Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Heilige Frauen und Politik

Die Sozialpolitikerin Hildegard Burjan (1883-1933)

1. Erste Skizze

„Die heiligen Frauen: das sind Bürgerinnen Jerusalems in Babylon. Das Leid, die Schuld, die Sehnsuchtsnot der Welt häufen sich auf ihnen; das Licht vernichtet sie fast; es bricht sie. Von vielen, wenn nicht von allen, gilt das Wort: Ich wäre untergegangen, wenn ich nicht zugrunde gegangen wäre ( Periissem , nisi periis- sem ), das heißt, wie die große Teresa sagt: Ich lebe, weil ich immerfort sterbe, ich sterbe nicht, weil ich sterbe von Tag zu Tag.“ 1 Reinhold Schneider , der diese Worte formulierte, könnte unter diesem Horizont viele politisch denkende heilige Fürstinnen gruppieren: Radegundis , die im 6. Jahrhundert die Blutrache außer Kraft setzte, Kaiserin Theophanu , die im 9. Jahrhundert das Deutsche Reich ohne Krieg zu sichern wußte, Hedwig von Schlesien im 13. Jahrhundert, die als Ratgeberin, Friedensstifterin, Kolonisatorin wirkte und Todesurteile in Arbeitseinsätze umwidmete; aber auch die Prophetin- nen und Warnerinnen Birgitta von Schweden und Caterina von Siena im 14. Jahrhundert, die durch anhaltende Aufrufe das Papsttum von Avignon nach Rom zurückbrachten. Das sind freilich mittelalterliche Heilige, danach scheint die Kette abzureißen, sieht man einmal von den hohen sozialen und bildungsbezoge- nen Einsätzen in Orden ab – bis zur neuen Lebenswelt von Frauen seit dem 19. Jahrhundert, die neue Antworten erforderte. Schneider war – ohne es zu wissen – Zeitgenosse einer Frau, deren Lebensweg wie der seine mit Wien verknüpft war, obwohl sie beide aus der Ferne und aus europäischer Weite kamen. Und – wiederum nicht unähnlich – handelt es sich um eine Frau, die vielfache körperliche und seelische Brechungen durchstand, früh mit ihrer Gesundheit und schließlich mit dem Leben bezahlte, kaum fünf- zigjährig. In diesen wenigen Jahrzehnten kam es zu einer Fülle politischer, recht- licher und sozialer Tätigkeiten. Trotz verschiedener Krankheitsschübe und einer kurzen Lebenszeit, vom Schatten des Todes immer wieder gestreift, ging die Frucht vieler Anstrengungen nachhaltig und sieghaft auf. Hildegard Burjan mischt in ihrem geistlichen Spektrum bekannte Züge mit un- gewohnten. Zu den bekannten geistlichen Zügen zählt das Großzügig-Freigebige (das sie mit der verehrten Elisabeth von Thüringen teilt), die Umwidmung des persönlichen Leidens für die Sache Christi, das frühe Verzehrtwerden von Arbeit und Leiden, das Verhüllen ihrer eigenen inneren Vorgänge. Es sieht so aus, als sei ihr Lebenswerk aus großem Leiden geboren. Meist mit Schweigen übergan- gen, wurde es zum Geheimnis großer Fruchtbarkeit. Zu den ungewohnten Zügen zählt der Übertritt aus einem agnostisch unterlegten Judentum zum Katholizis-

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mus, die politische und gesetzgeberische Arbeit, vor allem zugunsten von Frau- en, die außergewöhnliche praktische Vernunft im Sozialen, die Gründung und Leitung (!) einer zölibatären Schwesternschaft durch eine verheiratete Frau, überhaupt die gewagte, fast zerreißende Vereinigung von Ehe, Mutterschaft und Öffentlichkeit. Hildegard Burjans Leben hätte, von den Umständen her, tragische Züge aufwei- sen können: „Wenn Gott mich in der Todesstunde fragen würde, ob ich lieber weiter leben wolle um den Preis, all das noch einmal durchleiden zu müssen, ich würde ohne Zögern den Tod wählen.“ 2 Daß sie der Möglichkeit der Verdüste- rung nicht nachgab, obwohl sie den schmerzenden Kopf hätte „an die Wand schlagen“ können, liegt an ihrer „Erlöstheit“. Eine extreme Existenz gewiß, aber nicht aus Tragik, sondern aus dem Charisma der Hingabe. Wer könnte schon sein Leben zusammenfassen in den Ausruf unmittelbar vor dem Tod am 11. Juni 1933: „Dreifaltigkeitssonntag! Was für ein wunderschöner Tag zu sterben!“ 3 30 Jahre danach begann ein Seligsprechungsverfahren und knapp 80 Jahre danach, am 29. Januar 2012, wurde sie im Stephansdom durch Kardinal Christoph Schönborn zur Seligen erklärt. 4 „Ein einziger, der die Wahrhaftigkeit bis zum Äußersten intensiviert, oder das Tragische an sich, die Kunst, den Glauben, die Liebe, kurz, extreme Existenzen tun not. [...] Unsre wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind“, so nochmals Reinhold Schneider in seinem letz- ten, verdunkelten Buch Winter in Wien (1957).

2. Lebenslinien

Das 20. Jahrhundert wird als Jahrhundert grausamer Abstürze ins Unmenschli- che dem geschichtlichen Gedächtnis eingeprägt bleiben, aber auch als Jahrhun- dert neuer Aufbrüche und erstaunlicher Grenzüberschreitungen. Zu dem neuen, unübersichtlichen Werdenden zählt die Entwicklung der Frauenfrage, das rasante Vordringen der europäischen Frauen in den öffentlichen Raum, zunächst in jenen der Bildung an Schule und Universität, dann der aktiven Politik, der Gesetzge- bung, der Wissenschaft. Es bedurfte allerdings des Zusammenbruchs der bisheri- gen politischen Systeme im Ersten Weltkrieg, um den Weg dafür endgültig frei- zuräumen; freilich verdunkelte sich für die erste Studentinnengeneration der Freiraum ab 1933 wieder nachhaltig. Hildegard Burjans Leben steht tatsächlich inmitten der Umwälzungen politi- scher und sozialer Art, die den Umbruch des Frauenbildes im 20. Jahrhundert auslösen. Als zweite Tochter der jüdischen Familie Freund am 30. Januar 1883 in Görlitz an der Neiße geboren (damals Preußisch-Schlesien), genießt sie eine gute Schulbildung. Von Herkunft und den Lebensbedingungen her zählt sie zu der distinguierten bürgerlichen Schicht des deutschen Judentums in seiner aufge- klärten, liberalen Form. In ihrer Geburtsurkunde steht als „Religion der Eltern“: keine. Vor der Konversion kann man Hildegard Burjans Haltung als idealisti- schen Humanismus bezeichnen – eine Art des Denkens und Fühlens, die dem Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts zu eigen war. Dieser säkulare Idealis-

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mus scheint in besonderer Weise dem deutschen Judentum in seinen Eliten Leit- bild gewesen zu sein, wenn man an die Gesellschaftsentwürfe von Marx bis Lasalle und an die großen jüdischen Stiftungen für das Gemeinwohl denkt. Auch Hildegard Freund gründete schon als agnostische Studentin einen Hilfsfonds für Kommilitonen. 5 In manchem taucht hinter ihr die weit bekanntere, acht Jahre jüngere Gestalt von Edith Stein auf – nicht zuletzt durch die schlesisch-preußische Verwurzelung, auch wenn Görlitz von Breslau beträchtlich entfernt ist. Es kann im Rückblick nur dankbar vermerkt werden, daß Hildegard Burjan bereits 1933 starb, sonst wäre sie Edith Stein vielleicht auch im Lebensende ähnlich geworden; sie er- reichten außerdem dasselbe Alter. Vergleichbar sind die beiden Frauen ferner im Studium, das sie bis zur Promotion in Philosophie führte und bereits mit katholi- schem Denken in Berührung brachte. Ebenso beschäftigten sich beide in einer Reihe von Schriften mit der zeitgenössischen Frauenfrage – Edith Stein geleitet von der Frage nach dem „Wesen der Frau“, Hildegard Burjan unter sozialem und arbeitsrechtlichem Blickpunkt 6. Daß Hildegard Freund in Basel mit dem Abitur abschließen, daß sie sich an der Zürcher Universität 1903 für Philosophie und Germanistik immatrikulieren konnte, ist eine damals eben gereifte Frucht der Frauenbewegung des 19. Jahr- hunderts. Erst 1896 hatten Mädchen in Hamburg nach dem zähen Kampf Helene Langes das Abitur ablegen können; erst ab 1900 öffneten sich die Tore der ersten deutschen Universität in Baden (Bayern folgte 1903, Preußen 1908), obwohl der Kampf darum bereits seit Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins um 1865 aufgenommen worden war. „Als die erste Frau lesen lernte, begann die Frauenbewegung“ – dieser griffige Satz Marie Ebner-Eschenbachs drückt eine Seite der angestrebten, weit umfassenderen Zielvorstellung aus. Neben dem Kampf um Bildung für Frauen durch Frauen stehen gleichermaßen der Kampf um gleiches bürgerliches Recht (Frauenstimmrecht z.B.) und gleichen Rechts- schutz, aber auch die Auseinandersetzung um Ehe- und Sittlichkeitsfragen (so im Bund für Mutterschutz und Sexualreform 1905, gegründet von Dr. Helene Stök- ker in ). Die konfessionellen Frauenverbände schlossen sich der Bewegung um die Jahrhundertwende an (1900 Evangelischer Frauenbund, 1903 Katholi- scher Frauenbund, 1904 Jüdischer Frauenbund), wobei die sozialen, karitativen und erzieherischen Fragen in den Vordergrund rückten. Diese Aufgabenfelder bestimmen ab 1912 durchgängig auch die Arbeit Hildegard Burjans , die sie zunächst aus christlichen Beweggründen als Privatperson ohne Anbindung an eine Organisation unternimmt. Die Studentin heiratet 1907 den ungarisch-jüdischen Diplom-Ingenieur Alexan- der Burjan , der wie sie konfessionslos ist und in Berlin eine große Karriere auf- zubauen beginnt. Ein Jahr später wird die junge Ehefrau so krank, daß sie im Berliner Hedwigs-Krankenhaus von den Ärzten aufgegeben und ihr Mann am Karsamstag 1908 an ihr vermeintliches Sterbebett gerufen wird. In den Wochen zuvor bestaunte die langsam Verlöschende die freundliche und ihr zugleich be- fremdliche Geduld der pflegenden Ordensschwestern. Zwar hatte sie in Zürich bei Friedrich Wilhelm Foerster und Rudolf Saitschik eine erste Berührung mit

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christlichem Denken erfahren, doch war ihr die Lebenswelt noch fern geblieben. In der Sterbenacht ändert sich alles auf unerklärliche Weise: Sie erfährt eine Christus-Begegnung, die sie vom Ostersonntag an rasch gesunden läßt. 1909 läßt sie sich taufen und übersiedelt mit ihrem Mann nach Wien, wo Alexander Burjan zu großem Wohlstand und in gesellschaftlich hohe Kreise gerät; er selbst konver- tiert 1910. Das noch gut erhaltene Wohnhaus im Villenvorort Währing trägt ein reiches, großbürgerliches Gepräge. 1910 wird die einzige Tochter Lisa geboren, benannt nach der hoch verehrten Elisabeth von Thüringen . Es ist eine Geburt, die mit einer Gehirnblutung und anhaltender Kränklichkeit bezahlt wird – ja, sie kostet fast das Leben, ohne daß die Mutter die angeratene Abtreibung aus medizinischer Indikation gestattet. Danach beginnt ein außerordentlicher sozialer Einsatz. 1912 gründet sie den „Verband der christlichen Heimarbeiterinnen“, um eine gerechte Entlohnung, Wöchnerinnenschutz (auch für uneheliche Mütter) und Rechtsschutz durchzuset- zen. Ihre humanitären Ideale werden unter dem Eindruck der Christus- Begegnung nicht verändert, sie werden jedoch religiös vertieft. Rechtshilfe für die dem Lohndiktat ausgelieferten Heimarbeiterinnen, was Arbeit und Lebenshil- fe anging (bis zum umstrittenen Mutter-Kind-Heim in Wien), geistliche Beglei- tung und Bildung wurden deutlich in den Forderungen des Christentums veran- kert. Es folgte ein alle Kräfte fordernder Einsatz mit dem Ersten Weltkrieg: die Orga- nisation zahlreicher Hilfssendungen zwischen 1914 und 1918, vor allem vieler Zugtransporte in das hungernde sächsische Erzgebirge. Um die Hilfsgüter zu erbetteln, sprach sie persönlich in der Hocharistokratie und selbst beim kaiserli- chen Hof vor. 1918 zog sie in den Wiener Gemeinderat ein und wurde Stellver- treterin des Obmannes der Christlich-Sozialen Partei, Leopold Kuntschak . Dar- aus sollte 1919 eine weitere, verzehrende Aufgabe erwachsen. Nach dem Zu- sammenbruch der Habsburgischen Monarchie wurde sie auf Drängen Ignaz Sei- pels (1876-1931), des Prälaten und ersten österreichischen Bundeskanzlers, als erste und einzige Frau der Christlich-Sozialen Partei in die „konstituierende deutschösterreichische Nationalversammlung“ gewählt. Kardinal Gustav Piffl von Wien nannte sie „das Gewissen des Parlaments“. Sie bewirkte in kurzer Zeit die Ausweitung des Mutter- und Säuglingsschutzes, die Anstellung von Haus- pflegerinnen für Wöchnerinnen durch die Krankenkasse, die Gleichstellung von Mann und Frau im Staatsdienst sowie die Förderung der Frauen-Aus- und - weiterbildung. In (damals ungewohnter) Absprache mit der sozialdemokrati- schen Fraktion gelang ihr das „Hausgehilfinnengesetz“ als Rechtsgrundlage für Arbeit und Lohn. 1920 gründete sie zusammen mit eine Schwesterngemeinschaft unter dem Namen Caritas Socialis (CS) , die bis heute international wirkt 7, seit der Wende auch in Görlitz. Übrigens ist es der einzige Fall, wo eine Ehefrau einer zölibatären Gemeinschaft vorstand. Diese Arbeit wurde ihr so wichtig, daß sie die politische Stellung als Abgeordne- te 1920 aufgab und alle Kraft in die Caritas warf. Sie entwickelte immer neue

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Sozialprojekte für Randgruppen, kämpfte um rechtliche Rahmenbedingungen, ließ ihre großbürgerlichen Beziehungen spielen – nicht ohne auf antisemitische Vorurteile zu stoßen. Den aufkommenden Nationalsozialismus nahm sie frühzeitig und alarmiert wahr. Zusammen mit Bischof Johannes Maria Gföllner von Linz warnte sie eindring- lich vor Hitler . (Ihr Mann und ihre Tochter konnten später durch Flucht der Ju- denvernichtung entgehen.) Trotz immer neuer Krankheitsschübe, die bewältigt werden mußten, richtete sie weitere Mutter-Kind-Heime für Alleinstehende (gegen gesellschaftlichen Wider- stand), Jugendfürsorge und Obdachlosenbetreuung ein. Ihr letztes Ziel war ein großes Sozialzentrum; als sie den Grundstein legte, war sie schon todkrank. Bestattet ist sie auf dem Wiener Zentralfriedhof.

3. Ecksteine der Lebensleistung

In einer Lebenswelt vieler Religionen und täglich neuer Heilslehren und Hei- lungsversprechen ist das Profil des Christentums nicht mehr deutlich. Sind mög- licherweise alle Religionen mehr oder weniger gleich? Einige wenige und be- sonders klare Zeichen gibt es jedoch, an denen das Unterscheidende des Christli- chen deutlich wird. Zu solchen Zeichen gehört die seit zwei Jahrtausenden nicht verstummende große Melodie: Gott anzutreffen in den Armen. Durch alle christ- lichen Generationen läßt sich dieser Ton vernehmen, immer wieder neu und anders angeschlagen. Schon im 19. Jahrhundert erreicht er eine symphonische Fülle: Dem „Pauperismus“ infolge der Industrialisierung antwortete damals ein Schatz von Gründerinnen mit karitativen Frauenkongregationen. Im frühen 20. Jahrhundert und im Ersten Weltkrieg stiegen die Anforderungen. Die – unlösbar, unrealisierbar scheinende – Aufgabe von Hildegard Burjan war es, die Not im vorhinein durch Gesetzgebung „strukturell“ einzudämmen und eine politische Antwort großen Stils zu entwerfen. 8 Das ist das ebenso Moderne wie damals Utopische an ihrer Gestalt. Allerdings ist sie nicht in die Falle der Alternative „strukturelle Veränderung“ oder „konkrete Hilfe im Einzelfall“ ge- gangen (soll der unter die Räuber Gefallene verbunden werden oder soll man grundsätzlich die Straße nach Jericho sichern?). Daß sie an beiden Fronten das „Unmögliche“ durchsetzte, macht ihre Größe als Pionierin aus. So entwickelt sie, die Verheiratete und Großbürgerliche, zeitgleich zur politischen Praxis auch den Stoßtrupp für den Einzelfall: die in Armut, Keuschheit und Gehorsam lebenden Schwestern der Caritas Socialis. Man müßte sogar hervorheben, daß sie im Zweifelsfall eher der unmittelbaren Not abgeholfen hätte. Dies unterscheidet sie von Rosa Luxemburg , die soziale Veränderung nur revolutionär, als strukturell, denken konnte und dafür auch Menschenleben zu opfern bereit war. Burjan ist aber nicht Luxemburg . „In den Kranken können wir immer den leidenden Hei- land pflegen und so recht mit Ihm verbunden sein.“ 9 Ein derartiges Handeln ist nur möglich, sofern man selbst von den Wassern des Heils berührt wurde und sie schöpfend weiterleitet. „Leben aus der Erlösung“ heißt das Paßwort. Arm- und Kranksein kann nur dann nicht als abstoßend emp-

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funden werden, wenn es aus der Tiefe der Armut Christi heraus verstanden wird und als eigene, von ihm übernommene Armut. Hier liegen die geistlichen Wur- zeln des erfolgreichen Werkes der Caritas Socialis. Simone Weil (1909-1943), die französische Philosophin, sprach – blitzartig erhellend – vom Sozialen als der „subtilen Versuchung des Christentums“. Hildegard Burjan ist dieser Versu- chung nicht erlegen. Es ist – trotz der altertümlichen Sprache – wirklich so ge- meint: Die Gründerin stellt sich und die ihr Anvertrauten in den Raum der Erlö- sung. Heute mag das Verständnis für Aufforderung mangeln, „mit Ihm, durch Ihn, für Ihn“ eine wohltätige Arbeit zu tun. Dennoch liegt – um nur das Mindeste zu sagen – in dieser Blickrichtung die Sicherung von Motiv und Wirksamkeit des selbstlosen Tuns. Trotz der Betonung der unmittelbaren Arbeit behielt sie immer das Ganze im Blick: „Von der momentanen Fürsorge müssen wir zurückgehen auf die Wurzel des Übels.“ „Gott gibt uns den Verstand, damit wir die Not einer Zeit, die Ursa- chen dieser Not, die Mittel, die zur Abhilfe führen, erkennen. Er stellt uns nicht zufällig mit unseren äußeren Verhältnissen zusammen.“ 10 In den „Bestimmungen“ der Caritas Socialis denkt Burjan aus der Erfahrung anderer Vorgängerinnen heraus: Die Armen sind im Brennpunkt der Krankheit und Verwahrlosung aufzusuchen, mitten in der Unbeweglichkeit ihrer Not, nicht im vorbereiteten, geschützten „Gehäuse“: „Wir wollen etwas Neues, nicht etwas bereits Bestehendes, sondern der Zeitnot angepaßt, keine Klausur oder Einen- gung durch klösterliche Formen, sondern beweglich, immer einsatzbereit für jede Not, die auftaucht.“ 11 Ein solches Gehen zu den Notleidenden ist nicht aufdring- lich, sondern werkzeuglich: Es ordnet sich ganz in die – wortlose – Verkündi- gung der Erlösung ein. Wenige Sätze zeigen bereits Burjans breites politisches Handlungsfeld unter dem Motto: „Volles Interesse für die Politik gehört zum praktischen Christentum“, etwa im Blick auf die bestehende Benachteiligung von Frauen: „Die alte Forde- rung ‚gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘ hat im Krieg neue Beleuchtung bekom- men“ und schon im Sinn der Fair Trade-Bewegung: „Kaufen wir nur bei gewis- senhaften Kaufleuten, drücken wir nicht so sehr die Preise, verlangen wir von Zeit zu Zeit von Fabrikanten Rechenschaft über den Ursprung der Waren! Nur zu oft ist es die wohlhabende Frau, die Kaufleute zwingt, zu unmöglichen Bedin- gungen zu liefern und dies geschieht immer auf Kosten der armen Heimarbeite- rinnen.“ 12 Hildegard Burjans vielfältige, bewegliche Reaktionen entsprangen der unge- wöhnlich wachen Wahrnehmung der sozialen Verschiebungen; sie kann als Mit- erbauerin des modernen Sozialstaates gelten. Liest man daneben ihre religiösen Äußerungen in Briefen oder Vorträgen, so erscheinen sie einfach, sogar in der bekannten christlichen Formelsprache der Zeit. Aber sie wirken nur so, solange sie in der Verdichtung, gewissermaßen im geschlossenen System gelesen wer- den. In der Berührung mit der verwirrten, beschädigten Zeit entfalten sie aber einige Kennzeichen dessen, was das Evangelium den „Sauerteig“ nennt: die Kraft der Immunisierung gegenüber der Wirrnis der Ideologien, darunter der damals in Wien spürbaren Verführung des Kommunismus; die Kraft der Moti-

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vierung zum Handeln „umsonst“ ( gratis und frustra ); die Kraft zum Zusammen- schluß heterogener, parteilicher Kräfte auch angesichts von Kompromissen, die unter Abstrichen erkauft werden mußten.

4. Herausforderndes

In einem Interview vom Herbst 1999 sagte der damalige deutsche Staatsminister für Kultur, der Protestant Michael Naumann , die Kirchen seien mittlerweile zu Dienstleistern der in einer entfremdeten Gesellschaft lebenden Menschen gewor- den. Das sei aber keineswegs ihre Aufgabe, vielmehr „die Vorbereitung auf das Eschaton“, auf das kommende Reich Gottes. Christentum habe den Auftrag, die Gottesfrage wachzuhalten, gerade in einer säkularen Gesellschaft, und eben darin sei es attraktiv – durch die Fähigkeit, „die Sehnsucht nach dem Numinosen, Rätselhaften, Unerklärbaren zu stillen. [...] Ich will Ihnen – ganz persönlich – sagen, was ich von der Kirche erwarte – oder viele Jahre lang erwartet, aber nicht gefunden habe: seelischen Trost. Dies ist, wie gesagt, mein persönliches Pro- blem.“ 13 Hildegard Burjan ist eine der unerwarteten, ja verblüffenden Stimmen des 20. Jahrhunderts, in denen die Kirche Trost zuspricht. Daß sie beides zusammen- spannt: Trost im Verborgenen: Leiblichen und Seelischen, aber auch im Öffent- lichen: in Staat, Recht, Politik, ist das Bedeutende an Hildegard Burjan . Dies aber nicht als funktionale „Dienstleistung“, vielmehr aus dem Eschaton heraus. Eine erloschene Christlichkeit kann ihre Leere nicht mit verbandlicher Aktivität überspielen. Sie wird weiter „funktionieren“, aber die Quelle ist versiegt. Das ist letztlich aus sachlichen Gründen mißlich. Gerade soziale Organisationen stoßen auf die Endlichkeit des Menschlichen in vieler Hinsicht: auf verstörtes Dasein auf schuldhaftes, mißgeleitetes, unheilbares Dasein, auf das Hilfsbedürftige in tausend Variationen. Ein Gutteil davon wird lösbar sein – was aber, wenn das Unlösbare beginnt? Hier besteht die Versuchung, das Leiden organisatorisch zuzudecken, irgendetwas „zu tun“, damit etwas getan sei. Oder das Leiden abzu- schaffen, indem der Leidende selbst beseitigt wird. Hildegard Burjan nannte ihre Gründung „eine unscheinbare Blüte am Stamm der Kirche“ 14 . Daß dadurch mitten in Babylon die Wohnungen Jerusalems entstehen, gehört zu dem gesuchten, vielleicht wenig auffälligen, aber wirksamen Trost. Darin tun sich jene Möglichkeiten auf, die dem sozialen und politischen Nur- Aktionismus verwehrt bleiben: das Überlassen des Unlösbaren an unerwartete göttliche Antworten. „Der Segen Gottes macht auch das Unmögliche möglich.“ „Der liebe Gott gibt oft Segen und Gelingen, wo wir es gar nicht erwarten.“ „Der liebe Gott wirft uns Dinge in den Schoß, die wir nie zu erstreben oder zu er- kämpfen gewagt hätten.“ 15 In der vermeintlichen Simplizität der christlichen Motivation schimmert die Einfachheit des Weges durch, der im Blick auf „die gute Sache“ sicher gegangen wurde. 16 Von diesem Wissen um Geführtsein stammt auch das tatsächlich dank- bare Annehmen des eigenen, zu frühen Todes, wie zuvor der überfordernden Vielschichtigkeit der Aufgaben.

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Hinter den religiösen Formeln ersteht daher ein bewegendes Gesicht – und so muß die Nachwelt aus der unleugbaren Wirkung heraus das überaus Einfache akzeptieren. zu lieben, ist die Botschaft – in immer verschiedenen, aber doch gleichförmigen Abwandlungen; und lieben heißt, sein Leiden zu teilen, ihm zu gehorchen, nichts auf die eigenen Stimmungen zu geben. Wer wüßte das nicht und empfände zugleich nicht die Kürze des geistlichen Alphabets, das vor den Augen der literarischen und künstlerischen Welt ans Unverständliche grenzt? Zu den letzten Worten Hildegard Burjans zählt: „Lieber Heiland [...] mach’ sie alle reich – unermeßlich reich – durch Dich – nur durch Dich!“ 17 So gehört es zu den immer neu Staunen erregenden Geheimnissen des Christen- tums, daß es aus gänzlich unerwarteten Quellen wieder fruchtbar wird - aus Quellen, die zu Sieg und Auseinandersetzung gar nicht geschaffen scheinen. In solchen Lagen bildet sich ein Typus heraus, der in Krisenzeiten der Kirche plötz- lich auftaucht, gewissermaßen aus dem Thesaurus der „Gemeinschaft der Heili- gen“ aktiviert wird: der Typus der unauffälligen, sogar einfältigen „Kleinen“. Da sie leicht übersehen werden, geraten sie auch nicht ins unmittelbare Schußfeld – und sie gewinnen Terrain, noch bevor die tonangebende Kultur sie vermerkt. Trotz aller Öffentlichkeitswirkung zählte Hildegard Burjan sich und ihre Schwestern zu diesem Typus der „Kleinen“: „Auf die Schulweisheit kommt es nur sehr wenig an, sondern einzig auf den Grad der Verbundenheit mit dem lieben Heiland. In Ihm vermögen wir ja alles, und ohne Ihn sind wir alle ganz bettelarm. Es ist so beruhigend und trostvoll, daß wir nur so viel tun müssen, wie wir Talente haben, und daß alles andere uns dazugegeben wird.“ 18 So kann der Leidende aus der verzweifelten und nutzlosen Anstrengung des „Helfens“ entlassen werden, wenn er im tiefen religiösen Sinn seinem Schöpfer überlassen werden kann – nicht aus Trägheit, sondern aus Hoffnung auf ein Heil, das die begrenzt möglichen Heilungen übertrifft. Christentum weiß von der „Ressource Sinn“, die auch im Sinnlosen wartet, zumindest versprochen ist. Soziales Handeln von Christen kann Kompromisse eingehen, aber es muß, ja es darf nicht säkulare Heilsideologie werden. Diese Sicht belastet nicht, sie entzerrt die übertriebene Allzuständigkeit, das Helfersyndrom, die eingebaute Frustration des Nicht-Helfen-Könnens. Vielleicht tröstet den Hilfsbedürftigen eine solche Haltung mehr als die Vorspiegelung eines Altruismus, der doch spätestens in den vorletzten Existenznöten steckenbleibt.

Anmerkungen 1) Reinhold Schneider, Heilige Frauen, in: Schneider, Pfeiler im Strom, Wiesbaden 1958, 166. 2) Louis Bosmans, Hildegard Burjan. Leben und Werk (Veröffentlichungen des Kirchen- historischen Instituts der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien 16), Wien 1973, 26. 3) Zit. nach: Alfred Koblbauer (Hg.), Hildegard Burjan. Charismatische Künderin sozialer Liebe, Mödling 1976, 106.

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4) Vgl. Ingeborg Schödl, Zwischen Politik und Kirche. Hildegard Burjan, St. Gabriel 2000, (veränd.) Wien 22008; Gisbert Greshake, Selig, die nach der Gerechtigkeit dürsten. Hildegard Burjan: Leben-Werk-Spiritualität, Wien 2008; Ingeborg Schödl, Hoffnung hat einen Namen. Hildegard Burjan und die Caritas Socialis, Innsbruck 1995. 5) Vgl. Gisbert Greshake, Spiritualität heute. Die spirituelle Gestalt Hildegard Burjans, Wien 2003, 13-16. 6) Hildegard Burjan, Reden und Schriften. Quellen zum Studium des geistigen Erbes der Gründerin der Caritas Socialis, Wien 1970; dies., Caritasjahr 1924/25. Fragmentierte Niederschrift der Vorträge im Rahmen des Caritasjahres 1924/25 zur Schulung von Schwestern und Mitgliedern der Caritas Socialis, Wien 1968; Protokolle (von Generalver- sammlungen und Sitzungen der CS) 1920-1934, als Manuskript veröffentlicht, Wien 1975. 7) CS ist heute in Österreich, Südtirol, Deutschland, Ungarn und Brasilien aktiv, in Öster- reich vor allem in der Sozialhilfe, der Hospizbewegung und der Palliativmedizin. 8) Vgl. Michaela Kronthaler, Die Frauenfrage als treibende Kraft. Hildegard Burjans innovative Rolle im Sozialkatholizismus vom Ende der Monarchie bis zur „Selbstaus- schaltung“ des Parlaments, Graz 1995. 9) Brief 31; Koblbauer, 194. 10) Zit. nach Michael Kuhn, europeinfos, April 2012, 1. 11) Ebd. Das letzte Zitat ist ergänzt nach: Ganz für Gott – ganz für die Menschen, 24. 12) Zit. nach Michael Kuhn, europeinfos, April 2012, 1. 13) Interview in: Evangelische Kommentare; zitiert nach CiG 39, 51 vom 26.9.1999, 313. 14) Koblbauer, 149. 15) Zit. nach Josef Freitag, Quellen des Vertrauens, in: Handeln aus der Kraft des Glau- bens, Wien 2004, 59. 16) Vgl. Karin Weiler CS, „Die Caritas Socialis ist immer etwas Werdendes.“ Das Motiv „des Weges“ als Wesensmerkmal der Caritas Socialis, Wien 1994. 17) Bosmans, 106. 18) Brief 47: Koblbauer, 107.

Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz lehrte Religionsphilosophie und ver- gleichende Religionswissenschaft an der Technischen Universität . Seit ihrer Emeritierung wirkt sie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz bei Wien.

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