50. Jahrgang • Januar/Februar 1999 • ISBN 3-928561-82-0 • ISSN 0032-3462

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen POLITISCHE STUDIEN 363

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit Valentin Doering, Leiter des Katholischen Büros Bayern

Wulfdiether Zippel Der Euro als Leitwährung – Ein Vergleich mit Dollar und Yen

Paul Fischer Aktuelle Aspekte der bayerisch- französischen Beziehungen

Christian Deubner Frankreich in der Osterweiterung der EU,1989 bis 1997

Schwerpunktthema: Neue Bürger- und Sozialkultur mit Beiträgen von

Helmut Klages, Anton Rauscher und Walter Reese-Schäfer

Hanns Seidel Stiftung eV Atwerb-Verlag KG Hanns Seidel Stiftung eV

Herausgeber: tronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder Hanns-Seidel-Stiftung e.V. verbreitet werden. Redaktionelle Zuschriften wer- Vorsitzender: Alfred Bayer, Staatssekretär a.D. den ausschließlich an die Redaktion erbeten. Hauptgeschäftsführer: Manfred Baumgärtel Verantwortlich für Publikationen, Presse- und Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbedingt Öffentlichkeitsarbeit: Burkhard Haneke die Meinung der Redaktion wieder; die Autoren tragen für ihre Texte die volle Verantwortung. Redaktion: Unverlangt eingesandte Manuskripte werden nur Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur) zurückgesandt, wenn ihnen ein Rückporto beiliegt. Paula Bodensteiner (Redakteurin) Verena Hausner (Redakteurin) Bezugspreis: Einzelhefte DM 8,80. Irene Krampfl (Redaktionssekretärin) Jahresabonnement DM 53,40. Für Studierende 50% Abonnementnachlaß gegen Vorlage eines Anschrift: Hörerscheins ihres Instituts. Redaktion POLITISCHE STUDIEN Die Zeitschrift POLITISCHE STUDIEN erscheint Hanns-Seidel-Stiftung e.V. im Periodikum, Sonderheft und Sonderdruck. Lazarettstraße 33 Bestellungen nehmen entgegen: Die Redaktion 80636 München und alle Buchhandlungen. Telefon 089/1258-260/261 Telefax 089/1258-469 Kündigungen müssen der Redaktion schriftlich, spätestens zwei Monate vor Ablauf des Kalender- Alle Rechte, insbesondere das Recht der Verviel- jahres vorliegen, wenn der Bezug über das fältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, laufende Jahr hinaus nicht mehr gewünscht wird. vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Re- daktion reproduziert oder unter Verwendung elek- ATWERB-VERLAG KG Publikation © Inhalt

Reinhard C. „Annus horribilis“ für Deutschlands Meier-Walser Glaubwürdigkeit im westlichen Bündnis ...... 3

Valentin Doering POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit dem Leiter des Katholischen Büros Bayern...... 7

Schwerpunktthema: Neue Bürger- und Sozialkultur

Alfred Bayer Ansatzpunkte für eine neue Bürger- und Sozialkultur ...... 19

Anton Rauscher Wohin treibt uns unsere Sozialkultur? ...... 21

Walter Reese-Schäfer Kommunitarische Politik in Deutschland – Ein Überblick ...... 33

Helmut Klages Bürgerschaftliches Engagementpotential...... 46

Wulfdiether Zippel Der Euro als Leitwährung – Ein Vergleich mit Dollar und Yen...... 61

Paul Fischer Aktuelle Aspekte der bayerisch- französischen Beziehungen...... 78

Christian Deubner Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 ...... 89 Im Dialog Anmerkungen zu: Reinhard C. Meier- Walser, Politischer Realismus im Denken und Handeln – theoriebildende Elemente im außenpolitischen Werk von Franz Josef Strauß in POLITISCHE STUDIEN 361...... 122

Das aktuelle Buch ...... 125

Buchbesprechungen ...... 127

Autorenverzeichnis ...... 140 „Annus horribilis“ für Deutschlands Glaubwürdigkeit im westlichen Bündnis

Reinhard C. Meier-Walser

Die Notwendigkeit einer Koordinie- Ausland ist es so besorgniserregend, rung der atlantischen und der europäi- daß die rot-grüne Bundesregierung schen Beziehungen zieht sich wie ein bereits nach 100 Tagen einen außen- Roter Faden durch die Diplomatiege- und sicherheitspolitischen Scherben- schichte der Bundesrepublik Deutsch- haufen produziert hat, der Deutsch- land. Dies war nicht immer einfach lands Glaubwürdigkeit im Kreise der und es gab sogar Momente, in denen westlichen Partner nachhaltig erschüt- sich die Regierung in Bonn mit dem tert. Problem konfrontiert sah, zwischen Washington, dem existentiell bedeut- Der Regierung Gerhard Schröders, der samen Partner in der Sicherheitspo- bekanntlich „nicht alles anders, aber litik, und Paris, dem wichtigsten Part- vieles besser“ machen wollte als ner in der Europapolitik, wählen zu sein Vorgänger Helmut Kohl, ist es müssen. innerhalb weniger Wochen gelungen, Washington, Brüssel sowie die gesamte Das Ende der Ost-West-Konfrontation, NATO zu verprellen (Diskussion um die deutsche Einheit und die Fort- den „Ersteinsatz“ von Atomwaffen) schritte der Europäischen Integration und die wichtigsten westeuropäischen haben eine Abstimmung zwischen Partner Deutschlands – Frankreich und amerikanisch-atlantischen und euro- Großbritannien – gegen Bonn aufzu- päischen Beziehungen für die Bundes- bringen (Atompolitik). Diplomatie der republik erheblich einfacher gemacht. „Neuen Mitte“ – man könnte auch Dank der kontinuierlichen Bemühun- sagen: Diplomatie zwischen allen gen der Regierung Kohl um eine In- Stühlen. tensivierung des atlantisch-europäi- schen Beziehungsgefüges vertiefte sich auf beiden Seiten des Atlantiks auch „Pacta sunt servanda“ oder das Bild Deutschlands als verläßlicher „force majeure“? und glaubwürdiger Partner. Der Irritation und Verärgerung in Paris Gerade vor diesem Hintergrund und und London über das von Bundesum- angesichts des von langer Hand aufge- weltminster Jürgen Trittin angekün- bauten Vertrauens Deutschlands im digte Ende der Wiederaufbereitung ver-

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 4 Reinhard C. Meier-Walser brauchter Brennstäbe aus deutschen re Gewalt“ (force majeure), daß die Re- Kernkraftwerken in Frankreich und gierung in Bonn gewechselt habe, und Großbritannien folgten ebenso knappe im übrigen halte er diese Abmachun- wie klare Botschaften an die Adresse gen der ehemaligen Bundesregierung der Bundesregierung. Wenn Deutsch- für rechtlich unverbindlich. land den Atomausstieg wolle, dann müsse es ihn auch selbst bezahlen. Mit Mit dieser Brüskierung Frankreichs anderen Worten: Deutschland müsse und Großbritanniens hat der grüne mit Entschädigungsforderungen in Umweltressort-Chef, der in der inter- Milliardenhöhe rechnen.1 nationalen Presse bereits als „Grüner Khmer“ bezeichnet wird, die zwei Die Pflicht, Abmachungen einzuhal- wichtigsten Partner Deutschlands in ten (pacta sunt servanda), gehört zu der Europäischen Union verärgert, den ältesten und vornehmsten Nor- deren Unterstützung die Bundesregie- men außenpolitischen Handelns. So rung gerade während der deutschen sollte es auch mit den Abmachungen EU-Ratspräsidentschaft dringend be- Deutschlands mit Großbritannien und nötigt. Trittin hat aber nicht nur kon- Frankreich aus den Jahren 1990 und traproduktiv agiert, sondern auch 1991 sein, in denen die Regierungen außenpolitisches Porzellan in einem der drei Staaten damals vereinbart hat- bislang präzedenzlosen Ausmaß zer- ten, die Erfüllung der zwischen deut- schlagen, wie die besorgte Stimme schen Kernkraftwerksbetreibern und des Pariser Korrespondenten der Süd- französischen und britischen Atom- deutschen Zeitung deutlich macht: müll-Wiederaufbereitungsfirmen (Co- „Das positive Deutschland-Bild, das in gema in La Hague und British Nuclear Jahrzehnten aufgebaut wurde, hat Fuels in Sellafield) geschlossenen wohl kein einziger, der je im Namen Kooperationsverträge nicht zu verhin- der Bundesrepublik auftrat, so sehr be- dern. Daß es sich bei dieser Abma- schädigt wie Umweltminister Jürgen chung eindeutig um einen völker- Trittin.“3 rechtlichen Vertrag handelt, der „nicht nur die Regierungen bindet, sondern auch die Staaten“, wurde vor kurzem NATO-Strategie: „Erstschlag“ von einer Reihe namhafter Rechtswis- oder „Ersteinsatz“? senschaftler, darunter u.a. Jochen A. Frowein, Direktor des Max-Planck- Schaden hat das Ansehen Deutsch- Institutes für ausländisches öffent- lands zweifellos auch durch die eben- liches Recht und Völkerrecht in Hei- so unnötige wie törichte Infragestel- delberg, zweifelsfrei festgestellt.2 lung der nuklearen Ersteinsatz-Option der NATO durch Trittins Parteifreund In seinem Bestreben, den deutschen Joschka Fischer erlitten. Aus den Reak- Atom-Ausstieg im Hau-Ruck-Verfahren tionen der Regierung in Washington durchzuboxen, wollte sich Umwelt- und der NATO-Zentrale in Brüssel wur- minister Trittin aber durch das Völker- de unmißverständlich deutlich, daß recht nicht bremsen lassen. Es sei die Initiative des deutschen Außen- eben, so erklärte er seinen Minister- ministers einen dunklen Schatten auf kollegen in Paris und London, „höhe- den NATO-Gipfel Ende April wirft. „Annus horribilis“ für Deutschlands Glaubwürdigkeit 5

Die führenden Vertreter der Mitglieds- Option auf die Koalitionsvereinbarung staaten der Nordatlantikpakt-Organi- zwischen SPD und Bündnis 90/Die sation kommen zu diesem Zeitpunkt Grünen, in der es in Kapitel VI, Ab- in Washington zusammen, um das schnitt 6 („Abrüstung und Rüstungs- 50jährige Bestehen der NATO dort zu kontrolle“) heißt, die Bundesregierung feiern, wo der Nordatlantikvertrag werde sich „für den Verzicht auf den 1949 unterzeichnet worden war. Am Ersteinsatz von Atomwaffen einset- Rande des Gipfels, an dem erstmals die zen“. Diese Berufung auf den Koali- Tschechische Republik, Ungarn und tionsvertrag verstärkte nicht nur hier- Polen als Mitglieder teilnehmen wer- zulande, sondern auch in Washington den, wird die Allianz ein neues „Stra- und anderen Metropolen der west- tegisches Konzept“ vorstellen, das als lichen Bündnispartner Deutschlands Plan für die Zukunft des Bündnisses den Eindruck, daß bei der Abfassung gilt und die Vorbereitung der NATO des sicherheitspolitischen Teils dieses auf die strategischen Gegebenheiten Vertrages „weitgehend die Grünen die und sicherheitspolitischen Herausfor- Feder führten“6 und die Verteidigungs- derungen des 21. Jahrhunderts doku- politik Deutschlands ungeachtet der mentiert. Kontinuitätsbeteuerungen Gerhard Schröders und Rudolf Scharpings ein Bei der Verabschiedung des Strategi- grünes Profil besitze. Dies weckte ins- schen Konzepts auf diesem in mehr- besondere bei den amerikanischen facher Hinsicht als historisch zu be- Bündnispartnern und in Brüssel die zeichnendem NATO-Gipfel wird die Erinnerung an den Magdeburger Par- Option eines nuklearen Ersteinsatzes teitag vom März vergangenen Jahres, von Atomwaffen aller Wahrscheinlich- als die – sich damals noch in der Op- keit nach beibehalten, denn nukleare position befindenden – Bündnisgrü- Kräfte, so der Verteidigungsplanungs- nen sich insbesondere ihrer außen- ausschuß der NATO vor kurzem, „spie- und sicherheitspolitischen Konzeptio- len eine einzigartige und wesentliche nen wegen als Sicherheitsrisiko für die Rolle in der Kriegsverhinderungsstrate- Bundesrepublik und das atlantische gie des Bündnisses. Ihre Präsenz sorgt Bündnis präsentierten. Hinter den da- dafür, daß ein potentieller Angreifer im maligen Forderungen, die NATO auf- ungewissen darüber bleibt, wie die zulösen, die Wehrpflicht abzuschaffen Bündnispartner auf einen Angriff rea- und die Bundeswehr zu halbieren, ver- gieren würden.“4 Der Vorsitzende des birgt sich ein gefährlicher, von einer NATO-Militärausschusses und damit radikal-pazifistischen Ideologie getra- ranghöchster Soldat des Bündnisses, gener Gesinnungsdogmatismus im General Klaus Naumann, ergänzte: „Es Sinne eines deutschen Sonderweges. darf keine Gewißheit über die Reaktion der NATO in einem Konflikt geben, Daß die Kraft der pazifistischen Ideo- denn es ist die Ungewißheit über das logie in den Reihen der Grünen eigene Risiko, das Frieden erhält und nach wie vor ungebrochen ist, belegen Krieg verhindert.“5 jüngst die Absage des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer, Außenminister Fischer berief sich in an Landesverteidigung schlechthin seiner Infragestellung der Ersteinsatz- (stehende Heere seien nicht mehr zeit- 6 Reinhard C. Meier-Walser gemäß) ebenso wie die Infragestel- sche, chemische und nukleare Waffen lung der NATO-Nuklear-Doktrin durch gefährdet ist. Außenminister Fischer. Die Diskussion um den nuklearen Ersteinsatz hat im Von Fischers Alleingang in Sachen übrigen – und auch das ist den Part- Ersteinsatz-Option kann eigentlich nur nern in Washington und Brüssel nicht überrascht gewesen sein, wer sich mit verborgen geblieben7 – gezeigt, daß in der außen- und sicherheitspolitischen den Reihen der Grünen „Erstschlag“ Programmatik der Grünen nicht be- und „Ersteinsatz“ nuklearer Waffen faßt hat. Das „eigentlich Entsetzliche“ offensichtlich mitunter verwechselt an Fischers Vorstoß, so CDU-Chef werden – beileibe keine semantische Wolfgang Schäuble, war, daß die So- Marginalie, sondern eine konzeptio- zialdemokraten „erst durch die inter- nelle Unterscheidung von großer Trag- nationalen Reaktionen begriffen ha- weite. ben, was sie da im Koalitionsvertrag unterschrieben haben“8. Eine nukleare „Erstschlagsoption“ („first strike“) hat die NATO, die als defen- Der politische Schaden, den Mitglieder sives Bündnis Waffen ausschließlich der Bundesregierung in den wenigen zur Selbstverteidigung einsetzt, zu Monaten seit ihrem Amtsantritt im keinem Zeitpunkt ihres Bestehens je- Kreise der westlichen Partner angerich- mals in Erwägung gezogen. Die Option tet haben, ist immens. Während 1999 eines „Ersteinsatzes“ („first use“) von ein historisches Jahr für die NATO ist, Atomwaffen als ultima ratio dient der die den 50. Jahrestag ihrer Gründung Aufrechterhaltung der Lückenlosigkeit feiert, und während die Bonner Regie- des atomaren Abschreckungsspektrums. rung sich ambitiöse Projekte für die Die NATO kann auf die Option des deutsche Ratspräsidentschaft in der Eu- „Ersteinsatzes“ von Atomwaffen, wo- ropäischen Union vorgenommen hat, durch das Angriffsrisiko für jeden besteht die Gefahr, daß dieses Jahr potentiellen Angreifer unkalkulierbar sich als „annus horribilis“ für die wird, nicht verzichten, solange die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Staatengemeinschaft sowohl durch im Kreise der westlichen Partner ent- konventionelle als auch durch biologi- wickelt.

Anmerkungen 1 Vgl. Green Mischief. If Germany wants an zember 1998. Abgedruckt in: Stichworte end to nuclear power, it must pay the zur Sicherheitspolitik, hrsg. vom Presse- price. In: The Times, 25. Januar 1999. und Informationsamt der Bundesregie- 2 Vgl. Trittin in der Gesetzesfalle. In: FOCUS, rung, Dezember 1998, S. 52 – 54. Nr.4, 25. Januar 1999, S. 30. 5 Zitiert nach: DIE WELT, 14. Januar 1999. 3 Rudolph Chimelli: Bonner Ellbogen- 6 Rudolph Chimelli: Bonner Ellbogen- Diplomatie. In: Süddeutsche Zeitung, 30./ Diplomatie, a.a.O.. 31. Januar 1999. 7 Information des Verfassers im Gespräch 4 Kommuniqué der Ministertagung des Ver- mit amerikanischen Experten. teidigungsausschusses und der Nuklearen 8 Wolfgang Schäuble im Interview mit der Planungsgruppe der NATO, Brüssel, 17. De- WOCHE, 29. Januar 1999. POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit dem Leiter des Katholischen Büros Bayern Valentin Doering

Prälat Dr. Valentin Doering wurde am 4. Mai 1941 in München geboren. Nach der Priesterweihe 1969 übte er Tätigkeiten u.a. als Kaplan, Studentenpfarrer, Universitätsassistent und Lektor aus. 1976 übernahm er Aufgaben im Seelsorgeamt des Erzbistums Bamberg, ab 1978 als Stellvertreter des Seelsorgeamtsleiters. 1983 wurde er zum Leiter der Hauptabteilung Seelsorge des Erzbistums berufen. Im März 1990 ernannte ihn Johannes Paul II. zum Päpst- lichen Ehrenprälaten. Seit 1994 leitet Valentin Doering das Ka- tholische Büro Bayern, die „Schnittstelle“ zwischen Kirche und Staat in Bayern. Im Mai 1994 wurde er Mitglied im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks, seit Mai 1998 ist er Vorsitzender des Fernsehausschusses im BR-Rundfunkrat.

POLITISCHE STUDIEN: Im Zuge des Regierungswechsels nach der Bundes- tagswahl 1998 wurden von kirchlicher Seite Befürchtungen laut, daß unter der neuen rot-grünen Bundesregierung die christlichen Glaubensgemeinschaf- ten staatlicherseits nun möglicher- weise (noch) weniger ernst genommen und nur mehr als „eine unter vielen“ gesellschaftlichen Gruppen betrachtet und zurückgedrängt werden könnten. Wie ernst muß man solche Besorgnisse nehmen, und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Verweige- rung der Bezugnahme auf Gott beim Amtseid durch die Hälfte des neuen Bundeskabinetts?

Valentin Doering: Der moderne Staat ist in seinem Selbstverständnis weltan- Prälat Dr. Valentin Doering, schaulich, d.h. auch religiös neutral. Leiter des Katholischen Büros Bayern Das heißt, daß er nicht die Auffassun-

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 8 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch gen einer Religion oder Weltanschau- vatsache, wenn nicht gar um eine in ung zur „Staatsreligion“ oder „Staats- meinen Augen ebenso fragwürdige ideologie“ erklären kann und darf. Dies Rücksichtnahme auf fehlende religiöse meint aber nicht, daß er „wertfrei“ sei, Bindung bei bestimmten Wählerinnen also in seinen Grundlagen und Ent- und Wählern. In jedem Fall aber ent- scheidungen von keinerlei Wertvorstel- steht die drängende Frage, wie die lungen geprägt oder geleitet werde. Ein erwähnten Regierungsmitglieder mit solcher Staat ist nicht nur theoretisch dem in der Verfassung verankerten Be- unvorstellbar, sondern auch praktisch griff „Gott“ umgehen und wie sie eine nicht gestaltbar: Irgendeine Wertent- letztgültige Verbindlichkeit ethisch-po- scheidung – unausgesprochen oder wie litischen Handelns, die für die Politik bei der derzeitigen Bundesregierung bei aller notwendigen Pragmatik un- immer öfters direkt ausgesprochen – verzichtbar ist, begründen. Ich sehe in liegt jeglichem staatlichem Handeln zu der Weglassung der Bezugnahme auf Grunde. Unter dieser Rücksicht ent- Gott beim Amtseid keine Rechtferti- steht für den Staat die Frage, ob er auf gung, einen persönlichen „Vorwurf“ die Religionsgemeinschaften und de- wegen mangelnden oder fehlenden ren Welt- und Lebensdeutung hinsicht- konfessionell gebundenen Glaubens lich seines Selbstverständnisses und zu erheben, ich sehe aber allen Grund Ordnungsauftrags zur Gestaltung des dafür, die Frage zu bedenken, welcher Gemeinwesens und zur Verwirklichung Wertekonsens für ein humanes Staats- des Gemeinwohls verzichten will und wesen unabdingbar notwendig ist. kann. Die Frage, in welchem Maß eine Regierung Glaubensgemeinschaften POLITISCHE STUDIEN: Das schlechte ernst nimmt, hängt allerdings auch da- Gesamtergebnis für CDU und CSU bei von ab, in welcher Weise sich Glau- der Bundestagswahl hat auch zur Fol- bensgemeinschaften, hier konkret die ge gehabt, daß nun – wie es scheint – katholische Kirche, selbst ernst neh- noch intensiver darüber nachgedacht men und sich als einen Faktor zur wird, ob nicht eine stärkere program- Gestaltung staatlicher Ordnung und matische und inhaltliche Profilierung gesellschaftlichen Zusammenlebens in not täte. Dabei wurde und wird die Wort und Tat einbringen. Forderung laut, daß es gelte, gerade auch das „C“ im Namen der beiden Die Verweigerung der Bezugnahme auf Unionsparteien wieder stärker transpa- Gott beim Amtseid durch einen be- rent zu machen. Wie stark vermag das deutenden Teil der Mitglieder des neu- „C“ in der Politik aber überhaupt noch en Kabinetts weist entweder darauf zu faszinieren und zu binden? hin, daß die betreffenden Personen mit dem Begriff „Gott“ für sich keine Sind durch die fortschreitende Säkula- existentiell bedeutsame Wirklichkeit risierung unserer Gesellschaft nicht ge- verbinden oder daß sie diese nicht radezu Fundamente einer christlichen nach außen in einer Bekenntnisformel Volkspartei bedroht? Könnte das „C“ kundtun wollen. Somit könnte es sich im Namen einer politischen Partei entweder um eine religiöse Bekennt- nicht am Ende zu einer Art Hypothek nisscheu handeln oder um die frag- bezüglich der Wählerakzeptanz wer- würdige Auffassung, Religion sei Pri- den? POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 9

Valentin Doering: Das „C“ im Namen tiert wie menschenbezogen die immer und in der Programmatik einer Partei vorhandene Spannung zwischen Ein- will ein bestimmtes Politikprofil aus- zelwohl und Gemeinwohl in politischer drücken, das durch das christliche Verantwortung auspendeln lassen. Weltbild und Menschenverständnis bestimmt ist. Das Weltbild des „C“ ist Nicht zuletzt liegt die Faszinationskraft wesentlich geprägt durch den Glauben des „C“ in überzeugenden Personen, an einen personalen Gott, der die Welt die in glaubwürdiger Rede und in ins Dasein setzte und sich während des der Relativierung des eigenen Macht- Verlaufes von Zeit und Geschichte anspruchs entschiedenen politischen nicht als „unbeteiligter Erstbeweger“ Handlungswillen zeigen, aber zugleich aus ihr zurückgezogen hat, sondern in dialogisch und sensibel zu Werke ge- der Dramatik von Welt und Geschich- hen. Die tatsächlich nicht zu leugnen- te weiterhin wirksam ist. Das damit an- de fortschreitende Säkularisierung in gesprochene Menschenbild meint ins- unserer Gesellschaft erschwert den besondere die in Verantwortung vor Zugang zu diesem Politikverständnis, sich selbst, den Mitmenschen und macht aber eine christliche Standort- letztendlich vor Gott wahrgenomme- bestimmung in keiner Weise überflüs- ne Freiheit. Sicher wäre es ein Mißver- sig. Gerade hochrationalisierte und ständnis, einer Partei, die das „C“ in durchstrukturierte Gesellschaften, die ihrem Namen trägt, den Anspruch zu- für totalitäre Tendenzen unterschied- zuschreiben, für die Ordnung der „letz- licher Art besonders anfällig sind, be- ten Dinge“ sich zuständig zu wissen. dürfen einer ethischen Politikbegrün- Doch kann nicht davon abgesehen dung, die außerhalb ihrer selbst liegt. werden, daß die politische Gestaltung Dies bedeutet sicherlich eine hohe der „vorletzten Gegebenheiten“ in Anforderung, also mitunter schwere Staat und Gesellschaft in dem erwähn- „Hypothek“. Diese verbindet sich aber ten Weltanschauungs- und Glaubens- mit jedem deutlich formulierten zusammenhang angesiedelt ist. Die Standpunkt. faszinative Kraft des „C“ kann darin liegen, daß es erlaubt, ein realistisches POLITISCHE STUDIEN: Das grund- Menschenbild zu vertreten, das we- sätzliche Verhältnis zwischen Staat der in Resignation, Pessimismus oder und Kirche dürfte in Zukunft wohl gar Menschenverachtung hineinführt stärker in die Diskussion geraten. Ein noch zu schwärmerisch-utopischem besonders populärer und natürlich me- Denken verleitet. An beiden Fehlein- dienwirksamer Punkt ist dabei immer schätzungen der menschlichen Natur wieder die Frage nach dem deutschen litten und starben gerade in diesem Kirchensteuersystem. Wie ist dieses Jahrhundert ungezählte Menschen System – nicht zuletzt auf dem Hinter- und gingen ganze politische Welt- grund von Regelungen in anderen ver- systeme zugrunde. Die sich damit ver- gleichbaren Ländern – zu bewerten? bindende weitere faszinative Kraft Und könnte es nicht Gründe auch ergibt sich daraus, daß das „C“ ord- dafür geben, nach anderen Lösungs- nungspolitische Vorstellungen wie Per- modellen zur Finanzierung des kirch- sonalität, Subsidiarität und Solidarität lichen Lebens zu suchen? Und zwar entwickelt hat, die sowohl sachorien- Gründe sozusagen „von beiden Seiten“? 10 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch

Valentin Doering: Das Verhältnis von nicht absehen lassen und mit gutem Staat und Kirche beschränkt sich nicht Grund gesagt werden muß, daß das nur auf das Bezugssystem zwischen kirchliche Selbstverständnis nicht mit Kirche und amtierender Regierung, das einem bestimmten Finanzierungssy- sich zumindest für die katholische stem steht und fällt, so habe ich doch Kirche in Deutschland derzeit sehr den Eindruck, daß das Kirchensteuer- schwierig darstellt. Es umgreift viel- system in Deutschland die Interessen- mehr das dahinterstehende Verhältnis lagen von Staat und Kirche, also „von von Kirche und Gesellschaft. Dieses beiden Seiten“ trifft. stellt keine festgefügte statische Größe dar, sondern einen lebendigen, immer POLITISCHE STUDIEN: Gelegentlich in Bewegung befindlichen Prozeß. So- wird kritisiert, daß die Kirchen sich zu mit muß die Kirche immer wieder sehr in konkrete politische Fragen ein- ihren eigenen Standort in Politik und mischen. Eines der jüngsten Beispiele Gesellschaft bedenken und in Einzel- kirchlicher Wortmeldungen zu Staat, heiten eventuell Korrekturen des Be- Kirche und Gesellschaft ist etwa das ziehungssystems vornehmen. sozialpolitische Memorandum „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit“ der katholi- Das in Deutschland gehandhabte Kir- schen Kirche. Begeben sich die Kirchen chensteuersystem ist mitunter für mit öffentlichen Stellungnahmen die- Menschen, besonders jene, die aus ser Art nicht auf gewissermaßen sach- Ländern mit anderer Kirchenfinanzie- fremdes Territorium, wo eher ausge- rung kommen, in seiner strikten Ver- wiesene Experten der Sozial- und bindung von Kirchenzugehörigkeit Wirtschaftspolitik zu Rate gezogen und Abgabe der Kirchensteuer nicht werden sollten? Und vernachlässigt die immer leicht einzusehen. Es stellt aber Kirche nicht dabei gleichzeitig ihren einen Garant für die nicht gering ein- ureigensten Auftrag, nämlich die Glau- zuschätzende Verbindlichkeit und Zu- bensweitergabe und Verkündigung? verlässigkeit kirchlicher Verantwortung im weiten Bereich der Personalfürsor- Valentin Doering: Mit dieser Frage ge, des sozialen Dienstes, der Bildungs- wird ein wichtiges Problem des Selbst- und Erziehungsaufgaben und nicht zu- verständnisses der Kirche und somit letzt des Verkündigungsauftrags und ihrer Äußerungsweisen angesprochen. der vielfältigen Gottesdienstfeiern dar, Tatsächlich entsteht gegenwärtig der in denen ungezählte Menschen zuein- Eindruck, daß die „Kirche“ in Deutsch- ander finden und Gott begegnen. Ich land hinsichtlich ihrer Stellungnah- habe den Eindruck, daß dieses immer men und Verlautbarungen zu Fragen wieder aus unterschiedlichen Gründen von Politik und Gesellschaft kirchen- in die Diskussion gebrachte Kirchen- intern noch nicht zu einer eindeutigen steuersystem von der Mehrheit der Be- und klaren Aufgabenverteilung und völkerung als nützlich angesehen wird, Aufgabenkoordination gefunden hat. nicht zuletzt unter der Rücksicht, daß Man kann feststellen, daß sich die es von den Kirchen transparent gehal- Bischöfe in verstärktem Maß mit ge- ten und bewußt der Kontrolle von drit- sellschaftspolitischen Fragen befassen ter Seite unterzogen wird. Wenn sich und die in Räten und Verbänden zu- auch zukünftige Entwicklungen derzeit sammengeschlossenen Laien sich nach- POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 11

Prälat Dr. Doering im Gespräch mit Burkhard Haneke, Pressesprecher der Hanns-Seidel-Stiftung. drücklicher mit Fragen der Glaubens- die Gestaltung gesellschaftlicher Wirk- verkündigung auseinandersetzen. Nun lichkeit zur Aufgabe machen. Viel- wäre es ein grundsätzlicher Irrtum, an- leicht gelingt es im Blick auf mensch- zunehmen, Bischöfe und Priester sowie liches Verhalten und strukturelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gegebenheiten nicht immer deutlich der Seelsorge und Verkündigung hät- genug, im ordnungspolitischen Den- ten sich ausschließlich mit dem „Heils- ken und Handeln den Geist Gottes dienst“, also der Verkündigung des erfahrbar werden zu lassen und in der Wortes Gottes und den gottesdienst- Verkündigung des Wortes Gottes das lichen Feiern zu befassen, während die Drängen nach Umsetzung im alltäg- Laien auf den „Weltdienst“, also die lichen Leben, also auch in der Politik politische und soziale Ordnungsgestal- spürbar werden zu lassen. Es wäre tung verwiesen wären. Weltdienst und allerdings fatal, und die Kirche würde Heilsdienst sind einander so eng ver- sich langfristig überflüssig machen, bunden und bedingen sich zum Teil wenn sie ihren erstrangigen Auftrag gegenseitig, so daß eine strikte Tren- nicht mehr in der Weitergabe der ein- nung nicht nur praktisch unmöglich, zigartigen Botschaft des Lebens und sondern theologisch auch falsch wäre. Wortes Jesu Christi sähe, der die Offenbarung eines Gottes ist, der die Dennoch muß aber gesagt werden, freiheitliche Verantwortung des Men- daß es unterschiedliche Ämter, Aufga- schen erst ermöglicht. Darin also liegt ben und Kompetenzen – wir sprechen die spezifische Funktion der Kirche. hier von „Charismen“ – gibt, die einer- Sie hat keine gesellschaftliche „Ver- seits deutlicher den Dienst der Verkün- doppelungsfunktion“: Alles zu sagen digung und andererseits vorrangiger und zu tun, was bereits gesagt und ge- 12 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch tan wird, womöglich bis hin zur Ver- auch die nach Ehe und Familie, nur doppelung von Hoffnungslosigkeit. auf einem Werthintergrund entschei- den. So bedeutet das Bild, das die Kir- POLITISCHE STUDIEN: Gerne wird che von Ehe und Familie hat, daß angemahnt, daß die eine oder andere gleichgeschlechtlichen Lebensgemein- kirchliche Position „nicht mehr zeit- schaften diese Wertigkeit von Ehe gemäß“ sei. Insbesondere der katho- nicht zugesprochen werden kann. Dies lischen Kirche wird dies gerne vorge- bedeutet keine Diskriminierung der worfen. Reizthemen gibt es in diesem Menschen, die anders als die Kirche Kontext bereits genügend. Ein weiteres denken und leben, es bedeutet aber solches Thema scheint nun mit der Dis- eine berechtigte Unterscheidung. Wenn kussion um die rechtliche Aufwertung diese Unterscheidung als Diskriminie- gleichgeschlechtlicher Lebensgemein- rung mißverstanden wird, muß man schaften salonfähig zu werden. So hat damit leben. Die Kirche vertritt nicht der FDP-Generalsekretär jüngst in pu- den Standpunkt, daß alle Lebensfor- blikumswirksamer Weise kritische Stel- men gleich gültig wären, womit sie in lungnahmen von kirchlicher Seite zu der Folge dann gleichgültig werden. dieser Frage „als nicht mehr zeitgemäß“ Eine klare Positionsbestimmung ent- bezeichnet. Wie „zeitgemäß“ kann oder hebt aber die Kirche nicht der Gewis- sollte die Kirche eigentlich sein? senserforschung, ob sie den Menschen ihrer Zeit und ihrer Kultur jeweils ver- Valentin Doering: Hier muß zunächst steht, ihm in verstehbarer Sprache be- geklärt werden, was mit „zeitgemäß“ gegnet und sich als Kirche erweist, die gemeint ist. Unter einem christlichen um der Menschen willen da ist. Denn Deutungsaspekt hat jede Zeit ihre eige- eines ist sicher: Die Menschen sind ne Nähe und Ferne zu Gott und muß nicht um der Kirche willen da. somit die Kirche „zeitgemäß“ sein. Zeitgemäß zu sein, meint in diesem POLITISCHE STUDIEN: Forschung Zusammenhang die Fähigkeit, den An- und Wissenschaft dringen immer weiter ruf, die Zeichen der Zeit zu erkennen, bzw. tiefer in Bereiche vor, die Grund- die Fragen und Nöte und auch Ant- fragen der Ethik berühren. Grundfragen wortversuche der Menschen aufzugrei- deshalb, weil es hier wohl um Fun- fen und ernst zu nehmen, um sie mit damente des Menschlichen, ja der per- dem Wort Gottes zu konfrontieren. sonalen Würde des Menschen geht. „Zeitgemäß“ kann aber auch in einem Man hat zuweilen den Eindruck, daß sehr vordergründigen Sinn nur „mo- menschliches Leben einer Art umfas- disch“ meinen, jene Haltung, die sich sender Plan- und Berechenbarkeit un- so „heutig“ gebärdet, daß sie morgen terworfen werden soll, am Anfang des schon wieder von gestern ist. Es ge- Lebens (pränatale Diagnostik), während hört zu den schwierigsten Aufgaben des Lebens (High-Tech- und Intensiv- menschlichen Erkennens und Wert- medizin) und schließlich auch in der fühlens, die Unterscheidung zu treffen letzten Phase, nämlich der des Sterbens zwischen dem, was wichtig und un- (Euthanasie). Ist angesichts solcher Ent- wichtig, was sinnvoll und sinnlos, wicklungstendenzen nicht die mah- letztlich, was gut und schlecht ist. nende Stimme der Kirche besonders Konkret lassen sich Wertfragen, so gefordert? POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 13

Valentin Doering: Das unstreitig vor- „Lebenswissen“ zurückgreifen, das in handene Eindringen der Forschung Verbindung mit „Glaubenswissen“ zur und Wissenschaft in die „Fundamente Auseinandersetzung mit Existenzfra- des Menschlichen“, sei es in physischer, gen des Menschen führt und sinnstif- psychischer oder geistiger Hinsicht, tende Antworten zu geben vermag. trägt in sich eine Doppeldeutigkeit: Einerseits entbinden die wissenschaft- Der „mahnenden Stimme der Kirche“ lichen Erkenntnisse und praktischen muß hierbei immer anzuhören sein, Möglichkeiten eine ungeheuer wirksa- daß sie sich selbst nicht aus der Verant- me faszinative Kraft. Der Mensch ge- wortung um die Grundfragen der Ethik winnt den Eindruck, er sei nicht mehr und die Fundamente des Menschli- – wie die Paradieseserzählung formu- chen herausnimmt, selbst wenn dies liert – „in Gefahr“, Gott gleich zu wer- wie gegenwärtig zu harten Auseinan- den, sondern er befinde sich bereits dersetzungen in Politik und Kirche auf dem Weg, eigenständig schöpfe- führt und innerkirchliche Spannungen rische, Gott ähnliche Fähigkeiten zu erzeugt. entwickeln. Andererseits wecken die Wissenschaft und deren Anwendung POLITISCHE STUDIEN: Der Erzbi- im Menschen tiefe Existenzängste. Vie- schof von München und Freising, le Menschen erleben sich in ihrer per- Friedrich Kardinal Wetter, hat das sonalen Würde zutiefst bedroht, weil jüngste Urteil des Bundesverfassungs- die Gattung Mensch beliebig manipu- gerichts zum Bayerischen Schwange- lierbar, reproduzierbar und somit letzt- renhilfeergänzungsgesetz als schädlich endlich im Blick auf das einzelne bezeichnet. Das Urteil habe „nicht nur Leben verzichtbar erscheint. Der ge- dem Ansehen des Gerichtes geschadet, genwärtige und weiter fortschreitende sondern auch dem sittlichen Bewußt- Erkenntnisstand des Menschen über sein in unserem Lande Schaden zuge- sich selbst und die Welt drängt die Fra- fügt“, sagte der Kardinal. Könnte dieser ge auf, ob alles getan werden darf, was jüngste Entscheid aus Karlsruhe mög- getan werden kann. So steht unab- licherweise auch Auswirkungen bezüg- weisbar die Problematik vor uns, was lich der zur Zeit diskutierten Frage des es denn um das Leben des Menschen Verbleibs der katholischen Kirche im sei, besonders hinsichtlich des Anfangs staatlichen Schwangerenberatungssy- und Endes menschlicher Existenz und stem haben? Sollten die Konsultatio- der damit verbundenen Sinnhaftigkeit nen der von der Deutschen Bischofs- oder Sinnlosigkeit. konferenz für diese Frage eingesetzten Kommission zum Ergebnis führen, daß Die Kirche sieht sich vor der Aufgabe, die Kirche nach alternativen Lösungen genau zu prüfen, in welchen Fragestel- zum staatlichen Beratungssystem su- lungen das kirchliche Amt oder die chen sollte, könnte dies dann viel- sachkundigen Laien ein gültiges Wort leicht schwerwiegende Belastungen an die Menschen richten können und des Staat-Kirche-Verhältnisses in unse- in welchen Problembereichen sie je- rem Land zur Folge haben? weils schweigen sollen. Die Kirche weiß im Wissenschaftsbetrieb vieles Valentin Doering: Es gibt einen un- nicht „besser“, sie kann aber auf ein leugbaren Zusammenhang zwischen 14 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch

Rechtsprechung der Gerichte, insbeson- eintritt. Dies schließt aus, möglicher- dere des Bundesverfassungsgerichtes, weise entstehende schwerwiegende Be- und dem Rechtsbewußtsein der Bevöl- lastungen des Staat-Kirche-Verhältnis- kerung. Allzuleicht entwickelt sich die ses zum Maßstab für kirchliche Ent- Vorstellung, was nicht als Unrecht ein- scheidungen zu machen. Der Kirche deutig gekennzeichnet ist und womög- liegt um der gemeinsamen Sorge der lich nicht unter Strafe gestellt wird, sei jeweils dem Staat und der Kirche an- in sich sittlich erlaubt. Hinzu kommt, vertrauten Menschen nicht an der daß gegenwärtig die Bundesregierung Schaffung von Konfliktpotential. durch verschiedene Entscheidungen bzw. Äußerungen hinsichtlich der Ab- Sie kann dem aber auch nicht auswei- treibung den Lebensschutz ungeborener chen, wenn es um grundsätzliche Fra- Kinder nicht stärkt, sondern schwächt. gen von Leben und Tod sowie der sittlichen Ordnung des Gemeinwesens Wie auch immer sich die Entschei- geht. Der weltanschaulich neutrale dung der Deutschen Bischofskonferenz Staat muß sich aber darüber Rechen- bzw. der vatikanischen Stellen zeigen schaft ablegen, was er durch Ableh- wird, immer geht es darum, daß die nung oder Mißachtung christlicher Kirche in der Frage der Schwange- Wertvorstellungen an gemeinschafts- renkonfliktberatung eine aus ihrem stiftender und sinnvermittelnder Orien- Selbstverständnis begründete Entschei- tierung ungenutzt läßt. dung trifft, das heißt, in größtmögli- cher Klarheit des Zeugnisses für den Le- POLITISCHE STUDIEN: Herr Prälat, bensschutz des ungeborenen Kindes wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die Fragen für die POLITISCHEN STUDIEN stellte Burkhard Haneke, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit/Publikationen der Hanns-Seidel- Stiftung, München.

Schwerpunktthema

Neue Bürger- und Sozialkultur

Ansatzpunkte für eine neue Bürger- und Sozialkultur – Ein aktuelles Forschungsprojekt der Hanns-Seidel-Stiftung

Alfred Bayer

In Zeiten des umfassenden Wandels wesen zunehmend. Weitblickende Po- hat die Qualität unseres Zusammen- litiker und Wissenschaftler haben die- lebens entscheidende Veränderungen se Tendenz erkannt und sich der Suche erfahren. Auch wenn die „Krise unse- nach Lösungswegen aus der Krise ver- res Gemeinwesens” zu einem leicht- schrieben. So sieht Alois Glück, der fertig benutzten Medienschlagwort Fraktionsvorsitzende der CSU im Baye- geworden ist, kann nicht mehr weg- rischen Landtag, die Schaffung einer diskutiert werden, daß Solidarität, ge- neuen Sozial- und Bürgerkultur als Ge- genseitige Hilfe und Zusammenhalt in gensteuerungsinstrument, um eine unserer modernen Gesellschaft Man- tiefgreifende Krise unseres Gemein- gelware sind. wesens abzuwenden.

Eine echte Gemeinschaft kann nur Eine umfassende Analyse der „Krise dann funktionieren, wenn in ihr die unseres Gemeinwesens” vorzunehmen Balance zwischen persönlicher Freiheit und Lösungsmöglichkeiten und deren und Solidarität gelingt. Dieser Grund- Realisationschancen zu ergründen, hat satz, den sich die moderne amerikani- sich die Akademie für Politik und Zeit- sche Kommunitarismus-Bewegung zu geschehen der Hanns-Seidel-Stiftung eigen gemacht hat, ist keineswegs neu. zu einer neuen Aufgabe gemacht. Die Für überzeugte Christen ist die Eigen- akademische Diskussion dieser gesell- verantwortung des Menschen für sein schaftlichen Zeitfrage zu intensivieren Leben, die zugleich eine Mitverant- und politische Entscheidungsträger in wortung für das Schicksal anderer diesen Gedankenaustausch mitein- umfaßt, eine Selbstverständlichkeit. zubeziehen, sind die Leitlinien des Wachsender Individualismus, der zum neugeschaffenen Sonderreferats „Neue Teil egoistische Züge annimmt, und das Bürger- und Sozialkultur, Kommunal- Leitbild einer Selbstverwirklichungs- politik und Ländlicher Raum”, das seit ideologie, die persönliche Freiheit vor Oktober vergangenen Jahres von der die Verantwortung für die Gemein- Sozialwissenschaftlerin Susanne Luther schaft stellt, schwächen unser Gemein- betreut wird.

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 20 Alfred Bayer

Ein Werkstattgespräch „Neue Bürger- kussion über eine neue Bürger- und So- und Sozialkultur – Vision oder Uto- zialkultur dar. Anton Rauscher, Leiter pie?” bildete Anfang Dezember 1998 der Katholischen Sozialwissenschaft- einen vielversprechenden Auftakt für lichen Zentralstelle Mönchengladbach, die Arbeit dieses neuen Referats. Zwei übernimmt dabei die Aufgabe, das Tage lang diskutierten Experten unter- Ausmaß der Krise unseres Gemeinwe- schiedlicher Fachrichtungen über die sens aufzuzeigen. Den theoretischen Krise unseres Gemeinwesens und de- Hintergrund zur aktuellen Diskussion ren Lösungsmöglichkeiten. Um die Er- über die neue Bürger- und Sozialkultur kenntnisse dieser Tagung einem größe- liefert der Politikwissenschaftler und ren Interessentenkreis zugänglich zu Kommunitarismusexperte Walter Ree- machen, wird derzeit ein Sonderheft se-Schäfer. Ausgehend von Studien der POLITISCHEN STUDIEN vorberei- zum Engagementpotential in Deutsch- tet. Die Referate von versierten Fach- land, zeichnet der Soziologe Helmut leuten zur Bürger- und Sozialkultur wie Klages ein überraschend optimistisches Alois Glück, Warnfried Dettling oder Bild und gibt begründeten Anlaß zu Anton Rauscher werden dort nachzu- der Hoffnung, daß in der Krise des Ge- lesen sein. meinwesens auch das Potential zu ihrer Lösung schlummert. Dieses Po- Die folgenden drei Beiträge stellen ei- tential geschickt zu nutzen, wird eine ne kleine Auswahl aus der mittlerweile der vielen Ansatzpunkte für eine neue umfangreichen wissenschaftlichen Dis- Bürger- und Sozialkultur sein. Wohin treibt uns unsere Sozialkultur?

Anton Rauscher

1. Einführung strialisierung und Urbanisierung in ei- nem starken Wandel und hat sich an Wirtschaftlichen und sozialen Fragen vielen Stellen aufgelöst. Anspruchs- kommt bei allen Völkern und in allen denken und Egoismus nehmen zu und Staaten eine besondere Bedeutung zu. gefährden den solidarischen Zusam- Die Politik wird vornehmlich daran ge- menhalt in der Gesellschaft“.1 messen, ob es ihr gelingt, im jewei- ligen Bedingungsrahmen Wohlstand Seit langem ist das Hauptaugenmerk in für alle und soziale Sicherheit zu ge- der Bundesrepublik Deutschland auf währleisten. Wie diese Begriffe schon die Bereiche Wirtschaft und Sozialstaat andeuten, handelt es sich dabei nicht gerichtet. Demgegenüber sind die um rein ökonomische Tatbestände Fragen und Zusammenhänge. Wenn von men- schenwürdiger, freiheitlicher, gerechter ● nach den Wertgrundlagen des per- und solidarischer Gestaltung der wirt- sönlichen und des sozialen Lebens, schaftlichen Verhältnisse und des So- ● nach den geschichtlichen Zusam- zialstaates die Rede ist, dann sind hier menhängen, immer auch sozialethische Wertorien- ● nach der religiösen und kirchlichen tierungen mit im Spiel. Wirklichkeit, ● nach den geistig-sittlichen Kraft- Auch den Kirchen kann die Gestalt quellen und und die Entwicklung von Wirtschaft ● nach der Sozialkultur und Gesellschaft nicht gleichgültig sein. Das gemeinsame Wort „Für eine seit den Tagen des nationalen Zusam- Zukunft in Solidarität und Gerechtig- menbruchs und des Wiederaufbaus der keit“, das die Kirchen im Februar 1997 Bundesrepublik Deutschland eher in veröffentlichten, will diese Wertorien- den Hintergrund getreten. Die von der tierungen ins Bewußtsein rücken, die sozialliberalen Regierung seit 1969 in auch die Wirtschaft und den Sozial- den Mittelpunkt gerückten „inneren staat mit der Sozialkultur verbinden. Reformen“ galten weniger dem Anlie- Im Vorwort von Bischof Karl Lehmann gen, wie auch unter veränderten Be- und Landesbischof Klaus Engelhardt dingungen die Grundwerte dem Zu- heißt es dazu: „Die traditionelle Sozial- sammenleben der Bürger Sinn und kultur befindet sich im Zuge der Indu- Richtung geben, sondern wie das Wert-

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 22 Anton Rauscher gefüge des Grundgesetzes den einge- zu überzeugen, daß es sich lohnt, die- tretenen Wandlungen in den Einstel- se Werte neu zu entdecken. Wenn die- lungen und Verhaltensweisen der Bür- se Aufgaben nicht in der erforderli- ger „angepaßt“ werden können. chen Weise gesehen und angegangen wurden, dann ist dies darauf zurückzu- Auch die historische Wende von 1989 führen, daß die Sozialkultur auch im und der Zusammenbruch des Sozialis- Westen schon seit langem geschwächt mus in den osteuropäischen Ländern war. und in der Sowjetunion hat eigentlich nicht wie nach 1945 zu einer inten- Im Hinblick auf das zusammenwach- siven Auseinandersetzung und Diskus- sende Europa haben ebenfalls der sion darüber geführt, warum Karl Marx Papst und einige Bischofskonferenzen und der Kommunismus gescheitert sich dafür eingesetzt, die Fragen nach sind. den Wertgrundlagen in Europa, nach der gemeinsamen Geschichte und Kul- Es war Johannes Paul II., der in der So- tur, nach dem Gewicht des christli- zialenzyklika Centesimus annus (1991) chen Glaubens und der kirchlichen den Finger auf die Wunde legte: Das Gemeinschaft zu stellen. Von verein- Menschenbild und die darin wurzeln- zelten Stimmen abgesehen, blieb die de Gesellschaftsauffassung seien falsch Resonanz auf diese Bemühungen gewesen.2 Leider beherrschten nach der Wiedervereinigung fast allein die • in Wissenschaft und Kunst, Ziele des wirtschaftlichen Wohlstandes • in der Literatur und in den Medien, und der sozialen Sicherheit die öffent- • in Bildung und Erziehung, liche Meinungsbildung, wohingegen • in der Politik und selbst in den kirch- völlig unzureichende Anstrengungen lichen Gemeinschaften unternommen wurden, um den Men- schen in Ostdeutschland die Wert- dürftig. Werden wir erst dann aus un- strukturen des Grundgesetzes und ih- seren Wohlfahrtsträumen aufwachen, rer Begründungen zu erschließen, um wenn die Grundlagen unseres Zusam- das Bewußtsein und das Verständ- menlebens so schwach geworden sind, nis für die Menschenwürde und die daß immer mehr Sand ins Getriebe der Grundrechte in ihrer Bedeutung für Wirtschaft und des Sozialstaates ge- den Rechtsstaat bei den Bürgern zu langt und die negativen Entwicklun- schärfen, um sie für die verantwortli- gen ein Nachdenken und eine Besin- che demokratische Mitwirkung an den nung erzwingen? öffentlichen Angelegenheiten auf den verschiedenen Ebenen zu gewinnen, um die Unterscheidung zwischen Staat 2. Alarmzeichen und Gesellschaft und besonders zwi- schen Staat und Wirtschaft verständ- Deutschland bietet zur Zeit ein eher lich zu machen, die es in der kommu- zwiespältiges Gesicht. Auf der einen nistischen Diktatur nicht gab, um die Seite ist der Wohlstand im ganzen Lehrenden und Lernenden über das Land mit Händen zu greifen. Man Menschen- und Gesellschaftsbild des braucht nur über die Grenzen zu Grundgesetzes zu informieren und sie schauen und zu vergleichen: Wohin treibt uns unsere Sozialkultur? 23

● Die Wohnqualität in den Städten geblieben ist und Deutschland für vie- ebenso wie in den ländlich struktu- le Menschen nicht nur aus den armen rierten Gebieten, Entwicklungsländern in der Dritten ● den hohen Grad der Versorgung mit Welt, sondern auch aus fortgeschritte- Gütern und Diensten des täglichen nen Staaten in Europa so begehrens- Bedarfs, wert macht. Nicht zu vergessen ist der ● die Infrastruktur, die ihresgleichen Tourismus, der bei allen Schichten der sucht, Bevölkerung ein früher nicht für mög- ● die Verkehrsdichte und die Moder- lich gehaltenes Ausmaß erreicht hat. nität der vielen Autos, Selbst im Krisenjahr 1993 ist diese ● die Ausstattung der Haushalte mit Branche noch gewachsen. elektrischen Geräten, ● die technischen Veränderungen und Auf der anderen Seite haben wir in die Ausstattung im produzierenden Deutschland auch große Probleme, die Gewerbe, im Handwerk und in den in den Massenmedien oft genug für Dienstleistungsbereichen. Schlagzeilen sorgen und die auch die Auseinandersetzungen zwischen den Das Wohlstandsniveau ist um so er- politischen Parteien vor der jüngsten staunlicher, wenn man die ungeheu- Bundestagswahl beherrschten.3 An er- ren Aufbau- und Transferleistungen ster Stelle steht die Massenarbeitslosig- berücksichtigt, die seit der Wende von keit, die, auch wenn die Konjunktur im 1989/90 in die neuen Länder geflossen Jahre 1998 erfreulich angezogen hat, sind. In keinem anderen Land Osteu- einfach nicht stärker zurückgehen will. ropas ist der Übergang von der kom- Natürlich schlagen hier die gewaltigen munistischen Mißwirtschaft zur sozia- Belastungen zu Buche, die der Wieder- len Marktwirtschaft so rasant vor sich aufbau einer modernen leistungs- gegangen wie in Deutschland. Man fähigen Wirtschaft und einer gerechten braucht nur die Lebenssituation der Sozialordnung in Ostdeutschland mit Bevölkerung und die Höhe der Löhne sich bringen. Aber die Fachleute und der Industriearbeiter in Ostdeutsch- auch internationale Gremien sind sich land mit der Lage in Tschechien, Polen darin einig, daß die Ursachen der Mas- oder Ungarn fast zehn Jahre nach dem senarbeitslosigkeit in der alten Bundes- Umbruch zu vergleichen. republik zu einem erheblichen Teil hausgemacht sind. Nicht viel anders ist es mit dem stark gewachsenen Angebot an Schulen und Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Bildungseinrichtungen bis hin zu den und politischen Wandlungsprozesse, Universitäten, mit der ärztlichen, me- die die historische Wende in Europa dizinischen und pflegerischen Versor- und in der ganzen Welt ausgelöst hat, gung der Kranken und den vielfältigen sind in Deutschland zwar „registriert“ Vorsorgeangeboten. Da ist auch das worden, aber sie haben nicht zu ent- engmaschige soziale Netz, das die So- sprechenden Veränderungen im Den- ziale Marktwirtschaft auszeichnet und ken, in den Einstellungen und in den das trotz der in den letzten Jahren vor- Verhaltensweisen vieler Bürger geführt. genommenen Korrekturen und Ein- In welchem Ausmaß die tiefgreifenden sparungen immer noch leistungsfähig strukturellen Veränderungen, die mit 24 Anton Rauscher der Bezeichnung „Globalisierung“ nur lidierung des Sozialstaates, die nicht unzureichend umschrieben werden, zuletzt infolge der demographischen die bisherigen Verhältnisse in der Wirt- Entwicklung nicht länger aufgescho- schaft, aber auch die Systeme der so- ben werden kann, hat Fortschritte zialen Sicherheit, die Bedingungen der gemacht. Ob allerdings die rot-grüne beruflichen Ausbildung und der Schu- Regierung diesen Kurs fortsetzen wird, le, der Forschung und Lehre an den ist bis jetzt nicht so recht erkennbar. Hochschulen, der „pluralistischen Ge- Die beabsichtigte Senkung der Lohn- sellschaft“ bis hin zu den Kirchen und nebenkosten – ohne Zweifel der ent- Religionsgemeinschaften erfassen, dar- scheidende Hebel für die Bekämpfung über machen sich viele Bürger zwar der Massenarbeitslosigkeit – wird ohne allerlei Gedanken, aber sie sind nicht Wirkung bleiben, wenn die Gesamtbe- gewillt, die sich damit abzeichnenden lastung der Wirtschaft durch die neu- Konsequenzen für ihre persönliche, so- en Rahmenbedingungen und durch ziale und kulturelle Lebensgestaltung die Erhöhung der Energiepreise noch zu ziehen. weiter steigt. Auch wird man gespannt sein dürfen, wie die Alterssicherungs- In diesem Zusammenhang muß auch systeme und das Gesundheitswesen ge- die Staatsverschuldung genannt wer- staltet werden sollen. den, die die nachwachsenden Genera- tionen in längst nicht mehr vertretba- In den Massenmedien ist viel von Re- rer Weise belastet. Wenn die Probleme, formstau und Selbstblockade die Rede. die sich mit der Wiedervereinigung Seitdem das erste „Bündnis für Arbeit“, stellten, den Schuldenberg in die Höhe das die abgewählte Bundesregierung trieben, dann auch deshalb, weil Fehl- mit den Gewerkschaften und den einschätzungen über die weitere Ent- Wirtschaftsverbänden zum Abbau der wicklung und Versäumnisse zu Buche Arbeitslosigkeit schmieden wollte, schlagen. Nach der Befreiung von der kaum daß es zustande gekommen war, kommunistischen Zwangsherrschaft wieder zerbrach und auch die im Par- wäre die Bevölkerung im Osten und lament eingebrachte Steuerreform, die auch im Westen bereit gewesen, viel von allen Seiten gute Noten bekom- größere Opfer zu bringen, als ihnen men hatte, im Bundesrat blockiert die Politik zunächst zumutete. Auch wurde, ist das Vertrauen vieler Bürger hat man zu wenig dafür getan, in der in die Reformfähigkeit der Politik stark Bevölkerung die Einsicht zu wecken, gesunken. daß die Angleichung der Lebens-, Ar- beits- und Wohnverhältnisse nicht von heute auf morgen, auch nicht in weni- 3. Verliert die Sozialkultur gen Jahren erreicht werden kann. Statt ihre Tragfähigkeit? dessen entstand der Eindruck, als ob dieses Ziel ohne größere Einschrän- Aber ist es nur die Unfähigkeit der po- kungen in kurzer Zeit machbar sei. litischen Parteien und der Politiker, an der die auch vom Bundespräsidenten Inzwischen konnten die Schuldenber- angemahnten Reformen bislang schei- ge der öffentlichen Hand wenigstens terten? Es gibt Anzeichen dafür, daß eingegrenzt werden. Auch die Konso- die Ursachen der Schwierigkeiten, in Wohin treibt uns unsere Sozialkultur? 25 denen unser Gemeinwesen steckt, tie- Apropos Solidarität: Entgegen dem vor fer liegen: „Wir leben in einer gefähr- allem von Medien schnell erhobenen lichen Mischung aus Enttäuschung, Vorwurf, in unserer Gesellschaft sei die Zweifel, Bitterkeit, Resignation und Solidarität unterentwickelt, sind der Angst und sind doch zugleich rück- Gemeinsinn und die Opferbereitschaft sichtslos, wenn es darum geht unseren in Deutschland nicht etwa vertrock- persönlichen Vorteil durchzusetzen“. net. Die materielle und die personelle Zu dieser Diagnose gelangt Altbundes- Hilfsbereitschaft, die die Überschwem- kanzler in seinem mungskatastrophe an der Oder aus- neuen Buch: Auf der Suche nach einer gelöst hat, ist ein Zeichen dafür, daß öffentlichen Moral. Deutschland vor Mitmenschlichkeit und Solidarität dem neuen Jahrhundert.4 nicht abgestorben sind. Auch die Spen- denwilligkeit vieler Bürger für kirchli- Es mehren sich die Stimmen, die die che und humanitäre Hilfswerke, für Wurzeln der Probleme, vor denen wir wissenschaftliche Zwecke oder für die in Deutschland und in den fort- Erhaltung der Natur hat nicht nach- geschrittenen Industrieländern in der gelassen, auch nicht in der Zeit der Europäischen Union stehen, nicht nur Massenarbeitslosigkeit. in der mangelnden Reaktionsfähigkeit auf die Veränderungen in Wirtschaft Allerdings sagen die organisierten For- und Gesellschaft erblicken, sondern in men der Solidarität, die in den Sam- dem Schwinden jener Grundwerte und mel- und Spendenaktionen zum Aus- Tugenden, die unser Gemeinwesen, druck kommen und die auch von den ohne daß uns dies immer bewußt ge- Medien stimuliert werden, noch wenig worden ist, tragen. Die Schwierigkeiten über die von den Bürgern selbst prakti- und Probleme, vor allem die Unfähig- zierte Solidarität und Hilfsbereitschaft keit, sie anzupacken und mit ihnen aus. In diesem Bereich gibt es untrügli- fertig zu werden, schärft den Blick che Anhaltspunkte, daß der Gemein- dafür, daß eine leistungsfähige Wirt- sinn und die soziale Verantwortung schaft nicht allein auf neuen Ideen nicht mehr so wirksam sind wie dies (Innovationen), unternehmerischer In- zum Beispiel in der Wiederaufbau- itiative, qualifizierter Arbeit, Wettbe- phase der Bundesrepublik der Fall war. werb auf allen Märkten und auf den Um nur einige Beispiele zu nennen: vom Staat zu gewährleistenden Rah- Häufig wird darüber geklagt, daß etwa menbedingungen beruht. Auch der So- bei Verkehrsunfällen die Leute ste- zialstaat setzt nicht nur die Solidarität henbleiben und zuschauen, aber den der Beitragszahler und der Leistungs- Verletzten und Geschädigten nicht empfänger sowie eine Ausgewogenheit spontan Hilfe leisten. Die spontane zwischen Einnahmen und Ausgaben Hilfsbereitschaft, die beim ICE-Un- voraus. Die Belastung der arbeitenden glück in Eschede geübt wurde, kann Menschen mit Steuern und Sozialab- darüber nicht hinwegtäuschen. Ähn- gaben muß nicht nur dem Gebot der liche Beobachtungen kann man ma- Gerechtigkeit genügen, sie darf nicht chen, wenn zum Beispiel ältere Men- beliebig ausgedehnt werden, auch schen oder Frauen auf der Straße nicht unter Berufung auf die Solida- bestohlen werden und niemand ein- rität. greift. Öffentliche Verkehrsmittel wer- 26 Anton Rauscher den immer wieder von randalierenden die Menschen in den Entwicklungs- Leuten beschädigt und niemand hat ländern ein Herz haben und spenden, den Mut, die Täter zurechtzuweien. Es wenn sie von den Kirchen und carita- fehlt die Zivilcourage. Auch die be- tiven Einrichtungen angesprochen zahlten Formen der Hilfeleistung, etwa werden, wächst auch in den Kindern bei der häuslichen Pflege alter und be- und Jugendlichen in aller Regel die hinderter Menschen sind durchaus Einstellung und die Bereitschaft, sich Zeichen von Solidarität, aber sie kön- als Erwachsener ähnlich zu verhalten. nen und dürfen nicht mit dem direk- Dann werden sie auch die Formen der ten Engagement der Bürger gleichge- organisierten Caritas mit ganz anderen setzt werden. Augen betrachten und ihnen nicht von vornherein mit Skepsis begegnen. Die Familien waren und sind der Die meist in der Familie erlernte Soli- Quellgrund, auf dem soziale Denk- darität kann auch in der Berufs- und und Verhaltensweisen und soziale Arbeitswelt, in der Politik und in der Tugenden wie Achtung, Rücksichtnah- Kirche wirksam werden. me auf Schwächere, Solidarität, Hilfe und Zuwendung, Verständnis für an- dere und Andersdenkende, Fähigkeit 4. Ehe und Familie und Willigkeit zur Zusammenarbeit, in Bedrängnis die Einsicht und die Bereitschaft, sich dem Wohl des Ganzen unterzuordnen, Wenn der soziale Zusammenhalt in entstehen und praktiziert werden. Die- den Familien schwächer geworden ist, se Tugenden kosten nichts und haben dann ist dies auf viele Ursachen keinen Marktpreis. Aber ohne sie wür- zurückzuführen. Hier seien nur zwei de die Gemeinschaft nicht bestehen, Bereiche genannt, die in besonderer in der sich die einzelnen mit ihren ver- Weise unsere Sozialkultur berühren. In schiedenen Fähigkeiten entfalten kön- Deutschland, ebenso in anderen Län- nen, in der auch Fehlentwicklungen dern der Europäischen Union, ist der rechtzeitig korrigiert werden. Der so- Wille zum Kind stark zurückgegangen. ziale Zusammenhalt beruht auf wech- Der Anteil der kinderlos Verheirateten selseitigem Vertrauen und auf dem Be- und zusammenlebenden Paare ist stän- wußtsein, man gehört zusammen und dig angestiegen. Als kinderreiche Fa- kann sich aufeinander verlassen. milien werden heute diejenigen mit drei und mehr Kindern bezeichnet. Ih- Das, was die Familien an sozialer Praxis re Zahl geht weiter zurück. Dies wirkt und Erziehung leisten, ist nicht nur für sich auf das Generationengefüge und sie selbst, sondern auch für die nicht- die sozialen Sicherungssysteme aus, familiären gesellschaftlichen Bereiche weil viel zu wenige junge Menschen von großer Bedeutung. Nur wenn die nachwachsen, wohingegen der Anteil Kinder und Jugendlichen sehen und der älteren Mitbürger anwächst. Noch erfahren, daß die Eltern in allen Le- gravierender als die durch die gesunke- benslagen für sie da sind und große ne Kinderzahl bedingten wirtschaftli- Opfer an Zeit und Geld für sie bringen, chen und sozialen Veränderungen sind daß die Eltern für Bedürftige und Ar- die menschlichen und gesellschaftli- me, Kranke und Behinderte oder für chen Auswirkungen. Kinder gelten im Wohin treibt uns unsere Sozialkultur? 27

öffentlichen Bewußtsein eher als Last Beschränkung der persönlichen Frei- und nicht als Aufgabe, die Freude und heit zu erblicken. Wenn Meinungsver- Erfüllung stiftet. Bevor man sich ein schiedenheiten und Schwierigkeiten Kind „anschafft“ – eine Formulierung, auftreten, dann entscheidet man sich die eine ganz neue Mentalität verrät –, sehr viel leichter auseinanderzugehen. stehen materielle Werte wie das Auto, Auch wenn ein derartiger Schritt in das eigene Haus, eine mit allen Gerä- den meisten Fällen viel Enttäuschung ten ausgestattete Küche und Reisen im und Verbitterung mit sich bringt, so Vordergrund. Das Kind wird zum Ko- wird er von der öffentlichen Meinung stenfaktor. Obwohl auch bei den jüng- als eine Art Befreiung angesehen. Die sten Umfragen nach wie vor die Fa- Emanzipationsbewegungen machen milie ganz oben auf der Skala der sich dies zunutze. erstrebten Werte steht, werden in der Realität, massiv propagiert durch die Die Leidtragenden, wenn Eltern sich Massenmedien, die materiellen Güter scheiden lassen, sind vor allem die und der Lebensgenuß vorgezogen. Die- Kinder. Wie Ärzte und Psychologen be- se Einstellung bewirkt nicht selten, daß stätigen, tragen sie oft einen Knacks die Eltern die Hingabe und Erzie- fürs ganze Leben davon und können hungsaufgaben gegenüber ihren Kin- mit „Liebe“ und „Solidarität“ nur mehr dern nicht in der erforderlichen Breite wenig anfangen. Kinder und Jugend- und Intensität wahrnehmen oder sich liche sind auch betroffen, wenn die überfordert fühlen. Situation zu Hause geprägt wird von Streitereien, gegenseitigen Vorwürfen Hinzukommt die Zunahme der Ehe- und Häßlichkeiten zwischen Vater und scheidungen, die sich negativ auf die Mutter. Sie erfahren die Familie nicht Bindungsfähigkeit der Menschen und mehr als den Raum, in dem Verständ- auf den Zusammenhalt in der Familie nis für den anderen, Vertrauen und Zu- auswirkt. Zwar scheiterten auch früher neigung, auch die Kraft des Verzeihens schon Ehen, obwohl es noch keine und der Vergebung eine Atmosphäre staatliche Ehescheidung gab. Die Ge- der Geborgenheit schaffen. Wenn bei- sellschaft war an stabilen Ehen interes- de Eltern von der Erwerbsarbeit in An- siert, weil diese am ehesten die men- spruch genommen sind und nicht schenwürdige Weitergabe des Lebens mehr die Kraft aufbringen, für ihre und Generationenfolge sowie die Er- Kinder dazusein, fühlen sich diese mit ziehung der Kinder sicherten. Eine ihren Fragen allein gelassen. Kein Ehescheidung wurde nicht nur von Wunder, wenn sie sich Freunden zu- den Betroffenen, sondern auch von wenden, nicht selten auch in gefähr- der Öffentlichkeit als eine Tragödie liche Milieus abgleiten, weil sie zu empfunden. Aber selbst die Kirche Hause keinen erzieherischen und mo- konnte die Zerrüttung der ehelichen ralischen Halt erfahren. Beziehungen nicht aufhalten und mußte die „Trennung von Tisch und Die Schwächung der Familie ist eine Bett“ vorsehen. Was sich heute geän- der Hauptursachen für die Verände- dert hat und unsere Sozialkultur tief rung unserer Sozialkultur, deren Folgen berührt, sind jene Bestrebungen, in der und Auswirkungen auf die innere Trag- Ehe und Familie eine Einengung und fähigkeit unserer Gesellschaft noch gar 28 Anton Rauscher nicht abschätzbar sind. Leider haben Freiheit und Unabhängigkeit des ein- die Massenmedien nicht begriffen, daß zelnen gerichtet diskreditiert. Mit allen Ehe und Familie nicht nur christliche Mitteln wurde die „antiautoritäre Er- Werte, sondern ein integrierender Be- ziehung“ propagiert und der Eindruck standteil einer menschenfreundlichen erweckt, als ob Familie und Schule Sozialkultur sind. Auch die staatliche „autoritär“ und freiheitsfeindliche In- Gesetzgebung hat sich weit entfernt stitutionen wären, die die Kinder und vom Grundgesetz, wonach Ehe und Jugendlichen nicht zu selbständigen Familie wegen ihrer Bedeutung für die und verantwortlichen Personen erzie- Gesellschaft unter dem besonderen hen, sondern sie gefügig und in Ab- Schutz der staatlichen Gemeinschaft hängigkeit halten wollten. Die anti- stehen. Und die Ankündigungen und autoritäre Bewegung richtete sich Vorhaben der neuen rot-grünen Regie- gleichfalls gegen die Kirchen und ge- rung lassen nichts Gutes ahnen. Die gen den Staat. Alte „Tabus“ zu bre- Anhebung des Kindergeldes allein chen, wozu auch die zehn Gebote schafft noch keine familienfreundliche Gottes gerechnet wurden, wurde von Gesellschaft. den Massenmedien als „Fortschritt“ verkauft.

5. Ein neuer Individualismus Auch wenn die Problematik dieser Pa- rolen inzwischen erkannt wird und auf Im Gegensatz zu der geradezu infla- weiten Strecken die Suche nach den tionären Verwendung der Begriffe „so- gemeinsamen Werten wieder einge- zial“ und „Solidarität“ hat sich in den setzt hat, so läßt sich das verlorene so- letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt un- ziale Ethos nicht auf Kommando wie- ter dem Einfluß ideologischer Denk- der zurückholen, zumal es genügend strömungen, eine Art Gegenkultur her- Kräfte und Strömungen in unserer Ge- ausgebildet. Das, was heute unsere sellschaft gibt, die noch nicht von dem Sozialkultur gefährdet, nämlich das Zu- verderblichen Weg umkehren wollen. sammenleben der Menschen in Ehe und Familie, in der Wohngemeinde Die antiautoritäre Stoßrichtung, die und in den Städten, in den Schulen Hand in Hand geht mit den Eman- und Bildungseinrichtungen, in den Be- zipationsbewegungen bis hin zum trieben und Arbeitsstätten, auch was Feminismus, ist bestimmt von den unsere nationale Identität betrifft, die Ideen der „Selbstbestimmung“ und der vielen Deutschen seit den Exzessen des „Selbstverwirklichung“. Jeder lebt und Nationalsozialismus unheimlich zu arbeitet für sich selbst. sein scheint, das ist ein radikaler Indi- vidualismus.5 Die Einsicht, die unsere Sozialkultur bisher geformt hat, daß sich der ein- Er hat sich ausgebreitet im Sog der zelne im Einsatz seiner Fähigkeiten 1968er Kulturrevolution. Mit den Pa- und Kräfte nicht nur für sich, sondern rolen der Freiheit und der Unabhän- gerade auch für andere, für das Ge- gigkeit wurden die „etablierten Mäch- meinwohl entfaltet und „reich“ wird, te“ aufs Korn genommen. Sie wurden diese Einsicht ist immer mehr in den als „autoritär“ und damit gegen die Hintergrund getreten. Wohin treibt uns unsere Sozialkultur? 29

Die Gesellschaft wird eigentlich nur derheit, bestimmt die Politik. Nicht noch als „Nutzveranstaltung“ gese- nur die Rückbindung des Menschen hen.6 Sie ist ausschließlich dazu da, an Gott als den Schöpfer („religio“), den einzelnen und ihrer Entfaltung zu sondern auch das Bewußtsein um die dienen. Deshalb hat sich unsere Ge- Einbettung in die Gemeinschaft dro- sellschaft zu einer „Anspruchsgesell- hen verlorenzugehen. Bestenfalls blei- schaft“ entwickelt. Insbesondere ist es ben noch Gesinnungsgemeinschaften der Staat, an den die einzelnen ihre übrig, in der sich Gleichgesinnte auf Ansprüche und Forderungen richten. Zeit zusammenfinden. Wenn von der Politik oder aus Kreisen der Wissenschaft Vorschläge gemacht werden wie zum Beispiel die im Ver- 6. Katalysatoren einer gleich zu den anderen Industrienatio- Ego-zentrierten Gesellschaft nen sehr hohen Lohnnebenkosten be- schnitten und damit die Chancen für Welche Triebkräfte haben die indi- die Entstehung neuer Arbeitsplätze vidualistische Einstellung und Ver- verbessert werden können, dann gibt haltensweisen vieler Menschen und es zunächst von allen Seiten Zustim- die Individualisierung der Gesellschaft mung. Alsbald melden sich jedoch die begünstigt? Offenbar gibt es in der Betroffenen selbst oder ihre Inte- modernen Gesellschaft Ansätze und ressenvertreter zu Wort und betonen Trends, die dies bewerkstelligen.7 kategorisch, daß ihre Besitzstände nicht angetastet werden dürften. Von Was die Wirtschaft betrifft, so wurde in Gewerkschaftsseite wird ein solches Lehrbüchern darauf hingewiesen, daß Ansinnen grundsätzlich als „unsozial“ die Arbeitsteilung, der Wettbewerb zurückgewiesen. Man fragt sich un- und die Tauschvorgänge auf den Märk- willkürlich, ob die individualisierte ten nicht nur eine trennende und auf- Gesellschaft noch die Kraft hat, not- teilende Wirkung haben, sondern wendige Reformen im Interesse des durchaus die Menschen miteinander Ganzen durchzusetzen. verbinden. Dennoch sind die Prozesse des Produzierens, des Verteilens und Eine krasse Zuspitzung hat diese in- des Konsumierens nicht mehr getragen dividualistische Einstellung in der von der (Groß-)Familie und auf sie als „autonomen Moral“ gefunden, wo der soziales Subjekt bezogen; vielmehr ist Mensch selbst darüber entscheidet, der einzelne mit seiner persönlichen was für ihn gut, was böse ist. Wenn es Arbeitsteilung und seinem individuel- jedoch keine objektiven, den Men- len Lohn und Einkommen in die Mit- schen vorgegebenen Werte und Ziele te des Interesses gerückt. Der Mensch gibt und keine sozialen Pflichten und wird – auch wenn Gegenkräfte diesem Normen die einzelnen binden, dann Trend Einhalt gebieten möchten – da- reduziert sich die Gesetzgebung auf die nach bewertet und eingeschätzt, was er Mehrheitsmacht im Parlament. Nicht leistet und was er sich leisten kann. mehr die Anerkennung der Grund- Sicherlich dient das „Familieneinkom- werte und Grundrechte, sondern die men“, in das in vielen Fällen die Ver- machtmäßige Durchsetzung dessen, dienste beider Eheleute fließen, dazu, was die Mehrheit will gegen die Min- die Bedürfnisse von Eltern und Kin- 30 Anton Rauscher dern gemeinsam zu decken. Eine wei- Freiheitsrechte einen zentralen Platz tere Lockerung der sozialen Bindungen ein; aber die Freiheit wurde gesehen als ist dadurch eingetreten, daß die sozia- eine Freiheit zu sozialer Verantwortung len Sicherungssysteme meist nicht und nicht als eine Freiheit von sozia- mehr bei der Familie ansetzen, son- len Bindungen. In der Ego-zentrierten dern bei der individuellen Arbeits- Gesellschaft nimmt die Bindungsangst leistung. Im Normalfall sind die exi- der Menschen zu, wovon vor allem die stentiellen Risiken des einzelnen abge- Ehe als Gemeinschaft auf Lebenszeit sichert. Allerdings wird dadurch auch betroffen ist. Die zwischenmenschli- verdeckt, in welchem Maße auch heu- chen Beziehungen bekommen Schlag- te noch die Familie bei Krankheit und seite: sie sind nutzenorientiert und Versorgung im Alter eine Rolle spielt. unverbindlich. Desgleichen wird die Familie in Mitleidenschaft gezogen, Zusammen mit dem Prozeß der Ver- weil Kinder nach Auffassung vieler städterung und der damit einherge- Menschen die eigenen Entfaltungs- henden Anonymisierung der Lebens- möglichkeiten und die bedingungslose verhältnisse in den Großstädten und Ich-Entfaltung beschränken. Oben- Ballungsgebieten hat der materiel- drein suggerieren die sozialen Siche- le Wohlstand breiter Bevölkerungs- rungssysteme, daß der Lebensstandard schichten individualisierende Wirkun- und die Versorgung im Alter durch gen gefördert. An die Stelle der gei- Beiträge gesichert werden können, stig-sittlichen Wertziele und sozialer während in Wirklichkeit die An- Tugenden sind materieller Genuß und sprüche an die Alterssicherungssyste- Selbstverwirklichung vorrangige Le- me nur dann eingelöst werden kön- bensziele für viele geworden. Zwar nen, wenn in zehn, zwanzig und mehr finden Aussagen wie diejenige des Jahren genügend Beschäftigte das amerikanischen Präsidenten John F. Bruttosozialprodukt erarbeiten und Kennedy: „Wir sollen nicht fragen, was wenn sie bereit sind, die Versorgung tut unser Land für uns, sondern, was der aus dem Erwerbsleben Ausgeschie- können wir für unser Land tun“ begei- denen zu garantieren. Die Ego-zen- sterte Zustimmung auch bei der jun- trierte Gesellschaft interessiert weder gen Generation, aber das tatsächliche das Wohl und Wehe der eigenen Ge- Verhalten vieler Bürger geht damit we- neration noch die Bedingungen der nig konform. Generationenfolge.

An der Spitze der Wertehierarchie ste- Was auch viel zu wenig bedacht wird, hen in individualistisch geprägten Ge- ist das Problem der Einsamkeit und der sellschaften die individuelle Freiheit Vereinsamung. Viele junge Leute, die und Unabhängigkeit. Sieht man ge- sich als Singles wohl fühlen, haben nauer zu, so stehen diese Werte in durchaus persönliche und berufliche Spannung, wenn nicht im Gegensatz Kontakte. Wenn sie dann älter werden zu sozialen Bindungen und Pflichten, und diese Beziehungen an Zahl und die nur soweit und solange bejaht wer- Intensität abnehmen, kommt ihnen den, wie sie der einzelne einhalten oft zum Bewußtsein, was es bedeutet, will. In der bisherigen Sozialkultur keine Familie zu haben. Dies schlägt nahmen ebenfalls die Freiheit und die sich meist auf die Psyche nieder. Kin- Wohin treibt uns unsere Sozialkultur? 31 der und der Kontakt mit Kindern und archie“ und verweist auf die Zunahme Jugendlichen hält jung. Die Kehrseite von Gewaltkriminalität, Illegitimität, ist die bittere Einsicht, daß man nicht Drogenmißbrauch und politischer Kor- mehr gebraucht wird, daß sich auch ruption sowie auf jene Fälle, wo Kinder niemand mehr um einen kümmert. töten und dann nicht die Spur von Reue zeigen. Die westlichen Gesell- schaften hätten den Bock zum Gärtner 7. Die Erneuerung der gemacht, indem man den ungezügel- Sozialkultur tut not ten Egoismus und die Geldgier in den Rang sozialer Tugenden erhoben habe. Bisweilen wird der Versuch unternom- „Wir brauchen wieder eine Gesell- men, das Schwinden der Solidarität schaft, in der bestimmte Verhaltens- und das Anwachsen egoistischer Ein- weisen indiskutabel sind, also zu den stellungen und Grundhaltungen der Dingen zählen, die kein anständiger Sozialen Marktwirtschaft in die Schuhe Mensch tut oder nur in Erwägung zu schieben. Sie sei Schuld daran, daß zieht: etwa seine Kinder im Stich zu viele Menschen nur noch in den Kate- lassen, Versicherungsbetrug zu bege- gorien von Effizienz und Erfolg, von hen, bei Prüfungen zu täuschen, die Geld und Reichtum, von Gewinn und Sparkonten anderer Leute zu plündern Durchsetzungsvermögen denken, daß oder Untergebene sexuell zu belä- sich Egoismus, Nützlichkeitsdenken, stigen. Wir brauchen auch wieder eine das Vertrauen in die reinen Marktkräf- Situation, in der viele positive Verhal- te und die Verdrängung von Ethik und tensregeln – also Gebote – gültig sind Religion in den privaten Bereich breit- und ohne Wenn und Aber akzeptiert machen. werden.“9

Amitai Etzioni, ein maßgeblicher Ver- Die von Kommunitaristen entwickelte treter des „Kommunitarismus“ in den kritische Analyse des Individualismus USA, stellte zu Beginn der neunziger und die Aufdeckung von Irrwegen und Jahre fest: „Wie ein Radfahrer, so muß Sackgassen, in die die fortgeschrittene auch eine Gesellschaft die Balance hal- Industriegesellschaft hineingeschlittert ten. Sie darf weder zur Anarchie des ist, hat erstaunliche Parallelen zu Fest- Extremindividualismus und zur Ver- stellungen in den letzten Sozialenzy- nachlässigung des Gemeinwohls ten- kliken Papst Johannes Pauls II., der in dieren noch zum Kollektivismus, der ähnlicher Weise vor den Gefahren des das Individuum moralisch abwertet. Egoismus warnt, der den Zusammen- Daher muß man Gemeinschaften halt in den Gemeinschaften auflöst ständig dazu bringen, ein ausgewoge- und das Gemeinwohl den eigenen In- nes Verhältnis zwischen Individual- teressen unterordnet. rechten und sozialen Pflichten herzu- stellen... . Der Westen ist in der kalten Sicherlich ist die menschliche Person Jahreszeit des exzessiven Individualis- „Selbstwert“. Das christliche Verständ- mus und sehnt sich nach der Wärme nis, das die Entwicklung des Bewußt- der Gemeinschaft, die menschliche seins um die Würde und Grundrechte Beziehungen wieder erblühen läßt.“8 des einzelnen Menschen begründet Etzioni spricht von „moralischer An- und gefördert hat, trug wesentlich da- 32 Anton Rauscher zu bei, die dienende Rolle jeder Ge- mehr und etwas anderes als nur eine meinschaft und in Sonderheit des vertragliche Vereinbarung, womöglich Staates dingfest zu machen. Würden nur zu wechselseitigem Nutzen. Es die Begriffe Selbstbestimmung und sind die gemeinsamen Werte, die jene Selbstverwirklichung nur dies zum Einheit und Stabilität begründen und Ausdruck bringen, wären sie unpro- die erst die Erreichung der gemeinsa- blematisch. Was jedoch – zumindest men Ziele und Zwecke ermöglichen. im heutigen Verständnis – zu kurz Weil sie stabil und nicht der Beliebig- kommt, ist die Einsicht, daß der keit ausgesetzt sind, gewähren sie jene Mensch nicht einfach Individuum ist, human-soziale Geborgenheit, die für sondern Person inmitten der Gesell- die Menschen ebenso notwendig wie schaft, daß der Mensch von seinem wohltuend ist. Dies gilt in erster Linie Wesen her eine soziale Dimension be- für Ehe und Familie als Fundament der sitzt und nur in Gemeinschaft sich Gesellschaft, dies gilt auch für die poli- entfalten kann. Gemeinschaft und Ge- tische Gemeinschaft, die das Gemein- sellschaft sind mehr als nur eine Sum- wohl umfassend und dauerhaft ver- me von Individuen, sind qualitativ bürgen soll.

Anmerkungen 1 Für eine Zukunft in Solidarität und Ge- der Sozialenzyklika Quadragesimo anno rechtigkeit. Wort des Rates der Evangeli- dem „gemäßigten (= demokratischen) So- schen Kirche in Deutschland und der zialismus“ vorhält, er sehe in der Ge- Deutschen Bischofskonferenz zur wirt- sellschaft „lediglich eine Nutzveranstal- schaftlichen und sozialen Lage in Deutsch- tung“, wodurch er im Gegensatz zur land, Bonn 1997, S. 5. christlichen Gesellschaftsauffassung ste- 2 Im III. Kapitel befaßt sich die Enzyklika he (Nr. 118). eingehend mit den Ursachen und Grün- 7 Vgl. den Artikel von Stephanie Wahl, Ist den, die den Zusammenbruch des Sozia- die Individualisierung der Gesellschaft am lismus herbeigeführt haben: Nr. 22 – 28. Ende? Die Folgen von Verstädterung und 3 Vgl. hierzu die sowohl in der Analyse der materiellem Wohlstand breiter Bevölke- Probleme als auch in ihrer Lösungskapa- rungsschichten, in: Deutsche Tagespost, zität beachtlichen Beiträge in der Unter- Nr. 144 vom 30. November 1996, S. 14. – suchung: Zukunftsfähige Gesellschaft. Dazu auch die Untersuchung von Ludger Beiträge zu Grundfragen der Wirtschafts- Kühnhardt, Jeder für sich und alle gegen und Sozialpolitik, hrsg. von Anton Rau- alle, Freiburg i. Br. 1994. scher, 1998. 8 Amitai Etzioni, Die Entdeckung des 4 Das Buch ist im Oktober 1998 in der Deut- Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwort- schen Verlagsanstalt, Stuttgart, erschienen. lichkeiten und das Programm des Kommu- 5 Vgl. Anton Rauscher, Gemeinsinn statt nitarismus (Titel der amerikanischen Ori- Egoismus. Für eine Stärkung der Sozial- ginal-Ausgabe: The Spirit of Community), kultur, in: Kirche und Gesellschaft, Nr. 243, Stuttart 1995, Vorwort zur deutschen Aus- Köln 1997, 16 S. gabe, S.X. 6 Es ist aufschlußreich, daß Pius XI. in 9 Ebda, 28f.. Kommunitarische Politik in Deutschland Ein Überblick

Walter Reese-Schäfer

1. Die Wiederentdeckung und geprägten Gesellschaft der Individuen. Neufassung einer alten Idee Diese vorwiegend analytisch gemein- ten Überlegungen wurden bald zur Ideengeschichtlich gesehen ist das Parole der deutschen Jugendbewe- kommunitarische Denken ein Rück- gung, aber auch eines religiös-utopisch import von Gedanken aus den USA geprägten Sozialismus, wie ihn dann nach Europa, die ursprünglich vor in der ersten Hälfte des zwanzigsten allem im deutschen Sprachraum ent- Jahrhunderts vor allem Martin Buber standen waren. Durch den Umweg vertreten hat. Das Standardwerk dieses über Amerika sind Ideen, die betulich, Denkens ist Bubers „Pfade in Utopia. angestaubt und durch totalitäre Ge- Über Gemeinschaft und deren Ver- meinschaftsideologien diskrediert er- wirklichung“2, das in emphatischer scheinen konnten, revitalisiert und Weise die kommunitarische Ideologie modernisiert worden. Ein Reimport der Kibbuzbewegung in Israel formu- muß ja nichts Anstößiges sein. Das liert hat. weltweite Hin und Her der Ideen in einem längst globalisierten Austausch Auf dem Wege über Israel ist dieses hat vielmehr so etwas wie einen Ver- Denken in die Vereinigten Staaten ge- edelungsprozeß, zumindest eine Pur- langt. Amitai Etzioni, der 1929 unter gation in Gang gesetzt.1 dem Namen Werner Falk in Köln geboren wurde, emigrierte 1936 mit Die Wege dieses Reimports lassen seinen Eltern nach Palästina. Er wuchs sich schlaglichtartig konzentriert so in einem Kibbuz auf. Nach dem Un- nachzeichen: Der Referenztext allen abhängigkeitskrieg studierte er an der community-Denkens ist Ferdinand Hebräischen Universität in Jerusalem Tönnies' soziologischer Klassiker „Ge- Soziologie und wurde dort von Martin meinschaft und Gesellschaft“ aus dem Buber, den wir in Europa vor allem als Jahre 1887. Tönnies diagnostizierte Theologen kennen, in die Grundbe- den Verfall traditionaler Gemeinschaf- griffe der Soziologie eingeführt. Seit ten in den Dörfern und Kleinstädten 1958 ist er Hochschullehrer in den zugunsten einer modernen städtisch USA und hat dort das Konzept einer

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 34 Walter Reese-Schäfer

Gesellschaft, die sich von den Basis- Die ersten deutschen Reaktionen so- aktivitäten ihrer Bürger her konsti- wohl der Medien wie auch der Intel- tuiert, entwickelt und immer weiter lektuellen waren Anfang der neunziger ausgebaut. Jahre kritisch distanziert. Die linkslibe- rale Frankfurter Rundschau veröffent- Etzionis kommunitarisches Denken lichte eine Artikelserie, die nur einen begreift sich in entschiedener Weise einzigen Kommunitarier zu Wort kom- in Absetzung vom traditionellen Ge- men ließ, dafür aber eine ganze Serie meinschaftsdenken. Er spricht deshalb von Widerlegungen im kritisch-über- ganz bewußt von einem „responsiven legenen Gestus. Eine vom Gründungs- Kommunitarismus“ und hat die von sekretariat der Frankfurter Akademie ihm 1990 gegründete Zeitschrift auch für Künste und Wissenschaften im „The Responsive Community“ genannt. Jahre 1992 veranstaltete Konferenz er- möglichte immerhin schon einigen Mit diesem Kunstwort Responsitivität Originalkommunitariern wie etwa ist gemeint, daß die Gemeinschaft Charles Taylor und Martha Nussbaum nicht einfach ihre Mitglieder für ihre den Auftritt. Vor allem Taylor argu- kollektiven Ziele vereinnahmt, son- mentierte gegenüber dem die Konfe- dern vielmehr in der Lage ist, aktiv auf renz dominierenden Jürgen Habermas die Bedürfnisse jedes einzelnen Mit- eher defensiv und erklärte, eigentlich glieds zu antworten, zu reagieren. sei er gar kein Kommunitarier. Mittler- Responsiv ist zum Beispiel auch ein weile bekennt er sich auch öffentlich Automotor, der auf die kleinste Regung zu den politischen Inhalten dieser von des Gaspedals zu reagieren imstan- Amitai Etzioni als Netzwerk organisier- de ist. ten Bewegung, so daß diese Reserven eher dem Augenblick und der Situa- In Deutschland schlägt er deshalb vor, tion zugeschrieben werden müssen. statt von der „Gemeinschaft“ lieber Aber auch hier war es so, daß die über- vom „Gemeinwesen“ zu sprechen, um wiegende Zahl der Konferenzbeiträge falsche Assoziationen auszuschließen. mit dem Thema nichts zu tun hatte. Eine Gemeinschaft ist etwas, was im- Nur etwa sieben Beiträge von insge- mer schon existiert und dem man eher samt 28, die in den beiden Kongreß- durch Geburt als durch Verdienst und bänden veröffentlicht wurden, können Anstrengung angehört. Ein Gemein- als kommunitarisch orientiert angese- wesen dagegen muß ständig durch die hen werden. Eigenleistung seiner Mitglieder und durch eine institutionelle Strukturie- Nach 1992 allerdings setzte eine inten- rung erhalten werden. Mit den Werten sivere und differenzierte Rezeption ein. der sogenannten „asiatischen Demo- Am 8. März 1994 druckte die Frankfur- kratien“ wie zum Beispiel Harmonie, ter Allgemeine Zeitung eine deutsche Ordnung und Autorität will dieser Übersetzung der „Responsive Commu- neue Kommunitarismus möglichst nitarian Platform“ ab. Dieser Text ist nichts zu tun haben. Etzioni ist im bis heute das einzige maßgebliche und Grunde ein liberaler Kommunitarier, konsentierte Dokument der internatio- wie auch Philipp Selznick, William nalen kommunitarischen Bewegung. Galston und andere. Jetzt ist es leicht zugänglich unter dem Kommunitarische Politik in Deutschland 35

Titel „Das kommunitarische Programm. gegeben, wohl aber ein aktives Netz- Rechte und Pflichten“ in Amitai Et- werk akademisch hochrangiger Intel- zionis Buch „Die Entdeckung des Ge- lektueller unter der charismatischen meinwesens. Ansprüche, Verantwort- Führung von Amitai Etzioni. lichkeiten und das Programm des Kommunitarismus“3. In Deutschland wurden 1996 einzelne Versuche unternommen, über kirch- Etzioni hat darüber hinaus bei seinen liche Akademien vielleicht auch ein Rundreisen zwischen 1994 und 1998, eigenständiges und durchaus un- als er die asiatischen Länder, Deutsch- ironisch so genanntes „kommunita- land und Osteuropa besuchte, um über risches Manifest“ für dieses Land zu die kommunitarischen Themen zu dis- schreiben. Der schließlich 1997 ver- kutieren, ein offenes Ohr nicht nur öffentlichte Text verfehlt bei genauerer bei Intellektuellen und Studenten, son- Betrachtung den kommunitarischen dern vor allem auch bei führenden Po- Geist, denn er ist voll von Formu- litikern wie , Rudolf lierungen wie „Wir brauchen“, „Wir Scharping, Norbert Burger, dem Ober- müssen“, „Es ist gefordert“, also einer bürgermeister von Köln, Joschka Fi- Forderungsrhetorik im Stil der siebziger scher, dem SPD-Theoretiker Thomas Jahre, die die Kommunitarier doch ge- Meyer und anderen gefunden. Jacques rade durch einen neuen Geist der Delors, der frühere EG-Präsident, rede- Selbstorganisation zu überwinden ge- te bald wie ein echter Kommunitarier, hofft hatten.5 Anders als in den USA, und ebenso David Willets von den bri- wo Etzioni die kommunitarische Agen- tischen Tories sowie Paddy Ashdown da im wesentlichen im Alleingang for- von den Liberalen. Wirklich erfolg- muliert und durch sein Charisma eine reich mit einem kommunitarisch ori- Reihe von Anhängern gefunden hatte, entierten Politikkonzept und zugleich war hier in der Tradition der Parteipro- der enthusiastischste Kommunitarier grammdiskussionen als Selbstbeschäf- unter allem europäischen Politikern tigung von Parteiintellektuellen eher aber war sehr bald der Labour-Vorsit- an eine Dauerdiskussion mit der Bera- zende Tony Blair, zu dessen Wahlsieg tung jedes Halbsatzes gedacht gewe- 1997 die Übernahme dieser Denkweise sen, so daß die reale Form der Umset- oder zumindest Rhetorik nicht unwe- zung gewiß gut gemeinter Absichten sentlich beigetragen haben dürfte.4 eher auf einen überholten Organisati- onsstil schließen ließ. Dieser Versuch In den USA und Großbritannien hatte muß heute wohl als versandet gelten. der Kommunitarismus eine explizit po- litische Funktion gehabt bei den Über- Inzwischen ist mit geringen finanziel- legungen innerhalb der demokrati- len Mitteln, aber hoher kommunika- schen Partei und der Labour Party, wie tiver Effizienz ein parteiunabhängiges man die Mittelschichten und Fachar- und allen Vereinnahmungsversuchen beiter, die sich für Ronald Reagan und fernstehendes „deutschsprachiges Kom- Margaret Thatcher entschieden hatten, munitariernetzwerk“ gegründet wor- zurückgewinnen könnte. Eine Basis- den, das Hans-Ulrich Nübel in Freiburg organisation der Kommunitarier im verwaltet.6 In enger Zusammenarbeit eigentlichen Sinne hat es deshalb nie mit dem weltweiten amerikanischen 36 Walter Reese-Schäfer

Netzwerk wird hier systematisch ein meinschaftsgebundenheit der Person deutschsprachiges Angebot von Infor- entschieden, ohne deren Eigenwert an- mationspapieren, Literatur- und Ver- zutasten.“7 anstaltungshinweisen geboten sowie eine Kontaktaufnahme mit Referenten organisiert. Es soll der Entwicklung 2. Bürgerschaftliches kommunitarischer Theorie und Praxis Engagement und dienen, die Angebote des Communi- Kommunalverwaltungen tarian Network in deutscher Sprache vertreten und die Ergebnisse des Im deutschen Föderalismus existierte deutschsprachigen Diskurses in andere auch praktisch eine kommunitarische Sprachräume vermitteln. Inhaltlich ist Tradition, welche aber durch den in- das Ziel eine Balance zwischen Auto- zwischen auch an der kommunalen nomie und Ordnung, d.h. ein dritter Basis spürbaren Europäisierungs- und Weg zwischen Individualismus und Globalisierungsdruck einerseits und Kollektivismus. Von den üblichen durch einen zunehmenden, von den Denkschablonen der rechts-links-Dif- Sozialwissenschaftlern meist unter ferenzierung versucht man sich hier dem Stichwort „Individualisierung“ in- nach Möglichkeit zu befreien und sei- terpretierten Rückzug der Bürger aus ne Aufmerksamkeit auf die Gestaltung bestimmten Formen des Engagements der „Ich-Wir-Beziehungen“ zu richten in die Defensive zu geraten droht. sowie der Gestaltung der Interaktion Durch die Herausbildung der von der zwischen verschiedenen Communities EU organisierten und an den Ländern durch internationale und interkul- vorbei finanzierten Regionen sind die turelle moralische Dialoge, z.B. über kommunalen Politikbereiche vielfach Menschenrechtsfragen. entmachtet worden. Wesentliche För- derungsentscheidungen fallen längst In der Wissenschaft hat der Einfluß des in Brüssel. Die Regionen gelten da- kommunitarischen Denkens interes- rüber hinaus als fortschrittlicher im sante Perspektiven eröffnet. Der Hei- Vergleich zu den traditionellen Struk- delberger Staatsrechtler Winfried Brug- turen, obwohl sie demokratisch kaum ger hat z.B. dargelegt, daß der Kom- legitimiert sind. Im Grunde ist die Re- munitarismus als Verfassungstheorie gionalismuspolitik eine Methode, wie des Grundgesetzes betrachtet werden Europa von Brüssel aus direkt, unter könne. Umgehung der jeweiligen demokrati- schen Grundstrukturen regiert werden Das Bundesverfassungsgericht hat von kann. Deshalb greifen Kommunalpoli- Anfang an ein ausgeprägt kommunita- tiker recht dankbar zu Begründungs- risches Menschenbild vertreten, am konzepten, die dazu dienen könnten, prägnantesten in folgender Formulie- die Bedeutung ihrer Ebene wieder zu rung: „Das Menschenbild des Grund- stärken. Eine überzeugende Gegen- gesetzes ist nicht das eines isolierten wehr und die Einforderung von Mit- souveränen Individuums; das Grund- sprache ist dann am aussichtsreich- gesetz hat vielmehr die Spannung In- sten, wenn diese sich auf basis- dividuum-Gemeinschaft im Sinne der demokratische Eigeninitiativen stützen Gemeinschaftsbezogenheit und Ge- kann. Darin liegt ein weiterer Grund Kommunitarische Politik in Deutschland 37 für die Beliebtheit des kommuni- Eine Besonderheit dieses Ansatzes ist tarischen Denkens im kommunal- seine wissenschaftliche Begleitung politischen Bereich. Es handelt sich durch die Kontaktstelle für praxis- demgemäß um eine ausgesprochen orientierte Forschung e.V. an der Evan- praktische, praxisorientierte Kommuni- gelischen Fachhochschule Freiburg, tarismusrezeption ohne besondere phi- die hierzu neben einer Reihe von For- losophische Ansprüche, allerdings kei- schungsveröffentlichungen vor allem neswegs, wie gleich zu zeigen sein wird, auch ein Praxis-Handbuch für bürger- ohne wissenschaftliche Begleitung und schaftliches Engagement herausge- durchaus mit strategisch weitreichen- bracht hat.9 den Überlegungen verknüpft. Der Hintergrund dieser Initiativen ist Es geht durchweg um die Aufwertung eine längere und ältere Tradition ge- und Neukonzeptionierung vorhande- meinschaftlichen Engagements in die- ner Traditionen im Sinne eines moder- sem Bundesland. Unter allen Bundes- nen, weltoffenen kommunitarischen ländern ist es wohl dasjenige mit der Denkens. Kommunalpolitiker und reichhaltigsten und ältesten kommu- Landespolitiker in Baden-Württemberg nitarischen Tradition. Dort gab es die haben hierbei zusammen mit wissen- sogenannten Friedensrichter z.B. noch schaftlichen Beratern eine Art Vorrei- bis in die 60er Jahre, die kleinere terrolle übernommen. Es gibt seit 1994 Rechtsfälle entschieden. Sie wurden eine „Arbeitsgemeinschaft bürgerschaft- aus verfassungsrechtlichen Gründen liches Engagement“, die von der Lan- abgeschafft, obwohl sie gegen die viel- desregierung unterstützt wird, und die beklagte Überlastung der Justiz ein gu- vor allem in der Sozialpolitik wichtige tes Mittel wären. Initiativ- und Koordinationsfunktio- nen übernommen hat. Statt passiver Zugleich gibt es in Baden-Württem- Unterhaltung und Fürsorge wird dort berg beim Kultusministerium ein „Lan- die Bewußtwerdung eigener Lebens- desbüro Ehrenamt“ unter der Leitung situationen und die Hilfe zur Selbst- von Hans-Ingo von Pollern, dessen Ziel hilfe betont. Vernetzt werden Bürger- es ist, in systematischer Weise ehren- büros wie das Heidelberger Selbst- amtliche Tätigkeit anzustoßen und hilfebüro, das Freiburger Selbsthilfe- zu fördern. Auf diese Weise soll der büro, das Bürgerbüro Friedrichshafen von Sozialwissenschaftlern beobachte- und andere. Unter Titeln wie „Zwi- ten zurückgehenden Bereitschaft der schen Eigennutz und Gemeinsinn“ Bürger zum freiwilligen Engagement wurden bislang zwei Kongresse zum schon in den Schulen und auf gesell- Thema „Bürgerschaftliches Engage- schaftlicher Ebene gegengesteuert wer- ment“ veranstaltet. Das Sozialministe- den. Dazu gehört unter vielen anderen rium hat dort eine eigene Geschäfts- Einzelpunkten die Entwicklung eines stelle „Bürgerschaftliches Engagement“ Beratungssystems, die Behandlung von eingerichtet. Im März 1996 wurden steuerlichen Fragen, die Weiterbildung Zehn Thesen der Bürgerbüros in für Ehrenamtliche, die Ausstellung Baden-Württemberg veröffentlicht.8 und Werbung für entsprechende schu- Motor dieser Initiativen ist Konrad lische Zertifikate, in denen nach gene- Hummel. rell gültigen Kriterien das Engagement 38 Walter Reese-Schäfer bestätigt und z.B. auch durch Vergabe In Hamburg hat die Polizei eine Aktion durch Bonusleistungen wie einer um „Hand in Hand für eine sichere Nach- 50 DM ermäßigten Bahncard für Inha- barschaft“ gestartet, deren Parole zeigt, berinnen und Inhaber von Jugend- was passieren kann, wenn nicht Philo- gruppenleiterausweisen auch materiell sophen, sondern Polizisten die Sache anerkannt wird.10 in die Hand nehmen: „Wenn jeder auf seinen Nachbarn aufpaßt, ist auf jeden In der württembergischen Stadt Geis- aufgepaßt.“12 Man muß also – wie bei lingen hat das Forschungsinstitut allen Ideen, vom Liberalismus bis zum SIGMA 1995 eine Untersuchung zur Sozialismus – immer auch an die Risi- Bereitschaft der Bürger angestellt, sich ken und Nebenwirkungen denken. in neuen Formen zu engagieren. Dort gibt es zwei Projekte, in denen Bürger Ein politischer Praktiker, nämlich Ger- Sozialarbeit selbst gestalten. Das eine hard Pfreundschuh, der als Landrat des heißt „Bürger im Kontakt“, wo Lei- Neckar-Odenwald-Kreises tätig ist, hat stungen wie Krankenbesuche, Repara- unter dem Titel „Den Staat neu gestal- turdienste, Kinderbeaufsichtigung und ten. Mutige Reformen für ein erfolgrei- ähnliches eingebracht werden können, ches Gemeinwesen“13 ein umfassendes das zweite ist der Bau eines neuen Konzept zur Reorganisation staatlicher Altenzentrums in planerischer Zu- Tätigkeit von der Basis her, d.h. von sammenarbeit mit den Bürgern, also Familie, Freundschaft und Nachbar- nicht als von oben eingepflanztes Pro- schaft sowie in einer Zweiten Stufe jekt des Fürsorgestaates. Die Ergebnis- von der regionalen zur politischen Ge- se dieser Studie widersprechen den meinschaft vorgelegt, die von kommu- Thesen, daß das Soziale Kapital, die nitarischem Geist getragen ist. Das freiwillige Initiative und die Selbstor- Bundesgebiet soll danach in sieben lei- ganisation der Bürger im Verfall begrif- stungsfähigen Freistaaten neu geglie- fen seien. Die Geislinger Studie, deren dert werden, ein umfassender Gemein- Ergebnisse mit einer europaweiten Stu- schaftsdienst als Mischung von Wehr- die des Jahres 1994 zusammengenom- und Zivildienst ausgebaut sowie ein men werden könnten, kommt zu dem struktureller zweiter Arbeitsmarkt ge- Schluß, daß eher ein Formwandel der schaffen werden. Gemeinschaftlichkeit und des Engage- ments stattgefunden hat. Jüngere Leu- te betonen, daß sie helfen wollen, weil 3. Die Rezeption des kommuni- sie sich selbst verwirklichen wollen. tarischen Denkens in der Der Ich-Bezug ist ein zentrales Motiv, deutschen Parteienpolitik während man früher bei Umfragen ge- antwortet hätte, daß man sich aus Anders als in den USA, wo Bill Clinton Pflichtgefühl, religiösem Glauben oder und Al Gore als bekennende Kommu- Menschenliebe engagiert.11 nitarier gelten können, und auch an- ders als in Großbritannien, wo Tony Aber auch in der Stadt Hannover wird Blair dies in noch höherem und noch inzwischen intensiv mit kommunitari- konsequenterem Maße ist, wurde in schen Argumenten über eine größere Deutschland das kommunitarische Bürgernähe der Verwaltung diskutiert. Denken von den politischen Richtun- Kommunitarische Politik in Deutschland 39 gen und Parteien in beinahe gleicher Parteien weniger von den Apparaten und fast schon ausgeglichen zu nen- her kommen als vielmehr von den nender Weise aufgenommen – eine Spitzenleuten. Inzwischen kann man zunächst überraschend erscheinende sagen: „Wirklich alle politischen Rich- Entwicklung, die aber einem Aktivi- tungen in Deutschland oder in West- sten wie Etzioni nur recht sein konnte. europa haben in den letzten Jahren versucht, den Kommunitarismus an Die Antworten der Parteien fielen ihre Fahnen zu heften.“17 noch 1995 auf eine erstaunliche Art übereinstimmend aus. Sowohl die Auch die CSU hat dieses Thema für Theoretiker der SPD wie auch der CDU sich entdeckt, wie das Papier ihres und der Grünen lobten das zeitdia- Fraktionsvorsitzenden im Bayerischen gnostische Potential, die Betonung der Landtag, Alois Glück, zum Thema Bürgerinitiative und des Subsidiaritäts- „Neue Bürger- und Sozialkultur“ zeigt. prinzips, kritisierten aber den poten- tiellen Tugendterror durch die Beto- Die CDU hat sich bisher von allen nung auch der Pflichten und der Parteien am wenigsten gründlich und Verantwortlichkeit des einzelnen. systematisch mit den Kommunitariern befaßt. Wolfgang Schäuble allerdings Ein Jahr später, nämlich 1996, war von hat alle wesentlichen kommunita- solchen sowohl-als-auch-Stellungnah- rischen Motive in einem Beitrag zu men nicht mehr die Rede. Die Parteien Erwin Teufels Suhrkamp-Band „Was fingen an, sich aktiv gegenseitig das hält die moderne Gesellschaft zusam- Recht zu bestreiten, sich auf kom- men?“18 aufgezählt: die potentielle munitarische Argumente berufen zu Selbstzerstörung der liberalen Gesell- dürfen. Herta Däubler-Gmelin von der schaft durch Individualisierung und SPD beklagte sich, daß Wolfgang Atomisierung, die Notwendigkeit des Schäuble den Begriff „geklaut“ habe14 sozialen Kapitals, die Bedeutung frei- – als ob sie alle Rechte daran erworben williger Selbstorganisation und vor hätte. Hubert Kleinert entwarf eine allem der ehrenamtlichen Tätigkeit, Partei des politischen Kommunita- die Bedeutung personaler und auch rismus15, die in allen wesentlichen moralischer Verantwortung in einer Programmpunkten mit der Partei der repräsentativen Demokratie. Grünen identisch war, und Guido We- sterwelle konstatiert eine grundlegen- Individualinteressen und Gemein- de Übereinstimmung zwischen Libe- schaftlichkeit, nationale Identität und ralismus und Kommunitarismus16. persönliche Wertvorstellungen müssen Spitzenpolitiker aller Parteien drücken ausbalanciert werden – das alles sind ihren überraschten Redenschreibern bis in die Formulierungen hinein kom- Bücher zu diesem Thema in die Hand, munitarische Gedankengänge. Tho- oft mit reichhaltigen Anstreichungen mas Gauly hat festgestellt, daß die versehen, aus denen sich auf erstaun- Programmatik der CDU mit ihrer Mi- lich gründliche Lektüre schließen läßt. schung aus Eigenverantwortlichkeit Das ist für den Politikwissenschaftler und Solidarität den kommunitarischen ein bemerkenswertes Indiz dafür, daß Grundüberlegungen sehr weitgehend programmatische Innovationen in den entgegenkommt.19 40 Walter Reese-Schäfer

Der wohl wichtigste und erklärteste be durch seine kalte Orientierung auf Anhänger des kommunitarischen Den- den Profit und auf das entschiedene kens in der CDU ist aber Kurt Bieden- Desinteresse am Mitmenschen, das kopf, der vor allem die Subsidiarität als diesem unzweifelhaft ja auch große Schlüsselkategorie ansieht, nämlich Freiräume gewähre, den gesellschaft- „daß die größere Einheit der kleineren lichen Zusammenhalt. nicht abnehmen darf, was diese selber zu regeln imstande ist.“20 Die Grenzen Es ist leicht nachzuvollziehen, daß der Selbstverwirklichung und der liberale Theoretiker wie der Politikwis- wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung senschaftler Hans Vorländer zunächst sind nach Biedenkopf in Deutschland recht kritisch und abweisend auf diese erreicht. Entscheidend ist es dabei, die Gedanken reagierten. Er schrieb 1995 Verantwortung wieder auf das Indivi- in einem etwas voreiligen Nachwort duum und die kleineren gesellschaft- auf die gerade erst beginnende deut- lichen Einheiten zurückzuverlagern, sche Kommunitarismusdiskussion: „Die d.h. diese nicht weiter zu zentralisie- deutsche Geistes- wie auch die poli- ren. Gesellschaftliche Pflichten dürfen tische Geschichte kennt nicht ein nicht lediglich auf die Bürokratie ab- Zuviel, sondern ein Zuwenig an Libe- gewälzt werden. Biedenkopf will also ralismus und liberaler Werteorientie- sowohl die Selbstverwirklichungsideo- rung.“22 An solchen Formulierungen logie des Clubs Mediteranné als auch zeigt sich auch, daß nicht intellektuel- die dazu komplementäre Sozialbüro- le Modemacher den Diskurs bestim- kratie zugunsten einer neuen Beto- men, sondern er sich jenseits der Vor- nung von Gemeinschaftlichkeit über- gaben der Vordenker sozusagen von winden.21 selbst Bahn bricht. Vorländer vertrat auch die These, daß die kommunitari- Der amerikanische Sozialliberalismus schen Grundbegriffe im deutschen amerikanischer Prägung war der Aus- Kontext mit einer antimodernen und gangspunkt kommunitarischer Kritik, antiwestlichen Tradition verbunden die inzwischen auch von liberalen seien – ein Denkfehler, denn auf dem Autoren akzeptiert wird. Das zentrale Umweg über die USA hatten diese Ge- Argument lautete ja, daß der Liberalis- danken offenbar eine Verwestlichung mus keine inhaltliche Konzeption des und Modernisierung erfahren. Rezep- Guten kenne, sondern lediglich einen tionsprozesse sind eben doch unge- äußerlichen Prozeduralismus und For- heuer wichtig. Originäre und isolierte malismus der Rechte propagiere. Da- nationale Traditionen gibt es in Zeiten mit ignoriere er die inhaltlichen neuer intellektueller Globalisierung Momente, die das menschliche Zu- längst nicht mehr. Vorländers recht ab- sammenleben überhaupt erst ausma- lehnende Stellungnahme blieb dann chen, nämlich gemeinsame Werte und auch nicht das letzte Wort des Libera- ein dichtes gemeinschaftliches Ethos. lismus. In gewisser Hinsicht sei er paradox, weil die Weiterexistenz der liberalen Gerd Habermann, ein Marktliberaler Gesellschaft auf diese scheinbar vor- Hayekscher Prägung, kam in einer modernen Elemente angewiesen sei gründlichen Analyse zu dem Ergebnis, und bleibe. Der Liberalismus untergra- daß die Betonung der moralischen und Kommunitarische Politik in Deutschland 41 institutionellen Voraussetzungen der Georgios Chatzimarkakis, Mitglied demokratischen und wirtschaftlichen des FDP-Bundesvorstandes, hält das Freiheit durch die Kommunitarier bürgerschaftliche Engagement in einen wichtigen Aspekt gesellschaft- Deutschland für „ein schlummerndes licher Organisation gegen die ato- Potential, das durch die fürsorgliche mistische Soziallehre des individua- Allzuständigkeit des Staates in einen listischen amerikanischen Linkslibe- Dämmerzustand versetzt wurde. Die ralismus deutlich macht. „Die Kom- Freude am Engagement wird woanders munitarier entwickeln eine normative ausgelebt, aber nicht in der Gesell- Institutionenlehre.“23 Ganz wie die schaft.“26 Der, wie er es nennt, schwarze Chicagoer Ökonomen betonen sie die Kommunitarimus und der rotgrüne Notwendigkeit stabiler Handlungser- Kommunitarismus werden wegen ihrer wartungen und des Vertrauens, wel- Ausgrenzungstendenzen bzw. ihres an- ches die ökonomischen und sozialen tiglobalistischen Protektionismus von Transaktionskosten senkt und insofern ihm abgelehnt. Ein wirklich kommu- meßbares Sozialkapital darstellt. Eine nitärer Liberalismus müßte darauf Atomisierung der Gesellschaft dagegen basieren, daß jeder sich die Gemein- würde den totalen Staat vorbereiten. schaften, zu denen er gehören will, Das Bild egozentrischer Hedonisten, wirklich frei aussuchen kann – ein nomadenartig lebender ungebundener Punkt, zu dem sich keiner der Kom- Individuen wäre nach Habermann un- munitarier bislang in dieser Weise attraktiv – sie entsprächen Nietzsches geäußert hat, denn bei ihnen geht es „letzten Menschen“. Die Familie, Nach- mehr um die reflexive Bewußtwerdung barschaft, Gemeinde etc. hätte also der Verpflichtung, zu schon bestehen- durchaus im kommunitarischen Sinn den Gemeinschaften dazuzugehören. die Aufgabe der Kultivierung des Indi- In der FDP sind insgesamt die Stim- viduums. Das politische Programm der men weiterhin sehr stark, die die rhe- Kommunitarier würde auf Entstaat- torische Inanspruchnahme kommuni- lichung, politische Dezentralisierung tarischen Denkens ablehnen, selbst für und Stärkung nichtstaatlicher Institu- Zwecke eines ohnehin nicht besonders tionen sowie des politischen Gemein- verbindlichen Grundsatzprogramms, sinns hinauslaufen. „Es ist vom Kern- und polemisch gegen eine neue bevor- anliegen her ein Programm gegen mundende Fürsorgegemeinschaft der Staatsbürokratie und Wohlfahrtsstaat.“24 Kommunitarier ins Feld ziehen, die an die Stelle der heiligen Gesellschaft der Habermann kritisiert lediglich den So- 68er nunmehr die scheinheilige, neu zialdemokratismus bei Michael Walzer, durchmoralisierte Gesellschaft setzen dessen Abneigung gegen die Markt- würde.27 wirtschaft und die Polemik gegen die „Tyrannei des Marktes“, wie sie sich Ganz ähnlich sieht Detmar Doering, bei Robert Bellah findet.25 ein anderer Neoliberaler, im kommu- nitarischen Denken nur alten sozialde- Vor allem würden die Kommunitarier mokratischen Wein in neuen Schläu- den dritten Sektor der zivilgesellschaft- chen28. Alle Probleme der Welt würden lichen Institutionen zwischen Markt dem Liberalismus angelastet. Letztlich und Staat zu sehr betonen. seien die Kommunitarier neototalitär 42 Walter Reese-Schäfer und würden nur hinter einer ver- halt benötigt. Insbesondere kritisierte meintlich anti-etatistischen Rhetorik Scharping den überregulierten, über- nach dem Muster Bill Clintons ihren bürokratisierten und überprofessio- sozialdemokratischen Etatismus ge- nalisierten Wohlfahrtsstaat.30 Die mo- schickt verbergen29. Dieser polemische ralische Dimension soll wieder in die Ton hat in der FDP bislang noch nicht Wohlfahrtspolitik eingeführt werden, die Oberhand gewonnen – es zeigt sich der Staat soll sich weniger zurück- aber, daß das kommunitarische Den- ziehen als vielmehr seine Funktions- ken auch bei harten Marktliberalen weise ändern, und der Community doch immerhin für einige Irritationen überall dort, wo diese dazu in der La- sorgen kann. ge wäre, die Führungsrolle überlassen. Er sollte sich auf eine Supervision des Bei Altliberalen weniger. Hildegard Prozesses begrenzen und nicht alle Be- Hamm-Brücher hat sofort eine Konfe- reiche, in denen er tätig ist, sozusagen renz für mehr Gemeinsinn einberufen, mit rotweißgestreiften Absperrgittern und die Rückerinnerung an die Selbst- abriegeln. Vor allem das Subsidiaritäts- organisationspotentiale intermediärer prinzip scheint ihm hier den richtigen Organisationen Tocquevillescher Prä- Weg zu weisen. gung oder an die Analyse der morali- schen Empfindungen durch Adam Herta Däubler-Gmelin betont, daß ge- Smith selbst zeigt ja, daß man im klas- rade einer Partei wie der Sozialdemo- sischen Liberalismus für diese Aspekte kratie kommunitarische Ideen beson- und Perspektiven durchaus einen ent- ders gut täten, weil diese traditionell wickelten Sinn hatte. auf staatliche Strukturen zur Durchset- zung ihrer Reformideen gesetzt habe. In der SPD war es vor allem Rudolf Sie erhofft sich von kommunitarischen Scharping, der sich um eine Übernah- Denkansätzen ein neues gemein- me kommunitarischer Gedanken für schaftsbezogenes Verantwortungsge- die SPD bemüht hat. Er kritisierte die fühl, mittels dessen sich auf den Glo- alte staatsorientierte Haltung der So- balisierungsprozeß in der Wirtschaft zialdemokratie und vor allem deren besser reagieren ließe. alten linken Glauben, die gerechte Ordnung würde dann auch automa- Hubert Kleinert, einer der wichtigsten tisch den gerechten Bürger hervorbrin- Vordenker der Grünen, rechnet das gen, Fragen der Sozialmoralität seien kommunitarische Denken in die Fami- also zweitrangig. Ebenso kritisiert er lie liberaler Konzeptionen, allerdings die 68er-Generation in Deutschland, unter Ausschließung jenes Typus von die immer nur die Frage: Freiheit Individualismus, der das Individuum wovon? gestellt habe, nicht aber die als bloßes soziales Atom versteht. Die Frage: Freiheit wozu? Im Bereich der Linke hat nach Kleinert nach den Sozialpolitik sei es keineswegs bloß der schrecklichen „Verirrungen autoritärer Kapitalismus, sondern gerade auch die Gerechtigkeitsideen hindurch den Weg Weise, wie wir das System der sozialen von Hegel zu Kant genommen und Sicherheit staatszentriert organisieren, endlich das Individuum entdeckt. (…) wodurch die Werte erodieren, welche Mit dem Sozialismus stirbt auch der die Gesellschaft für ihren Zusammen- Etatismus – zumindest in seinen über- Kommunitarische Politik in Deutschland 43 spannten Varianten.“31 Nicht Sozial- neu gruppieren. Da der Spielraum der staatsabbau sei die zentrale Losung der Grünen bei der Aufnahme derartiger Kommunitarier, sondern vielmehr die neuer Ideen sehr viel größer ist als der Einsicht, „daß die Legitimationsbasis anderer Parteien, insbesondere der sozialstaatlich motivierter Umvertei- lobbyabhängigen FDP, hofft er, daß lung auf die Dauer nicht nur in Rechts- die Grünen möglicherweise die wirk- ansprüchen und abstrakten Rechtspo- liche Partei des politischen Kommuni- sitionen begründet sein kann, sondern tarismus in der Bundesrepublik werden letztlich auf dem praktisch erlebbaren könnten. Kleinert ist erfahren genug, Vorzug von Gemeinschaftsbindung ge- hinzuzufügen, daß es sich lediglich um genüber einem atomistischen Indivi- eine Chance handelt: Ob die Grünen dualismus basiert.“32 Für Kleinert ist „sie nutzen können, wird sich noch das Projekt der Postmoderne deshalb herausstellen.“33 die soziale Bürgergesellschaft, die Kul- tivierung eines nunmehr sozial verant- wortlichen Individualismus mit einer 4. Schluß neuen Balance zwischen Wir und Ich. Damit übernimmt er wörtlich kom- Das kommunitarische Projekt könnte munitarische Redeweisen. Es geht ihm charakterisiert werden als der Versuch darum, einen libertär-sozialen Kom- einer Wiederbelebung von Gemein- munitarismus als Korrektiv gegenüber schaftsdenken unter den Bedingungen dem individualistischen Marktlibera- postmoderner Dienstleistungsgesell- lismus zu entwickeln. Dies entspricht schaften. Diese Kurzdefinition34 be- genau den Interessen der grünen leuchtet schlaglichtartig das Span- Klientel: wohlsituierte, eine gewisse nungsfeld, in dem das kommunita- soziale Verantwortlichkeit fühlende rische Denken sich zu orientieren hat. Bürger, die dem Staat und dessen So- Vormoderne Formen von Gemein- zialpolitik mit äußerstem Mißtrauen schaftlichkeit boten den Menschen gegenüberstehen und andererseits In- traditionaler Gesellschaften die Mög- dividualisten und Bohème-Existenzen lichkeit, sich heimatlich zu fühlen. Die in unsicheren Einkommens- und Be- Auflösung dieser Bindungen im Prozeß schäftigungsverhältnissen, die nach der Modernisierung provozierte moder- einem garantierten Grundeinkommen ne, durchstrukturierte Gemeinschafts- zum Zwecke ihrer Selbstverwirkli- ideologien wie zum Beispiel den So- chung streben. zialismus des 19. Jahrhunderts.

Die Trennungslinien der Zukunft wer- Heute kann Gemeinschaftlichkeit als den aus dieser Perspektive nicht zwi- internes Korrektiv liberaler Gesellschaf- schen der Traditionsrechten und der ten auftreten, jedoch auch als paterna- Traditionslinken verlaufen, sondern listisches Relikt der Prämoderne, etwa zwischen dem marktradikalen Neoli- in der Form der Sozialkontrolle kleiner beralismus und einem sozial verant- Dorfgemeinschaften oder als neoauto- wortlichen kommunitarischen Libera- ritärer Fundamentalismus. Die politi- lismus. Gewerkschaften, Konservative sche Diskussion über den Kommunita- und Altlinke werden sich nach Klei- rismus bewegt sich zwischen diesen nert in diesem ideenpolitischen Feld Alternativen. 44 Walter Reese-Schäfer

Traditionsgemeinschaften wurden also hoben sein und hilfreiche Anregungen durch Gemeinschaften des Willens er- bieten können, wo es starke traditio- setzt, die die Bedürfnisse nach enger nelle wie aktuelle Selbstorganisations- sozialer Kommunikation, nach Selbst- kapazitäten gibt. Sie können dann verwaltung und Mitgestaltungsmög- wirksam werden als Erinnerung an lichkeiten in einem überschaubaren Gemeinschaftsstrukturen, die für den Rahmen befriedigen konnten. Die sozialen Zusammenhalt unverzichtbar hierzu erforderliche Mentalität der sind. Beim kommunitarischen Denken Selbstorganisation, die nicht auf staat- handelt es sich also um einen Impuls, liche Anstöße wartet, ist in den USA nicht um eine Ideologie. Über diese bis heute lebendig geblieben. Das ist appellative Funktion hinaus geben die der Grund dafür, daß die kommunita- kommunitarischen Theoretiker wie rischen Ideen zur Zeit von dort mit Charles Taylor und Michael Walzer eben diesen Formen der Selbstorgani- wichtige Impulse für die philosophi- sation vorangetrieben und verbreitet sche Durchdringung und Interpreta- werden. In Deutschland dürften diese tion der Existenzgrundlagen einer mo- Ideen vor allem dort am besten aufge- dernen liberalen Gesellschaft.

Anmerkungen 1 Die kommunitarische Philosophie habe 10 Rechts 123. Bd. 1998, H. 3, S. 337 – 374, ich in meinem Band: Walter Reese-Schä- Zit. S. 343. Vgl. BVerfGE 32, 98, 107f., fer, Was ist Kommunitarismus? 2. Aufl. 33,1, 10f.. Frankfurt und New York: Campus Verlag 8 Abgedruckt in Blätter für Wohlfahrts- 1995 dargestellt. Eine umfassendere Dar- pflege – Deutsche Zeitschrift für Sozialar- stellung im Kontext auch liberaler und an- beit 9/96, S. 249. Das Sozialministe- derer Theoriekonzeptionen habe ich vor- rium Baden-Württemberg, Geschäftsstelle gelegt in Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter Bürgerschaftliches Engagement, Schel- der Moral. Der neuere europäisch-ameri- lingstr. 15, 70174 Stuttgart, gibt eine Rei- kanische Diskurs zur politischen Ethik, he von Praxisberichten unter dem Ober- Frankfurt: Suhrkamp 1997. Dieser Artikel titel „Bürgerschaftliches Engagement“ konzentriert sich vorwiegend auf die poli- heraus, in dem das Heft 14 „Die Projekt- tischen Aspekte der Rezeption kommuni- landschaft Bürgerschaftlichen Enga- tarischen Denkens in Deutschland. gements in Baden-Württemberg“ um- 2 Heidelberg 3. erw. Aufl. 1985. fassende Praxisberichte und Adressen 3 Frankfurt 1998. S. 281 – 300. enthält. 4 Vgl. dazu Stephen Driver und Luke Mar- 9 Vgl. Thomas Klie/Paul-Stefan Roß, Mehr tell, New Labour. Politics after Thatche- Demokratie wagen. Das Programm „För- rism, Cambridge U.K. 1998. derung bürgerschaftliches Engagement“ 5 Vgl. Bernd Guggenberger/Thomas Mey- in Baden-Württemberg als innovatives er/Werner Peters/Tine Stein, Initiative für Beispiel von Netzwerkforschung. In: Blät- Bürgersinn. Entwurf eines kommunita- ter für Wohlfahrtspflege, Deutsche Zeit- rischen Manifests, in: Die neue Gesell- schrift für Sozialarbeit Nr. 9, 1996, S. schaft/Frankfurter Hefte, 44. Jg. 1997, 248ff.. Das Praxis-Handbuch der ARBES H. 7. S. 651 – 654. trägt den Titel „Landschaft Bürgerschaft- 6 Die Adresse im Internet ist http: mem- liches Engagement“, Freiburg 1996 und bers.aol.com/dekomnetz/basis-html. Die ist für DM 14,– zu beziehen bei der Ar- e-mail-Adresse ist [email protected]. Die beitsgemeinschaft bürgerschaftliches En- amerikanische Netzadresse des Commu- gagement, Bugginger Straße 38, 79114 nitarian Network ist: http://www.gwu.edu/ Freiburg. ccps. 10 Das Landesbüro Ehrenamt des Ministe- 7 BVerfGE 4,7, 15f., Vgl. Winfried Brugger, riums für Kultus, Jugend und Sport des Kommunitarismus als Verfassungstheorie Landes Baden-Württemberg ist zu errei- des Grundgesetzes, Archiv des öffentlichen chen unter der Adresse 70029 Stuttgart, Kommunitarische Politik in Deutschland 45

Postfach 103442, Tel. 0711/2792890. Döring (Hg.), Sozialpolitik und Gerech- 11 Vgl. Sozialministerium Baden-Württem- tigkeit, Frankfurt und New York: Campus berg (Hg.). Eurostudie. Bürgerengagement 1998, S. 75 – 117. in 3 europäischen Städten: Geislingen – 22 Hans Vorländer, Ein vorläufiges Nachwort Olot – Stirling, Stuttgart 1997. zur deutschen Kommunitarismusdebat- 12 Eppendorf – sicher oder nicht? Polizei dis- te, Forschungsjournal Neue soziale Be- kutiert mit Bürgern. Eppendorfer Wo- wegungen Jg. 8. H. 3, S. 41. chenblatt 26.2.97. 23 Habermann in: Chatzimarkakis/Hinte, 13 München und Landsberg am Lech 1997. a.a.O. S. 13. 14 In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Kom- 24 Ebenda S. 20f.. munitarismus. Initiative für Bürgersinn, 25 Vgl. Michael Walzer: Sphären der Ge- 11. Streitforum der Akademie der Politi- rechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität schen Bildung am 13. Juni 1996 in Bonn, und Gleichheit. Frankfurt und New York S. 21. 1992 und Robert N. Bellah, Richard Mad- 15 In: Georgios Chatzimarkakis/Holger Hin- sen, William Sullivan, Anne Swidler, Ste- te (Hg): Freiheit und Gemeinsinn. Ver- ven M. Tipton: Gegen die Tyrannei des tragen sich Liberalismus und Kommuni- Marktes,. In: Christel Zahlmann (ed.): tarismus? Bonn 1997, S. 274. Kommunitarismus in der Diskussion. 16 Ebenda S. 322. Eine streitbare Einführung, Berlin 1992. 17 Hans Joas, in: Friedrich-Ebert-Stiftung 57 – 73. (Hg.), Kommunitarismus. Initiative für 26 Ebenda S. 329. Bürgersinn, 11. Streitforum der Akademie 27 Beerfetlz in: Ebenda S. 355. der Politischen Bildung am 13. Juni 1996 28 Doering in: Ebenda S. 34. in Bonn, S. 21. 29 Ebenda S. 45. 18 Erwin Teufel (Hg.), Was hält die moder- 30 Rudolf Scharping: Freedom, Solidarity, ne Gesellschaft zusammen?, Frankfurt: Individual Responsibility: Reflections on Suhrkamp 1996. the Relationship between Politics, Money, 19 Thomas M. Gauly, Programmatik und and Morality. The Responsive Commu- Politik der CDU und ihr Verhältnis nity. Rights and Responsibilities Vol. 6, zu kommunitarischen Konzepten, For- Nr. 4, Fall 1996, 51 – 58, hier S. 55. schungsjournal Neue soziale Bewegungen 31 Kleinert, Kommunitarismus – Widerpart Jg. 8. H. 3, S. 76 – 82. des Neoliberalismus, in Chatzimarka- 20 Biedenkopf in: Chatzimarkakis/Hinte, kis/Hinte S. 272. a.a.O. S. 99. 32 Ebenda S. 273. 21 Die kommunitarischen Modelle zur So- 33 Ebenda S. 276. zialpolitik habe ich zusammenfassend 34 Derartige Kurzdefinitionen sind selbst- dargestellt in Walter Reese-Schäfer, Kom- verständlich immer problematisch. Ich munitarisches Sozialstaatsdenken. So- verweise auf meine ausführlichere zialpolitische Gerechtigkeitsimplikatio- und differenziertere Darstellung in den nen in der kommunitarischen Diskus- beiden unter Anmerkung 1 genannten sion, in: Siegfried Blasche und Diether Büchern. Bürgerschaftliches Engagementpotential

Helmut Klages

1. Das Leitbild der „Bürger- ● Falls ein Engagementpotential vor- gesellschaft” als Ausgangs- handen ist: Was kann bzw. muß ge- punkt neuartiger Fragen tan werden, um dieses Potential zu aktualisieren und wirksam werden Mit der Aufwertung des freiwilligen zu lassen? Welche praktischen Fol- bürgerschaftlichen Engagements als gerungen ergeben sich für die zu- Ressource gesellschaftlicher Lebens- künftige Engagementförderung? qualität und Wohlfahrtsproduktion ● Welche Entwicklungschancen der treten gegenwärtig nicht nur faszinie- Bürgergesellschaft zeichnen sich rende Perspektiven einer zukünftigen von daher gesehen ab? „bürgergesellschaftlichen“ Entwicklung, sondern auch neuartige Fragen in den Nachfolgend sollen in Richtung der Vordergrund, die bisher nur selten ge- Beantwortung dieser Fragen einige vor- stellt wurden oder völlig unbekannt läufige empirische Antworten gegeben waren. werden.

Diese Fragen lauten wie folgt: Die hierbei benutzte Quelle ist unser Speyerer „Survey 1997” zum Thema ● Wie groß ist eigentlich der Um- des Wertewandels und des bürger- fang des freiwilligen Engagements? schaftlichen Engagements. Die Erhe- (Wie viele Menschen sind wo en- bung wurde mit Fördermitteln der gagiert? Was wird von ihnen ge- Robert Bosch Stiftung und der Fritz leistet?) Thyssen Stiftung in der Zeit zwischen ● Wie groß ist eigentlich das bisher Mai und Juli 1997 bei ca. 2000 Per- noch ungenutzte Engagementpo- sonen in den alten Ländern und bei tential? (Wie viele der bisher noch 1000 Personen in den neuen Ländern nicht engagierten Menschen sind und Ost-Berlin von Infratest-Burke, bereit, sich zu engagieren? Unter München, durchgeführt. Interessierten welchen Bedingungen ist dies der Lesern sei vorweg verraten, daß es Fall? Welche Leistung kann von weitere Speyerer Veröffentlichungen ihnen erwartet werden? Wie viele zu der hier behandelten Thematik gibt, der bereits engagierten Menschen aus denen sie zusätzliche Informatio- würden sich zusätzlich engagieren nen über unsere Forschungsergebnisse wollen? entnehmen können.*

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 Bürgerschaftliches Engagementpotential 47

2. Freiwilliges ehrenamtliches läßliche Arbeitsgrundlage ansehen. Engagement in Deutschland Demzufolge liegt der Anteil der frei- – ein Opfer der „Ego- willig Engagierten, derjenigen Men- Gesellschaft”? schen also, die in Deutschland ehren- amtliche Arbeit im weitesten Sinne des Im Vorraum des Kernthemas dieses Wortes leisten, in Wahrheit bei 38% Textes soll zunächst festgehalten wer- und somit in der Spitzengruppe der in- den, daß es auf die verhältnismäßig ternationalen Vergleichstabelle (ge- einfach anmutende Frage nach dem nauer gesagt liegt er in den westlichen Umfang des ehrenamtlichen Engage- Bundesländern bei 39% und in den ments in Deutschland gegenwärtig neuen Ländern bei 35% der Einwoh- noch verwirrend unterschiedliche Ant- ner ab 18 Jahren). worten gibt. Die Zahlen, die genannt werden, um den Anteil der Engagier- Wir gehen aufgrund unserer Untersu- ten an der Gesamtbevölkerung zu chungsergebnisse auch nicht davon kennzeichnen, differieren um mehr als aus, daß der Wertewandel das Engage- 100%. Mit der Nennung niedriger ment gefährdet, sondern daß er es Zahlen verbindet sich gewöhnlich die umgekehrt stützt und fördert. Die Feststellung, Deutschland bleibe be- unmißverständliche Basis für diese züglich des Umfangs des ehrenamtli- konträre Feststellung liefert uns die chen Engagements deutlich hinter den Erfassung und Analyse der Engage- meisten anderen Ländern zurück. mentmotive, aus der sich eindeutig ab- Gründe für dieses angebliche Defizit lesen läßt, daß es eine starke positive sind schnell bei der Hand. Man findet Beziehung zwischen den im Vor- sie gewöhnlich bei dem gesellschaft- dringen befindlichen „Selbstentfal- lichen Wertewandel, der seit den 60er tungswerten” und der Bereitschaft zum Jahren in Deutschland stattgefunden Engagement gibt. Auch auf die weiter- hat, der „Selbstentfaltungswerten” Auf- führende Frage nach der Sozialstruktur wind vermittelt hat und der damit, wie des freiwilligen bürgerschaftlichen En- man öfters meint, einem rigiden Indi- gagements liefert unser Survey 1997 vidualismus und in seinem Gefolge eine Vielzahl von Antworten, aus de- einer gefühlskalten, gemeinschaftsbe- nen an dieser Stelle nur einige Bruch- zogenes Denken und Handeln abtö- stücke herausgegriffen seien. So läßt tenden „Ego”- oder „Ellenbogengesell- sich mit Sicherheit sagen, daß die Be- schaft” zum Durchbruch verholfen hat. teiligung am Engagement bei den jungen Menschen etwa im Durch- Wir selbst können auf die gestellte Fra- schnitt liegt, daß sie bei den 40 – ge aufgrund unseres Survey 1997 nun 45jährigen einen die 50%-Grenze über- allerdings eine sehr viel optimistische- schreitenden Gipfelpunkt erreicht und re Antwort geben, die angesichts der daß sie bei den darauf folgenden Al- allenthalben vorherrschenden Skepsis tersgruppen allmählich abfällt, wobei zwar überraschend ist, die wir aber sie allerdings erst bei den 70 – 75jähri- nichtsdestoweniger – ungeachtet ihrer gen einen deutlichen Knick erfährt. noch ausstehenden Bestätigung durch Weiter läßt sich sagen, daß die Beteili- weitere Studien mit noch breiter ange- gung am Engagement – einer weit ver- legter empirischer Basis – als eine ver- breiteten Meinung zuwiderlaufend – 48 Helmut Klages insgesamt gesehen bei den Männern 3. Das ungenutzte Engagement- etwas stärker ausgebildet ist als bei den potential – eine riesige Frauen, die allerdings in bestimmten „schlafende” Ressource Engagementbereichen wie z.B. im so- zialen Bereich in der Mehrheit sind. Der beträchtlich große Umfang des En- Weiter gehört es zu den Grundtat- gagements in Deutschland deutet nun sachen des Engagements, die man rea- allerdings keinesfalls darauf hin, daß die listischerweise zur Kenntnis nehmen insgesamt verfügbare gesellschaftliche muß, daß das Engagement bei den Engagementkapazität bereits mehr oder „gehobeneren” Sozialschichten der weniger ausgeschöpft ist. Im Gegenteil Bevölkerung gegenwärtig noch sehr lassen sich auf empirischem Wege ge- viel stärker ausgebildet ist als bei den waltige zusätzliche Vorräte eines gewis- breiteren bzw. „unteren” Schichten. sermaßen noch im Schlafzustand be- Während von denjenigen Menschen, findlichen Engagement-Potentials in die sich selbst der „Oberschicht” oder Deutschland identifizieren. Wir fragten „oberen Mittelschicht” zurechnen, in unserer eigenen Untersuchung dieje- über 50% engagiert sind, sind es un- nigen Menschen, die kein aktuelles En- seren Daten zufolge – mit gewissen gagement angeben konnten, „Wären Unterschieden zwischen den alten und Sie bereit, sich selbst ehrenamtlich oder den neuen Ländern – bei der „mittle- in der Selbsthilfe zu engagieren?” Den ren Mittelschicht” knapp 40% , bei der Überraschungscharakter der Antworten „unteren Mittelschicht” etwas über auf diese Frage kann der Leser selbst 33% und bei der „Unterschicht” nur nachvollziehen, wenn er sich der nach- ca. 15% . folgenden Grafik zuwendet:

Engagiert? Ob man sich freiwillig und unentgeltlich engagiert Bürgerschaftliches Engagementpotential 49

Wie sich zeigt, können sich über 50% übrig, die heute abseits stehen und der Menschen in West- und Ost- die auch in Zukunft abseits stehen deutschland, die bisher nicht in ir- wollen. gendeiner Form engagiert sind, ein zukünftiges Engagement vorstellen. Vergleichen wir die Sozialstruktur der Es gibt, mit anderen Worten, ein rie- am Engagement interessierten Men- siges, mehrere Millionen Menschen schen mit dem der bereits Engagier- umfassendes, bisher ungenutztes En- ten, dann können wir anhand der gagementpotential. Rechnet man die nachfolgenden Grafik zunächst fest- bereits Engagierten hinzu, dann bleibt stellen, daß auch bei ihnen die jün- in West- und Ostdeutschland nur ein geren bis mittleren Jahrgänge domi- knappes Drittel der Menschen ab 18 nieren:

Alter und Engagement Verhältnis zum Engagement nach Alters- gruppen in den alten Ländern

Im Unterschied zu den bereits Enga- zialschichten der Bevölkerung keine gierten findet sich bei den Interessier- großen Unterschiede aufweisen. ten allerdings kein Männerüberschuß. Sehr auffällig ist auch, daß die Quoten Zur Aufklärung über die Standorte des der Interessierten in deutlichem Un- Potentials trägt weiter ein Blick auf die terschied zu den Quoten der bereits Tätigkeitsbereiche bei, in denen man Engagierten in den verschiedenen So- sich ein Engagement vorstellen kann. 50 Helmut Klages

Engagements und Potentiale In welchen Bereichen man sich freiwillig und unentgeltlich engagiert

Alte Länder

Die nachfolgende Grafik ermöglicht – „Umwelt und Wohnen” und „Tier- für die alten Länder – einen Vergleich schutz” gleichermaßen hohe Quoten zwischen den Interessierten und den zufallen. Auch die Bereiche „Soziale bereits Engagierten, wobei sich be- Hilfen” und „gesundheitliche Selbst- deutsame Unterschiede herausstellen: hilfe” können höhere Quoten auf sich vereinigen. Deutlich geringere Anteile Es zeigt sich, daß bei den Engage- entfallen dahingegen auf die auf mentorientierungen der Interessierten der Grundlage konventioneller Sozial- nicht wie bei den bereits Engagierten rollen etablierte Politik einschließ- der Sport im Vordergrund steht, son- lich der öffentlichen Ehrenämter und dern daß den Bereichen „Sport und auf das kirchlich gebundene Engage- Bewegung”, „Schule-Kinder-Jugend”, ment. Bürgerschaftliches Engagementpotential 51

4. Warum sind die am Engagement, die in den Werten, Wün- Engagement Interessierten schen, Bedürfnissen und Bereitschaf- nicht bereits engagiert? ten der Menschen verankert ist, gewis- sermaßen neutralisieren, so daß ein 4.1 Das Problem mangelnder Engagement – jedenfalls bisher – noch „Gelegenheiten und Heraus- ausbleibt. Mit anderen Worten lehnen forderungen” wir die Hypothese des „Attentismus der konsequenzenlosen guten Absich- Naturgemäß muß man sich die Frage ten” ab und setzen an ihre Stelle eine vorlegen, warum die zahlreichen nicht Hypothese der „blockierten Grundbe- engagierten Menschen, die aber am reitschaft”. Mit dieser einen Hypothe- Engagement interessiert sind, nicht se verbindet sich die zweite, daß die in- ebenso wie zahllose andere den Weg teressierten Nicht-Engagierten von den ins Engagement gefunden haben, war- Engagierten nur durch eine dünne um sie also im Vorraum des Engage- Grenzlinie getrennt sind, die nur be- ments verharren, ohne ihr Interesse grenzt widerstandsfähig ist. Die dritte auszuagieren. Notwendigerweise muß hieran anschließende Hypothese lau- man sich in diesem Zusammenhang tet, daß diese dünne Grenzlinie über- auch die Frage stellen, ob hinter dem windbar ist, daß es hierzu jedoch einer Unterschied zwischen praktischem wohlüberlegten, gut vorbereiteten und Handeln und „bloßem” Interesse nicht energisch vorgetragenen Strategie der vielleicht doch ein fundamentalerer Engagementförderung bedarf, welche Unterschied des Ausmaßes und der die für die Aktualisierung „schlafen- Ernsthaftigkeit der Engagementbereit- der” gesellschaftlicher Potentiale erfor- schaft steht und ob es sich bei dem mit derliche Qualifikation besitzt. den Mitteln der Umfrageforschung feststellbaren Engagementpotential Daß die Gelegenheiten und Herausfor- nicht letztlich doch um Menschen derungen zum Engagement in der Be- handelt, die zwar „im Prinzip ja” sa- völkerung sehr unterschiedlich verteilt gen, die aber in Wahrheit weder den sind, kann man leicht nachvollziehen, Willen noch die Kraft besitzen, ihren wenn man sich – im Sinne eines so- guten Willen in die Tat umzusetzen, ziologischen Schnellkurses – einige die vielmehr den berühmten „Atten- Grundtatsachen des „Sozialisations- tismus der konsequenzenlosen guten prozesses” vor Augen führt. Absichten” praktizieren und mit denen somit in der „Bürgergesellschaft” nicht Abstrakt gesprochen wachsen Men- ernsthaft zu rechnen ist. schen in Familien heran, die sie mehr oder weniger stark vorformen, in- Unsere Antwort auf diese Frage ist ein- dem sie nicht nur ihre Werte beein- deutig. Sie lautet, daß in der überwie- flussen und sie in sozialstrukturelle genden Mehrzahl der Fälle das Nicht- Kontexte hineinstellen, sondern ih- Engagement der Interessierten durch nen darüber hinaus auch selektive „mangelnde Gelegenheiten und Her- Zugangswege zu bestimmten Perso- ausforderungen”, wie auch durch Hin- nen, aber auch zu Gruppen, Vereinen dernisse erklärbar ist, welche eine und Organisationen öffnen und ver- vorhandene Grundbereitschaft zum schließen. 52 Helmut Klages

Außerdem spielen aber z.B. auch die ment, für den Bereich Dritte Welt und „peergroups” der Gleichaltrigen und Menschenrechte, für den Tierschutz, die Nachbarn des örtlichen „Milieus” für die freiwillige Feuerwehr und für eine Rolle, daneben Vorgesetzte und den Unfall- und Rettungsdienst ent- Kollegen, weiter aber auch Medien- decken. Selbst für den Bereich der ge- einflüsse wie auch „Gelegenheiten”, sundheitlichen Selbsthilfe gibt es Vor- „Begegnungen” und besonders „kriti- steuerungen, wie das besonders niedrig sche” Erlebnisse und Ereignisse. liegende Niveau der Gesundheitszu- friedenheit beweist, das sich bei den Man kann sich dies alles konkret am Engagierten in diesem Bereich findet. Beispiel des Sports vor Augen führen. Die Vorsteuerung ist auch hier im Be- Man wird kaum erwarten können, im reich der individuellen Biographie zu Sportbereich Engagierte, d.h. zum Bei- suchen, wobei Krankheitserfahrungen spiel Trainer und Übungsleiter zu fin- persönlicher Natur oder auch im un- den, die nicht seit ihrer Jugend – oder mittelbaren mitmenschlichen Umfeld möglicherweise seit ihrer Kindheit – den Ausschlag geben. aktiv Sport getrieben haben. Eine not- wendige Voraussetzung des Engage- Die Gegenrechnung lautet, daß all die- ments im Sport ist weiter auch die Mit- jenigen Menschen, bei denen Vor- gliedschaft – man wird hinzufügen steuerungen der gekennzeichneten Art können: die länger zurückreichende nicht vorliegen, mit geringerer Wahr- Mitgliedschaft – in mindestens einem scheinlichkeit ins Engagement gelan- der zahlreichen örtlichen Sportvereine. gen. Zum besseren Verständnis der Tat- Im Hintergrund dessen wird man häufig sache, daß dies bei den Interessierten Eltern und/oder Verwandte finden, die durchschnittlich gesehen in einem selbst bereits sportlich engagiert waren höheren Maße der Fall ist als bei den oder sind und die großen Wert darauf Engagierten, braucht man sich nur an legen, auch ihre Kinder in „den Verein” die zuvor angemerkte Tatsache zu er- zu bringen. Möglicherweise wird man innern, daß sich bei den ersteren nicht sogar auf „Familientraditionen” stoßen, dasjenige Übergewicht der „gehobene- die sich an die Vereinsmitgliedschaft ren” Bevölkerungsschichten findet, das und/oder den Einsatz für eine bestimm- bei den letzteren typischerweise vor- te Sportart angelagert haben. liegt. Ganz generell gesehen läßt sich feststellen, daß genau in diesen „ge- Der Sport ist jedoch nur ein Beispiel hobeneren” Schichten der „Organisa- von mehreren. Es bietet sich an, mit tionsgrad” deutlich höher liegt als an- demselben Analyseschema z.B. auch derswo. den Kirchenbereich anzugehen, wel- cher in Westdeutschland der am zweit- Und dies bringt wiederum die Folge häufigsten gewählte Engagementbe- mit sich, daß den Menschen, die die- reich ist. Ähnliche in die Tiefe der sen Schichten angehören, die Zu- individuellen Biographie zurückver- gänge zu denjenigen Organisationsbe- weisende Entwicklungsgänge lassen reichen, an die vor allem ein großer sich aber unschwer z.B. auch für die Teil der „herkömmlicheren” Gelegen- Engagementbereiche der öffentlichen heiten zum Engagement ankristallisiert Ehrenämter, für das politische Engage- ist, viel leichter fallen als den anderen. Bürgerschaftliches Engagementpotential 53

Man gewinnt schon von dieser einen Hälfte erschließt sich, wenn man sich Beobachtung her eine Erklärung für über diejenigen Hemmungsfaktoren einen beträchtlich großen Teil derjeni- Rechenschaft gibt, die sich als „Hin- gen Hemmnisse, welche die Interessier- dernisse” verstehen lassen. ten jedenfalls bisher daran gehindert haben, ihre Grundbereitschaft zum En- Wir können diese Hindernisse in den gagement zum Tragen zu bringen. Blick bekommen, wenn wir uns der nachfolgenden Zusammenstellung zu- 4.2 Engagementhindernisse wenden, in welcher die Gründe, die uns von den interessierten Nichtenga- Mit der Einsicht in die Bedeutung un- gierten selbst für ihr ausbleibendes En- gleich verteilter Gelegenheiten und gagement genannt wurden, auf dem Herausforderungen zum Engagement Hintergrund einer sogenannten Fakto- hat man aber erst die eine Hälfte renanalyse in einigen Gruppen zusam- der Wahrheit in der Hand. Die andere mengefaßt sind:

Gründe für Nicht-Engagement – Faktorenbildung:

● Negativ-Image 1 – Anreizmangel – Es macht keinen Spaß, – ich habe keine Lust dazu, – ich will nichts mit wildfremden Leuten zu tun haben, – ich bin nicht kompetent.

● Negativ-Image 2 – vermutete Problembelastung: – Man bekommt vielleicht noch rechtliche Schwierigkeiten, – man erhält keine Aufwandsentschädigung, – man wird als Laie nicht ernstgenommen, – ohne ordentliche Bezahlung mache ich gar nichts.

● Informations-/Anstoßmangel: – Ich weiß zu wenig darüber, – ich kenne niemanden, an den ich mich wenden könnte, – es hat mich niemand danach gefragt.

● Zeitmangel: – Ich habe keine Zeit dafür übrig, – meine berufliche Karriere ist mir wichtiger.

Ganz offenbar handelt es hier um in- stoßmängel” zurückgehenden Hinder- haltlich sehr verschiedenartige Be- nisse am unmittelbarsten verständlich. gründungen des Nichtengagements. Sehr viele Menschen sagen „Ich weiß Vor dem Hintergrund des bisher Ge- zu wenig darüber”, und „ich kenne sagten sind die auf „Informations-/An- niemanden, an den ich mich wenden 54 Helmut Klages kann” oder „Es hat mich niemand ge- keiten ähnlich viel Zeit aufwenden fragt”. Es wird hier erkennbar, welche könnten wie die Engagierten (die, wie Schwierigkeiten diejenigen Menschen wir feststellen konnten, zu 80% nur haben, die nicht von lebensgeschicht- bis zu 20 Stunden pro Monat investie- lichen Vorsteuerungen begünstigt sind, ren!), daß sie aber sehr häufig der Mei- durch welche sie mit einer gewissen nung sind, für ein eventuelles Engage- Selbstverständlichkeit in ein engage- ment mehr Zeit aufwenden zu müssen mentnahes Umfeld und endlich ins als sie erübrigen können, weil sie Engagement selbst geführt werden. schlicht zu wenig über die konkreten Allen diesen zahlreichen Menschen Bedingungen und Möglichkeiten des fehlt es zwar nicht unbedingt an ge- Engagements wissen. Es läßt sich fort- eigneten Motiven und Bereitschaften, fahren, daß eben diese mit mangeln- dafür aber oft an genauen Kenntnissen der Information verknüpfte Über- über die möglichen Ansätze und Ein- schätzung des Zeitbedarfs, der sich mit stiege, wie auch an konkreten Anhalts- einem Engagement verbindet, als ein punkten oder „Aufhängern” und im- Engagementhemmnis wirkt. pulsvermittelnden Anstößen zum Handeln. So bleiben die guten Motive Bei den beiden Hemmnisfaktoren, die und Bereitschaften ungeachtet ihrer in der Übersicht an erster Stelle stehen teils sehr ausgeprägten Stärke in einem („Negativ-Image 1 – Anreizmangel” und Großteil der Fälle abstrakt und folgen- „Negativ-Image 2 – vermutete Problem- los. belastung”), geht es ganz offensichtlich ebenfalls um Wahrnehmungsprobleme, Der an letzter Stelle stehende vierte durch welche das Engagement aber un- Faktor („Zeitmangel”) weist auf den er- mittelbar in ein „schlechtes Licht” ge- sten Blick betrachtet auf konkurrieren- taucht wird, so daß seine Attraktivität de Zeitverwendungen und somit ähn- abgesenkt wird. Daß auch hier Proble- lich wie der vorstehend behandelte auf me mangelnder Information eine her- einen scheinbar „harten” Sachverhalt ausragende Rolle spielen, kann man hin. Bei näherem Zusehen erweist sich sich anhand der Aussage „Es macht jedoch, daß es bei diesem Faktor über- keinen Spaß” klar machen. Wenn man wiegend um Probleme einer fehl- sich die Motive des Engagements vor laufenden Wahrnehmung des Enga- Augen führt, die uns von den Enga- gements geht. Wie wir bei unserer gierten genannt wurden, dann kann Untersuchung detailliert feststellen man entdecken, daß bei ihnen die konnten, gibt es nämlich zwischen Feststellung „Es macht Spaß!” ganz an den Gruppen der Engagierten und der der Spitze steht. Dem entspricht, daß interessierten Nichtengagierten in die Engagierten bei der Beantwortung Wahrheit keine allzu großen Unter- der Frage „Und was glauben Sie, war- schiede bezüglich des zeitlichen Aus- um sich die Menschen in der Bundes- maßes der Engagements bzw. der republik freiwillig engagieren?”, dem Bereitschaft zur Zeitverwendung für Spaßfaktor eine Spitzenstellung einge- das Engagement. Von daher gesehen räumt hatten. läßt sich die Behauptung aufstellen, daß die interessierten Nichtengagier- Zwar hatten dies bei der Beantwortung ten zwar ohne allzu große Schwierig- der letzteren Frage übereinstimmend Bürgerschaftliches Engagementpotential 55 auch die interessierten Nichtengagier- blemvermutungen geht, die sich mit ten getan. Auch sie gehen also davon der Vorstellung eines möglichen Enga- aus, daß den Engagierten das Engage- gements verbinden. Aufschlußreicher- ment Spaß macht. Wenn man verste- weise handelt es sich hier – ganz eben- hen will, warum nichtsdestoweniger so übrigens wie bei dem vermuteten die Vermutung, daß mit einem even- Mangel an Spaß – um Vermutungen, tuellen eigenen Engagement zu wenig die bei den „unteren” Sozialschichten Spaß verbunden sein könnte, bei ih- vorherrschen. Viele Menschen aus den nen eine nicht unerhebliche Rolle „unteren” Sozialschichten haben Hem- als Engagementhemmnis spielt, dann mungen, in Aktivitäten einzutreten, zu muß man die Vermutung aufstellen, denen sie keinen lebensgeschichtlich daß sie sich ein Bild von den Engagier- vorgebahnten Zugang haben und von ten machen, das von ihrem eigenen denen sie sich oft ein durch Informa- Selbstverständnis erheblich abweicht tionsmangel gekennzeichnetes, kari- und daß sie deshalb den „Spaß der an- katurartig vereinfachtes und verzeich- deren” nicht ohne weiteres mit demje- netes und emotional abschreckendes nigen Spaß gleichsetzen, den sie für Bild machen. Die in diesem Faktor zu- sich selbst im Auge haben. sammengefaßten Aussagen lassen sich dann am besten interpretieren, wenn Überprüft man, welche Engagement- man denen, die sie äußern, die Auffas- motive die interessierten Nichtenga- sung unterstellt, hier gehe es um Tätig- gierten den Engagierten sonst noch zu- keiten für Menschen „mit viel Zeit und rechnen, dann erkennt man in der Tat, Geld”, die nicht recht wissen, was sie daß hierbei das Motiv „Um dem Leben mit ihrem Freizeitüberschuß anfangen mehr Sinn zu geben” in Verbindung sollen und die aus dieser Ausgangslage mit einer Reihe von „altruistischen” heraus auch für kostspielige „Laien- Beweggründen stärker im Vordergrund spiele” zu haben sind. steht als bei den von den Engagierten selbst genannten Engagementmotiven. Die bereits Engagierten erscheinen den 5. Gibt es ein Engagement- interessierten Nichtengagierten also, potential bei den bereits mit anderen Worten, in einer über- Engagierten? zeichneten Weise tendenziell als Fana- tiker einer Selbstlosigkeit, mit der sie In Klammern wurde vorstehend darauf sich selbst nicht identifizieren können, hingewiesen, daß der Zeitaufwand, so daß sie davon ausgehen, unter un- den eine Mehrheit von 80% der Enga- erwünschten „ideologischen” Druck zu gierten durchschnittlich investiert, mit geraten, wenn sie sich ihnen zugesel- bis zu 20 Stunden pro Monat, d.h. also len. Dieses nicht der Realität entspre- mit bis zu 5 Stunden pro Woche, ver- chende Image der Engagierten wirkt hältnismäßig niedrig liegt. Natürlich – verständlicherweise, wie man nun- steckt in dieser Feststellung eine Wer- mehr hinzufügen kann – als Hemmnis. tung, der man sich nicht unbedingt anschließen muß. Ich selbst gebe zu, Spezielle Fehlinformationen spielen bei meiner Wertung von dem mir all- auch bei dem zweiten Wahrnehmungs- täglich vor Augen stehenden Beispiel faktor eine Rolle, bei dem es um Pro- meiner Frau beeinflußt zu sein, die 56 Helmut Klages durchschnittlich 40 – 60 Stunden pro wo kleine, relativ neue und verhält- Woche, d.h. also 160 – 240 Stunden nismäßig „unbürokratische” Gruppen pro Monat ins freiwillige Engagement vorherrschen, so z.B. bei der gesund- investiert. Ich bin zwar gern bereit, heitlichen Selbsthilfe, beim Tierschutz zuzugeben, daß es sich hier um eine wie auch in den Bereichen Dritte Welt Extremleistung handelt. Andererseits und Menschenrechte und Umwelt und liefert mir dieses Beispiel die End- Wohnen, relativ stark ausgeprägt sind. marke eines Bewertungsmaßstabs, der Man denkt bei dieser Feststellung un- gegenüber sich die Stundenzahl der willkürlich an diejenigen Meldungen, Mehrzahl der Engagierten dermaßen nach denen in den großen und eta- drastisch abhebt, daß sich automatisch blierten Verbänden der freien Wohl- die Frage aufdrängt, ob nicht auch bei fahrtspflege in den letzten Jahren die den bereits Engagierten ein latentes Zahl der freiwillig Engagierten sank, oder „schlafendes” Engagementpoten- während sie bei den Selbsthilfegrup- tial zu suchen ist, dessen Aktualisie- pen explodierte. Und von hier aus legt rung Hemmnisse entgegenstehen. sich die Deutung nahe, daß es in den großen und etablierten Engagement- Eine erste positive Antwort auf diese bereichen Hemmungsfaktoren gibt, die Frage liefert die aus unseren Untersu- sich motivationsdämpfend auswirken chungsergebnissen ablesbare Erkennt- und die somit dafür verantwortlich nis, daß das Motivationsniveau der En- sind, daß große Teile der Engagierten gagierten mit dem Zeitaufwand, den – bewußt oder unbewußt – Zurückhal- sie ins Engagement investieren, in tung üben und andere Möglichkeiten einer sehr deutlichen Beziehung steht. der Zeitverwendung in den Vorder- Mit anderen Worten wenden die En- grund treten lassen. Anders ausge- gagierten um so mehr Zeit auf, je mo- drückt lassen sich auch bei den bereits tivierter sie sind. Engagierten Engagementreserven oder -potentiale ausmachen, die unter der Diese Antwort kann allerdings noch Bedingung freigesetzt werden können, nicht voll befriedigen, denn man muß daß diese engagementinternen Hem- sich natürlich sofort fragen, warum bei mungsfaktoren erkannt und beseitigt so vielen Engagierten die Motivation, werden. die sie haben, nur für ein geringfügiges Engagement ausreicht. 6. Folgerungen für die zukünf- Glücklicherweise vermag sich die em- tige Engagementförderung pirische Forschung an diesem Punkt noch einige Schritte voranzutasten. So Für die Engagementförderung läßt sich muß die Tatsache höchst aufschluß- – kurz gesagt – erstens die Folgerung reich erscheinen, daß das Engagement- ableiten, daß es bei der Erschließung niveau und der investierte Zeitaufwand der brachliegenden Engagementpoten- in den „großen” Engagementbereichen, tiale erstrangig darauf ankommt, das in denen große und etablierte, oft auch Hemmnis mangelnder Information „bürokratisierte” Vereinigungen domi- um das Bürgerengagement und die nieren, durchschnittlich gesehen be- daraus resultierenden Vorurteile, Zu- sonders niedrig sind, während sie dort, rückhaltungsmotive und Ängste durch Bürgerschaftliches Engagementpotential 57 zusätzliche Information zu über- schon Engagierten auch an Menschen winden. Ich nenne auch den heute aus den breiteren und „unteren” So- hoch in Kurs stehenden Ausdruck zialschichten, wie auch an jüngere und „Wissensmanagement”, um das, wor- an ältere Menschen zu denken ist, um es geht, noch von einer anderen muß auch an dieser Stelle nochmals Seite her zu kennzeichnen. Ich habe hervorgehoben werden, denn allzu schon bei anderen Gelegenheiten ge- leicht überträgt man das Bild, das man sagt und ich wiederhole an dieser Stel- von den Engagierten hat, auf die- le nochmals: Würden wir für die Infor- jenigen, die man für das Engagement mation über das Bürgerengagement gewinnen möchte. Mit anderen Wor- nur ebensoviel Aufwand betreiben wie ten muß eine zielgruppenspezifische gegenwärtig noch für die Zigaretten- Zugangserschließung durch entspre- werbung, dann wären wir bereits einen chende Ansprechformen und Engage- gewaltigen Schritt weiter! mentangebote garantiert werden.

Konkret gesagt bedarf es in Zukunft Zu dieser Zugangserschließung gehört einer breitenwirksamen Werbung für ganz offenbar ein hohes Maß an Er- das Engagement, welche die eher zag- reichbarkeit von Ansprechpartnern für haften Ansätze, die es bisher in dieser die engagementbereiten Menschen, Richtung gibt, weit hinter sich läßt. wie auch die Fähigkeit, diese Men- Ich verkenne nicht, daß es in den Me- schen umgekehrt aktiv anzusprechen. dien faszinierende Ansätze einer Spen- Ich meine, daß an dieser Stelle unbe- denwerbung gibt, die viel Nutzen stif- dingt das Stichwort der „engagement- ten. Fragt man aber, wie es um die fördernden Infrastruktur” ins Spiel Ansätze der Werbung für freiwillige Ak- kommen muß, die einer entschiede- tivitäten steht, dann stößt man eher nen, über das gegenwärtige Niveau auf ein gähnendes Loch. Ich empfeh- hinausführenden Förderung zugeführt le konkret, die Gründung lokaler werden sollte, wobei das Ziel eine flä- Ausschüsse, die auf der Ebene der chendeckende Ausstattung der Kom- Kommunen und mit ihrer aktiven Un- munen mit geeigneten Kontakten und terstützung die diesbezüglichen Ak- Beratungsstellen mit aller Entschie- tivitäten unter Bürgermitwirkung ko- denheit angestrebt werden sollte. In ordinieren und steuern. Verbindung hiermit muß eingesehen werden, daß das „Sozialkapital” unse- Ich füge angesichts der Faktorenstruk- rer Gesellschaft an dieser Stelle bisher tur der Engagementhemmnisse aber noch große Lücken und Schwächen hinzu, daß es zweitens auch einer kon- aufweist, weil diejenigen „historisch kreten Heranführung der Menschen an gewachsenen” Organisationselemente, die Chancen des Engagements bedarf, auf die sich z.B. die Kommunitaristen wobei insbesondere denjenigen Men- mit erstaunlicher Einseitigkeit konzen- schen Rechnung getragen werden trieren, gerade das nicht zu leisten ver- muß, die hinsichtlich der Verfügung mögen, worauf es aber entscheidend über lebensgeschichtlich begründete ankommt, nämlich insbesondere auch „Gelegenheiten und Herausforderun- denjenigen Menschen ohne eine eta- gen” benachteiligt sind. Daß hierbei in blierte Struktur von Gelegenheiten einem höheren Maße als bei den und Herausforderungen kompensato- 58 Helmut Klages rische Chancen anzubieten. Ich füge lage, die bei den jüngeren Menschen hinzu, daß ich es durchaus als eine in- besonders ausgeprägt ist, die sich aber teressante Frage ansehe, welches der auch bei den älteren Menschen findet, bisher verwirklichten Modelle („Frei- Veränderungen in der konkreten Be- willigenbörse”, „Freiwilligenzentrum”, schaffenheit der bei den Menschen „Freiwilligenagentur”, „Selbsthilfekon- vorhandenen Engagementinteressen taktstelle” etc.) als Leitmodell ausge- und -bereitschaften mit sich, die in- wählt wird und daß ich mir von den nerhalb der überkommenen Formen inzwischen angelaufenen Forschungs- der ehrenamtlichen Arbeit noch nicht aktivitäten zur Klärung dieser Frage voll verarbeitet und bewältigt sind. Zu- weiterführende Erkenntnisse erhoffe. treffend heißt es hierzu in einem bis- Ich meine aber, daß das Spektrum der her noch unveröffentlichten Entwurf förderungswürdigen Organisationsele- des Endberichts zum Modellprogramm mente und -formen nicht künstlich Seniorenbüros des ISAB-Instituts: „Das verkleinert werden sollte, sondern daß Bild vom altruistischen Helfer stimmt man sich vielmehr auf die Heraus- nicht mehr. An die Stelle der bedin- arbeitung einer „balanced scorecard” gungslosen Hingabe an die soziale zur Bewertung von Innovationen im Aufgabe unter Verzicht auf die Befrie- Bereich der sozialen Infrastruktur kon- digung eigener Bedürfnisse und Inte- zentrieren sollte. ressen ist bei vielen Menschen der Wunsch nach einem Engagement ge- treten, das sich zeitlich den sonstigen 7. Neue Herausforderungen an Interessen und Bedürfnissen flexibel einen Kultur- und Organisa- anpassen läßt, das die eigenen Kräfte tionswandel der Engagement- und Möglichkeiten nicht überschrei- förderung und des Ehrenamts tet, das es erlaubt, erworbene Erfah- rungen und Kompetenzen in das Der Blick auf die bei den Engagierten Engagement einzubringen und das selbst vermutbaren Engagementpoten- Mitgestaltungs- und Mitsprachemög- tiale erschließt nun allerdings noch eine lichkeiten bietet.” (ungefähres Zitat) weitere Dimension von Anforderun- gen an die zukünftige Engagementför- Für die Organisationen der freiwilligen derung. Man bekommt das, was hier an- ehrenamtlichen Tätigkeit stellen diese gesprochen werden soll, insbesondere mit dem Wertewandel verbundenen, dann in den Blick, wenn man einen die Beschaffenheit der Engagementbe- Blick auf den eingangs nur kurz ange- reitschaften auch der Engagierten sprochenen gesellschaftlichen Werte- selbst sehr stark beeinflussenden Er- wandel und seine mentalen Folgen wirft wartungsveränderungen eine beachtli- und sich fragt, ob wir eigentlich selbst che Herausforderung zum Wandel dar. bereits ausreichend darauf vorbereitet Seitens der jüngeren und älteren enga- sind, uns mit der damit verbundenen gementbereiten Menschen werden, so tiefreichenden Umwälzung produktiv heißt es zutreffend im Berichtsentwurf ins Benehmen zu setzen. des ISAB-Instituts, zunehmend die Ge- währleistung individueller Disposi- Konkret gesagt bringt die neue, auf tionsmöglichkeiten und die Zuerken- Selbstentfaltung zielende Motivgrund- nung personaler Freiräume erwartet. Bürgerschaftliches Engagementpotential 59

Die Definition der Aufgaben, die zu er- In Verbindung hiermit ist einzusehen, füllen sind, muß dementsprechend daß gewisse Dinge, die im Zusammen- dem einzelnen Helfer und der einzel- hang der Diskussion um die politische nen Helferin sehr viel mehr Bewe- Förderung und stärkere gesellschaft- gungsspielraum lassen als bisher. Die liche „Anerkennung” des Ehrenamts inhaltliche Beschaffenheit und der heute oft noch im Zentrum der Auf- zeitliche Umfang übernommener Ver- merksamkeit stehen (Auszeichnungen, pflichtungen müssen „variabel gestalt- Ehrungen etc.), für die Engagierten bar” sein. In der kürzlichen Antwort selbst zwar keineswegs unwichtig sind, der Bundesregierung auf eine Große aber doch letztlich weniger wichtig Anfrage der CDU/CSU und F.D.P.- sind als andere Dinge, denen sie selbst Fraktionen des Deutschen Bundestags eine höherrangige Bedeutung und Vor- heißt es hierzu, ebenfalls zutreffend, dringlichkeit zumessen und die sie vor daß „innerhalb der Gruppe der freiwil- allem stärker motivieren. Was im Vor- lig und ehrenamtlich tätigen Bürger- dergrund der Erwartungen der Enga- innen und Bürger … ein Strukturwan- gierten selbst steht, sind immaterielle del zu Lasten dauerhafter Bindungen und „intrinsische” Aspekte der freiwil- und Verpflichtungen” vor sich geht, ligen Tätigkeit, welche die Förderungs- und zwar zugunsten eines eher „kurz- kultur wie auch elementare Aspekte zeitigen, überschaubaren und projekt- der Förderungsorganisation und die bezogenen Engagements.” Kurz gesagt Gestaltung der mit dem Engagement muß man heute mehr als gestern und verbundenen Aktivitätsfelder und Rol- morgen mehr als heute darauf vorbe- lenangebote betreffen. Die Engagierten reitet sein, daß jemand, der sich enga- wollen „untereinander” kommunizie- giert, angesichts anderweitiger Interes- ren und spontan Erfahrungen austau- sen weniger Zeit investiert als vielleicht schen, sie wollen mitverantworten von der Sache her wünschenswert sein und mitentscheiden können und sie würde, daß er oder sie sich nicht un- wollen von den Professionellen nicht bedingt auf einen längerfristig fest- von oben herab als Hilfstruppe mit stehenden Zeitplan einläßt, sondern einem minderen Status angesehen und einen eigener Verfügung unterliegen- behandelt, sondern als gleichrangig den zeitlichen Spielraum einfordert, anerkannt werden. Zu diesem Be- daß er oder sie aber dennoch eigene dürfniskomplex ist hinzuzurechnen, Ideen bezüglich der Konzipierung und daß viele Engagierte eine Qualifizie- Durchführung einer übernommenen rung anstreben. Einer breit ansetzen- Aufgabe und mit Wünschen nach den, für alle Interessierten verfügbaren, eigener Durchführungsverantwortung verschiedenste Entwicklungswege er- einbringen und sich dabei von ent- öffnenden „Personalentwicklung” für gegenstehenden Vorgaben oder von Engagierte ist von daher eine hochran- der anderslautenden Meinung eines gige Zukunftsbedeutung zuzumessen. Professionellen nicht einschüchtern Erst hinterher kommen dann mate- lassen möchte und daß er oder sie rielle Dinge, die natürlich ebenfalls letztlich auch in einem starken Maße wichtig sind wie Haftpflicht- und Un- daran interessiert ist, eigene Fähigkei- fallversicherung, Kostenerstattungen ten und Neigungen zur Geltung kom- und Aufwandspauschalen. Und ganz men zu lassen. am Ende kommen die früher so be- 60 Helmut Klages gehrten Ehrennadeln, die nach vor- für das Ausmaß der eigentlich ent- liegenden Erkenntnissen für die über- scheidenden und ins Zentrum der Ziel- wiegende Mehrheit der ehrenamtlich bildung zu rückenden Motivation von Engagierten kaum mehr eine Rolle großer Bedeutung sind. Ich meine: Je spielen. schneller man sich darauf einstellt, daß man mit gewandelten Erwartun- Man kann dieses Ergebnis in Analogie gen und Bereitschaften einer solchen zu gut gesicherten Ergebnissen der Ar- Art konfrontiert ist, desto leichter wird beitsforschung interpretieren, denen man dazu in der Lage sein, den freiwil- zufolge es eine grundsätzliche Tren- lig Engagierten wie auch den am Enga- nung zwischen „Motivatoren” und gement Interessierten mit einer ange- sogenannten „Hygienefaktoren” gibt, messenen Einstellung zu begegnen deren Ausprägung zwar das Ausmaß und damit zu erfolgreichen Ansätzen vorhandener Unzufriedenheiten be- einer zukunftsfähigen Engagement- einflussen kann, ohne daß sie jedoch förderung zu gelangen.

Anmerkungen * Vgl. Helmut Klages: Engagement und En- spektiven gesellschaftlichen Zusammen- gagementpotential in Deutschland. Er- halts – Empirische Befunde, Praxiserfah- kenntnisse der empirischen Forschung, in: rungen, Meßkonzepte – (vor dem Erschei- Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur nen); Helmut Klages/Thomas Gensicke: Wochenzeitung Das Parlament, B38/98, Bürgerschaftliches Engagement 1997, in H. 11. Sept. 1998, S. 29 ff.; Helmut Klages: Meulemann (Hrsg.): Werte und nationale Motive des Bürgerengagements – Trends Identität in Deutschland, Opladen 1998; S. für die Bundesrepublik Deutschland, in: 17 – 193; Helmut Klages/Thomas Gensicke: KGSt-SONDERINFO, 43. Jgg. Nr. 01S; Hel- Wertewandel und Bürgerschaftliches En- mut Klages: Individualisierung als Trieb- gagement in den 90er Jahren, Forschungs- kraft bürgerschaftlichen Engagements, in: institut für öffentliche Verwaltung, Speyer E. Kistler/H.-H. Noll/E. Priller (Hrsg.): Per- (Speyerer Forschungsbericht 193). Der Euro als Leitwährung Ein Vergleich mit Dollar und Yen

Wulfdiether Zippel

Die Errichtung der dritten Stufe der wirtschaften bzw. Wirtschaftsräume Europäischen Währungsunion (EWU) nachhaltig verändern wird. zum 1. Januar 1999 stellt die stärkste Veränderung der Weltwährungsord- nung seit der 1973 erfolgten Abkehr 1. Gegenstand und Merkmale vom Gefüge „fester“ Wechselkurse einer Leitwährung des Bretton-Woods-Systems dar. Die auf komplexe Weise miteinander ver- Bei einer sogenannten Leitwährung1 bundenen Einzelwirkungen der Ver- handelt es sich um eine nationale schmelzung von (vorläufig) elf nationa- Währung, die in den internationalen len Währungen zu einer europäischen Wirtschaftsbeziehungen in beträcht- Gemeinschaftswährung führen zwangs- lichem Ausmaß als Transaktionsmittel, läufig zu der Frage nach der Rolle, wel- als Anlage- und Reservewährung sowie che der Euro in den künftigen globalen als Recheneinheit (Denominations- Finanz- und Währungsbeziehungen währung) Verwendung findet und spielen könnte. Jeder Versuch, zum ge- infolgedessen in der internationalen genwärtigen Zeitpunkt hierauf eine Währungsordnung eine herausragende Antwort geben zu wollen, kommt Rolle spielt. Je stärker dies der Fall ist, nicht umhin, sich auf eine Reihe von desto größer ist der Bedarf der Zen- Annahmen hinsichtlich des wahr- tralbanken anderer Länder, diese Wäh- scheinlichen künftigen Verhaltens von rung als Interventionsmittel und/oder Marktteilnehmern und wirtschaftspo- als Orientierungsmarke für nationale litischen Akteuren zu stützen. Es über- geld- und wechselkurspolitische Ent- rascht deshalb kaum, daß die An- scheidungen zu verwenden. sichten über Art und Ausmaß der langfristigen Rolle des Euro vorläufig Eine solche Rolle hatte vor 1914 insbe- noch beträchtlich streuen. Gleichwohl sondere das britische Pfund und nach kann es als sicher gelten, daß sich als dem zweiten Weltkrieg zunächst nur Folge der Einführung des Euro im Lau- der US-Dollar, ab Anfang der 1980er fe der Zeit die globale Nachfrage nach Jahre dann aber nach und nach auch den Währungen der wichtigsten Volks- die D-Mark und der Yen inne.

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 62 Wulfdiether Zippel

Die vorgenannten Merkmale verdeut- (sogenanntes currency board). Die lichen, daß eine Leitwährung weder feste Anbindung des Wechselkurses der per Dekret noch durch politische Be- eigenen Währung an eine ausländi- schlußfassung geschaffen wird. Viel- sche Hartwährung stellt im Zuge der mehr wird eine Währung im Laufe der Überwindung hartnäckiger Inflations- Zeit dadurch zu einer Leitwährung, prozesse eine wichtige Maßnahme daß sie von privaten Wirtschaftssub- (Vertrauensbildung) dar, um die Spira- jekten und von öffentlichen Institu- le zwischen inländischem Preisanstieg tionen freiwillig und in großem Um- und nachfolgender Abwertung zu fang als Zahlungsmittel, Wertaufbewah- durchbrechen. Im übrigen werden die rungsmittel sowie als Wertmaßstab privaten Wirtschaftsakteure als Folge bzw. Recheneinheit gegenüber ande- ihrer grenzüberschreitenden güterwirt- ren Währungen vorgezogen wird. Die schaftlichen Aktivitäten stets genötigt Entwicklung zu einer Leitwährung sein, in gewissem Umfang Fremd- wurzelt also in den klassischen Geld- währungsguthaben zu unterhalten. funktionen, welche eine Währung Weil es der Zweck von privatem Geld- nicht nur Inländern, sondern auch Ge- vermögen und von öffentlichen Wäh- bietsfremden außerhalb des Emissions- rungsreserven ist, im Bedarfsfall kurz- landes zu bieten vermag. fristig mobilisierbar zu sein, wird eine (nationale) Währung vor allem dann Die Verwendung als Zahlungsmittel im als international begehrtes Wertaufbe- privatwirtschaftlichen Sektor wird ten- wahrungsmittel fungieren, wenn ne- denziell dadurch gefördert, daß der ben gerechtfertigten Stabilitätserwar- Anteil des betreffenden Währungsge- tungen außerdem für die betreffende biets am Welthandel mit Waren und Währung leistungsfähige und offene Dienstleistungen vergleichsweise groß Finanzmärkte (Geld- und Kapitalmärk- ist. Zentralbanken von Ländern, die te) mit einem breiten Spektrum von mit diesem Währungsgebiet hoch- Anlagemöglichkeiten bestehen. gradig wirtschaftlich verflochten sind, werden deshalb zu Interventions- Alle vorgenannten Funktionen einer zwecken einen beträchtlichen Teil Leitwährung haben zur gemeinsamen ihrer Devisenreserven in der betreffen- Voraussetzung, daß die in- und auslän- den Währung unterhalten. Die inter- dischen Wirtschaftssubjekte hinläng- nationale Verwendung einer Währung lich davon überzeugt sind, daß die als Recheneinheit und Wertmaßstab Stabilität und Konvertierbarkeit der be- (Fakturierung) durch Private folgt treffenden Währung auch längerfristig ebenfalls tendenziell dem Außen- als gewährleistet gelten kann. Die Her- handelsanteil eines Währungsgebiets; ausbildung einer solchen Erwartung außerdem werden bei der Denomi- stützt sich auf verbreitetes Vertrauen nierung der Preise von Rohstoffen nicht nur in die institutionelle Stabi- bestimmte Währungen bevorzugt wer- lität der geldpolitischen Rahmenbe- den. Die Nutzung einer fremden dingungen der betreffenden Zentral- Währung als Wertmaßstab im Bereich bank, sondern auch in die langfristige öffentlicher Institutionen kann insbe- internationale güterwirtschaftliche Wett- sondere in Form einer Verwendung als bewerbsfähigkeit der zugehörigen Volks- sogenannte Ankerwährung erfolgen wirtschaft(en) (d.h. u.a. auch in das Der Euro als Leitwährung 63 längerfristige Bestehen hinlänglicher gen dafür zu beurteilen, daß die Ge- Anpassungsfähigkeit an den globa- meinschaftswährung eine stabile Wäh- len wirtschaftlichen und technischen rung sein wird. Zusätzlich dazu sind Strukturwandel). Einer Währung wird die allgemeinen ökonomischen Kenn- insgesamt gesehen dann die Rolle ei- werte und Gegebenheiten der ameri- ner globalen Leitwährung zufallen, kanischen und der japanischen Volks- wenn die Gesamtheit der wirtschaftli- wirtschaft denjenigen von „Euroland“ chen und politischen Gegebenheiten einander gegenüberzustellen. dafür spricht, daß ein beträchtlicher internationaler Bedarf an der betref- fenden Währung besteht und weltweit 2.1 Institutionelle – insbesondere auch im Vergleich mit Stabilitätsvoraussetzungen anderen Währungen – ein stark verbrei- tetes Vertrauen in die langfristige Stabi- Die institutionellen Rahmenbedingun- lität von Währung, Wirtschaft und Po- gen, auf deren Grundlage die Europäi- litik des Emissions-„Landes“ herrscht. sche Zentralbank (EZB) ihre Geldpoli- tik betreiben wird, sind im Hinblick auf die Stabilitätserwartungen der in- 2. Die Aussichten des Euro, eine ternationalen Finanzmärkte vor allem Leitwährung zu werden in zweierlei Hinsicht maßgeblich. Hier- bei handelt es sich zum einen darum, Wird eine größere Anzahl nationaler inwieweit die im EG-Vertrag (EGV) ver- Währungen, unter denen sich auch ankerten Regelungen geeignet erschei- solche befinden, die bislang eine nen, stabilitätskonformes Handeln der mehr oder minder deutlich ausge- EZB bzw. des ESZB (Europäisches Sy- prägte internationale Rolle hatten, zu stem der Zentralbanken) zu begünsti- einer gemeinschaftlichen Währung gen und gegen äußere Einflüsse absi- verschmolzen, kann es nicht ausblei- chern. Außerdem ist die Tauglichkeit ben, daß es nicht nur in den betreffen- des geldpolitischen Strategiekonzepts den Ländern, sondern auch in der der EZB zu beurteilen, sich anbahnen- restlichen Welt zu beträchtlichen Ver- de Stabilitätsgefahren frühzeitig zu er- änderungen der Spar-, Anlage- und kennen und zu korrigieren. Kassenhaltungsgewohnheiten kommt. Im folgenden soll der Versuch unter- nommen werden, abzuschätzen, ob Die Bestimmungen des EGV und inwieweit zu erwarten ist, daß der Euro nach Vorbild des Dollars, der Langfristig stabilitätskonforme Geld- D-Mark oder des Yens bei Gebietsfrem- politik setzt voraus, daß die Zentral- den in größerem Ausmaß als Zah- bank die Entwicklung der gesamt- lungs- und Wertaufbewahrungsmittel wirtschaftlichen Geldmenge zu kon- sowie als Wertmaßstab Verwendung trollieren vermag. Inwieweit es einer finden wird. Zentralbank in der Praxis gelingen kann, das relevante monetäre Aggregat Im Hinblick auf die Frage, ob der Euro auch auf Dauer stabilitätsgerecht zu die Rolle einer Leitwährung erlangen steuern, hängt in ausschlaggebender wird, sind zunächst die Voraussetzun- Weise von den rechtlichen Bestim- 64 Wulfdiether Zippel mungen ab, auf deren Grundlage die seinerzeitigen Bundesbankgesetz abge- Geldpolitik betrieben wird. Hiermit ist sichert worden, sondern außerdem so- jener Zuständigkeits- und Handlungs- gar zum vorrangigen Ziel der gesamten rahmen gemeint, welcher der Zentral- Wirtschaftspolitik erhoben worden. bank durch die Rechtsordnung (im Falle der EZB also durch den EGV) ein- Ein weiteres (3.) institutionelles Hemm- geräumt worden ist. An dieser Stelle nis gegen eine inflatorisch wirkende soll in aller Kürze nur auf fünf sol- Geldmengenausweitung besteht dann, cher Rahmenbedingungen eingegan- wenn es der Zentralbank gesetzlich un- gen werden. tersagt ist, auf direktem Wege Defizite in den öffentlichen Haushalten zu fi- Zu den gesetzlichen Vorgaben, welche nanzieren. Während die Bundesbank in der Praxis das Erreichen eines ho- bis Ende 1993 verpflichtet war, vor den hen Maßes an Geldwertstabilität ten- großen Steuerterminen dem Fiskus in denziell begünstigen, gehört erstens, gesetzlich begrenzter Höhe für ca. zwei daß das für die Geldpolitik verant- Wochen Liquiditätshilfe zu gewähren wortliche Gremium (der Zentralbank- (sogenannter Kassenkredit), untersagt rat) seine Entscheidungen autonom Art. 104,1 EGV dem ESZB ganz gene- fällen kann. Nicht nur theoretische Er- rell die direkte Finanzierung öffent- kenntnisse, sondern auch die weltwei- licher Haushalte mit Hilfe der Noten- ten Erfahrungen der zurückliegenden presse. Jahrzehnte belegen, daß die politische Unabhängigkeit der Zentralbank eine Zu den institutionellen Voraussetzun- unerläßliche Voraussetzung für die gen, die dazu beizutragen vermögen, dauerhafte Gewährleistung eines stabi- die Umsetzung des Ziels hochgradiger len Geldwerts ist2. Im Hinblick hierauf Geldwertstabilität abzusichern, gehö- ist in Art. 107 EGV bestimmt worden, ren (4.) gesetzliche Vorkehrungen, die daß das ESZB (d.h. die EZB, die natio- sicherstellen, daß die Mitglieder des nalen Zentralbanken sowie die Mit- Direktoriums und des Zentralbankrats glieder ihrer Beschlußorgane) keinerlei über ein hohes Maß an fachlicher Ex- Weisungen der EU-Organe oder der na- pertise verfügen, um sachlich kom- tionalen Regierungen unterworfen ist petent urteilen zu können; darüber und von diesen auch keine Direktiven hinaus sollten sie persönlich so unab- erbitten darf. Damit genießt das ESZB hängig wie irgend möglich sein, damit ein noch höheres Maß an Unabhän- sie in der Lage sind, äußerem politi- gigkeit3, als es der deutsche Gesetzge- schen Druck zu widerstehen und die ber der (alten) Bundesbank zugestan- ihnen gesetzlich zugewiesene Un- den hatte. abhängigkeit zu nutzen. Die diesbe- züglich im internationalen Vergleich Die Stabilitätsorientierung einer Zen- bereits besonders weitgehenden Be- tralbank wird außerdem gefördert, stimmungen des Bundesbankgesetzes wenn das Ziel der Inflationsvermei- sind im EGV4 noch zusätzlich präzi- dung gesetzlich verankert ist. In Ge- siert und ausgebaut worden. stalt von Art. 105,1 EGV ist die Erhal- tung der Kaufkraft der Gemeinschafts- Damit es einer Zentralbank bestmög- währung nicht nur noch strikter als im lich gelingen kann, die gesamtwirt- Der Euro als Leitwährung 65 schaftliche Geldmenge entsprechend verschieden schnell auf den güterwirt- der Entwicklung des inländischen Pro- schaftlichen Sektor durchschlagen wer- duktionspotentials auszuweiten, ist es den, was tendenziell zum Anlaß für ferner (5.) hilfreich, wenn gegenüber Konflikte im EZB-Rat werden kann. fremden Währungen (insbesondere ge- genüber den weltwirtschaftlich wichti- gen Währungen) prinzipiell flexible Die geldpolitische Strategie der EZB Wechselkurse herrschen. Denn je wei- terreichend die Verpflichtung einer Nach intensiven Beratungen ist die Zentralbank zur Tätigung von kurs- endgültige Entscheidung über die vom stützenden Devisenmarktinterventio- ESZB zu verfolgende geldpolitische nen ist, desto stärker ist ihre formale Strategie Anfang Dezember 1998, also Selbständigkeit faktisch ausgehöhlt. erst kurz vor dem Inkrafttreten der Der Wechselkurs des Euro wird ge- Endstufe der EWU gefallen. In den vor- genüber den Währungen von Nicht- angegangenen Diskussionen standen EU-Staaten frei floaten5; eine andere vor allem zwei Konzepte im Mittel- Regelung könnte von den Mitglied- punkt. Bei diesen handelte es sich staaten nur einstimmig (Art. 109,1 zum einen um den Vorschlag einer EGV) beschlossen werden. Im übrigen potentialorientierten Steuerung eines unterliegt auch die Wechselkurspolitik gesamtwirtschaftlichen Geldmengen- des ESZB dem Primat der Stabilität des aggregats, also um ein Konzept, das Geldwerts. in seinem Kern grundlegende Ähn- lichkeiten mit dem von der Bundes- Die vorstehend behandelten recht- bank in den beiden zurückliegenden lichen Rahmenbedingungen für die ge- Jahrzehnten verfolgten geldpolitischen meinsame Geldpolitik gestatten die Ansatz aufweist. Die andere Option be- Feststellung, daß die Realisierung eines traf das Konzept der sogenannten „Di- hohen Grads an Geldwertstabilität rektsteuerung“. Bei dieser Strategie durch den EG formal robuster und in- werden die geldpolitischen Aktivitäten haltlich präziser formuliert gesichert vorzugsweise an der Entwicklung der ist, als durch das frühere Bundesbank- Inflationsrate orientiert. Die Direkt- gesetz. Dies ist nicht nur aus grund- steuerung zielt somit unmittelbar auf sätzlichen Erwägungen zu begrüßen, das finale Anliegen der Geldpolitik (d.h. sondern auch deshalb, weil trotz aller auf die Wahrung von Index-Stabilität). Konvergenzfortschritte in der Vergan- Das Konzept der Ausrichtung des zen- genheit damit gerechnet werden muß, tralbankpolitischen Instrumentenein- daß sogenannte externe Schocks, aber satzes an den Entwicklungen der ge- auch gewöhnliche Zinssatzänderun- samtwirtschaftlichen Geldmenge orien- gen, in den an „Euroland“ teilneh- tiert sich dagegen an einer (Zwischen-) menden Volkswirtschaften infolge Indikatorgröße, die ihrerseits in einem nationaler Divergenzen hinsichtlich inneren Wirkungszusammenhang zum der privaten und öffentlichen Ver- Ziel der Geldwertstabilität steht. schuldung (Ausmaß und Fristigkeits- struktur) sowie der unterschiedlichen Anders als die Direktsteuerung setzt Exportabhängigkeit auf noch unabseh- das Konzept der Geldmengensteue- bare Zeit unterschiedlich intensiv und rung bei einem Aggregat an, auf das ei- 66 Wulfdiether Zippel ne Zentralbank unmittelbar und rasch monetären Aggregats steht; außerdem wirksam werdenden Einfluß ausüben wird der Entscheidungsprozeß der EZB kann. Die Problematik der Geldmen- durch eine interne Inflationsprognose7 gensteuerung besteht darin, daß sich flankiert sein. Die Festlegung des Geld- eine Korrelation zwischen dem Geld- mengenziels und die geldpolitischen mengen-Aggregat und der Entwick- Entscheidungen sollen vor dem Hin- lung des Lebenshaltungskosten-Index tergrund eines breiten Spektrums wirt- nur langfristig nachweisen läßt. Kurz- schaftsstatistischer Kennzahlen mit fristig können dagegen immer wieder Frühindikatoreigenschaften für das ge- stärkere Abweichungen auftreten. Sol- samte Euro-Gebiet getroffen werden. che sind aus einer Reihe von Gründen Das bedeutet, daß die EZB im Grund- vor allem in der Anfangsphase der Ge- satz sehr weitgehend die bewährte meinschaftswährung zu erwarten. Der geldpolitische Strategie der Bundes- geldpolitisch entscheidende Vorzug bank übernehmen und fortsetzen des Konzepts der Geldmengensteue- wird. Für die internationalen Finanz- rung besteht darin, daß die Zentral- märkte stellt dies einen nicht gering- bank zinspolitisch schon dann handelt, zuschätzenden psychologischen Faktor sobald die Geldmengenentwicklung zugunsten eines Aufbaus von Vertrau- von der Zielvorstellung abweicht; weil en in die künftige Stabilität der Ge- den Märkten das Geldmengenziel im meinschaftswährung (und damit ihrer voraus bekanntgegeben wird, ist die Tauglichkeit als Leitwährung) dar. Handlungsweise der Zentralbank für die Öffentlichkeit jederzeit transpa- Weil es sich bei der geldpolitischen rent. Bei der sogenannten Direktsteue- Strategie der EZB im Kern um eine rung handelt die Zentralbank dagegen Fortsetzung der alles in allem bewähr- erst dann, wenn sich die aktuelle Preis- ten Konzeption der Bundesbank han- niveauentwicklung vom Stabilitätsziel delt, ist insoweit die Erwartung be- zu entfernen droht. Das bedeutet, daß gründet, daß das ESZB in der Lage sein eine Geldpolitik, welche am Preisindex wird, auf der Basis des durch den EGV ausgerichtet wird, im Vergleich zur vorgegebenen Rahmens eine grund- Geldmengensteuerung erst relativ spät sätzlich stabilitätskonforme Politik zu reagiert. Dies ist deshalb problema- betreiben. Gleichzeitig gilt es jedoch tisch, weil es erfahrungsgemäß zwei bis auch zu sehen, daß dauerhafte Kauf- zweieinhalb Jahre dauern kann, bis krafterhaltung nicht exklusiv von sich geldpolitische Maßnahmen nach- der Zentralbank gewährleistet werden haltig auf das Preisniveau auswirken. kann. Vielmehr bedarf die Geldpolitik auch der Unterstützung aus anderen Für die Erwartungsbildung auf den glo- Wirtschaftspolitikbereichen, insbeson- balen Finanzmärkten war es somit ein dere von seiten der Finanz- und der wichtiger Schritt, daß sich der EZB-Rat Lohnpolitik. Es muß daher auf Skepsis bereits am 13. Okt. 19986 grundsätz- stoßen, daß bereits Einflußnahmever- lich auf ein Konzept geeinigt hat, in suche gewisser politischer Kreise auf dessen Mittelpunkt die Steuerung der die EZB zu beobachten waren, noch Geldmenge nach Maßgabe eines im bevor diese überhaupt geldpolitische voraus angekündigten, quantitativen Entscheidungen fällen konnte. Dies Referenzwerts für das Wachstum des gilt insbesondere, aber nicht allein, für Der Euro als Leitwährung 67 den französischen Vorschlag eines emittierenden Landes (Wirtschafts- „politischen“ Gegengewichts zur EZB. raums) sowie seines Anteils am welt- Denn diese Absicht hat seit dem Re- wirtschaftlichen Leistungsaustausch gierungswechsel in Deutschland mit (Waren und Dienstleistungen). Sicherheit ebenso besondere Aktualität erhalten wie die Vorstellung von EU- Die diesbezüglichen Daten (1996) für weiten Beschäftigungsleitlinien. die USA, Japan und „Europa“ können der Tabelle 1 entnommen werden.

2.2 Das materielle Fundament Die Rolle, welche die hier verglichenen der globalen Rolle des Euro Währungen als Fakturierungseinheit im Zuge des globalen Güteraustausches Um zumindest einen tendenziellen spielen, steht in markantem Kontrast Überblick darüber zu gewinnen, wel- zu den Welthandelsanteilen der je- ches internationale Gewicht der Euro weiligen Volkswirtschaften. künftig erlangen könnte, sind die für So wurde während der ersten Hälfte die internationale Rolle einer Wäh- der 90er Jahre fast die Hälfte des Welt- rung maßgeblichen makro-ökonomi- handels in Dollar fakturiert; an zweiter schen Daten „Europas“ denjenigen der Stelle folgte die D-Mark mit einem An- USA und Japans gegenüberzustellen. teil von rund 16%. Daran ist die Frage zu knüpfen, wie sich die globale Nachfrage nach den Die Verwendung beider Währungen verschiedenen Währungen im Gefolge als Fakturierungswährung war somit der Einführung des Euro entwickeln deutlich größer als es den jeweiligen könnte. Anteilen beider Länder am Welthandel entspricht (im Falle des Dollar ca. 3,5- fach und bei der D-Mark knapp zwei- Privatwirtschaftlicher Sektor mal so hoch wie der nationale Anteil am globalen Waren- und Dienstlei- Für Unternehmen und private Haus- stungsaustausch). halte ist die Verwendung einer Wäh- Das Verschwinden der nationalen rung vor allem von ihrer Tauglichkeit Währungen, welche im Euro aufge- bzw. Zweckmäßigkeit als Zahlungs- hen, wird den weltweiten Devisenbe- bzw. Transaktionsmittel, als Wertmaß- darf für private Transaktionszwecke stab bzw. Recheneinheit sowie als Mit- voraussichtlich um rund 8% schrump- tel der Vermögensanlage abhängig. fen lassen, weil die finanzielle Abwick- lung des Güteraustauschs zwischen den elf Euro-Teilnehmern fortan in der ● Funktion eines Transaktions- gemeinsamen Währung erfolgt. Auf mittels und einer Recheneinheit der anderen Seite wird der private Euro-Bedarf jedoch zunehmen. Ausgangspunkt für eine Abschätzung des globalen Bedarfs privater Wirt- Dies ist zunächst eine Folge davon, schaftssubjekte an einer bestimmten daß das Handelsvolumen der elf Euro- Währung bilden insbesondere die öko- Mitglieder mit der restlichen Weltwirt- nomische „Größe“8 des eine Währung schaft rund doppelt so groß sein 68 Wulfdiether Zippel

Tabelle 1: Wirtschaftliche Indikatoren (1996):

Bevölkerung Anteil am Anteil am Export (Mio.) OECD-BIP Weltexport quote (% ) (% ) (% )

Euro-11 290 30,5 18,61) 11,4

EU-15 370 38,3 19,72) 10,2

USA 265 32,5 15,5 8,2

Japan 125 20,5 10,2 9,0

1) ohne Intra-Euro-11-Handel 2) ohne Intra-EU-Handel

Quelle: EuroStat 1997; IMF: Direction of Trade Statistics Yearbook 1997 wird wie dasjenige des ehemaligen Weil die Mitgliedsländer der EU mit DM-Raums. Ferner ist davon auszuge- großem Abstand nicht nur der Haupt- hen, daß der Außenhandel der Euro- handelspartner der Entwicklungs- 11-Länder sehr weitgehend in Euro länder, sondern auch deren größter fakturiert werden dürfte. Außerdem ist Geber an finanzieller Entwicklungs- zu erwarten, daß ein beträchtlicher hilfe ist, wird der Wegfall von elf na- und im Laufe der Zeit noch ansteigen- tionalen Währungen voraussichtlich der Teil des Außenhandels der vier vor- eine größere Zahl von Entwicklungs- erst noch nicht in der dritten Stufe der und Schwellenländern dazu veran- EWU befindlichen EU-Staaten in der lassen, sich dem Euro als Fakturie- Gemeinschaftswährung abgewickelt rungswährung und als Zahlungsmittel werden wird. Darüber hinaus ist davon in einem stärkerem Maße9 zuzuwen- auszugehen, daß der Euro zunehmend den, als es der bisherigen Verwendung auch von den Wirtschaftssubjekten der einzelstaatlicher europäischer Währun- Nicht-EU-Länder in privaten Verträgen gen entsprach. Im Unterschied hierzu als Wertmaßstab sowie als Transakti- wird jedoch der Dollar als Denomina- onsmittel Verwendung finden wird. tionswährung im internationalen Roh- Hierfür spricht zum einen die Überle- stoffhandel vorerst ohne Alternative gung, daß die Verwendung des Euro bleiben. Dennoch wird – unter der infolge des im Vergleich zur D-Mark Voraussetzung eines stabilen Euro – die größeren Handelsvolumens für die Verbreitung der europäischen Gemein- Wirtschaftssubjekte zu Kostenvorteilen schaftswährung als private Denomina- gegenüber der bisherigen Situation tions- und Transaktionswährung auf- führen wird. Dies ist zunächst eine Fol- grund des weltwirtschaftlichen Ge- ge. Hinzu kommt, daß zu erwarten wichts des Euro-Gebiets sukzessive zu- steht, daß der Wechselkurs des Euro nehmen. Analog zu den Erfahrungen eine geringere Volatilität gegenüber mit dem seinerzeitigen Bedeutungs- den Währungen von Drittstaaten auf- rückgang des britischen Pfund wird weisen wird als zuvor die in ihm ver- sich die Verwendung des Dollars infol- schmelzenden nationalen Währungen. ge gewisser Beharrungstendenzen beim Der Euro als Leitwährung 69

Verhalten der Marktteilnehmer voraus- keit nachhaltig verbessern wird. Ein sichtlich nur langsam zurückbilden. weiterer Anreiz für die Portfolio-Ent- scheidungen international operieren- der privater Anleger folgt daraus, daß ● Geld als Mittel der privaten der Offenheitsgrad, das Volumen und Vermögensanlage das Anlagespektrum der Finanzmärkte in Euroland deutlich größer sein wer- Die dominierende Rolle des Dollars als den als es zuvor in den einzelnen private Anlagewährung ist in den Volkswirtschaften der Fall war. Insbe- zurückliegenden Jahrzehnten stets sehr sondere wird durch die Einführung des deutlich ausgeprägt gewesen10. Die Euros die bisherige Segmentierung der weltweite Nachfrage nach einer Wäh- Finanzmärkte in Europa überwunden rung als bevorzugtes Anlagemittel ist werden. Wegen der damit einherge- von mehreren Determinanten abhän- henden signifikanten Skalenvorteile gig. Ebenso wie hinsichtlich der Ver- werden die Finanzmärkte im „Euro- wendung als Zahlungsmittel und als land” durch ein größeres Liquiditäts- Wertmaßstab spielt die realwirtschaft- volumen als die vorherigen einzel- liche Größe des Währungsraums auch staatlichen Anlagemärkte gekennzeich- bei den privaten Geldvermögensdispo- net sein, weil die dadurch bewirkte sitionen eine wichtige Rolle. Die dies- Kostenreduktion für Transaktionen mit bezüglichen Gegebenheiten sind im auf Euro lautenden Anlageformen all- Hinblick auf die sogenannte Wertauf- mählich vermehrt Anlagemittel aus bewahrungsfunktion des Geldes je- anderen Währungen und Regionen doch weniger ausschlaggebend als anziehen wird. Vorläufig sind die Fi- die an den Märkten vorherrschenden nanzmärkte in den USA allerdings langfristigen Stabilitäts- und Wechsel- noch erheblich breiter und tiefer als kurserwartungen (insbesondere im die zusammengefaßten Finanzmärkte Vergleich zum Dollar). Es ist zu er- der elf gegenwärtigen Euro-Teilneh- warten, daß die Anleger nach dem mer: Das Volumen der am amerikani- 1. Januar 1999 zunächst vermutlich ei- schen Rentenmarkt umlaufenden Titel ne abwartende Haltung einnehmen ist zur Zeit knapp doppelt, die Börsen- werden. Im Hinblick hierauf wird die kapitalisierung in den USA sogar rund Entscheidung des EZB-Rats, die Infla- dreimal so groß12 wie in „Europa”. tionsrate mittelfristig unter 2% zu halten11, die internationalen Finanz- Eine zuverlässige quantitative Ab- märkte nicht unbeeindruckt lassen. schätzung der zu erwartenden Um- Für eine Rolle des Euro als Mittel der schichtungsspielräume bei den pri- privaten Vermögensanlage, die stärker vaten Geldvermögen zugunsten des ist, als das zusammengefaßte Gewicht Euros trifft auf methodische und stati- der in ihm aufgehenden nationalen stische Schwierigkeiten. Dies folgt Währungen spricht ferner die Überle- zunächst daraus, daß die Größe und gung, daß die Gemeinschaftswährung Zusammensetzung des privaten Welt- auf der Basis des TARGET-Systems die portfolios nur ansatzweise bekannt ist. Integration der Finanzmärkte in „Euro- Weil der Euro hinsichtlich der Stabi- land” beträchtlich vertiefen und da- lität seiner Kaufkraft eine realistische durch deren globale Wettbewerbsfähig- Chance besitzt, dem Dollar überlegen 70 Wulfdiether Zippel zu sein, ist die Erwartung berechtigt, auf den Dollar, 5 – 8% auf den Yen daß die Attraktivität der „Euro”-Fi- und 20 – 30% auf nationale Wäh- nanzmärkte relativ zum Dollar zuneh- rungen der EU-Staaten14. Die Emission men wird. Gleichzeitig ist davon aus- des Euros wird für alle Zentralbanken zugehen, daß nicht nur die Nachfrage ein zwingender Anlaß sein, die Frage nach Bankeinlagen, Wertpapieren und der künftigen Diversifizierung ihrer Versicherungsleistungen, die auf die Währungsreserven intensiv zu über- europäische Gemeinschaftswährung denken. denominiert sind, zunehmen wird, sondern auch das diesbezügliche An- Als Folge davon, daß der Bedarf an gebot. Der Versuch einer Vorhersage Euros für private Transaktions- und darüber, wie stark und wann die priva- Anlagezwecke voraussichtlich signi- ten inländischen und internationalen fikant größer sein wird, als es zuvor Halter von Geldvermögen auf die Ein- den weggefallenen mitgliedstaatlichen führung der Gemeinschaftswährung Währungen entsprochen hat, wird reagieren werden, erfordert also das dann insoweit zwangsläufig auch der Treffen eines breiten Spektrums von Bedarf an offiziellen Reserven zu Inter- Annahmen. Bisherige Studien hierzu ventionszwecken tendenziell zuneh- stimmen darin überein, daß das inter- men. Außerdem wird die künftige nationale Gewicht des Euros auf den internationale Rolle des Euros auch da- globalen Anlagemärkten voraussicht- durch nachhaltig beeinflußt werden, lich deutlich größer sein wird, als es in welchem Ausmaß dieser von dritten dem derzeitigen aggregierten Volumen Staaten als sogenannte Ankerwährung der im Euro aufgehenden nationalen genutzt werden wird. Die Zahl solcher Währungen entspricht. Die Ergebnisse Länder, die künftig den Außenwert quantitativer Analysen zum wahr- ihrer Währung formell oder informell scheinlichen mittelfristigen weltweiten an den Euro oder an einen Währungs- Umschichtungsvolumen im privat- korb binden könnten, in welchem der wirtschaftlichen Sektor zugunsten des Euro eine maßgebliche Komponente Euros umfassen eine Spanne von 400 – darstellt, dürfte längerfristig nicht ge- 600 Mrd. US-Dollar13. ring sein15; der mit einer solchen Kurs- anbindung verbundene Bedarf dieser Länder an Euro-Reserven ist beträcht- Öffentlicher Sektor lich.

In den Jahrzehnten nach dem zweiten Es muß davon ausgegangen werden, Weltkrieg war der Dollar die mit Ab- daß sich nach dem 1. Januar 1999 ins- stand wichtigste internationale Reser- besondere innerhalb des ESZB die Re- vewährung. Nach 1973 haben schritt- servenhaltung beträchtlich verändern weise auch andere Währungen, ins- wird. Dies ist zunächst eine Folge da- besondere die D-Mark und der Yen, von, daß die elf Mitglieder von „Euro- eine Reservewährungsrolle erlangt. Im land” dann rund 60% ihres bisherigen Zeitraum zwischen 1985 und 1997 Außenhandels in der Gemeinschafts- entfielen von den weltweit von den währung abwickeln werden. Ein regel- Zentralbanken (bzw. Schatzämtern) un- mäßiger Bedarf der EZB an Interven- terhaltenen Devisenreserven 50 – 60% tionsmitteln wird ab diesem Datum im Der Euro als Leitwährung 71 wesentlichen nur gegenüber jenen vier gleich es vermutlich noch nicht so Währungen bestehen, die erst später in bald19 zu einem größeren Abbau des die Endstufe der EWU aufgenommen Reservenüberhangs kommen wird. werden. Nach Maßgabe von Art. 30 der als Anhang dem „Maastrichter” Ver- Was die Währungsbehörden der nicht trag beigefügten ESZB-Satzung ist die zum ESZB gehörenden Länder betrifft, EZB zum 1.1.1999 von den nationalen so ist jeder Versuch einer Abschätzung Zentralbanken der elf Euro-Teilnehmer von deren künftigem Bedarf an Euro- mit eigenen Währungsreserven in Hö- Guthaben (insbesondere soweit diese he von 39,46 Mrd. Euro (d.h. rund 46 zu Lasten bisheriger Dollarreserven ge- Mrd. Dollar) ausgestattet worden. Die- hen) mit besonders großen Unsicher- ser Betrag entspricht deutlich weniger heiten behaftet. Wie bereits zuvor an- als 20% der von den Zentralbanken gedeutet wurde, wird vor allem auch der 15 EU-Staaten Ende 1995 unter- im Bereich der sogenannten Ent- haltenen Devisenreserven im Wert von wicklungs- und Schwellenländer der ca. 350 Mrd. Dollar (was zu diesem Wunsch nach vermehrter Reservehal- Zeitpunkt 26,4% der Welt-Devisenre- tung in Form von Euro-Guthaben stark serven entsprach)16. Daraus folgt, daß ausgeprägt sein. Ende 1997 entfielen mehr als 80% der bisher von den elf mehr als 50%20 der globalen Devisen- nationalen Zentralbanken in Devisen- reserven auf die Gruppe der genannten form (fast vollständig in Dollar) unter- Länderkategorie. Rund 55% hiervon haltenen Reserven bei diesen verblei- wurden von Ländern in Südost-Asien21 ben werden. Dieses Volumen ist mit gehalten. Dieses Volumen bestand zu Sicherheit sehr viel größer, als es die ca. 62% aus Dollar-Guthaben, wäh- mitgliedstaatlichen Zentralbanken für rend rund 18% auf „europäische” die ihnen künftig noch verbliebenen Währungen entfielen22. Eine Reihe Aufgaben17 benötigen werden. von Überlegungen sprechen dafür, daß die Schaffung des Euros für viele dieser Wie groß der künftige Bedarf der EZB Länder ein willkommener Anlaß sein und des restlichen ESZB an Devisen- wird, die starke Abhängigkeit ihrer reserven sein wird, kann bestenfalls ge- Wirtschaftspolitik vom Dollar schritt- schätzt werden. Denn das von einer weise zu verringern. Das damit ver- Zentralbank für erforderlich gehaltene bundene Diversifizierungspotential Reservenvolumen hängt von vielen wäre beträchtlich. Würde sich die vor- Determinanten ab, die auf komplexe genannte Relation von 62:18 im Laufe Weise miteinander verbunden sind. der Zeit beispielsweise auf 50:30 ver- Quantitative Studien kommen zu dem ändern, würde dies bei den südostasia- Ergebnis, daß die elf dem ESZB an- tischen Zentralbanken einen zusätz- gehörenden nationalen Notenbanken lichen Bedarf an Euro-Guthaben im nach Einführung der Gemeinschafts- Gegenwert von rund 80 Mrd. Dollar23 währung voraussichtlich über (auf im Gefolge haben. Inwieweit es zu sol- Dollar lautende) Überschußreserven in chen Umschichtungen zu Lasten des Höhe von 40 – 145 Mrd. Dollar18 ver- Dollars kommen wird, hängt letztlich fügen werden. Die Reservenhaltung im auch von dem quantitativ im voraus ESZB wird also voraussichtlich mittel- nicht abzuschätzenden Umstand ab, fristig beträchtlich zurückgehen, wenn- wie die außereuropäischen Zentralban- 72 Wulfdiether Zippel ken und Regierungen die sogenannte fentlichen Portfolios ergeben; dies save-haven-Tauglichkeit des Euros im würde (über das Umtauschvolumen Fall etwaiger künftiger internationaler zur Ersetzung der im Euro verschmel- Krisen im Vergleich zum Dollar beur- zenden nationalen Währungen hin- teilen würden. aus) während der Diversifizierungs- phase einen zusätzlichen Euro-Bedarf Versucht man, die verschiedenen Ein- im Gegenwert von 600 – 800 Mrd. flußebenen des „materiellen” Funda- Dollar entsprechen24. Das Tempo der ments von Leitwährungen zusammen- Diversifizierung wird in den einzelnen fassend zu beurteilen, so ergibt sich, Nachfragesektoren (z.B. für private daß der Euro hinsichtlich wichtiger Transaktions- oder Anlagezwecke sowie realwirtschaftlicher Voraussetzungen zum Aufbau öffentlicher Reservegut- (aggregiertes Bruttoinlandsprodukt, haben) unterschiedlich schnell ablau- Leistungsbilanzsaldo, Weltmarktver- fen. Ein kontinuierlicher Ablauf des flechtung beim Waren- und Dienst- Umschichtungsprozesses ist schließ- leistungsaustausch, aktuelle und zu lich auch deshalb sinnvoll, weil der erwartende Preisniveau-Stabilität) ins- Aufbau zusätzlicher privater und öf- gesamt keineswegs schlechter ab- fentlicher Euro-Guthaben entspre- schneidet als der Dollar. Allerdings chende Leistungsbilanz-Defizite von werden die Finanzmärkte in den USA „Euroland” impliziert. (Notes- und Bondsmärkte, Aktienbör- se) vorerst noch erheblich breiter und tiefer sein. „Euroland” wird diesbe- 3. Prinzipielle Folgen einer züglich nach Einführung der Ge- Leitwährungsrolle des Euros meinschaftswährung im Zuge der Her- ausbildung gemeinsamer Geld- und Die Emission des Euros und das Ver- Kapitalmärkte jedoch sukzessive be- schwinden der in ihm verschmel- trächtlich aufholen. Wie schnell dieser zenden einzelstaatlichen Währungen Prozeß verlaufen wird, ist nicht vor- bringt sowohl für die Welt-Währungs- hersehbar. Denn die Reputation der ordnung als auch für den weiteren EZB sowie das Vertrauen in die Stabi- Fortgang der europäischen Integration litätseigenschaften der neuen Wäh- einschneidende Veränderungen mit rung wird sich erst allmählich aufbau- sich. Hinzu kommt, daß die Geldpoli- en. Es wird vermutlich mehrere Jahre tik einer Zentralbank dann besonderen dauern, bis der Euro seine künftige in- Bedingungen unterliegt, wenn das von ternationale Rolle gefunden haben ihr emittierte Geld in beträchtlichem wird. Ausmaß die Rolle einer Leitwährung spielt. Resümiert man die quantitativen Un- tersuchungen zu den verschiedenen Nicht zuletzt die vorangegangene Aus- Komponenten der globalen Nachfrage einandersetzung mit dem realwirt- nach einer Währung, so könnte sich in schaftlichen Hintergrund der Gemein- den nächsten Jahren ein Umschich- schaftswährung macht deutlich, daß tungsvolumen zugunsten des Euros in der Euro ein ganz wesentlicher Faktor einer Größenordnung von 10 – 15% der internationalen Währungsordnung der gegenwärtigen privaten und öf- sein wird. Im Hinblick hierauf ist die Der Euro als Leitwährung 73

Gewährleistung von Preisniveaustabi- tenzen der EU bestehen, während die lität im „Euroland” der wertvollste Bei- „Integration” auf den nicht-ökono- trag, den das ESZB zu einer gedeihli- mischen Politikfeldern durch inter- chen globalen Wirtschaftsentwicklung gouvernementale Kooperation gekenn- leisten kann. Damit das künftige Ge- zeichnet ist. Denn die längerfristi- wicht „Europas” bei der Diskussion ge Rolle des Euros als internationale und Entscheidung von Grundsatzfra- Währung ist nicht nur untrennbar mit gen der internationalen Währungsbe- der Glaubwürdigkeit der stabilitätspo- ziehungen bestmöglich zur Geltung litischen Orientierung der Geldpolitik gebracht werden kann, ist jedoch die des ESZB und dem relativen globalen bisherige Zersplitterung des europäi- ökonomischen Gewicht von „Euro- schen Einflusses im Internationalen land” verbunden, sondern – insbeson- Währungsfonds (IWF) zu überwinden. dere in Zeiten tiefgreifender interna- Um das zu erreichen, muß das ESZB in tionaler Spannungen – auch von der die Lage versetzt sein, in den interna- politischen Stabilität Europas sowie tionalen währungspolitischen Organi- von seinen sicherheitspolitischen Fä- sationen zügig reagieren und europäi- higkeiten im weitesten Sinne abhän- sche Interessen wirkungsvoll vertreten gig. zu können. Dazu bedarf es noch ge- wisser innergemeinschaftlicher Ent- Eine Leitwährungsrolle des Euros hat scheidungen. Die Regelung der exter- insbesondere auch auf den Handlungs- nen Vertretung des ESZB ergibt sich rahmen der EZB weitreichende Aus- zwar aus Art. 109,4 EGV. Diese Rege- wirkungen. Denn je ausgeprägter die lung in der Praxis möglichst effizient internationale Bedeutung einer Wäh- umzusetzen, ist nicht zuletzt deshalb rung zur Entfaltung kommt, desto schwierig, weil im IWF nur Staaten, die komplexer gestaltet sich die praktische eine eigene Währung haben, vollbe- Durchführung der Geldpolitik. So wird rechtigtes Mitglied sein können. es häufig dazu kommen, daß infolge „äußerer” Einflüsse die Interpretation Im Hinblick auf die globalen Aus- der Entwicklung des relevanten Geld- wirkungen der Existenz des Euros gilt mengen-Aggregats erschwert wird, was es ferner zu sehen, daß der EU in dann gewisse Probleme bei der alljähr- dem Ausmaß, wie die Gemeinschafts- lichen Festlegung des monetären Ziel- währung eine internationale Leitwäh- korridors (bzw. -pfads) haben kann. rungsrolle erringt, zusätzliche welt- Daneben hat die Leitwährungseigen- politische Verantwortung zufällt. Um schaft einer Währung die Begleiter- dieser entsprechen zu können, bedarf scheinung, daß die Finanzierung von es einer adäquaten Ausgestaltung des Leistungsbilanzdefiziten der betreffen- Gemeinschaftssystems; dies verlangt den „Volkswirtschaft” beträchtlich er- auch eine entsprechende Reform leichtert ist. Denn solange auslän- der EU-Institutionen. Im Zuge damit dische Wirtschaftssubjekte freiwillig scheint kein Weg daran vorbeizu- einen Teil ihres Geldvermögens in führen, die Asymmetrie zu verringern, fremden Währungen unterhalten, ge- die darin besteht, daß in Teilbereichen währen sie dem Reservewährungs- der Wirtschaftspolitik bereits supra- land – güterwirtschaftlich betrachtet – nationale, z.T. sogar exklusive Kompe- einen zinslosen Kredit. Ein weiteres 74 Wulfdiether Zippel

Charakteristikum der Leitwährungsrol- öffentlichkeit in die mittel- und lang- le besteht darin, daß die Anpassungs- fristige Kaufkraftstabilität des Euros erfordernisse an den globalen Struk- geprägt. Die institutionellen Voraus- turwandel in dem Sinne asymmetrisch setzungen hierfür sind insgesamt gün- zur Entfaltung kommen, daß die Zen- stig, wenngleich verbreitete Skepsis tralbank desjenigen „Landes”, das die hinsichtlich einer stets vorrangig sta- Leitwährung emittiert, in der Lage ist, bilitätsorientierten Nutzung der insti- zögerlicher Anpassungsmaßnahmen tutionellen Rahmenbedingungen be- zu ergreifen als andere Länder. Erliegt steht. diese Zentralbank den Versuchungen eines solchen „benign neglect”, ist Es ist nicht auszuschließen, daß das schließlich ein wachsender globaler relative Gewicht des Euros in der An- Druck gegen ihre Stabilitätspolitik un- fangsphase zunächst im Vergleich zu vermeidlich. Schließlich soll hier nur den elf nationalen Währungen, die in kurz erwähnt werden, daß – was ihm verschmolzen wurden, zurück- speziell die Politik der EZB in den geht. Im Zuge eines allmählich an- nächsten Jahren betrifft – die in wachsenden Vertrauensgewinns und beträchtlichem Ausmaß zu erwarten- bei hinlänglicher wirtschaftlicher den privaten und öffentlichen Port- Dynamik im „Euroland“ wird die in- folio-Umschichtungen tendenziell mit ternationale Rolle der Gemeinschafts- einem Aufwertungseffekt für den Euro währung jedoch schrittweise zuneh- verbunden sein werden. Eine solche men. Längerfristig wird der Euro dann Entwicklung hätte kontraktive kon- das globale „Gewicht“ der in ihm auf- junkturelle Wirkungen, die alsbald ver- gehenden nationalen Währungen mehrt „innenpolitische” Forderungen deutlich übertreffen. Die EZB rechnet nach einer stärker expansiven Ausrich- sogar damit, daß der Euro schon ziem- tung der Geldpolitik der EZB auslösen lich bald eine international wichtige würden. Auf weitere denkbare Folgen Rolle spielen wird und zwar eine der Leitwährungsrolle für die geldpo- größere, als es dem zusammengefaßten litischen Aktivitäten des ESZB soll hier Gewicht der nationalen Währungen nicht eingegangen werden. entspricht, welche im Euro aufgehen. Die EZB begründet ihre Erwartung u.a. mit der Erwartung, daß (neben den 4. Schlußfolgerungen vorläufig vier noch nicht an der drit- und Ausblick ten Stufe der EWU teilnehmenden EU- Staaten) zahlreiche weitere Länder25 Die Auseinandersetzung mit den Merk- den Euro als Ankerwährung – und als malen einer Leitwährung hat gezeigt, Folge davon – auch als bevorzugte De- daß letztlich die globale Nachfrage pri- visenreserve nutzen werden. Außer- vater und öffentlicher Wirtschaftssub- dem geht die EZB davon aus, daß es zu jekte über die künftige internationale beträchtlichen Umschichtungen in Rolle des Euros und der anderen wich- den privaten und öffentlichen Port- tigen Währungen entscheidet. Die zu- folios kommen wird, wobei zwischen grundeliegenden individuellen Ent- einmaligen Veränderungen der Port- scheidungsprozesse werden ihrerseits foliozusammensetzung und laufenden vorrangig vom Vertrauen der Welt- Umstrukturierungen zu unterscheiden Der Euro als Leitwährung 75 ist. Letztere sind eine Begleiterschei- attraktive und verbreitet akzeptierte nung der sich im Zeitablauf ändernden internationale Währung sein. Die Erwartungen der wirtschaftlichen Ak- globale Bedeutung des Euros wird zu- teure hinsichtlich des weiteren kon- sätzlich wachsen, sobald Großbritan- junkturellen Verlaufs in den weltwirt- nien der Endstufe der Europäischen schaftlich wichtigsten Ländern. Währungsunion beigetreten sein wird.

Was den Yen betrifft, so wird auf seiner Alles in allem wird die Begehrtheit des globalen Rolle wohl noch für längere Euros als private Anlagewährung sowie Zeit die verfahrene wirtschaftliche La- als Anker- und Reservewährung stets ge Japans lasten. Angesichts des Fehl- entscheidend mit seiner Stabilität schlags aller bisherigen Krisenüberwin- verbunden sein. Die internationalen dungs-Programme ist zunehmend zu Märkte werden ihre Aufmerksamkeit befürchten, daß der japanischen Re- in erster Linie hierauf konzentrieren. gierung und Zentralbank schließlich Ein solides Fundament für einen kein anderer Ausweg zur Belebung der starken – weil stabilen – Euro bilden Inlands- und Exportnachfrage übrig- die institutionellen Rahmenbedingun- bleiben wird, als eine gezielt infla- gen (insbesondere in Form des EGV tionäre Politik mit der Folge eines und des Stabilitätspakts) sowie die ge- schwachen Yens zu betreiben. Die ja- wählte geldpolitische Strategie, welche panische Währung wird somit vorläu- der EZB das Betreiben einer konse- fig kaum eine ernsthafte Alternative quent stabilitätskonformen Politik zum Dollar oder zum Euro sein kön- erlauben. Inwieweit die Geldpolitik der nen. Vor einem Wiedererstarken des EZB stets auch durch eine vorrangig Yens muß Japan im übrigen zunächst stabilitätsorientierte Fiskal- und Lohn- seine Finanzmärkte grundlegenden Re- politik flankiert sein wird, bleibt aller- formen unterziehen. Diese sollen an- dings vorerst noch eine offene Frage. geblich bis zum Jahr 2001 abgeschlos- Diesbezügliche Skepsis findet nicht sen sein. Danach wird der Yen mit nur angesichts allseits hoher Staatsver- Sicherheit noch einige Zeit benötigen, schuldung, verbreitet nachlassendem um das Vertrauen zurückzuerwerben, Schuldenabbaustreben, der relativ ge- das erforderlich ist, um ein starker ringen Flexibilität der europäischen Konkurrent des Dollars oder des Euros Arbeitsmärkte sowie anderer struktu- sein zu können. reller Verkrustungen reichliche Nah- rung. Außerdem ist abzuwarten, ob Die globale Rolle des Dollars wird da- und inwieweit angesichts nachlassen- gegen vorerst weiterhin dominierend der konjunktureller Auftriebskräfte die bleiben. Hierfür sprechen sowohl wirt- gegenwärtig in Deutschland, Frank- schaftliche als auch politische Gege- reich und Italien im Amt befindlichen benheiten. Dem widerspricht nicht, Regierungen alsbald und konzertiert daß die Attraktivität des Euros für die eine expansive Haushaltspolitik ein- internationalen Finanzmärkte voraus- schlagen werden. sichtlich signifikant zunehmen wird. Denn angesichts des beträchtlichen Es zeigt sich somit einmal mehr, daß weltwirtschaftlichen Gewichts von langfristige Geldwert-Stabilität kein „Euroland“ wird ein stabiler Euro eine Naturereignis ist. Sie muß im politi- 76 Wulfdiether Zippel schen Alltagsgeschäft vor dem Hinter- politischer Grundsatztreue und Ent- grund mannigfaltiger, widerstreitender schlossenheit sowie an ordnungspoli- Interessen (insbesondere bezüglich tischem Scharfsinn. Dies war stets so einer expansiven Ausrichtung der während der mehr als vier Jahrzehnte Wirtschaftspolitik) kontinuierlich er- erfolgreichen Geldpolitik der Bundes- kämpft werden. Die damit einherge- bank und es wird nach Übernahme der henden Auseinandersetzungen erfor- geldpolitischen Verantwortung durch dern von allen Verantwortlichen ein die EZB grundsätzlich nicht anders permanent hohes Maß an stabilitäts- sein.

Anmerkungen 1 Der Begriff „Leitwährung” wurde von Is- 6 Vgl. „Eine stabilitätsorientierte geldpoli- sing geprägt; vgl. Issing, O.: Leitwährung tische Strategie für das ESZB” (Pressemit- und internationale Währungsordnung, teilung der EZB vom 13. 10. 1998), in: Berlin 1965. Bundesbank (Hg.): Auszüge aus Presse- 2 Vgl. Alesina, A., Summers, L.H.: Central- artikeln 62/1998 (14. 10. 1998), S. 11f.. bank Independence and Macro-economic 7 Gemessen an einem auf das gesamte Eu- Performance: Some Comparative Evidence, ro-Gebiet bezogenen sog. Harmonisierten in: J. of Money, Credit and Banking, Vol. Verbraucherpreisindex (HVP.). 25 (1993), No. 2, S. 155. 8 Z.B. in Gestalt des Anteils des jeweiligen 3 Hinzu kommt, daß der EGV die Ausge- „Landes“ an Weltproduktion und -ver- staltung der Zentralbankautonomie nicht brauch. nur erheblich präziser und extensiver de- 9 Insbesondere aus Mittel- und Osteuropa finiert als das vormalige Bundesbankgesetz, und Afrika sowie abgeschwächt auch aus sondern außerdem auch rechtlich er- Asien und Lateinamerika. heblich stabiler absichert. Während das 10 Von den privaten Finanzanlagen ent- BBankG jederzeit mit einfacher Mehrheit fielen Ende 1998 auf den Dollar ca. 46% des Bundestages hätte abgeändert werden (DM: ca. 10% ; Yen: ca. 11% ); das zusam- können, hat der EU-Vertrag verfassungs- mengefaßte Volumen der elf im Euro ähnlichen Charakter und kann zudem von aufgegangenen Währungen entsprach den EU-Mitgliedern nur einstimmig geän- gleichzeitig rund 24%. Vgl. Duisenberg, dert werden. W. F.: Die internationale Rolle des Euros, 4 Art. 109a EGV schreibt für die Auswahl der in: Bundesbank (Hg.): Auszüge aus Presse- Direktoriumsmitglieder vor, daß diese „aus artikeln 63/1998 (24. 10. 1998), S. 3. dem Kreis der in Währungs- oder Bank- 11 Vgl. „Eine stabilitätsorientierte geldpoli- fragen anerkannten und erfahrenen Per- tische Strategie für das ESZB” (Pressemit- sönlichkeiten“ auszuwählen sind und nach teilung der EZB vom 13. 10. 1998), in: Anhörung durch das Europäische Parla- Bundesbank (Hg.): Auszüge aus Pressear- ment und den EZB-Rat „einvernehmlich“ tikeln 62/1998 (14. 10. 1998), S. 12. durch die Regierungen der Mitgliedstaaten 12 Vgl. Bundesbank (Hg.): Monatsbericht ernannt werden. April 1998, S. 58. 5 Für die Währungen jener (z.Zt. vier) EU- 13 Vgl. Ochel, W.: Der Euro – das Ende der Staaten, die noch nicht ab dem 1. Jan. Vorherrschaft des Dollars?, in: ifo-Schnell- 1999 an der Endstufe der EWU teilneh- dienst 51. Jg., No. 8/1998, S. 11. men, existiert (soweit diese die Anwen- 14 Näheres: IMF (Hg.): Annual Report, Jahr- dung des ERM nicht suspendiert haben) gänge 1986 – 1998. eine Bandbreite für deren Wechselkurs ge- 15 Eine feste Anbindung ihrer Währung an genüber dem Euro, um den baldigen Bei- den Euro ist für jene EU-Länder obliga- tritt dieser Länder zu unterstützen. Im Zu- torisch, die in absehbarer Zeit der dritten sammenhang hiermit ist der EZB allerdings Stufe der EWU beizutreten beabsichtigen. das Recht eingeräumt worden, die De- Potentielle „Kandidaten” für eine enge visenmarktinterventionen auszusetzen, Anbindung ihrer Währung an den Euro wenn es andernfalls zu einer stabilitäts- sind neben den EFTA-Staaten insbeson- widrigen Ausweitung der Geldmenge im dere die mittel- und osteuropäischen Re- „Euroland“ kommen würde. formländer sowie einige Staaten des süd- Der Euro als Leitwährung 77

lichen und östlichen Mittelmeerraums. höhere Dollar-Reserven unterhalten, als Das gleiche gilt in abgeschwächtem Aus- es für Interventionserfordernisse bzw. maß auch für eine Reihe afrikanischer sonstige Zwecke erforderlich ist (wegen Länder und ist längerfristig auch für der Ungewißheit über das Tempo, in dem einige Volkswirtschaften aus anderen Re- der Umtausch bestehender privater und gionen vorstellbar (insbesondere auch in offizieller Geldvermögen in auf Euro Form einer verschiedene Währungen ent- lautende Guthaben erfolgen wird sowie haltenden Korbkonstruktion). aufgrund der Absicht des ESZB, zur Ver- 16 Vgl. Ochel, W.: Der Euro – das Ende der trauensbildung zugunsten des Euros bei- Vorherrschaft des Dollars?, in: ifo-Schnell- zutragen). dienst 51. Jg., No. 8/1998, S. 9. 20 Vgl. IMF (Hg.): Annual Report 1998, S.110. 17 Vor allem die Erfüllung von nationalen 21 Ebd.. Verpflichtungen gegenüber internationa- 22 Ebd.. len Organisationen; vgl. Art. 31.1 ESZB- 23 Vgl. Ochel, W.: Der Euro – das Ende der Satzung. Vorherrschaft des Dollars?, in: ifo-Schnell- 18 Vgl. Ochel, W.: Der Euro – das Ende der dienst 51. Jg., No. 8/1998, S. 10. Vorherrschaft des Dollars?, in: ifo-Schnell- 24 Vgl. Ochel, W.: Der Euro – das Ende der dienst 51. Jg., No. 8/1998, S. 10. Vorherrschaft des Dollars?, in: ifo-Schnell- 19 Die EZB und die nationalen Zentralban- dienst 51. Jg., No. 8/1998, S. 10f.. ken im ESZB werden anfangs auf unbe- 25 Insbesondere aus Mittel- und Ost-Europa stimmte Dauer zunächst voraussichtlich sowie dem Mittelmeerraum. Aktuelle Aspekte der bayerisch-französischen Beziehungen1

Paul Fischer

1. Grundlagen Festtage, die am 6. beziehungsweise 11. November gefeiert werden, knüpft sich 1.1 Geschichte und europäische ein lebendiges Brauchtum in Bayern an.4 Entwicklung Auch die solide und vorausschauende Zusammenarbeit über die Grenzen bayerische Finanzpolitik hatte offenbar hinweg ist für Bayern nichts Neues. schon vor Jahrhunderten einen guten Bayern ist Herzland Europas, was Ruf. Nach ihrer Heirat mit dem fran- schon Napoleon erkannte, als er 1813 zösischen König Karl VI. erhielt die den geographischen Mittelpunkt Euro- bayerische Herzogstochter und franzö- pas in die Oberpfalz legte. Seit über sische Königin Isabeau de Bavière die 1000 Jahren handelt Bayern zwischen Oberaufsicht über die gesamte Finanz- staatlicher Eigenständigkeit und ver- verwaltung im französischen König- pflichtender Zugehörigkeit zur größe- reich. Gerüchte, wonach hierin der ren Gemeinschaft. Grund gesehen werden könnte, daß Frankreich die Eurokriterien erfüllt hat, Die Beziehungen zu Frankreich spielen gehen allerdings wohl etwas zu weit.5 dabei von Anfang an eine besonders bedeutende Rolle.2 Einige Beispiele Maximilian Joseph de Garnerin Graf mögen dies verdeutlichen. von Montgelas, der große Reformer aus einem alten französischen Adels- Schon im mittelalterlichen Rolandslied geschlecht, gilt nach der von Napole- wird auf die „Bischöfe und Dienst- on mit herbeigeführten Gründung des mannen aus Bayern” verwiesen und bayerischen Königreichs als Wegberei- wird zwischen Deutschland, Bayern ter des modernen Bayern. Seit 1806 und Frankreich differenziert.3 Königreich, führte Bayern als voll sou- veräner Staat bis zum Eintritt in das Bis ins Mittelalter zurück reicht die be- deutsche Reich 1870/71 eine eigene sondere Verehrung der Bayern für zwei Außenpolitik.6 Heilige aus Frankreich: den Heiligen Leonhard aus dem Limousin und den Vor allem in dieser Zeit schlägt sich die Heiligen Martin von Tours. An ihre französisch-bayerische Wahlverwandt-

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 Aktuelle Aspekte der bayerisch-französischen Beziehungen 79 schaft auch im gegenseitigen Wort- sidenten wurden Franz Josef Strauß schatz nieder. Bis heute erhalten ha- und der einflußreiche ehemalige Mini- ben sich Wörter wie Böfflamott (Art ster Malaud gewählt. Dieses Komitee Rinderbraten), Plümo (Federdeckbett), besteht heute nicht mehr.9 Potschamperl (Nachttopf), Paraplü (Regenschirm), Charivari (Durchein- Schließlich – und damit beenden ander, Katzenmusik). Aber auch im wir unseren kurzen historischen tour französischen Wortschatz gab es und d’horizon – gewinnt mit dem Vertrag gibt es heute noch, meist im 19. Jahr- von Maastricht 1991 die interregionale hundert eingebürgerte Wörter wie le deutsch-französische Zusammenarbeit bavarois oder la bavaroise (Süßspeise), als weitere Ebene der bilateralen Bezie- la Munich (Münchner Bier), le breu hungen an Bedeutung. Bayern schließt (von dt. Bräu; ein Glas bayerischen mit den südfranzösischen Regionen Biers).7 Languedoc-Roussillon, Midi-Pyrénées und Provence-Alpes Côte d’Azur im Bis 1945 hatte Bayern sogar eine ge- Januar 1996 eine Charta der Zusam- meinsame Grenze mit Frankreich, die menarbeit und reiht sich damit ein in erst verlorenging, als Frankreich unter eine schon lange Liste von Partner- Abtrennung der bisherigen bayeri- schaften zwischen deutschen Ländern schen Rheinpfalz das neue Bundesland und französischen Regionen (Baden- Rheinland-Pfalz schuf. Württemberg – Rhône-Alpes, Branden- burg – Ile de France, Niedersachsen – Eine Sternstunde der bayerisch-franzö- Normandie, Nordrhein-Westfalen – sischen Beziehungen war der Besuch Nord-Pas de Calais, Rheinland-Pfalz – von General de Gaulle in München im Burgund, Thüringen – Picardie, Schles- September 1962. Von der Feldherrn- wig-Holstein – Pays de la Loire, Hessen halle aus hielt er eine kurze deutsche – Aquitaine, Sachsen – Bretagne). Ansprache. Er sagte, es habe franzö- sisch-deutsche Streitigkeiten gegeben, aber jeder wisse, daß stets und trotz 1.2 Städte- und Schul- allem zwischen Bayern und seinem partnerschaften Land ein gegenseitiges Verständnis und eine besondere Sympathie bestan- Kaum zwei Staaten in Europa haben den habe; Freundschaft zwischen Fran- wie Frankreich und Deutschland seit zosen und Bayern solle auch in Zu- dem Zweiten Weltkrieg besser be- kunft ein Schwerpunkt sein.8 wiesen, was es heißt, an einem Strang zu ziehen. Es hat eine echte Völker- Der wenige Monate später im Januar verständigung stattgefunden. Dem 1963 zwischen Adenauer und de Gaulle Gleichklang Bonn-Paris auf hoher poli- abgeschlossene Elysée-Vertrag gab auch tischer Ebene entsprechen enge Kon- den bayerisch-französischen Beziehun- takte zwischen Bayern und Frankreich gen neuen Schwung. auf regionaler und kommunaler Ebene.

Auch das in den 70er Jahren in Paris Die 300 Städte-, Landkreis- und Be- gegründete Comité France-Bavière soll- zirkspartnerschaften und 626 Schul- te diese Beziehungen pflegen. Zu Prä- partnerschaften zeigen das große In- 80 Paul Fischer teresse der Länder aneinander. Pro Trotz dieser weitreichenden Aktivi- Vierteljahr kommt eine neue Partner- täten hat Bayern nach einer Erhe- schaft hinzu. Besonders hervorzuhe- bung der Französischen Botschaft ben ist in diesem Zusammenhang die beim Französischunterricht in der lebendige Partnerschaft zwischen dem Sekundarstufe I und II noch Nach- Bezirk Mittelfranken und der Region holbedarf. Nur 16% der bayerischen Limousin und deren drei Départe- Schülerinnen und Schüler wählen ments. Am Jugendaustausch beteiligen Französisch, während der Bundes- sich jährlich ca. 20.000 Schüler. Frank- durchschnitt bei 25% liegt.12 reich steht damit weit an der Spitze der Partnerländer des Freistaats.10 Vor diesem Hintergrund fand auf An- regung des Französischen Generalkon- suls vom 18. – 22. Januar 1999 an den 1.3 Aktivitäten zur Stärkung des beiden Münchner Universitäten eine Französischunterrichts „Woche der französischen Sprache” statt, die das Ziel verfolgte, nicht nur Es sind besonders zu nennen: den Unterricht und die Praxis der fran- zösischen Sprache zu fördern, sondern ● Kindergärten mit speziellen Franzö- auch gleichzeitig die Mehrsprachigkeit sischprogrammen, und die kulturelle Vielfalt in Europa zu ● Volksschulen mit Schulversuch Fran- stärken. Unter der Schirmherrschaft zösisch, des Bayerischen Staatsministers für ● Realschulen, an denen Französisch- Wissenschaft, Forschung und Kunst, unterricht als Wahlpflichtfach und der Botschafter Frankreichs, Belgiens, Prüfungsfach für die mittlere Reife Kanadas, der Schweiz, Tunesiens und angeboten wird, der Regierung von Québec wurden den ● sogenannte „Europäische Gymna- Münchner Studenten und Kollegiaten sien” mit besonderem Schwerpunkt mit kulturellen Veranstaltungen und auf Fremdsprachen, Naturwissen- Informationsaktionen die verschiede- schaften, Geschichte und musischer nen Facetten der frankophonen Welt Bildung, vorgestellt. ● Gymnasien mit Französisch als er- ster Fremdsprache, ● Gymnasien mit zweisprachiger Ab- 1.4 Französische und bayerisch- teilung D/F sowie französische Vereinigungen ● Einführung des Programms „Abi- Bac“ (danach findet an einem deut- 18.000 Franzosen sind in das wirt- schen Gymnasium im Rahmen des schaftliche, soziale, schulische und Abiturs ein französischer Prüfungs- kulturelle Gefüge Bayerns voll inte- teil statt; an der französischen Part- griert und daher ebenfalls ein wesent- nerschule wird das Baccalauréat mit licher Bestandteil der bayerisch-fran- einem deutschen Prüfungsteil kom- zösischen Beziehungen. Es gibt ein biniert.11 Generalkonsulat in München, mit ● Überdurchschnittliche Beteiligung dem die Staatskanzlei beste Kontakte und gutes Abschneiden bayerischer unterhält, ein Honorarkonsulat in Schüler bei Sprachwettbewerben. Nürnberg, französische Kulturinstitute Aktuelle Aspekte der bayerisch-französischen Beziehungen 81 in München und Erlangen sowie Gervais-Danone in München (seit über 30 französische beziehungsweise 1921), Michelin in Bamberg, Alcatel in bayerisch-französische Vereinigungen Nürnberg), 200 französische Firmen von der Union des Français de Baviére haben Vertriebsniederlassungen in über den Französischen Wirtschafts- Bayern (z.B. Firmen der Luxusindustrie club, die Montgelas-Gesellschaft zur wie Hermès, Cartier, Moet-Hennessy), Förderung der bayerisch-französischen die rund 25.000 Mitarbeiter bayern- Zusammenarbeit bis zur Union des weit beschäftigen. Français de Franconie und den deutsch- französischen Gesellschaften. Die fran- Bayerische Unternehmen investieren zösische katholische Gemeinde in in Frankreich mit rund 6 Mrd. DM München und Bayern („paroisse ca- drei- bis viermal so viel wie franzö- tholique francophone de Munich et sische Firmen in Bayern. 336 bayeri- Bavière“) wird von zwei Priestern seel- sche Unternehmen beschäftigen rund sorgerisch betreut, die dem Erzbistum 26.000 Mitarbeiter in Frankreich. München und Freising unterstellt sind und in München und ganz Bayern Gerade die Industrie- und Handels- Messen in französischer Sprache lesen. kammern und die mittelständische Wirtschaft nutzen seit langem regio- nale Beziehungslinien zwischen Bay- 1.5 Wirtschaftliche Verflechtungen ern und Frankreich.

Diese hohe französische Präsenz in Bayern entspricht den engen wirt- 1.6 Dezentralisierung in Frankreich schaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Ländern. Zu einer wirkungsvollen Kooperation mit französischen Regionen waren aus- Frankreich stand 1997/98 mit einem gehend von den 70er Jahren Verän- Anteil von rund 9% (11,2 Mrd. DM) derungen der Rahmenbedingungen an der bayerischen Gesamtausfuhr auf nationaler, internationaler bezie- und mit einem Anteil von rund 7% hungsweise europäischer Ebene not- (8,3 Mrd. DM) an der bayerischen Ge- wendig. Eine Region im französischen samtausfuhr an vierter Stelle der baye- Zentralstaat hat zwar weit weniger rischen Handelspartner (hinter Italien, Kompetenzen und eine weit geringere Österreich und den USA). Die Zu- Finanzausstattung als ein deutsches wachsraten im Vergleich zu 1996 lie- Land (Verwaltungskompetenzen liegen gen jeweils zwischen 10% und 20%. insbesondere in den Bereichen regio- (Haupteinfuhrprodukte: Kraftfahrzeu- nale Wirtschaftspolitik, regionale Um- ge, elektrotechnische Erzeugnisse, Ma- setzung der Planifikation und der schinen). Das Handelsvolumen von ca. Raumordnung, Forschungs- und Tech- 20 Mrd. DM ist doppelt so hoch wie nologiepolitik). Die Dezentralisierung das zwischen Frankreich und Öster- in Frankreich führte jedoch für die reich. Regionen immerhin auch zu der Möglichkeit von grenzüberschreiten- 30 französische Firmen haben Produk- den Kooperationen. Auch wenn keine tionsniederlassungen in Bayern (z.B. „diplomatischen” Vollmachten erteilt 82 Paul Fischer wurden, wurde der Regionalrat trotz- Pyrénées und Provence-Alpes Côte dem ermuntert, mit der Ermächtigung d'Azur eine Charta der Zusammen- der Regierung „im Rahmen der grenz- arbeit abgeschlossen. Zum Teil schon überschreitenden Kooperation regel- seit Jahrzehnten hatte Bayern bis da- mäßige Kontakte mit den dezentra- hin Beziehungen zu Ländern und lisierten ausländischen Gebietskörper- Regionen in Ost- und Südosteuropa, schaften, die eine gemeinsame Grenze China (Provinz Shandong) und Kana- mit der Region besitzen”, zu knüpfen da (Provinz Québec) unterhalten. (Art. 65 des Gesetzes vom 2. März 1982). Neun Jahre später wurde diese Die drei Partnerregionen Bayerns in grenzüberschreitende Zusammenarbeit Südfrankreich umfassen zusammen nach einer Empfehlung des Conseil eine Fläche von mehr als 100.000 qkm Economique et Social auf interregio- mit rund 9 Mio. Einwohnern. nale Kooperation erweitert. In Frank- reich ist es aber auch heute noch un- denkbar, daß die Regionalräte mit der 2.1 Ziele der Zusammenarbeit Forderung auftreten, in den franzö- sischen Delegationen vertreten zu sein, Erfahrungsaustausch und Kooperation die im europäischen Ministerrat die unter den europäischen Regionen Verhandlung führen, wie es der deut- stärken das regionale Bewußtsein und sche Bundesrat durchgesetzt hat. schaffen zugleich Verständnis für die unterschiedlichen Lebensweisen und Der unterschiedliche Rechtsstatus zwi- Traditionen unserer europäischen schen deutschen Ländern und franzö- Nachbarn. Die Zusammenarbeit ver- sischen Regionen ist bis heute erhalten folgt im wesentlichen drei Ziele: geblieben. Hier das Land mit Staats- charakter, dort die lokale Gebietskör- ● Wirtschaftliche Ziele: perschaft, hier das Land mit Verwal- Technologietransfer zum beider- tungs- und Gesetzgebungsbefugnissen seitigen Nutzen; Stärkung der Kon- – dort die Region lediglich mit Verwal- takte zwischen den Unternehmen tungsbefugnissen. und Forschungseinrichtungen; für die bayerische „Innovationsoffensi- ve” Partner in Südfrankreich finden. 2. Die Zusammenarbeit mit den ● Kulturelle Ziele: südfranzösischen Regionen Stärkung des deutsch-französischen Languedoc-Roussillon, Midi- und europäischen Zusammengehö- Pyrénées, Provence-Alpes- rigkeitsgefühls durch Bewußtma- Côte-d’Azur (PACA) chung der gemeinsamen Kultur und gemeinsame Nutzung von EU-Pro- Bayern ist relativ spät in die inter- grammen. regionale Zusammenarbeit mit franzö- ● Politische Ziele: sischen Regionen eingestiegen. Den Ohne eine interregionale Zusam- Zeichen der europäischen Zeit gehor- menarbeit wird es kein vereintes chend, hat Bayern erst im Januar 1996 Europa und kein Europa der Regio- mit den drei südfranzösischen Re- nen und Nationen geben. Der ehe- gionen Languedoc-Roussillon, Midi- malige Kommissionspräsident De- Aktuelle Aspekte der bayerisch-französischen Beziehungen 83

lors äußerte bei einem Besuch in 2.2 Schwerpunkte der München im Jahre 1995 seine Über- Zusammenarbeit zeugung, daß der Regionalismus weitere Fortschritte machen werde. In den vergangenen Jahren wurden Es sei wichtig, daß deutsche Länder vielfältige Kooperationsmaßnahmen mit französischen Regionen Koope- vor allem für Umwelt, Forschung rationen durchführen, um diese und Technologietransfer, Verkehr, Han- Entwicklung weiter voranzutreiben. del und europäische Zusammenarbeit Die von Bayern mit Südfrankreich durchgeführt. aufgenommene Zusammenarbeit sei der strategisch richtige Ansatz. Forschung Die Zusammenarbeit gründet auf den bereits bestehenden 29 Städtepartner- Zusammenarbeit mit Sophia Antipolis schaften, 15 Hochschul- und 66 Schul- bei Nizza13 in den Bereichen partnerschaften zwischen Bayern und den drei südfranzösischen Regionen. ● Telekommunikation: Von Sophia Selbstverständlich haben für diese Ent- Antipolis aus wird im Departement scheidung auch die Gemeinsamkeiten Alpes-Maritimes ein Bayern-Online zwischen Bayern und seinen Partner- vergleichbares Projekt von France- regionen in Südfrankreich auf wirt- Telecom betrieben. schaftlichem und technologischem ● Projekt Medsat: Von der EU (Pro- Gebiet eine vorrangige Rolle gespielt. gramm Medea) gefördertes Projekt, Sie sind gleichermaßen geprägt von das ab dem Jahr 2000 via Satellit High-Tech-Industrie und mittelstän- (mit EU-Forschungssatellit Stentor dischen Unternehmen sowie For- oder mit Telekommunikationssatel- schungs- und Entwicklungszentren. In lit Global Star) die Mittelmeerländer Toulouse befindet sich das bedeutend- mit interaktiven Programmen vor ste Luft- und Raumfahrtzentrum in allem in den Bereichen Gesundheit, Frankreich, das mit dem von der DASA Ausbildung, Tourismus, Kultur, Um- und Aerospatiale betriebenen Gemein- weltschutz und Landwirtschaft ver- schaftsprojekt Airbus enge wirtschaftli- sorgen soll. Dies eröffnet über die che Beziehungen zu Bayern unterhält. technologische und konzeptionelle Montpellier ist Sitz eines der größten Zusammenarbeit mit Bayern-Online landwirtschaftlichen Forschungs- und hinaus die Möglichkeit, über die Ausbildungszentren in Europa, das jeweiligen Programme auch mit enge Kontakte mit der landwirtschaft- bayerischen Produkten und Dienst- lichen Fakultät in Weihenstephan leistungen Zugang zum nordafrika- pflegt. nischen Markt (125 Mio. Einwoh- ner) zu finden sowie In der Nähe von Nizza hat sich in ● Telemedizin und Online-Sprachen- Sophia Antipolis eine der größten Wis- ausbildung. senschaftsstädte Europas angesiedelt: Beste Voraussetzungen für eine frucht- Ferner bestehen Kontakte des wis- bare Zusammenarbeit im Sinne der senschaftlich-technischen Beirats der bayerischen „Innovationsoffensive”. Staatsregierung (WTB) mit den Tech- 84 Paul Fischer nologiezentren in Montpellier und ern und seinen südfranzösischen Part- Sophia Antipolis. nern weiter ausgebaut wird.

Ausbildung Tourismus und Verkehr

Erfahrungsaustausch über das duale Fremdenverkehr spielt eine bedeutende System der Berufsausbildung, Prak- Rolle in allen drei Regionen. Darüber tikantenaustausch im Bereich der hinaus haben die französischen Regio- Gastronomie und Landwirtschaft, Mit- nen Zuständigkeiten für regionalen arbeit an der Entwicklung eines Aus- Bus- und Bahnverkehr. Aus Kontakten bildungszentrums für Landschafts- zwischen bayerischen Transportunter- pflege in Languedoc-Roussillon. nehmen und Betreibern intermodaler Güterverkehrszentren in Bayern und Languedoc-Roussillon wurde das erste Umwelt private europäische „Road-Railer-Netz” gegründet, ein gemeinsames Güterver- Fragen des Managements und der In- kehrsprojekt, das auf die Entwicklung frastruktur von Natur und National- eines unmittelbar auf der Schiene fah- parks, Fragen der Abfallverwertung, renden Containers gerichtet ist. enge Zusammenarbeit mit dem bayeri- schen Forschungsverbund BayForrest. Kooperationsvorhaben zwischen For- Zusammenarbeit im schungsteams südfranzösischer und Ausschuß der Regionen bayerischer Universitäten bei der bio- logischen Altlastensanierung. Starke Regionen sind wichtige Bundes- genossen gegen die Aushöhlung der Zuständigkeiten der deutschen Länder Wirtschaft durch die EU und für mehr Bürger- nähe in Europa. Gerade die regionale Beteiligung an europäischen Wirt- Zusammenarbeit in Europa mit den schaftsförderprogrammen gewerbli- konkreten Vorteilen für die Bürger cher und handwerklicher Betriebe der kann die vielfach vorhandene Skepsis Porzellan-, Keramik-, Töpfer- und Glas- gegenüber komplizierten Strukturen industrie (AMPHORA). Unterstützung und weit entfernten Institutionen auf von Unternehmenspartnerschaften europäischer Ebene abbauen. Beson- und Messebeteiligungen. Ein noch an- ders bemerkenswert ist, daß in der spruchsvolleres Projekt ist mit Regio- Charta der Zusammenarbeit vom nen aus dem Grand Sud und weiteren Januar 1996 von den drei südfranzö- Regionen in Europa im Rahmen von sischen Partnerregionen erstmals ein Art. 10 EFRE-Verordnung geplant. Die- klares Bekenntnis zum Subsidiaritäts- se Projekte sollen den Auftakt bilden prinzip in Europa abgelegt worden ist. für weitere Aktionen, durch die im Zu- Mit gegenseitiger Unterstützung wurde sammenhang mit den Kooperations- im übrigen ein Franzose der erste Prä- und Finanzierungsinstrumenten der sident des Ausschusses der Regionen EU die Zusammenarbeit zwischen Bay- und ein Bayer dessen Generalsekretär. Aktuelle Aspekte der bayerisch-französischen Beziehungen 85

2.3 Weitere Felder Beitrag zur Fortentwicklung der der Zusammenarbeit bayerisch-französischen Beziehun- gen. In mehr als 100 bayerischen Die Zusammenarbeit mit den drei Städten fanden über 600 Veran- Partnerregionen fügt sich nahtlos in staltungen statt (Ausstellungen, Vor- weitergehende bayerisch-französische träge, Gespräche, Konzerte, Präsen- Aktivitäten ein: tationen aus den Bereichen Kultur, Wirtschaft, Handel, Tourismus, Ga- ● Bayerisch-französisches Hochschul- stronomie und Technologie (TGV zentrum (BFHZ):14 Bestehende er- „Thalys“ und ICE 2 im Münchner folgreiche deutsch-französische Ini- Hauptbahnhof)). 450 Bürgermeister tiativen wie die Verleihung dop- und Gemeinderäte ermöglichten bei pelter Diplome, gemeinsame For- ihrem Treffen in Landshut ein im- schungs- und Mobilitätsprogram- posantes Gruppenbild. me, bilden die Grundlage der Arbeit ● 1998 standen die 46. Europäischen dieser Einrichtung, die als Studien- Wochen in Passau erstmals im Zei- kolleg, als Forschungskolleg und chen eines einzigen Landes unter als Informations- und Kontaktstelle dem Motto „Esprit de la France”. Wissenschaftlern und Studenten in Passau war mit Montbéliard in beiden Ländern, insbesondere in Frankreich offizieller Veranstal- Bayern und seinen südfranzösi- tungsort für die Feierlichkeiten zum schen Partnerregionen, einen geeig- 35jährigen Jubiläum des deutsch- neten Rahmen für künftige Projekte französischen Vertrags. geben soll. Hierzu gehört der Aus- ● Zum Start des Internationalen tausch von Studenten und Dozen- Künstlerhauses Villa Concordia in ten ebenso wie die Förderung von Bamberg 1998 wurden Künstler aus Dissertationen an bayerischen und Südfrankreich eingeladen. französischen Universitäten und ● Das bayerisch-französische Seminar Grandes Ecoles. Die wissenschaft- in Fischbachau findet seit 1968 jedes liche Zusammenarbeit soll durch Jahr unter Mitwirkung von hoch- gemeinsame Forschungstätigkeit rangigen französischen Referenten vertieft werden, wobei sich das Zen- aus Politik, Wirtschaft, Kultur statt. trum auf die Unterstützung dieser ● Seit 1994 leisten Studenten der Tätigkeiten beschränkt und keine französischen Verwaltungselitehoch- eigenen Lehr- und Forschungspro- schule Ecole Nationale d’Admini- gramme durchführt. Der Freistaat stration (ENA) ihr sechsmonatiges Bayern stellt für das Zentrum aus Auslandspraktikum auch in der dem Fonds Hochschule Internatio- Bayerischen Staatskanzlei und Baye- nal jährlich rund 300.000 DM zur rischen Staatsministerien ab. Verfügung. Die französische Seite ● Jeweils ein Drittel der Teilnehmer fördert in vergleichbarem Umfang des Lehrgangs für Verwaltungs- die Arbeit des Zentrums. führung der Staatsregierung absol- ● Französischer Frühling in Bayern viert in Frankreich alle zwei Jahre (12. – 26. April 1997). Die Französi- einen vierwöchigen Informations- schen Wirtschafts- und Kulturtage aufenthalt und besucht dabei auch in Bayern leisteten einen wichtigen die ENA in Straßburg und Paris.15 86 Paul Fischer

● Am 1.7.1999 richtet die Region Alsace werden die Vorbereitungen wieder auf- ein Verkehrsbüro in München ein. genommen. Bis dahin ruhen die offizi- ellen Kontakte. Bayern wird seinerseits mit den drei Partnerregionen nicht ge- 3. Probleme der Zusammenarbeit trennt verhandeln oder kooperieren. Dies würde dem Geist der Zusammen- Die Regionalwahlen in Frankreich arbeit, dem Esprit Grand Sud, wider- Mitte März 1998 und die daraus re- sprechen. Die Charta der Zusammen- sultierende Veränderung der politi- arbeit wurde zwischen vier Gebiets- schen Landschaft hatten auch Auswir- körperschaften abgeschlossen, nicht kungen auf die Kooperation zwischen zwischen Personen. Deshalb wird Bay- Bayern und Südfrankreich. Das fängt ern auch weiterhin Kooperations- damit an, daß es in Frankreich selber maßnahmen, die der Bevölkerung in zwischen den drei südfranzösischen Bayern und Südfrankreich zugute Regionen zu einem Stillstand auf allen kommen, nach Kräften unterstützen. regionalen, nationalen und europäi- In diesem Sinne ist es erfreulich, daß schen Kooperationsfeldern (z.B. Arbeits- unterdessen die informellen Kontakte gemeinschaft der Pyrenäen, Associa- auf Arbeitsebene zwischen Bayern und tion des Régions de France (ARF), seinen Partnerregionen weiterhin zu- Versammlung der Regionen Europas, friedenstellend verlaufen. Am deutsch- Ausschuß der Regionen) gekommen französischen Festival im Rahmen der ist. Die in Marseille und Toulouse neu europäischen Wochen in Passau haben gewählten sozialistischen Regional- sich im Juni/Juli 1998 Künstler und präsidenten lehnten und lehnen es ab, Musikgruppen aus allen drei Partner- mit dem mit Stimmen des Front Na- regionen beteiligt. In Toulouse ist ein tional wiedergewählten Regionalpräsi- bayerisch-französischer Wirtschaftstag denten in Montpellier, Jacques Blanc, geplant. Bei einem Symposium des zusammenzuarbeiten, so daß eine tri- Forschungsverbundes BayForrest ha- oder quatrilaterale Zusammenarbeit ben namhafte Forscher aus Languedoc- gegenwärtig nicht möglich ist. Der bis Roussillon teilgenommen. Die bila- zu den Regionalwahlen herrschende teralen Kontakte zwischen Partner- „Esprit Grand Sud”, der bis dahin die städten, Schulen, Hochschulen, Ver- Zusammenarbeit beflügelte, ist zumin- einen, Forschungseinrichtungen und dest vorläufig dahin und damit eine Wirtschaftsverbänden, aber auch die wesentliche Grundlage der Zusam- Verbindung zwischen Oberbayern und menarbeit auf offizieller Ebene. dem Departement Alpes-Maritimes in der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur Die für 1999 geplanten Bayerischen sorgen dafür, daß die Fäden zwischen Kultur- und Wirtschaftstage in Süd- Bayern und Südfrankreich nicht ab- frankreich („Rendez-vous avec la Ba- reißen.16 vière”) sind vorerst von seiten Bayerns auf Eis gelegt. Sobald aus Südfrank- reich Signale kommen, die die Durch- 4. Schlußbemerkung führung der in der Planung schon weitgediehenen Kultur- und Wirt- Die Zusammenarbeit mit Südfrank- schaftstage gesichert erscheinen lassen, reich hat mit Nebenaußenpolitik oder Aktuelle Aspekte der bayerisch-französischen Beziehungen 87 gar Separatismus nichts zu tun. Sie ist Deutsche Botschaft in Paris, die sich nicht gegen Bonn, Paris oder Brüssel ausdrücklich bereit erklärt hat, den gerichtet. Es geht lediglich darum, mit Ländern beim weiteren Ausbau bzw. den zur Verfügung stehenden Mitteln bei der Anknüpfung von Beziehungen im Rahmen von Kooperationen den zu französischen Regionen zu helfen. vorhandenen Handlungsspielraum als Länder und Regionen auszuschöpfen. Mit föderalem Selbstbewußtsein wird Dies geschieht im Rahmen der verfas- Bayern auch weiterhin gleichsam eine sungsmäßigen Ordnung Deutschlands „Diplomatie unterhalb der Außenpo- und Frankreichs. So sieht es auch die litik” (Hannes Burger) pflegen.

Anmerkungen 1 Es handelt sich um den bearbeiteten Text 10 München mit einer französischen Haupt- eines Vortrags, den der Verfasser bei einer 10 niederlassung in Form einer Association Expertentagung der Akademie für Politik Loi 1901 mit Sitz in Paris an der Ecole und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stif- Nationale d’Administration (ENA). tung (Wildbad Kreuth, 9. – 11.11.1998) 7 Vgl. Reinhard Wittmann, Plümo, Pot- zum Thema: „Deutschland und Frankreich schamperl und Paraplü – Bayerns fran- – Neue Partnerschaft in der Wirtschafts- zösischer Wortschatz, in: Bavaria und und Währungsunion” gehalten hat. Marianne, S. 16 – 17; Paul Fischer, Die 2 Eine historische Gesamtdarstellung der deutsch-französischen Beziehungen im bayerisch-französischen Beziehungen gibt 19. Jahrhundert im Spiegel des französi- es noch nicht. Einen wichtigen Beitrag schen Wortschatzes, Europäische Hoch- dazu liefert das empfehlenswerte Chariva- schulschriften, Reihe XIII, Bd. 161. Frank- ri-Sonderheft „Bavaria und Marianne. Bay- furt am Main, Bern, New York, Paris 1991. ern und Frankreich – gestern und heute”, – La Munich und le breu sind heute nicht das anläßlich des Französischen Frühlings mehr gebräuchlich. in Bayern im April 1997 erschienen ist. 8 Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 3 La Chanson de Roland, übersetzt von H.W. 20. Jahrhundert, München 1986, S. 669. Klein, München 1963; vgl. insbesondere 9 Peter Claus Hartmann, 600 Jahre Bayern die Textzeilen 3977 und 3028 sowie wei- und Frankreich, S. 1 (unveröffentl. Ma- tere Stellen in Z. 2327, 3700, 3793, 3960. nuskript). 4 Vgl. Hedi Heres, Zwei Heilige aus Frank- 10 Lt. Pressemitteilung des Bayerischen reich – in Bayern hochverehrt, in: Bavaria Staatsministeriums des Innern vom 29.9. und Marianne, S. 34 – 35; Claude Husson, 1998: 288 Gemeinden, 5 Landkreise, Saint Léonard et l’anneau culturel, ebd., 7 Bezirke; zu den Schulpartnerschaften S. 36 – 37. vgl. KMS VI/6 – S4324-8/187 147 vom 5 Vgl. Hans Nöhbauer, Tu felix Bavaria, nube 18.12.1998 (Internationale Kontakte der … Bayerisch-französische Heiratspolitik, bayerischen Schulen im Schuljahr in: Bavaria und Marianne, S. 20 – 23. 1997/98): Austausch mit Frankreich: 429 6 Vgl. Eberhard Weis, Montgelas, München Gymnasien, 65 Realschulen, 50 berufliche 1968. – Seit 1993 gibt es in Bayern die Schulen, 4 Berufsoberschulen und Fach- „Montgelas-Gesellschaft zur Förderung der oberschulen. bayerisch-französischen Zusammenarbeit 11 In München gibt es das Programm „Abi- e.V.“. Kuratoriumsvorsitzende sind jeweils Bac“ ab 1999; Partnerschulen sind das „ex officio” der französische Generalkon- Dante-Gymnasium und das Lycée Jean sul und der Amtschef der Bayerischen Renoir. Staatskanzlei. Die Gesellschaft widmet sich 12 Vgl. République française, Ambassade de insbesondere der europäischen Integration France, Service culturel, Situation du durch den Gedankenaustausch zwischen français en Allemagne, données stati- Bayern und Frankreich auf allen Gebieten stiques 1986 – 87, 1994 – 95, 1995 – 96. der Rechtspflege und der Verwaltung und Daß die Situation für den Deutschunter- durch die Fortbildung in Geschichte, Spra- richt in Frankreich ähnlich besorgnis- che, Kultur und Recht des jeweiligen erregend ist, zeigt der Artikel „Verlorene Partnerlandes. Sitz der Gesellschaft ist in Illusionen – den französischen Deutsch- 88 Paul Fischer

lehrern laufen die Schüler weg” in der sowie ders., Les technopôles en France – Süddeutschen Zeitung (10.11.1998). l’expérience de Sophia-Antipolis, in: Les 13 Größte Wissenschaftsstadt Europas, vor Cahiers de Fischbachau, No 3 (1998). 25 Jahren begonnen, heute 17.000 Be- 14 Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklä- schäftigte in 1150 Unternehmen; insge- rung zur Gründung des bayerisch-franzö- samt sind in der Region 60.000 Arbeits- sischen Hochschulzentrums durch Staats- plätze beziehungsweise 150.000 Personen minister Zehetmair und dem Französi- von Sophia Antipolis abhängig bezie- schen Botschafter Scheer am 5. März hungsweise gesichert. Schwerpunkt: 40% 1998. Grundlage: Vereinbarung zwischen Informationswissenschaft, 18% Gesund- den beiden Münchner Universitäten vom heit, 8% Umwelt. Viele mittelständische 1.12.1997. Existenzgründungen! Finanzierung viel- 15 Vgl. dazu Pierre Wolff, Les échanges fran- fach durch Risikokapital. Vgl. dazu aktuell co-bavarois dans l’administration publi- Paul Cambon, High-Tech im Land der que, in: Bavaria und Marianne, S. 153 – Mimosen, in: eurowings magazin, No- 155. vember 1998, S. 86 – 90. Zu den Ur- 16 Vgl. dazu das Interview des damaligen sprüngen von Sophia-Antipolis vgl. den Amtschefs der Bayerischen Staatskanzlei, Aufsatz des Gründers Pierre Laffitte, Nais- Ministerialdirektor Dr. Rudolf Hanisch, in sance d’une ville? Sophia-Antipolis, in: Bayern 2 Radio (Blickpunkt Bayern) am Corps Ècrit, no 29, mars 1989, S. 11 – 24, 3.11.1998, 18.30 Uhr. Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997

Christian Deubner

1. Einführung ● die Aushandlung der Bedingungen, unter denen der Beitritt der MOEL Noch mehr als viele andere große tatsächlich würde stattfinden kön- Entwicklungen in der europäischen nen. Integration ist auch ihre Ausweitung auf die Staaten Mittel- und Osteuro- pas (MOE)1 in einem Prozeß zustan- 1.1 Das Ringen um die degekommen, dessen Hauptakteure grundsätzliche Zustimmung Deutschland und Frankreich waren. In diesem Fall war Deutschland seit dem Die deutsche Politik wollte als erstes Jahr 1989 die treibende, Frankreich die das prinzipielle Ja der Partner zu einer bedeutendste hemmende Kraft. Wenn Öffnung und dann zur Aufnahme von man also von Frankreichs Haltung zur Erweiterungs-Verhandlungen mit den Osterweiterung spricht, muß man MOEL. Zu diesem Zweck suchte sie in von seiner Reaktion auf eine Politik einer ersten Phase möglichst alle kon- sprechen, die in ihrer Richtung und kreten Fragen des „Wie“ aus den Ver- Qualität stark von deutschen Interes- handlungen und auch den öffent- sen geprägt war, muß man auch von lichen Diskussionen in Deutschland einer Reaktion auf die Änderung der selbst fernzuhalten, um dies Ziel nicht deutschen Position in Europa spre- durch das Eingehen auf die absehbaren chen.2 Schwierigkeiten und Widersprüche dieser Politik zu verzögern und zu ge- Die Entwicklung der EU-Osterweite- fährden. Erst sollten alle sich prinzi- rung teilt sich in zwei große Phasen: piell dafür erklärt haben und eine po- litische Tendenz etabliert werden, der ● Das diplomatische Ringen der deut- man sich nicht mehr entgegenstellen schen Politik um die grundsätzliche konnte. Das Ergebnis in Deutschland Zustimmung der EU-Partner zu war in den ersten Jahren nach Öff- einer raschen Öffnung für den Bei- nung des Eisernen Vorhangs der Ein- tritt der MOEL, bis zu dem „Ja“, das druck einer geradezu naiven und weit- der Europäische Rat von Kopenha- gehend nur moralisch begründeten gen am 21/22.6.1993 aussprach; Begeisterung für eine schnelle Ost-

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 90 Christian Deubner erweiterung der EU, sowohl auf Regie- Die Aushandlung der Bedingungen rungsseite wie in der Öffentlichkeit, die sich der Einsicht in die großen Seit Aufnahme der Erweiterungsver- Schwierigkeiten nicht stellen wollte. handlungen ist eine der entscheiden- den Fragen aus französischer Sicht Erst seitdem das prinzipielle ’Ja’ aller ganz sicher, ob und wieweit noch Partner erreicht ist – der Europäische irgendwelche dieser zusätzlichen fran- Rat von Kopenhagen war dafür der er- zösischen Bedingungen für die Ost- ste wesentliche Schritt – und die Bei- erweiterung durchgesetzt werden kön- trittsverhandlungen mit den ersten nen, während man sich bereits in den Kandidaten begonnen haben, hat man konkreten Verhandlungen über die die Diskussion auf die konkreten Sach- ersten Beitritte befindet. probleme hin geöffnet. Dafür hat man die Vorschläge der Kommission in der Es spricht vieles dagegen, daß hier Agenda 2000 abgewartet. noch große Fortschritte zu machen sind. Ein Hauptresultat dieses frühen deut- schen Drucks zu rascher Erweiterungs- Wird aber dies die Osterweiterung bereitschaft war Frankreichs ebenso noch entscheidend bremsen? Die hart- prinzipiell begründeter hinhaltender näckigsten Bremser werden jetzt wohl Widerstand gegenüber einem solchen eher die Interessen-Organisationen prinzipiellen ’Ja’, der sehr deutlich derjenigen sein, die durch diesen spürbar und erst mit dem Europäi- Schritt materielle Einbußen erleiden schen Rat von Kopenhagen im Juni würden, etwa die Bauernverbände und 1993 überwunden war. die Netto-Empfänger von Regional-, Kohäsions- und Strukturhilfen, als de- Frankreich wurde damit eo ipso auch ren entschiedenster Wortführer Spani- zum Hauptadressaten dieses Drucks in en auftritt. der EU. Im Vergleich zu den prinzipiellen Sor- Zwar hat es mit seinem Zögern den gen der Franzosen um die Gewichts- Weg der EU bis hin zum Einstieg in die verteilung in der Union und um ihre dritte Phase der Wirtschafts- und Handlungs- und Entwicklungsfähig- Währungsunion vor den gefürchteten keit könnten diese sehr prosaischen Störungen durch eine rasche Öffnung Motive die Erweiterung letztlich stär- gegenüber neuen Partnern aus Mittel- ker und wirkungsvoller behindern und osteuropa schützen, andererseits hat es ihre Konditionen mehr beeinflus- fast keine einzige seiner zusätzlichen sen, vor allem angesichts der Finanz- Bedingungen für eine solche Öffnung klemme, die verhindert, daß man sie der EU durchsetzen können, bevor durch einen Griff in die Kassen neu- die Beitritts-Verhandlungen mit den tralisiert. MOEL konkret aufgenommen wurden. Insofern war das prinzipielle ’Ja’ Frank- Die große Ausnahme war die erfolg- reichs auch eine Voraussetzung dafür, reiche Forderung nach einer neuen daß diese bremsenden Kräfte nunmehr Mittelmeer-Initiative. wirksam werden konnten. Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 91

2. Die Osterweiterung der EU langfristig angelegten Hoffnung. Auf als Folge der historischen der anderen Seite der Systemgrenze lag Wende von 1989/90 auch die DDR. Entsprechend sollte dieser allgemeine Annäherungsprozeß 2.1 Vor 1989: Eine allmähliche auch zwischen den beiden deutschen Überwindung der System- Staaten deutlich mehr und engere grenze in Europa als Rahmen Kooperation möglich machen. der Veränderung Der deutlichste Unterschied zu dem, Bis 1989 dachte niemand im Westen was dann tatsächlich eintrat, war die im Ernst an eine Osterweiterung der in dieser Vision noch enthaltene Ge- Europäischen Gemeinschaft, wie sie genseitigkeit der Annäherung, in der damals noch hieß. auch der Westen dem Osten entgegen- kommen müßte, zumindest was die Zwar zielte die Rhetorik der Europäi- allmähliche Auflösung der Macht- und schen Integration seit den Römischen Bündnisstrukturen auf beiden Seiten Verträgen bereits über den ersten Teil- der Systemgrenze betraf. Vor allem für nehmerkreis hinaus mit der „Aufforde- die Position der beiden deutschen Staa- rung“ der Präambel des EWG-Vertrages ten enthielt diese Vision große Un- „an die anderen Völker Europas, die sicherheiten. sich zu den gleichen hohen Zielen be- kennen, sich diesen Bestrebungen an- zuschließen“3, aber in bezug auf den Die historischen Dimensionen östlichen Teil war man in Westeuropa der französischen Sorge doch überzeugt, daß diese Rhetorik keinen realen Hintergrund hatte. Schon mit dieser seinerzeit als opti- mistisch geltenden Perspektive hatte Wohl gab es in der politischen Zu- Frankreichs politische Elite ihre kunftsspekulation der siebziger Jah- Schwierigkeiten: re (wie lange das schon vergangen scheint!) eine Vorstellung von einer Das betraf einmal natürlich die darin allmählichen gegenseitigen Annähe- beschlossene langfristige Dynamik der rung der Staaten Europas über die so- deutschen Frage, die einen dauerhaft genannte Systemgrenze hinweg. In wirkenden Unsicherheitsfaktor in die Deutschland dachten viele (vor allem enge Bindung Westdeutschlands an in der SPD, aber auch weit über sie Frankreich, an die EG und die NATO hinaus), es werde mit der Zeit zu mit sich bringen würde. In einem wei- einem immer weiteren Abschleifen der teren Sinne galt es aber auch für Frank- Gegensätze und damit auch der Ab- reichs Rolle in einem solchermaßen er- grenzungen zwischen den Staaten auf weiterten Europa. Es mußte eine beiden Seiten dieser Grenze kommen Zunahme deutscher Beweglichkeit und und damit auch zu einer Intensivie- Macht durch schleichende Vereini- rung der gegenseitigen Beziehungen in gung der beiden deutschen Staaten, einem friedlichen Gesamteuropa. Das v.a. gegenüber Mittel- und Osteuropa, Stichwort hieß ’Konvergenz’. Die KSZE und eine Verunsicherung der französi- war der sichtbarste Ausdruck dieser schen Bündnissituation befürchten. 92 Christian Deubner

All das waren aus der Erfahrung der Grenzzauns durch Gyula Horn und dem vergangenen hundertdreißig Jahre Vollzug der deutschen Wiedervereini- wohlbegründete politisch-strategische gung) die meisten jener Ereignisse im Sorgen, die in der Zeit des Kalten Krie- Zeitraffertempo ein, die man sich als ges ruhiggestellt waren, die mit jeder Produkt einer langen historischen Ent- selbst nur allmählichen Dynamisie- wicklung gedacht hatte. Entscheidend rung dieser Situation aber wieder akut war im Unterschied zur zuvor umrisse- werden mußten. nen Vision, daß alles dies in einem grandiosen Ungleichgewicht der beiden Die Sorge um Deutschlands Westbin- Seiten stattfand und daß vor allem die dung kam Anfang der 80er Jahre viel- DDR sich bereits im Herbst 1990 auflö- leicht am deutlichsten zum Ausdruck ste und ihr Herrschaftsgebiet der Bun- in der in Deutschland sehr umstritte- desrepublik angliederte. So konnte sie nen Rede des neugewählten Präsiden- nicht mehr als selbstständiger Anzie- ten Mitterrand am 20. Januar 1983 im hungspol auf die Bundesrepublik wir- , in der er demonstrativ für ken. Auch im restlichen Europa wirkte die Raketenrüstungspolitik der neuen die Anziehungskraft nur in einer Rich- christlich-demokratisch geführten Re- tung, das Modell für die weitere gesell- gierungskoalition eintrat und sich schaftlich-politische Entwicklung war damit mitten im Wahlkampf gegen der Westen, er war der wirtschaftliche die Abrüstungsforderungen seiner par- Wunschpartner und auch das Ziel der teipolitischen Freunde aus der SPD sofort einsetzenden außenpolitischen stellte, bei denen er die Gefahr eines Umorientierung der Reformregime in Abdriftens in Richtung Neutralisierung den MOEL. Die ’eins plus vier Gesprä- kritisierte4. che’ sanktionierten diese Realität mit der Erlaubnis, das wiedervereinigte Deutschland in der NATO zu belassen, 2.2 Nach 1989: Der Zusammenbruch während im Osten der Warschauer Pakt des Sowjetimperiums und die zerbrach. Es gab also keine Gefahr des Umorientierung der mittelost- deutschen Abdriftens nach Osten oder europäischen Länder in eine den Westen schwächende Neu- tralität mehr. Auch die westeuropäi- Die Osterweiterung der EU, wie sie schen Strukturen wie etwa die EU waren dann von 1989 an zum großen Thema nicht einer sie schwächenden Delegi- der Europapolitik wurde, war nun timierung durch einen beiderseitigen allerdings in vieler Hinsicht (auf den Konvergenzprozeß ausgesetzt. Im Ge- ersten Blick jedenfalls) das gerade Ge- genteil wurden sie rasch zum Ziel der genteil desjenigen, was viele zuvor er- osteuropäischen Regierungen. wartet hatten.

Die Möglichkeit zu einem solchen Die Herausforderungen für die west- Schritt eröffnete sich in dramatischer europäischen Strukturen und Frank- Geschwindigkeit. Mit dem Verschwin- reichs Position den des Eisernen Vorhangs traten innerhalb von gerade einmal 16 Mo- Trotz der Bestätigung der westlichen naten (zwischen dem Zerschneiden des Strukturen und Organisationen und Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 93 ihrer Überlegenheit, trotz der vollen reich anzudeuten. Wie befürchtet, gin- Einbindung der deutschen Wiederver- gen der Siegermachtstatus und da- einigung in diesen Rahmen, mußten mit das besondere Einspruchsrecht ge- die Öffnung Mittel- und Osteuropas genüber Westdeutschland in kürzester und der Zusammenbruch der Kalten- Zeit völlig verloren; die Notwendigkeit Kriegs-Konfrontation jedoch auch für und damit der politische Wert der den Westen des Kontinents grundle- Nuklearwaffen nahmen drastisch ab; gende Herausforderungen bringen. Das auch die feste NATO-Struktur mit zu- lag an dem völligen Zusammenbruch verlässiger Fixierung Deutschlands in der östlichen Systeme, der durch den der Konfrontation, die ein nuklear Kollaps der Sowjetunion auch als Wirt- gerüstetes Beiseitestehen Frankreichs schaftspartner dramatisch verstärkt hinter dem deutschen Glacis ermög- wurde und den Erfolg der Transforma- licht hatte, war in ihrer Existenzbe- tion von der wirtschaftlichen Koopera- rechtigung in Frage gestellt. Beide Ent- tion des Westens abhängig machte. wicklungen verlangten nunmehr neue Auch der politische Anlehnungsdrang französische Angebote, die alte Acquis der Reformregime im Westen erheisch- aufhoben. In Frankreich wurden die te konstruktive Antworten. Die Her- Umbrüche der Jahre 1989 – 1990 so ausforderung lag aber auch an der zwar einerseits – wie in Deutschland – Schwächung der NATO und damit der als das Ende einer schlechten und im- sicherheitspolitischen Einbindung ih- mer weniger gerechtfertigten Nach- rer Mitglieder. Aufgrund der Wieder- kriegsordnung auf Kosten des deut- vereinigung Deutschlands und seiner schen Verlierers und der unterdrückten Lage an der Scheidelinie zwischen bei- mitteleuropäischen Völker gesehen. den Regimen war es nicht erstaunlich, Auch in Frankreich jubelte die Be- daß diese Änderung ihre größten, un- völkerung über die deutsche Wieder- mittelbarsten und positivsten Auswir- vereinigung. Das Ergebnis brachte kungen und Herausforderungen für allerdings keine erneute Bestätigung, Deutschland brachte. Die ’deutsche sondern vielmehr die weitere Auf- Frage’ stellte sich, in gewandelter und lösung eines mittelosteuropäischen älterer Form, nun erneut. Frankreich, Staatensystems, das Frankreich seit den dessen Politik über die Nachkriegs- Pariser Vorortverträgen von 1919/20 jahrzehnte hinweg auf die Errichtung maßgeblich mitgestaltet hatte. Kein einer westeuropäischen Ordnung mit Wunder, daß Frankreichs Staatseliten einer wirkungsvollen Einbindung diese Entwicklung nur schwer akzep- Westdeutschlands und einer herausge- tieren konnten.5 hobenen Position für sich selbst hin- gearbeitet hatte, sah zentrale Elemente seiner Stellung in der Nachkriegszeit Was waren die bedeutendsten entwertet. So sah es sich zwar mittel- neuen Herausforderungen? bar, aber nicht weniger grundsätz- lich, zu schwerwiegenden Anpassungs- ● Deren eine war der völlige Wandel schritten herausgefordert. des Stabilitäts- und Sicherheitspro- blems an Deutschlands Ostgrenze, Nur wenige Punkte seien genannt, um die gleichzeitig die Ostgrenze von die Bedeutung des Wandels für Frank- EU und NATO bildete. Dieser Wan- 94 Christian Deubner

del erforderte neue Lösungen, die diskutiert, also darüber, die Trans- insbesondere auch die Interessen formationsländer in nicht allzu des wiedervereinigten Deutschlands ferner Zukunft in die EU aufzu- berücksichtigen mußten. nehmen. Auch für diesen Fall war ● Auch Frankreichs Sicherheitssorgen schon seinerzeit erkennbar, welche erfuhren eine Umwertung. In der Herausforderungen das für den in- französischen Sicht verschwand die ternen Ausgleich der wirtschaft- Bedrohung aus dem Osten, ver- lichen Vorteile und Lasten, für die gleichsweise nahmen die Besorgnis- Handlungsfähigkeit der Institutio- se gegenüber dem Mittelmeerraum nen und für den Zusammenhalt und Nordafrika zu. In der europäi- und die Entwicklungsfähigkeit der schen Prioritätenhierarchie fanden EU in einem weiteren Sinne bedeu- sie sich zunächst aber erst einmal ten würde. Wenn man die zentrale relativ abgewertet. Rolle bedenkt, die die europäische ● Die zweite war ganz allgemein gese- Integration mit ihren gewachsenen hen die Stärkung des wiederver- Strukturen in der französischen einigten Deutschlands und seine Deutschland- und Europapolitik der neue diplomatische und strategi- Nachkriegszeit spielte, dann erkennt sche Beweglichkeit, auch im Blick man auch die besondere franzö- auf Mittel- und Osteuropa. Sie sische Betroffenheit durch die neue konnte auch die Bindungswirkung Herausforderung. der Europäischen Integration ge- fährden, vor allem wenn Deutsch- Was waren die Lösungsmöglichkeiten, land zur Lösung seines Stabilitäts- besonders die deutschen Vorschläge? problems zu einseitigen Strategien gegenüber seinen östlichen Nach- barn schreiten sollte. Stabilitäts- und Sicherheitsproblem ● Dazu trat die erwartete ungleiche an Deutschlands Ostgrenze, Verteilung der Hilfsverpflichtungen gleichzeitig die Ostgrenze von für die Transformationsländer im EU und NATO Osten und der wirtschaftlichen Vor- teile aus ihrer vollen Einbeziehung Das neue Problem war grundsätzlich in den europäischen Austausch. Un- zu lösen, entweder durch eine Konso- ter den großen EU-Ländern schien lidierung der EU und der NATO in Deutschland am ehesten verpflich- Westeuropa, ergänzt durch eine Politik tet und fähig, Hilfe im Osten zu lei- der Zuordnung und Vorfeldstabili- sten, und gleichzeitig auch aus der sierung gegenüber den MOEL, oder Öffnung des Austauschs die größten durch eine Aufnahme der MOEL in Vorteile zu ziehen. Für Frankreich eine oder beide dieser westlichen Or- konnte das im ersten Punkt einen ganisationen. Vorteil, im zweiten einen relativen Nachteil bedeuten. Diese Lage weck- Schon früh gab es vor allem in te jedenfalls ebenfalls politische Deutschland die klare Präferenz für ei- Motive zu ihrer Änderung. ne rasche Osterweiterung zumindest ● Schließlich wurde schon 1989/90 der EU, um Deutschlands Randlage in über eine Osterweiterung der EU eine solche in der Mitte der Stabilität Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 95 und Sicherheit garantierenden EU zu Hilfsverpflichtungen für die verwandeln. Transformationsländer im Osten und wirtschaftliche Vorteile Damit ist Deutschland auch offener und bedenkenloser als früher dazu Die wirtschaftlichen Chancen aus ver- übergegangen, die Gemeinschaft und tieftem wirtschaftlichen Ostaustausch die deutsche Mitgliedschaft in ihr in sah man in Deutschland sehr früh. der nationalen deutschen Außenpoli- Dort gab es Unzufriedenheit mit der tik zu benutzen: als Trumpfkarte ge- einseitigen Verteilung der Lasten aus genüber Mittel- und Osteuropa. der Wirtschaftshilfe und die – unausge- sprochene – Spekulation, daß eine Ein- beziehung der Transformationsländer Frankreichs Sicherheitssorgen in die EU und ihre Transferregime die- gegenüber dem Mittelmeerraum se Lasten auf die Schultern der anderen und Nordafrika Mitgliedsländer umverteilen würde.6

Für die neue Bewertung der Süd-Proble- me gab es in Deutschland zunächst kei- Osterweiterung der EU ne große Rücksichtnahme; man war weitgehend auf die Fragen der Wieder- Die Osterweiterung der EU konnte vereinigung und Mittel- und Osteuropas Deutschlands Sicherheitsproblem lö- konzentriert, trotzdem die französische sen und damit auch seine EU-Bindung Regierung diesen Gesichtspunkt früh in bestätigen. Sie drohte allerdings auch die Debatte brachte und bezüglich der Zusammenhalt und Funktions- und materiellen Hilfen wie der politischen Vertiefungsfähigkeit der EU zu verrin- Gestaltungsbemühungen eine Berück- gern, zu einer Umverteilung der in- sichtigung beider Flanken forderte. ternen Gewichte zu führen und einige ihrer Vorteile für Länder wie Frank- reich zu beschneiden. Auch im Blick Stärkung des wiedervereinigten auf diese Perspektive – selbst wenn sie Deutschlands, größere Beweglichkeit von Frankreich zunächst nicht geteilt wurde – konnte eine baldige Konsoli- Für die Gewichtszunahme Deutsch- dierung und Vertiefung der EU-Inte- lands in Europa und die aus seiner gration die Nachteile verringern und größeren Beweglichkeit ableitbaren wurde daher auch von Frankreich in Risiken bot sich als Gegenmittel nach bestimmten Feldern angestrebt. deutscher und französischer Auffas- sung vor allem die weitere Konsolidie- rung und Vertiefung der europäischen 3. Frankreichs erste Reaktionen Integration an. auf die Öffnung Europas

Aus deutscher Sicht mußte diese aller- Die französische Politik reagierte auf dings mit der Erweiterung nach Osten diese Herausforderungen als solche, einhergehen, aus französischer Sicht aber selbstverständlich auch auf die handelte es sich zunächst um zwei ge- deutschen Vorschläge, die dieser Situa- trennt zu behandelnde Fragen. tion entsprangen. 96 Christian Deubner

3.1 Politische Ordnungskonzepte in einer moralisch schwierigen Posi- für Europa: Konsolidierung der tion, solange er sich diesem ’Ja’ ver- Integration für die EU, Hilfe weigerte und hat letztendlich dem von und gesamteuropäische Deutschland angeführten Druck nach- Organisation für die MOEL gegeben.8 Die ersten Reaktionen der französischen Politik auf diese Heraus- Schnell hat Frankreich nach 1990 forderung bestanden trotzdem in zunächst, parallel zum deutsch-ost- entschiedenem Druck zugunsten wei- europäischen Vertragswerk, ein dichtes tergehender Konsolidierung der Inte- Netz bilateraler Freundschafts- und gration Deutschlands in der EG und Kooperationsverträge mit nahezu allen damit der EG als solcher.9 Staaten des ehemaligen Ostblocks ge- knüpft. Diese Verträge als solche sollen Die französische Politik wollte diese re- hier nicht diskutiert werden. Ihre Er- formierte Europäische Gemeinschaft wähnung ist aber wichtig, wenn man in ihrer inneren Struktur und Macht- dieses Netz als den Rahmen betrachtet, verteilung, und in ihrer dergestalt er- in dem Frankreich seine Ostpolitik reichten neuerlichen Vertiefung zu zunächst vorrangig betreiben wollte, in einer Wirtschafts- und Währungs- Konkurrenz zu der starken bilateralen union – und sicher auch die wirkungs- deutschen Präsenz im Osten und im volle Einbindung Deutschlands in der- Zusammenwirken mit dem später selben – vor einer zu raschen Öffnung noch angesprochenen Konföderations- nach Osten schützen.10 Seit 1990 wie- projekt. Und immerhin sind in den zwi- derholen französische Politiker und schen April und Oktober 1991 mit Po- Medien unisono die Sorge, daß eine Er- len, Ungarn und der CSFR geschlos- weiterung der EU ohne vorherige wei- senen Verträgen jeweils französische tere – institutionelle – Vertiefung und Zusagen enthalten, die Beitrittsgesuche Festigung zu einer Auflösung des poli- zur Europäischen Gemeinschaft zu un- tischen Integrationsanliegens in der terstützen, Zeichen dafür, daß auch Pa- Realität einer paneuropäischen Frei- ris sich dem Drang der MOEL in die EG handelszone führen werde. beim direkten Kontakt nicht versagen konnte.7 Seine eindeutige Präferenz ging Dem Vertiefungsanliegen verschloß allerdings in eine andere Richtung. sich auch die deutsche Europapolitik nicht. Das bedeutendste Resultat dieser Integrationsbeschleunigung waren die Festigung und Ausbau der EU- Regierungskonferenz von 1991/92, der Integration: Antworten auf die Maastrichter Vertrag und inbesondere deutsche Gewichtszunahme und die Einigung auf eine Wirtschafts- und Beweglichkeit Währungsunion. Eine Verzögerung der EG-Osterweiterung dagegen wollte die Mitterrand empfand (in den Worten deutsche Seite nicht hinnehmen. Die seines seinerzeitigen Beraters Védrine) französische Politik verpaßte bei dieser die deutsche „Patenschaft“ für die Gelegenheit allerdings eine bisher MOEL-Aufnahme als demagogisch nicht wiedergekehrte Chance, auf der und überstürzt und wollte eine hastige Ebene der institutionellen Reform Erweiterung vermeiden. Er befand sich einen entscheidenden Schritt in jener Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 97

Richtung voranzukommen, die auch Zwar sollten die MOEL aus dieser Kon- die Deutschen seinerzeit wollten: Die föderation heraus peu à peu in die EU Stärkung und Zuständigkeitsauswei- eintreten können. Aber bis dahin soll- tung der gemeinschaftlichen Entschei- ten, wie Mitterrand wiederholt fest- dungsverfahren, in deren Zusammen- stellte, noch „mehrere Jahrzehnte“ hang vielleicht auch das Gewicht der vergehen. Wie Védrine in seinem großen Staaten hätte erhöht werden Rückblick auf diese Jahre richtig sah, können.11 stemmten sich die Amerikaner ent- schieden dagegen, daß man sie derart aus Europa hinausdrängen könnte. Gesamteuropäische ’gaullistische’ Auch die Osteuropäer waren zutiefst Antworten auf die Fragen von West- beunruhigt, war es doch ihre „beherr- orientierung, Sicherheit und von schende Obsession, endlich in engeren wirtschaftlich-finanzieller Hilfe: Beziehungen mit den USA und ohne Europäische Föderation, die UDSSR existieren zu können.“13 Sie Charta von Paris, BERD, Phare wähnten hier außerdem einen Warte- saal, in dem man sie möglichst lange Neben der alten Frage der deutschen vom Zutritt zur EU zurückhalten woll- Einbindung und der inneren Stabilität te. Diese Ablehnung wurde auf der er- der EU stellte sich ab 1990 auch dieje- sten Konferenz der Konföderation in nige nach dem Platz der EU in der ge- Prag, am 14. Juni 1991, sehr deutlich. samteuropäischen Ordnung. Charles So scheiterte das Projekt in dieser Aus- de Gaulle hatte für den Fall der schon prägung zunächst an dem Widerstand von ihm vorausgesehenen gesamt- der Osteuropäer, der Amerikaner und europäischen Normalisierung eine der Deutschen, die ebenfalls große Be- Neuordnung in Aussicht genommen, denken hatten. Aus dem Rückblick die die USA weiter aus der Mitent- von 1998 mag das als eine vertane scheidung über die europäischen An- Chance erscheinen. Denn die Ost- gelegenheiten verdrängen und die europäer sind auch ohnedies im ’War- Rußland ins europäische Spiel hinein- tesaal’ geblieben, fangen so aber erst ziehen sollte. Die ersten Reaktionen spät an, einen Rahmen für gemeinsa- Mitterrands auf die Öffnung knüpften mes Arbeiten untereinander und mit hier an.12 der EU zu schaffen.

Da war zunächst das Konzept der so- Eine zweite Antwort waren die eben- genannten Europäischen Konfödera- falls früh vorgebrachten Initiativen zu tion, erstmals vorgetragen in den Neu- europäischer oder europäisch geführter jahrswünschen des Präsidenten vom Hilfe für die MOEL. Dazu gehörte die Dezember 1989. In dieser Konföde- europäische Bank für Osteuropa-Hilfe, ration sollten die mittel- und ost- EBWE. Auch hier sollten nach der europäischen Staaten einschließlich französischen Konzeption die Europäer der (seinerzeit noch existierenden) einschließlich der Sowjetunion unter Sowjetunion gemeinsam in ein locke- sich bleiben und eine eigene Lösung res Vertragsverhältnis zur EU gelangen, für die neuen Probleme finden. Die in dem die USA (im Gegensatz zur EBWE wurde zwar bereits im Mai 1990 KSZE) keinen Platz mehr haben würde. gegründet und leistet seitdem eine be- 98 Christian Deubner achtliche finanzielle Hilfestellung für 3.2 Zögern und Bremsen bei der den osteuropäischen Aufbau. Aber Öffnung der EU. Die Zurückhal- die von Frankreich gewollte gesamt- tung der ersten Europa-Verträge europäische Besonderheit hatten die europäischen Partner ebenfalls nicht Im Ergebnis liefen die französischen zugestehen wollen. Reaktionen erkennbar darauf hinaus, Alternativen für einen raschen EU-Bei- Bereits bei der Gründung waren neben tritt der MOEL zu bieten und damit der Sowjetunion nämlich auch Ameri- auch das deutsche Vorwärtsdrängen in kaner und Japaner Mitglieder, der Sitz dieser Richtung zu hemmen. Mitter- war in London und insgesamt hatten rands seinerzeitiger diplomatischer Be- angelsächsische Bankgrundsätze eine rater Védrine bezeugt, wie übertrieben tragende Rolle in ihr erlangt.14 Verges- der Präsident den deutschen Druck sen sollte man außerdem nicht, daß es fand. Mit Recht galten die Franzosen Mitterrand und Jacques Delors, der in Deutschland und in den MOEL Präsident der Europäischen Kommis- so als die wichtigsten Skeptiker und sion, gewesen waren, unter deren Bremser gegenüber einer raschen Ost- Schirmherrschaft in Brüssel das Hilfs- erweiterung der EU.17 Sie hatten damit programm PHARE ausgearbeitet wur- durchaus Erfolg in einer EG, die sich de, das schließlich von der OECD an- zunächst gegen Beitritte von MOEL genommen wurde und bis heute in sehr zurückhaltend gab. Die Deut- weiterentwickelter Form den größten schen wurden damit noch mehr als Teil der EU-Hilfe für die MOEL organi- schon zuvor in die Rolle der ’Anwälte’ siert.15 dieser Länder gerückt.

Eine dritte Antwort schließlich be- Die Zurückhaltung der meisten EG- stand in der Bestätigung gemeinsamer Länder spiegelte sich deutlich in Grundsätze für Friedens- und Verstän- der EG-Vertragspolitik gegenüber den digungspolitik unter den europäischen MOEL. Seit 1988 hatte man begonnen, Staaten einschließlich der MOEL. Sol- mit diesen Ländern Handels- und Ko- che Grundsätze existierten seit der operationsabkommen abzuschließen. Gründung der KSZE. Diese Politik setzte die EG noch bis 1991 fort, bevor sie ab November die- Frankreich, an der Stabilisierung des ses Jahres dann Assoziationsverträge europäischen Raumes interessiert, un- 'neuer Art' mit den MOEL aushandelte, terstützte das Interesse der Sowjetuni- die der neuen Lage Rechnung tragen on und Großbritanniens und anderer sollten. Noch die EG-Entwürfe für die- Mitgliedsländer, sie rasch der neuen se Abkommen vermieden eine aus- Lage anzupassen und vor allem die drückliche Erwähnung der Beitrittsper- darin enthaltenen Regeln über Unver- spektive für die MOEL oder gar die letzlichkeit der Grenzen und die Vor- Nennung eines Zeitpunkts, zu dem aussetzungen ihrer Abänderung zu dieser Beitritt vonstatten gehen konn- bestätigen. Das geschah auf dem te. Nur der massive Widerstand der KSZE Gipfel von Paris im November MOEL, vor allem Polens gegen diese 1990, in der sogenannten Charta von Behandlung sorgte 1991 dafür, daß we- Paris.16 nigstens die Perspektive des späteren Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 99

Beitritts in die Präambeln dieser Ver- Deutschlands zu fürchten hatte. In den träge aufgenommen wurde.18 MOEL dagegen, so dachte man, würde man gegenüber Deutschland auf jeden Fall im Hintertreffen bleiben und da- 3.3 Hilfe und Engagement bei der her von den eigenen Aufwendungen Transformation in den MOEL nur geringe politische Dividenden ern- ten. Das war sicherlich auch eine rich- Staat tige Annahme, zumal wenn man die Zurückhaltung auch der französischen Die Bereitschaft des französischen Staa- Wirtschaft in Rechnung stellt. tes zu finanziellen Hilfen an die Trans- formationsländer war und blieb ver- gleichsweise sehr beschränkt. Das galt Wirtschaft bilateral, aber auch für die über das PHARE-Programm an die MOEL gelei- Die französische Wirtschaft war in der teten Hilfen.19 Anfangszeit nur sehr wenig interes- siert, sich in den MOEL zu engagieren. Trotzdem waren gerade vor diesem Die Äußerungen von Bankern und Un- Hintergrund die schnellen französi- ternehmensverbands-Chefs aus den er- schen Initiativen zur Initiierung des sten Jahren nach dem Fall des Eisernen PHARE-Programms und zur Gründung Vorhangs spiegelten vor allem Vor- einer multilateralen staatlich finan- sicht.20 Im Vordergrund der Beurtei- zierten und kontrollierten Osteuropa- lung standen einerseits das hohe wirt- bank und Durchsetzung eines franzö- schaftliche Risiko von Investitionen sischen Präsidenten an ihrer Spitze und Krediten in diese Region im Um- kluge Schachzüge. Sie verwischten die bruch, andererseits die angesichts der Wahrnehmung der nationalen franzö- geringen Kaufkraft als wenig attraktiv sischen Zurückhaltung, ja kompensier- eingestuften Gewinnchancen. Niedrig- ten sie, indem sie erheblichen Einfluß preisige Reimport- oder Exportmög- auf die Vergabe auch nichtfranzö- lichkeiten in westeuropäische Länder sischer öffentlicher Finanzmittel in – in Deutschland rasch als große wirt- diese Region brachten und so indirekt schaftliche Chance betrachtet – be- auch die französische Statur in der Hil- deuteten vielen französischen Unter- fe gegenüber Osteuropa verbesserten. nehmen vorerst nur wenig, wurden allenfalls als zusätzlicher Vorteil für Beim Stichwort ’bilaterale französische deutsche und Nachteil für französische Hilfe’ dachten Frankreichs Regierung Anbieter gesehen. Ganz allgemein sah und Elite dagegen vor allem an den Sü- man die MOEL eher als künftige Kon- den, an die französisch orientierten kurrenten in den sensibelsten eigenen Länder in Afrika und anderswo auf der Produktionsbereichen an21: Befürchtet Welt. Hier war mit französischer Hilfe wurde vor allem eine „anormale und auch ein erkennbarer außenpolitischer deloyale“ Konkurrenz durch „Sozial- Statusgewinn für den eigenen Staat zu dumping“ und „Währungsdumping“, erlangen: das ’rayonnement’ Frank- aber auch durch eine laxe Reglemen- reichs in den südlichen Nachbarkon- tierung (z.B. im Umweltschutz). Viel tinent hinein, wo es keine Konkurrenz zitierte Folgen dieser Haltung waren 100 Christian Deubner französisch inspirierte Sperren gegen in absehbarer Zeit auch Teil der EG Rindfleisch- oder Frischobstimporte werden könnten, ist Frankreich aller- aus Mitteleuropa noch bis Anfang dings nur schwach vertreten, beson- 1993.22 ders stark dagegen in Rumänien und Bulgarien. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht herr- schte vielfach die Vorstellung, daß die Im Vergleich zu Afrika bewertet die afrikanischen Investitionen Frankreichs französische Außenwirtschaftspolitik die bedeutendere Rolle spielten und die Perspektiven in Mitteleuropa man sich hüten müsse, diese Trumpf- mittelfristig deutlich positiver, sie karte durch Teilnahme an einem Wett- gelten als eine Zone mit starkem Ent- lauf nach Osten zu gefährden. wicklungspotential. Dazu gehören einerseits ihr Nachfragerückstand, ihre Auf absolute Zahlen bezogen, waren wirtschaftliche Leistungskraft, Aus- diese Bewertungen zu Anfang der 90er bildungsniveau etc., aber auch ihre Jahre noch nachvollziehbar. Doch geographische Nähe, die „ihr Schicksal schon zu dieser Zeit sprachen die Ent- in unausweichlicher Weise mit dem- wicklungstrends eine andere Sprache: jenigen Westeuropas verbindet“.25 Mittel- und Osteuropa hatten bis dato Auch die Investitionen Frankreichs in am gesamten Außenhandel Frank- Afrika stagnierten und verringerten reichs einen sehr geringen Anteil. Die- sich in dieser Zeit bereits erkennbar, ser war von 1980 bis 1991 noch ein- während die größten französischen mal spürbar gefallen, von 3,9 auf 2,5% Unternehmen sich in andere Industrie- der Importe und 4,5 auf 2% der Im- länder und nunmehr zunehmend porte (noch weniger als bei Deutsch- auch nach Osteuropa wandten.26 Da land). Aber ab 1990 wurde diese Ent- hätte man eigentlich mit Gleichmut wicklung wieder positiv, und zwar mit zusehen können, wenn Unternehmen sehr hohen Steigerungen gegenüber anderer Länder weniger zurückhaltend Polen, CSFR und Bulgarien (+90/+73/ gegenüber den neuen Möglichkeiten +70% ), leichteren gegenüber Ungarn in Mittel- und Osteuropa gewesen wa- und Rumänien.23 Von der Öffnung des ren. Das war jedoch nicht der Fall: vor Ostens haben die französischen Expor- allem im Blick auf deutsche Unterneh- teure etwa ebensoviel profitiert wie men, auf Investoren und Kreditgeber, diejenigen der anderen OECD-Länder, kam es sehr rasch zu außerordentlich insgesamt durch eine Exportzunahme heftigen, von Mißtrauen und Eifer- von 12 und eine Importzunahme von sucht geprägten Reaktionen.27 Dabei 10%. Sein Handelsdefizit gegenüber spielte einerseits die Angst mit, die den Ostländern von 1989 hatte Frank- Deutschen würden die längerfristig reich in einen deutlichen Überschuß durchaus gesehenen wirtschaftlichen 1992 umwandeln können, so wie auch Chancen auf diese Weise für sich allein die übrige EU.24 Insgesamt stand es da- reservieren. mit aber doch an vierter Stelle der ost- europäischen Handelspartner. Andererseits suchte man in den MOEL Gleichgesinnte für die Kritik an der Auf den größeren und nachfragestär- ’wirtschaftlichen Dominanz’, an einem keren MOEL-Märkten im Norden, die ’neuen Kolonialismus’ der Deutschen. Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 101

Auch auf längere Sicht stellte sich her- die Präsenz der französischen Unter- aus, daß es zu keiner dauerhaften Po- nehmen in den MOEL zu entwickeln litik von Abwertungen zur Steigerung und durch eine offensive Unterstüt- der Wettbewerbsfähigkeit gekommen zung in den Bereichen Politik, Wirt- war und daß sich die MOEL bemühen, schaft und Kultur durch die französi- ihr Regelwerk rasch an die Normen der sche Regierung zu flankieren.28 EU anzupassen. Auf die scheinbare Ge- fahr eines „Sozialdumpings“ reagierte die französische Regierung mit einem 3.4 Ost- versus Südorientierung „Memorandum für ein europäisches der Europäischen Sozialmodell“, das auf dem Europäi- Stabilisierungspolitik schen Rat in Turin im März 1996 vor- gelegt wurde, und in dem sich ein Ka- Schon sehr bald hatte die französische pitel mit der „sozialen Dimension“ der Regierung erkannt, daß die EU-Politik Erweiterung befaßt. Auch hier war gegenüber den MOEL eine andere man aber inzwischen zu einer weniger Qualität haben würde als alles, was pessimistischen Einschätzung gekom- Paris etwa dem Mittelmeerraum und men. insbesondere den nordafrikanischen Ländern zugestehen wollte. Die 1997 war man sich insgesamt bewußt Nachbarschaft in Europa selbst und geworden, daß man die möglichen ne- insbesondere die Beitrittsperspektive gativen Folgen der Konkurrenz durch wurden auch von Frankreich als Legi- die MOEL für die französische Wirt- timation einer besonderen Anstren- schaft zuerst überschätzt und die mög- gung in mitteleuropäischer Richtung lichen wirtschaftlichen Chancen für anerkannt. Andererseits blieb es bei die französischen Unternehmen unter- seinen Forderungen nach einer gleich- schätzt hatte. Von einer wirklichen Ge- wertigen Berücksichtigung der Süd- fahr für die französische Wirtschaft flanke nicht allein. Italien und Spanien konnte keine Rede sein, zumal der An- hatten mit an diesem Strang gezogen teil der Importe aus den MOEL nur und auch die deutsche Bundesre- einen geringen Bruchteil der französi- gierung unterstützte die Vorstellung schen Importe ausmacht: in den ersten einer neuen großangelegten Initiative acht Monaten des Jahres 1996 gerade gegenüber dem Mittelmeerraum und einmal 1,67% der Gesamtimporte. insbesondere den nordafrikanischen Dies gilt auch im einzelnen für die als Ländern. besonders sensibel eingeschätzten Branchen (Textil-Bekleidung, Stahl, Schon der Europäische Rat in Essen Landwirtschaft), die in der EU zudem brachte einen wichtigen Erfolg dieser sowieso hoch protektioniert sind. Nun Linie, indem für die mittelmeerischen wurde auch der Charakter der MOEL Länder außerhalb der EU substantielle als vielversprechender Absatzmarkt er- Hilfs- und Öffnungsangebote zugesagt kannt und auf die Versäumnisse der wurden, die denen für die MOEL eben- zögerlichen französischen Unterneh- bürtig sein sollten, selbst wenn ihnen mer und das fehlende staatliche Enga- das Beitrittsangebot fehlen würde. Das gement in dieser Region hingewiesen. Ergebnis war die Initiative zur Kon- Im Hinblick auf ihr großes Potential sei ferenz von Barcelona und in ihrem Ge- 102 Christian Deubner folge der Einstieg in ein großangelegtes ● 1998, Dezember: Europäischer Rat Projekt der regional verknüpften Hilfe in Wien beurteilt die Fortschritte zur Entwicklung von Volkswirtschaf- der Kandidaten. ten und Gesellschaften in diesem ● 2002 bzw. 2005/6: Beitritt der ersten Raum, zusammen mit der Perspektive MOE-Kandidaten, in der optimisti- eines ausgeweiteten Freihandels mit schen frühen und der inzwischen der Europäischen Union. 29 als realistischer angesehenen späte- ren Terminvariante.

3.5 Die wichtigsten Stationen der Osterweiterungspolitik der EU 4. Frankreichs heutige 1990 – 1998 Mitwirkung bei der Osterweiterung der EU ● 1993, Juni: Europäischer Rat von Kopenhagen, prinzipielle Bereit- 4.1 Die Überwindung der schaftserklärung der EU für einen Ablehnungshaltung Beitritt der (zu diesem Zeitpunkt sechs) assoziierten MOEL, nach lan- In Frankreich selbst war die zuvor gem Drängen dieser letzteren, aber geschilderte ostpolitische Linie Mitter- auch bestimmter Mitgliedstaaten rands seit der Wiedervereinigung wie Deutschland, und nachdem immer wieder kritisiert worden: Sie frühere Gipfel sich auf eine Vertie- verweigere sich zugunsten einer Status- fung der Assoziation im Blick auf Quo Bewahrung ängstlich den unaus- die „Möglichkeit“ späterer Beitritte weichlichen Herausforderungen einer beschränkt hatten.30 Öffnung Westeuropas für die mit- ● 1994, 9./10.12: Europäischer Rat telosteuropäischen Staaten und über- von Essen, Beschluß einer Vor-Bei- lasse so jenen gegenüber Deutschland tritts Strategie der EU für die MOEL. das Feld. Ihren Höhepunkt erreichte ● 1996, Juni Europäischer Rat von diese Kritik nach dem mißglückten Florenz, bestätigt Zeitplan der Ost- Putsch gegen Gorbatschow im August erweiterung. 1991.31 Erst danach setzte ein Umsteu- ● 1997, Dezember: Europäischer Rat ern ein. Seine sichtbarsten Wirkungen von Luxemburg, legt Erweiterungs- entfaltete dies, nachdem die Soziali- strategie endgültig fest, mit Modus sten die Parlamentswahl des März der ’Pre-Adhesion’. 1993 verloren hatten und unter dem ● 1998, 31.3.: EU eröffnet offiziell die neuen Premierminister Edouard Balla- Verhandlungen mit fünf der zehn dur und seinem Außenminister Alain Kandidaten aus MOEL und Süden Juppé, beide aus dem RPR, eine bür- (Estland, Polen, Tschechien, Un- gerliche Regierung ihre Arbeit begon- garn, Slowenien, Zypern). nen hatte. ● 1998, 09.11.: konkrete Gespräche mit jedem der sechs Kandidaten auf Damit wurden auch Forderungen nach Ministerebene sollen beginnen zu einer schnelleren Öffnung der EG und den Themen, die das Screening be- Frankreichs nach Osten, die im RPR reits durchlaufen haben (FuE, Indu- bereits im Wahlkampf erhoben wor- striepolitik, Bildung). den waren, eingelöst. Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 103

Möglicherweise verbanden diese For- samen bilateralen Initiativen der bei- derungen sich in einem weiterhin den Länder in bzw. gegenüber Mittel- mehrheitlich euroskeptischen RPR Osteuropa. Das bestätigte im nachhin- auch mit der Erwartung, eine erweiter- ein eine Rede des seinerzeitigen te EU werde so in ihrer Vertiefungs- französischen Außenministers de dynamik gebremst werden. Offizielle Charette auf einer Konferenz in Berlin Hinweise in dieser Richtung gab es im Oktober 1996. Dort betonte er, allerdings nicht. Jedenfalls erklärte der „Deutschland habe viel umfangreiche- neue Außenminister Juppé auf einer re Beziehungen nach Osten hin ge- französisch-russischen Veranstaltung knüpft als sein Land. Damit sich das ein Jahr später, „wir sind entschlossen, in Zukunft ändere, müsse jetzt vor diese Staaten in die Familie der allem die Zusammenarbeit zwischen Europäischen Union zu integrieren. Deutschland und Frankreich noch en- Wir gestehen niemandem (dies in ger werden, als sie es ohnehin schon deutlicher Wendung gegen Rußlands sei.“34 Und auch die deutsche Außen- Strategien im ’nahen Ausland’) das politik läßt inzwischen sehr gerne Recht zu, diese Entwicklung zu behin- anklingen, wie sehr die Osterweite- dern“.32 Und der Europa-Ausschuß rungsstrategie der Bundesrepublik mit der Nationalversammlung betonte im Frankreich abgestimmt sei.35 Herbst 1997, daß er die Osterweiterung „aufs tiefste wünscht, als einen weite- ● Weimarer ’Dreieck’ ren Schritt zur kollektiven Sicherheit, Dieses Dreieck war der deutschen zu Frieden und Einheit des europäi- Seite unerwünscht bereits aktiviert schen Kontinents“.33 worden, als Paris 1990 in den 2 + 4- Gesprächen von der Bundesrepublik im Namen des ganzen sich vereini- Das ostpolitische Nachziehen genden Deutschlands den offiziel- und der französisch-deutsche len Verzicht auf die unter polni- Bilateralismus scher Verwaltung stehenden Gebiete verlangte und zu diesem Zweck eine Auch auf EU-Ebene hatte das franzö- sehr erfolgreiche französisch-polni- sische Zögern immer weniger Unter- sche Allianz bildete, während die stützung gefunden. Auf dem Kopen- Bundesregierung ihrerseits ohne Er- hagener Gipfel von 1993 kam es folg versuchte, diesen Verzicht erst schließlich zu der grundsätzlichen auf einen Zeitpunkt nach Vollzug Befürwortung einer Osterweiterung der Vereinigung hinauszuschieben. durch die EU, die zunehmend auch Seit 1991 hatte der seinerzeitige von der französischen Politik mitgetra- Außenminister Hans-Dietrich Gen- gen wurde. scher mit seiner Initiative trilateraler Zusammenarbeit diese für Deutsch- Für denjenigen, der das deutsch-fran- land negative Erfahrung positiv ge- zösische Verhältnis als eine zentrale wendet. Sie bringt inzwischen in ge- Determinante der französischen Euro- wissen Abständen Außenminister, pa- und auch Osteuropapolitik be- Präsidenten, Verteidigungsminister trachtet, ist es bezeichnend, daß diese und Parlamentsausschüsse zu Ge- Annäherung parallel lief zu bedeut- sprächen zusammen. Diese trilate- 104 Christian Deubner

rale Zusammenarbeit soll nach den men Initiativen zusammengefun- neuesten Beschlüssen auch inner- den. Hier soll nicht gefragt werden, halb einer erweiterten EU weiter be- wie dieses Zusammenrücken ge- stehen. Sie sichert damit Frankreich nau zustande kam. Es mag sein, daß auch von vornherein einen Platz an die gemeinsame Mitarbeit in der der Seite Deutschlands, wenn dieses Kontaktgruppe und in der Friedens- seinen neugewonnenen ’Spielraum truppe Sfor (deutsch-französische im Osten’ wahrnimmt und könnte Brigade) die beiden Regierungen seine diesbezüglichen Sorgen ver- motiviert hat, sich zusammenzutun. ringern. Diese Rolle an der Seite Jedenfalls ist auch hier, in einem Be- Deutschlands wird inzwischen von reich wo noch vor fünf Jahren deut- Polen bewußt eingefordert, wenn es liche Spannungen zu verzeichnen darum geht, den nach der Verhand- waren, ein Zusammenrücken der lungsaufnahme von März 1998 beiden Regierungen auszumachen, mühsamer gewordenen Prozeß der das sich nicht nur in Sfor sondern Bestandsaufnahme und Beitrittsver- auch in gemeinsamen Reisen der handlungen zu beschleunigen und beiden Außenminister nach Bos- erfolgreich zu Ende zu bringen.36 nien, Serbien und Kroation nieder- schlägt bzw. niederschlagen soll. ● Französisch-Russisch-Deutsche Trojka In dieselbe Richtung denkt man un- ● Breitere ostpolitische Abstimmung willkürlich bei der französisch-rus- Seit 1994 spätestens kooperierte sisch-deutschen ’Trojka’, in der sich Frankreich auch mit der Bundesre- Anfang 1998 ein erstes Mal Chirac publik und der EU-Kommission bei und Kohl mit Jelzin in Jekaterinburg der Entwicklung einer Vor-Beitritts- trafen. Nach deutschen Berichten strategie für die Kandidatenländer.37 war Jelzin der Initiator, der ein stär- Auch auf einer tiefer und breiter an- keres europäisches Gegengewicht gelegten Ebene suchten die beiden gegen die USA in der Sicherheitspo- Regierungen nun den Schulter- litik anstrebte. Aus französischer schluß gegenüber Mittel- und Ost- Quelle konnte man auch lesen, Chi- europa, indem sie unter dem Vorsitz rac sei von Jelzin wegen engerer der beiden Außenminister zwei französisch-russischer Gipfeltreffen gemeinsame Konferenzen ihrer Bot- angesprochen worden und habe an- schafter in dieser Region durchführ- geregt, die deutsche Seite gleich mit ten: deren erste noch im Kontext hinzuzuziehen. Wie dem auch sei, des ’Dreiecks’ 1991 in Weimar, und jedenfalls ist auch hier im Effekt deren zweite nach einer Pause 1994 Frankreich an deutsche ostpoliti- in Paris stattfand.38 sche Aktivitäten herangeführt wor- den (und vice versa). ● Die Schwäche der isolierten französischer Position in der ● Bilaterale außenpolitische Osterweiterungsfrage Initiativen in Südosteuropa Frankreich war mit seinem Zögern in Schließlich haben sich beide Regie- der Osterweiterungsfrage zwischen rungen in bezug auf die postjugos- 1990 und 1993 zunehmend in die lawische Dauerkrise zu gemeinsa- Isolation geraten. Es hatte nicht ein- Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 105

mal – wie wir zuvor schon sahen – die französische Motivlage im bezug wesentliche andere Bedingungen für auf die deutsche Rolle in MOE verbes- eine solche Öffnung der EU durch- sert hat, so hat dieses Einschwenken setzen können, bevor die Beitritts- Frankreich auch erst wieder die Mög- Verhandlungen mit den MOEL kon- lichkeit gegeben, bei dieser Politik kret aufgenommen wurden. Das be- mitzuspielen und glaubwürdiger die traf zuletzt in Amsterdam wieder die eigenen Forderungen nach weitgehen- institutionelle Reform der EU. den innergemeinschaftlichen Refor- men vorzubrigen, die seines Erachtens Gegenüber den mittel-osteuropäischen für eine erfolgreiche Osterweiterung Ländern hatte Frankreich es in den unabdingbar waren. Es muß sich letzten Jahren schwer, den durch seine erst noch erweisen, wieweit Frank- Reserven zuvor verlorenen ostpoli- reichs Einfluß auf den Gang der Din- tischen Boden gutzumachen, auch ge durch die Aufgabe der Ablehnungs- wenn Präsident Chirac persönlich das haltung sich grundsätzlich verbessert um die Jahreswende 1997/98 bei einer hat. Serie von Staatsbesuchen in Ungarn, Tschechien, Polen und auch in Rumä- Einzelne MOEL-Regierungen scheinen nien versuchte. Dabei betonte er die jedenfalls inzwischen gewillt, im Vor- volle Unterstützung durch Paris für lauf zu den Beitrittsverhandlungen einen EU-Beitritt, der für die drei erst- und der Mitgliedschaft auch die Stärke genannten Länder seiner Meinung der französischen Karte ernsthaft zu nach schon im Jahr 2000 stattfinden prüfen. So reiste der neugewählte un- sollte. Auch dabei vergaß er nicht, die garische Ministerpräsident Viktor Or- Übereinstimmung mit Deutschland ban als erstes nach Paris und betonte hervorzuheben, in der sich Frankreich später, er habe damit ein Signal für die jetzt bezüglich dieser Politik befinde.39 Beendigung der einseitigen Bindung Erkennbar suchte er auch schon Koa- an Deutschland geben wollen.40 Man litionsmöglichkeiten anzudeuten, die erkennt zwei unterschiedliche Be- sich mit dem besuchten Land europa- ziehungsmuster, die die französischen politisch ergeben könnten, so zum Beziehungen zu Deutschland in die- Beispiel in Ungarn mit Blick auf die sem Feld beeinflussen: Erhaltung der Gemeinschaftlichen Landwirtschaftspolitik. Problematisch ● einerseits die Rolle eines vollen und ist als Ergebnis trotzdem, daß Frank- gleichberechtigten Partners und reich jetzt den übrigen Ambivalenzen ● andererseits diejenige des Konkur- der Osterweiterung die seine hinzu- renten. fügt, indem es seinerseits auch noch aufs Tempo drückt und einen sehr bal- Diese Ambivalenz zeigt sich bei einem digen Beitritt in Aussicht stellt, obwohl Blick auf die wirtschaftlichen Fragen einiges dagegen spricht, daß es bei den noch deutlicher. Sie dürfte das französi- Verhandlungen tatsächlich diese Linie sche Verhältnis zu Deutschland (und vice unterstützen wird. versa) in der Osterweiterung auch wei- terhin prägen, so wie sie dies Verhältnis Wenn das Heranrücken an die deut- in der europäischen Integrationspolitik sche Ost- und Osterweiterungspolitik insgesamt seit Jahrzehnten prägt. 106 Christian Deubner

Französische Initiative zur Trotz allem war Frankreich hier wohl europäischen Sicherheitsstruktur nur auf einem zweitrangigen Schau- platz erfolgreich. Ein bleibender Stabi- Die neue französische Regierung unter lisierungserfolg ist von diesen Maß- Eduard Balladur knüpfte allerdings nahmen allein nicht zu erwarten. Ihre auch an den gesamteuropäischen Durchführung wurde der OSZE anver- Strukturkonzepten des Präsidenten an traut, und diese hat keine Mittel zur und suchte diese französische Idee we- Durchsetzung gegenüber ihren Mit- nigstens im Bereich der Stabilisierung gliedstaaten. EU und NATO werden die von Grenzen und Minderheitsfragen wirklichen Garanten sein müssen; ihre in Mittel- und Osteuropa zu verwirkli- Erweiterungen bleiben zentrales Anlie- chen. Im Mai 1993 trug sie sie ihren gen und Mittel westeuropäischer Sta- EU-Partnern vor, im Dezember des- bilisierungspolitik für Gesamteuropa. selben Jahres wurde die Initiative zu einer ’Gemeinsamen Aktion’ im Rah- men der neuen EU-GASP, im Mai des Verbleibende Zurückhaltung Folgejahres fand in Paris die Konferenz über die Stabilität statt und schließlich Trotz erfolgreicher Annäherung an die im März 1995, kurz vor dem Ende der deutsche Linie haben aber auch 1998 zweiten Mitterrandschen Präsident- die französische Regierung und Be- schaft, die Schlußkonferenz des Pakts völkerung ihre Reserven gegenüber der am selben Ort.41 raschen Erweiterung der EU nach Osten noch nicht ganz aufgegeben. So Nachdem sich in Jugoslawien die sieht auch Mitte 1998 die Zeitung Le Grenzen eines direkten Eingreifens der Monde42 Frankreich noch auf der Seite GASP gezeigt hatten, war dies ein Weg derjenigen, die wie etwa Spanien die zu demonstrieren, daß auch in der Osterweiterung eher noch etwas ver- weniger anspruchsvollen Teilnahme zögern wollen, weil sie die enormen der EU an einem intergouvernemen- Kosten für die EU und damit Einbußen talen System regionaler Prävention ein bzw. neue Belastungen für das eigene bedeutsamer Effekt zu erreichen war. Land fürchten. Und man konnte auch zeigen, daß Ordnungsbau in Mittel-und Osteuropa nicht nur durch den Beitritt zur EU, Die öffentliche Meinung sondern auch durch eine Mischung von Einwirkung, von mehr regionaler Die öffentliche Meinung zeigte und Kooperation, und von Zuordnung zur zeigt eine deutlichere Zurückhaltung EU möglich war, wie sie der „Stabi- gegenüber der Osterweiterungsperspek- litätspakt für Europa“ brachte. In der tive als das in Deutschland der Fall ist. Folgezeit wurden die Forderungen der Pariser Konferenz in bilateralen Ab- Die Haltung der Franzosen ähnelt der machungen in Mittel- und Osteuropa, der Deutschen in viererlei Weise: untermauert und konkretisiert. Für die französische Politik galt die Mitwir- ● Es gibt je nach Kandidatenland kung daran auch als Voraussetzung für eine abnehmende Bereitschaft zur jede spätere Mitgliedschaft in der EU. Erweiterung gegenüber Ungarn, Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 107

FÜR oder GEGEN die Osterweiterung um folgendes Land Rechnen mit dem Beitritt UNG CR POL SLO im Jahr 2010 FDFDFDFDFD Frühjahr 95 47 + 58 +- 42 + 47 + 47 + 43 + 35 + 36 + 56 + 54 + 37 - 23 - 40 - 31 - 38 - 35 - 45 - 39 - 27 - 24 - Frühjahr 96 36 + 56 + 29 + 43 + 42 + 37 + 19 + 27 + 48 - 30 - 54 - 41 - 44 - 48 - 61 - 52 - Frühjahr 97 40 + 53 + 36 + 39 + 46 + 30 + 26 + 26 + 41 - 28 - 45 - 38 - 38 - 52 - 53 - 48 - Zahlen aus den jeweiligen Umfragen von Eurobarometer, 1995 „Für(+) oder gegen(-) Beitritt, in naher Zukunft“ 1996 und 1997 „Für(+) oder gegen(-) Beitritt, in Zukunft“43

über Tschechien, bis hin zu Slowe- ● Die große und höchst bemerkens- nien. werte Ausnahme davon betrifft Po- ● Diese Bereitschaft ist für beide Län- len: Hierzu gibt es eine vergleichs- der durchgängig deutlich niedriger weise stabile Mehrheit französischer als für die Gesamtbevölkerung der Befürworter, die der Lage in der EU- EU mit der Ausnahme der deut- Gesamtbevölkerung gleicht, ver- schen Haltung gegenüber Ungarn, glichen mit einer zunehmenden die noch geringfügig positiver als je- Ablehnung durch die Deutschen. ne ist. ● Andererseits allerdings ist der Trend ● Diese Bereitschaft geht außerdem zur Ablehnung des Beitritts von über die vergangenen Jahre in spür- 1995 – 1997 nicht eindeutig: Wäh- barer Weise zurück. rend die Ablehnung 1996 einen ● Schließlich rechneten beide Völker Sprung nach oben machte, fiel sie 1995 trotzdem sehr deutlich mehr- bis 1997 wieder zugunsten besserer heitlich damit, daß die MOEL im – wenn auch weiterhin minderheit- Jahre 2010 auf jeden Fall zur EU licher – Befürwortungswerte. gehören würden. Hier machte sich eine ähnliche resignative Haltung Damit scheint in Frankreich die öf- deutlich wie sie auch vor der end- fentliche Meinung zur Osterweiterung gültigen Entscheidung für die ge- der EU deutlich stärker durch poli- meinsame Währung galt. tische Meinungskonjunkturen beein- flußbar. Im Sinne dieser Untersuchung Es gibt trotz dieser Ähnlichkeit in der fragt sich, ob sich künftig nun der Auf- Haltung der Franzosen aber auch spe- wärts- oder der Abwärtstrend der Ab- zifische Abweichungen von derjenigen lehnung fortsetzen wird. Und im Ge- der Deutschen. Das ist es was uns be- folge ist auch zu sehen, ob die offizielle sonders interessiert: französische Haltung sich von diesen Meinungstrends frei halten kann, und ● Einerseits ist ihre Unterstützung für wie sich die Auswirkungen insbeson- einen Beitritt von MOEL fast durch- dere gegenüber der deutschen Linie gängig geringer als diejenige der in der Osterweiterung darstellen wer- Deutschen. den. 108 Christian Deubner

In Deutschland stellt man dagegen für vember 1997 erlaubt einen schnellen fast alle MOEL-Kandidaten einen stabi- Überblick über die aktuellste franzö- len Trend geringer werdender Un- sische Diskussion zur Osterweiterung terstützung für den EU-Beitritt fest. der EU.45 Hatten 1995 noch die befürwortenden Stimmen die ablehnenden für Ungarn, Wiederum spiegeln sich in einem Tschechien und Polen sehr deutlich prinzipiellen Differenzpunkt wohl- übertroffen, während für Slowenien die bekannte andere französische Anlie- Ablehnung nur sehr knapp überwog, gen. So neigt Paris dazu, die unter- so überwiegen im Jahr 1997 die ableh- schiedlichen Themen der Agenda 2000 nenden Stimmen ebenso deutlich die (finanzielle Aspekte, Landwirtschaft, befürwortenden bei Polen und Slowe- Strukturfonds, Osterweiterung) in den nien, bei Tschechien ist die befürwor- Verhandlungen miteinander zu ver- tende Mehrheit nur noch hauchdünn binden, ein plausibler Weg, um den und nur bei Ungarn verbleibt diese fortdauernden Reserven Ausdruck zu Mehrheit deutlich und solide. verleihen. In Deutschland dagegen fürchtet man, was man in Paris mög- Es bleibt also in Frankreich – wie übri- licherweise ein Stück weit hofft: daß gens auch in Deutschland – eine in- nämlich dadurch die Diskussionen tensive Überzeugungsarbeit gegenüber im kommenden Jahr und damit auch Interessengruppen und Bevölkerung zu das Tempo der Osterweiterung ver- leisten, um für die nunmehr mitgetra- langsamt werden. Französische Diplo- gene Osterweiterungspolitik den wün- maten machen allerdings den dieser schenswerten breiten Konsens zu er- Befürchtung widersprechenden Punkt reichen. Ohne diesen bleibt die Linie geltend, daß die Trennung der unter- der Regierung an dieser Flanke innen- schiedlichen Inhalte der Agenda 2000 politisch gefährdet und damit kann in den Gemeinschaftsverhandlungen auch die französische Verhandlungs- die bewährte Lösungsstrategie des „Pa- linie für Brüssel noch keine volle Sta- keteschnürens“ erschwere. bilität gewinnen.

Welche MOEL in welcher 4.2 Die Sachfragen in der Reihenfolge? Agenda 2000 der Kommission Nach der Aufgabe seiner grundsätzli- chen Zurückhaltung wollte Frankreich Agenda 2000 ab 1993 eine Zeitlang auch Rumänien und Bulgarien in die Gruppe derjeni- Die wichtigsten der bei der Osterweite- gen MOEL einschließen, die die ersten rung anstehenden Sachfragen sind Beitrittschancen erhalten sollten. Das in der Agenda 2000 zusammengefaßt, wurde in Deutschland und anderswo die die Europäische Kommission den als ein Versuch gewertet, französische Mitgliedstaaten im Jahr 1997 vorgelegt Klientenländer in dieser Region zu be- hat.44 Ein Bericht des EU-Ausschusses günstigen, ohne daß zunächst genau der Nationalversammlung zu den dort verstanden wurde, ob dahinter die ern- enthaltenen Vorschlägen vom No- ste Absicht stand, die EU wirklich mit Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 109 der raschen Aufnahme zweier in der Frankreich hatte zunächst ein Forum Transformation und Entwicklung noch gewollt, um neben den Beitrittsver- weit zurückliegender MOEL zu bela- handlungen mit den sechs für die erste sten. Der französische Staatspräsident Verhandlungswelle von der EU akzep- gebrauchte bei seinem Staatsbesuch tierten Kandidatenländern (wobei es am 21.2.1997 in Rumänien nur noch auch hier Differenzen über gruppierte die „unverbindliche Formel, alle Kan- oder individuelle Verhandlungen gab) didaten müßten von der EU gleich be- alle Beitrittswilligen einschließlich der handelt werden, Frankreich wünsche, Türkei im gemeinsamen Gespräch mit daß Rumänien möglichst bald beitre- den EU-Staaten halten zu können, oh- ten könne, und wolle innerhalb der ne etwa schon Beitrittsverhandlungen Union gern der Anwalt der Rumänen zu führen.48 Bonn dagegen wollte zu- sein“.46 (Weiterhin dürfte es allerdings sammen mit den skandinavischen versuchen, die Kosten seiner besonde- Staaten ein großes Forum nur für die ren Beziehung zu den beiden genann- elf akzeptierten Kandidatenländer, in ten Ländern auf die breiteren Schul- dem alle von ihnen in regelmäßigen tern der EU abzuwälzen, siehe dazu im Treffen Tuchfühlung mit den Ver- folgenden.) handlungen der sechs würden halten können, obwohl es so etwas eigentlich Vielmehr befürwortet es in der neue- mit dem ’strukturierten Dialog’ bereits sten Entwicklung zusammen mit gab. Nur daneben, und in einer ge- Deutschland und einer Mehrheit der wissen Abwertung der französischen MS eine Aufteilung der mittelost- so- Idee, wollte Bonn dann noch die Stän- wie südeuropäischen Kandidaten in dige Konferenz akzeptieren. In Luxem- eine Gruppe von sechs am weitesten in burg wurden zunächst beide Konzepte der Anpassung fortgeschrittene, die in- akzeptiert. zwischen zur Verhandlungsaufnahme zugelassen wurden, und fünf weitere, Die Kommission (ebenso wie sicher- die noch darauf warten müssen. Die lich auch andere Teilnehmer des Pro- noch nicht Zugelassenen treten jedoch zesses) hofft, daß das Forum der 15 gemeinsam mit EU-MS und den ersten plus 11 möglichst wenig tagt.49 Daß verhandelnden Kandidaten in die ge- das deutsche Konzept für die Türkei meinsame ständige Europakonferenz Anlaß zu wütenden Protesten und ein, eine französische Idee mit Elemen- zum Boykott der Ständigen Konferenz ten aus dem alten Konföderations- war, ist hinlänglich bekannt. Modell, die alle Kandidaten in enger Bindung an die EU und einem ge- Der Ausschuß der französischen Na- meinsamen Gespräch über die gemein- tionalversammlung sah ähnlich wie sam interessierenden Fragen halten Deutschland auch den Ansatz der soll. Über die Rolle dieser Europa-Kon- Kommission, vor allem die Auswahl ferenz im Erweiterungsprozeß gab es der sechs Länder, denen der Beitritt in bis zum Luxemburger Gipfel von Aussicht gestellt wurde (5+1), im Dezember 1997 einen Dissens in der großen und ganzen als vernünftig an. EU, in dem Frankreich auf der einen, Auch die von der Kommission konzi- Deutschland auf der anderen Seite pierte „Partnerschaft für den Beitritt“ stand.47 findet bei Frankreich wie Deutschland 110 Christian Deubner

Zustimmung, unter der Bedingung die EU gegenüber den MOEL irgend- – beiderseitig ausgesprochen – daß die wie Regeln finden müsse, die jene Mitgliedstaaten den Prozeß aus der daran hindern, als Mitglieder allzu un- Nähe beeinflussen können. gebremst ihre komparativen Vorteile gegenüber Westeuropa auszuspielen, immer noch fürchtet man das Sozial- Übergangsfristen oder das Umwelt-Dumping.

Frankreich lehnt wie Deutschland parti- elle Beitritte ab, entsprechend sollen die Landwirtschaftspolitik neuen Mitglieder den gesamten Bestand an EU-Regeln übernehmen, darin ein- Im Ausschuß will man ganz allgemein geschlossen die WWU und Schengen. verhindern, daß die gemeinsamen Po- litiken der EU, und dazu gehört die Ge- Auf das französische Modell der ’kon- meinsame Agrarpolitk, im Zuge der zentrischen Kreise’ (vgl. hierzu S. 113) Osterweiterung reduziert werden, denn bezogen, sollen also alle Kandidaten je- gerade dann seien sie nötiger dennje denfalls im ’mittleren’ Kreis der vollen zuvor. Acquis-Teilhabe einziehen. In dieser Haltung werden die beiden Regierun- Die Landwirtschaftspolitik mit ihren gen durch die Tatsache bestärkt, daß Leistungen und Vorteilen für Frank- die noch bei der Süderweiterung prak- reich sollte möglichst erhalten werden. tizierten Übergangsperioden in einzel- nen Sektoren in einem voll entwickel- Der Ausschuß sah allerdings deutlich ten Binnenmarkt wie die EU ihn seit das damit verbundene finanzielle Pro- Mitte der 90er Jahre besitzt, fast un- blem. In dieser Haltung steht der Aus- möglich geworden sind. schuß auch der Politik des deutschen Landwirtschaftsministers und des Bau- Nur z.B. in der Landwirtschaft und der ernverbandes nahe. Freizügigkeit gibt es noch Möglichkei- ten dafür. Das sah auch der Ausschuß der Nationalversammlung deutlich. Finanzierung und Transfer- leistungen allgemein Frankreich könnte hier gleichwohl noch längere Fristen fordern als die Der Ausschuß suchte nach Wegen, das deutsche Seite, für die bisher die Fri- deutsche Verlangen nach Verringe- sten, die einstmals Spanien (6 – 10 Jah- rung seiner Nettozahlerposition, etwa re) zugebilligt wurden, als ein mögli- durch Ausweitung der Beitragsbegren- ches Maximum erscheinen. Auch beim zung nach dem britischen Modell, zu Zugang zur EU kann man sich für vie- blockieren. le MOEL in Paris wohl weiterhin län- gere Wartezeiten vorstellen als – bisher Vor allem wollte er dafür von rein noch – in Deutschland. haushälterischen Maßstäben abgehen und auch die wirtschaftlichen Ge- Alte Sorgen blieben deutlich erkennbar winne aus der Teilnahme am Gemein- in dem Anliegen des Ausschusses, daß schaftsmarkt in Anschlag bringen. Auf Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 111 die Osterweiterung bezogen, könne Dilemma, daß von den Befürwortern man zum Beispiel feststellen, daß der Osterweiterung, vor allem von Deutschland den höchsten wirtschaft- Deutschland, ein rascher Beitritt dieser lichen Vorteil daraus ziehen werde, oh- Länder gefordert werde, daß gerade ne die Mehrkosten für die EU schul- Deutschland allerdings keine Mehr- tern zu wollen. Daher verlangte er von kosten dafür übernehmen, sondern der Kommission eine Abschätzung tendenziell seinen Nettobeitrag senken der wirtschaftlichen Vorteile von EU- wolle, das ganze bei Begrenzung der Integration und Osterweiterung im be- EU-Budgetobergrenze auf 1,27% des sonderen. gemeinschaftlichen BSP. Der Ausschuß war in Sorge, daß Frankreich unter diesen Umständen einerseits höhere Finanzierung und Transfer- Beiträge leisten müsse als früher und leistungen in der Osterweiterung andererseits gleichwohl niedrigere Lei- stungen aus der Gemeinschaftskasse Frankreich hatte noch 1997 im Vorlauf erhielte. Um dies zu verhindern und zum Luxemburger Gipfel darauf be- diejenigen, die die schnelle Erweite- standen, wenigstens in großen Zügen rung um mehrere Kandidaten zugleich Einigkeit über die finanziellen Mittel forderten, in die Verantwortung zu zu erreichen, die der EU während des nehmen, forderte der Ausschuß, daß Erweiterungsprozesses zur Verfügung der Rat eine klare Entscheidung über stehen würden, ebenso wie über die die Erweiterungsstrategie zu fällen ha- Prinzipien der Verteilung dieser Mittel be: entweder wolle man eine schnelle zwischen weiterlaufender EU und den und gruppierte Erweiterung, dann ko- Ausgaben für die Erweiterung. Auch ste das sehr viel Geld, das entweder minimale Garantien für die Erhaltung denen unter den Fünfzehn genommen von Agrarpolitik und Strukturfonds werden müsse, die jetzt noch hohe wurden gefordert. Die Regierung woll- Transfers erhalten oder eben doch te in die kommenden Erweiterungs- weiter erhöhte Nettoleistungen be- verhandlungen gerade nicht ohne sol- stimmter Länder erfordere. Oder man che Leitlinien gehen. „Man kann nicht strebe nach einer langsamen Erweite- im Nebel vorangehen und auch nicht rung Kandidatenland um Kandidaten- seriös über die Erweiterung sprechen, land, je nach Erfüllung der Kriterien, ohne ihre Kosten abzuschätzen“, wie und solle das ebenfalls deutlich sagen. Außenminister Védrine vor der Luxem- Dann würde der Erweiterungsprozeß burger Tagung sagte. Deutsche und wesentlich billiger werden, die gegen- Niederländer widersetzten sich einer wärtig Begünstigten würden ihre Vor- solchen Vorbedingung, weil sie jede teile großenteils behalten, und gleich- weitere Verzögerung der Erweiterung zeitig könnte man die Beitragsgrenze vermeiden wollten und weil sie nicht aufrechterhalten. ein Finanzierungssystem der EU be- stätigen wollten, dessen Reform zu Zusätzlich wollte der Ausschuß dafür ihren Gunsten sie anstrebten.50 gesorgt wissen, daß nicht durch einen Beitritt die am besten entwickelten Der Europaausschuß der National- MOEL in ein gut dotiertes Transfer- versammlung sah als grundlegendes system der EU hineingelangten, wäh- 112 Christian Deubner rend die wegen ihrer Entwicklungsrück- schon im Ausschuß der Nationalver- stände noch nicht Zugelassenen mit ge- sammlung wird auch im PS die Forde- ringeren Hilfsleistungen zufrieden sein rung nach sozialen Mindeststandards müßten und dadurch in der Über- im größeren Europa erhoben, um dies windung dieser Rückstände weiter ge- zu verhindern. bremst würden. Beide Kategorien müß- ten in gleicher Weise versorgt werden. Das klingt plausibel, läuft aber der an- 5. Eine Vision für die erweiterte derweitig auch von Frankreich geforder- Europäische Union, Ver- ten Vorrangigkeit der EU-internen Soli- tiefung und Erweiterung darität zuwider. Die Sorge um die Klienten Rumänien und Bulgarien wird Mit der Zustimmung zur Osterweite- deutlich sichtbar. rung ist nach allem Anschein auch das französische Interesse an einer Debatte In diesen wichtigen finanziellen Fra- über die Finalität der Union wieder er- gen hat Luxemburg nichts Grundsätz- wacht, das nach der Krise des ’leeren liches entschieden. Diese Fragen blei- Stuhls’ für Jahrzehnte eingeschlafen ben zur Erledigung in der deutschen schien. Das wurde während der fran- Präsidentschaft. Sie rücken damit im- zösischen Präsidentschaft deutlich, als mer weiter in die Parallelität zu den Außenminister Juppé die Staats- und eigentlichen Beitrittsverhandlungen Regierungschefs zu einer gemeinsamen und werden durch diese in einen Zug- Reflexion über die „definitive Land- zwang geraten, von dem man noch se- schaft des vereinigten Europa“ bewe- hen muß, in welcher Richtung er sich gen wollte.51 Bis hin zum Brief von auswirkt. Staatspräsident Chirac und Bundes- kanzler Kohl an den Gipfel von Cardiff ist dieses Anliegen spürbar, in der so- Das Wohlfahrtsstaats-Modell zialistischen Partei war es bereits früher und die Sozialisten wach geworden.52 Dahinter wird ein stärkerer Wille zur definitiven Form- Die Erweiterung der EU nach Osten gebung für die EU sichtbar und das er- bringt starke Motive für eine Stabili- scheint den französischen Interessen sierung oder gar Rückführung des nach auch plausibel. erreichten Integrationsgrades. Damit sinken auch die Chancen für mehr ’ak- Denn tatsächlich öffnet die Osterwei- tive’ oder ’positive’ Integration im Be- terung den Rahmen, in dem die Ein- reich der Gesellschaftspolitik, dort wo bindung Deutschlands verwirklicht die bisherige ’passive’ Integration nur und eine für Frankreich vorteilhafte europaweit liberalisiert und also natio- wirtschaftliche, finanzielle und politi- nale Regelwerke zerstört bzw. reduziert sche europäische Ordnung geschaffen hat. Unter den französischen Soziali- wurde. Zwar ist sogar die gemeinsame sten ist dies ein bedeutsames Handikap Währung geschaffen, alles andere je- für die weitere EU-Entwicklung. Da- doch, von der internen Ordnung und hinter sieht man aber auch die Furcht Gewichtsverteilung, über die Transfer- vor dem sogenannten ’sozialen Dum- systeme bis zu den äußeren Grenzen ping’ aus Mittel- und Osteuropa. Wie der EU ist fließend geworden und steht Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 113 zur Disposition von Entwicklungen, kel für Partnerschaften, der mittlere für die von Paris allein – wie die Osterwei- die Europäische Union im eigentlichen terung selber zeigte – nicht mehr zu Sinne, und der innere für die „ver- verhindern sind. Schien vor dem Fall stärkten Solidaritäten“.54 Bekanntlich des Eisernen Vorhangs eine EU nach erschien in Deutschland etwa zeit- französischen Vorstellungen noch ge- gleich das bekannte Papier der Abge- sichert, wenn man auf eine langsame ordneten Schäuble und Lamers. Wenn Entwicklung des Status Quo vertraute hinter den französischen Modellen und allzu stürmischen Wünschen an- konkretere Vorstellungen gestanden derer Mitglieder nach EU-Vertiefung haben sollten, so sind diese öffentlich und Finalitäts-Diskussionen wider- nicht bekannt geworden. Seit dem stand, dann wäre seither eine umge- eher kühlen Empfang, den sie in der kehrte Haltung plausibel, nach der EU in der europapolitischen Debatte nun Paris initiativ werden müßte, um erhalten haben, sind diese Vorstellun- im Angesicht kommender Entwicklun- gen jedenfalls deutlich in den Hinter- gen und Erweiterungen zusammen grund getreten zugunsten erneuerter mit den anderen EU-Mitgliedern noch Versuche – wie in Amsterdam –, im rechtzeitig seine eigenen Vorstellungen klassischen Sinne die Handlungsfähig- im Rahmen gemeinsamer Positionen keit der Institutionen zu stärken. Ganz zu sichern und dafür auch früher vergessen sollte man das Konzept der abgelehnte Positionen der Partner zu differenzierten Integration im Kontext akzeptieren. der Osterweiterung allerdings nicht, immerhin hat Amsterdam erstmals so Bisher gibt es auf das französische etwas wie eine ’verstärkte Zusammen- Drängen nach einer gemeinsamen arbeit’ in den EU-Vertrag aufgenom- ’Vision’ aber nur ein bemerkenswert men, dazu aber noch später. schwaches Echo. Gerade in den Bon- ner Ministerien denkt man mehr an die Verwirklichung der Wirtschafts- 5.1 Die Grenzen der EU und Währungsunion und der Agenda 2000, von denen man sich weiter- Hinter der Frage nach den in der kom- führende Effekte erwartet, als an menden Erweiterungsrunde zuzulas- irgendwelche konzeptionellen Ent- senden Beitrittskandidaten steht un- würfe.53 übersehbar auch diejenige nach den langfristigen Grenzen der EU. Das zeigt Nach Maastricht wurde auch über sich in dem Verlangen nach einer Modelle differenzierter Integration ’Vision’, die auch die Grenzen der EU nachgedacht. In Frankreich waren es ansprechen soll. Natürlich sieht auch Ministerpräsident Balladur selbst und die französische Politik die Frage, wie dann sein Außenminister Juppé, die in die bei einer Begrenzung auf die jetzi- Interviews und Vorträgen das Modell gen Beitrittskandidaten verbleibenden eines Europas in konzentrischen Krei- Staaten zwischen der EU und Rußland sen diskutierten. Und es ging auch ex- künftig politisch einzubinden sind.55 pliziter um die Frage, ob man damit Der aktuellste Differenzpunkt in die- nicht eine Struktur für die Osterweite- sem Bereich entstand aus der jetzt ge- rung schaffen könnte: der äußere Zir- wählten Methode der Osterweiterung. 114 Christian Deubner

Welchen Platz sollte man der Türkei heitsabstimmung im Rat akzeptierte – immerhin mit dem ältesten Assozia- bzw. mit vorschlug, die der noch in tionsabkommen der EU – in der stän- Maastricht vertretenen früheren fran- digen Europakonferenz einräumen. zösischen Linie klar widersprachen, Hat sie damit eine Kandidaten-Per- weil sie Schritte in Richtung föderali- spektive? Frankreich hat seit 1996/97 stischer Strukturelemente bedeuteten, mit zunehmender Dringlichkeit einen die man früher abgelehnt hätte. Inso- Weg gesucht, wie man in diesem Zu- fern haben die mit der Osterweiterung sammenhang eine Zurückweisung der der EU verbundenen Befürchtungen in Türkei vermeiden könne.56 Dabei war der französischen Europapolitik einen Zweideutigkeit nicht zu vermeiden höchst bedeutsamen Intensitätssprung und ebensowenig ein Gegensatz zur verursacht oder doch zumindest sehr deutschen Haltung, die gegenüber der unterstützt. Diese strategische Verän- Beitrittsperspektive der Türkei klarer derung, direkt mit der französischen und negativer war. Der Ausschuß der Zustimmung zur Osterweiterung ver- französischen Nationalversammlung bunden, stößt aber ähnlich wie das ging Ende 1997 auch in diese Rich- Streben nach einer verbindlicheren Zu- tung, verlangte er doch vor allem, daß kunftsvision für die große EU, ihrer- die EU ihre Haltung zur Türkei über- seits auf Schwierigkeiten und Wider- haupt grundsätzlich klären solle. stände. Das zeigte sich bei drei anderen französischen Anliegen, von vielen Partnern geteilt, nämlich eine Verklei- 5.2 Die Vorbedingung der nerung der Europäischen Kommission, institutionellen Vertiefung Änderung der Stimmgewichtung im Rat und rasche Ausweitung der qualifi- Es paßt zu der hier vorgetragenen Be- zierten Mehrheitsabstimmung auf eine wertung, daß mit der Akzeptanz für die Reihe zusätzlicher Felder zu erreichen. Osterweiterung in der französischen Europapolitik auch die Bereitschaft zu Weiterhin gibt es die Widerstände von institutionellen Reformschritten hin seiten Deutschlands, die hier eine fran- zur politischen Union zugenommen zösische Bedingung sehen, die das hat; das war seit der Regierungskonfe- eigene vorrangige Ziel, die Erweite- renz von 1990/91 erkennbar und zeig- rung, verzögern könnte. Auf der Re- te sich danach noch deutlicher. Wir sa- gierungskonferenz wurde das franzö- hen schon, daß man in Frankreich seit sische Ziel nicht erreicht, vor allem Anfang der 90er Jahre vielfach glaubte, weil mit Deutschland und den ande- der Herausforderung der Osterweite- ren Partnern in der letzten Verhand- rung nur mit einer institutionell ge- lungsphase bei verschiedenen Vor- stärkten EU erfolgreich begegnen zu haben Probleme auftauchten: mit können. Deutschland bezüglich einer Verklei- nerung der Europäischen Kommission, Gleichwohl war es höchst bemerkens- mit anderen Partnern einschließlich wert, daß Paris in Amsterdam nun Deutschland und beispielsweise auch Maßnahmen zur weiteren Stärkung Spanien bezüglich einer Änderung der des Europäischen Parlaments und zur Stimmgewichtung im Rat und mit Ausweitung der qualifizierten Mehr- Deutschland bezüglich einer raschen Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 115

Ausweitung der qualifizierten Mehr- mit Belgien und Italien in einer heitsabstimmung auf eine Reihe zu- Erklärung die Dringlichkeit weiterer sätzlicher Felder. Reformen angemahnt. Österreich, Schweden und Finnland haben sich Man kann nun die Glaubwürdigkeit dieser Initiative inzwischen ange- der französischen Wünsche nach einer schlossen. Frankreichs Regierung will institutionellen Reform teilweise in von der Lösung des institutionellen Frage stellen. Gleichwohl liegen die Problems zwar nicht den Beginn der französischen Vorschläge in den drei Verhandlungen über die Erweiterung erwähnten, allesamt sehr bedeutenden abhängig machen. Aber diese Lösung Punkten vor, und auch in Deutschland muß nach französischer Meinung zu- meinen Sachkenner, daß man damit standekommen, bevor die Beitritts- weiterkommen müßte. Seit der ver- verhandlungen abgeschlossen werden paßten Chance von Maastricht hat können57. Dafür hat die französische sich dagegen Deutschland nicht mehr Regierung auch die volle Rücken- bereit gefunden, auf wichtige institu- deckung ihres Parlaments. tionelle Reformwünsche Frankreichs einzugehen, weder bei den Verhand- So will der sozialistische Präsident der lungen vor der Norderweiterung von französischen Nationalversammlung Ende 1993, noch in der Vorbereitung 1997/98 der Regierung dadurch den der Amsterdamer Konferenz. Rücken stärken, daß er gemeinsam mit der Ratifizierung von Amsterdam im Der Hauptakzent der französischen Herbst 1998 auch über eine Entsch- Regierung liegt darauf, das Gewicht der ließung abstimmen läßt, in der be- großen Mitgliedsländer im Entschei- stätigt wird, daß jede EU-Erweiterung dungsverfahren der EU zu stärken und als Vorbedingung die Reform der EU- zwar vor allem durch die Stärkung ih- Verfahren erfordert. Der RPR-Vorsit- res Stimmgewichts im Rat und durch zende Séguin verlangte im Juli 1998 eine Vermehrung der Gelegenheiten, ausdrücklich dasselbe58. dieses Stimmgewicht auszuspielen, also durch Ausweitung der Abstim- Deutschland dagegen sieht in einem mung mit qualifizierter Mehrheit. In solchen Junktim weiterhin vor allem diesem Sinne will sie auch die Sperr- eine Hemmung der raschen Ost- minderheit so erhöhen, daß die klei- erweiterung. Hier besteht noch Ver- nen Staaten sie weniger leicht zusam- handlungsbedarf, zumal verschiedene menbringen als das jetzt der Fall ist. Diskussionsstränge innerhalb der EU Dagegen hat sie keiner Abschaffung bestehen. des Vetos das Wort geredet; vielmehr will sie seine Möglichkeit aufrechter- Ob das Ergebnis der Osterweiterung ei- halten und hat bezüglich der „Ver- ne dauerhaft in sich differenzierte und stärkten Zusammenarbeit“ sogar dabei weniger handlungs- und entwick- mitgewirkt, neue vertragliche Veto- lungsfähige EU als bisher sein wird, Möglichkeiten zu schaffen. wie die Franzosen es seit Anfang der 90er Jahre befürchten, wird von Nach Abschluß der Verhandlungen den zukünftigen Verhandlungen ab- hat Frankreich zunächst zusammen hängen. 116 Christian Deubner

6. Zusammenfassung durchaus plausible Gehalt der franzö- sischen Konföderationsidee – in Aner- Ein Blick zurück zeigt zweierlei: Frank- kennung der Unmöglichkeit eines reichs Außen- und Europapolitik hat schnellen Beitritts aller mittel-ost- 1990 einerseits in grundlegenden Be- europäischer Länder zur EU die Grup- wertungen der Osterweiterung und der pierung jener Länder um die EU in ihr zugrundeliegenden Realitäten rich- einer lockereren Organisationsform zu tiger gelegen als die deutsche Regie- erreichen – im Stabilitätspakt und in rung. Der tatsächliche Beitritt der der Beitrittsstrategie der EU Ausdruck ersten mittelosteuropäischen Länder finden.60 Die ’Europakonferenz’, die wird wohl erst in der zweiten Hälfte nach dem Willen der EU, gestützt auch des ersten Jahrzehnts nach der Jahr- von der deutschen und der französi- tausendwende liegen, also immerhin schen Regierung, die für einen Beitritt weit über zehn Jahre nach den ersten in Frage kommenden Länder aus der deutschen Absichtserklärungen. Daß mittel- und südöstlichen Nachbar- alle dann aufzunehmenden Kandi- region der EU aufnehmen soll, ist eine daten zu diesem Zeitpunkt wirklich adaptierte Form dieses Konfödera- beitrittsreif59 sein werden, davon sind tionskonzeptes, ist motiviert durch auch in Deutschland nur die wenig- dasselbe Dilemma und erfüllt in meh- sten Sachkenner überzeugt, vor allem rerlei Hinsicht denselben Zweck, wie nicht hinsichtlich des größten Kan- jenes.61 Wie Védrine in seiner zuvor didaten, nämlich Polens. Auch dann zitierten Arbeit richtig schrieb, kommt noch werden diese Beitritte also sie aber für diese Zwecke leider bereits tatsächlich die erhebliche Herausfor- acht Jahre später als bei rechtzeitigem derung für die gemeinsame Hand- Handeln möglich gewesen wäre. lungs- und Entwicklungsfähigkeit der EU bringen, die Frankreichs Regierun- Deutschland hat mit seinem Drängen gen immer befürchtet hatten. Es bleibt auf rasche Osterweiterung nun zuge- zweifelhaft, inwieweit die EU diese standenermaßen gegen Beharrungs- Herausforderungen bestehen kann. und Konsolidierungstendenzen und die diesen zugrundeliegenden Interes- Auch die gesellschaftlichen Akteure in sen und Realitäten in der EU Politik den EU-Ländern, einschließlich der- gemacht und dabei genügend Verbün- jenigen in Deutschland, haben mehr dete gefunden, daß die ersten Ost- Gemeinsamkeiten mit der französi- erweiterungen nach aller Wahrschein- schen Haltung, als die Bundesregie- lichkeit in absehbarer Zeit sicherge- rungen seit 1990 wahr haben wollten stellt sind. Ignoriert hat die Regierung und werden mit näherrückenden Ver- in ihrer öffentlichen Darstellung dabei handlungen zu konkreter wirksamen – im Gegensatz zu Paris – ein frühes Bremsfaktoren für die deutscherseits Eingehen auf die großen materiellen gewollte rasche Erweiterung. und politischen Schwierigkeiten dieser Politik. Wird sie sie jetzt im Hau-Ruck- Seitdem Frankreich sein prinzipielles Verfahren neutralisieren können? Das ’Nein’ beziehungsweise ’noch nicht’ ist zweifelhaft. Auch Frankreichs Re- gegenüber der Osterweiterung der EU gierung hat sich auf die deutsche Linie aufgegeben hat, konnte auch der der vergleichsweise rascheren Ost- Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 117 erweiterung zubewegt. Wird die fran- licht werden können, sie bleiben wei- zösische Regierung in Deutschland sei- terhin auf dem Stande des status quo nerseits einen Bündnispartner für die ante. Bonn hat seit 1992 maßgeblich institutionelle Vertiefung finden, wie mit verhindert, daß französische Vor- sie sie seit Jahren mit zunehmender stellungen in diese Richtung verwirk- Dringlichkeit fordert? Immerhin hatte licht wurden, so daß die Flexibilität der auch Bonn in seiner offiziellen Politik einzige bedeutsame Schritt dorthin ge- immer den Gleichschritt der Vertie- blieben ist.63 Gleichwohl stehen diese fung mit der Erweiterung verfochten, französischen Vorstellungen inzwischen der die EU endlich „für die Erweite- im Vordergrund der Erwartungen. Wie rung fit machen“ würde.62 stark wird Frankreich in dieser Richtung weiter drücken? Wieviel wird es errei- Zwar gelingt es seit Maastricht, das EU- chen? Wieweit wird die deutsche Seite Schiff zusätzlich zur Osterweiterung dabei mitziehen? auch noch mit höchst ehrgeizigen Be- reichspolitiken zu beladen. Aber die In- Hier liegt die für die Entwicklung der stitutionen und Verfahren, mit denen EU insgesamt wohl bedeutendste noch diese neuen Kompetenzen richtig um- offene Frage der französischen Haltung gesetzt, die neuen Perspektiven verwirk- zur Osterweiterung der EU.

Anmerkungen 1 Schon an dieser Stelle muß angemerkt wer- unterstreicht v.a. auch den Willen Mitter- den, daß diese in Deutschland wie der rands zu einer „ausgewogenen“ Lösung in übrigen EU gängige Bezeichnung, die auch der Frage der Mittelstrecken-Raketen: We- als MOEL abgekürzt wird, weder genau der die USA noch die UdSSR sollten ihre die Ländergruppe erkennen läßt, die da- Ansichten zur Gänze durchsetzen können mit gemeint ist (reichen sie bis zur West- (man erkennt den französischen „Sonder- grenze der GUS, oder gar derjenigen Ruß- weg“). Vgl. auch Ernst Weisenfeld, Welches lands?), noch den großen Entwicklungs- Deutschland soll es sein?, Frankreich und und Transformationsunterschieden Rech- die deutsche Einheit seit 1945, München nung trägt, die zwischen den Ländern in 1986, v.a. S. 137ff.. dieser Region herrschen. Diese Undeut- 5 Darauf verwies Jacques Rupnik in einer lichkeit ist auch ein objektives Problem der vom Verfasser organisierten deutsch- Osterweiterungspolitik, die hier diskutiert französischen Konferenz zur Rolle der wird. In diesem Artikel bezeichnet ’MOEL’ deutsch-französischen Zusammenarbeit in die Länder westlich der GUS-Grenze. der künftigen Integrationspolitik, im März 2 Diesen Punkt macht auch sehr deutlich 1995, in Paris. Hans Stark, Frankreich und der Osten 6 Zu den Zahlen aus den ersten Jahren vgl. Europas, in: Frankreich Jahrbuch 1992, Hans Stark, Frankreich und der Osten Opladen 1992, S.119f.. Europas, in: Frankreich Jahrbuch 1992, Op- 3 Vertrag zur Gründung der Europäischen laden 1992. Gemeinschaft vom 25. März 1957 mit al- 7 Zu diesem bilateralen Vertragssystem Hans len Änderungen und Ergänzungen nach Stark, Frankreich und der Osten Europas, dem Stand vom 1. Juli 1987, Präambel, in: Frankreich Jahrbuch 1992, Opladen Europäische Union, Europäische Gemein- 1992, S. 122. schaft, Die Vertragstexte von Maastricht, 8 Hubert Védrine: Les mondes de Francois Ausgabe 1990, Bonn: Europa Union Ver- Mitterrand. A l’Elysée 1981 – 1995, Paris, lag, 1990. Fayard, 1996, S. 562. 4 Vgl. hierzu u. a.: Georges-Henri Soutou: 9 Diese zeitliche und sachliche Priorität L’alliance incertaine. Les rapports politico- wurde auch von der Regierungspartei stratégiques franco-allemands. 1954 – PS ausdrücklich geteilt; sie ging bis zu 1996, Paris, Fayard, 1996, S. 378ff.. Soutou erstmaligen klaren Bekenntnissen für eine 118 Christian Deubner

10 „finalité fédérale“ für die Politische Opladen 1992, S. 117. Union der EG im Projekt ’Horizon 2000’ 16 Zur Charta vgl. u.a. Victor Yves Ghebali, vom Dezember 1991, was im Vorlauf zum La CSCE et le mythe de l’immuabilité des Referendum über den Maastrichter Ver- frontières en Europe, in: Nouvelle Europe, trag auch eine klare Abgrenzung von der Mai 1991, S. 24 – 27, oder derselbe, La gaullistischen Opposition erlaubte, vgl. Charte de Paris pour une nouvelle Ulrike Guerot, Die PS und Europa, Bo- Europe, in: Défense nationale, März 1991, chum 1996, S. 498 – 514. S. 75 – 76. Die politische Bewertung die- 10 Ebd., S. 572. Die Strukturen der Union ser Charta muß ähnlich ausfallen wie dürften nicht geändert oder ihres Inhalts für den Pakt von Paris, vgl. dazu nach- entleert werden. Dafür müsse man mit folgend. aller Festigkeit sorgen. 17 Vgl. hierzu und zum Folgenden sehr aus- 11 Zu den seinerzeitigen Reserven Frank- drücklich Jacques Rupnik, Paris et ’l’autre reichs, das sich gemeinsam mit Groß- Europe’, in: Politique Internationale, britannien gegen diese deutschen Vor- Nr.67, Frühjahr 1995, S. 227 – 235. stellungen stellte, siehe u.a. Georges- 18 Heinz Kramer: Das System der „Europäi- Henri Soutou: L'alliance incertaine. Les schen Abkommen“: Lösung oder Zwi- rapports politico-stratégiques franco- schenlösung für die Beziehungen der Ge- allemands. 1954 – 1996, Paris, Fayard, meinschaft zu Osteuropa, in: Christian 1996, S. 402ff.. Deubner (Hrsg.): Die Europäische Ge- 12 Zur französischen Europapolitik dieser meinschaft in einem neuen Europa, No- Zeit vgl. neben den schon erwähnten Ar- mos, Baden-Baden, 1991, S. 127f.. beiten von Stark, Soutou oder Védrine 19 Zu den Zahlen aus den ersten Jahren vgl. auch: „Frankreich“, in: Werner Weiden- Hans Stark, Frankreich und der Osten feld/Wolfgang Wessels: Jahrbuch der Europas, in: Frankreich Jahrbuch 1992, Europäischen Integration, Bonn, Europa- Opladen 1992. Union Verlag, 1989/90ff.. 20 Georges Ayache/Pascal Lorot: La conquête 13 So die bezeichnende Wortwahl von Hu- de l’Est. Les atouts de la France dans le bert Védrine: Les mondes de Francois nouvel ordre mondial, Paris, Calman-Le- Mitterrand, op. cit., S. 449; Jean Musitel- vy, 1991, S. 134ff.. li/Hubert Védrine: Les changements des 21 L’èlargissement de l’Union européenne années 1989 – 1990 et l'Europe de la aux pays d’Europe centrale et orientale: prochaine décennie, in: Politique étran- chances et risques pour l’èconomie fran- gère, 56, Printemps 1991, 1, S. 165 – 177; caise, Extrait d’un rapport présenté le 12 dieses Projekt verschränkte sich eine mars 1997 par Alain Prate au nom de la zeitlang mit dem schon weiter gediehe- Section des relations extérieures du Con- nen Vorhaben eines Europäischen Wirt- seil économique et social, in: Problèmes schaftsraumes für eine engere Angliede- économiques, Nr. 2522, 28 Mai 1997, rung der verbliebenen EFTA-Staaten an S. 1 – 8. die EU, in das man die MOEL mit hin- 22 Vgl. noch einmal sehr kritisch gegenüber einnehmen zu können hoffte. Mitterrand der französischen Linie Hans Stark, a.a.O., hatte danach auch den Europarat als ein S. 118. mögliches Forum für die Bindung der 23 Vgl. L’Europe change à l’Est: L’enjeu com- MOEL an Westeuropa im Auge gehabt mercial, in: Les Notes Bleues, Nr. 590 und daher im Mai 1992 eine Tagung die- (27.04.92); und Le commerce extérieur de ser Organisation zusammen mit den mit- la France en 1991, in: Les Notes Bleues, telosteuropäischen Ländern angeregt, Nr. 594 (25.05.92). welche im Oktober 1993 in Wien statt- 24 Vgl. L’Europe change à l’Est: L’enjeu com- fand. Dort trug er das Konzept der Kon- mercial, in: Les Notes Bleues, Nr.590 föderation noch einmal vor, LeMonde 8. (27.04.92)7; auch Jacques Rupnik, Paris und 11.10.1993, S. 6 und 1. et ’l’autre Europe’, in: Politique Interna- 14 Christian Lequesne: Commerce et aide tionale, Nr.67, Frühjahr 1995, S. 227 – économique: les instruments d’une poli- 235, S. 230. tique, in: Francoise de la Serre/Christian 25 Vgl. L’Europe change à l’Est: L’enjeu com- Lequesne/Jacques Rupnik: L’Union eu- mercial, in: Les Notes Bleues, Nr. 590 ropéenne: ouverture à l’Est ?, Paris, PUF, (27.04.92)10. 1994, S. 43 – 79 (zum Thema EBWE v.a. 26 Vgl. auch hierzu Ayache/Lorot, a.a.O, für das Kapitel IV: La BERD: de la „vision“ au die Zahlen zur Entwicklung von 1991 bis pragmatisme, S. 72 – 79). 1994 in den Notes Bleues de Bercy (Mit- 15 Hans Stark, Frankreich und der Osten teilungen des französischen Wirtschafts- Europas, in: Frankreich Jahrbuch 1992, ministeriums), Nr.62, 1. – 15.5.1995, S. 2; Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 119

oder auch ein Übersichtsartikel in Le- sions Nr.2. Monde vom 23.2.1995. Für die länger- 34 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10. fristige Entwicklung Bricout, Jean-Luc, 1996, S. 6. Maliverney, Jacques, Les Entreprises 35 Vgl. Außenminister Kinkel auf einem françaises dans le monde, in: Les notes deutsch-französischen Seminar auf dem bleues de Bercy, Nr.12 (1. – 15.04.93), Zu- Petersberg bei Bonn am 2.2.1998, und sammenfassung ihres gleichnamigen Bu- zwar selbst betreffend des Luxemburger ches, Paris: Ed.CFCE, 1993, und George Gipfels, dem bekanntlich deutliche N.Yannopoulos. Multinational Corpora- deutsch-französische Differenzen über die tions and the Single European Market, richtige Strategie vorangegangen waren; University of Reading Discussion Papers in Bulletin BPA, 09.02.1997, S. 116. Nr.45, Dezember 1991. 36 Vgl. die Gespräche des polnischen 27 Typisch für viele andere Meinungsäuße- Außenministers Geremek in Paris vom rungen dieser Art war Carroué, Laurent, 15. Juli 1998 mit dem französischen L’Allemagne en première ligne pour la Staatspräsidenten und Außenminister in conquête des économies de l’Est, in: Paris, die offenbar mit erneuter Erklärung Le Monde Diplomatique, Januar 1992, der französischen Regierung endeten, Po- S. 12f.. len möglichst rasch in die EU hereinzu- 28 L’èlargissement de l’Union européenne bringen. Geremek sah dadurch Deutsch- aux pays d’Europe centrale et orientale: land und Frankreich in der Rolle der chances et risques pour l’èconomie fran- beiden entscheidenden Anwälte für die caise, Extrait d’un rapport présenté le 12 „Wiedervereinigung Europas.“ LeMonde mars 1997 par Alain Prate au nom de la 17.7.98, S. 3. Section des relations extérieures. 37 Bernard de Montferrand, außenpoliti- 29 Die Konferenz von Barcelona fand statt scher Chefberater des neuen bürgerlichen am 27./28. November 1995. Vorarbeit Ministerpräsidenten Edouard Balladur, leisteten die Gipfeltreffen in Essen betonte diese „sehr enge Zusammenarbeit (9./10.12.1994) und Cannes (26./27.06. zwischen Paris und Bonn in der Ost- 1995). Die Ausweitung der EU-Finanz- Erweiterung der EU“, in: Stabilité Euro- hilfen für die Mittelmeerregion (im Rah- péenne: le „Plan Balladur“, in: Politique men des Förderprogramms MEDA, des internationale, Nr. 67, Frühjahr 1995, S. Gegenstücks zu PHARE ) war ein konkre- 237 – 248, S. 243. tes Resultat der in Cannes ins Leben ge- 38 Le Figaro 20.09.1994. rufenen Partnerschaft Europa – Mittel- 39 Vgl. die Berichterstattung in Le Monde meer. 17.01.1997, S. 5; LeFigaro 02.04.98, S. 2, Vgl. u.a. Geoffrey Edwards/Eric Philip- mit einem Artikel des tschechischen part: The EU Mediterranean Policy: Virtue Außenministers anläßlich des Chirac- unrewarded or...?, in: Cambridge Review Besuches am selben Tag; Frankfurter All- of International Affairs, Summer/Fall gemeine Zeitung 04.04.97 über den Prag- 1997, Vol.XI, No.1, S. 185 – 207. und Po- Besuch. Zu Ungarn vgl. den Pressedienst litique étrangère, Nr. 1, Printemps 1998, der Französischen Botschaft in Bonn, 63e année, „Partenariat euro-mediter- Frankreich Info, 22.01.97. ranéen“ (Drei Artikel zum Thema Part- 40 Vgl. Bericht in der Süddeutschen Zeitung nerschaft Europa – Mittelmeer), S. 35 – 76. vom 13.07.1998, S. 6. 30 Vgl. u.a. Nicholas Hopkinson, The Eastern 41 Dazu ausführlich Bernard de Montfer- Enlargement of the European Union, De- rand: Stabilité Européenne: le „Plan zember 1994, Wilton Park Paper Nr. 91, Balladur“, in: Politique internationale, London 1995. Nr. 67, Frühjahr 1995, S. 237 – 248. 31 Hans Stark, Frankreich und der Osten Montferrand selbst gesteht aber zu, daß Europas, in: Frankreich Jahrbuch 1992, die nunmehr konkretere EU-Beitrittsper- Opladen 1992, S. 115 – 127; vgl zur Kri- spektive für die MOEL jene wesentlich tik an Mitterrand z.B. Jacques Jessel, La zum Mitmachen beim Pakt motiviert ha- double défaite de Mitterrand, Paris 1992, be, ebenso wie die Mitwirkung der USA v.a. S. 49ff.. und Rußlands, S. 241ff.. Zur Konferenz 32 Le Figaro 23.3.1994, S. 5. über die Stabilität in Europa, in Paris, vgl. 33 Henri Nallet, Rapport d’Information, dé- die Berichterstattung in LeMonde vom posé par la délégation de l’Assemblée 21.3.1995, S. 3. nationale pour l’Union européenne, sur 42 LM 13.7.98, S. 3, L’Union européenne la communication de la Commission essaie de faire patienter les pays candidats européenne ’Agenda 2000’, Paris, Assem- à l’adhésion. blée Nationale, 6.11.97, 149 S., Conclu- 43 Aus den entsprechenden drei Ausgaben 120 Christian Deubner

von Eurobarometer, Europäische Kom- 50 Vgl. wiederum Les Quinze abordent l’élar- mission, Bericht Eurobarometer Standard, gissement de l’Europe en ordre dispers. Brüssel. 51 Vgl. z.B. zum informellen Gipfel von Car- 44 EU-Dokument COM(97)2000 final. cassonne, in LeMonde 21.3.1995, S. 2. 45 Henri Nallet, Rapport d’Information, Der Autor hat dieses französische Anlie- déposé par la délégation de l’Assemblée gen in seiner Zusammenarbeit mit dem nationale pour l’Union européenne, sur Quai d’Orsay deutlich verspürt. la communication de la Commission 52 Vgl. hierzu noch einmal bei Ulrike Gue- européenne ’Agenda 2000’, Paris, Assem- rot, Die PS und Europa, Bochum 1996, S. blée Nationale, 6.11.97, vor allem die 492ff.. Conclusion, die Beschlüsse des Aus- 53 Vgl. hierzu noch einmal die Ergebnisse schusses. Der Autor greift hier aber auch einer vom Autor zum Thema Osterweite- auf die Ergebnisse einer von ihm zum rung organisierten deutsch-französischen Thema Osterweiterung organisierten Expertenkonferenz mit starker Beteiligung deutsch-französischen Expertenkonferenz aus den zuständigen Ministerien, vom vom Oktober 1997 zurück. Oktober 1997, auf der diese Zurückhal- 46 Neue Zürcher Zeitung, 22.02.1997, S. 2. tung sehr deutlich zu spüren war. 47 Zum Folgenden vgl. Les Quinze abordent 54 Vgl. z.B. das Interview Balladurs für den l’élargissement de l’Europe en ordre di- Figaro, 31.08.1994; das deutsche Pendant spersé, in: LeMonde, 10.12.97, S. 2. aus der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen 48 Zur französischen Linie vgl. die Aus- Bundestages: Überlegungen zur Europäi- führungen des seinerzeitigen Außen- schen Politik, Bonn 1.9.1994. Hierzu u.a. ministers de Charette auf einer Berliner wiederum Jacques Rupnik, Paris et ’l’autre deutsch-französischen Botschafterkonfe- Europe’, in: Politique Internationale, Nr. renz vom Oktober 1996, wonach Frank- 67, Frühjahr 1995, S. 232. reich fürchtete, bei einer offenen Diffe- 55 Vgl. auch die neueste Nachricht – FAZ renzierung zwischen bevorzugten ersten 5.8.98, S. 6 – über Védrine’s Verlangen Verhandlungspartnern und anderen nach einer EU-Entscheidung über ihre Beitrittsbewerbern verschlechterten sich geographischen Außengrenzen. Früher die Chancen von Bulgarien und Rumä- oder später stelle sich diese Frage v.a. im nien zum Beitritt zu sehr. In diese Logik Blick auf Rußland und die GUS. fügte sich danach die Einbeziehung auch 56 Eigene Gespräche des Autors im franzö- der Türkei. Insofern wollte Frankreich sischen Außenministerium. zunächst auch ein Startlinienmodell für 57 Bestimmte Vertragsänderungen, Proto- die Beitrittsverhandlungen, wonach alle kolle und Erklärungstexte zum Vertrag Beitrittsbewerber formell gleichzeitig in von Amsterdam dürften nach Meinung den Beitrittsprozeß eintreten konnten, des Autors zwar dafür sorgen, daß bei die EU jedoch faktisch den Einstieg in einer Aufnahme von auch nur den drei ernsthafte Beitrittsverhandlungen sofort Visegrad-Staaten, mit denen jetzt verhan- entsprechend der ’EU-Reife’ der einzel- delt wird, die Institutionen angepaßt nen Kandidaten differenzieren sollte. werden: Europäisches Parlament: EGV Frankfurter Allgemeine Zeitung, 189 und 190, geändert in Amsterdam, se- 08.10.1996, S. 6. Dafür fand Frankreich hen eine Obergrenze von 700 Mitgliedern auch noch kurz vor dem Luxemburger für das Parlament einer erweiterten EU Gipfel die Unterstützung von Ländern, vor, das heißt 74 mehr als die gegenwär- die sich durch das konkurrierende ’Grup- tigen 626. Sie legen außerdem die Zahl penmodell’ zunächst ausgeschlossen sa- der durch jeden Mitgliedstaat gestellten hen, vgl. etwa die slowakische Außen- Abgeordneten fest und sehen eine er- ministerin bei ihrem Paris-Besuch im neute Klärung dieser Zahl bei einer Oktober 1997, LeMonde, 24.10.1997, „Änderung dieses Absatzes“ vor. Die 74 S. 4. weiteren Abgeordneten werden bei ge- 49 Zu den Differenzen der Konzepte vgl. wie- genwärtiger Zählung je Mitgliedstaat be- derum Les Quinze abordent l’élargisse- reits mit der ersten anstehenden Oster- ment de l’Europe en ordre dispersé, in: weiterung überschritten, Artikel 190 muß LeMonde, 10.12.97, S. 2; zu der Position durch Einfügung dieser Länder geändert der Kommission erklärte sich Günther werden. Beides zusammen wird eine po- Burghardt, Generaldirektor für die Außen- tentiell weitreichende zahlenmäßige An- beziehungen der EU in der Europäischen passung des EP auslösen, die auch die Kommission, auf einer Konferenz des proportionale Vertretung der Mitglieds- Central European Forum am 17.01.1998 völker ändern könnte. Ministerrat: EU- in Brügge. Vertrag (Amsterdam), Protokoll (7) über Frankreich in der Osterweiterung der EU, 1989 bis 1997 121

die Organe im Hinblick auf die Erweite- auch seine politische Bedeutung und rung der Europäischen Union, Erklärung Notwendigkeit. Nr. (50) zu diesem Protokoll, von der Re- 58 Agence Europe am 8.4.98, LM 11.7.98, gierungskonferenz „angenommen“, Er- S. 5. Schon 1994 war im französischen klärung Nr. (6), abgegeben von Belgien, Parlament etwas Ähnliches versucht, Frankreich und Italien zu diesem Proto- aber nicht durchgesetzt worden: anläß- koll, von der Regierungskonferenz nur lich der Neubeitritte der EFTA-Länder „zur Kenntnis genommen“. Protokoll (7) wollten Abgeordnete der zentristischen spricht eine Reform der Stimmenwägung UDF die Ratifizierung durch Frank- im Rat (durch Neuwägung oder durch reich verhindern, wenn nicht gleich- Einführung einer doppelten Mehrheit) zeitig eine Stärkung der Institutionen ausdrücklich an, und zwar vor dem „Zeit- vorgenommen werden würde, LeMonde punkt des Inkrafttretens der ersten Er- 4.12.1994. weiterung der Union“, als Bedingung 59 Im Sinne der Europäischen Kommission dafür, daß von diesem Zeitpunkt an auch und ihrer Kriterien für eine erfolgreiche die Zusammensetzung der Europäischen Mitgliedschaft zu verstehen. Kommission geändert wird. Erklärung 60 MdEP Klaus Haensch, Berichterstatter des (50) sieht vor, daß erst von diesem Zeit- EP für die Strategie der Europäischen punkt an auch die Sperrminderheit im Union in der Frage der Erweiterung und Rat – die in Ioannina verringert worden einer globalen Ordnung auf Europäischer war – wieder geändert werden kann. In Ebene, vgl. Agence Europe, Nr. 5903(ns)4. der genannten Erklärung (6) kündigen die Für all die Länder, die der EG nicht bei- drei Länder an, sich für eine solche Än- treten würden, schlug der Haensch-Be- derung der Stimmenwägung einzusetzen, richt eine flexible und funktional bezo- und plädieren auch entschieden für eine gene Konföderation vor. Die Verbindung erheblich größere Anwendung der quali- zum Mitterrandschen Konföderations- fizierten Mehrheitsabstimmung im Rat. Vorschlag von 1990 ist darin deutlich er- Europäische Kommission: EU-Vertrag kennbar. (Amsterdam), Protokoll (7) über die Or- 61 Jean Musitelli, zusammen mit Védrine gane im Hinblick auf die Erweiterung der der seinerzeitige Autor dieses Konzepts, Europäischen Union, und Erklärung betont seine fortdauernde Aktualität und Nr.(6), abgegeben von Belgien, Frankreich verteidigt es in Premiers retours sur la po- und Italien zu diesem Protokoll, von der litique étrangère de François Mitterrand, Regierungskonferenz „zur Kenntnis ge- in: Commentaire, Nr. 77, Printemps 1997, nommen“. Protokoll (7) legt fest, daß ihr S. 81 – 86. nur noch ein Staatsangehöriger pro Mit- 62 So ein seit dem Abschluß des Maastrich- gliedstaat anghören darf, sofern die Mit- ter Vertrags immer wieder auch offiziell gliedstaaten zu diesem Zeitpunkt die verkündetes Motto der deutschen Euro- Stimmenwägung im Rat einvernehmlich papolitik. geändert haben. In der genannten Er- 63 Vgl. den neuen Artikel 44 zur ’verstärk- klärung kündigen die drei Länder an, die ten Zusammenarbeit’ im EU-Vertrag von dafür erforderlichen Maßnahmen zu ver- Amsterdam sowie die weiteren diesbe- anlassen. züglichen Vertragsneuerungen. Christian Eindeutige Vertragspflichten entstehen Deubner, Die verstärkte Zusammenarbeit den Mitgliedsländern aus alledem aber im System der Europäischen Union. nur in bezug auf das Parlament. Die Kom- Ebenhausen: SWP-AP 3064, unveröffent- mission muß dagegen nur geändert wer- lichtes Manuskript, 1998, zur Bedeutung den, wenn zuvor der Rat einvernehmlich für die Osterweiterung vergleiche etwa reformiert wurde, und diese Reform des derselbe mit Thomas Schiller, The Ger- Rates ihrerseits kann zwar, aber muß man Hearing on Enhanced Cooperation nicht durchgeführt werden. Insofern hat in the EU after Amsterdam, Ebenhausen: der von Frankreich und seinen Verbün- SWP-KB 3068, unveröff. Manuskript, deten entfaltete Druck in dieser Richtung 1998, v.a. S. 10f.. Im Dialog

Tanja Wagensohn Er hielt zweifelsohne an der Präambel Anmerkungen zu: Reinhard C. des Grundgesetzes fest, machte sich Meier-Walser, Politscher Realis- aber im Jahr 5 nach der Niederschla- mus im Denken und Handeln gung des Volksaufstandes in der DDR – theoriebildende Elemente im und zwei Jahre nach der Ungarn-Krise außenpolitischen Werk von Franz keine Illusionen über die Situation im Josef Strauß in POLITISCHE STU- geteilten Europa. Ich will an dieser DIEN 361 Stelle noch einmal auf die zitierte Bun- destagsrede von 1958 zurückkommen:

Die These, Franz Josef Strauß der von „Weder Abrüstung noch Frieden noch Morgenthau begründeten Schule des Wiedervereinigung sind absolute Wer- Politischen Realismus zuzuordnen, hat te (...). Ich gebrauche einen völlig eige- mich spontan überzeugt. nen Gedankengang: ist es denn wirk- lich die Wiedervereinigung, die uns in Ich teile die Ansicht, daß Strauß sich erster Linie drängt, quält, bedrückt stärker an den von der Geschichte ab- und treibt? Es ist doch weniger die zuleitenden Gesetzmäßigkeiten orien- Wiedervereinigung im Sinne der Wie- tierte als an „historischem Optimis- derherstellung der staatlichen Einheit mus“ oder romantischen Schwärme- Deutschlands, was uns bedrückt; es ist reien. Mit Sicherheit hat Strauß seine doch mehr das Herzensanliegen der Politik sehr viel mehr an einer interes- Wiederherstellung demokratischer und sengesteuerten Gleichgewichtspolitik menschenwürdiger Zustände in der als an gesinnungsethischen Prinzi- DDR.“ pien ausgerichtet – was auf die schöne Formel „Logos statt Mythos“ gebracht Damals machte Strauß deutlich, daß er wurde. sich zu diesem Zeitpunkt eine Wieder- herstellung der staatlichen Einheit Spontan will ich hier an einen Aspekt Deutschlands nicht vorstellen konnte. erinnern, der dies innenpolitisch eben- Für mein Dafürhalten hat er sich auch so belegt wie die ins Feld geführten damit als Realist hervorgetan. Er hatte außenpolitischen Beispiele. Strauß war eine genaue Vorstellung davon, was zu – und damit erzähle ich selbstverständ- diesem Zeitpunkt im Bereich des Mög- lich nichts Neues – einer der Politiker, lichen lag. für die Freiheit Vorrang vor Einheit hatte, der die Deutsche Frage immer Der Aufsatz von Reinhard C. Meier- für offen erklärt und sich auf das Walser hat mich darüber hinaus zu Urteil des Bundesverfassungsgerichts Überlegungen veranlaßt, die mit der zum Grundlagenvertrag berufen hat. heutigen politischen Situation in der

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 Im Dialog 123

Bundesrepublik Deutschland stehen. mir plausibler. Ist nicht nach wie vor Seit dem Amtsantritt der rot-grünen primäres Ziel staatlichen Handelns Regierungskoalition scheint mir ein eine Verknüpfung sozialer, wirtschaft- Abrücken von realistischen Prämissen licher und militärischer Sicherheit des in der deutschen Außenpolitik immer eigenen Staates? wahrscheinlicher. Die zwischenzeitlich große Zahl linker Regierungen im heu- Die Wichtigkeit und Bedeutung politi- tigen (EU-)Europa – und dies schließt scher und wirtschaftlicher Integration die neue deutsche ein – scheint sich und die fortschreitende Interdepen- wieder sehr viel stärker an idealisti- denz der Staaten stehen außer Frage. schen bzw. globalistischen Positionen Aber diese Entwicklung wird das klas- zu orientieren. sische staatenzentristische Muster in- ternationaler Politik wohl kaum welt- Ich persönlich glaube nicht, daß die weit verändern – ebensowenig wie Nationalstaaten in der internationalen nichtstaatliche transnationale Akteure. Politik zum Anachronismus werden, Gerade vor der Folie dieser, sich in trotz unbestrittener wirtschaftlicher nächster Zeit vermutlich wieder ver- Verflechtungen und einer weltum- stärkenden Diskussion um realistische spannenden neuen Kommunikations- und globalistische Konzeptualisierung technologie. Die internationalen Be- von Weltpolitik fände ich eine Unter- ziehungen werden auch in Zukunft ein suchung über den an realistischen Nullsummen-Spiel bleiben. Die Gleich- Prämissen orientierten Außenpoliti- setzung wirtschaftlicher und staat- ker Strauß hochinteressant und wich- licher Interessen, definiert vor dem tig. Die Anregung des Aufsatzes, sein Hintergrund eines Kontinuums in Hin- außenpolitisches Wirken politikwis- sicht innenpolitischer Stabilität und senschaftlich zu untersuchen, wäre internationaler Sicherheit, scheinen zweifelsohne gewinnbringend.

Werner Strombach einer mir bisher weniger bekannten Anmerkungen zu: Reinhard C. Sicht. Außer gewissen Kenntnissen des Meier-Walser, Politscher Realis- Realismus in der Literatur und der bil- mus im Denken und Handeln denden Kunst hatte ich es natürlich – theoriebildende Elemente im vorwiegend mit dem Realismus in der außenpolitischen Werk von Franz Philosophie zu tun, wo er sowohl er- Josef Strauß in POLITISCHE STU- kenntnistheoretisch (als naiver und als DIEN 361 kritischer Realismus) als auch ontolo- gisch (als Universalienrealismus) auftritt.

Ich habe den Artikel von Reinhard C. Einen philosophischen Bezug zeigt Meier-Walser im Heft 361 der POLITI- aber auch – neben dem Hinweis auf SCHEN STUDIEN aufmerksam und mit die Verantwortungsethik – die Bezug- Gewinn gelesen, begegnet mir doch nahme auf Dilthey, wonach der hier neben den interessanten Fakten Mensch erst durch die Geistesge- praktischer Anwendung durch Franz schichte erfahre, was er sei, dem aller- Josef Strauß der Realismusbegriff in dings Kritiker entgegenhalten, daß sol- 124 Im Dialog ches doch nur zu Einzeltypen und ich mich hierbei einer Bemerkung eine Fülle von Standpunkten führe, Einsteins. In einem Brief vom 7.9.44 während ein übergreifender, ganzheit- schreibt er an seinen Freund Max licher Sinn verborgen bleibe. Doch Born: „In unserer wissenschaftlichen während schon Simmel daraufhin das Erwartung haben wir uns zu Antipo- Leben als durch ein Maß und Norm den entwickelt. Du glaubst an den geformtes Phänomen bezeichnet, fin- würfelnden Gott und ich an die volle de ich im Politischen Realismus sehr Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas wichtig den zitierten Hinweis auf „ob- objectiv Seiendem, das ich auf wild jektive Gesetze“, „deren Ursprung in spekulativem Wege zu erhaschen su- der menschlichen Natur liegt“. Abge- che. Ich glaube fest, aber ich hoffe, daß sehen davon, daß das Problem der einer einen mehr realistischen Weg Gesetzmäßigkeit mich philosophisch bzw. eine mehr greifbare Unterlage fin- schon oft beschäftigt hat, erinnere den wird, als es mir gegeben ist.“ Das aktuelle Buch

Werner Link: Die Neuordnung der Welt- als „Weltexekutive“. Wieder andere verbanden mit politik. Grundprobleme globaler Politik an der wachsenden globalen Interdependenz von der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Mün- Volkswirtschaften und Gesellschaftssystemen chen: Verlag C.H. Beck, 1998, 185 S., 19,80 und der ambitionierten Rolle multi- und trans- DM. nationaler nichtstaatlicher Akteure eine Rela- tivierung der nationalstaatlich strukturierten in- Die in den vergangenen Jahren geführte Dis- ternationalen Ordnung und damit der tradi- kussion um die Neuordnung der Weltpolitik war tionellen Paradigmata „inter-nationaler“ Politik. überwiegend geprägt durch den Vergleich aktu- eller Entwicklungen mit den Strukturelementen Die kritische Auseinandersetzung mit derarti- und verhaltenssteuernden Kräften der Phase der gen „Einheitshoffnungen unserer Zeit“ zählt zu „alten“ internationalen Ordnung, die mit den den wichtigsten Motivationen des Kölner Politik- Schlagworten „Nachkriegsordnung“, „Bipola- wissenschaftlers Werner Link, zur Feder zu rität“, „Kalter Krieg“, „Ost-West-Konfrontation“ greifen und die drängendsten Grundprobleme und „Abschreckungssystem“ charakterisiert wird. globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahr- hundert zu skizzieren. Dieses Maßnehmen am Vergangenen reflektier- te die verbreitete Überzeugung, daß die Welt- Die Hauptkritik Links, der als Vertreter der po- politik sich in einer noch nicht abgeschlossenen litikwissenschaftlichen Schule des Neorealismus Übergangsphase befände, in der weder eine ein- u.a. die verhaltenssteuernde Kraft des interna- deutige Polstruktur (uni-, bi- oder tionalen politischen Systems her- multipolar) noch ein überwölben- vorhebt, Staaten nach wie vor für der weltpolitischer Konflikt (wie die wichtigsten Akteure der inter- etwa der Ost-West-Konflikt) oder nationalen Politik hält und Inter- ein klares Interaktionsmuster der essenvertretung als rationales Ziel Großmächte („Gleichgewicht“ oder staatlicher Außenpolitik ansieht, „Konzert“ der Mächte) erkennbar richtet sich gegen unrealistische, seien. illusionäre Zukunftsvisionen be- züglich des neuen Weltsystems im In ihrem Bemühen um die Identi- allgemeinen und gegen überzoge- fizierung von Kernelementen einer ne Erwartungen einer neuen frie- neuen internationalen Ordnung densstiftenden bzw. -erhaltenden verwechselten manche Autoren da- Rolle der Vereinten Nationen im bei mitunter das Wünschbare mit besonderen. dem Machbaren. Die historische Überwindung des konfrontativen, Die Grundthese seiner sowohl für mit der latenten Gefahr eines vernichtenden nu- die öffentliche Diskussion als auch für den Dis- klearen Krieges belasteten Weltsystems, wurde kurs zwischen Institutionalisten und Reali- einhellig begrüßt und – sozusagen automatisch – sten/Neorealisten in der politikwissenschaft- mit der Schaffung einer konfliktärmeren, ko- lichen Fachgemeinde wichtigen Publikation „Die operativen und somit friedlicheren Weltordnung Neuordnung der Weltpolitik“ lautet: „Es ent- verbunden. steht heute eine internationale und interregio- nale Weltordnung, in der regionalistische Arran- Dementsprechend wurde eine „Neue Weltord- gements und Regionalverbände (mit den großen nung“ ausgerufen und die friedensstiftende Wir- Regionalmächten als Kernstaaten) zwischen Ver- kung der gemeinsamen „Weltzivilisation“ apo- einheitlichung und Differenzierung vermitteln – strophiert. Manche Beobachter deuteten die im Prozeß von Macht- und Gegenmachtbildung, Abkehr vom vormals sozusagen obligatorischen im Spannungsfeld von Hegemoniestreben und Gebrauch des Vetos im UNO-Sicherheitsrat als Gleichgewichtspolitik.“ ein neues „Konzert der Mächte“ unter Einschluß Rußlands und Chinas. Andere hofften darauf, Diese These, die Link in seiner Studie mittels daß die insbesondere von Vertretern des Politi- einer multiperspektivischen (herrschaftspoliti- schen Realismus hervorgehobene „Anarchie“ des sche, zivilisatorisch-kulturelle, geo-ökonomische internationalen politischen Systems durch ein und politische Kodeterminanten) Betrachtung neues, zumindest rudimentäres Modell interna- herleitet, verkörpert das Profil eines im Vergleich tionaler Gewaltenteilung ersetzt werden könn- zur internationalen Ordnung der Ost-West-Kon- te: Die UNO als „Weltlegislative“ und die USA, frontation differenzierteren und komplizierteren die einzig verbliebene militärische Supermacht, internationalen Systems. Die Bipolarität der

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 126 Das aktuelle Buch alten Ordnung werde, so Link, nicht durch eine lautenden Erwartungen eines „transnationalen“ ähnlich prägnante neue Polstruktur ersetzt. Weltsystems auch zukünftig eine zentrale Rolle Stattdessen entstünde eine „bewegliche“ Ord- in den internationalen Beziehungen spielen wer- nung, die gekennzeichnet sei durch die gerade- den. zu paradoxe gleichzeitige Existenz gegenläufiger Entwicklungen und widersprüchlicher Struktu- Links Studie besticht durch drei Leistungen: ren internationaler Politik. Erstens überzeugt die Kritik an idealistischen Zukunftskonzeptionen der internationalen Po- So könne angesichts des überragenden mili- litik. Die theoriegestützte und methodisch sau- tärisch-strategischen Potentials der USA von ber aufgebaute Argumentationskette entlarvt einer quasi unipolaren Machtverteilung im ge- etwa überzogene Erwartungen der ordnungs- und genwärtigen Weltsystem gesprochen werden, der sicherheitspolitischen Bedeutung der Vereinten jedoch eine multipolare Struktur gegenüber- Nationen ebenso wie die Hoffnung auf eine bal- stehe, wenn man die ökonomische Dimension dige Überwindung interessengesteuerter Außen- der Weltpolitik zum Maßstab der Polbildung politik als utopistische Illusionen, wie sie nehme. während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts etwa von Vertretern der Schule des „Historischen Ebenso sei seit dem Ende der bipolaren Struktur Optimismus“ vorgetragen wurden. des Weltsystems gleichzeitig mit dem relativen Machtgewinn der einzig verbliebenen militäri- Zweitens bereichert die systemisch-strukturelle, schen Supermacht USA die Tendenz zu ver- „neorealistische“ Perspektive Links die Theorie- stärkter Balance-Politik auf seiten anderer Staa- Diskussion in der Wissenschaftsdisziplin Inter- ten spürbar, die sich nun in erster Linie vom nationale Politik. Die Studie zeigt, daß der von militärischen Potential der Vereinigten Staaten institutionalistischer Seite reklamierte Paradig- bedroht fühlten und der perzipierten Hegemo- menwandel in der Weltpolitik fragwürdig ist und nialstellung der USA mittels u.a. sicherheitspo- daß trotz mannigfaltiger – quantitativer und litischer und ökonomischer Formen der Gleich- qualitativer – Veränderungen des internationa- gewichtsbildung entgegenzuwirken versuchten. len Systems während des vergangenen Jahr- zehnts die Staatenwelt nach wie vor formal „un- Und schließlich träfen die herrschaftspolitischen, hierarchisch“ bzw. „an-archisch“ strukturiert zivilisatorisch-kulturellen, ökonomischen und und infolgedessen das – von Institutionalisten politisch-institutionellen Vereinheitlichungsten- für obsolet befundene – Erklärungsmodell des denzen der Weltpolitik auf das verstärkt auftre- Politischen Realismus/Neorealismus nach wie tende Gegen-Phänomen der Differenzierung, wo- vor applikabel ist. bei gerade die ökonomische Globalisierung als stärkste Einheitstendenz eine radikale Differen- Drittens hebt sich Links Studie von Veröffent- zierung, nämlich Regionalisierung, bewirke. lichungen vergleichbarer Sujets insofern ab, als die mannigfaltigen Veränderungen der Welt- Link glaubt, daß ökonomische und politische politik während des vergangenen Jahrzehnts Formen von Regionalisierung eine struktur- nicht mehr primär im Sinne der Transformati- bildende Rolle in der neuen internationalen Ord- on der alten Ordnung betrachtet werden, son- nung spielen und mißt ihnen daher eine her- dern daß die strukturbildenden Entwicklungen ausragende Bedeutung zu. des weltpolitischen Geschehens synoptisch zu einem Vorstellungsbild einer neuen internatio- Interessanterweise verknüpft er die zunehmen- nalen Ordnung verdichtet werden. de Signifikanz des regionalistischen Ordnungs- prinzips jedoch nicht mit einer abnehmenden Nicht alle, die sich mit internationaler Politik Relevanz des National- bzw. Territorialstaates, befassen, werden den auf der Basis neorealisti- sondern er sieht im Regionalismus gerade im scher Theoriebildung entwickelten Perspektiven Gegenteil eine Bestätigung und Stärkung des für das internationale System der Zukunft zu- Staates. Der politische Regionalismus sei die stimmen. Wer sich aber ein realistisches Vor- „konstruktive Antwort der Nationalstaaten auf stellungsbild von den Strukturen, Kräftefeldern die Herausforderungen der Globalisierung“. So- und Problemen globaler Politik an der Schwelle mit schließt sich der Argumentationskreis wie- zum 21. Jahrhundert verschaffen möchte, kann der mit der Überlegung, daß die Staaten und das Links Überlegungen nicht ignorieren. aus ihren Interaktionen und Machtverhältnis- sen gebildete Staatensystem entgegen anders- Reinhard C. Meier-Walser Buchbesprechungen

Föderalismus zwischen Kontinuität und Reform Aktuelle Literatur zur Theorie und Praxis bundesstaatlicher Ordnungen

Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderati- nahmen im Recht der Bundesrepublik ve System der Bundesrepublik Deutschland. Deutschland und der Europäischen Union. Leske und Budrich Verlag: Opladen, 1998, 472 J.C.B. Mohr-Verlag: Tübingen, 1996, 691 Sei- Seiten, 26,80 DM. ten, 218,– DM.

Ursula Männle (Hrsg.), Föderalismus zwi- Föderalismus hat Konjunktur. In den letzten schen Konsens und Konkurrenz. Tagungs- Jahren hat die Diskussion über den Zustand des und Materialienband zur Fortentwicklung Föderalismus und die Stärkung der Kompeten- des deutschen Föderalismus. Nomos-Ver- zen der Bundesländer wieder an Intensität lagsgesellschaft: Baden-Baden, 1998, 272 Sei- gewonnen. In einer Zeit der sich weiter be- ten, 78,– DM. schleunigenden Integrations- und Zentralisie- rungsprozesse auf europäischer Ebene liegt es Soiree im Bayerischen Landtag. Band 6, auf der Hand, daß die Regierungen der deut- 1998. Herausgegeben vom Bayerischen Land- schen Bundesländer sich ihrerseits als politische tag, Landtagsamt: München, 1998, 52 Seiten, Akteure von eigenem Recht darstellen wollen. kostenlos. Hinzu kommt, daß einige der nach der Wieder- vereinigung und der Neugründung der Länder in Föderalismus – Prinzip und Wirklichkeit. den neuen Bundesländern verdeckten Struktur- Atzelsberger Gespräche 1997. 3 Vorträge, defizite nun auch in einer breiteren Öffentlich- Herausgegeben von Max Vollkommer. Univer- keit unübersehbar geworden sind und erneut sitätsbund Erlangen-Nürnberg e.V.: Erlangen, thematisiert werden. Die Klagen großer Bun- 1998, 63 Seiten, 18,– DM. desländer über manche Behandlung durch den Bund oder die EU oder sogar Klagen vor dem Franz Greß/Ronald Huth, Die Landespar- Bundesverfassungsgericht wie die gegen den Fi- lamente. Gesetzgebungsorgane in den deut- nanzausgleich sind ein beredtes Zeugnis dafür. schen Ländern. Hütig Verlag: Heidelberg, 1998, 146 Seiten, 19,80 DM. Die intensivere Diskussion über den Föderalis- mus spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Rüdiger Görner, Einheit durch Vielfalt. Fö- Literatur wider, die sich in den letzten Jahren deralismus als politische Lebensform. West- ebenfalls verstärkt mit Detailproblemen und deutscher-Verlag: Opladen, 1996, 253 Seiten, übergreifenden Aspekten des deutschen Födera- 46,– DM. lismus beschäftigt hat. Die Standardeinführung über das föderative System der Bundesrepublik Günther Ammon/Matthias Fischer/Thorsten Deutschland des 1996 verstorbenen Münchner Hickmann/Klaus Stemmermann (Hrsg.), Politikwissenschaftlers Heinz Laufer wurde von Föderalismus und Zentralismus: Europas Ursula Münch überarbeitet und 1998 neu her- Zukunft zwischen dem deutschen und dem ausgebracht. Das handliche Taschenbuch bie- französischen Modell. Nomos-Verlagsgesell- tet eine solide Einführung in Geschichte und schaft: Baden-Baden, 1996, 191 Seiten, 8,– DM. Struktur des deutschen Föderalismus und ist in dieser aktualisierten Neuauflage auf dem ge- Kirsten Schmalenbach, Föderalismus und genwärtigen Stand der Diskussion. Nach einem Unitarismus in der Bundesrepublik Deutsch- kurzen Kapitel zum Begriff des Föderalismus land. Die Reform der Grundgesetzes von wird die historische Entwicklung des Föderalis- 1994. Landtag von Nordrhein-Westfalen: Düs- mus in Deutschland sowie dessen Wieder- seldorf, 1998, 302 Seiten, kostenlos. entstehung nach 1945 behandelt. Es folgen Kapitel über Prinzipien und Strukturen der bun- Werner P. Pommerehne/Georg Ress (Her- desstaatlichen Ordnung, der Zusammensetzung ausgeber), Finanzverfassung im Span- und Arbeitsweise des Bundestages sowie über nungsfeld zwischen Zentralstaat und den Bundesrat im politischen Prozeß. Erfreulich Gliedstaaten. Nomos Verlag: Baden-Baden, an dieser problemorientierten Einführung ist, 1996, 161 Seiten, 48,– DM. daß sowohl der Finanzordnung wie auch der Po- litikverflechtung im kooperativen Föderalismus Ulrich Häde, Finanzausgleich. Die Ver- sowie der Rolle der deutschen Länder in der teilung der Aufgaben, Ausgaben und Ein- Europäischen Union jeweils ein eigenes aus-

Politische Studien, Heft 363, 50. Jahrgang, Januar/Februar 1999 128 Buchbesprechungen führliches Kapitel gewidmet ist. Das letzte sowie Ursula Münch). Erfreulich ist, daß neben Kapitel behandelt Möglichkeiten und Grenzen dem Aspekt Föderalismus und Parteien sowie einer Reform des deutschen Bundesstaates. Das Föderalismus und Regionalismus insbesondere nützliche Einführungswerk wird beschlossen mit Fragen des Verhältnisses des deutschen Föde- einem ausführlichen Anhang, der wichtige Texte ralismus im Rahmen der Europäischen Union zu Geschichte und Praxis des Föderalismus in einen breiten Stellenwert einnehmen (siehe die Deutschland enthält. Ausführliche Register am Beiträge von Rudolf Hrbek, Rainer Arnold und Ende des Bandes erhöhen die Benutzbarkeit. Ins- Roland Sturm). Für den Benutzer ist es insbe- gesamt ein fundiert geschriebenes Einführungs- sondere hilfreich, daß über den Tagungsband werk, das Studenten wie politisch Interessierten hinaus zusätzliche Texte, die für das Thema re- uneingeschränkt empfohlen werden kann, das levant sind, abgedruckt werden. So findet sich sich aber auch für fortgeschrittenere Wissen- anschließend eine Dokumentation eines Streit- schaftler als Nachschlagewerk durchaus eignet. gesprächs zwischen dem Bayerischen Minister- präsidenten Edmund Stoiber und Prof. Dr. Carl- In zahlreichen wissenschaftlichen Debatten wird Christian von Weizsäcker vom 5. Februar 1998 gegenwärtig nicht nur eine Bestandsaufnahme im Bonner Wasserwerk. Es folgt eine Regie- des Föderalismus vorgenommen, sondern auch rungserklärung des Bayerischen Ministerpräsi- eine Diskussion um mögliche Reformansätze der denten zum Thema „Föderaler Wettbewerb: föderalistischen Ordnung in Deutschland ge- Deutschlands Stärke – Bayerns Chance“ vom führt. Auch der von Ursula Männle, der frühe- 4. Februar 1998 sowie weitere Materialien und ren Bayerischen Staatsministerin für Bundes- Beiträge von (damaligen) Mitgliedern der Bayeri- angelegenheiten, herausgegebene Band der schen Staatsregierung zu diesem Thema. Aus Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für der Auswahl wird deutlich, welche Schwerpunkte Föderalismusforschung fühlt sich diesem Ziel die Bayerische Staatsregierung dabei setzte: verpflichtet. Das Buch beginnt mit einem ein- Neben einer Rede der Staatsministerin a.D. führenden Kapitel von Ursula Männle über Ursula Männle finden sich Beiträge des da- „Bayern in Deutschland und Europa – Perspek- maligen Finanzministers Erwin Huber, der tiven des Föderalismus auf dem Weg ins 21. Sozialministerin Barbara Stamm, des damali- Jahrhundert”. Der zweite Abschnitt besteht aus gen Kultus- und Wissenschaftsministers Hans Beiträgen eines Kolloquiums über „Föderalis- Zehetmair, des damaligen Leiters der Staats- mus zwischen Konsens und Konkurrenz“. Dar- kanzlei Kurt Faltlhauser (zur Föderalisierung der in versammeln sich Beiträge von Referenten, die Europäischen Union) sowie des damaligen Land- die Herausgeberin im Februar 1998 zu einem wirtschaftsministers Reinhold Bocklet. Mit dieser Kolloquium in der Bayerischen Vertretung in Auswahl läßt sich insbesondere die bayerische Bonn eingeladen hatte. Darunter finden sich Schwerpunktsetzung in dieser Reformdiskussion namhafte Vertreter der deutschen Föderalis- gut nachvollziehen. Der technisch wie inhalt- musforschung, die aus verschiedenen Perspekti- lich hervorragende Eindruck, den dieser Band ven ihre Sicht zum Stand und zur Reformfähig- hinterläßt, wird lediglich leicht getrübt durch keit des deutschen Föderalismus geben. Arthur das Fehlen sowohl einer Bibliographie wie auch Benz kommt in seinem Artikel über die Aufga- eines Autoren-, Personen- oder Stichwortregisters. benverteilung im Bundesstaat zu dem Ergebnis, daß die Länder als dezentrale Ebene auch ohne Zwei der zitierten Autoren, Ursula Münch und Verfassungsreformen an Gewicht gewinnen kön- Hans-Wolfgang Arndt, sind auch in einer Bro- nen, wenn sie die vorhandenen Potentiale der schüre des Bayerischen Landtagsamtes vertre- Dezentralisierung ausschöpfen. Eine gewisse ten, in der drei Abendvortragsveranstaltungen Grundtendenz, wonach die Länder ihre eigenen zum Themenkomplex Föderalismus dokumen- Kompetenzen stärken könnten und sollten, zieht tiert werden. Der dritte Beitrag ist von Heinrich sich auch durch zahlreiche andere Beiträge die- Oberreuter, der sich mit Überlegungen zu einer ses Bandes. Während Wolfgang Arndt dazu auf- Parlaments- und Föderalismusreform befaßt. ruft, den Gedanken immer größerer Vereinheit- Dies ist, wie Johann Böhm, der Präsident des lichung aufzugeben zugunsten der Vorstellung Bayerischen Landtags, in seiner Einleitung deut- von einem Wettbewerbs- und Konkurrenzfö- lich macht, auch Hauptzweck dieser kleinen Do- deralismus, äußert sich skeptisch kumentation. Oberreuter gibt dabei zu beden- über die Realisierung von verfassungsändernden ken, daß die Frage nach Reformen letztlich in Reformen des deutschen Föderalismus. Gleich- die Frage münde, wie auch leistungsschwäche- zeitig wird in weiteren Beiträgen deutlich ge- re Länder zur Befürwortung des Wettbewerbs ge- macht, daß in einzelnen Politikbereichen ins- bracht werden können. Damit werde aber die besondere nach der deutschen Wiedervereinigung Neugliederung des Bundesgebiets thematisiert – der Reformdruck auf den deutschen Föderalis- ein Aspekt, über dessen konkrete Machbarkeit mus durchaus gewachsen ist (wie z.B. bei Die- bei vielen Wissenschaftlern und Politikern ter Blumenwitz und Ute Wachendorfer-Schmidt sicherlich große Zweifel bestehen. Eine ebenfalls Buchbesprechungen 129 interessante Zusammenstellung bietet die vom zehn Kapiteln werden Überlegungen zu Ge- Universitätsbund Erlangen-Nürnberg herausge- schichte und Gegenwart des deutschen Föde- gebene Broschüre, in der drei Vorträge zum Fö- ralismus vor allem unter theoretisch-geistes- deralismus publiziert sind. Neben dem bereits geschichtlichen Aspekten vorgenommen. Den erwähnten Erlanger Politologen Roland Sturm Versuch des Aufzeigens der geistigen Dimension als Autor findet sich ein interessanter Beitrag und des kulturellen Hintergrundes sieht der von Karl-Dieter Grüske über Föderalismus und Autor als Beispiel „ästhetischer Politikbetrach- Finanzausgleich sowie von Jörg-Paul Müller über tung“. Dabei finden sich in den einzelnen Ka- Föderalismus, Subsidiarität und Demokratie. piteln des Buches interessante Abhandlungen Sturms Beitrag ist dabei ein engagiertes Plädoyer, zur theoretischen Grundlegung der Föderalis- den Föderalismus als demokratisches Prinzip musdebatte (wie in den Beiträgen zu Constan- auch im Prozeß der europäischen Einigung zur tin Frantz oder Richard Wagner). Dennoch Geltung kommen zu lassen. Grüskes Beitrag bleibt der Band eher eine Aneinanderreihung über Föderalismus und Finanzausgleich plädiert teilweise interessanter Beiträge, ohne ausreichend für einen Wettbewerb der Regionen und der ein übergreifendes Ganzes zu konstruieren. Da- politökonomischen Systeme, da ein Finanzaus- zu ist auch die knappe Nachbemerkung nicht in gleich nach deutschem Muster auf europäischer der Lage. Eine Einführung in die Theorie des Ebene keineswegs zu finanzieren sei. Müller plä- Föderalismus ist dieser Band nicht – lesenswert diert dafür, die vorhandenen Elemente der Über- sind einzelne Beiträge dennoch. staatlichkeit in Europa anzuerkennen, ohne die Schwächen zu vernachlässigen. Ein weiterer Bereich, der in der Diskussion um den deutschen Föderalismus gelegentlich etwas Ein häufiger Kritikpunkt am deutschen Föde- zu kurz kommt, ist der komparative Aspekt. ralismus der Gegenwart lautet, er habe sich zu Eben diesem verpflichtet sieht sich ein weiterer einem „Exekutivföderalismus“ entwickelt. Der Band der Schriftenreihe des Europäischen Zen- kleine Sammelband von Franz Greß und Ronald trums für Föderalismusforschung in Tübingen, Huth hat sich zur Aufgabe gesetzt, dem (wenn der aus einer Tagung vom Juli 1995 hervorge- auch ohne es direkt zu thematisieren) entgegen- gangen ist. Zwar bildet der Band die gegenwär- zuwirken, indem er die Arbeit der Hauptakteure tige politische Situation nicht mehr in allen Be- im Föderalismus, nämlich die Landespar- reichen aktuell ab, aber die Zusammenstellung lamente, gesondert beleuchtet. Obwohl häufig ist auch jetzt noch lesenswert. Nach einer in- von einer Krise des Landesparlamentarismus ge- teressanten Einführung von Günther Ammon sprochen werde, so die Autoren, habe er im und Michael Hartmeier über Zentralismus und Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Föderalismus folgt ein großes Kapitel, in dem Deutschlands und der europäischen Integration das französische und das deutsche System ver- seine Reformfähigkeit bewiesen. Der Parlamen- glichen werden. Des weiteren folgt ein Kapitel tarismus auf Landesebene, der in fünf Kapiteln zur Föderalismusdiskussion in Südeuropa sowie vorgestellt wird, trage auch Wichtiges zur Ver- ein weiteres zur Föderalismusdiskussion in Mit- ankerung der Demokratie auf allen staatlichen tel- und Osteuropa. Allerdings bietet der Aus- Ebenen in Deutschland bei. In der Tat ist dieser blick von Hans-Albert Steger keine richtige Zu- kleine Sammelband nicht nur nützlich zur er- sammenfassung des Buches; leider fehlt auch sten wissenschaftlichen Orientierung über die eine Bibliographie sowie jegliches Register. Al- Aufgaben der Landesparlamente, sondern erfüllt lerdings machen einige Beiträge zu vergleichen- auch eine wichtige politisch-bildnerische Funk- den Aspekten wie zur Situation in anderen Län- tion. Es ist schon erstaunlich, daß die breiten dern den Band durchaus empfehlenswert. Aufgaben des Landesparlamentarismus in der heutigen wissenschaftlichen und manchmal Die Wiedervereinigung Deutschlands hat sich auch politischen Diskussion zum Föderalismus auch auf den Föderalismus in Deutschland be- so knapp wegkommen. Daher ist dieser Band, kanntlich nicht unerheblich ausgewirkt. Einen der erfreulicherweise auch noch von einer kleinen sehr guten Überblick über die diversen Vor- Bibliographie sowie einem Register beschlossen schläge zur Reform des Föderalismus und der wird, ein sehr lobenswertes Unterfangen. Bundesstaatlichkeit in Deutschland bietet das Buch von Kirsten Schmalenbach, das in der Rei- Ein weiterer Aspekt, der in der politikwissen- he der Schriften des Landtags von Nordrhein- schaftlichen und vor allem juristischen Litera- Westfalen erschienen ist. Nach einem Überblick tur zum Föderalismus oft nur am Rande be- über die Entwicklung des Bund-Länder-Ver- handelt wird, sind die theoretischen Grundlagen hältnisses seit 1949 bietet es einen detaillierten des Föderalismus. Rüdiger Görner hat verschie- Überblick über sämtliche Reformvorschläge, die dene Beiträge zum Föderalismus als politische vor allem in der gemeinsamen Verfassungs- Lebensform, die als Vorträge einzeln gehalten kommission von den verschiedenen Beteiligten wurden, in einem Buch zusammengefaßt. In unterbreitet wurden. Das Kapitel zur Reform der 130 Buchbesprechungen

Finanzverfassung fällt demgegenüber deutlich de, das aus einer Habilitationsschrift an der Uni- knapper aus. Das Buch ist insgesamt sicher kei- versität Würzburg hervorgegangen ist. Nach ei- ne leichte Lektüre für den Laien, aber für den nem wichtigen Einführungskapitel wird in ei- wissenschaftlichen und politischen Fachmann nem umfassenden Abschnitt im Detail der bietet es eine detaillierte Zusammenstellung al- Finanzausgleich in Deutschland erläutert. Im ler zentralen Ansätze der Reformdiskussion in dritten Teil des Buches findet sich eine ebenso den letzten Jahren. Erfreulicherweise werden detaillierte und tiefgründige Analyse des Finan- auch im Anhang noch wichtige Dokumente ab- zausgleichs in der Europäischen Union. Der gedruckt und es finden sich daneben ein Litera- Band wird beschlossen durch eine ausführliche turverzeichnis sowie ein Stichwortverzeichnis Zusammenfassung sowie ein Literatur- und am Ende des Bandes. Die Autorin hält sich mit Stichwortverzeichnis, das keine Wünsche of- eigenen Wertungen weitgehend zurück, aber aus fenläßt. Der Autor beläßt es bei seinem sehr de- der Fülle des präsentierten und ausgewählten taillierten Buch aber nicht bei einer Zustands- Materials ergeben sich mögliche weiterführende beschreibung, sondern prüft die vorhandene Ansätze für Reformen quasi von selbst. Situation an den rechtlichen Vorgaben und schlägt weitere Entwicklungsmöglichkeiten vor, Der Band von Werner Pommerehne und Georg die fast durchweg im Sinne einer Stärkung des Ress legt den Fokus auf zwei sehr interessante Föderalismusgedankens in diesen Prozessen sind. Perspektiven der Föderalismusdiskussion, näm- Er kritisiert z.B. die bisherige Praxis bei der Ver- lich den der Neugestaltung der Finanzverfassung teilung des Umsatzsteueraufkommens als eben- und wiederum einen komparativen Aspekt. Die- so rechtswidrig wie die Kreditaufnahme durch ser Band, der erste einer Reihe des Europainsti- die Europäische Gemeinschaft. Aus diesem tuts der Universität des Saarlandes, bietet nach Buch, das alles dazu hat, ein wissenschaftliches einer kurzen Einführung drei große Kapitel. Im Standardwerk zu werden, werden auch sicher ersten Kapitel zu öffentlicher Ausgabenvertei- diejenigen, die sich gegenwärtig mit der Reform lung, Ausgaben- und Einnahmeverteilung wird der Finanzverfassung in Deutschland sowie der die Situation in der Bundesrepublik, aber auch Neugestaltung der Finanzordnung in der Eu- in Ländern wie Kanada, den Vereinigten Staa- ropäischen Union befassen müssen, nicht vor- ten und Australien behandelt. Das zweite beikommen und wesentliche Anregungen für ih- Kapitel behandelt die Verteilung der Finanzie- re Vorhaben finden. rungslasten und geht neben Deutschland auch Gerhard Hirscher auf die Schweiz ein. Das dritte Kapitel befaßt sich mit Haushaltsnotlagen im föderativen System und behandelt erneut neben der Bun- desrepublik die Schweiz sowie das Verhältnis von EG und nationaler Finanzpolitik. So inter- Pamela McCorduck, Nancy Ramsey: Die essant wie dieser Ansatz ist und so lesenswert Zukunft der Frauen – Szenarien für das 21. einige der Beiträge auch sind, so enttäuschend Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am ist doch, daß der Band im wesentlichen aus Ma- Main 1998, 378 Seiten, 36,– DM. terialien eines Kolloquiums besteht, das bereits im November 1991 gehalten wurde. So ver- In der Zeit des Umbruchs hat der Begriff „Zu- ständlich es ist, daß sich die Herausgabe des kunft“ Hochkonjunktur. Politische Verände- Bandes, wie im Vorwort erläutert, durch den Tod rungen nach dem Ende der vom Kalten Krieg eines der Herausgeber verzögert hat, so wenig vorgegebenen Weltordnung, wirtschaftlicher leuchtet hingegen ein, daß die meisten Beiträge Strukturwandel und der Vormarsch neuartiger offenbar der Entwicklung nach 1991 kaum Kommunikationsmöglichkeiten haben das Ant- mehr angepaßt wurden. In den Bibliographien litz unserer Gesellschaft verändert. Die Frage, der einzelnen Beiträge ist zudem so gut wie kein wie eine Weltgemeinschaft der Zukunft ausse- Hinweis auf Literatur enthalten, die jünger als hen könnte, wird in Politik, Wissenschaft, Wirt- 1991 ist (einige wenige bibliographische Anga- schaft ebenso wie in den Massenmedien eifrig ben datieren aus dem Jahr 1992). In dieser Form diskutiert. hätte man den Sammelband also besser nicht herausgebracht. Dies ist um so bedauerlicher, Doch ist die Zukunft, die uns in Zeitschriften als die Themenfokussierung äußerst interessant und Bestsellern präsentiert wird, stets eine von und zukunftsweisend ist und daher nur zu hof- Männern dominierte. Frauen kommen in den fen bleibt, daß das Thema in der wissenschaft- Werken führender Futurologen kaum oder nur lichen Diskussion erneut aufgegriffen wird. als Nebendarstellerinnen vor. Fundierte Analy- sen der künftigen Entwicklung unserer Gesell- Eine vorbildliche zusammenfassende Darstel- schaft aus Frauensicht gibt es nicht. Wenn lung des Finanzausgleichs in der Bundesrepu- Autorinnen über das Schicksal ihres Geschlechts blik Deutschland bietet das Buch von Ulrich Hä- im kommenden Jahrhundert spekulieren, kom- Buchbesprechungen 131 men sie meist über das Stadium der optimistisch Strukturwandel ereignet sich zuerst in Kalifor- verklärten Hoffnung auf eine Ära der Gleich- nien, dann in den USA und der Rest der Welt berechtigung nicht hinaus. schließt sich dem in der Regel dann an.”, S. 44). Dies ist grundsätzlich erfreulich, jedoch haben Diesem Defizit zu begegnen, haben sich die die Entwürfe künftiger Entwicklungen in Asien, Futurologinnen Pamela McCorduck und Nancy Afrika, Lateinamerika oder im ehemaligen Ramsey zum ehrgeizigen Ziel gemacht. Aus- Jugoslawien eher den Charakter oberflächlicher gangspunkt ihrer Studie über „Die Zukunft der Seitenblicke. Als fundierte Trendanalysen kön- Frauen“ sind Erkenntnisse zur Situation der nen sie nicht bezeichnet werden. Frauen in unserer Gegenwart, als deren Quelle die Autorinnen die UN-Konferenz zu Bevölke- Die Rechtfertigung, mit der die Autorinnen im rungswachstum und Entwicklung im Jahr 1994 Einleitungskapitel ihr Vorgehen verteidigen, be- in Kairo und die Weltfrauenkonferenz in Peking friedigt nicht. Demnach seien die Szenarien be- im Jahr 1995 angeben. Ausgehend von diesen wußt skizzenhaft gehalten, um der Arbeit den Basisdaten entwickeln die beiden Mitarbeite- Charakter „work in progress“ zu verleihen: „Un- rinnen des Global Business Network Emeryville sere [Szenarien] wollen in der Tat nicht mehr (Kalifornien) vier Szenarien, wie die Zukunft der sein als eine an jedermann gerichtete Aufforde- Frauen aussehen könnte. rung, sie an Plastizität, Plausibilität und viel- leicht sogar darin zu übertreffen, daß Wün- Das Prinzip dieser Studie ist einfach und über- schenswertes dabei herauskommt.“ (S. 41) Eine zeugend. Aktuelle Trends zur Situation der Frau- analytisch besser strukturierte Vorgehensweise en werden phantasievoll und dennoch logisch wäre dieser Intention nicht im Weg gestanden. weiterentwickelt und dabei mit unterschiedlichen politischen und ökonomischen Rahmenbedin- Dem oberflächlichen Leser, oder vielmehr der gungen konfrontiert. Das Unterscheidungsmuster oberflächlichen Leserin, die sich von der Lektü- für die Einordnung der vier Szenarien bilden re dieses Buches Denkanstöße erhofft, mag die zwei Orientierungsachsen, von den Autorinnen unwissenschaftliche Vorgehensweise genügen. als „Triebkräfte“ bezeichnet: die Entwicklung Anspruchsvolleren Lesern mißfällt der Verzicht der Weltwirtschaft (Wachstum oder Rezession) auf jegliche Fußnotenangaben sowie die sprach- sowie das Spannungsverhältnis zwischen Indi- liche Qualität des Buches. Auf Fußnoten, die als vidual- und Gruppenrechten. Aus der Kombi- „eher ablenkend als hilfreich“ bezeichnet wer- nation dieser Faktoren entstehen die vier Szen- den, bewußt zu verzichten und den „gewitzten arien „Triumph der Reaktion“ (Dominanz der Leser“ auf die, allzu selektive Bibliographie als Gruppenrechte plus Rezession), „Ein goldenes Quelle der Ideen zu verweisen, wirkt unseriös. Zeitalter der Gleichheit“ (Individualrechte plus Die Datenquellen, die den Ausgangspunkt für Aufschwung), „Zwei Schritte vorwärts, zwei die Szenarien liefern, bleiben verschlossen, es sei Schritte zurück“ (Individualrechte plus Rezes- denn, man macht sich die Mühe, die Literatur- sion) und „Separat – ja, bitte!“ (Gruppenrechte liste im Anhang zu durchforsten, in der alpha- plus Aufschwung). Damit ist jedoch der analy- betisch nach Titel sortierte Zeitschriftenartikel tische Zugriff von McCorduck und Ramsey auf mit nach Autorennamen sortierten Literaturan- die Thematik bereits erschöpft. Einen intellek- gaben vermengt werden. tuell anspruchsvollen Leserkreis dürfte „Die Zu- kunft der Frauen“ enttäuschen. Dies ist um so Insbesondere das Einleitungs- und das Schluß- bedauerlicher, als die Verfasserinnen mit ihrer kapitel weisen sprachliche Mängel auf, deren Studie gesellschaftspolitisches Neuland betreten. Ursache eine unprofessionelle, zum Teil wörtli- Ohne erkennbares Konzept werden in den ein- che Übersetzung aus dem Amerikanischen sein zelnen Szenarien verschiedene Aspekte gestreift, dürfte. Lange Aneinanderreihungen identischer so daß man sich bisweilen des Eindrucks einer Satzbaustrukturen, die teilweise mit Einschüben durchaus interessanten, aber eher oberfläch- überfrachtet werden, wechseln mit fast schon lichen Plauderei, die vom Hundertsten ins burschikos anmutenden umgangssprachlichen Tausendste kommt, nicht erwehren kann. Ar- Formulierungen. Als ein Beispiel sei folgendes beitswelt, Schulbildung, politische Mitsprache, Zitat angeführt: „Die Region [Asien-Pazifik] wä- Geschlechter- und Familienbeziehungen - sämt- re nach diversen Prognosen die führende Wirt- liche Themen, die für die künftige Rolle der schaftsmacht des kommenden Jahrhunderts, Frauen von Belang sind, werden von den Futu- vielleicht sogar kulturell die führende Macht. rologinnen angesprochen, ohne jedoch tiefer aus- Mag sein. Aber wenn das stimmt, dann können geleuchtet zu werden. die Frauen der Welt schon heute einpacken.“(S. 33).

McCorduck und Ramsey beschränken sich bei Die einzelnen Szenarien sind von etwas besse- ihren Szenarien nicht auf das von ihnen als rer sprachlicher Qualität. Bisweilen sind die Nabel der Welt empfundene Kalifornien („Jeder Zukunftsszenarien sogar spannend und anre- 132 Buchbesprechungen gend zu lesen. Immerhin reicht das Kaleidoskop Friedrich Reinhard Schmidt: Zurück der Möglichkeiten von erschreckenden Vorstel- zur Arbeit oder der Mensch im Hamster- lungen wie einer weltweiten Verschleierungs- laufrad, Georg Ohms Verlag Hildesheim, pflicht für Frauen bis zu einem harmonischen Zürich, New York 1998 (ISBN 3-487-10661-2), Miteinander von Männern und Frauen in einer 34,80 DM. fortschrittlichen und wohlhabenden Weltge- meinschaft. Der Mensch im Hamsterlaufrad: Christliche Ge- danken zu einem ganz unchristlichen Thema Die Autorinnen siedeln den Ausgangspunkt ih- rer Betrachtungen im Jahr 2015 an und blicken Mit der Arbeit, der Arbeitslosigkeit und der auf die Entwicklung seit den 90er Jahren unse- Umweltbewahrung beschäftigt sich aus völlig res Jahrhunderts zurück. Einschübe von Le- neuer Sicht Friedrich Reinhard Schmidt. bensberichten fiktiver Frauen lockern die einzelnen Szenarien nicht nur auf, sie tragen Ein bemerkenswertes Buch ist jetzt im Georg auch dazu bei, die möglichen Entwicklungen Olms Verlag Hildesheim erschienen. Friedrich einer Zukunft der Frauen vorstellbarer zu ma- Reinhard Schmidt, der Autor, hat sein zweites chen. Werk mit „Zurück zur Arbeit“ betitelt und ihm den Untertitel „Der Mensch im Hamsterlauf- McCorduck und Ramsey betonen immer wieder rad“ beigegeben. Im Mittelpunkt steht der kom- den Hauptzweck eines Szenarios: „daß es die plexe Bereich der Arbeit und damit eng verbun- Gegenwart erhellt, nicht notwendig aber, daß es den das Problem der Arbeitslosigkeit. Es ist ein die Zukunft vorhersagt“ (S. 335). Echte Pro- aktuelles Thema; allen Erwartungen zum Trotz phezeiungen über die Zukunft wagen die beiden nähert sich der Verfasser diesem Aspekt nicht Futurologinnen nur in ihrer Aussage, daß die auf herkömmliche Art und Weise. Weder volks- Zukunft der Frauen im Rahmen dessen liegen wirtschaftlich noch sozialökonomisch packt werde, was auf der Weltfrauenkonferenz in Pe- Schmidt, von berufswegen Rektor der sächsi- king zur Sprache gekommen sei. schen Hochschule für Technik und Wirtschaft Mittweida, ausgebildeter Orgelbauer und pro- Da alle vier Szenarien von den gleichen, real ge- movierter Mikroelektronikingenieur, das brisante gebenen Voraussetzungen ausgehen, sind letzt- Thema an, sondern er analysiert philosophisch, endlich alle vier Entwicklungen im Spektrum durchdrungen von christlichen Überlegungen, vom schlimmstenfalls „Triumph der Reaktion“ die Problematik, ohne jedoch explizit permanent bis zum im Idealfall „Goldenen Zeitalter der christliches Gedankengut im Sinne von Theolo- Gleichheit“ denkbar. Am wahrscheinlichsten er- gen (die jedoch zu seinen intensiven Gesprächs- scheint aber ein Einpendeln in der Mitte zwi- partnern zählen) zu zitieren. schen diesen beiden Extremen. In einem Gespräch mit Schmidt erläutert er, daß Die Grundintention, die Zukunft unserer Welt- er mit diesem zweiten Werk (sein erstes Buch gemeinschaft endlich einmal aus der bislang ver- aus dem Jahr 1994 trägt den provokanten Titel nachlässigten Frauenperspektive zu betrachten, „Der sanfte Menschheitsuntergang oder: Der erfüllt „Die Zukunft unter Frauen”. Und auch Trieb, über den Karl Marx stürzte“) versucht der zweiten Zielsetzung der Autorinnen kön- habe darzustellen, daß es eine Gesetzmäßigkeit nen sich aufmerksame Leserinnen nicht ent- gebe. Nicht die Erde werde untergehen, sondern ziehen. „unsere Welt“. Auch das menschliche Leben sei endlich. Man könne sich nicht von der Arbeit Zwangsläufig trifft man beim Lesen der Zu- lösen, doch müsse man sich bewußt in die kunftsentwürfe seine eigene Wahl über das Schöpfung durch Arbeit einbringen. Der Autor erstrebenswerteste Szenario und beginnt sich dar- durfte zu DDR-Zeiten aufgrund seiner Gesin- über Gedanken zu machen, wie dies zu rea- nung zunächst nicht einmal das Abitur machen, lisieren wäre. Um so bedauerlicher sind daher und es ist nicht zufällig, daß er sich durch sei- die aufgezählten Mängel dieser Studie. ne persönliche Vita mehr als manch anderer dem elementaren Thema der Arbeitslosigkeit Dennoch dürfte eine wohlwollende Aufnahme ganz bewußt als Christ nähert. der Ideen von Ramsey und McCorduck in eman- zipatorischen Frauenzirkeln diesem Werk sicher Verbindung von Theorie und Praxis sein. Um aber in Wissenschaft und Politik eine fundierte Diskussion über die Zukunft der Frau- Dem Mittweidaer Prinzip ist der 61jährige Wis- en zu initiieren, fehlt es dieser Studie bedauer- senschaftler auch in seinem Buch treu geblieben. licherweise an analytischem Tiefgang. Sowohl das altehrwürdige Technikum als auch die nach der Wende neu gegründete Hochschule, Susanne Luther seit 1998 „University of Applied Sciences“, ver- Buchbesprechungen 133 einen in beispielloser Weise Theorie und Praxis zwischen „stupider Knochenarbeit, totaler Inte- und dies spiegelt sich auch in „Zurück zur Ar- gration in Maschinentakte, physisch schädi- beit“ wider. Schmidt will keinen Keil zwischen genden Arbeiten mit giftigen Dämpfen, Lärm- Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Zeiten hoher und Umweltbelastung einerseits und dem un- Massenarbeitslosigkeit treiben. Im Gegenteil, begrenzten Aufenthalt im Hamsterlaufrad an- Vernunft und Aufklärung, die Achtung der Na- dererseits“. tur und die Einsicht in Notwendigkeiten sind seine visionäre Devise. Eindringlich schildert der „Arbeit ist Naturbewahrung“ Autor, wie bequem die Welt doch geworden sei. Für alles und jedes hat sich der Mensch techni- Der Fertigungsprozeß müsse so gestaltet werden, sche Hilfen erfunden, so daß die harte körper- daß der Mensch auf menschliche Weise einge- liche Arbeit, die noch „im Schweiße seines An- bunden werde. Nicht alles, was automatisierbar gesichtes“ verrichtet werden mußte, für fast jede sei, dürfe automatisiert werden, appelliert der Tätigkeit im ausgehenden 20. Jahrhundert passé Autor, denn die von der Arbeit sogenannten geworden ist. Zugleich hat sich der Mensch „Freigesetzten“, denen Maschinen oder Com- Beschäftigungsfelder geschaffen, zumal für die puter die Arbeit weggenommen haben, hätten Freizeit, um abermals im Hamsterlaufrad zu ein Recht auf Arbeit – und unter physikalischen treten. Beispiel: Bodybuilding-Center, wo erneut Gesichtspunkten eine Pflicht zur Arbeit. Arbeit, Fremdenergie benötigt wird. Schmidt verteufelt betont Professor Friedrich Reinhard Schmidt, sei diese Entwicklung nicht, er rät nicht zu blanker mehr als Brotgewinn, Arbeit sei Naturbe- Askese, doch stellt er die Frage, warum die Men- wahrung. schen „nicht wieder Achtung vor jedem Watt menschlicher Arbeit bekommen, das so einge- Gabriele Goderbauer-Marchner setzt wird, daß der Erfolg und die Freude über das geschaffene Naturprodukt größer sind als die Freude im Hamsterlaufrad?“ Elementar ist laut Schmidt, der sich vielen Themenfeldern physikalisch nähert, die Frage, ob „die gegen- Sven Olaf Berggötz: Nahostpolitik in der wärtige Biosphäre den zusätzlichen durch Men- Ära Adenauer: Möglichkeiten und Grenzen schen verursachten Energieeintrag verarbeiten 1949 – 1963, Droste Verlag GmbH, Düsseldorf kann, ohne daß sie schneller zu ihrem Ende“ ge- 1998, 78,– DM. lange. Die Nahostpolitik der jungen Bonner Republik Moderne Pyramiden bauen stand schon seit Mitte der 80er Jahre – seit jenem Zeitpunkt also, seitdem die für dieses Pyramiden hatten die alten Ägypter gebaut. Heu- Thema relevanten Quellen der Wissenschaft zu- te könnte die Menschheit symbolisch Pyramiden gängig sind – im Mittelpunkt des Interesses erbauen, so Schmidt, die nicht von Diktatoren mehrerer geschichtswissenschaftlicher und zu- forciert würden, sondern angetrieben seien von vor auch schon politikwissenschaftlicher Unter- der somatischen Fähigkeit zu Muskel- und suchungen. Allen diesen Studien ist nach Ein- geistig-formaler Arbeit. Das Arbeitsvermögen schätzung von Sven Olaf Berggötz von der müsse in dem von der Natur vorgegebenen Sin- Universität Bonn jedoch das Manko gemein, daß ne verwendet werden: „Das wäre Arbeitsdienst sie zu dem Schluß kommen, daß die Bundesre- für die Natur“, proklamiert der Autor. Denn: Ziel gierung unter „keine eigen- könne es nicht sein, die Befreiung von der Ar- ständige Nahostpolitik“ betrieben habe. Alle beit zu suchen, sondern der Mensch solle die Aktivitäten der deutschen Außenpolitik seien Schönheit der Arbeit wiederentdecken, Arbeit, bislang nur im Zusammenhang mit der Hall- die nicht allein geistig-schöpferisch sei, sondern stein-Doktrin und dem Alleinvertretungsan- „allseitig“. Arbeit könnte so wieder in das Zen- spruch der Bundesrepublik und damit nur als trum der Gesellschaft einziehen, sie „würde zum „Reflexe“ auf den Kalten Krieg in Europa und Gerüst der Gesellschaft, das die Schwachen die Deutsche Frage gesehen worden. Andere Ar- stützt, den potentiellen Täter und sein Opfer vor beiten wiederum seien zu sehr auf die deutsch- der Kriminalität bewahrt und dem Starken ge- israelischen Beziehungen in jenem Zeitraum nügend Freiraum im Wettbewerb beläßt.“ fixiert, um etwa dem wirklichen Gewicht des sich gerade in dieser Ära wieder intensivieren- Nicht wie im 19. Jahrhundert, wo die Maschi- den Verhältnisses der Bundesrepublik zur ara- nen von den Webern, denen die Geräte die bischen Welt, zum Iran und zur Türkei gerecht Arbeit weggenommen hatten, gestürmt worden werden zu können. waren, sollen heute die Computer gestürmt wer- den. Doch ist nach der Conclusio Schmidts die Berggötz hingegen ist der Überzeugung, daß die Menschheit aufgerufen, den Mittelweg zu finden sich seit Beginn der 50er Jahre intensivierenden 134 Buchbesprechungen

Handelsbeziehungen Deutschlands zu den Staa- Wenn im Rahmen der Darstellungen der Inter- ten des Nahen Ostens keineswegs nur „unpoli- aktionen zwischen Politik und Wirtschaft dann tischer“ Natur, sondern im Gegenteil der Motor allerdings so weit gegangen wird, Lobbyisten wie einer „aktiven“ Bonner Nahostpolitik gewesen Berthold Beitz von der Krupp AG gar als „Ent- seien. Getreu dem von ihm an mehreren Stellen scheidungsträger“ zu bezeichnen, so wird eine zitierten Motto „Die Flagge folgt dem Handel“ – vom Autor zweifelsohne durchaus nicht in die- hätten gerade die Erwartungshaltung der Wirt- sem Sinne gewollte – Nähe zu doktrinären Be- schaft bezüglich der Ausbaufähigkeit des trachtungsweisen altbekannter Art erreicht, die Handels mit Ländern wie Ägypten und ihre Ein- die politischen Institutionen eines Landes nur schätzung der Entwicklungsfähigkeit der orien- als im Sinne der Wirtschaft agierende Substitute talischen Märkte und Volkswirtschaften die Po- betrachtet. litik in Bonn dazu veranlaßt, die deutsche Wirtschaftsoffensive im Vorderen Orient mit Letztlich kann Berggötz so auch den von ihm flankierenden Maßnahmen zu unterstützen. So selbst aufgezeigten Widerspruch nicht wirklich habe letztlich die Wirtschaft dafür gesorgt, daß auflösen und schlüssig erklären, warum die die deutsche Politik nach 1950 in der Region „westdeutsche Nahost-Lobby“ das Wiedergut- wieder Fuß fassen konnte, wobei sowohl den machungsabkommen mit Israel, gegen das sie Unternehmen wie auch der Bonner Diplomatie so heftig protestiert hatte, weil es den Interessen gewisse „personelle und ideelle Kontinuitäten“ der in den arabischen Ländern tätigen Unter- zugute kamen. Im Nahen Osten habe sich, so nehmen schade, nicht – wie sie es eigentlich der Tenor der Arbeit, die deutsche Außenpolitik wollte - verhindern konnte. Der Hinweis auf ein zudem von ihrer Rolle als Juniorpartner der ehe- fast zeitgleich zum Abschluß des Israel-Vertra- maligen Siegermächte emanzipieren können und ges in Kairo von deutscher Seite der ägyptischen eine für den gesamten Westen wichtige Rolle bei Regierung vorgelegtes günstiges Angebot für das der Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses Assuan-Projekt, mit dem die Verärgerung Nas- spielen können. Mit ihrem „guten Ruf“ dort sers über diesen Vertrag abgemildert werden konnte sie im Gegensatz zu den alten, diskredi- konnte, zeigt durchaus, wie hilfreich die Akti- tierten Kolonialmächten Großbritannien und vitäten deutscher Firmen für die Bonner Außen- Frankreich einen für die gesamte freie Welt nütz- politik sein konnten. Doch war hier die Wirt- lichen Einfluß ausüben. schaft der Politik nützlich und nicht umgekehrt. So bleibt auch dem Autor hier nur der Hinweis Die Studie, 1997 als Dissertation an der Rhei- auf die vielen „Alleingänge“ des Kanzlers, der nischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sich über die Bedenken der Industrie und auch vorgelegt, verwendet äußerste Sorgfalt auf die des Auswärtigen Amtes einfach hinwegsetzte. Beweisführung zur Untermauerung der ihr zu- Der Christdemokrat Konrad Adenauer entschied grunde liegenden Thesen. So wird ein um- in der Frage der Wiedergutmachung einzig und fassendes Bild des politisch-institutionellen allein nach moralischen Gesichtspunkten, was Rahmens der außenpolitischen Entscheidungs- aber in diesem Punkt mit aller Deutlichkeit findungsprozesse in Bonn gezeichnet, vom Mit- zeigte, daß hier nicht die Flagge dem Handel und oft auch Gegeneinander von Auswärtigem folgte. Amt und Bundeskanzleramt und vom Wirken der einzelnen Referate. Auf dieser Basis wird der Die von Berggötz angeführten Dokumente bele- Versuch unternommen, eine Gewichtung der ein- gen, wie sehr sich Konrad Adenauer auf deut- zelnen Entscheidungsträger auf politischer Ebe- sche Industrielle und deren Manager verlassen ne durchzuführen. Sodann wird ein komplexes konnte, wenn es darum ging, deutsche und – wie Raster vom Ineinandergreifen der politischen und im Buch zurecht betont wird – damit auch ge- wirtschaftlichen Ebenen dargeboten und das Bild samtwestliche Interessen zu wahren. Doch daß eines regelrechten Lobbyismus der Vertreter be- das am Beginn der 60er Jahre aufgrund unerfüllt sonders der deutschen Exportindustrie entwor- gebliebener Erwartungen bezüglich der Lukra- fen. Eine Fülle von Quellenmaterialien wurde tivität des 'Zukunftsmarktes' Naher Osten nach- von Berggötz für seine Untersuchung herange- lassende Interesse der deutschen Wirtschaft an zogen: Der Bogen spannt sich hier von den dieser Region dann erst die Aufnahme diplo- Akten des Auswärtigen Amtes, des Bundeswirt- matischer Beziehungen zwischen Bonn und Tel schaftsministeriums und des Bundeskanzler- Aviv im Jahre 1965 erlaubt haben soll, bleibt amtes in Deutschland über die des State De- eine gewagte These. Dies zumindest vor dem partment und des Weißen Hauses in den USA Hintergrund der ja auch in der vorliegenden Stu- bis hin zu den Beständen des Foreign Office die belegten Haltung der Westmächte, die Bonn im Public Record Office in London, ergänzt vor einem Botschafteraustausch mit dem jüdi- durch eine große Anzahl von Nachlässen, um schen Staat wiederholt gewarnt hatten, weil sie hier nur die umfassendsten Archivbestände zu selbst um die Rolle ihres „Statthalters“ in der nennen. arabischen Welt fürchteten. Und auch der Ver- Buchbesprechungen 135 fasser spricht daher von jenem „Gordischen Kno- schon mehrmals die aufrechte Haltung Ade- ten“, in dem sich die Bonner Politik dann unter nauers, der sich diesem Ansinnen Eisenhowers der Kanzlerschaft von verfangen entschieden widersetzte, was ebenfalls die ge- hatte, weil die Konstruktion jener „Statthalter- nannten Dokumente aus den National Archives rolle“ und die mit ihr verbundenen Wider- belegen. sprüchlichkeiten – Aufrechterhaltung der Bezie- hungen auch zu Staaten wie Ägypten nach Überhaupt entsteht in Abschnitt C Kapitel III außen hin einerseits und Waffenlieferungen an des Buches („A basic turning point“: Bonn und Israel im Geheimen andererseits – nach dem Be- die Suez-Krise des Jahres 1956“) der Eindruck, kanntwerden der Waffentransfers in sich zu- als seien hier bislang erschienene wissenschaft- sammengebrochen war. Erhards Schritt war liche Abhandlungen zu diesem Themenbereich dann vielmehr ein Befreiungsschlag, mit dem mehrmals außer Acht gelassen worden. Dies die Bonner Nahostpolitik wieder jene Eigen- irritiert um so mehr, als bei der Heranziehung ständigkeit zurückzugewinnen versuchte, die sie mehrerer Akten des Auswärtigen Amtes, die unter Konrad Adenauer besessen hatte. auch von anderen Autoren bereits bearbeitet worden waren, der Hinweis auf die entspre- Als Beispiele für eben diese Eigenständigkeit der chende Literatur unterbleibt, auch wenn die aus Orientpolitik unter Adenauer und deren Versu- dieser Quellenarbeit gezogenen Rückschlüsse an che, auf die wichtigsten Staaten der Region wirt- einigen Stellen durchaus identisch mit früher schaftlich und politisch „Einfluß“ zu nehmen, schon verfaßten Resümees sind und damit führt der Autor dann die beiden bedeutendsten durchaus keine wissenschaftliche ’Neuigkeiten’ Nahost-Aktivitäten deutscher Unternehmen im mehr darstellen. Untersuchungszeitraum an, die in Ägypten der Gewinnung von Aufträgen zur Errichtung des Diese Feststellung muß leider auch für die Aus- Assuan-Staudamms und im Iran zu der des Az- führungen über die deutsch-israelischen Bezie- na-Eisenhüttenwerks galten. Konkret werden hier hungen gelten. Allzuselten kann sich der Autor die Mittel aufgezeigt, mit denen die Bundesre- in den betreffenden Kapiteln zu einer Bezug- gierung die Bemühungen der betreffenden Kon- nahme auf die für dieses Thema grundlegenden sortien unterstützte (Hermes-Kredite z.B.) und Arbeiten von Michael Wolffsohn durchringen, welche Hoffnungen sich mit diesen Projekten für obwohl dessen wissenschaftliche Erkenntnisse die deutsche Politik verbanden. Hoffnungen, an an fast allen diesbezüglichen Stellen auch ohne denen man trotz US-amerikanischer Bedenken entsprechende Anmerkungen durchschimmern. festhielt, weil man in Bonn anders als in Wa- Interessant hingegen ist die bewußte Abgren- shington davon überzeugt war, auf dem Wege zung von allen bislang erschienenen Darstel- der Wirtschaftshilfe mäßigend auf Nasser ein- lungen der Arbeit und der Person des Leiters des wirken zu können. Nahostreferats des Auswärtigen Amtes, Her- mann Voigt. Diese in der Literatur umstrittene Bei all den Bemühungen, zu beweisen, wie sehr Persönlichkeit wird von Berggötz vor dem Vor- die Nahostpolitik der Bundesrepublik in den 50er wurf der antiisraelischen Einstellung in Schutz Jahren schon auf eigenen Beinen stand, ver- genommen und dies mit dem Hinweis darauf, wundert es, daß Berggötz genau jenes Beispiel, daß auch in den Außenministerien anderer Län- das dem Leser am deutlichsten den Willen Kon- der – wie gerade auch in den USA – Fachleute rad Adenauers zu einer unabhängigen Linie vor schon aufgrund der ihnen gestellten Aufgabe, Augen hätte führen können, von ihm aufgrund für die Wahrung der Interessen ihrer eigenen Na- der Quellenlage als nicht beweisbar abgetan tion im Ausland sorgen zu müssen, eine gewis- wird. Im Gegensatz zu dieser Behauptung aber se Affinität zu ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld finden sich in den „Papieren“ von John Foster entwickeln. Die mitunter harsch ausfallende Kri- Dulles in der sogenannten „White House Cor- tik mancher jüdischer Autoren an Voigt jedoch respondence“ aber sehr wohl ganz konkrete Hin- mit dem Hinweis auf deren „subjektive Befan- weise darauf, daß die Eisenhower-Administra- genheit“ abzutun, erscheint diesem Thema aber tion im Verlauf der Diskussion um den auch von unangemessen. Auch der Einwand, Wolffsohn Washington gewünschten Rückzug der israeli- sei bei seinen Nachforschungen eine „Ver- schen Truppen nach dem Suez-Feldzug von wechslung“ unterlaufen, mag kaum überzeugen, 1956 sehr wohl gedachte, Druck auf die deut- richtet sich dessen Kritik doch in erster Linie sche Regierung auszuüben, damit diese ihre Wie- nicht auf eine etwaige nationalsozialistische Vor- dergutmachungszahlungen an Israel vorüberge- belastung Voigts, sondern auf dessen konkrete hend einstelle. Die entsprechenden Quellen Arbeit im AA. Zudem hat sich, wie ein gerade wurden auch schon in der ersten Hälfte der 90er in der vorliegenden Studie angeführtes Do- Jahre wissenschaftlich aufgearbeitet und dies ge- kument beweist, Adenauer gegen die Einmi- rade in Studien, die vom Verfasser abschätzend schungsversuche „dieses Herrn“ verwahrt. Auch beurteilt werden. Erwähnt wurde dabei auch zeigen die Ausführungen an mehreren Stellen 136 Buchbesprechungen selbst, wie sehr die Gestaltung der Adenauer- republik zu wünschen übrig, ohne nach den schen Nahostpolitik – z.B. unter Zuhilfenahme Gründen zu fragen. Nur in wenigen Abhand- Herbert Blankenhorns, der von 1951 bis 1955 lungen würden das Kuratorium und Wilhelm die politische Abteilung des AA leitete – an dem Wolfgang Schütz erwähnt. Zu den Hauptquel- vom Verfasser als „operativem Zentrum“ be- len der Arbeit zählen die im Bundesarchiv zeichneten Referat Voigts schlicht vorbeiging. Koblenz lagernden Akten des Kuratoriums, die Meyer bis einschließlich 1972 einsehen durfte. Somit bleibt - was auch der Autor konzidiert – Hingegen gilt für die ebenfalls dort befindlichen Konrad Adenauer als die Persönlichkeit, die die Bestände des Bundeskanzleramts und des Bun- deutsche Außenpolitik noch bis zum Ende der desministeriums für gesamtdeutsche Fragen ei- 50er Jahre und dies auch nach Abgabe des ne Sperrfrist von 30 Jahren. Außenministeriums maßgeblich gestaltet und mitgestaltet hat. Der Versuch von Berggötz, Darüber hinaus hat er eine ganze Reihe von die Leistung Adenauers, die Bundesrepublik Nachlässen – von Jacob Kaiser, Arno Scholz, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wie- , Johann Baptist Gradl, Hans- der zu einer auf dem internationalen Parkett Joachim von Merkatz und – her- selbständig agierenden Kraft gemacht zu haben, angezogen. anhand einer Fallstudie der – „aktiven“ – Bon- ner Nahostpolitik aufzuzeigen und damit die Nach einer ausführlichen Darstellung der Grün- Verdienste des ersten Bundeskanzlers zu würdi- dungsgeschichte des Kuratoriums geht Meyer gen, ist in seiner Gesamtheit betrachtet daher chronologisch vor, indem er zwischen der An- auch als geglückt zu betrachten. fangsphase 1954 – 1958, der Berlin-Krise (1958 – 1963) und der „Phase der Umorientierung“ Peter Ludwig Münch (1963 – 1967) unterscheidet. In seinem „Aus- blick“ widmet er sich kurz der Zeit von 1968 bis 1972, um vor allem Schütz' Vorlagen für die so- zial-liberale Ostpolitik darzulegen.

Christoph Meyer: Die deutschlandpolitische Als die CDU/CSU-Opposition am 24. April Doppelstrategie. Wilhelm Wolfgang Schütz 1972 ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen und das Kuratorium Unteilbares Deutsch- Bundeskanzler Brandt einbrachte, schrieb Schütz land (1954 – 1972). Olzog Verlag, Landsberg an den Kanzler, er könne „eine politische Ab- am Lech 1997, XI, 490 Seiten, 16seitiger Bild- stinenz in Auseinandersetzungen, die klarer Stel- teil, DM 68,–. lungnahme bedürfen“, nicht mehr verantwor- ten. Er fügte hinzu, daß dies seinen Abschied Dies ist die zweite umfangreiche Studie, die über von der Spitze des Kuratoriums bedeute. Bis zur die Entstehung, Entwicklung und vor allem das Reorganisation der Kuratoriums-Spitze führte Wirken Wilhelm Wolfgang Schütz informiert, Schütz interemistisch bis Ende 1973 die Ge- der von 1954 bis 1972 als Geschäftsführender schäfte weiter, das Kuratorium gab sich ein Ge- Vorsitzender des Kuratoriums Unteilbares schäftsführendes Präsidium aus drei Parteipoli- Deutschland tätig war. Im Gegensatz zu Leo tikern unter dem Vorsitz von Johann Baptist Ferdinand Kreuz, der 1979 seine philosophische Gradl. Dissertation an der Universität Bonn mit dem Titel „Das Kuratorium Unteilbares Deutschland Schütz blieb der Organisation durch die Her- - Untersuchungen zu einer deutschlandpolitisch ausgabe der Zeitschrift „Politik und Kultur“ und tätigen Institution“ verfaßt hat, konnte Meyer die Leitung der Wissenschaftlichen Arbeitskreise auf einer breiteren Quellenbasis arbeiten, da ihm weiter eng verbunden. Schütz auch seine Privatunterlagen zur Verfü- gung gestellt hat. Informationen hat er auch bei Auch wenn Christoph Meyer wichtige Ent- ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wicklungslinien des Kuratoriums Unteilbares des Kuratoriums Unteilbares Deutschland ein- Deutschland verdeutlicht und umfangreiches geholt. Quellenmaterial herangezogen hat, dürfen einige beachtliche Schwächen nicht übersehen werden. Neben den öffentlichkeitswirksamen Aktionen So ist die Darstellung der „deutschen Frage“ ab möchte Meyer die „spezifische Rolle“ des Kura- 1945 und vor allem in der Adenauer-Ära weder toriums in der bundesrepublikanischen Politik gerecht noch zutreffend noch auf dem Stand der herausarbeiten. Verdienstvollerweise hat er Ak- Forschung. ten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit geprüft, um das Ergebnis als „enttäuschend“ zu Jacob Kaisers „Brücken“-Konzept, dem auch bezeichnen. Nach Ansicht Meyers läßt die For- Schütz zuneigte, war angesichts der deutsch- schungslage zum Thema in der alten Bundes- landpolitischen Ziele Stalins unrealistisch, und Buchbesprechungen 137 aus den inzwischen ausgewerteten sowjetischen Der Bayerische Senat. Biographisch-stati- Archiven geht klar hervor, daß der Kreml mit stisches Handbuch 1947 – 1997. Bearbei- seinen Noten 1952 keine Wiedervereinigung ei- tet von Helga Schmöger. Mit Beiträgen von nes freien und demokratischen Deutschland Josef Anker, Norbert Engel, Karl-Ulrich Gel- ernsthaft angestrebt hat. berg, Wilhelm Mößle und Sabine Rehm (Handbücher zur Geschichte des Parla- Verfehlt ist es auch, den großen Parteien, die im mentarismus und der politischen Parteien, Parlamentarischen Rat das Grundgesetz aus- Band 10), Droste Verlag, Düsseldorf 1998. gearbeitet haben, einen „vehementen Antikom- Geb., 429 S., 35 Abbildungen, 78,– DM. munismus“ vorzuwerfen. Es war einzig und allein Stalins Politik der Expansion und der Bol- Nach dem 8. Februar 1998 war vom Bayeri- schewisierung der Länder des späteren Ostblocks, schen Senat im wesentlichen nur noch in drei, die ab 1947, mit Beginn des Kalten Krieges, freilich wesentlichen, Punkten die Rede. Erstens: zum berechtigten Antikommunismus auf west- War das Volksbegehren zur Abschaffung des licher Seite geführt hat. Verfassungsorgans Senat („Schlanker Staat – oh- ne Senat“) überhaupt verfassungsgemäß? Zwei- Unkritisch referiert Meyer die politischen Vor- tens: Wenn ja, welches Quorum hätte erreicht stellungen Schütz', den Hans-Peter Schwarz als werden müssen, um den Senat abzuschaffen? „eine Art Manager der deutschen Wiederverei- Und drittens: Kann das überwiegend negative nigungs-Illusionen“ apostrophiert hat. In den Votum der damals an der Abstimmung Teil- sechziger Jahren überwogen in der bundesdeut- nehmenden, wenn diese nicht verfassungsgemäß schen Publizistik jene Stimmen, die glaubten, war, gegenstandslos werden und der abgeschafft mit mehr Aktionismus, Dynamik und Phanta- geglaubte Senat weiter existieren? sie könne Bonn in Anlehnung an Egon Bahrs Formel „Wandel durch Annäherung“ die inner- Die Tatsache, daß derart grundlegende Frage- deutsche Szenerie grundlegend ändern. stellungen erst nach dem 8. Februar 1998, dem Tag des Volksbegehrens über die Abschaffung Beispielhaft für solche Vorstellungen waren die des Senats, mit dem nötigen Nachdruck gestellt von Schütz bereits in den fünfziger und verstärkt wurden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die danach unermüdlich produzierten und von ei- beinahe allseitige Leichtfertigkeit, mit der die nem beachtlichen Teil der überregionalen Pres- politische Sachdebatte über dieses speziell bayeri- se wohlwollend aufgenommenen Deutschland- sche Verfassungsorgan geführt wurde. Die Kom- Pläne. Eine nüchterne Prüfung der sowjetischen mission für die Geschichte des Parlamentaris- Interessenlage hingegen mußte damals und spä- mus und der politischen Parteien (Bonn) hat aus ter zu dem Ergebnis führen, daß die sowjetische Anlaß des 50-Jahr-Jubiläums des Bayerischen Führung weder zu einer Freigabe noch einer in- Senats ein Handbuch vorgelegt, daß seine Ge- neren Liberalisierung der SBZ/DDR bereit war. schichte und Bedeutung herausstellt und – ge- wollt oder ungewollt – einen eindrucksvollen Die interessanteste Phase der Entwicklung des Kontrapunkt zur aktuellen Diskussion setzt. Der Kuratoriums Unteilbares Deutschland, die Jahre Präsident der Kommission, Rudolf Morsey, be- ab Herbst 1969, also mit dem Beginn der richtet im Vorwort, die Bayerische Zweite Kam- „neuen Ost- und Deutschland-Politik“ der SPD/ mer habe bereits 1996 ihre Absicht bekundet, FDP-Bundesregierung, bis Ende 1972, bis zur zu ihrem 50. „Geburtstag“ einen Band zu Unterzeichnung des Grundlagenvertrags behan- publizieren. In einem Zeitraum von weniger als delt Meyer viel zu knapp, da seine Darstellung einem Jahr entstand ein Handbuch, das dem ho- nahezu ausschließlich auf Wilhelm Wolfgang hen Standard der vorangegangenen Handbücher Schütz fixiert ist. Damals wurde auf den Jah- der Kommission voll entspricht und einen wich- restagungen und teilweise auch in den Arbeits- tigen Beitrag sowohl zur Geschichte des Parla- kreisen des Kuratoriums hart und kontrovers dis- mentarismus als auch des Föderalismus leistet. kutiert. Es war vornehmlich das Verdienst des CDU-Bundestagsabgeordneten Gradl, sicherge- Unter der koordinierenden Leitung von Helga stellt zu haben, daß dieses Diskussionsforum Schmöger, der langjährigen Chefarchivarin des seinen pluralistischen Auftrag im Auge behielt. Senatsamtes, und redaktionell betreut von Mar- tin Schumacher, dem Generalsekretär der Kom- Auch hätte Meyer die von Schütz allein redigierte mission, wurde der Band in fünf Teile unter- Zeitschrift „Politik und Kultur“ darauf hin prü- gliedert. Im ersten Teil sind vier monographische fen sollen, welche Rolle sie in den Debatten um Aufsätze zur Geschichte des Senats versammelt. die „richtige“ Deutschland-Politik seinerzeit ge- Wilhelm Mößle versucht eine Art „Positionsbe- spielt hat. stimmung“, wo der Senat zwischen Landtag und Staatsrat angesiedelt ist. Im Verfassungsrecht Jens Hacker der deutschen Länder nimmt er eine einzigarti- 138 Buchbesprechungen ge Stellung ein, weil nur in der Verfassung des schulen) zusammengesetzte Kammer sollte Fehl- Freistaats Bayern vom 8. Dezember 1946 ein entwicklungen des Parlamentarismus wie sie Senat verankert wurde. Zwar wurde auch in be- sich in der Weimarer Republik ergeben hatten, nachbarten Ländern wie etwa in Württemberg- vorbeugen und den Fortgang sachlich orientier- Baden (wo sich Carlo Schmid, SPD, besonders ter Arbeit gewährleisten. Dies „harmonierte mit stark dafür einsetzte) und Württemberg-Ho- einer fundamentalen parteipolitischen Apathie henzollern, die Einführung einer Zweiten Kam- weiter Bevölkerungskreise in der Nachkriegszeit“ mer ernsthaft diskutiert – eingeführt wurde ein (S. 56). Das vom Bayerischen Landtag am 18. Senat jedoch nur in Bayern. Mößle greift in sei- Juli 1947 beschlossene Senatsgesetz erfüllte den nem glänzenden Beitrag auf die Vorbilder (?) Auftrag des Art. 42 der Landesverfassung und Reichswirtschaftsrat, Preußischer Staatsrat, ermöglichte die Bildung des Senats im Dezem- Kammer der Bayerischen Reichsräte u.a. zurück, ber 1947, ein Jahr nach der Konstituierung des um zu zeigen, daß das neugeschaffene Verfas- Landtags. sungsorgan Senat geistesgeschichtlich seine Wur- zeln natürlich, etwa im z.B. auch in Bayern bis Norbert Engel befaßt sich mit der Arbeitsweise 1918 existierenden Zweikammersystem hatte, und einigen Beispielen aus der Arbeit des Senats. in seiner konkreten Ausprägung und Funktion Er zeichnet u.a. die Beratungen über das Gesetz jedoch neuartig war. Eines der grundlegenden zur Änderung des Bayerischen Jagdgesetzes Probleme des Senats spricht Mößle an, wenn er (1993) und das Gesetz zur Vereinfachung und (S.13) darauf hinweist, daß die Reichsräte- Beschleunigung bau- und wasserrechtlicher Ver- kammer ein echter parlamentarischer Macht- fahren (1994) nach und bietet tiefe Einblicke in faktor war, da z.B. Gesetze ihrer Zustimmung den parlamentarischen Betrieb der jüngsten Lan- bedurften. Der Bayerische Senat dagegen war desgeschichte. Sabine Rehm und Josef Anker be- – vor allem auf Drängen der SPD, die die Rech- schließen den ersten Teil des Bandes mit Bio- te des Landtags unter keinen Umständen einge- graphien der Senatspräsidenten Josef Singer und schränkt sehen wollte (S.56) – nur mit einem Hippolyt Freiherr Poschinger von Frauenau. Initiativ- und Einwendungsrecht ausgestattet und damit „nicht nur weitgehend auf seine Im zweiten Teil, mit 200 Seiten das Kernstück Überzeugungskraft angewiesen …, sondern auch der Publikation, finden sich lexikalisch knapp auf die Bereitschaft des Landtags, sich mit den und präzise 301 biographische Artikel zu allen vorgetragenen Argumenten auseinanderzu- Senatsmitgliedern, darunter nur 16 Frauen, (mit setzen“ (S.22). Foto) seit 1947. Sie lassen einen erfreulich gu- ten Dokumentationsstand erkennen, der für alle Karl-Ulrich Gelberg, einer der besten Kenner Parlamentshandbücher wünschenswert wäre, nicht nur der Landeszeitgeschichte Bayerns, hat jedoch aus den verschiedensten Gründen nicht es übernommen, die Entstehung des Senats erreicht wird. Neben biographischen und vor al- 1946/47 zu erläutern. Einleitend stellt er fest, lem die berufliche Laufbahn betreffenden In- daß die Protokolle der Verfassungsausschüsse formationen wird besonderes Augenmerk auf die und der Landesversammlung resp. des Landtags Funktionen der Senatsmitglieder in der Kammer nicht ausreichen, um den Weg zur Entstehung gelegt: Ausschuß- und Gremienmitgliedschaften des Senats nachzuzeichnen. Da sich Gelberg u.a. werden mit genauen Daten angeführt. Daneben auf die Arbeitsergebnisse von Barbara Fait (ihre finden sich in den meisten Fällen auch Hinweise Habilitationsschrift über die Entstehung der auf Ehrungen und Auszeichnungen sowie Lite- Bayerischen Verfassung erschien ebenfalls 1998 raturhinweise zur betreffenden Person. bei der Kommission) stützen kann und selbst als Bearbeiter der Protokolle des Bayerischen Mi- Auf diese Weise ist – gewissermaßen nebenbei – nisterrats mit dem Gang der Verhandlungen auf ein repräsentatives bayerisches Personenlexikon Regierungsseite bestens vertraut ist, war er ge- entstanden, das jedem Interessierten alle grund- radezu prädestiniert, diesen Beitrag zu verfas- legend wichtigen Informationen bietet. Nur sel- sen. Gelberg bietet auf knapp 40 Seiten eine um- ten haben sich Unklarheiten eingeschlichen, wie fassende, sehr gründliche und mit zahlreichen etwa im Falle von Karl Dietzel (S. 155), dessen Literaturverweisen „garnierte“ Entstehungsge- Todesdatum im Kopfregest mit 31.1.1969 an- schichte, die festhält, daß die Schaffung des Se- gegeben wird, einige Zeilen weiter aber mit nats von der CSU ausging, die durch den Ver- 30.1.1969. fassungsentwurf von Hans Ehard und Hans Nawiasky auch in diesem Aspekt prägend wirk- Im dritten Teil sind einige Dokumente mit Be- te. Der Senat als überparteiliche, de facto nach zug zur Senatsgeschichte als Anlagen abge- ständischem Prinzip (so mit Vertretern des druckt, im vierten Teil werden Übersichten und Handwerks, der Gemeinden, der Land- und Statistiken angeboten. Um nur wenige Beispiele Forstwirtschaft, der Religionsgemeinden, der Ge- zu nennen: Man findet dort alle Senatsmitglie- nossenschaften, Gewerkschaften und Hoch- der nach Gruppen geordnet, die Ausschuß- Buchbesprechungen 139 besetzungen und Aufschlüsselungen der Se- einiger Neuerscheinungen mit Bezügen zur natsmitglieder nach Konfession, anderweitigen Senatsgeschichte ergänzungsbedürftig) und ein Parlamentsmitgliedschaften, Hochschulbildung Personenregister unterstreichen den ausgezeich- etc.. In einem nach Meinung des Rezensenten neten Gesamteindruck dieser Publikation, die zu knapp geratenen Beitrag wird die par- unter den wissenschaftlichen Parlamentshand- lamentarische Arbeit beschrieben; abschließend büchern zur jüngeren deutschen Geschichte sind die Biographien der Direktoren des Senats- einen sicheren Platz haben wird. amts aufgeführt. Eine Bibliographie (mittler- weile aufgrund reichhaltiger Presseartikel und Frank Raberg Autorenverzeichnis

Alfred Bayer, le für Verwaltungswissenschaften, Staatssekretär a.D.,Vorsitzender der Speyer Hanns-Seidel-Stiftung, München Reinhard C. Meier-Walser, Dr. Christian Deubner, Dr., Leiter der Akademie für Politik Stiftung Wissenschaft und Politik, und Zeitgeschehen sowie Chef- Ebenhausen redakteur der POLITISCHEN STU- DIEN der Hanns-Seidel-Stiftung, Valentin Döring, Prälat, Dr., München Leiter des Katholischen Büros Bay- ern, München Anton Rauscher,Prof., Dr., Ordinarius (em.) für Christliche Ge- Paul Fischer, Dr., sellschaftslehre, Universität Augs- Ministerialrat, Bayerische Staats- burg, Direktor, Katholische Sozial- kanzlei, München wissenschaftliche Zentralstelle Mön- chengladbach Burkhard Haneke, Leiter der Presse- und Öffentlichkeits- Walter Reese-Schäfer, PD, Dr., arbeit/Publikationen der Hanns- Martin-Luther-Universität Halle- Seidel-Stiftung, München. Wittenberg

Helmut Klages, Prof., Dr., Wulfdiether Zippel, Prof., Dr., Lehrstuhl für Soziologie, Hochschu- Technische Universität, München