SPD – 05. WP Fraktionssitzung: 12. 06. 1969 (1. Sitzung)

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12. Juni 1969: Fraktionssitzung (1. Sitzung)

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 132 Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung vom 12. Juni 1969 (Sondersitzung – Be- ginn 12.10 Uhr)«. Dauer: 12.10–13.30 Uhr. Anwesend: 153. Vorsitz: Schmidt. Bundesre- gierung: Schiller, Strobel, Wehner. PStS: Börner. Protokoll: Jaedtke. Datum der Nieder- schrift: 17. 6. 1969.

Sitzungsverlauf:1 A. Lohnfortzahlung B. Berufsbildungsgesetz

Helmut Schmidt eröffnet die Sitzung und hebt hervor, daß die gestrigen Kampfabstim- mungen2 das Klima in der Koalition entscheidend beeinflußt haben. Er warnt davor, die Enttäuschungen zu deutlich nach außen sichtbar werden zu lassen, besonders auch im Hinblick auf die Debatte am 17. Juni über die Lage der Nation oder der Koalition – je nachdem. Es sei zu vermeiden, daß an diesem arbeitsfreien Tage die Fernsehzuschau- er der Parlamentsdebatte ein Bild der Zerrissenheit erhielten. Er kritisiert, daß bei der gestrigen Abstimmung durch das Fehlen einer Anzahl von Kabinettsmitgliedern3 und Gewerkschaftsführern4 die Abstimmung verloren worden sei. Man werde in den nächsten, den letzten Parlamentswochen noch viele gleiche Situationen zu erwar- ten haben. Es sei aber wichtig, daß diese Zeit ohne allzuviel Emotionen überstanden werde. Der Tagesordnungspunkt Parlamentsreform sei in dieser zeitlich begrenzten Sitzung wohl kaum zu bewältigen, statt dessen sollte das Parteiengesetz5 behandelt werden, das in der Fraktion noch kontrovers sei. Karl Schiller wendet sich gegen die globalen Urteile gegenüber denjenigen, die bei den entscheidenden Abstimmungen gefehlt haben. Er habe in München an für die Gesamtpar- tei sehr wichtigen Veranstaltungen teilnehmen müssen, Kollektivurteile seien deshalb unzulässig.

1 TO liegt dem Protokoll bei. Die Punkte »Vorbereitung der Aussprache über den Bericht zur Lage der Nation« und »Parlamentsreform« sowie »Nächste Termine« (Di,. 17. Juni, 9.00 Uhr Vorstand, 11.00 Uhr Fraktion) standen erst am Nachmittag an, vgl. SPD-Fraktionssitzung am 12. Juni 1969 (Teil 2). 2 Bei der 2. Beratung des Lohnfortzahlungsgesetzes hatte die Unionsfraktion einem Änderungsantrag der SPD (BT STEN. BER. 70, Umdruck 677, S. 13133) ihre Zustimmung verweigert. Die SPD forderte darin die Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze auf 1200 DM. Der Antrag wurde mit 200 Nein- zu 184 Ja-Stimmen bei 36 Enthaltungen abgelehnt. Im Gegenzug stimmte die SPD-Fraktion gegen einen Unionsantrag (ebd., Umdruck 694, Ziffer 1, S. 13134), unterlag jedoch. Die dritte Niederlage erlitt die SPD bei der Abstimmung über einen Unionsantrag zum Berufsbildungsgesetz (ebd., Um- druck 680, S. 13136 f.), der von der FDP unterstützt wurde. Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 11. Juni 1969 (Teil 2). 3 Aus dem Kabinett fehlten Eppler, Leber, Schiller und Strobel. 4 Von den übrigen Fraktionsmitgliedern waren beurlaubt: Arendt, A. Arndt, Bading, Bals, Bazille, Corterier, Dröscher, Felder, Hamacher, Heinemann, Hellenbrock, Höhmann, Jahn, Koenen, Kunze, Lohmar, Lotze, Michels, Nellen, Peters, Steinhoff, Wessel. 5 BT ANL. 130, Drs. V/4126.

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Franz Neumann weist darauf hin, daß bei der Abstimmung über die Grundgesetzände- rung6 die Berliner Stimmen ganz »untergegangen« seien. Er übt Kritik an dem Präsiden- ten, es sei bedauerlich, daß während der Sitzungsleitung eines sozialdemokratischen Präsi- denten die Stimmabgabe der Berliner Abgeordneten nicht im Protokoll verzeichnet ist.7 Zu Pkt. 1. der TO: Lohnfortzahlung Ernst Schellenberg gibt seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, daß nur ein CDU- Abgeordneter in der Frage der Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze auf DM 1200,– ab 1. August mit uns gestimmt hat.8 Darüber hinaus merkt er kritisch an, daß im Sozi- alpolitischen Ausschuß als Vertreter der Gewerkschaften der Genosse Lehlbach aus Rheinland-Pfalz sich ausdrücklich für diese Abstimmung bedankt habe;9 das müsse natürlich einen falschen Eindruck erwecken. Im übrigen spricht sich Ernst Schellenberg dafür aus, bei der dritten Lesung des Lohn- fortzahlungsgesetzes den Antrag auf Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze auf 1200,– DM ab 1. August zu wiederholen, diesen Antrag jedoch nicht wieder hochzu- spielen und auch keine namentliche Abstimmung zu verlangen.10 Dafür solle jedoch bei dem Antrag, der sich auf das Inkrafttreten der Lohnfortzahlung zum 1. August 1969 bezieht, eine namentliche Abstimmung verlangt werden;11 das schlage der Arbeitskreis Sozialpolitik vor. Die FDP-Anträge12 seien ohne Ausnahme abzulehnen. Ernst Schellenberg macht darauf aufmerksam, daß das Anliegen der CDU, die Lohn- fortzahlung statt zum 1. August 1969 erst ab 1. Januar 1970 wirksam werden zu lassen, ein eindeutiges Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der Arbeitgeber sei. Das müsse im beginnenden Wahlkampf sehr deutlich gemacht werden. Lucie Kurlbaum-Beyer spricht sich – unter besonderem Hinweis auf das Presseecho der gestrigen Plenarsitzung – dagegen aus, wieder Anträge zu stellen, um damit wieder – wie Ernst Schellenberg es selbst erwarte – »abgeschmiert« zu werden. Die psychologische Wirkung dieser »Niederlage« sei ausgesprochen negativ, das müsse vermieden werden. Max Seidel weist darauf hin, daß wir konsequent bleiben müssen. Mit der von der CDU durchgesetzten Änderung werden die Großen geschont, die Kleinen werden belastet. Es sei wieder einmal deutlich geworden, daß die CDU ein »politischer Wechselbalg« sei. Sie sei in den entscheidenden Augenblicken ein trickreicher politischer Gegner. Von seiten der Gewerkschaften sei nun wieder ein Globalurteil gegen die Große Koalition zu erwarten, deshalb solle der Gewerkschaftsbeirat einberufen werden, um eine eindeu- tige Sprachregelung über das Verhalten der SPD in der Lohnfortzahlungs-diskussion für »Roß und Reiter« zu finden. Hans Geiger unterstützt diesen Standpunkt ebenfalls; wegen des Termins gehe zwar nicht die Welt unter, aber wir müßten eben konsequent bleiben. 6 »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP)« (BT ANL. 130, Drs. V/4138) und »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 96)« (BT ANL. 129, Drs. V/4085); BT STEN. BER. 70, S. 13072. 7 Neumanns Erinnerung trog: nach der Unterbrechung der Sitzung hatte Vizepräsident Jaeger (CSU) die Sitzungsleitung von Karl Mommer übernommen. 8 Der hessische Abgeordnete August Weimer, Hauptvorstandsmitglied der IG Bau Steine Erden. 9 In der Sachverständigenanhörung des Ausschusses für Sozialpolitik am 12. Juni 1969, PA 3112 A5/18 – Prot. 106. 10 Umdruck 697, BT STEN. BER. 70, S. 13187. Ist identisch mit dem Antrag auf Umdruck 677, vgl. Anm. 2. Wie schon bei der 2. Lesung wurde dieser Antrag auch am 12. Juni abgelehnt.

11 BT STEN. BER. 70, Umdruck 696, S. 13187 f. Der Antrag, über den nicht namentlich abgestimmt wurde, wurde abgelehnt. Vgl. ebd., S. 13145.

12 BT STEN. BER. 70, Umdruck 695 (neu), S. 13185 ff. und ebd., Umdruck 693, S. 13188.

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Eugen Glombig betont, daß wir bei der Abstimmung übertölpelt worden sind. Um aber in der Wahlauseinandersetzung konsequent zu bleiben, müßten beide Anträge erneut gestellt werden. Klaus-Peter Schulz unterstützt dagegen Lucie Kurlbaum-Beyer, man solle die Anträge nicht noch einmal stellen, weil dadurch CDU/CSU und FDP erneut zusammengetrie- ben würden. Hugo Collet tritt wiederum dagegen ein, er meint, wir müßten bei unseren Anträgen bleiben. Er weist im übrigen darauf hin, daß der CDU/CSU-Vorschlag, die Höchst- grenze des Beitragssatzes zur gesetzlichen Krankenkasse auf 8 % (statt 8,5 %) zu sen- ken, den besonderen Zwang bedeute, mit dem Einstieg in die Krankenversicherungsre- form zu beginnen. Das sei dabei auch besonders herausgestellt worden. verweist auf die festgelegte politisch-taktische Linie, nach der es gelte, möglichst keine zusätzlichen Streitpunkte aufzuwerfen und zusätzliche Niederlagen zu vermeiden. Er gibt Ernst Schellenberg und Max Seidel recht, es habe sich mit aller Deut- lichkeit gezeigt, daß der sog. CDU-Arbeitnehmerflügel nicht existent sei. Insbesondere die Rolle von Katzer sei geradezu skandalös. Es gelte jetzt aber die psychologische Situation zu bedenken, daß auf jeden Fall vermieden werden müsse, nach den großen erzielten Fortschritten jetzt durch Niederlagen in Nebensächlichkeiten einen falschen Eindruck entstehen zu lassen. Er warnt deshalb vor einer weiteren spektakulären Aus- einandersetzung, man sollte freilich in der Verfolgung der politischen Ziele konsequent bleiben. weist darauf hin, daß ein Globalurteil gegen die Einstellung der Ge- werkschaften nicht zulässig sei, es gelte zu differenzieren. Er unterstützt aber die Mei- nung von Max Seidel und Helmut Schmidt, daß unbedingt der Gewerkschaftsbeirat einberufen werden müsse. Walter Behrendt tritt bei dem Antrag über das Inkrafttreten der Lohnfortzahlung für namentliche Abstimmung ein. Ernst Schellenberg entgegnet Lucie Kurlbaum-Beyer, daß sie sich zu sehr von den kurzfristig wirksamen Zeitungsmeldungen habe beeindrucken lassen. Es sei hier sehr deutlich geworden, daß die CDU/CSU versuche, »auf zwei Schultern zu tragen«, so- wohl bei den Handwerkern und dem Mittelstand, als auch bei den Arbeitern auf Stim- menfang ausgehe. Helmut Schmidt stellt die vorliegenden Anträge zur Abstimmung, es wird mit großer Mehrheit entschieden, daß sowohl der Änderungsantrag, der sich auf Artikel 2, Nr. 2 bezieht, als auch jener, der den Artikel 4 (Heraufsetzung der Pflichtversicherungsgrenze und Beginn der Lohnfortzahlung) betrifft, einzubringen. Darüber hinaus entscheidet sich die Fraktion dafür, für beide Anträge keine namentliche Abstimmung zu verlan- gen.

Zu Pkt. 2. der TO: Berufsbildungsgesetz13 Harry Liehr weist darauf hin, daß die SPD in der gestrigen Plenarsitzung bei der Ab- stimmung zu einem Abänderungsantrag in namentlicher Abstimmung eine weitere Niederlage hat hinnehmen müssen.14 Er stellt die drei Punkte dar, die auf Antrag der CDU/CSU eine wesentliche Abweichung von der Ausschußvorlage darstellen und die Stellung der Gewerkschaften schwächen. Das sei für die dritte Lesung des Berufsbil- dungsgesetzes bedeutsam. Er müsse anerkennen, daß die Änderung gegenüber der Aus-

13 BT ANL. 106, Drs. V/887, BT ANL. 107, Drs. V/1009. 14 Vgl. Anm. 2.

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schußvorlage in etwa in die Richtung des BMWi-Vorschlages ziele, so daß es etwas schwierig werden könnte, dagegen zu polemisieren. Er weist außerdem darauf hin, daß die Gewerkschaften das Gesetz ja bereits in der Ausschußfassung abgelehnt hätten, trotz der vielen positiven Seiten. Er setzt sich für den Versuch ein, noch einmal die Ausschußvorlage wiederherzustellen, möglicherweise durch ein Koalitionsgespräch. Danach sollten wir uns jedoch für dieses Gesetz entscheiden, da es insgesamt doch einen großen Fortschritt darstelle, um den lange genug gekämpft worden sei. Willi Wolf vertritt demgegenüber die Auffassung, daß dieses Gesetz in der geänderten Fassung nicht mehr gegenüber den Gewerkschaften zu verteidigen sei, da diese eindeu- tig diskriminiert seien. Wenn es bei der geänderten Fassung bleibe, sollte man das Ge- setz ablehnen. Walter Behrendt spricht sich ebenfalls für eine Zustimmung zu diesem Gesetz aus, trotz der ganzen Bedenken, die jetzt neu durch die veränderte Fassung entstanden seien. Helmut Schmidt sieht in einem Koalitionsgespräch keinerlei Einigungsmöglichkeiten. Es sei ganz klar, daß man die Opposition gegen dieses Gesetz auf jeden Fall ins Haus bekäme. Dennoch sollten wir jetzt den Kampf durchhalten. Er stellt aber heraus, daß dieses Gesetz im Grunde genommen ein säkulares gesellschaftspolitisches Ereignis darstelle, das durch Randbemerkungen nicht herabgemindert werden dürfe. Karl Regling spricht sich für die Zustimmung zu diesem Gesetz aus, auch wenn die Ausschußvorlage nicht wiederhergestellt werden könne. unterstützt Karl Regling. spricht sich ebenfalls dafür aus, daß wir das Gesetz nicht ablehnen dürften. Harry Liehr schlägt vor, unser Verhalten für die dritte Lesung noch einmal mit den Gewerkschaften abzustimmen und deshalb die dritte Lesung um eine Woche zu ver- schieben. Helmut Schmidt spricht sich dagegen aus, er sieht keine Einigungsmöglichkeit in der Koalition. Er schlägt vor, daß wir den Antrag auf Wiederherstellung der Ausschußvor- lage stellen sollten, dafür jedoch nicht eine namentliche, sondern nur die normale Ab- stimmung verlangen sollten.15 Dafür bittet er die Fraktion um Zustimmung, die mit sehr großer Mehrheit erteilt wird. Der Vorsitzende schließt die Sitzung um 13.30 Uhr.

15 Umdruck 698, BT STEN. BER. 70, S. 13189; Die CDU/CSU beantragte namentliche Abstimmung und lehnte zusammen mit der FDP mit 229 Nein- zu 184 Jastimmen bei 5 Enthaltungen den SPD-Antrag ab, vgl. ebd., S. 13157.

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