei- che Kündigung in Betracht. gentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzuneh- men? Oder eine Klorolle, oder stapelweise Papier Zur Interessenabwägung betont der Zweite Senat in aus dem Büro? Warum solche Eigenmächtigkeiten? seiner Emmely-Entscheidung, dass es keine absoluten Das hat was mit fehlendem Anstand, aber auch mit Kündigungsgründe gibt, bei denen eine Interessenabwä- unerfüllten Erwartungen zu tun. Ein Arbeitnehmer (B) gung entbehrlich wäre. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die (D) erwartet doch von seinem Arbeitgeber nicht nur, Notwendigkeit einer Interessenabwägung unter Berück- dass er sein Geld bekommt. Er erwartet auch Aner- sichtigung aller Umstände des Einzelfalles ergibt sich kennung, und dass er wie ein Mensch behandelt unmittelbar aus dem Gesetz. Im Übrigen unterscheidet wird. Aber umgekehrt ist es genauso: Ein Arbeitge- sich die Rechtsprechung im Fall „Emmely“ damit auch ber erwartet, dass ein Arbeitnehmer das Interesse nicht von der bisherigen Rechtsprechung in der soge- des Unternehmens mitdenkt. Wenn diese Bezie- nannten Bienenstich-Entscheidung. hung gestört ist, dann kommt es dazu, dass ein Ar- beitnehmer etwas mitgehen lässt und ein Arbeitge- Lediglich klarstellende Äußerungen hat der Zweite ber auch bei Kleinigkeiten die Vertrauensfrage Senat im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrund- stellt. satz vorgenommen. Aber auch insoweit konnte der Zweite Senat sich wiederum auf seine bisherige Recht- Dem ist nichts hinzuzufügen. Deshalb lehnen wir Ihre sprechung berufen, die er bestätigt hat. Der Zweite Senat Anträge und Gesetzentwürfe ab. hat aber zu Recht – dies zeigt die genaue Analyse der Urteilsgründe – die Gedanken der Gesetzentwürfe der Ulrich Lange (CDU/CSU): Der medienwirksame Opposition eben gerade nicht aufgegriffen, wonach eine Fall „Emmely“ hat auch in diesem Hohen Hause eine er- Abmahnung Kündigungsvoraussetzung sein muss. Auch neute Debatte über die Kündigung bei Bagatelldelikten weiterhin ist eine fristlose Kündigung grundsätzlich ausgelöst. Dazu liegen uns diverse Anträge und Gesetz- ohne Abmahnung möglich, zum Beispiel bei einer entwürfe der Opposition vor. Für gesetzgeberische Er- Pflichtwidrigkeit am ersten Arbeitstag. gänzung sehen wir jedoch keinen Bedarf. Die im Ausschuss durchgeführte Anhörung hat von Nachdem nämlich besagter Fall aus der Tages- und den Experten mit praktischem und juristischem Sachver- der medialen Aktualität verschwunden ist, ist es nun stand, den Sie vonseiten der Opposition bitte akzeptieren vielleicht heute an der Zeit, eine sachliche und juristisch mögen, ergeben – so zeigen dies die Ausführungen des fundierte Debatte zu führen. Dies sollte möglich sein Vertreters des Bundes der Richterinnen und Richter am ohne Populismus. Der Populismus im Zusammenhang Arbeitsgericht sowie der Bundesrechtsanwaltkammer –, mit dem Fall „Emmely“ ist weder der tatsächlichen dass ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht be- Rechts- und Gesetzeslage noch der hervorragenden Ar- steht und es letztlich durch die Interessenabwägung im beit unserer Arbeitsgerichtsinstanzen gerecht geworden. Einzelfall zu einer fachgemäßen Abwägung kommt. Ich Er ist den Interessen beider Parteien nicht gerecht ge- kenne aus langjähriger Praxis diese sorgfältige und juris- worden und hat deshalb nicht gut getan. tisch fundierte Vorgehensweise von Arbeitsgerichten, 11448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) die ihre Arbeit täglich jenseits der medialen und politi- Handelsverband Deutschland und der Bund der Richte- (C) schen Aufmerksamkeit hervorragend verrichten. rinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit bestätigt. Im Ergebnis bleibt es also dabei: Diebstahl ist Dieb- In der Begründung für Ihren Gesetzentwurf schreiben stahl und Eigentum muss geschützt sein! Jede andere Sie, sehr geehrten Kollegen von der Fraktion Die Linke, Entscheidung und gesetzgeberische Wertung wäre ein dass die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte den Grund- Dammbruch nach dem Motto: „Einmal klauen ist kein- sätzen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes mal klauen“. Das darf gesellschaftlich nicht konsensfä- nicht gerecht würde. Das ist ein schwerwiegender Vor- hig sein. wurf, den Sie hier erheben. Die eben geschilderte Praxis Das Gesetz, die praxisgerechte Rechtsprechung, zeigt beweist das Gegenteil. aber, dass es einer Gesetzesänderung nicht bedarf, wir Die Einführung einer Abmahnpflicht bei Eigentums- die notwendige Rechtssicherheit haben und die Abwä- und Vermögensdelikten, wie Sie sie fordern, würde doch gung im Einzelfall bei unseren Richterinnen und Rich- einen Freibrief für Arbeitnehmer bedeuten. Bagatell- tern mit ihren ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern diebstähle werden nicht geahndet, frei nach dem Motto gut aufgehoben ist. „Einmal ist keinmal“. Grundsätzlich besteht ja heute be- reits die Pflicht zur Abmahnung vor einer verhaltensbe- Gabriele Molitor (FDP): Das Wichtigste gleich zu dingten ordentlichen Kündigung. Das darf man nicht Beginn: „Emmely“ arbeitet wieder in ihrem alten Job für vergessen. ihren alten Arbeitgeber, Ihr Fall hatte im vergangenen Hier ist der Fall aber anders gelagert. Wir sprechen Jahr für Aufsehen gesorgt. Sie hatte die Kündigung er- halten, weil sie Pfandbons in Höhe von 1,30 Euro einge- zwar von Bagatelldelikten, aber es geht hier doch um et- was ganz Grundlegendes: das Vertrauensverhältnis zwi- löst hatte. Im Rechtsstreit hob das Bundesarbeitsgericht schen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Und das wurde letztendlich die Kündigung auf und stufte ihr Vergehen als erhebliche Pflichtwidrigkeit ein. durch das Verhalten des Mitarbeiters erheblich gestört. Die Kündigung erfolgt ja nicht grundlos, sondern es geht Dieser konkrete Fall zeigt: Unsere Rechtsordnung der Bruch eines Vertrauensverhältnisses zwischen Ar- funktioniert. Es ist Aufgabe der Gerichte, jeden Einzel- beitnehmer und Arbeitgeber voraus. Ich möchte an die- fall zu betrachten und letztlich zu beurteilen. Und es ist ser Stelle gerne fragen: Wo wollen Sie denn die Grenze nicht Aufgabe des Gesetzgebers, weitergehende Rege- ziehen? Was ist eine Bagatelle und was nicht? Das wäre lungen zu treffen. doch eine völlig willkürliche Festlegung. In der Diskussion um die Kündigung bei Bagatellde- Ich bin der Meinung, dass die Redlichkeit eines Ar- (B) likten wird der Eindruck erweckt, jedes kleine Vergehen beitnehmers durch den Arbeitgeber auch weiterhin ein- (D) würde direkt zur Kündigung führen und der Arbeitneh- gefordert werden können muss. Mit ihren Anträgen wol- mer sei schutzlos. Mit dieser Darstellung, die sich so- len Sie ein Sonderrecht, einen Sondertatbestand wohl in den vorliegenden beiden Gesetzentwürfen und schaffen. Wir haben im Kündigungsrecht eine Recht- auch in dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten sprechung, die ausgewogen und differenziert ist. Eine Antrag wiederfindet, machen Sie es sich leicht, sehr ge- Ausweitung des Kündigungsschutzes, wie er in Anträ- ehrte Kollegen von der Opposition. gen gefordert wird, ist nicht erforderlich. Neue gesetzli- Sie sprechen von der Null-Toleranz-Politik und bele- che Regelungen sind überflüssig und damit auch die hier gen dies mit den bekannten Fällen „Emmely“, „Maulta- vorliegenden Gesetzentwürfe. schen im Pflegeheim“ und dem sogenannten Bienen- stichfall-Urteil von 1984. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Wir debat- tieren hier ja ein Thema, bei dem es in der Öffentlichkeit Aber gerade der Fall von „Emmely“ hat doch gezeigt, und vor allem in den Medien teilweise starke, auch emo- dass eine Abwägung des Einzelfalls stattfindet und tionale Reaktionen gegeben hat. Da sollten besonders grundsätzlich mehrere Tatbestände geprüft werden; wir einen kühlen Kopf bewahren. Ich glaube aber, dass nämlich die besonderen Umstände der Tat, die bisherige genau das Ihnen nicht gelungen ist, denn: Wir haben seit Beschäftigungsdauer, das Alter der Person, mögliche be- fast 30 Jahren in dieser Frage eine gängige Rechtspre- stehende Unterhaltspflichten und die Chancen auf dem chung, und die lautet: Mal so, mal so – was gerecht ist, Arbeitsmarkt. Verdachtskündigungen sind im Übrigen kann immer nur im Einzelfall entschieden werden. Und nicht so einfach vorzunehmen. Der Arbeitgeber muss diese Rechtsprechung hat Ihre rechtspolitische Urteils- versuchen, den Vorfall aufzuklären, und dem Arbeitneh- kraft derart provoziert, dass Sie genau dann tätig wur- mer Gelegenheit geben, zu den Vorwürfen Stellung zu den, als ein Einzelfall besonders prominent durch die nehmen. Medien ging. Keine neue Lage, keine neue Entwicklung Wir sprechen auch immer nur über die spektakulären und keine neue Einsicht liefern den Beweggrund für Ihre Fälle. Das verzerrt aber die Wirklichkeit. Richtig ist, Vorlagen, sondern alleine Geltungsdrang. dass die Gerichte in vielen Fällen dem Arbeitnehmer- recht geben. Das dürfen Sie nicht einfach ausblenden. Deswegen will ich noch einmal gerade die zentralen Irrtümer Ihrer Gesetzentwürfe beziehungsweise Ihres Die bestehenden rechtlichen Regelungen zum Schutz Antrags benennen: Erstens. Es herrscht bei Diebstählen der Arbeitnehmer sind ausreichend. Das haben in der nicht das „Null-Toleranz-Prinzip“, sondern das Verhält- Expertenanhörung vom Juni 2010 sowohl der BDA, der nismäßigkeitsprinzip. Zweitens. Das Arbeitsrecht und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11449

(A) Strafrecht sind weder hier noch sonst wo zu vergleichen schaft Verdi beteiligt gewesen war. „Emmelys“ erste Kla- (C) und müssen folglich auch nicht in Übereinstimmung ge- gen gegen die fristlose Kündigung waren alle erfolglos. bracht werden. Drittens. Bei Diebstählen besteht kein besonderer Schutzbedarf von Arbeitnehmerinteressen, Das war kein Einzelfall; so ging es schon etlichen Ar- weil Arbeitnehmer kein Interesse an Diebstählen haben. beitnehmerinnen und Arbeitnehmern zuvor, zum Beispiel einem 58-jährigen Lagerarbeiter mit achtjähriger Be- Sie irren sich aber nicht nur an zentralen Stellen, son- triebszugehörigkeit, der aus einem zu Bruch gegangenen dern machen dann auch noch zentrale handwerkliche Karton eine Milchschnitte aß, oder einer Altenpflegerin Fehler. Denn eine Abmahnpflicht schafft nicht mehr am Bodensee mit 17-jähriger Betriebszugehörigkeit, die Rechtssicherheit. Auch die vorgeschaltete Abmahnung übriggebliebene Maultaschen mitnahm. Sie alle wurden müsste verhältnismäßig sein. Wenn Sie wirklich mehr ohne Abmahnung fristlos gekündigt, und das will die Rechtssicherheit wollen, können Sie ja die Vorausset- Linke ändern. zungen der außerordentlichen Kündigung exakt und ab- schließend konkretisieren. Aber eine Bagatellgrenze, die Wir sagten damals: Das ist eine Rechtsprechung des sich an einem „geringen wirtschaftlichen Schaden“ kalten Herzens, jenseits der Lebenswirklichkeit. Wir for- orientiert, ist gerade keine klare Grenze. Sie verschieben derten, die Arbeitsgerichte mit einer anderen Gesetzge- damit nur die Abwägungsproblematik, machen aber bung an die Kandare zu nehmen. nichts einfacher, heute „wichtiger Grund“, morgen „ge- ringer Schaden“, übermorgen wieder die gleiche schwie- Union und FDP haben dagegen die unsägliche Recht- rige Abwägung vorm Arbeitsgericht. Irrtümer und Feh- sprechung im Fall „Emmely“ und anderer verteidigt. Ich ler also. zitiere den Kollegen Wadephul von der CDU/CSU: „Diese Entscheidung ist richtig.“ Der Kollege Vogel von Deswegen lehnen wir Ihre Entwürfe und Anträge ab, der FDP sprach von einer „ausgewogenen Regelung“. und zwar aus folgenden Gründen: Die erstklassige deut- Lieber Herr Kollege, was daran ausgewogen war, hat sche Gerichtsbarkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit im sich mir bis heute nicht erschlossen. Besonderen verdienen unsere Unterstützung. Billige Ef- fekthascherei auf Kosten der Richter mag Ihr Modell Nur vier Monate später gab es eine erfolgreiche sein, unseres ist es nicht. Außerdem versteht ein Wende, die die Haltung der Linken bestätigte. Das Bun- Mensch, dass, ginge es nach Ihnen, ein bisschen Klauen desarbeitsgericht in Erfurt gab als letzte rechtliche In- nicht gleich zur Kündigung führen können soll, ein biss- stanz der Klage „Emmelys“ gegen ihre Kündigung statt. chen mehr Klauen dann aber schon. Ich glaube, das Ge- Ihre fristlose Entlassung wurde aufgehoben. rechtigkeitsempfinden bei allen Menschen ist intakt und Ich glaube, an dieser Stelle sollten wir „Emmely“ (B) geht so: Klauen geht gar nicht. Und da, wo die Sache (D) eben nicht so klar ist, entscheidet das Gericht. Zum noch einmal dazu gratulieren und ihr unseren Respekt Schluss zitiere ich gerne die Kollegin Müller-Gemmeke: zollen – Respekt für ihr Durchhaltevermögen über Jahre „Ich kann nicht beurteilen, wann Bagatellkündigungen hinweg und gegen böse Unterstellungen, Respekt aber angemessen sind und wann nicht.“ In diesem Sinne: Las- auch dafür, dass sie stellvertretend für viele andere Ar- sen Sie’s einfach! beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer ähnlichen Lage gekämpft und gewonnen hat. Sie selbst hat nach Die Gerichte können es nämlich besser als wir, das dem Urteil gesagt: „Das ist ein Sieg für alle. Ich habe ge- müsste in Ihren Augen der Fall „Emmely“ doch ab- kämpft und gehofft, dass es Gerechtigkeit gibt.“ Dem ist schließend gezeigt haben. All das, was Sie immer unter- nichts hinzuzufügen. stellt haben, nämlich eine grundsätzlich arbeitnehmer- feindliche Abwägung der Arbeitsgerichte, hat das Das BAG-Urteil im Fall „Emmely“ hat die Recht- Bundesarbeitsgericht doch gerade nicht gezeigt. Es gibt sprechung an den Arbeitsgerichten enorm verändert. also einfach keinen Handlungsbedarf. Zwei Frikadellen kosten nicht mehr den Job und auch das Aufladen eines Elektrorollers im Wert von 1,8 Cent Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Heute stimmen rechtfertigt keine Kündigung, um nur zwei jüngste Ur- wir über den Gesetzentwurf der Linken gegen Ver- teile von Landesarbeitsgerichten zu nennen. dachts- und Bagatellkündigungen ab. Dieser verfolgt Nun könnten Sie sagen, der von uns vorgelegte Ge- zwei einfache Punkte: Erstens. Wir wollen Verdachts- setzentwurf sei überflüssig geworden. Da sage ich Ih- kündigungen gesetzlich ausschließen. Zweitens. Bei Ba- nen: keineswegs! Nun muss es darum gehen, das neue gatelldelikten soll es statt einer fristlosen Kündigung zu- Richterrecht in eine gesetzliche Form zu gießen. Dafür nächst eine Abmahnung geben. steht unser Gesetzentwurf. Nur so wird eine klare Rechts- Worum geht es dabei? Erinnern wir uns an den Fall lage hergestellt und der einseitigen Rechtsprechung zu- der wohl bekanntesten Kassiererin „Emmely“. Der lang- gunsten der Arbeitgeber ein Riegel vorgeschoben. Denn jährigen Mitarbeiterin der Supermarktkette Kaiser- dem Interesse des Arbeitgebers, sein Eigentum zu schüt- Tengelmann wurde 2008 fristlos gekündigt. Als Grund zen, steht das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt sei- wurde angeführt, sie hätte unberechtigterweise zwei nes Arbeitsplatzes gegenüber. Zudem wäre dieser Ge- Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro eingelöst, ob- setzgebungsakt ein deutliches Zeichen an die Arbeit- wohl das noch nicht einmal bewiesen werden konnte. Ei- geber, die Verdachts- und Bagatellkündigungen benutzen, nen besonderen Beigeschmack erhielt die Kündigung, um unangenehme Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter los- weil „Emmely“ zuvor an Streikmaßnahmen der Gewerk- zuwerden. 11450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Die heutige Abstimmung ist eine Abstimmung über nehmer bzw. die Arbeitnehmerin, den wir gesetzlich (C) die Frage der Gerechtigkeit, und hier erwarten wir von etablieren müssen. Ihnen ein klares Ja. Also: Nichts zu unternehmen, wie es die Damen und Herren von der Koalition handhaben wollen, ist keine Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lösung. Ein guter und klarer Ausgleich zwischen Ar- Auch in Zeiten, in denen weltpolitische Themen und beitnehmer- und Arbeitgeberinteressen ist Grundlage für Landtagswahlen alle anderen Politikfelder zu überlagern einen effektiv arbeitenden Betrieb. Arbeitnehmer, die sol- scheinen, ist es unsere Aufgabe als Parlamentarierinnen chen fast schon willkürlichen Kündigungen ausgesetzt und Parlamentarier, die vermeintlich nachrangigen An- sind, entwickeln nicht ihre optimale Leistungsfähigkeit. gelegenheiten ebenfalls im Auge zu behalten. Ich zitiere Wenn sie in der ständigen Furcht leben müssen, wegen den Schriftsteller Berthold Auerbach: „Heimisch in der geringfügigster Delikte und ohne zweite Chance fristlos Welt wird man nur durch Arbeit. Wer nicht arbeitet, ist entlassen zu werden, arbeiten sie weder effektiv noch heimatlos.“ motiviert. Sie sind viel zu sehr mit der Sorge um ihren Dieses Zitat veranschaulicht sehr genau die Bedeu- Arbeitsplatz beschäftigt. Das können wir weder in unse- tung des Wortes „Arbeitsplatz“. Und wir alle wissen ren betrieblichen Arbeitsverhältnissen noch gesamtge- auch, dass viele Menschen die sozialen und kulturellen sellschaftlich anstreben! Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet, nur dann Wir müssen deshalb an diesem Punkt das Arbeitsver- wahrnehmen können, wenn sie über einen sicheren Ar- hältnis auf ein solides gesetzliches Fundament stellen. beitsplatz und ein ausreichendes Einkommen verfügen. Damit gewährleisten wir den Arbeitnehmerinnen und Für uns Grüne ist es ein zentrales politisches Anliegen, Arbeitnehmern, ein Stück weit heimisch zu werden in die gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen zu ge- dieser Welt, und unseren Arbeitsprozessen ein gutes währleisten. Stück Gerechtigkeit und Stabilität. Heute debattieren wir über das Thema „Bagatellkün- digung“. Dieser Begriff beschreibt, unter welchen Vo- raussetzungen der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer kün- Anlage 4 digen kann, wenn dieser im Arbeitsverhältnis widerrechtlich einen geringfügigen wirtschaftlichen Zu Protokoll gegebene Reden Schaden verursacht hat. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Wir erinnern uns: Der Fall „Emmely“ hat enormes Berichts: Tourismus und Landschaftspflege (B) Aufsehen erregt. Viele Menschen waren empört, weil sie verknüpfen – Gemeinsam die Entwicklung (D) sich in ihrer eigenen beruflichen Existenz bedroht fühl- ländlicher Räume stärken ten, und weil sie es als ungerecht empfunden haben, dass der Kassiererin Emmely nach 30 Jahren Betriebszugehö- (Tagesordnungspunkt 11) rigkeit wegen eines Pfandbons im Wert von 1,30 Euro fristlos gekündigt wurde. Dieser Fall hat die Öffentlich- Marlene Mortler (CDU/CSU): „Nirgendwo keit zu Recht empört, und zu Recht hat auch das Bundes- schmeckt Idylle besser“, hieß es in einem gelungenen arbeitsgericht der Klage von Emmely stattgegeben. Wir Artikel der Berliner Morgenpost. Der Artikel hat meine alle wissen aber auch, dass es schon andere Gerichtsent- Aufmerksamkeit geweckt, weil er mit diesen Worten scheidungen gab. In vielen sogenannten Bagatellfällen meine fränkische Heimat wunderbar beschreibt und weil mussten Beschäftigte auch bei geringfügiger Schadens- er beispielhaft zeigt, worin die Stärken des Deutschland- verursachung mit einer fristlosen Kündigung rechnen. Tourismus liegen: in der besonderen Authentizität, der besonderen Vielfalt der einzelnen Regionen. Es gibt also zwei unterschiedliche Linien in der Rechtsprechung. Was bedeutet das für uns Abgeordnete? Deshalb sind auch Sie, so wie ich, stolz auf Ihre, un- Viele Abgeordnete in diesem Hause sind sich darüber ei- sere Heimat. nig, dass gehandelt werden muss. Denn wir brauchen an dieser Stelle Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für alle Heimat! Gerade die Menschen vor Ort sorgen dafür, Beteiligten und insbesondere für die Arbeitnehmerinnen dass unser Reiseland so attraktiv ist. Ob Nord- und Ost- und Arbeitnehmer, die oftmals ohnehin schon ein sehr see, Harz, Eifel, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz, geringes Einkommen erzielen. Erzgebirge, Schwarzwald, Teutoburger Wald, Bayeri- scher Wald, Rhön, Allgäu oder Fränkisches Seenland, Wir Grüne meinen, dass das Vertrauensverhältnis um nur einige zu nennen – die Kulturlandschaft dieser zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch ein Ba- Regionen ist das Ergebnis von Landbewirtschaftung gatelldelikt nicht unwiederbringlich gestört ist, zumal über Jahrhunderte hinweg. diese Delikte auch aus Gedankenlosigkeit oder Unwis- senheit begangen werden können. Konkret setzen wir Vitale ländliche Räume sind keine idealisierten Bilder- uns dafür ein, dass bei Kündigungen wegen Bagatellde- buchlandschaften. Vitale ländliche Räume brauchen eine likten in der Regel eine vorherige Abmahnung erfolgt wirtschaftliche Basis. Früher haben Menschen nur dann sein muss, denn mit der Abmahnung zeigt die Arbeitge- dort leben können, wenn sie eine wirtschaftliche Basis berseite den Beschäftigten, dass ihr Verhalten nicht hin- hatten. Wenn sie die nicht hatten, mussten sie weiterzie- genommen wird. Das ist ein Warnschuss für den Arbeit- hen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11451

(A) Landschaftliche und kulturelle Vielfalt sind Werte, die sprenkelten Gewässern aus. In allen Fällen sind (C) unsere Lebensqualität mitbestimmen, die wir pflegen und körperliche Reaktionen messbar gesundheitsför- bewahren müssen. Deshalb ist die regionale Wertschöp- dernd, das belegt die junge Disziplin der Land- fung in Deutschland so wichtig. Der Tourismus steht da- schaftspsychologie. für. Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, denn er bietet Arbeitsplätze vor Ort. Es sind Arbeitsplätze, die nicht ex- Ein Beispiel: Hopfen und Bier. Das gehört zusam- portierbar sind. Als arbeitsintensive Branche sichert er men. Ich denke hier an die Hopfengärten rund um Spalt, bundesweit immerhin 2,8 Millionen Arbeits- und die so typisch und landschaftsbildprägend sind. Ich 115 000 Ausbildungsplätze quer durch unser Land dank denke aber auch an die einzigartige Spalter Brauerei, die der touristischen Vielfalt in Stadt und Land. einzige Brauerei Deutschlands, die von ihrem Bürger- meister „regiert“ wird. Und noch ein Grund zur Freude: Das Reiseland Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Mit unserem Antrag wollen wir einen Beitrag leisten, Die jüngsten Gästezahlen sind geradezu sensationell. dieses Potenzial noch stärker zu nutzen. Unser Ziel ist Wir sprechen vom besten Halbjahresergebnis aller Zei- klar: Nicht nur die großen Städte, sondern auch die länd- ten. Die Gästeübernachtungen aus dem In- und Ausland lichen Räume – strukturschwache Räume – sollen sich stiegen insgesamt um 3 Prozent; bei den Inlandsgästen durch zusätzliche wirtschaftliche Impulse weiterentwi- waren es 2 Prozent, bei den Auslandsgästen 9 Prozent. ckeln. Der Weg ist die bessere Verknüpfung von Touris- Diesen Schwung müssen wir weiter nutzen. Das heißt, mus und Landschaftspflege einerseits und noch mehr wir wollen Deutschland und seine Kulturlandschaften Verständnis für Tourismus und Landbewirtschaftung an- als Reiseland noch intensiver bewerben. dererseits. Nicht nur in den großen Städten, sondern gerade in Landschaftspflege ist ein wichtiges Segment. Aber den ländlichen Gebieten ist das Geschäft mit der Reise- von der Landschaftspflege allein können Bauern und lust ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es ist oft Motor der Verbraucher nicht leben. Landbewirtschaftung heißt also gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit unverzichtba- zum einen, die Landschaft in ihrer Vielfalt zu erhalten, ren Impulsen für den lokalen Arbeitsmarkt. Nachgela- aber zum anderen auch, die Kulturlandschaft zu nutzen, gerte Bereiche wie der Einzelhandel, die Land-, Forst- zu gestalten und zu pflegen, um von ihren Erträgen leben und Ernährungswirtschaft, die Genussmittelindustrie, zu können. das Transportgewerbe und der Kulturbereich profitieren davon erheblich. Die Land- und Forstwirtschaft braucht wiederum uns als Verbraucher. Das heißt, wir haben es in der Hand, Bei all diesen wirtschaftlichen Betrachtungen darf ei- dass wir heimische Produkte noch mehr schätzen und (B) nes nicht aus dem Blick geraten: Elementare Grundlage gezielt einkaufen. (D) für den Tourismus im ländlichen Raum ist eine intakte Natur und eine attraktive Kulturlandschaft. Damit kön- Tourismus und Landwirtschaft brauchen sich gegen- nen wir bei den Reisenden aus dem In- und Ausland seitig. Der Tourismus stärkt die Wirtschaft. Er trägt auch punkten. Denn Umweltprobleme in den weltweiten Ur- dazu bei, dass sich Landbewirtschaftung weiter lohnt. laubsregionen werden von den Reisenden zunehmend Für den Einheimischen ist es Heimat auf dem Teller und wahrgenommen. Sie beeinflussen die Reiseplanung so für den Gast Urlaub zum Mitnehmen. sehr, dass inzwischen jeder zweite Urlauber sagt: Das Der Blick fürs Ganze zeigt doch auch, dass – das wird Wetter spielt nicht mehr die entscheidende Rolle, son- mir in intensiven Gesprächen immer wieder bewusst – dern schöne Landschaften, eine unberührte Natur und eine gepflegte Landschaft mit einem verlässlichen eine saubere Umwelt stehen für mich hoch im Kurs. Rechtsrahmen eine Errungenschaft ist, um die wir welt- Im globalen Dorf wird Nachhaltigkeit überall als „die weit beneidet werden. Darum machen wir Deutsche am Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen“ verstan- liebsten Urlaub im eigenen Land. Das ist ein Trend, der den. Zeitschriften wie LandLust, Schönes Land, mein in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Aber auch liebes Land und andere gehen weg wie warme Semmeln. ausländische Gäste schätzen diese Tatsache. Der Trend zum Unverfälschten, zum Natürlichen ist ein- Um die attraktive Vielfalt unserer Kulturlandschaften deutig. zu sichern, sollen daher nach unserem Willen, nach dem Ich zitiere aus der Welt: Willen der Unionsfraktion, das nationale Naturerbe, Naturschutzprojekte des Bundes, die nationalen Natur- Nachhaltiges Reisen wird zum neuen Trend. Lange und Kulturlandschaften sowie das Bundesprogramm galt das Motto: schneller, höher, weiter. Doch die „Biologische Vielfalt“ vor allem über freiwillige Koope- Tourismusbranche muss umdenken, denn die Wün- rationen weiter unterstützt werden. Zudem sollen natur- sche der Urlauber haben sich gewandelt. Das Meer touristische Angebote im Rahmen von Modellvorhaben lindert Schmerzen. Wellenrauschen wirkt sich posi- entwickelt und erprobt werden. tiv auf Angst und Stress aus. Ist das Wasser türkis, senkt das den Blutdruck. Gebirge, Wüsten und dra- Die Achtung des Eigentums und der vorrangige Weg matische Regionen lösen ein Feuerwerk an Glücks- der freiwilligen Kooperation sind bisher wesentliche Ga- hormonen aus. Die stärkste mentale Wirkung aber ranten des Erfolgs. Ökologie, Ökonomie und Soziales üben Landschaften mit lockerer Vegetation, ge- sind im Miteinander zu betrachten. Festlegungen über schwungenen Wegen, sanften Hügeln und einge- die gute fachliche Praxis hinaus, wie wir sie in der Land- 11452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) wirtschaft kennen und befolgen, sind deshalb finanziell chen Einsatz engagierter Bürger, Geldgeber und Förde- (C) auszugleichen. rer. Bei den anstehenden Diskussionen über die Weiter- Viele unserer attraktiven Landschaften und flächen- entwicklung der EU-Politik nach 2013 setzen wir uns für deckenden Landbewirtschaftungen sind gefährdet, weil eine Fortführung der starken ersten Säule und eine finan- sich die dortige Landwirtschaft nicht mehr alleine trägt. ziell gut ausgestattete zweite Säule in der gemeinsamen Hier setzt unser Antrag an. EU-Agrarpolitik ein. Agrarumweltprogramme und Ver- tragsnaturschutz sowie die Ausgleichszulage sind wich- Es gilt, die Zusammenarbeit von Tourismus, Land- tige Instrumente zur Stärkung des Tourismus in ländli- schaftspflege und Landwirtschaft zu fördern. Wir sind chen Gebieten. Dafür kämpfen wir! der Meinung, dass der Tourismus die Wirtschaft der Re- gion stärkt und dazu beiträgt, dass sich die Landwirt- Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Tou- schaft weiter lohnt. Im Gegenzug sichert Landschafts- rismuskonzeption für den ländlichen Raum angekündigt. pflege nachhaltige Nutzung und schafft so eine Ich führe dazu vielfältige Expertengespräche, um das erfolgreiche Grundlage für erfolgreichen Tourismus. Da- Ganze auf den Weg zu bringen. Denn: Nirgendwo rüber hinaus trägt der Tourismus zum Lebensgefühl der schmeckt Idylle besser. Bevölkerung bei und ist ein wichtiger Bestandteil der Identifikation mit einer Region, der Heimatverbunden- Klaus Brähmig (CDU/CSU): Wir beraten heute in heit sowie der Pflege von Brauchtum und Tradition. dritter Lesung den Koalitionsantrag „Tourismus und Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die in unse- Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Ent- rem Antrag zum Beispiel unter Punkt 5 geforderten Mo- wicklung ländlicher Räume stärken“. dellregionen zu bewerten haben. Meiner Meinung nach Persönlich freue ich mich sehr, dass dieses Thema im sind Leitbilder oder Masterpläne für Landschafts- und Deutschen Bundestag debattiert wird. Diese Thematik Kulturräume zu entwickeln, die einen ganzheitlichen muss wegen ihrer querschnittsübergreifenden Bedeutung Ansatz verfolgen. in Zukunft noch mehr Beachtung finden. Arbeit, Umweltschutz, Infrastruktur, Energieversor- Dieses Thema ist aktueller denn je, denn Tourismus gung und die Verbesserung der Lebensqualität unter Be- und intakte Landschaft sind zwei Seiten einer Medaille, rücksichtigung des demografischen Wandels müssen als übrigens nicht nur in Deutschland und Europa, sondern Steine eines Mosaiks gesehen werden. Daneben müssen weltweit. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass wir den politischen Willen aufbringen, uns von der Ein- der Tourismus entsprechend stark auf den landschafts- zelförderung zu verabschieden und endlich mit der Re- (B) (D) pflegerischen Beitrag der Landwirtschaft, der öffentli- gionalförderung für Kulturlandschaften in Deutschland chen Hand und privater Eigentümer angewiesen ist. ernst zu machen. Daher möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen Ja, Deutschland hat den Reisenden viel zu bieten. meinem hochgeschätzten Kollegen Josef Goppel für Nicht nur unsere Städte, auch unsere vielfältigen Kul- seine wertvolle Arbeit als Präsident des Deutschen Ver- turlandschaften leisten einen wichtigen Beitrag zur bandes für Landschaftspflege danken. Mein Dank gilt touristischen Attraktivität unseres Landes. Natur und stellvertretend für alle in diesem anerkannten Natur- Landschaft sind ein unschätzbares Gut für die wettbe- schutzverband engagierten Personen und dessen beein- werbsfähige Entwicklung ländlicher Räume. In unseren druckende Leistungen, von der Lokalebene bis hin zum ländlich geprägten Regionen leben rund 40 Prozent der Bundesvorstand. Bevölkerung. Seit fast zwei Jahrzehnten setzt sich der Deutsche Damit das Leben auf dem Land weiterhin attraktiv Verband für Landschaftspflege wie keine andere Organi- bleibt, müssen die Arbeitsplätze in den Regionen gesi- sation in Deutschland für eine praxisorientierte Zusam- chert und nach Möglichkeit neue Beschäftigungsmög- menarbeit von Naturschutz, Landwirtschaft und Politik lichkeiten geschaffen werden. ein. Die Ideen der praktischen Kooperation unterschied- licher Landnutzer und die gemeinsame Suche nach ei- Zahlreiche Urlaubsziele auf dem Land wie beispiels- nem Ausgleich von Interessenkonflikten in ländlichen weise die Rhön, die Sächsische Schweiz, die Region Räumen nahmen auf Bundesebene 1993 ihren Ausgang. Schorfheide-Chorin oder das Allgäu zeigen eindrucks- voll, wie der Schutz und die Nutzung einer Landschaft Die Arbeit der Landschaftspflegeverbände ist ein zu- zum Wohle der Erholungssuchenden und der Bevölke- kunftsweisendes Beispiel, wie durch freiwilligen Einsatz rung Hand in Hand gehen. lokaler Akteure die Funktionen der Landschaft – näm- lich Naturschutz, Landwirtschaft und Erholung – durch Gerade in strukturschwachen Gebieten leistet die dauerhaft tragfähige Nutzungskonzepte aufrechterhalten Landwirtschaft einen entscheidenden Beitrag zur Steige- werden können. rung der Attraktivität einer Region als Urlaubsziel. Die Sehnsucht zahlreicher Urlauber nach Authentizität und Gerade in den mitteldeutschen Bundesländern mit ih- Unverwechselbarkeit wird immer dort gestillt, wo ein rer bis 1989 geschundenen Natur und Umwelt ist wieder harmonisches Landschaftsbild, intakte Natur und regio- vieles vom Kopf auf die Füße gestellt dank der deut- naltypische Einzigartigkeit einen gelungenen Dreiklang schen Einheit und dem vielfach geleisteten ehrenamtli- bilden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11453

(A) Mit der besseren Verknüpfung von Landschaftspflege sogar davon, dass nur ein Drittel der an Landurlaub Inte- (C) und Tourismus erhalten unsere Landwirte neue Möglich- ressierten tatsächlich dort Ferien verbringt. keiten der wirtschaftlichen Betätigung. Um ihr langfris- Laut einer Studie des Studienkreises Tourismus und tiges Überleben zu sichern, benötigen die Landwirte Entwicklung ist für über 54 Prozent der Interessenten für aber verlässliche Finanzierungskonzepte. Landschafts- die Auswahl des Urlaubsziels entscheidend, dass Natur pflege ist nicht umsonst zu haben; sie muss sich auch für dort unmittelbar erlebt werden kann. die Landwirte lohnen. Bürokratische Hemmnisse bei der Mittelbewilligung und beim Mittelabfluss sind hier zu Nun zu ihrem Antrag: Der Prosateil ist ja noch akzep- reduzieren. tabel: Wir können in Deutschland stolz auf unsere unver- Neben einer touristischen Infrastruktur, gutem Ser- gleichbar schönen Landschaften sein. Ebenso stolz müs- vice und regionaltypischer Verpflegung erwarten sen wir auf diejenigen sein, die uns tagein tagaus mit ih- die Gäste eine vielfältige Kulturlandschaft mit rer Hände Arbeit diese einmaligen landschaftlichen schönen Ausblicken – wohltuend für das Auge und Reize der Heimat schaffen und bewahren. Aber es sind für die Seele. Doch viele dieser attraktiven Land- nicht nur unsere Landwirte, sondern auch viele ehren- schaften und die flächendeckende, nachhaltige amtlich Tätige, die unsere Landschaften so attraktiv ge- Landbewirtschaftung durch Landwirte sind gefähr- stalten. det ... Tourismus, Landwirtschaft und Landschafts- pflege können hier gemeinsam gegensteuern. Honorieren wir diesen hervorragenden Einsatz aller Beteiligten, sei es durch eine angemessene finanzielle Wer möchte da widersprechen. Aber dann kommt es: Förderung ihrer landschaftspflegerischen Leistungen Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- oder durch einen Besuch unserer attraktiven Kulturland- rung auf, schaften, am besten in Form von Ferien auf dem Bauern- hof. Der ländliche Raum muss auch zukünftig als intak- 1. …verstärkte, freiwillige Kooperationen mit den ter Lebens-, Arbeits- und Erholungsraum zum Wohle des Grundeigentümern … vor Ort weiter zu unterstüt- ganzen Landes gesichert werden, wie es seit Jahrhunder- zen … ten Tradition ist. 2. … freiwillige Kooperation von Grundeigentü- mern und Bauern vor Ort … verstärkt zu unterstüt- Heinz Paula (SPD): Die Bedeutung des Landtouris- zen … mus beschreibt eine gemeinsame Initiative von DBV, Deutschem Landkreistag und Bauernhof & Landurlaub. 3. Leistungen der Land- und Forstwirtschaft … zu- künftig weiter zu unterstützen. (B) Ich zitiere: (D) Für die ländlichen Räume ist die Tourismusent- Das ist doch nicht ihr Ernst. Wer so formuliert, be- wicklung von großer und oft elementarer Bedeu- weist eines: Dieser Antrag wird sogar von Ihnen als völ- tung: Touristische Infrastrukturen und branchenun- lig überflüssig eingestuft. terstützende Rahmenregelungen haben nicht nur Wir waren schon viel, viel weiter. 2006: „Nationale direkte wirtschaftspolitische Effekte, sondern tra- Naturlandschaften – Chancen für Naturschutz, Touris- gen darüber hinaus zur Erhaltung und zum Ausbau mus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwick- intakter, lebenswerter und attraktiver ländlicher lung.“ Über 16 Punkte werden eingefordert – bei Ihnen Räume und zur Abfederung demografischer Ent- sind es gerade mal fünf. wicklungen bei. Zum Beispiel haben wir in der Großen Koalition ge- Der Landtourismus ist breit aufgestellt: Bio-, Kneipp- fordert: Natururlaub muss zu einem Markenzeichen des Feriendörfer, Sport- und Wellness-Angebote, Camping, Deutschland-Tourismus werden; barrierefreies Natur- Wander-, Fahrradtourismus, Angebote für Tagestouris- und Kulturerleben; Ausbildung im Tourismus verbes- ten. sern; die nationalen Naturlandschaften stärker als bisher 2008 gab es 46 000 Beherbergungsbetriebe mit über in die nationale Nachhaltigkeitsstrategie und in die 2 Millionen Gästebetten und 268 Millionen Übernach- nationale Biodiversitätsstragie integrieren; bessere Ver- tungen bei 2,8 Millionen Beschäftigten und über marktung. 100 000 Ausbildungsplätzen. Die Entwicklung ist höchst 2007 beschloss die Große Koalition den Antrag „Un- erfreulich, wie Bauernhofurlaub am 27. Januar 2011 sere Verantwortung für die ländlichen Räume“. Als zen- vermeldet: trale erste Forderung verlangen wir eine ressortübergrei- Ferien auf dem Land liegen immer mehr im Trend fende Politik, die sich an den Problemen der ländlichen ... Jeder dritte Betrieb berichtet von einer besseren Regionen orientiert und eine integrierte ländliche Ent- oder sogar sehr viel besseren Belegung im Ver- wicklung unterstützt. gleich zum Vorjahr. Weitere positive Beispiele: finanzielle Situation der Kommunen berücksichtigen, bessere verkehrliche Er- Mein Kompliment an alle Anbieter. schließung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermög- Besonders interessant dabei ist eine Einschätzung des lichen, gezielte Entlohnung für gesellschaftlich er- Sparkassen-Tourismusbarometer: Das Potenzial ist bis- wünschte ökologische Leistungen. Das sind zielführende her bei weitem nicht ausgeschöpft. Das BMELV spricht Forderungen. Setzen Sie diese Forderungen endlich um. 11454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Wir von der SPD-Fraktion verlangen endlich einen Das kommt ihnen sicher bekannt vor aus den beiden (C) Sachstandbericht: Wie weit ist denn das Ministerium? oben genannten Beschlüssen aus der Zeit unserer ge- meinsamen Koalition. Ich hoffe, dass alle diesbezügli- Wir verlangen hier klare Antworten, Konzepte, nicht chen Beschlüsse der Großen Koalition übernommen wie üblich Ankündigungen, Frau Ministerin. werden. Beunruhigend sind für mich viele Dinge: Eine letzte Bitte zum Schluss: Bremsen Sie den baye- Es gibt keine Bereitschaft für eine Gesamtstrategie rischen Ministerpräsidenten. Sollte sich sein Konzept zur Förderung der Tourismuswirtschaft. Siehe die Ant- „Zukunftsfähige Gesellschaft – Bericht des Zukunftsra- wort der Regierung auf Anfrage der Grünen. tes“ durchsetzen, wäre dies der Kahlschlag für alle länd- Entlarvend ist die Antwort des Ministeriums auf lichen Räume, gefördert werden sollen nur noch die meine Anfrage am 23. Februar 2011: Zentren. Das wäre verheerend. Im Zuge der Erarbeitung des Tourismuskonzepts Fazit: Wir bitten Sie, diesen Antrag abzulehnen, set- für ländliche Räume wird geprüft, ob und gege- zen Sie besser die Beschlüsse von 2006 und 2007 benenfalls welche weiteren Maßnahmen zur Stär- schnellstens um. kung des Landtourismus erforderlich sind. Noch schwächer geht es wirklich nicht. Horst Meierhofer (FDP): Die Stärkung des ländli- chen Raumes wird regelmäßig beschworen. Dennoch Dabei hat der ländliche Tourismus Riesenpotenziale, setzt sich die Landflucht stetig fort. In meinem eigenen zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeit. Eine Um- bayerischen Bezirk, der Oberpfalz, erleben wir das frage des Sparkassen- und Giroverbandes zeigt, dass je- ebenso wie in vielen anderen Regionen Deutschlands. der dritte Bundesbürger bereit ist, für ein nachhaltiges Reiseangebot einen Aufpreis von 10 bis 20 Euro pro Tag Nun stellt sich die Frage, was wir dagegen tun kön- zu zahlen. Frau Kollegin Mortler hat völlig zu Recht in nen. Alleine auf die Landwirtschaft zu setzen, reicht au- der letzten Debatte die Welt zitiert: „Nachhaltiges Reisen genscheinlich nicht aus; das ist uns allen wohlbekannt. wird zum neuen Trend.“ Wichtig ist, dass die Menschen im ländlichen Raum Sofort handeln müssen Sie hinsichtlich Punkt 4 Ihres auch ihre Arbeitsstelle im ländlichen Raum haben. Denn Antrages: Es muss umgehend eine Korrektur der will- ein jahrzentelanges Pendeln zum Arbeitsplatz in der kürlichen Kürzungen der Mittel bei den Gemeinschafts- nächsten Großstadt ist nicht immer zumutbar. Wie be- aufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs- kommen wir also Arbeit in den ländlichen Raum? Und idealerweise ohne die ländlichen Strukturen zu zerstö- (B) tenschutzes“ – 100 Millionen Euro gestrichen – und (D) „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – ren, ohne der Region ihre Identität zu nehmen? 10 Millionen Euro – erfolgen. Das verlangt die SPD- Fraktion von Ihnen, verehrte Kollegen der schwarz-gel- Tourismus kann eine mögliche Antwort sein; da sind ben Koalition. sich die Koalitionsfraktionen auch mit dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Bauernverband einig. Ich darf Ihnen zum Schluss noch einen kleinen Tipp Denn gerade unsere schönen Kulturlandschaften sind ein geben. Lesen Sie unbedingt das Papier „Ländlichen Tou- Pfund für die touristische Erschließung; die Landschafts- rismus stärken“; es ist sehr aufschlussreich. Sie verlan- pflege muss eben deshalb auch besonders gewürdigt und gen „Sicherstellung ausreichender finanzieller Mittel im unterstützt werden. Rahmen des ELER und der GAK sowie eine Anpassung der Förderbedingungen zur verbesserten Unterstützung Doch Tourismus auf dem Lande ist viel mehr als „Ur- des Tourismus im ländlichen Raum“. laub auf dem Bauernhof“. Sie werden mir hier sicher zustimmen, genauso wie Unter anderem bietet der ländliche Raum touristische bei der nächsten Forderung des gemeinsamen Papiers Potenziale auf folgenden Feldern: Reiterferien, Fahrrad- von Bauernverband, Landkreistag und Bauernhofurlaub: urlaub, Wanderferien, Weinverkostungen auf dem Win- Gefordert wird eine „Verbesserte Verortung und Koordi- zerhof, Wassersport (Kanu, Bootsfahrt), Wellness- und nierung der Tourismuspolitik innerhalb der Bundesregie- Gesundheitstourismus, Campingurlaub; die Liste ließe rung“ und damit der Finger durch den Bauernverband sich fast endlos fortsetzen. genau in die Wunde gelegt. Die Bundesregierung muss Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, um diese endlich handeln im Sinne des ländlichen Tourismus. nachhaltigen Tourismusprojekte zu fördern. Damit wird Mein Kompliment an die CDU: Sie haben die ekla- auch die Qualität der strukturschwachen Gegenden er- tanten Mängel Ihres Antrags genau erkannt. Der Agra- halten und erhöht. Lassen Sie uns den ländlichen Raum Europe vom 21. März 2011 kann man entnehmen, dass mit touristischer Infrastruktur aufwerten und jungen die CDU ein Papier entwickelt hat: „Heimat gestalten – Menschen auch in kleineren Städten und Dörfern eine Programm für lebendige ländliche Räume“. Sie fordern Perspektive geben. Dann können wir nicht nur für ein unter anderem: Entwicklung ländlicher Räume als Quer- Anwachsen der Arbeitsplätze sorgen, sondern auch so- schnittsaufgabe; Tourismuskonzeption, um die ziale und wirtschaftliche Integration im ländlichen Raum Potenziale des ländlichen Raumes besser auszuschöpfen; fördern. Durch eine bessere Infrastruktur – Einkaufen, flächendeckendes Glasfasernetz; Anpassung beim ÖPNV, ärztliche Versorgung, Restaurants usw. – wird ÖPNV. der ländliche Raum natürlich nicht nur für Touristen in- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11455

(A) teressant; vielmehr profitieren gerade die Bewohner na- marsch. Das ist gut so in den ländlichen Regionen (C) türlich davon. Deutschlands. Das müssen wir politisch fördern und un- tersützen. Regionale Wertschöpfung, sozialer Frieden Die Dienstleistungsbranche ebenso wie die Industrie und Schutz von Natur und Umwelt sollten uns das wert kann von der touristischen Wertschöpfung profitieren. sein. Entlang der gesamten touristischen Servicekette sind po- sitive Effekte zu erwarten. Freizeitangebote, die daraus entstehen, sind als sekundärer Faktor weiterer Garant für Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Gestatten Sie mir zu den Arbeitsmarkt und dienen dem Wettbewerb. Die klei- Beginn einen kurzen Rückblick: nen und mittelständischen Tourismusbetriebe, zum Bei- Am 17. Dezember 2007 brachte die Linke den Antrag spiel aus dem Gastgewerbe, werden es uns danken, die „Landurlaub und Urlaub auf dem Bauernhof als Chance Landwirte, die dadurch ein zusätzliches Standbein be- für einen umweltfreundlichen Tourismus in Deutschland kommen, ebenso! nutzen“, Drucksache 16/7614, in den Bundestag ein. Deshalb darf ich Sie bitten, uns bei diesem wichtigen Ein Dreivierteljahr später, am 24. September 2008, Anliegen zu unterstützen. Stimmen Sie für den Antrag! zogen die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD mit einem Antrag „Bauernhofurlaub und Landtourismus wei- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Lassen Sie mich ter fördern – Ländliche Räume nachhaltig stärken“, zu Beginn einige wesentliche Feststellungen machen: Drucksache 16/10320, nach. Dies war nötig, damit nicht nur der Antrag der Linken Gegenstand der öffentlichen Mehr als 65 Prozent der Deutschen leben und arbeiten Anhörung auf der Grünen Woche am 19. Januar 2009 außerhalb großstädtischer Ballungsgebiete in ländlichen war. Das durchgängige Fazit der Sachverständigen bei Regionen. Unsere ländlichen Räume sind die Stützpfei- der Anhörung war: Beide Anträge sind gut und ergänzen ler und das Rückgrat unserer Gesellschaft. Ich weiß, wo- einander. Die Annahme und Umsetzung beider Anträge von ich rede: Meine Heimat ist die wunderschöne Eifel wäre sinnvoll und wünschenswert. in Rheinland-Pfalz. In den ländlichen Regionen existie- ren die Bürgergesellschaften noch, hier kann man noch Am 18. Juni 2009 lehnte der Bundestag, wie leider von intakter Gesellschaft sprechen, hier übernehmen die üblich, den Antrag der Linken mehrheitlich ab und be- Bürgerinnen und Bürger Verantwortung – kurz, die so- schloss den Antrag der Koalitionsfraktionen. Übrigens: zialen Probleme sind gering, es gibt keine sozialen Die Linke stimmte dem Antrag von CDU/CSU und SPD Brennpunkte und nur wenige Arbeitslose, und die Sozi- zu, zumal nicht wenige Vorschläge und Forderungen aus albudgets werden am geringsten belastet. dem Antrag der Linken von der Koalition übernommen worden waren. Aber seitdem engagierte sich weder die (B) Diese Stabilität hat viel mit der Multifunktionalität Große noch die jetzige Koalition im Sinne des Beschlus- (D) ländlicher Räume zu tun: Ursprünglich rein landwirt- ses des Bundestages. Alles blieb, wie es war. schaftlich geprägt, haben sich aufgrund der verbesserten Infrastruktur vor- und nachgelagerte Bereiche des Han- Nun haben wir wieder einen Schaufensterantrag von dels und der Dienstleistungen angesiedelt und den ehe- CDU/CSU und FDP zum Landtourismus, nur – auch im mals armen Gebieten zu Wohlstand verholfen. Die at- Vergleich zum Antrag aus dem Jahr 2008 – deutlich sub- traktive Kulturlandschaft ist zum beliebten Reiseziel stanzloser und oberflächlicher. vieler Erholungssuchender geworden und hat zum Auf- Unser Fazit: Ihren Antrag werden wir ablehnen, denn und Ausbau des Tourismus beigetragen. damit kann man die Bundesregierung nicht zum Jagen Vielfältige Kulturlandschaften, flächendeckende, nach- tragen, damit helfen Sie nicht den auf dem Lande leben- haltige Landbewirtschaftung und attraktive touristische den und arbeitenden oder arbeitssuchenden Menschen, Angebote bedingen einander. Die Attraktivität der länd- damit tun Sie nichts für potenzielle Touristinnen und lichen Räume für den Tourismus ist durch die Landbe- Touristen, damit stärken Sie weder die Tourismuswirt- wirtschaftung entstanden; gleichzeitig kann die Land- schaft noch die Landwirtschaft, und damit tun Sie auch wirtschaft allein die ländlichen Räume nicht erhalten. nichts für die Natur. Die dort lebenden Menschen müssen attraktive Le- Die Linke will den Landurlaub und den Urlaub auf bens- und Arbeitsbedingungen vorfinden; sie dürfen dem Bauernhof als Chance für einen umweltfreundli- nicht von der technologischen Entwicklung abgehängt chen Tourismus in Deutschland nutzen. Wir fordern des- werden. halb von der Bundesregierung, die Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung Weil dies so ist, brauchen wir auch künftig prosperie- der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ unter beson- rende ländliche Räume. Es geht um den Erhalt wirt- derer Berücksichtigung der Möglichkeit des barriere- schaftlicher Multifunktionalität, um die Synergie von freien Reisens als wichtiges Element des Qualitätstouris- Tourismus, Landwirtschaft und Landschaftspflege. Wir mus im ländlichen Raum zu erweitern und ein müssen auch in Zukunft die ländlichen Räume weiter Innovationsprogramm für Angebote in den ländlichen fördern, sei es im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Räumen aufzulegen, das die zukünftigen Haupteinfluss- „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- faktoren im Tourismus wie die Klimaänderung, den de- zes“, GAK, oder bei der Weiterentwicklung der Gemein- mografischen Wandel und die wachsende europäische samen Agrarpolitik, GAP, nach 2013. Wanderer, Biker, Vernetzung berücksichtigt. Zudem muss gemeinsam mit Wellness und Gesundheitstourismus sind auf dem Vor- den Bundesländern der Bildungsaspekt des Landtouris- 11456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) mus stärker in den Vordergrund gerückt werden, zum Ich sage Ihnen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. (C) Beispiel über die verstärkte Förderung von Klassenfahr- Statt weiterhin auf einen hohen Anteil an Direktzahlungen ten. Auch soll die Bundesregierung die Chancen aus den zu pochen, sollten Sie, wenn es Ihnen wirklich ernst mit Möglichkeiten der gemeinsamen europäischen Agrarpo- der regionalen Wirtschaftsentwicklung und dem Natur- litik nutzen und den ländlichen Tourismus als wichtige schutz ist, die zweite Säule in den Mittelpunkt rücken. Sie Säule der ländlichen Entwicklung etablieren sowie die muss in der Förderperiode 2013 finanziell deutlich ge- Vermarktung landtouristischer Angebote über die Deut- stärkt und enger mit den anderen einschlägigen europäi- sche Zentrale für Tourismus stärken. schen Fördertöpfen abgestimmt und vernetzt werden, und das vor allem im Interesse vieler kleinerer und mittlerer Ich gestehe: Diese Forderungen sind nicht neu. Sie landwirtschaftlicher Betriebe. Denn gerade sie sind im sind aber weiterhin aktuell. Neu wäre, wenn endlich et- Hinblick auf den Tourismus von großer Bedeutung. was geschähe. In Ihrem Antrag kann ich auch davon leider nichts er- kennen. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die ländlichen Räume waren lange in vielen wichtigen Fra- Wenn man die ländlichen Räume nachhaltig weiter- gen ausgeblendet. Fakt ist aber: Zwei Drittel der deut- entwickeln möchte, darf man sich in der Betrachtung schen Bevölkerung leben in ländlich geprägten Regio- aber nicht ausschließlich auf die Landwirtschaft fokus- nen. In diesen Regionen existieren mehr als sieren. Wichtige weitere Bereiche sind ganz klar die Ver- 23 Millionen Arbeitsplätze, und hier werden 57 Prozent kehrspolitik, aber auch die Regionalförderung. Wird hier der Wirtschaftsleistung Deutschlands erbracht. Das zeigt künftig eine ökologische und soziale Lenkungsfunktion die enorme Bedeutung. in den Förderstrategien beachtet? Wo können wir konkret finanziell fördern, um die interkommunale Zusammenar- Sie sind aber nicht nur ein wichtiger Wirtschafts- beit auszubauen? Das ist doch gerade in der Angebots- standort, sondern Natur- und damit vor allem Rückzugs- entwicklung und der Vermarktung eine ganz wichtige und Erholungsraum für den Menschen. Frage. Im ländlichen Raum liegen also zentrale ökologische, Das BMELV hat festgehalten, dass nur ein Drittel aber auch ökonomische Perspektiven für große Teile un- derjenigen, die Urlaub auf dem Land machen wollen, es seres Landes. dann auch tatsächlich tun. Wie kann es also gelingen, dass die Zahl der Besucher auch tatsächlich steigt? Sie Gleichwohl müssen wir auch Antworten auf soziale sehen: Fragen über Fragen, denen Sie sich in diesem An- wie ökologische Herausforderungen wie den demografi- trag nicht oder nur unzureichend gewidmet haben. (B) schen Wandel oder den Verlust von Arten finden. (D) Mit diesem Antrag dokumentieren sie allenfalls guten Da spielt der Tourismus eine wichtige Rolle, weil ge- Willen. Den möchte ich Ihnen nicht absprechen. Das rade Inlandsreisen und hier vor allem der Kurzurlaub Ziel werden wir damit leider nicht erreichen. sich steigender Beliebtheit erfreuen. Das ist eine große Chance für unsere Regionen, sich als Reiseziele zu eta- blieren. Gleichzeitig – das ist an dieser Stelle wichtig – Anlage 5 ermöglicht ein nachhaltiger Tourismus den Bestand un- serer Kulturlandschaften und damit auch Biodiversität. Zu Protokoll gegebene Rede Damit wir aber wirklich eine nachhaltige – also öko- des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND- logische, ökonomische und soziale – Wirkung für den NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Beratung des An- ländlichen Raum entfalten können, ist eine Vielzahl von trags: Sanktionen im Zweiten Buch Sozial- Faktoren zu beachten. Ausgerechnet diese bleiben in Ih- gesetzbuch und Leistungseinschränkungen im rem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen Koalition, aber leider unerwähnt. Das ist das Problem Ih- (Tagesordnungspunkt 14) res Antrags: Die Forderungen passen nur teilweise zu ih- Durch den Kontakt zu den Menschen in diesem Land rer Analyse. Es fehlt an Verbindlichkeit und damit letzt- weiß ich, dass Betroffene die Androhung von Leistungs- lich an Stimmigkeit. kürzungen oftmals als geradezu willkürlich empfinden. Sanktionen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch Sie fordern die Bundesregierung auf, die Sicherung werden nicht selten ohne Augenmaß angedroht und auch artenreicher und attraktiver Landschaften über ver- verhängt. Die Sanktionen für Bezieherinnen und Bezie- stärkte, freiwillige Kooperationen mit den Grundeigen- her von Arbeitslosengeld II sind nach meiner Wahrneh- tümern und Bauern vor Ort stärker zu unterstützen. Das mung meist unnötig und teilweise sogar kontraproduk- begrüße ich ausdrücklich. Wenn Sie das aber ernsthaft tiv. Die gegenwärtige Praxis der Sanktionierung bzw. wollen, dann müssen Sie auch die finanziellen Grundvo- deren Androhung erschüttert bei vielen Menschen den raussetzungen dafür schaffen. Stattdessen fordern Sie in Glauben an die Gerechtigkeit und das Vertrauen in die Ihrem Antrag ein „Weiter so“ in der Agrarförderstruktur, Institutionen des Sozialstaats. eine „starke“ erste Säule und eine nur „finanziell gut ausgestattete“ zweite Säule in der gemeinsamen EU- Besonders junge Menschen unter 25 Jahren leiden un- Agrarpolitik. Wir wissen doch alle, das hilft in erster Li- ter den Sanktionen des SGB II. Niemand käme auf die nie den industriellen Agrarbetrieben. Idee, in der Jugendhilfe starre Sanktionen einzuführen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11457

(A) Sogar das Jugendstrafrecht kennt pädagogische Ele- Legen Hilfebedürftige Widerspruch gegen die Ver- (C) mente. Für jemanden, der nicht etwa kriminell, sondern hängung einer Sanktion ein, so muss dieser zukünftig arbeitslos ist, gelten hingegen gnadenlose Regeln, die für eine aufschiebende Wirkung haben. Nach unseren Vor- Erwachsene nicht einschlägig sind. Warum gerade He- stellungen muss der Fall sodann umgehend den neu zu ranwachsenden im SGB II eine höhere Handlungskom- schaffenden, von der Geschäftsführung oder anderen In- petenz zugeschrieben wird als Erwachsenen, und die stitutionen des Jobcenters unabhängigen Ombudsstellen Sanktionen hier besonders drastisch und unflexibel sind, vorgelegt werden. Ein Klageverfahren ist erst im An- vermag niemand plausibel zu erklären. Die Starre des schluss möglich; die aufschiebende Wirkung des Wider- SGB II im Bereich der unter 25-Jährigen ist ohne Bei- spruchs besteht bis zum Urteil fort. Mit den Ombudsstel- spiel. len stehen neutrale Anlaufstellen vor Ort zur Verfügung, die bei Konflikten vermitteln. Union und FDP haben mit dem jüngst verabschiede- ten Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Solange die Voraussetzungen für eine partnerschaftli- Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge- che Zusammenarbeit nicht gegeben und die Rechte der setzbuch sogar weitere diskriminierende Regelungen ge- Arbeitsuchenden nicht gestärkt worden sind, bedarf es schaffen, die Leistungsberechtigte nach dem SGB II der Aussetzung von Sanktionen. Unsere konkreten For- schlechter stellen als die Bezieher anderer Sozialleistun- derungen finden sich in einem Antrag „Rechte der Ar- gen. So hat sich beispielsweise die Nachzahlungspflicht beitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen“ (Druck- bei falschen Bescheiden von vier Jahren auf ein Jahr ver- sache 17/3207), der momentan im Ausschuss für Arbeit kürzt. Allen anderen Sozialleistungsbeziehern, etwa und Soziales behandelt wird. Rentnerinnen und Rentnern, werden bei einem falschen Zentrales Ziel einer emanzipativen Sozialpolitik muss Bescheid die Leistungen für vier Jahre nachgezahlt. Nur es sein, die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und bei Beziehern von Arbeitslosengeld II soll das jetzt nur gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen. Wir sind der noch für ein Jahr gelten. Überzeugung, dass es hierfür zweier Komponenten be- Auch der im Rahmen des Gesetzes beschlossene Ver- darf: zum einen einer bedarfsgerechten, das sozio-kultu- zicht auf die Rechtsfolgenbelehrung bei der Verhängung relle Existenzminimum garantierenden Grundsicherung, und zum anderen eines diskriminierungsfreien Zugangs von Sanktionen stellt eine Diskriminierung dar. So hat das zu sozialen und kulturellen Angeboten, zu Räumen der Bundessozialgericht am 18. Februar 2010 entschieden, Befähigung und der Bildung. dass es einer verständlichen, richtigen und vollständigen Belehrung über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung Bündnis 90/Die Grünen setzen auf ein solidarisches bedürfe. Die strengen Anforderungen an den Inhalt der System sozialer Sicherung, in dem einerseits alle Men- (B) Rechtsfolgenbelehrung sei vor allem deshalb geboten, schen bei Bedürftigkeit vorbehaltlose Unterstützung er- (D) „weil es sich bei der Herabsetzung der Grundsicherungs- warten können. Andererseits müssen sich aber alle, die leistungen, wie aus der Entscheidung des Bundesverfas- das gegenseitige Sicherheitsversprechen garantieren, da- sungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 3/09, 4/ rauf verlassen können, dass jedes Mitglied der Solidar- 09) hervorgeht, um einen schwerwiegenden Eingriff han- gemeinschaft seinen Anteil zum Erhalt derselben bei- delt“. trägt. Dieses Prinzip ist konstitutiv für solidarisches Handeln. Es entspricht daher durchaus unserer Vorstel- Bündnis 90/Die Grünen wollen Menschen bei Bedürf- lung von sozialer Gerechtigkeit, dass Menschen, die tigkeit vorbehaltlos unterstützen und bauen zuvörderst dazu in der Lage sind, für erhaltene solidarische Unter- auf die Motivation und Selbstbestimmung eines jeden stützung durch individuelle Transfers auch aktiv zum Einzelnen. Deshalb muss ein Wunsch- und Wahlrecht des Wohle der Gesellschaft beitragen. Geeignete, erforderli- Hilfebedürftigen zukünftig zentrale Grundlage des Fall- che und angemessene Sanktionen gegen unsolidarische managements werden. Dieser Grundsatz ist in anderen Mitglieder der Gesellschaft sind dem Rechtsstaat nicht Säulen des Sozialgesetzbuches bereits allgemein aner- fremd und sind manchmal schlichtweg notwendig, so- kannt und gesetzlich verankert. Auch im SGB II sollte er lange der Mensch als soziales Wesen nicht in seiner Anwendung finden. Ziel von Bündnis 90/Die Grünen ist Existenz gefährdet wird. eine Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt und die auf Motivation, Hilfe und Anerkennung statt auf Vor dem Hintergrund der heutigen Sanktionspraxis Bestrafung setzt. sowie der schwachen Rechtsstellung Arbeitsuchender erscheint es auf den ersten Blick vielleicht nachvollzieh- Ein solches Prinzip der partnerschaftlichen Zusam- bar, dass die Linksfraktion in ihrem vorliegenden Antrag menarbeit ist mit den heutigen Sanktionsandrohungen nun die komplette Abschaffung von Sanktionen fordert. und -automatismen nicht vereinbar. Ein kooperatives Schon der zweite Blick offenbart allerdings die Schwie- Fallmanagement wird durch Regelsanktionen, die bis rigkeiten einer solchen Entscheidung, würde doch der zur vollständigen Streichung des Arbeitslosengelds II völlige Verzicht auf die wechselseitige Solidarität in reichen, verunmöglicht. Das gilt insbesondere für die letzter Konsequenz eine Gefahr für den gesellschaftli- Sonderregelungen für junge Menschen bis 25 Jahre. chen Zusammenhang darstellen. Auch der Verweis auf Diese sind nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom sondern werden in ihrer Wirkung auch als kontraproduk- 9. Februar 2010 ist hierbei nicht überzeugend. Weder hat tiv eingestuft, da sie die Betroffenen häufig aus dem Ein- sich das Bundesverfassungsgericht dezidiert zur Frage gliederungsprozess herausdrängen. der Sanktionen geäußert, noch erklärte sich das Bundes- 11458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) sozialgericht in seiner Entscheidung vom 18. Februar Wesentlich zahlreichere studentische Hausarbeiten (C) 2010 zum Ob des Verhängens von Sanktionen. werden einem da wohl übel aufstoßen, die inhalt- lich und vor allem sprachlich bestenfalls Mittel- Unter Gerechtigkeit verstehen wir ein wechselseitiges schul-Niveau aufweisen, für die aber die übliche Verhältnis, in dem Bürgerinnen und Bürger durch die Standardbenotung zwischen 1,7 und 2,3 für ange- Solidargemeinschaft füreinander eintreten. Ein gelingen- messen gehalten wurde. des und vielfältiges Gemeinwesen ist auf die Partizipa- tion seiner Mitglieder angewiesen. Deshalb heißt Gegen- Und weiter heißt es: seitigkeit natürlich auch, dass die Gesellschaft vom Einzelnen ökonomisches, soziales, kulturelles oder poli- Außerdem könnte man sich einige der Bachelor- tisches Engagement entsprechend seiner individuellen und Master-Arbeiten zu Gemüte führen, die offen- Fähigkeiten erwarten darf und auch die Bereitschaft for- sichtlich in letzter Minute abgegeben, daher in dern kann, im Rahmen seiner Vorstellungen und Fähig- halbgarem Deutsch und oberflächlicher Argumen- keiten etwas zur Gesellschaft beizutragen. tation hingeschustert wurden, aber ganz selbstver- ständlich eine Note mit der „1“ vor dem Komma er- halten haben, weil alles andere heute als eine persönliche Beleidigung des Kandidaten gilt. Anlage 6 Milos Vec sekundiert, ebenfalls in der FA Z veröffent- Zu Protokoll gegebenen Reden licht, wie folgt: zur Beratung des Antrags: Wissenschaftliche Denn im Kern geht es um die Frage, worin wissen- Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Pro- schaftliche Originalität besteht. Es drängt sich der motionen stärken (Tagesordnungspunkt 16) Verdacht auf, dass man diese nicht messen oder quantifizieren kann, obwohl natürlich begutachtet Monika Grütters (CDU/CSU): Wir haben uns heute und beurteilt werden muss, und dass diese Aporie hier versammelt, um über Redlichkeit zu sprechen – dazu führt, dass man Hilfsindikatoren wie Umfang über Redlichkeit – nicht nur – in der Wissenschaft. Doch oder Fußnotendichte wie eine Monstranz vor sich was bedeutet „Redlichkeit“ eigentlich? Worüber wollen herträgt, statt sich auf das Wagnis des Selbstden- bzw. sollen nach Meinung der Grünen und der SPD wir kens einzulassen – seitens der Betreuer, der Nach- hier reden? wuchsforscher und schließlich der Kommissionen. („Der Fall Bayreuth und seine Lehren“, FAZ, Mit Redlichkeit werden die Tugend oder die Charak- 23. Februar 2011) (B) tereigenschaft einer Person bezeichnet, die sich den ge- (D) sellschaftlichen Regeln entsprechend gerecht, aufrichtig Dieses „Wagnis des Selbstdenkens“, wie es Vec for- oder loyal verhält. Johann August Eberhard definierte muliert, fordert auch Volker Rieble, Arbeitsrechtler der Redlichkeit als etwas, was vom wörtlichen Sinn der LMU, ein, indem er das Binnenverhältnis zwischen Pro- „Rede“ abgeleitet wird. Es gehe also um einen, „der über fessoren und Assistenten kritisiert: alles, was er tut, mit gutem Gewissen Rede stehen, von Deshalb möge sich der Philosophische Fakultäten- allem Rechenschaft ablegen kann“. Es bezeichnet „einen, tag nicht so aufplustern. Selbstreinigung gegenüber der seine Pflicht unter allen Umständen treu erfüllt“. So hauptamtlichem Personal an den Universitäten ist nachzulesen im Synonymischen Handwörterbuch der eine schwere Aufgabe. Das Ausnutzen der Assis- deutschen Sprache von 1910. tenten als Ghostwriter für den Professor, der nur ein Wissenschaftliche Redlichkeit bedeutet hier, dass nur paar Worte umformuliert und dann als Alleinautor das behauptet werden darf, was bewiesen ist und wissen- fungiert, wird nicht angegangen. („Bayreuth fehlt schaftlich nachgewiesen werden kann. die Legitimation zur Prüfung des Täuschungsvor- wurfs“, FAZ, 3. März 2011) Wir alle wissen ja, dass die Regeln für wissenschaftli- ches Arbeiten selbstverständlich von der Wissenschafts- Die Verdächtigungen des anonymen Kenners der gemeinschaft selbst gesetzt werden, ganz sicher also Szene – FAZ vom 17. März 2011 – gipfeln in der Vermu- nicht von der Politik. Daher möchte ich hier einige kluge tung: Gedanken zitieren, die in den vergangenen Wochen von Der inoffizielle akademische Flurfunk weiß jeden- der Wissenschaftswelt selbst öffentlich gemacht wurden. falls immer wieder von Berufungsverfahren zu be- So stellt in der FAZ vom 17. März 2011 ein anonymer richten, deren Resultate aufgrund manipulatorischer Autor, der als promovierter Dozent an einer deutschen Insider-Vereinbarungen und innerakademischer Vet- Hochschule lehrt, unter dem Titel: „Ist die Bayreuther ternwirtschaft erklüngelt werden. Diskussion nur die Spitze des Eisbergs?“ die Frage, ob Was also ist zu tun? Wie stellen sich die Verantwortli- wir nach der Plagiatsdiskussion der letzten Wochen chen in der Wissenschaft eine Verbesserung der von ih- „nicht Standards von wissenschaftlicher Ehrlichkeit und nen selbst beklagten Situation vor? Rechtschaffenheit ins Feld geführt haben, die wir im täg- lichen akademischen Umfeld als praktisch unrealisierbar Heike Schmoll empfiehlt dazu in der FAZ vom und relativ folgenlos zu unterlaufende erleben und tole- 3. März 2011 unter dem Titel „Wie gut ist die Doktoran- rieren“. Er fährt fort: denbetreuung?“: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11459

(A) Die deutsche Wissenschaft wäre gut beraten, die unter dem Titel „Zur Grenze zwischen Politik und Wis- (C) Chance beim Schopfe zu ergreifen und auch selbst- senschaft“ in der FA Z vom 17. März 2011 erklärt: kritisch zu fragen, ob die in der Plagiatsaffäre zu Recht verteidigten hohen Qualitätsmaßstäbe des Wissenschaft und Politik bilden unterscheidbare Wissenschaftssystems auch wirklich überall grei- Sphären sozialen Handelns. In ihnen gelten je ei- fen. gene Funktionsprimate, Handlungslogiken und Ak- teursinteressen. Wissenschaftliche Kommunikation Doch das scheint so einfach nicht zu sein. Zu attraktiv im Medium von „Wahrheit“ ist etwas anderes als sind die Aussichten auf das hohe Ansehen Aktiver im politische Kommunikation im Medium von Wissenschaftssystem, gerade in Deutschland, als dass „Macht“. … man das eigene Nest beschmutzen würde. Beide Handlungssphären sind systematisch aufein- Das jedenfalls beurteilt von außen, aus der Perspektive ander verwiesen. Politik bedient sich zum Zwecke der ETH Zürich, in der FA Z vom 9. März 2011 Caspar des Machterhalts der Wissenschaft. Diese erschließt Hirschi so: sich über Politik finanzielle Ressourcen und Durch- Kulturell profitiert das deutsche Wissenschaftssys- setzungschancen für ihre Deutungsansprüche. … tem noch immer, wenn auch unterschwellig, von Politik und Wissenschaft nehmen einander für die der bildungsbürgerlichen Verehrung für Geistes- eigenen Funktionen in Anspruch. Das muss einen akrobatik im Allgemeinen und für Forschung im nicht beunruhigen. Problematisch wird es aller- Besonderen. In kaum einem anderen westlichen dings dort, wo die Systemgrenze zwischen Wissen- Land sind das Ansehen der Wissenschaft und das schaft und Politik unscharf wird … Prestige von Professoren so hoch wie in Deutsch- land. Das sind hervorragende Voraussetzungen, um Bleibt also abschließend die nüchterne Erkenntnis, viele Studenten von einer wissenschaftlichen Kar- dass die Wissenschaft, zumindest im Idealfall, die stär- riere träumen zu lassen. kere Seite unserer Gesellschaft ist, jedenfalls in der Ge- genüberstellung zur Politik. Denn es gilt, wie Heike Wollte man also tatsächlich etwas ändern im hart um- Schmoll am 7. März 2011 in der FA Z unter dem Stich- kämpften Wissenschafts- und Prüfungsalltag an deut- wort „Wissenschaft und Politik“ schreibt: schen Universitäten, dann helfen nur drakonische Maß- nahmen, meint unser Anonymus in der FA Z vom Wissenschaftliche Erkenntnis gibt keine Hand- 17. März: lungsanweisung, Schlussfolgerungen bleiben dem Handelnden überlassen. Wissenschaft muss viel- Was hier nötig wäre, ist schnell gesagt: knallharte stimmig, oft auch widersprüchlich bleiben, weil (B) höchst indiskrete Transparenz und eine über die miteinander konkurrierende Wahrheitsansprüche (D) universitätsinternen Nachgiebigkeitszirkel hinaus- ihr Wesen ausmachen. Ihre Stärke bezieht sie aus gehende Kontrolle. Warum gibt es keine deutsch- dem besseren Argument und ihrer methodischen landweit institutionalisierten Stichproben von Klarheit und Nachprüfbarkeit. schriftlichen Prüfungsleistungen, von der einfachen Hausarbeit bis zur Master-Thesis, die in einem ano- Überlassen wir Politiker es also den Wissenschaftlern, nymisierten Blind-Review-Verfahren Qualitäts- sich über ihre eigenen Regeln, über ihr Selbstverständnis und Notengebungsvergleiche durchführt? und über die Maßstäbe klar zu werden, an denen sie von uns und allen anderen gemessen werden wollen. Bei so viel Einsicht und derart harschen Empfehlun- gen aus den Inner Circles muss uns hier im Parlament ja Wir Politiker dagegen sollten uns fragen, mit wel- nicht bange sein um die Kultur der Aufrichtigkeit in der chem Anspruch wir unseren Job machen. Max Weber deutschen Wissenschaftslandschaft. stellt in seinem Standardwerk Politik als Beruf dazu fest: Das ist auch gut so, denn, wie schon zu Beginn ge- Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich sagt: Seine Regeln gibt sich das Wissenschaftssystem entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – selbst, und wir Politiker sind gut beraten, uns da klug he- Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft rauszuhalten. Nicht ohne Grund postuliert das Grundge- im Sinne von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hin- setz unmissverständlich die Freiheit der Wissenschaft in gabe an eine „Sache“ … seinem Art. 5, wo es heißt: „Kunst und Wissenschaft … Sie sind frei.“ – die Leidenschaft – Was das für die Politik heißt, wusste schon Max Weber in Wissenschaft als Beruf: macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst in einer „Sache“ auch die Verantwortlichkeit Man sagt, und ich unterschreibe das: Politik gehört gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden nicht in den Hörsaal. Sie gehört nicht dahin von sei- Leitstern des Handelns macht. ten der Studenten. In diesem Sinne sollten wir alle uns, hier besonders Aber das Verhältnis von Wissenschaft und Politik die Antragsteller von den Grünen und der SPD, fragen bleibt schwierig. und fragen lassen, ob und wie redlich es ist bzw. war, uns Wie immer lesenswert hat uns das der bisherige Vor- heute hier diese Debatte aufzuerlegen. Dient sie wirklich sitzende des Wissenschaftsrates, Peter Strohschneider, der „Sache“ der „Redlichkeit in der Wissenschaft“? 11460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Oder war es nicht wieder einmal ein bisschen mehr liche Qualitätskontrolle ist deswegen im ureigensten In- (C) Wahlkampf? teresse einer jeden Universität. Es ist vor diesem Hintergrund folgerichtig, dass vor Ort die Verantwortung Wie dem auch sei. Der berühmte Philosoph und Theo- dafür getragen wird. loge Josef Pieper fasst das so zusammen: Das Promotionsrecht ist ein besonderes Privileg. Es Das Lehren – so sagt Thomas (von Aquin) – ist eine ist verbunden mit der Pflicht, die eben genannte Verant- der höchsten Formen überhaupt, weil es die Vita wortung wahrzunehmen und das Bestmögliche zu tun, contemplativa und die Vita activa verknüpft. um sicherzustellen, dass die Doktorwürde nur bei Ein- haltung wissenschaftlicher Standards verliehen wird. Ich Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Wir erleben traue es unseren Universitäten und Professoren ohne heute ein klassisches Politikmuster: Zuerst gibt es einen Zweifel zu, dass sie dieser Verantwortung gerecht wer- medial bedeutsamen Vorfall wie vor wenigen Wochen den und dass sie selbst aus jedem Fall, in dem dies nicht die Debatte um die Promotion des ehemaligen Verteidi- gelungen ist, die richtigen Konsequenzen ziehen. gungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, und dann kommt die Opposition, die mit heißer Nadel Anträge René Röspel (SPD): Vertrauen und Redlichkeit sind strickt und damit versucht, auf der abklingenden media- wesentliche Voraussetzungen für eine funktionierende len Welle doch noch ein Stück weiterzureiten. moderne Wissenschaft und Forschung. Wissenschaftli- Das bringt Ihnen, meine Damen und Herren von den ches Fehlverhalten ist daher ein Grundproblem, für alle Grünen, vielleicht kurzfristig Applaus, bringt uns aber in Fächer und auf allen Stufen des akademischen Lebens. der Sache selbst nicht weiter. Ob die neuen Medien und das inzwischen sprichwörtli- che „Copy and Paste“ dem Fehlverhalten in Wissen- Wie Sie wissen, sind die Förderung des wissenschaft- schaft und Forschung Vorschub leisten oder aber ob im lichen Nachwuchses und damit auch die Qualität der For- gleichen Zuge die Prüferinnen und Prüfer nicht die schungsleistungen eines der Hauptanliegen dieser Bun- neuen Medien zu einer verbesserten Kontrolle insbeson- desregierung und der sie tragenden Koalitionsparteien. dere von Qualifikationsarbeiten einsetzen können, ist Frau Bundesministerin Schavan hat dazu 2008 den ersten nur schwer zu beantworten. Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgelegt, in dem die Situation an unseren Ungeachtet dessen kann man festhalten, dass jeder Hochschul- und Forschungseinrichtungen erstmals syste- Fall von wissenschaftlichem Fehlverhalten dem For- matisch untersucht worden ist und der eine valide Daten- schungs- und Innovationsstandort Deutschland Schaden basis für die Diskussion liefert. zufügt. Dieser Schaden ist umso größer, wenn nur halb- (B) herzig betrügerisches bzw. falsches wissenschaftliches (D) Die großen Maßnahmen wie die Exzellenzinitiative, Verhalten als solches benannt wird und Fehlverhalten der Pakt für Forschung und Innovation, der Hochschul- keine schmerzhaften Folgen nach sich zieht. pakt oder der Qualitätspakt Lehre sind alle darauf ange- legt, die Situation der Nachwuchswissenschaftler, sei es Zur wissenschaftlichen Redlichkeit zählt insbeson- durch zusätzliche Stellen oder durch intensivere Betreu- dere, dass man eigene Erkenntnisse und eigenes Wissen ung, zu verbessern. Gerade die Qualität der Beratung klar und eindeutig von dem Wissen anderer abgrenzt, und Betreuung beeinflusst den Verlauf einer Promotion wenn man es zum eigenen Nutzen verwenden will. Lei- erheblich. Wenn ein Doktorand seinen Doktorvater der haben wir in der Vergangenheit feststellen müssen, kaum sieht und am Lehrstuhl auch sonst nicht besonders dass dieser Grundsatz der Wissenschaft immer wieder betreut wird, trägt das nicht positiv zur Qualität seiner verletzt wird. Schlimmer noch: Einige Personen haben Arbeit bei. in den Debatten der letzten Wochen und Monate gar in- frage gestellt, ob dieser Grundsatz und die kategorische Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht mit ihren Ablehnung und Ächtung des Diebstahls von geistigem momentan 250 finanzierten Graduiertenkollegs und Gra- Eigentum überhaupt groß öffentlich diskutiert werden duiertenschulen den erfolgreichen Weg der strukturier- sollte. ten Doktorandenprogramme, den wir auch weiter för- dern möchten. Aber auch die allermeisten Professoren, Viele Menschen und Einrichtungen haben in den letz- die nicht an den Graduiertenprogrammen teilnehmen, in- ten Wochen deutlich gemacht, was davon zu halten ist, vestieren viel Zeit und Mühe in die Betreuung und För- wenn Partei- und Regierungsvertreter systematisches derung ihrer Doktoranden. wissenschaftliches Fehlverhalten etwa mit dem Ab- schreiben in der Schule gleichsetzen. Die Bagatellisie- Trotzdem wird es bei 25 000 Promotionen im Jahr immer wieder Fälle geben, in denen die zu Recht hoch- rung von Urheberrechtsverstößen, von Falschaussagen und von Betrug fällt eindeutig auf diejenigen zurück, die gesetzten wissenschaftlichen Standards nicht erfüllt wer- in den letzten Monaten den „Kronprinzen der CSU“ vor den. Das Bekanntwerden eines solchen Falls schadet nicht nur dem Doktoranden, sondern vor allem dem be- seiner gerechten Strafe schützen wollten. Der Aussage des Bayreuther Juraprofessors Oliver Lepsius: „Wir sind treuenden Professor und der davon betroffenen Universi- einem Betrüger aufgesessen“ ist in ihrer Deutlichkeit tät. kaum noch etwas hinzuzufügen. Ich hoffe eindringlich, In der Wissenschaft zählt der gute Ruf wie in kaum dass sich in der ehemaligen „Law-and-Order“-Fraktion einem anderen Bereich. Fehlverhalten wird von der je- von CDU/CSU und insbesondere in der Unions-Arbeits- weiligen Community scharf sanktioniert. Wissenschaft- gruppe Bildung und Forschung mehr Personen für dieses Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11461

(A) Verhalten des Herrn Guttenberg schämen als nur Frau mit Probanden, stellen eine Form von wissenschaftli- (C) Bundesministerin Schavan. chem Fehlverhalten dar. Unabhängig von dem politischen Skandal, dass Frau Warum die Grünen mit ihrem Antrag nun ausschließ- Bundeskanzlerin Merkel die Affäre Guttenberg mit dem lich auf Promotionen abstellen, ist uns nicht klar, und nachgerade frechen Hinweis, sie habe keinen wissen- folglich können wir dem Antrag auch nicht zustimmen. schaftlichen Mitarbeiter eingestellt, kleinreden wollte, Wir wollen mehr als nur eine an die Guttenberg-Debatte müssen wir uns fragen, welche Schlussfolgerungen wir anschließende Sonderdebatte über wissenschaftliches aus den Erfahrungen der letzten Monate ziehen. Die Fehlverhalten bei Promotionen. Wir müssen uns anläss- Grünen tun daher grundsätzlich das Richtige, wenn sie lich des Guttenberg-Betrugs einmal mehr grundsätzliche das Thema mit einem Antrag aufgreifen und nicht mit Fragen zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlver- dem überfälligen Rücktritt von Herrn Guttenberg auf halten stellen und in allen genannten Bereichen solide sich beruhen lassen. Vorschläge unterbreiten, wie wir gegen Fehlverhalten in Wenn wir heute über wissenschaftliche Redlichkeit Wissenschaft und Forschung vorgehen können. sprechen, so müssen wir zunächst anerkennen, welche Um ein Beispiel zu nennen: Welche Auswirkungen Maßnahmen von der Wissenschaft selbst in den letzten hat der verstärkte Fokus auf die Einwerbung von Dritt- Jahren auf den Weg gebracht wurden. Alle Wissen- mitteln auf das Auftreten von wissenschaftlichem Fehl- schaftsorganisationen haben konsequent Instrumente verhalten? Der Begriff „Drittmittel“ fehlt im Antrag der entwickelt, eingesetzt und Selbstverpflichtungen präsen- Grünen komplett. Unklar bleibt auch, welche der von tiert, um gegen wissenschaftliches Fehlverhalten vor- den Grünen geforderten Maßnahmen geeignet sind, um zugehen. Hierdurch haben sie wesentliche Beiträge zur gegen das akademische Ghostwriting vorzugehen. Das Qualitätssicherung im Wissenschaftsbetrieb geleistet Problem wird zwar an einer Stelle erwähnt; die Frage, und versucht, Schaden vom Forschungsstandort wie der Kampf gegen den beständig wachsenden Markt Deutschland abzuwenden. der gekauften Qualifizierungsarbeiten verstärkt bzw. Dies hat aber leider nicht verhindert, dass wir immer überhaupt erst einmal aufgenommen werden kann, wird wieder von teilweise spektakulären Wissenschaftsskan- jedoch nicht beantwortet. Diese Aspekte zeigen, dass die dalen lesen und hören mussten. Das Problem des wissen- Grünen leider das Thema nicht in einem umfassenden schaftlichen Fehlverhaltens ist natürlich kein nationales Sinne problematisieren und folglich aus unserer Sicht Phänomen. Zu den bekanntesten Fällen international der Antrag nicht hinreichend für eine Zustimmung ist. zählt sicherlich der Betrug des Klonforschers Hwang. In Deutschland hat in den letzten Monaten neben Herrn zu Wir werden nach gründlichen Debatten in unserer (B) Guttenberg vor allem der Skandal im Umfeld des For- Fraktion ebenfalls einen Antrag vorlegen und in die (D) schungszentrums Borstel sowie die Betrugsfälle im Son- kommenden Beratungen einbringen. Wir springen aber derforschungsbereich „Stabilität von Randzonen tropi- nicht so kurz wie die Grünen: Wir wollen uns umfassend scher Regenwälder in Indonesien“ an der Universität mit dem Problemfeld des wissenschaftlichen Fehlverhal- Göttingen für Schlagzeilen gesorgt. tens auseinandersetzen und politische Lösungen präsen- tieren. Hierbei müssen wir auch die Bagatellisierung von Es ist für uns als SPD-Bundestagsfraktion klar, dass wissenschaftlichem Fehlverhalten durch Mitglieder des diese Fälle ein Nachdenken über bessere Rahmenbedin- Deutschen Bundestages kritisch beleuchten. Dies ist ne- gungen zum Kampf gegen wissenschaftliches Fehlver- ben dem Verhalten der Bundeskanzlerin ein ganz eigener halten nötig machen. Folglich haben wir das Thema der Skandal, mit dem wir uns noch ausführlicher befassen heutigen Beratungen bereits seit Längerem auf der Ta- werden. gesordnung. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir im Grundsatz die Initiative der Grünen, obgleich der heute Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es ein- zur ersten Lesung vorliegende Antrag den Eindruck ei- führend klarzustellen: Die FDP-Bundestagsfraktion nes „Schnellschusses“ nicht komplett aus der Welt räu- misst der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Red- men kann. Oder um es anders zu sagen: Herr zu lichkeit einen großen Stellenwert bei. Wir vertrauen im Guttenberg sollte nicht der alleinige Anlass sein, sich Kampf gegen Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten auf grundsätzlich mit dem Thema „Wissenschaftliches Fehl- die Selbstkontrollmechanismen der Hochschulen und verhalten“ auseinanderzusetzen. Das Thema ist zu groß, sonstigen Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen. um es an einem Hochstapler bzw. Betrugsfall festzuma- Wir begrüßen, dass sich die Gemeinsame Wissenschafts- chen. konferenz von Bund und Ländern in ihrer nächsten Sit- Wir wünschen uns eine deutlich umfassendere und zung mit dem Thema Promotionen befassen wird. Aber grundsätzlichere Debatte über wissenschaftliches Fehl- wir sind auch davon überzeugt, dass das Gros der deut- verhalten. Dies schließt ein, dass wir uns nicht nur auf schen Hochschulen bereits seit Jahren über wirksame In- Promotionen beschränken, wie es der Antrag der Grünen strumente und Mechanismen im Kampf gegen Plagiate schon in seinem Titel ankündigt. Fehlverhalten gibt es und sonstige Täuschungsversuche von Studierenden und auch bei Habilitationen, bei Bachelor- und Masterarbei- Promovierenden verfügt und mit aller Entschiedenheit ten oder auch bei anderen wissenschaftlichen Arbeiten. Betrugsversuche ahndet. Dieses Ansinnen liegt im Inte- Es gibt akademisches Ghostwriting, und es werden in ei- resse der Hochschulen selbst, und es bedarf keines Ein- nigen Fällen wissenschaftliche Daten gefälscht. Auch greifens seitens der Politik, um die notwendigen Maß- unethische Handlungen, etwa im Rahmen der Forschung nahmen zu ergreifen. 11462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Mit dem vorliegenden Antrag „Wissenschaftliche hobenen Forderungen sind vollkommen überzogen. Der (C) Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen Ehrenkodex der deutschen Wissenschaftler, sowohl der stärken“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll der Professoren und Doktorväter als auch der Studierenden Deutsche Bundestag per Beschluss dafür sorgen, dass und Promovierenden, ist eindeutig und das zu nahezu die Bundesregierung für mehr Redlichkeit in der Wis- 100 Prozent wirksamste Mittel gegen Plagiate in der senschaft sorgt. Wie absurd und überzogen ich diese For- wissenschaftlichen Arbeit. Ich bin der festen Überzeu- derung finde, muss ich an dieser Stelle nicht weiter aus- gung, dass die Hochschulen – sofern nicht längst gesche- führen. Aber es ist schon sehr bezeichnend, mit welcher hen – in ihrer eigenen Verantwortung die notwendigen Denkweise die Grünen dem deutschen Wissenschaftssys- Maßnahmen ergreifen werden. Ein gewisses Restrisiko tem gegenüberstehen. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt wird es dennoch immer geben, selbst dann, wenn man es jedenfalls ab, eine weitere Verrechtlichung und Büro- alle vorgeschlagenen Maßnahmen ergreifen würde. Ei- kratisierung der deutschen Hochschulen voranzutreiben. nes ist jedoch ebenso klar: Auch wenn mit diesem pro- Wir sind davon überzeugt, dass die deutschen Hochschu- minenten Einzelfall das Thema Plagiate und möglicher len ein Mehr an Autonomie und nicht ein Mehr an Büro- Diebstahl geistigen Eigentums in den Blickpunkt des öf- kratie benötigen, um gute Arbeit leisten zu können. Hier fentlichen Interesses gerückt wurde, so ist es trotz allem stimme ich dem Präsidenten des Deutschen Hochschul- zunächst ein Einzelfall. Dieser darf nicht zum Anlass ge- verbandes, Bernhard Kempen, zu, der in der Süddeut- nommen werden, mit überzogenen Maßnahmen zu re- schen Zeitung vom 23. März 2011 vor einem überstürz- agieren und mit den berühmten Kanonen auf Spatzen zu ten Vorgehen mit immer mehr Kontrollen warnt. Herr schießen. Ein Eingreifen von Bundestag oder Bundesre- Kempen hat recht, wenn er darauf verweist, dass nicht gierung ist hier weder erforderlich noch zielführend. erst seit der Plagiatsaffäre umfangreiche Mechanismen in Deshalb wird die FDP-Bundestagsfraktion den vorlie- den Hochschulen vorhanden sind und angewandt werden, genden Antrag der Grünen ablehnen. um Missbrauch zu verhindern und, wenn nötig, mit Vehe- menz zu verfolgen. Dazu braucht es keinerlei Aktionis- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Wir wissen nicht, was mus seitens der Politik! die Kanzlerin dachte, als sie auf der CeBIT vom Rück- Erschreckend ist für mich zudem, dass der Fall des tritt ihres Kabinettskollegen zu Guttenberg erfuhr und ehemaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg – und der Bundesforschungsministerin zulä- hierzu habe ich mich als FDP-Wissenschaftspolitiker chelte. Vielleicht hat sie da schon gedacht: Doktortitel frühzeitig und mehr als deutlich öffentlich geäußert – sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren … Und zum Anlass genommen wird, das gesamte Wissen- man bräuchte eigentlich auch hier ein Bundesprogramm, schaftssystem und vor allem die Promovierenden unter um die Qualität von Promotionen auch über geeignete (B) den Generalverdacht zu stellen, mit „Copy and Paste“- Verfahren zu sichern. Im vorliegenden Antrag der Grü- (D) Techniken auf Titeljagd zu gehen. Auch ist die Forde- nen sind dazu – um es vorwegzunehmen – sinnvolle Vor- rung der Grünen, die Bundesregierung solle „öffentlich schläge gemacht worden. und unmissverständlich“ klarstellen, dass Diebstahl Der Bereich der akademischen Nachwuchsförderung geistigen Eigentums keine Bagatelle ist, mehr als absurd, ist besonders zwischen den Traditionen der alten univer- in jedem Fall aber überflüssig. Bereits vor Jahren hat sitären Ständegesellschaft und den Reformen des New Bundeskanzlerin Angela Merkel klargestellt, dass Raub- Public Management eingeklemmt worden. Es gibt noch kopien kein Kavaliersdelikt sind. Für diese Auffassung immer ein enges starkes Abhängigkeitsverhältnis zwi- bedarf es des Antrags der Grünen also in keinem Fall! schen – meist männlichen – Doktorvätern und ihren Mit ihren Vorwürfen, die im Zusammenhang mit der „Zöglingen“. Die Betreuungszusage für eine Promotion öffentlichen Diskussion um den ehemaligen Verteidi- wird zumeist nach dem langjährigen Aufbau eines per- gungsminister zu Guttenberg erhoben wurden, hat die Op- sönlichen Vertrauensverhältnisses gegeben. Dabei spie- position ganz sicher nicht dazu beigetragen, das Vertrauen len nicht nur wissenschaftliche, sondern auch persönli- der Wissenschaft in die Politik zu erhöhen. Äußerst be- che oder gar politische Beziehungen eine große Rolle. fremdlich ist für mich die Behauptung der Grünen, dass in Ein Professor wird nur selten jemanden unterstützen, der Teilen der Öffentlichkeit das Bewusstsein „für die Bedeu- eine andere wissenschaftliche Denkrichtung als er selbst tung wissenschaftlicher Redlichkeit und den Schutz geisti- verfolgt. gen Eigentums teilweise unterentwickelt“ sei. Dass die Grünen hier irrtümlicherweise einem von den Medien ge- Diesen uralten Traditionen von akademischer Gefolg- zeichneten Bild aufgesessen sind, scheint mir offensicht- schaft, die noch aus der Zeit der Ordinarienuniversität lich. Nicht anders lässt sich erklären, mit welcher Kraft stammen, stehen die marktorientierten Reformen der und in welchem beeindruckenden Umfang sich Tau- letzten zehn Jahre gegenüber. Heute wird eine Universi- sende von Studierenden und Promovierenden in einem tät in der Regel nach dem Output bemessen. Ihre Mittel- offenen Brief an die Öffentlichkeit gewandt haben und zuweisung hängt von der Zahl ihrer „Produkte“ ab; da- unmissverständlich klargemacht haben, was sie von Pla- runter fallen auch Promotionen. Dies brachte die giaten halten und wie wichtig ihnen der Kodex einer red- Universitäten dazu, Mechanismen zur Steigerung ihrer lichen Wissenschaftsarbeit ist. Promotionszahlen zu entwickeln. Parallel dazu wurde im Rahmen der Exzellenzinitiative, aber auch des Bologna- Die FDP-Bundestagsfraktion ist der festen Überzeu- Prozesses das angelsächsische Vorbild der Promotion als gung, dass unser Wissenschaftssystem nicht überregle- Studienphase in Deutschland eingeführt. Anders als in mentiert werden kann und darf. Die von den Grünen er- den USA, Australien oder Großbritannien wurde jedoch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11463

(A) weder die Durchlässigkeit erhöht, noch wurden Hierar- darf das nicht. Hier gelten Transparenz und Nachvoll- (C) chien abgebaut. Wer dort promovieren will, kann dies di- ziehbarkeit der Forschungsergebnisse als oberste Maxi- rekt nach einem ersten Bachelorstudienabschluss tun. men. Zitieren ist eine Grundtechnik der Wissenschaft – Von dieser Flexibilität sind wir hier weit entfernt. Statt- inklusive aller Quellenangaben. Das Internet kann nichts dessen drücken bei uns in Graduiertenschulen und Pro- dafür, wenn jemand sich an diese Regel guter wissen- motionsstudiengängen nun Menschen die Schulbank, die schaftlicher Praxis nicht hält. Es hat aber zugleich er- mit ihrer Promotion eigentlich schon in die erste Phase möglicht, Plagiate schnell aufzufinden – viel schneller, wissenschaftlicher Berufsausübung eintreten sollten. als das noch vor 20 Jahren möglich war. Auch die schnelle Durchleuchtung der Guttenberg’schen Disserta- In beiden existierenden Wegen zur Promotion, ob als tion wäre ohne das Internet nicht möglich gewesen. In- Mitarbeiter eines Lehrstuhls oder als Promotionsstuden- sofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, tin, kommt die Selbstständigkeit der Nachwuchswissen- sollten wir nicht von der „Copy and Paste“-Technik schaftlerinnen und -wissenschaftler zu kurz. Wir sollten schreiben, die durch das Internet um sich gegriffen habe. diese jungen Menschen, die mit Ende 20, Anfang 30 in Computer und Internet vereinfachen die wissenschaftli- ihrer vielleicht kreativsten Lebensphase stecken, mehr che Arbeit ganz erheblich. Jeder weiß das, erst recht zutrauen. Dazu gehört auch, ihre Rolle in der Universität wenn er oder sie wie ich eine Dissertation im Schreibma- zu stärken und verbindlicher zu gestalten. Es ist richtig, schinenzeitalter verfasst hat. Es gibt also keinen Grund Promotionsvereinbarungen, wie von den Grünen bean- für technologisch inspirierten Kulturpessimismus, son- tragt, flächendeckend einzuführen, die Bewertung der dern viele Gründe für die Reform überkommener Sys- Dissertationen durch externen Sachverstand zu objekti- teme der wissenschaftlichen Nachwuchsentwicklung vieren und die Stellung der Promovierenden gegenüber und der akademischen Selbstkontrolle. den betreuenden Hochschullehrerinnen und -lehrern zu stärken. Der Betreuung muss mehr Aufmerksamkeit durch die Institutionen gewidmet werden. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zur heutigen Debatte hat die grüne Bundestagsfraktion einen Zwei Dinge im Antrag der Grünen sehe ich jedoch Antrag zur wissenschaftlichen Redlichkeit und zur Qua- auch kritisch: Zum Ersten werden die Phasen nach der litätssicherung bei Promotionen vorgelegt. Wir alle ken- Promotion vernachlässigt. Dazu gibt es keinen Grund. In nen den Anlass, der die Aufmerksamkeit auf ein Thema den letzten Jahren sind diverse Plagiatsfälle auch im pro- gelenkt hat, das gemeinhin nicht im Zentrum des politi- fessoralen Bereich aufgedeckt worden. schen Geschehens steht. Zum Zweiten wundert mich die Rhetorik hinsichtlich Wer sich mit wissenschaftlichem Fehlverhalten be- geistigen Eigentums in einem Grünen-Antrag. Ich muss (B) schäftigt, weiß, dass die weitaus meisten Promotionen in (D) sagen: Da ist die Debatte deutlich weiter. Wenn in einer Deutschland ehrlich und redlich erarbeitet werden. Wir wissenschaftlichen Arbeit in einem gewissen Rahmen Wissenschaftspolitikerinnen und Wissenschaftspolitiker Texte von anderen Autorinnen und Autoren zitiert wer- wissen aber auch, dass es Betrug, Diebstahl von Ideen, den, dann ist das eine essenzielle, durch das Zitatrecht Ghostwriting, Manipulation von Daten und andere For- gesicherte wissenschaftliche Praxis. Niemandem wird men des wissenschaftlichen Fehlverhaltens gerade bei damit etwas weggenommen. Im Gegenteil: Die Zitation Promotionen gibt. Denken Sie nur an die Praktiken der erhöht die wissenschaftliche Reputation des Zitierten. sogenannten Promotionsberater im Jahr 2009. Damals Dass die Quelle genannt werden muss, ist eine Frage der wurde gegen über 100 Professoren wegen Bestechlich- Redlichkeit und der Kennzeichnung der eigenen Leis- keit ermittelt. tung, nicht jedoch des Eigentums. Die Grünen sprechen jedoch in ihrem Antrag mehrfach von Diebstahl. Ich Wissenschaft als rationale Suche nach Erkenntnis und kann für meine Fraktion dazu nur sagen: Wir setzen uns Wahrheit braucht Wahrhaftigkeit und Vertrauen. Deshalb intensiv für eine stärkere Betonung von Wissen als Ge- greifen Betrug, Manipulation und Diebstahl geistigen meingut, für eine stärkere Offenheit der Wissenschaft im Eigentums die Wissenschaft in ihrer Kernsubstanz an. Sinne von Open Access und auch für deren öffentliche Um die Wissenschaft zu schützen, bedarf es vorbeugen- Finanzierung ein. Dinge, die offensiv geteilt werden, der Maßnahmen ebenso wie effektiver Kontrollen und kann man auch nicht stehlen. Sanktionen. Das hat nichts mit einem Generalverdacht gegen die Wissenschaft zu tun, sondern im Gegenteil: Wehren muss man sich zudem gegen die hergestellte Eine effektive Qualitätssicherung trägt dazu bei, die Verbindung von wissenschaftlichem Fehlverhalten und Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und unzähliger redli- den Möglichkeiten der Digitalisierung und des Internets. cher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schüt- Neulich war in einer Zeitung zu lesen, der Guttenberg- zen. Eklat sei auch Folge dieser grassierenden „Creative- Commons-Remix-Mentalität“. Es ist notwendig, die ver- Umso ärgerlicher waren die Versuche selbst höchster schiedenen Sphären klar und deutlich zu trennen und Repräsentanten der Regierung, wissenschaftliches Fehl- Mythen zurückzuweisen. Ein Remix, ein Cover, eine Zi- verhalten zu verharmlosen. Wissenschaftlicher Betrug tation in der Kunst setzt auf das Wiedererkennen durch und Diebstahl geistigen Eigentums sind keine Kavaliers- Leserinnen und Leser, durch Zuhörerinnen und Zuhörer. delikte. Dieser Grundsatz muss auch und gerade dann Häufig liegt ein Kunsterlebnis gerade darin, die zitierten gelten, wenn das Bewusstsein für die Bedeutung wissen- Textteile oder Melodiestücke zuordnen zu können. schaftlicher Redlichkeit und den Schutz geistigen Eigen- Kunst darf mystifizieren und andeuten. Wissenschaft tums in einem Teil der Öffentlichkeit unterentwickelt ist. 11464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Glücklicherweise sind diese Bagatellisierungsversu- Wir müssen Schluss machen mit dem „völlig un- (C) che durch einen regelrechten Aufstand der Wissenschaft durchsichtigen Handschlagmilieu“, in dem Doktoran- gescheitert. Zigtausende Promovierende, Nachwuchswis- den mit ihrem Professor ein Thema vereinbaren und senschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Professo- dann im stillen Kämmerlein vor sich hin forschen, wie es rinnen und Professoren haben sich in Unterschriftenlisten Professor Hornbostel vom Institut für Forschungsinfor- und offenen Briefen empört. Das war das entscheidende mation und Qualitätssicherung der DFG ausdrückt. Die Signal gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegen- Mehrzahl der Promotionen in Deutschland wird noch über denjenigen Medien, die den groben Täuschungsver- immer in der subjektiven Informalität eines Meister- such von Herrn zu Guttenberg als Petitesse verkaufen Schüler-Verhältnisses angefertigt. Bei der Vereinheitli- wollten. chung von Qualitätsstandards kommt es daher darauf an, das Verhältnis zwischen den Promovierenden und ihren Die Plagiatsaffäre hat aber auch Lücken in der Quali- Betreuerinnen und Betreuern zu verobjektivieren. Dazu tätssicherung bei Promotionen offenbart. Es waren näm- sind Betreuungsvereinbarungen und transparente, faire lich erst der vierte Guttenberg-Rezensent sowie das Gut- Zugänge zur Promotion geeignet. Dabei muss auch die tenPlag Wiki, die den Diebstahl geistigen Eigentums Universität mehr Verantwortung übernehmen. aufdeckten. Zuvor konnte die Dissertation die Gutachter und den Prüfungsausschuss der Universität Bayreuth Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz sollte in ohne jede Beanstandung und sogar mit dem Prädikat Kooperation mit dem Wissenschaftsrat und der Hoch- „summa cum laude“ durchlaufen. schulrektorenkonferenz prüfen, welche Regelungen sich in den Landeshochschulgesetzen und Promotionsord- Die Politik muss jetzt gemeinsam mit der Hochschul- nungen bewährt haben und als Best Practice empfohlen rektorenkonferenz, dem Wissenschaftsrat, der Deutschen werden können. Forschungsgemeinschaft und den Universitäten die Qua- litätssicherung bei Promotionen überprüfen, weiterent- Auch die schwierigen Rahmenbedingungen, unter de- wickeln und stärker vereinheitlichen. Wir fordern die nen manche Promovierenden ihre Dissertation verfassen, Bundesregierung auf, ihrer Gesamtverantwortung für müssen in den Blick genommen werden. Die strukturierte das Wissenschaftssystem gerecht zu werden, rasch die Promotion in Graduiertenschulen und Graduiertenkollegs Zusammenarbeit mit den Ländern zu suchen und diesen sollte weiter gestärkt werden, ohne dass dies mit einer Prozess aktiv zu unterstützen. Verschulung verbunden ist. Promovierende auf soge- nannten Qualifizierungsstellen müssen neben ihren Auf- Um beim Thema Qualitätssicherung voranzukom- gaben an der Hochschule genügend Zeit haben, ihre Dis- men, brauchen wir mehr Schutz vor Täuschung und dem sertation fertigzustellen. Auch die Arbeitsbedingungen (B) Verfälschen von Daten sowie mehr Schutz des geistigen und die Personalausstattung der Betreuer und Gutachter (D) Eigentums. Hier ist die Bundesregierung gefordert, in spielt eine wichtige Rolle. In der leistungsabhängigen Abstimmung mit den Ländern die Hochschulrektoren- Besoldung der Professorinnen und Professoren und in konferenz und den Wissenschaftsrat um Empfehlungen den Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den Univer- zu bitten. Die Empfehlungen sollten Maßnahmen zum sitäten dürfen nicht nur erfolgreich abgeschlossene Pro- Schutz vor Täuschung, zum Vorgehen in Betrugsfällen, motionen als Kriterium gelten. Auch die Betreuung von mögliche Konsequenzen und Sanktionen sowie Parame- Doktorarbeiten, Zweitgutachtertätigkeiten und die Mit- ter zur Bewertung von Grenzfällen umfassen. Unerläss- wirkung an Prüfungen müssen berücksichtigt werden. lich sind auch Vorschläge dazu, wie die Vermittlung der Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens besser in den Ich hoffe, wir werden unseren Antrag im Ausschuss Curricula der Studiengänge verankert und die Sensibili- ausführlich beraten. Es muss darum gehen, das hohe An- sierung für die Bedeutung wissenschaftlicher Redlich- sehen, das die Promotion an deutschen Universitäten keit schon bei den Studierenden geschärft werden kön- weltweit genießt, zu verteidigen. nen.

Den Empfehlungen müssen Vereinbarungen folgen, Anlage 7 wie es zu einer möglichst schnellen, einheitlicheren und verbindlichen Umsetzung an den Hochschulen kommen Zu Protokoll gegebenen Reden kann. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Die Promotionsordnungen in Deutschland weisen je Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatz- nach Fakultät und Fach eine extreme Spannbreite auf. förderungsfonds der deutschen Land- und Ob die Promovenden beispielsweise eine eidesstattliche Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatz- Erklärung abgeben müssen, dass sie die Arbeit selbst- förderungsfonds der deutschen Forst- und ständig und nur unter Nutzung der angegebenen Quellen Holzwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17) und Hilfsmittel erstellt haben, bleibt bislang dem Gut- dünken der jeweiligen Fakultät überlassen. Schlicht vom Marlene Mortler (CDU/CSU): Die christlich-liberale Zufall hängt es ab, ob die Hochschule Antiplagiatssoft- Koalition hält Wort. Union und FDP schaffen mit dem ware zur Verfügung stellt und die Prüfenden sie auch be- nun vorliegenden Gesetz zur Auflösung und Abwick- dienen können. Mal stammen alle Gutachter aus der lung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds ein In- gleichen Fakultät, mal werden Gutachter anderer Uni- strument, das die möglichen nach der Abwicklung ver- versitäten beteiligt. bleibenden Vermögensüberschüsse in die Hände unserer Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11465

(A) deutschen Bauern und Waldbauern zurückgibt, und da- punkt der Beendigung des Absatzfonds und des Holzab- (C) mit in die Hände der ursprünglichen Beitragszahler. satzfonds möglicherweise bestehen bleiben – und wir re- den hier hoffentlich von bis zu 14 Millionen Euro –, zum Vor genau sechs Wochen haben wir das letzte Mal Wohle und im Sinne der Beitragszahler, also der deut- über die Verwendung der Restmittel aus dem Absatz- schen Bauern und Waldbauern, verwendet werden? fonds und dem Holzabsatzfonds in diesem hohen Hause diskutiert. Wir von der CDU und CSU haben seit dieser Nach Anhörung der Verbände argumentierte das Bun- Zeit einiges im Sinne der deutschen Bauern und Wald- desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- bauern erreichen können, und damit im Sinne derjeni- braucherschutz, eine Verwendung etwaiger Überschüsse gen, die die Gelder einst aufgebracht haben. zugunsten der ursprünglichen Beitragszahler sei recht- lich nicht geboten, und mögliche Restmittel sollten dem Ich selbst habe zuletzt vor sechs Wochen zum Aus- allgemeinen Bundeshaushalt zugeführt werden. Die druck gebracht, dass mit der Auflösung des Absatzfonds christlich-liberale Koalition, und gerade wir als Union, ein erfolgreiches Kapitel der Verkaufsförderung der Pro- haben nun aber das Ministerium im Laufe des Gesetzge- dukte des deutschen Ernährungsgewerbes zu Ende geht. bungsverfahrens mit Entschlossenheit und guten Argu- Denn der Absatzfonds wird nun endgültig abgewickelt. menten davon überzeugen können, die rechtlichen Mög- Vielen Wirtschaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein lichkeiten auszunutzen, die Restmittel im Sinne unserer deutlich geworden, wie wichtig eine zentrale Absatzför- Bauern und Waldbauern zu verwenden, und sie eben derung ist und welch gute Arbeit CMA und ZMP geleis- nicht dem allgemeinen Bundeshaushalt zuzuführen. tet haben, auch wenn man über Einzelheiten und Details, wie so oft, streiten kann. Unsere Auffassung fand auch im Bundesrat Unter- Schauen wir uns exemplarisch doch nur einmal die stützung, hat er sich doch im Dezember letzten Jahres Bedeutung von Werbung und Marketing für den Absatz dafür ausgesprochen, etwaige Überschüsse zugunsten der bei uns erzeugten Produkte im Ausland an. Der Ex- der Betriebe der Land- und Ernährungswirtschaft sowie port unserer hochqualitativen heimischen landwirt- der Holz- und Forstwirtschaft einzusetzen, sei es bei- schaftlichen Produkte ist heute wichtiger denn je, führt spielsweise durch Messebeteiligungen, Marktstudien doch der große Erfolg und die Innovationskraft unserer oder Markterschließungsmaßnahmen. Diese Auffassung heimischen Betriebe dazu, dass die erzeugten Produkte des Bundesrates habe ich und hat die Union im Deut- international in immer stärkerem Maße nachgefragt wer- schen Bundestag ausdrücklich begrüßt. den. Sie müssen wissen, dass Deutschland im Jahre 2009 Wir Abgeordnete der Regierungskoalition haben mit zweitgrößter Exporteur von Lebensmitteln und Geträn- dem nun vorliegenden Gesetz erreicht, dass die etwaigen ken war, mit über 6 Prozent Anteil an den globalen Aus- (B) Überschüsse in das bestehende Zweckvermögen der (D) fuhren. Damit liegen wir direkt hinter den Vereinigten Landwirtschaftlichen Rentenbank übertragen werden. Staaten und noch ein gutes Stück vor Brasilien, China Deshalb kann ich mit gutem Recht, wie bereits zu Be- oder Frankreich. Darauf kann die gesamte deutsche Er- ginn meiner Rede, behaupten: Die christlich-liberale Ko- nährungswirtschaft mit gutem Recht stolz sein. alition hält Wort. Das führt uns wieder vor Augen, wie eng wir mit un- Union und FDP schaffen, wie angekündigt, ein Instru- seren internationalen Handelspartnern verknüpft sind, ment, welches zukünftig erlauben wird, die Restmittel und wie wichtig globale Vermarktungswege und welt- aus dem Absatzfond kosteneffizient und unbürokratisch weites Marketing heutzutage auch für den landwirt- für zukunftsgerichtete Projekte zu nutzen. Das Zweck- schaftlichen Sektor sind. Auch das Inlandsmarketing vermögen zum Beispiel wird erstens dazu verwendet, oder, noch weiter heruntergebrochen, in immer größe- Innovationen der Land- sowie der Agrar- und Ernäh- rem Maße das regionale Marketing, sind von fundamen- rungswirtschaft in den Markt und in die Praxis einzufüh- taler Bedeutung für den Absatz der bei uns erzeugten ren, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungs- Produkte sowie natürlich für die Generierung eines an- kette, das heißt in den Bereichen Erzeugung, Verarbei- gemessenen Preises, der im besten Fall den Preis für ein- tung und Vermarktung. Zweitens unterstützt das Zweck- geführte Waren auch noch übersteigt, das heißt eine hö- vermögen bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank die here Wertschöpfung erzielt. experimentelle Entwicklung von Innovationen. Ein Bei- Zwischenzeitlich sind auf Initiative der Wirtschaft so- spiel hierfür ist die Umsetzung universitärer Forschung wohl in der Ernährungsbranche als auch im Holzbereich in neue Produkte, die vom Markt aufgenommen und Nachfolgeorganisationen gegründet worden. Dies be- nachgefragt werden. Die betroffenen Verbände begrüßen grüße ich ausdrücklich. Diese Erfolgsstory unserer Er- ausdrücklich den Weg, den wir als Koalition jetzt mit nährungsbranche weiterzuschreiben und zu unterstützen, diesem Gesetz eingeschlagen haben. sollte unser aller Auftrag sein. Die Opposition hingegen will die Mittel unserer Bau- Um nun wieder auf den uns vorliegenden Gesetzent- ern und Waldbauern für parteipolitisch angehauchte rot- wurf zurückzukommen: Die Beschlüsse des Bundesver- grüne Spielwiesen missbrauchen. Da machen wir nicht fassungsgerichtes vom Frühjahr 2009 zur Verfassungs- mit. So wollen zum Beispiel die Grünen eine neue büro- widrigkeit des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds kratische und ideologisch agierende Institution im Ge- haben uns vor die Frage gestellt, was mit den Restmit- wande einer Stiftung errichten, die neue Posten und teln nach Liquidierung der Institutionen geschehen soll. Pöstchen entstehen lässt, anstatt das Ernährungsgewerbe Wie können die Vermögensüberschüsse, die zum Zeit- und die Holzwirtschaft zu unterstützen. Diesem falschen 11466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Ansinnen sind Union und FDP entschieden entgegenge- In 2006 wurde die CMA durch den Bundesrechnungs- (C) treten. hof überprüft. In zwei Berichten dokumentierten die Prü- fer ihre Kritik an der CMA und dem Absatzfonds. Der Wir, die Abgeordneten der christlich-liberalen Koali- Rechnungshof warf der CMA unter anderem vor, regel- tion, haben erreicht, dass die Mittel jetzt unkompliziert, widrig und unwirtschaftlich zu arbeiten. Am 3. Februar unbürokratisch und transparent zum Wohle der deut- 2009 erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungs- schen Land- und Forstwirtschaft eingesetzt werden kön- gerichts in Karlsruhe die gesetzlichen Pflichtabgaben an nen. den Absatzfonds für verfassungswidrig. Bezeichnend ist auch, dass der Deutsche Bauernver- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute geht zumin- band so lange für den Absatzfonds gekämpft hat, obwohl dest im Deutschen Bundestag das Kapitel Absatzfonds doch schon lange klar war, dass dieses Instrument voll- zu Ende. kommen antiquiert, ja sogar verfassungswidrig war. Es Führen wir uns nochmals die Historie vor Augen: Im ist gut, dass das Thema Absatzfonds ein Ende findet. Jahr 1969 wurden durch das Absatzfondsgesetz die zen- Schlecht ist es, dass die Restmittel der Absatzfonds nur tralen Fonds zur Absatzförderung der deutschen Land-, bedingt gruppennützlich an die Landwirtschaftliche Forst- und Ernährungswirtschaft errichtet. Erklärtes Ziel Rentenbank fließen. Die SPD hat die Bundesregierung war es damals, der deutschen Land-, Forst- und Ernäh- aufgefordert, etwaige dem Bund zufließende Restmittel rungswirtschaft ein wirkungsvolles Instrument zur zen- aus der Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatz- tralen Absatzförderung zu verschaffen und ihre Markt- förderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungs- stellung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu wirtschaft sowie der Anstalt Absatzförderungsfonds der festigen. Der Absatz und die Verwertung von Erzeugnis- deutschen Forst- und Holzwirtschaft zweckgebunden sen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft sollte und damit auch gruppennützlich einzusetzen. durch die Erschließung und die Pflege von Märkten im Wir wollen, dass die möglichen Vermögensüber- In- und Ausland mit modernen Mitteln und Methoden schüsse aus der Auflösung und Abwicklung der Anstalt zentral gefördert werden, so der damalige Gesetzestext. Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- Die Fonds wurden durch eine Sonderabgabe gespeist, rungswirtschaft an die Andreas-Hermes-Akademie flie- die von belasteten Abgabepflichtigen, den Land- und ßen. Deren Trägerverein, das Bildungswerk der Deut- Forstwirten, direkt oder indirekt aufgebracht wurden. schen Landwirtschaft e. V., sollte die Mittel dafür einsetzen, um ein Fortbildungsprogramm mit den Die Zielsetzung der Absatzfonds war zur damaligen Schwerpunkten Unternehmens- und Umweltmanage- Zeit sicherlich sinnvoll, obwohl es bereits damals kriti- ment aufzulegen. Damit könnten landwirtschaftliche Be- (B) sche Stimmen gab. Auf gesättigten Märkten läuft insbe- (D) triebsleiter geschult werden. Damit lassen sich landwirt- sondere das von der Centralen Marketing-Gesellschaft schaftliche Betriebe gezielt weiterentwickeln. der deutschen Agrarwirtschaft mbH betriebene Grup- penmarketing ins Leere. Auf gesättigten Märkten ist Stattdessen wird die Koalitionsmehrheit heute be- Gruppenmarketing nicht zielführend. Vielmehr geht es schließen, mögliche Vermögensüberschüsse der beiden um die Produktdifferenzierung innerhalb von Waren- Fonds auf das Zweckvermögen des Bundes bei der gruppen. Dieses Marketing können Lebensmittelprodu- Landwirtschaftlichen Rentenbank zu übertragen. Damit zenten eindeutig besser umsetzen als zentrale Absatzför- kommen die Überschüsse aber nicht in erster Linie den derungsorganisationen. ehemaligen Abgabepflichtigen zugute, sondern in erster Linie dem Deutschen Bauernverband. Der entscheidet Die zentrale Absatzförderung verlor zunehmend ihre nämlich letztendlich, wer welche Projektgelder aus dem Legitimation. Die Abgabenpflichtigen stellten die be- Zweckvermögen erhält – in der Regel immer zuerst die rechtigte Frage nach dem Sinn der Zwangsabgabe. Ver- eigenen Landesverbände. heerend für das Image der CMA waren auch die vielen Beispiele einer falsch verstandenen Zielgruppenwer- Dieses Vorgehen birgt meines Erachtens auch eine bung. Die CMA-Anzeige für deutsches Fleisch wurde weitere Gefahr: Wir wissen alle, dass das Sondervermö- mit dem Spruch unterlegt: „Ich steh’ auf Typen mit gen der Landwirtschaftlichen Rentenbank Bundesver- Kohle.“ Die CMA-Anzeige für deutsches Geflügel mit mögen ist. Im Fall der Fälle kann der Gesetzgeber Rück- „Ich liebe schöne Schenkel“. Solche Sprüche stoßen flüsse in den Bundeshaushalt veranlassen. Ich unterstelle nicht nur aufgeklärte Verbraucherinnen und Verbraucher Schwarz-Gelb, dass sie sich den letztendlichen Zugriff vor den Kopf. Dies sollte doch den für Marketing Ver- auf die Restmittel dann doch noch erhalten wollen. antwortlichen klar sein. Vielleicht waren aber die Ver- waltungsräte doch zu weit von der Konsumentenrealität Ich weiß, dass eine Rückführung der Bestandsmittel entfernt und orientierten sich zu stark an den vermeintli- an die ehemaligen Beitragszahler mit enormen Kosten chen Bedürfnissen der Agrarproduzenten. verbunden wäre. Die SPD will mit ihrem Antrag eine gruppennützliche Verwendung der Restmittel gewähr- Ende 2002 entschied der EUGH, dass die Verwen- leisten – und zwar ohne Rückfallposition, ohne Hinter- dung des Gütezeichens der CMA „Markenqualität aus türchen zugunsten des Bundeshaushalts. Wir werden deutschen Landen“ gegen EU-Recht verstößt. Für einige nach Abwicklung der Fonds und nach der Übertragung Landwirte war dies der Anlass, Anfang 2003 gegen den der Restmittel darauf achten, dass die Mittel auch dort Absatzfonds zu klagen. ankommen, wo sie hingehören: bei den aktiven Land- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11467

(A) wirten und nicht bei der Verbände- oder Verwaltungs- des Bundesverfassungsgerichtes wurden diese für erle- (C) bürokratie. digt erklärt und die zu Unrecht eingezogenen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt. Es muss über die Würde es nach dem Willen der SPD gehen, würden Forderung der Länder entschieden werden, dass die Pro- auch mögliche Vermögensüberschüsse aus der Auflö- zesskosten der anhängigen Klagen vom Bund getragen sung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungs- werden. fonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft sinnvoller eingesetzt. Die SPD fordert, dass dieses Geld als einmali- Es gab eine ganze Reihe unterschiedlicher Vorstellun- ger Zuschuss an die „Zukunft Holz GmbH“, ZHG, ausge- gen davon, in welcher Weise das Restvermögen der bei- zahlt wird. Damit sollen konkret zusätzliche Absatzför- den Anstalten verwendet werden könnte, zum Beispiel dermaßnahmen für nachhaltig produzierte Holzprodukte als Einbringung in eine Stiftung oder als Unterstützung gefördert werden. Die Labels FSC, Naturland oder PEFC, bestehender Vermarktungsstrukturen, die sich in der mit denen aus nachhaltiger Produktion stammendes Holz Nachfolge der beiden Anstalten gegründet haben. In je- zertifiziert wird, müssen stärker beworben werden. Ver- dem Fall wollten wir sichergestellt wissen, dass diejeni- braucher könnten dann bewusst anhand der Labels ent- gen, die die Mittel aufgebracht haben, davon einen Nut- scheiden. zen haben. Von einer Regierung, die es aber nicht einmal schafft, Nach gründlichen Überlegungen haben wir uns inner- einen gesellschaftlichen Konsens für eine nachhaltige halb der Koalition entschlossen, die Mittel an die Land- Holznutzung im Rahmen einer konsistenten Waldstrate- wirtschaftliche Rentenbank zu überführen und dem gie zu formulieren, kann niemand ernsthaft erwarten, Zweckvermögen zukommen zu lassen. Dies ist die ein- dass sie sich für zusätzliche finanzielle Mittel einsetzt, fachste und zugleich transparenteste Variante zur Ver- mit denen der Markt für nachhaltig erzeugte Holzpro- wendung des Restvermögens. Es kommt damit denjeni- dukte ausgebaut werden kann. gen zugute, die das Vermögen durch ihre Beitragszahlungen aufgebaut haben. Wir vermeiden zu- Wir werden daher diesen Gesetzentwurf ablehnen. dem mehr Bürokratie und höhere Transaktionskosten, wenn wir ein bestehendes, bekanntes Förderinstrument Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Es ist den stärken. Agrarpolitikern der christlich-liberalen Koalition ge- meinsam mit den Haushaltspolitkern gelungen, den Ge- Die Landwirtschaftliche Rentenbank ist öffentlich- setzentwurf zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt rechtlich organisiert, sie bindet Bund und Länder sowie Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- nicht nur die Verbände der Land-, Agrar- und Ernäh- rungswirtschaft, sondern auch die der Forst- und Holz- (B) rungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds (D) der deutschen Forst- und Holzwirtschaft im parlamenta- wirtschaft ein. So können Zukunftsprojekte aus Land-, rischen Verfahren hinsichtlich der Verwendung der even- Ernährungs- und Forstwirtschaft finanziert werden, die tuell vorhandenen Restmittel zu verbessern. nachhaltige Tier- und Pflanzenproduktion fördern, Inno- vationen beinhalten und Ausbildung und Beratung unter- Die FDP hat von Anfang an gefordert, nach Ab- stützen. Ebenso können im Sinne der Absatzförderung schluss sämtlicher noch anhängender Verfahren am Ende Konzepte für Information und Kommunikation über eine des Abwicklungsprozesses übriges Restvermögen beider nachhaltig wirtschaftende Produktionskette bei Lebens- Fonds gruppennützig zu verwenden und nicht in den all- mitteln und bei Produkten der Holzwirtschaft entwickelt gemeinen Haushalt fließen zu lassen. Die Sonderabgabe werden. Die Rentenbank fördert in diesem Sinne insbe- ist von Unternehmen der Land- und Ernährungswirt- sondere kleine und mittlere Unternehmen sowie For- schaft wie auch der Forst- und Holzwirtschaft geleistet schungseinrichtungen. worden. Die Mittel wurden über eine nicht EU-kon- forme und verfassungsrechtlich nicht haltbare Branchen- Ganz besonders betonen möchte ich, dass das Zweck- abgabe eingezogen. Warum sollte ein deutscher Obst- vermögen auch Projekte in der Forst- und Holzwirtschaft bauer mit seiner Abgabe den Absatz von Obst ganz unterstützen kann und soll. Dies war der FDP ein wichti- allgemein fördern? Auch war nie einzusehen, wieso die ges Anliegen, da auch das Restvermögen des Absatzför- Landwirtschaft im Gegensatz zu den übrigen Wirt- derungsfonds der Forst- und Holzwirtschaft in dieses schaftsbereichen für die Exportförderung eigene Mittel Zweckvermögen überführt wird. Voraussichtlich wird aufbringen sollte. Die Verwendung dieser Restmittel dieses einen Anteil von einem Viertel der Beträge aus- sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht ha- machen; deswegen muss die Holzwirtschaft förderungs- ben, erfolgen. Dies mag zwar haushaltsrechtlich nicht fähig sein. Wir werden prüfen, ob eine Klarstellung der der klassische Weg sein; aus Gründen des Vertrauens- Richtlinien zur Verwendung des Zweckvermögens hilf- schutzes war es jedoch politisch geboten. reich sein könnte.

Derzeitige Schätzungen gehen von einem Vermögen Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke be- zwischen 10 und 12 Millionen Euro aus. Um die Bei- grüßt das Ende der bisherigen Absatzfonds, will aber tragszahler und die Steuerzahler nicht zu belasten, sind mehr regionale Absatzförderung. die Kosten der Abwicklung selbst zunächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Bekanntgabe des Ge- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden der Ab- richtsbeschlusses gab es zahlreiche Klagen gegen die satz- und der Holzabsatzfonds, die verfassungswidrig fi- monatlichen Beitragsbescheide. Nach der Entscheidung nanziert sind, endgültig beendet. Das ist gut so. Als 11468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) Linke haben wir die breite inhaltliche Kritik an der Cen- Die gruppennützige Verwendung der Restmittel ist (C) tralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirt- unterdessen im Bundestag fraktionsübergreifend unstrit- schaft, CMA, unterstützt. Auch die Erhebung der tig. Große Teile der Branche haben das in unzähligen Zwangsabgabe zur Finanzierung von oft mehr als peinli- Briefen gefordert. Dabei war die Wunschliste zur Um- chen Werbekampagnen, die vielen Landwirtinnen und setzung dieses politischen Zieles sehr lang. Jede Interes- Landwirten jahrelang Zornesröte ins Gesicht trieb, ha- sensgemeinschaft wollte möglichst viel vom Kuchen ab- ben wir schon länger für verfassungswidrig gehalten. bekommen. Als Linke ist uns wichtig, die Restmittel an Diese Einschätzung wurde auch durch die Anhörung im der Stelle einzusetzen, wo der Fonds am dringlichsten zuständigen Agrarausschuss des Bundestages im Jahr nötig gewesen wäre, eine verfassungsgemäße Finanzie- 2009 bestätigt. Schon damals habe ich die Bundesregie- rung vorausgesetzt. Deshalb haben wir die Weitergabe rung aufgefordert, einen Plan B zu erarbeiten. Doch die an die regionalen Absatzfördergesellschaften vorge- ehemalige schwarz-rote Koalition blieb, wie so oft, untä- schlagen. So wären sie gruppennützig und sinnvoll ver- tig. Die Folgen können wir nun als einen Scherbenhau- wendet worden. fen „bewundern“. Er wird nur sehr mühsam und holprig Die Koalitionsfraktionen haben sich für die Weiter- beseitigt. gabe der Gelder an die Landwirtschaftliche Rentenbank Zwei Dinge sind aus unserer Sicht als direkte Folge entschieden, damit diese ihr Sondervermögen aufsto- zu beachten. Einerseits geht es um die Frage, was mit cken kann. Das ist allemal besser als die ursprünglich den Geldern aus den beiden Fonds passiert, die nach Be- geplante Einspeisung in den Bundeshaushalt. Bisher habe ich zu diesem Vorhaben noch keine verärgerten zahlung aller offenen Rechnungen noch übrig sind. Mo- Aufschreie vernommen, außer von den Grünen, die lie- mentan ist immerhin von 13,4 Millionen Euro beim Ab- ber ihre Klientel mit dem Geld beglückt hätten. Die satzfonds und 2,8 Millionen beim Holzabsatzfonds die Branche hat dieses Vorgehen wohl als gruppennützig ak- Rede. Dass die unfreiwilligen Beitragszahlerinnen und zeptiert. Selbst der Deutsche Forstwirtschaftsrat hat die -zahler wenigstens von diesen Restmitteln indirekt profi- Entscheidung begrüßt; also sollte auch das Geld des tieren sollten, war in den Oppositionsfraktionen immer Holzabsatzfonds dort einigermaßen gut aufgehoben sein. selbstverständlich, und am Ende konnte sich auch die Vorteil dieser Lösung gegenüber den Vorschlägen der Koalition dieser Logik nicht entziehen. SPD und der Grünen ist aus unserer Sicht, dass die Gel- Gleichzeitig sollte bei aller berechtigten Kritik an der der wie bei unserem Vorschlag in eine bereits bestehende CMA nicht vergessen werden, dass von der Abwicklung Struktur einfließen, also kein Geld für den Aufbau neuer Strukturen verwendet werden muss. Die Rentenbank Beschäftigte betroffen sind, die völlig unverschuldet in- bietet ein breites Angebot für Land- und Forstwirtschaft, folge juristischer Urteile, politisch falscher Entscheidun- (B) Wein- und Gartenbau. Die Kritik, dass nicht gesichert (D) gen oder Nichthandelns ihren Arbeitsplatz verloren ha- wäre, dass auch die Betriebe der Holzwirtschaft in den ben. Viele Beschäftigte von CMA und ZMP sind ebenso Genuss der Programme der Rentenbank kommen, sollte existenziell betroffen wie Mitarbeiterinnen und Mitar- allerdings ernst genommen werden. Wir werden das im beiter des Holzabsatzfonds. Auge behalten. Den circa 350 Beschäftigten der CMA und ZMP Dem Förderungsfonds der Rentenbank standen im wurde Hoffnung auf erfolgreiche Vermittlung anderer Jahr 2009 5,375 Millionen Euro aus dem Bilanzgewinn Arbeitsplätze gemacht. Doch viele sind noch heute ar- des Vorjahres zur Verfügung. Daraus wurden viele Ein- beitslos. Sie sind bitter enttäuscht. Insbesondere wurde zelprojekte und Institutionen in den ländlichen Räumen zu keinem Zeitpunkt in geeigneter Weise auf die Proble- unterstützt. Diese Verwendung entspricht zwar nicht un- matik der über 50-Jährigen eingegangen, obwohl abseh- serem – noch besseren – Vorschlag der Übergabe der bar war, dass sie ein besonders hohes Risiko haben, er- Restmittel an regionale Absatzfördergesellschaften. werbslos zu werden. Hier wäre das Bundesministerium Aber er entspricht der von der Opposition immer gefor- für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, derten gruppennützigen Verwendung. Daher kann ich BMELV, in der Pflicht gewesen, seinen Beitrag für eine die Ablehnung dieses Kompromisses durch die SPD und soziale Perspektive der ehemaligen Beschäftigten der die Grünen nicht nachvollziehen. Als Linke werden wir beiden Fonds zu leisten. Die Linke hatte das in Aus- uns enthalten. schusssitzungen mehrmals thematisiert. Um wie viele Betroffene es sich aktuell handelt, konnte ich leider nicht Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- herausfinden. Aber einige haben sich mit ihren Erfah- NEN): Anders als für die CDU/CSU, die dem Absatz- rungen mit der Transfergesellschaft an mich gewandt. fonds immer noch nachtrauert, begrüßen wir die Auflö- Der CMA-Sozialplan ist anscheinend nicht so erfolg- sung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds reich gewesen, wie in Aussicht gestellt. Die zur Verfü- ausdrücklich; denn damit wird das Ende der jahrelangen gung stehenden Mittel der Transfergesellschaft PEAG verfassungswidrigen Zwangsabgabe von Bäuerinnen waren Ende Mai 2010 bereits restlos aufgebraucht. Hätte und Bauern endlich besiegelt. die damalige Bundesregierung frühzeitig an einem Plan B gearbeitet, wie von der Linken gefordert, dann Jahrelang haben Bäuerinnen und Bauern gegen die hätte auch dieses Problem sozialverträglicher gelöst wer- Zwangsabgabe zum Absatzfonds gekämpft, einer von den können. Auch die SPD hat ihre soziale Verantwor- ihnen hat schließlich erfolgreich geklagt. Ihnen gegen- tung hier nicht konsequent übernommen. über stand der Deutsche Bauernverband, der sich mit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11469

(A) Unterstützung der CDU/CSU bis zuletzt für die Beibe- Wir schlagen daher die Errichtung einer unabhängi- (C) haltung der Zwangsabgabe eingesetzt hat, weil er über gen Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft vor. Zweck der Jahre direkt und indirekt kräftig davon profitiert hat. Stiftung sollte die Förderung des landwirtschaftlichen Gemeinwohls sein. Die Stiftung Bäuerliche Landwirt- DBV-Präsident Sonnleitner als Chef des Absatzfonds, schaft sollte Pionierarbeit von Bäuerinnen und Bauern DBV-Vize Hilse als Aufsichtsratschef der CMA, DBV- fördern, die dem langfristigen Wohl der Landwirtschaft Vize Folgart als Aufsichtsratschef der ZMP: Die Herren dient, zum Beispiel in den Bereichen Züchtung und Bo- des DBV hatten sich die Macht über die jährlich rund denfruchtbarkeit. 90 Millionen Zwangsabgaben der Bäuerinnen und Bau- ern sorgsam gesichert und scherten sich wenig darum, Die deutlich geringeren Restmittel aus dem Holzab- dass das Ganze nicht nur für die Bauern ohne erkennba- satzfonds sollten einer bestehenden oder neuzugründen- ren Nutzen war, sondern schlicht verfassungswidrig. den unabhängigen Institution zukommen, die Vorhaben im allgemeinen Interesse der Forst- und Holzwirtschaft Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsge- realisiert, zum Beispiel die Fortführung des Informa- richt diesem Treiben ein Ende gesetzt und die Zwangs- tionsdienstes Holz oder Vorhaben zur Förderung des abgaben zum Absatzfonds für verfassungswidrig erklärt. Holzbaus. Am 12. Mai 2009 folgte das gleiche Urteil für den Holz- absatzfonds. Eine weitere einseitige Begünstigung einflussreicher Lobbygruppen lehnen wir hingegen ab. Nach der Abwicklung werden aus dem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 Millionen Euro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro verbleiben. Anlage 8 Diese Gelder sollen nach dem Willen der Koalition Zu Protokoll gegebenen Reden nun ausgerechnet an das Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank gehen. Das hat zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes – vorsichtig ausgedrückt – ein Geschmäckle. zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 19) Denn wer hat in der Rentenbank das Sagen? Vorsitzen- der des Verwaltungsrates ist DBV-Präsident Sonnleitner. Neben Sonnleitner sitzen im Vorstand: Dr. Helmut Born, Ansgar Heveling (CDU/CSU): Lassen Sie uns heute DBV-Generalsekretär, Udo Folgart, DBV-Vize, Werner über das Zweitverwertungsrecht reden. Darum geht es Hilse, DBV-Vize, Franz-Josef Möllers, DBV-Vize. Die jedenfalls in dem auf Drucksache 17/5053 vorgelegten (B) Liste ließe sich fortsetzen. Gesetzentwurf der SPD – vordergründig jedenfalls. Ei- (D) gentlich geht es aber eher um etwas anderes. Eigentlich Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Institutionen geht es darum, dass sich die SPD-Fraktion mit ihrem Ge- und Projekte des Bauernverbands zu den größten Profi- setzentwurf das „Ich bin schon da“-Gefühl geben teuren des Förderfonds der Rentenbank gehören. Bei der möchte, das wir aus dem „Hase und Igel“-Märchen der Förderung aus dem Zweckvermögen entscheidet die Gebrüder Grimm kennen. Während die Koalition behä- Landwirtschaftliche Rentenbank zwar formal nur im big ihre Themen abarbeitet, kommt die SPD flink und Einvernehmen mit dem BMELV. Der Verdacht liegt je- listig mit allem schon viel früher um die Ecke. Glück- doch nahe, dass der Deutsche Bauernverband auch hier wunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! zu den bevorzugten Nutznießern gehören dürfte. Der Punkt geht an Sie – jedenfalls der Punkt, dass Sie schneller sind. Die Bundesregierung hätte längst die Gelegenheit ge- habt, diesen Verdacht auszuräumen. Aber in der Antwort Aber Listigkeit und Flinksein haben ihren Preis. Das auf unsere entsprechende Kleine Anfrage vom 5. Juli sehen wir gerade an dem von Ihnen vorgelegten Gesetz- 2010 weigerte sich die Bundesregierung, konkrete An- entwurf. Um nicht zu sagen: Der Erfolg ihres Gesetzent- gaben zur Verwendung der Fördergelder aus dem wurfs reduziert sich allein darauf, dass Sie ihn schneller Zweckvermögen zu machen. Dabei wäre das BMELV vorgelegt haben. Ihnen mag das vielleicht reichen; uns nicht zuletzt entsprechend Abs. 5.1 der Richtlinien über reicht es jedenfalls nicht. die Verwendung des Zweckvermögens des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank berechtigt gewe- Machen wir es also ebenso schnell: Der Gesetzent- sen, Vorhaben, Antragsteller und Höhe der Förderung zu wurf der SPD ist viel zu kurz gesprungen. Er ist reine nennen. Effekthascherei, weil er einen einzelnen Aspekt, das Zweitverwertungsrecht, ausschließlich so, wie ihn eine Ich fordere daher die Bundesregierung auf, dem Par- Interessengruppe, verschiedene Wissenschaftsorganisa- lament umgehend offenzulegen, wer in welchem Um- tionen, nach vorne tragen, in Gesetzesform gießen will. fang von der Förderung aus dem Zweckvermögen profi- tiert. Ich kann zwar nachvollziehen, dass sich die SPD an- gesichts der Tatsache, dass es nur um den kurzfristigen Wir sind der Meinung, dass eine gruppennützige Ver- Effekt geht, wirklich nicht viel Mühe machen wollte; wendung der Gelder, wie sie das Bundesverfassungsge- aber so einseitig vorzugehen und nicht einmal im Ansatz richt und der Bundesrat gefordert haben, nur durch eine den Versuch zu starten, mit einem Gesetzentwurf den unabhängige Institution gewährleistet werden kann. Ausgleich verschiedener Interessen vorzunehmen, das 11470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) ist schon bemerkenswert. Bemerkenswert unklug! So wenn nicht ausreichend kritische Masse auf diesem Weg (C) weit zum Gesetzentwurf der SPD. erzeugt werden könnte, um den Verlagen als ebenbürti- ger Verhandlungspartner gegenüberzustehen. Nun zum eigentlichen Thema, das wirklich die ernst- hafte Auseinandersetzung lohnt. Denn es sind einige Drittens. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die Faktoren in der Tat nicht von der Hand zu weisen: Forderung nach einem Federstrich des Gesetzgebers Zum einen wollen Wissenschaftler nachvollziehbarer- nicht sogar von dem eigentlichen Problem ablenkt, näm- weise ihre Ergebnisse gerne im Verlag mit dem höchsten lich dem Problem, dass Etats von wissenschaftlichen Bi- Renommee veröffentlichen. Daraus hat sich in einigen bliotheken immer weiter reduziert werden und immer Bereichen eine gewisse Monopolisierung ergeben. Und weniger Mittel für die Bereitstellung von Publikationen es stimmt: Manche Verlage nutzen diese Monopolbil- zur Verfügung stehen. Ist es richtig, das auf Kosten der dung aus, verlangen immer höhere Preise und erreichen Verlage zu sanktionieren? dadurch Margen von bis zu 70 Prozent. Viertens. Können Verlage überhaupt noch verlässlich Zum anderen halten die Bibliotheksetats bei der kalkulieren, wenn es ein verbindliches Zweitverwer- explosionsartigen Vermehrung von Veröffentlichungen tungsrecht gibt? Die Verlage investieren in Veröffentli- nicht Schritt. Im Gegenteil, die finanzielle Ausstattung chungen. Sie steuern technisches Know-how bei und er- durch die öffentliche Hand wird immer schmaler. bringen mit dem Lektorieren, Setzen und Publizieren eigene Leistungen. In der Summe wollen Verlage selbst- Da ist es eigentlich kein Wunder, dass von interessier- verständlich ihre verlegten Werke auch amortisieren. Es ter Seite der Ruf nach einer Schranke zugunsten einer ist nicht auszuschließen, dass die renommierten Publika- Zweitverwertungsmöglichkeit laut wird. Aber nur weil tionen noch teurer und viele andere Werke einfach gar der Ruf erschallt, heißt das noch nicht zwangsläufig, nicht mehr verlegt werden. Am Ende mögen weniger dass man ihm folgen muss, vor allem nicht, dass man Veröffentlichungen und damit weniger Qualität stehen. sich dann auf dem richtigen Weg befindet. Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wol- „Quidquid agis prudenter agas et respice finem“ lau- len, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigen tet ein lateinisches Sprichwort: Was auch immer du tust, Journalen veröffentlichen wollen, werden sich mögli- handle klug und bedenke das Ende! Wenn der Gesetzent- cherweise zwingen lassen. Auch das müssen wir beden- wurf der SPD dies schon nicht tut, dann sollten wir das ken. im Interesse der Urheber sehr sorgsam tun. Das braucht Sie sehen: Allein die Diskussion um diese eine naturgemäß Zeit – Zeit, die wir uns zur sorgsamen Vor- Schranke im Urheberrecht wirft viele Fragen auf – Fra- bereitung des Dritten Korbs der Urheberrechtsreform gen, die bedacht sein wollen und auf die der Gesetzent- (B) auch nehmen, um solche Schnellschüsse wie den SPD- wurf der SPD auch nicht im Ansatz eine Antwort gibt. (D) Gesetzentwurf zu vermeiden. Ich will nicht verhehlen, dass ich persönlich einem Wir sollten daher genau überlegen, ob ein solches Zweitverwertungsrecht insgesamt kritisch gegenüber- Zweitverwertungsrecht wirklich zielführend ist. In die- stehe. Ich sehe, dass hier die Gefahr einer Kostenverla- sem Überlegungsprozess befinden wir uns derzeit. gerung von den Nutzern auf die Kreativen besteht. Ich Erstens. Es sind vor allem die Wissenschaftsorganisa- sehe die Gefahr, dass letztlich die Qualität von Veröf- tionen, die die Einführung eines Zweitverwertungsrech- fentlichungen leidet. Außerdem sehe ich die Gefahr, tes forcieren. Wo ist da die Stimme der wirklichen Urhe- dass es statt weniger mehr Monopolisierung gibt. Wir ber? Sind sie so schwach, dass sie der Stimme anderer sollten daher mit dem Instrument des Zweitverwertungs- bedürfen? Oder sind sie vielleicht damit zufrieden, dass rechts sehr vorsichtig sein – vorsichtiger als die SPD mit sie gerade in dem besonderen Journal X oder der ihrem Gesetzentwurf. Zeitschrift Y ihre Ergebnisse veröffentlichen können? Zweitens. Ist eine gesetzliche Regelung im Urheber- René Röspel (SPD): Wie ermöglicht man einen um- recht wirklich das richtige Instrument? Der SPD-Antrag fassenden Zugriff auf das wissenschaftliche Wissen der fordert das Zweitverwertungsrecht ausschließlich für die Welt? Diese ebenso grundsätzliche wie wichtige Frage Veröffentlichung von Ergebnissen öffentlich geförderter steht im Zentrum des von der SPD-Bundestagsfraktion Forschung. Damit wird der Gegenstand des Zweitver- heute vorgelegten Entwurfs für ein Gesetz zur Änderung wertungsrechts schon deutlich eingeschränkt. Hinter die- des Urheberrechts. ser Beschränkung steht die nachvollziehbare Überle- Wir alle kennen die klassischen Wege der schriftli- gung, dass die öffentliche Hand nicht zweimal für chen Wissenschaftskommunikation. Es werden zunächst Forschung bezahlen soll: zum einen über die For- Forschungsprojekte betrieben, die zu neuen oder erwei- schungsförderung und zum anderen über die Biblio- terten Erkenntnissen führen. Diese werden durch den theksförderung. oder die Forscher in einem Textbeitrag dargestellt und Wenn es aber ohnehin nur um die Ergebnisse öffent- dann in einem Buch, einem Sammelband oder in einer lich geförderter Forschung geht, dann stellt sich die Zeitschrift veröffentlicht. Idealerweise stehen diese Frage, ob das gewünschte Ziel nicht bereits durch Zu- Werke dann allen am Thema interessierten Forscherin- wendungsauflagen bei der Fördermittelvergabe erreicht nen und Forschern zur Verfügung, damit sie Rück- werden kann. So breit wie die öffentliche Förderung auf- schlüsse ziehen und Anregungen aufnehmen können für gestellt ist, müsste es doch mit dem Teufel zugehen, ihre eigene Arbeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11471

(A) Nun werden seit einigen Jahren die Grenzen dieses rechts vorgelegt, den die damalige Bundesregierung je- (C) klassischen Modells deutlich. Die Gründe hierfür sind doch bedauerlicherweise nicht aufgegriffen hat. vielfältig. So hat sich die Dynamik der wissenschaftli- chen Kommunikation in einer Art und Weise verstärkt, Nun steht seit einigen Monaten der Regierungsent- wie es zu Zeiten vor Internet und Web 2.0 undenkbar wurf eines „Dritten Korbes“ zur Reform des Urheber- war. Der Bedeutung des Internets für die wissenschaftli- rechts aus. Die Signale, die man bisher empfangen che Kommunikation muss der Gesetzgeber Rechnung konnte, deuten leider stark darauf hin, dass die Regie- tragen, wenn die deutsche Wissenschaft von dieser Ent- rung die Chance zur Vorlage eines Entwurfs für die Be- wicklung nicht abgekoppelt werden soll. lange von Bildung, Wissenschaft und Forschung und für eine Stärkung des Wissenschafts- und Forschungsstand- Die Verlage wiederum haben in den letzten Jahren ortes Deutschland erneut vergeben wird. Dies ist sehr verstärkt ihre marktbeherrschende Rolle in der Wissen- bedauerlich, hat sich doch der Ausschuss für Bildung, schaftskommunikation für teilweise extreme Preissteige- Forschung und Technikfolgenabschätzung bei der Ver- rungen genutzt. Ein Beispiel aus den USA ist die Ankün- abschiedung des „Zweiten Korbes“ einstimmig für einen digung der Nature Publishing Group gegenüber der „Dritten Korb“ für die Belange von Bildung, Wissen- University of California, den Preis für die Onlinelizenz schaft und Forschung ausgesprochen. Ein modernes wis- für die Universität von 2011 an um sage und schreibe senschaftsfreundliches Urheberrecht ist ein wichtiger 400 Prozent zu erhöhen. Erst nach einer Boykottdrohung Standortvorteil für unser Land. kam es zu einer Annährung zwischen der Verlagsgruppe Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns daher und der Universität. Das Verhalten der Verlagsgruppe dazu entschlossen, den Aspekt „Zweitverwertungsrecht“ zeigt, mit welcher Aggressivität einige Verlage versu- in einem eigenständigen Gesetzentwurf in die parlamen- chen, die Abhängigkeit von Hochschulen auszunutzen. tarische Debatte einzubringen. Wir wollen nicht, dass Übrigens waren die Kosten für die Lizenz der Nature diese wichtige Frage zwischen den vielen anderen Fra- Publishing Group zwischen 2005 und 2009 bereits um gen im Rahmen eines „Dritten Korbes“ untergeht oder, 137 Prozent gestiegen. wie üblich, weiterhin auf die lange Bank geschoben wird. Auch wollen wir deutlich machen, dass eine Rege- Die Folgen dieser Abhängigkeit sind insbesondere in lung zum Zweitverwertungsrecht kein Spezial- oder Bezug auf die staatliche Forschungsförderung für einen Randthema ist. unabhängigen Beobachter kaum mehr vermittelbar. Da fördern der Bund und die Länder mit Milliardenbeträgen Was fordern wir nun konkret? Mit unserem Gesetz- die Wissenschaft und Forschung in Deutschland über entwurf soll ein unabdingbares Zweitverwertungsrecht Projektmittel und Gehaltszahlungen. Ein Ergebnis dieser für wissenschaftliche Beiträge eingeführt werden, die im (B) Förderung sind neue Erkenntnisse, welche die Wissen- Rahmen einer überwiegend mit öffentlichen Mitteln fi- (D) schaftler in Schriftform einem weiten Kreis von Interes- nanzierten Lehr- und Forschungstätigkeit entstanden senten bekannt machen wollen. Hier treffen sie auf das sind. Damit sollen die rechtlichen Voraussetzungen ge- „Nadelöhr“: Verlage, die sich meist alle Rechte an den schaffen werden, um Open-Access-Publikationen zu er- Texten abtreten lassen. Meist wird sogar die Formatie- möglichen. Dabei ist uns klar, dass dies nur ein erster rung des Textes, ausgehend von einer Formatvorlage, als Schritt sein kann und dass es weiterer flankierender Aufgabe an den oder die Autoren delegiert. Der Verlag Maßnahmen bedarf, um Open Access zu unterstützen, verkauft dann sein Printprodukt bzw. seine Lizenzen an beispielsweise hinsichtlich der Förderrichtlinien der For- Hochschulen, Bibliotheken, Einzelpersonen usw. In den schungsförderung oder hinsichtlich der Unterstützung ersten beiden Fällen kauft der Steuerzahler – vertreten der Universitäten und der wissenschaftlichen Fachge- durch Bund und Länder – also die von ihm finanzierten sellschaften bei der Einrichtung entsprechender Plattfor- Forschungserkenntnisse erneut zu hohen Kosten ein, da- men. mit Dritte Zugang zu ihnen erlangen können. Aus Sicht der Verlage hat dieses Vorgehen nur Vorteile; ein Modell Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates diffe- für die Zukunft der Wissenschaftskommunikation ist renzieren wir hinsichtlich der Embargofrist zwischen dieses Verfahren aber nicht. sechs Monaten für Zeitschriftenbeiträge und zwölf Mo- naten für Beiträge in Sammelwerken. Jeder Urheberin Diese Erkenntnis ist nicht erst wenige Wochen oder und jedem Urheber steht frei, wie er mit diesem Recht Monate alt. Bereits im Rahmen der Beratungen des umgeht und die Möglichkeit zur Zweitverwertung nutzt. „Zweiten Korbes“ zur Reform des Urheberrechts hat Die Autoren erhalten das Recht, ihre Beiträge im Ori- sich der Deutsche Bundestag für die Prüfung eines soge- ginalformat der Erstveröffentlichung zur Verfügung zu nannten unabdingbaren Zweitverwertungsrechts ausge- stellen. Dies ist keine „Enteignung“ der Verlage, die das sprochen. Dieser etwas sperrige Begriff bedeutet, dass Layout entwickelt haben, sondern es ist eine unerlässli- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Recht er- che Voraussetzung, damit etwa die Zitierfähigkeit erhal- halten, nach einer im Gesetz festgelegten Embargofrist ten bleibt. Durch die Verpflichtung, dass im Rahmen ihre – überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierten – einer Zweitverwertung der Ort der Erstpublikation anzu- Texte nach einer Erstveröffentlichung etwa in einer Zeit- geben ist, kann und soll sogar eine Werbewirkung für die schrift nach Belieben an einer anderen Stelle zweitzuver- betreffenden Zeitschriften bzw. Verlage entstehen. öffentlichen. Der Bundesrat hat in den Beratungen zum „Zweiten Korb“ sogar einen dezidierten Vorschlag für Mit unserem Vorschlag befinden wir uns damit sehr die Festschreibung eines solchen Zweitverwertungs- nah an den Vorstellungen der großen Wissenschaftsorga- 11472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) nisationen sowie der Bundesländer. Auch die bisherigen rangeschritten, wenn es darum ging, auch dort sinnvolle (C) Stellungnahmen der anderen im Bundestag vertretenen Regelungen auf den Weg zu bringen, wo andere viel- Parteien lassen sich aus unserer Sicht dahin gehend in- leicht noch zögern. terpretieren, dass man über die Parteigrenzen hinweg of- fen sein sollte bzw. ist für unseren Regelungsvorschlag. Perspektivisch können wir es – wie bereits angedeutet – Wir hoffen daher auf eine konstruktive Debatte und eine aber nicht bei der Festschreibung eines unabdingbaren Zustimmung über unsere Fraktion hinaus. Zweitverwertungsrechts belassen; dies schafft lediglich die rechtliche Grundvoraussetzung. Wir müssen auch in- Zu einer Debatte gehört selbstverständlich auch eine tensiv prüfen, welcher flankierender Maßnahmen es be- Bewertung der Kritik an einem unabdingbaren Zweitver- darf und wie beispielsweise die einschlägigen Förder- wertungsrecht. Nur darf man hierbei nicht vergessen, richtlinien des Bundes dahin gehend verändert werden dass für Wissenschaft und Forschung im Urheberrecht müssen, sodass Open Access in allen Wissenschaftsbe- andere Maßstäbe gelten müssen als für andere Publika- reichen ermöglicht und gefördert wird. Auch wird zu tionsformen und -felder. So verdienen Wissenschaftler prüfen sein, wie die Forschungseinrichtungen, Universi- selten einen Großteil ihres Einkommens mit Veröffentli- täten und Hochschulen oder Bibliotheken und die wis- chungen. Bestenfalls kann man Einnahmen aus Veröf- senschaftlichen Fachgesellschaften unterstützt werden fentlichungen als Nebenverdienst in Wissenschaft und können bei der Errichtung entsprechender Open-Access- Forschung bewerten. Vielmehr ist es – gerade bei Buch- Publikationsplattformen. Schließlich gilt es auch bei den publikationen – durchaus möglich, dass eine Veröffentli- wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren dafür zu chung wissenschaftlicher Werke sogar Kosten für den werben, von diesem Zweitverwertungsrecht tatsächlich Autor zur Folge hat. Gebrauch zu machen. Auch bei den Wissenschaftsverla- gen müssen wir dafür werben, neue Publikationsformen Der freie Fluss von Informationen ist außerdem kon- und -modelle zu erproben und anzubieten. stitutiv für eine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit. Diese Freiheit von Informationen durch Hürden wie Ge- Selbstverständlich müssen wir auch mit den Ländern bühren für den Zugriff auf Artikel und Beiträge – auch sprechen, um sicherzustellen, dass wir in Deutschland noch Jahre und Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung – eine vergleichbare Infrastruktur an den Hochschulen er- einzuschränken, behindert immer mehr auch die Wissen- halten, die es erlaubt, das Zweitverwertungsrecht in der schaft. Zwar mag der Grad der Einschränkung der wis- Forschungspraxis zu leben. Mit den Bibliotheken haben senschaftlichen Forschung und der Wissenschaftsfreiheit wir bereits leistungsstarke Dienstleister, die ein wichti- durch diese finanziellen, verlagsseitigen Hürden kaum ger Partner bei der Umsetzung des Zweitverwertungs- bezifferbar sein; klar ist jedoch, dass die Abwesenheit rechts sein können. Nur haben die Länder in der Vergan- (B) eines Zweitverwertungsrechts den freien Fluss von In- genheit leider Sparmaßnahmen auf den Weg gebracht, (D) formationen erheblich behindert. All diejenigen, die sich die den Universitäten die Aufrechterhaltung dieser Infra- folglich gegen ein unabdingbares Zweitverwertungs- strukturen erschwert haben. Hier muss der Bund helfen. recht aussprechen, müssen diese negativen Effekte aus- Wir als SPD sind bereit, hier unterstützend tätig zu wer- drücklich in Kauf nehmen. den. Unser Gesetzentwurf ist sicherlich nur ein erster, aus Abschließend möchte ich den Kolleginnen und Kolle- unserer Sicht wichtiger, Schritt auf dem Weg zur Umset- gen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hierbei ins- zung eines echten Open Access – also offenen Zugangs – besondere Johannes Kollbeck, danken, die sich in den zu wissenschaftlichem Wissen. Wir haben – auch und letzten Jahren für die Festschreibung eines unabdingba- gerade durch das Engagement vieler Menschen in zahl- ren Zweitverwertungsrechts eingesetzt und die uns bei losen Gremien und Netzwerken – hier schon viel er- der Erarbeitung des Gesetzentwurfs unterstützt haben. reicht. Wir werden aber mit unserem heute vorgelegten Entwurf nicht stehen bleiben im Bemühen für eine um- Lassen Sie uns nun ergebnisoffen in die Ausschussbe- fassende wissenschaftsfreundliche Reform des bundes- ratungen gehen, gegebenenfalls auch eine Sachverstän- deutschen Urheberrechts. Nicht zuletzt aus diesem digenanhörung, möglicherweise zu unterschiedlichen Grund und um dem Paradigmenwechsel wirklich mittel- Regelungsentwürfen, durchführen und zu einem ge- fristig Rechnung tragen zu können, haben wir den Ge- meinsamen Weg finden, der das von unserem Gesetzent- setzentwurf mit einer Evaluierungsklausel versehen. wurf präsentierte Ziel – und zwar sowohl hinsichtlich Drei Jahre nach Inkrafttreten soll diese Regelung dahin der dafür notwendigen Rechtsgrundlagen als auch hin- gehend evaluiert werden, ob das Ziel des Gesetzgebers, sichtlich der ebenso notwendigen flankierenden Maß- Open Access zu ermöglichen, tatsächlich erreicht wer- nahmen – erreichbar macht. den kann und ob es gegebenenfalls weiteren rechtlichen Klarstellungsbedarf gibt. Stephan Thomae (FDP): Der Rohstoffreichtum un- seres Landes liegt in den Köpfen seiner Menschen. Krea- Übrigens hat unsere Debatte von heute natürlich Aus- tivität, Innovationsgeist, Erfindungsreichtum und Risi- wirkungen über die Landesgrenzen hinweg. Wir debat- kobereitschaft sind die Quellen unseres Wohlstandes. tieren ja auch auf europäischer Ebene über die Zukunft des Urheberrechts, und viele andere Staaten in Europa Erfindungen und Entdeckungen bedürfen aber von ih- werden unser Bemühen für ein unabdingbares Zweitver- rer Entstehung bis hin zu ihrer Verwirklichung bisweilen wertungsrecht mit großem Interesse verfolgen. Deutsch- eines hohen Maßes an immateriellem und materiellem land ist schon in der Vergangenheit in Europa mutig vo- Einsatz. Solche Investitionen werden nur getätigt, wenn Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11473

(A) eine reale Chance dafür besteht, dass sich Kreativität Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Man kann es nicht oft (C) und die dafür aufgewendeten Mittel auch auszahlen kön- genug wiederholen: Ergebnisse von öffentlich geförder- nen. ter Wissenschaft werden heute allzu oft in privatwirt- schaftlichen Wissenschaftsverlagen publiziert. Dafür er- Dafür muss der Staat die Rahmenbedingungen schaf- hält der Verlag bis zu 80 Prozent seiner Kosten durch fen. Der effektive Schutz und die wirksame Nutzbarkeit Zuschüsse des Autors oder Herausgebers abgesichert. In und Durchsetzbarkeit der Rechte des geistigen Eigen- der Regel geben Wissenschaftler diese Kosten an ihre tums sind mithin eine unerlässliche Voraussetzung, um Auftrags- und Arbeitgeber, also erneut die öffentliche Kreativität und Innovationen zu fördern. Ich gehe davon Hand, ab. Bei stetig steigenden Endpreisen kaufen dann aus, dass darüber in diesem hohen Haus mehr oder weni- die Bibliotheken und Archive der Wissenschaftseinrich- ger Konsens herrscht. Wie man diese Ziele jedoch errei- tungen wiederum mit öffentlichen Geldern diese Publi- chen will, darüber kann man streiten. kationen, falls ihr Etat dafür ausreicht. Die SPD setzt sich mit dem von ihr eingebrachten Durch diese Praxis werden die Verlage mehrfach aus vorliegenden Gesetzentwurf für ein Zweitverwertungs- der öffentlichen Hand subventioniert. Weiter wird es für recht wissenschaftlicher Urheber ein. Damit soll das Ziel Wissenschaftseinrichtungen immer schwerer, For- erreicht werden, Wissenschaft, Forschung und Bildung schungsergebnisse auch in den Archiven bereitzustellen. unter wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen Zugang Durch diese Praxis wird öffentliches Geld privatisiert zu wissenschaftlichen Informationen zu ermöglichen. und freier Informations- und Wissensfluss einge- Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich dem vorlie- schränkt. genden Antrag aus verschiedenen Gründen nicht an- Einem Versuch, dieses System zu durchbrechen, stehe schließen. Zum einen ist der Antrag in sich sprachlich ich deshalb zunächst immer positiv gegenüber. Entspre- widersprüchlich. Wer Dritten ein ausschließliches Nut- chend begrüße ich grundsätzlich den Gesetzentwurf der zungsrecht an seinem Werk einräumt, kann selber kein SPD zum Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Nutzungsrecht an dem Werk haben, es sei denn, es Publikationen. wurde vorher so vereinbart. Da entsprechende Vereinba- rungen bereits jetzt im Rahmen der Privatautonomie Würde Wissenschaftlern ein solches Recht unabding- möglich sind, bedarf es hierfür keines eigenen Gesetzge- bar eingeräumt, wäre die Grundlage dafür geschaffen, bungsverfahrens. dass Wissenschaftler mit der Zweitveröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse eine allgemein zugängliche Wis- Zum anderen sprechen auch inhaltliche Argumente sensdatenbank ohne Bezahlschranken aufbauen könnten. gegen ein obligatorisches Zweitverwertungsrecht: Ein Es wäre ein großer Schritt auf dem Weg zur Förderung solches Zweitverwertungsrecht würde die Nutzungs- (B) und Durchsetzung von Open-Access-Publikationen. (D) rechte desjenigen beschneiden, dem der Urheber zuvor eben jene Nutzungsrechte eingeräumt hat. Mit anderen Der Entwurf der SPD steht im Einklang mit den Forde- Worten: Wenn sich ein Autor bewusst zur Veröffentli- rungen des Bundesrates und der Allianz der Wissenschafts- chung seines Beitrags in einem Verlag entscheidet, dann organisationen, die beide seit 2006 beziehungsweise darf der Verlag nicht einer gesetzlich angeordneten Kon- Sommer 2010 die Einführung eines Zweitverwertungs- kurrenz ausgesetzt werden, sondern dann müssen die rechts vorschlagen. Auch wird die Zweitverwertung expli- vertraglichen Vereinbarungen in Bezug auf die Nut- zit als Recht des Urhebers und nicht als Pflicht ausgestaltet. zungsrechte grundsätzlich Bestand haben. Ein obligato- Das sollte mit der gängigen Rechtsauslegung der Wissen- risches Zweitverwertungsrecht im deutschen Recht schaftsfreiheit kompatibel sein, die interpretiert wird als würde darüber hinaus zu einer Wettbewerbsverzerrung „Freiheit der Wissenschaftler, über die Art und Weise der zulasten deutscher Verlage führen. Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse zu entschei- den“. Abschließend sei Ihnen gesagt, dass der von der SPD angestrebte Erfolg mit der Schaffung eines solchen Um es ganz klar und deutlich zu sagen: Die Einfüh- Zweitverwertungsrechts keineswegs gesichert wäre; rung eines Rechts auf Zweitveröffentlichung stärkt die denn das Zweitverwertungsrecht gäbe den Wissenschaft- Urheber. Kein Verlag darf von ihnen verlangen, alle Ver- lern nur das Recht zur Zweitveröffentlichung. Kein Wis- öffentlichungsrechte exklusiv und auf Dauer abzutreten. senschaftler wäre aber gezwungen, sich um eine solche Dennoch geht der Entwurf der SPD an einigen Stellen Veröffentlichung zu bemühen und sein Zweitverwer- nicht weit genug. Es ist mir nicht ersichtlich, warum das tungsrecht auch tatsächlich auszuüben. Zweitverwertungsrecht nur für Beiträge in Sammelwer- Um die Zweitverwertung zu gewährleisten, wären ken und Periodika gelten soll. Auch Monographien wie deshalb ergänzende Regelungen in den Bedingungen für Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften werden aus die Vergabe von Fördergeldern erforderlich, mit denen öffentlichen Mitteln gefördert. Warum muss ein Zweit- der Wissenschaftler zur Zweitverwertung verpflichtet verwertungsrecht, das zweifelsfrei dringend benötigt wäre. Eine solche Pflicht wäre urheberrechtspolitisch be- wird, an den § 38 gekoppelt sein, der sich auf Sammel- denklich, weil sie dem Grundsatz widerspricht, dass al- werke beschränkt? lein der Urheber über das Ob und das Wie einer Veröf- Auch die unterschiedlichen Embargofristen bei Erst- fentlichung seiner Werke entscheidet. und Zweitverwertung mit sechs beziehungsweise zwölf Aus diesen Gründen wird die FDP-Bundestagsfrak- Monaten erschließen sich mir noch nicht. Warum sieht tion den vorliegenden Gesetzentwurf nicht unterstützen. der Entwurf im Vergleich zum bestehenden § 38 Abs. 1 11474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011

(A) die Verkürzung auf ein halbes Jahr nur bei Periodika, nen Widerspruch zu einer vorhandenen Kostenbarriere (C) nicht aber bei Sammelwerken vor? Ist eine Embargofrist für die Nutzerinnen und Nutzer dieser Ergebnisse. Kein überhaupt nötig, oder könnten wir nicht etwa auf For- Wunder also, dass die Forderung nach Open Access, matgleichheit der Zweitpublikation verzichten und dafür nach kostenfreiem Zugang zu wissenschaftlichen Veröf- die Embargofristen deutlich verkürzen oder weglassen? fentlichungen für die Nutzerseite, nicht nur international immer mehr um sich greift, sondern in unterschiedlicher Nicht zuletzt erscheint mir die Beschränkung des Weise und auf unterschiedlichen Wegen bereits prakti- Zweitverwertungsrechts auf nichtkommerzielle Publika- ziert wird. Dies reicht von anderen Bezahlmodellen, die tionen problematisch. Geschäftsmodelle wie „Hybrides nicht die Nutzerinnen und Nutzer belasten, über wissen- Publizieren“, bei dem nur die digitale Version der Publi- schaftsgeleitete Open-Access-Plattformen bis zur Ver- kation frei zugänglich ist, der Kauf des gedruckten pflichtung der Open-Access-Veröffentlichung im Werks aber kostenpflichtig ist, werden so schwieriger Zusammenhang mit der öffentlichen Forschungsfinan- durchzuführen sein. zierung. Nicht nur die Forderung nach, sondern auch die Das von der SPD verfolgte richtige Ziel, durch die Umsetzung von Open Access im Wissenschaftsbereich Einführung eines Zweitverwertungsrechts Open-Access- hat in letzter Zeit unübersehbar an Dynamik gewonnen. Publikationen zu erleichtern und zu fördern, wird so teil- Wir sind dafür, diesen Prozess auch politisch zu unter- weise gefährdet. stützen. Dies ist übrigens ein Punkt, den es generell zu beden- Bei dieser Entwicklung spielt sicher auch eine Rolle, ken gilt: Ein Zweitverwertungsrecht erleichtert Open dass nicht nur die Nutzerinnen und Nutzer ein Interesse Access. Eine umfassende Open-Access-Strategie ist da- an einem möglichst barrierefreien Zugang haben, son- mit aber nicht erreicht. Damit ein offener Zugang zu dern auch die Verfasserinnen und Verfasser wissen- wissenschaftlichen Publikationen in der Breite möglich schaftlicher Beiträge diese möglichst breit mit der wis- wird, muss Open Access als Nutzungsrecht verstanden senschaftlichen Community teilen möchten. Viele werden. Davon würden auch Wissenschaftler bei ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fühlen sich Recherche profitieren; sie sollten dann aber gegebenen- von den wissenschaftlichen Verlagen zunehmend ausge- falls zur Open-Access-Publikation ihrer Ergebnisse ver- beutet, weil ein Großteil der Arbeit für die elektronische pflichtet werden. Dass dies im vorgegebenen rechtlichen Publikationsfähigkeit von den Autorinnen und Autoren Rahmen viel schwieriger umzusetzen ist als der von der selbst erbracht werden muss. Auch die notwendigen SPD vorgeschlagene erste Schritt, ist mir bewusst. Wir Peer-Review-Verfahren werden in der Regel kostenlos sollten dennoch hier nicht stehen bleiben. von der Scientific Community selbst geleistet. Gleich- zeitig werden den Autorinnen und Autoren alle oder fast (B) (D) Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die alle Rechte an ihren eigenen Beiträgen genommen. Viele Entwicklung des Internets und der neuen IuK-Techniken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machen heute haben auch die Arbeit im Wissenschaftsbereich revolu- geltend, dass diese Quasi-Enteignung in keinem ange- tioniert. messenen Verhältnis zu den tatsächlich erbrachten Leis- tungen der Verlage steht. Für viele Aspekte der wissenschaftlichen Praxis, von der wissenschaftlichen Recherche über die Kommentie- Gleichzeitig gibt es aber auch die Warnung vor einem rung bis zum internationalen Diskurs, ergeben sich möglichen Verlust von Publikationsmöglichkeiten, wenn enorm erweiterte und beschleunigte Möglichkeiten. Der die Arbeit von Verlagen nicht mehr angemessen hono- leichtere und schnellere Zugang zu den Ergebnissen wis- riert würde oder es in der Folge der Open-Access-Bewe- senschaftlicher Arbeit bringt positive Impulse für den gung zu einem noch stärkeren Konzentrationsprozess Fortschritt in der Wissenschaft und den Erkenntnisge- kommen sollte. Gerade in den Fachrichtungen, in denen winn. die Buchform immer noch eine gewisse Bedeutung hat, wird vor dem Verschwinden kleiner spezialisierter Ver- Es ist nur konsequent, Zugangsbarrieren im Bereich lage gewarnt. der Wissenschaft nicht nur im Bereich der technischen Verfügbarkeit abzubauen, sondern auch Zugangsbarrie- Der Überlegung, dass die realen Verlagsleistungen ren im Bereich der Kosten zu hinterfragen. Gerade da, vergütet werden sollten, trägt der sogenannte goldene wo wissenschaftliches Arbeiten und Forschen öffentlich Weg Rechnung. Dabei wird die Leistung des Verlages finanziert wird, ist es nicht einsehbar, dass die Allge- durch die Autorinnen und Autoren bzw. deren Institutio- meinheit für den Zugang zu den Ergebnissen dieser Ar- nen finanziert und nicht durch die Nutzerinnen und Nut- beiten noch einmal bezahlen soll. zer. Große Wissenschaftsorganisationen wie die DFG Viele Bibliotheken konnten sich schon in der Vergan- stellen dafür Publikationszuschüsse zur Verfügung. genheit viele internationale Journale mit hoher wissen- Durch den goldenen Weg sind inzwischen große Open- schaftlicher Reputation kaum noch leisten, und die Kos- Access-Plattformen bedeutender internationaler wissen- ten für die öffentliche Hand im Zusammenhang mit der schaftlicher Verlage in verschiedenen Spezialrichtungen Anschaffung wissenschaftlicher Publikationen sind zu- entstanden. Dieser Weg entlastet zwar die Nutzerinnen nehmend explodiert. und Nutzer, beinhaltet aber nach wie vor die Gefahr der Überforderung der öffentlichen Hand, die für die Kosten Die schnelle und leichte elektronische Verfügbarkeit der wissenschaftlichen Arbeit an Hochschulen und For- von wissenschaftlichen Arbeiten tritt zunehmend in ei- schungseinrichtungen ja im Regelfall schon aufkommt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11475

(A) Eine andere Möglichkeit des Open Access ist der so- lich mit den Vor- und Nachteilen dieses Vorschlages und (C) genannte grüne Weg, das heißt die kostenlose elektroni- auch mit den anderen Wegen zum Open Access befas- sche Zweitveröffentlichung nach einer vereinbarten sen. Denn es gibt da doch einige wichtige Fragen. Die Embargofrist ergänzend zur Verlagsversion, zum Bei- vorgeschlagene Änderung stärkt zwar die Rechte der spiel auf einem fachspezifischem Institutserver oder ei- wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren, enthält nem interdisziplinären Repository. aber nicht die Verpflichtung zur kostenlosen Veröffentli- Aus aktuellem Anlass möchte ich unterstreichen, dass chung, geht also weniger von den Interessen der Nutze- Open Access, also der kostenfreie Zugang, die jeweilige rinnen und Nutzer öffentlich oder überwiegend öffent- wissenschaftliche Veröffentlichung nicht zum Allge- lich finanzierter Forschung aus. meingut macht, sondern diese weiterhin nach den Maß- Wie weit ist die Reichweite des deutschen Urheber- gaben wissenschaftlicher Redlichkeit als die wissen- rechts in einem Bereich, wo das Publikationsgeschehen schaftliche Leistung ihrer Verfasserinnen und Verfasser zu behandeln ist. international ist, die größten Verlage sich im Ausland be- finden und wissenschaftliche Ergebnisse oft von Wissen- Um Open Access zu garantieren, ohne die öffentliche schaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedli- Hand alleine mit den Verlagskosten zu belasten, wird in- chen Staaten in Kooperation erbracht werden? Sind die ternational die Pflicht zur Open-Access-Veröffentli- vorgeschlagenen Embargofristen bei der Zweitveröffent- chung haushalts- oder vertragsrechtlich zunehmend lichung für die unterschiedlichen Bedürfnisse im Wis- schon mit der Bewilligung von öffentlichen Forschungs- senschaftsbereich differenziert genug? Wie wären die mitteln verbunden. In den USA wird eine entsprechende Auswirkungen auf Publikationsmöglichkeiten im Be- Gesetzesinitiative diskutiert. Die EU hat dieses Verfah- reich der Geisteswissenschaften zum Beispiel bei kleine- ren erprobt und will es zukünftig ausweiten und zum Re- ren spezialisierten Verlagen? Welche Auswirkungen gelfall machen. könnte die Grenze der mindestens hälftigen öffentlichen Die Verankerung eines Zweitverwertungsrechts im Finanzierung für öffentlich-private Forschungskoopera- § 38 a des Urheberrechtsgesetzes, wie die SPD es heute tionen haben? Ist der § 38 a des Urheberrechts geeignet vorschlägt, würde zweifellos in der Open-Access-Szene für die Weiterentwicklung von Open Access in einem und Teilen der Scientific Community als starkes Signal nach wie vor lernenden System, das noch sehr im Um- gewertet. Trotzdem sollten wir uns vor einer endgültigen bruch ist? Diesen Fragen sollten wir im Ausschuss nach- Festlegung auf dieses Instrument im Ausschuss gründ- gehen, gerne auch unter Hinzuziehung von Experten.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980