Plenarprotokoll 17/51

Deutscher

Stenografischer Bericht

51. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Tagesordnungspunkt 2: neten und Rainer Brüderle . . . 5247 A Antrag der Abgeordneten , Absetzung des Tagesordnungspunktes 1 . . . . 5247 B Priska Hinz (Herborn), Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak- Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haushalt nung ...... 5247 B zukunftsfest machen – Nachhaltig sanie- Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 5247 D ren – Ökologisch und sozial investieren (Drucksache 17/2327) ...... 5274 A (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 1: DIE GRÜNEN) ...... 5274 B Abgabe einer Regierungserklärung durch den (CDU/CSU) ...... 5275 C Bundesminister für Wirtschaft und Technolo- gie: Aufschwung für Deutschland ...... 5248 A Joachim Poß (SPD) ...... 5277 C Rainer Brüderle, Bundesminister (FDP) ...... 5278 A BMWi ...... 5248 A (FDP) ...... 5280 B (SPD) ...... 5251 C (DIE LINKE) ...... 5282 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 5253 A Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 5285 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Steffen Bockhahn (DIE LINKE) ...... 5285 B DIE GRÜNEN) ...... 5253 D Nicolette Kressl (SPD) ...... 5287 A Dr. (DIE LINKE) ...... 5255 B Johannes Kahrs (SPD) ...... 5287 D (CDU/CSU) ...... 5257 A Otto Fricke (FDP) ...... 5290 C Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) ...... 5258 D Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ Dr. (FDP) ...... 5259 D DIE GRÜNEN) ...... 5292 B (BÜNDNIS 90/ Otto Fricke (FDP) ...... 5292 D DIE GRÜNEN) ...... 5261 C (CDU/CSU) ...... 5293 C Dr. (CDU/CSU) ...... 5263 D Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) ...... (SPD) ...... 5265 D 5295 A Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) ...... 5267 D Tagesordnungspunkt 23: Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 5269 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Peter Friedrich (SPD) ...... 5270 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 5272 C zes zu dem Änderungsprotokoll vom II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

21. Januar 2010 zum Abkommen vom weiterer Abgeordneter und der Fraktion 11. April 1967 zwischen der Bundesre- der FDP: Todesstrafe weltweit ächten publik Deutschland und dem König- und abschaffen reich Belgien zur Vermeidung der Dop- (Drucksache 17/2331) ...... 5296 D pelbesteuerungen und zur Regelung g) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und verschiedener anderer Fragen auf dem der FDP: Menschenrecht auf sauberes Gebiete der Steuern vom Einkommen Trinkwasser und Sanitäreinrichtun- und vom Vermögen einschließlich der gen: Versorgung weltweit verbessern Gewerbesteuer und der Grundsteuern (Drucksache 17/2332) ...... sowie des dazugehörigen Schluss- 5297 A protokolls in der Fassung des Zusatzab- h) Antrag der Abgeordneten Gabriele kommens vom 5. November 2002 Lösekrug-Möller, , (Drucksache 17/2255) ...... 5296 B (Peine), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Arbeits- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung marktpolitik erfolgreich umsetzen und eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu ausbauen dem Abkommen vom 17. Februar 2010 (Drucksache 17/2321) ...... 5297 A zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Arabischen Republik i) Antrag der Abgeordneten , Syrien zur Vermeidung der Doppelbe- Dr. , , weiterer steuerung und Verhinderung der Steu- Abgeordneter und der Fraktion DIE erverkürzung auf dem Gebiet der Steu- LINKE: Unabhängige Patientenbera- ern vom Einkommen tung in Regelangebot überführen (Drucksache 17/2251) ...... 5296 C (Drucksache 17/2322) ...... 5297 B c) Erste Beratung des von der Bundesre- j) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth gierung eingebrachten Entwurfs eines (Quedlinburg), , Ulrike Gesetzes zu dem Abkommen vom Höfken, weiterer Abgeordneter und der 23. Februar 2010 zwischen der Bundes- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: republik Deutschland und Malaysia zur Haltung von Wildtieren im Zirkus Vermeidung der Doppelbesteuerung grundsätzlich verbieten und zur Verhinderung der Steuerver- (Drucksache 17/2146) ...... 5297 B kürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksache 17/2252) ...... 5296 C Zusatztagesordnungspunkt 2: d) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Gambke, Britta Haßelmann, , zes zum Abkommen vom 25. Januar weiterer Abgeordneter und der Fraktion 2010 zwischen der Bundesrepublik BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Deut- Deutschland und der Republik Bulga- schen Bundestag bei der Reform der rien zur Vermeidung der Doppelbesteu- Umsatzsteuer beteiligen erung und der Steuerverkürzung auf (Drucksache 17/2333) ...... 5297 C dem Gebiet der Steuern vom Einkom- b) Antrag der Abgeordneten Agnes men und vom Vermögen Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, (Drucksache 17/2253) ...... 5296 D , weiterer Abgeordneter e) Erste Beratung des von der Bundesregie- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- GRÜNEN: Das „Parlament der Bäume zes zu dem Abkommen vom 30. März gegen Krieg und Gewalt“ muss dauer- 2010 zwischen der Bundesrepublik haft geschützt werden Deutschland und dem Vereinigten Kö- (Drucksache 17/1580) ...... 5297 C nigreich Großbritannien und Nord- irland zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und zur Verhinderung der Tagesordnungspunkt 24: Steuerverkürzung auf dem Gebiet der a) Beschlussempfehlung und Bericht des Steuern vom Einkommen und vom Ver- Ausschusses für Ernährung, Landwirt- mögen schaft und Verbraucherschutz zu dem An- (Drucksache 17/2254) ...... 5296 D trag der Abgeordneten Cornelia Behm, f) Antrag der Abgeordneten , Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel , , weiterer Höhn, weiterer Abgeordneter und der Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: CSU sowie der Abgeordneten Marina Schaffung eines Naturwalderbes vorbe- Schuster, , Serkan Tören, reiten und Moratorium für die Privati- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 III

sierung von Bundeswäldern erlassen Elke Ferner (SPD) ...... 5304 B (Drucksachen 17/796, 17/1823) ...... 5297 D Dr. Philipp Rösler, Bundesminister b) Beschlussempfehlung und Bericht des BMG ...... 5304 D Ausschusses für Ernährung, Landwirt- (DIE LINKE) ...... 5305 B schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Philipp Rösler, Bundesminister , Dr. Wolfgang BMG ...... 5305 B Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordne- Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) ...... GRÜNEN: Hofabgabe als Vorausset- 5305 C zung für den Bezug einer Altersrente Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Landwirte abschaffen BMG ...... 5305 D (Drucksachen 17/1203, 17/2266) ...... 5298 B Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 5306 A c)–n) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- BMG ...... 5306 B schusses: Sammelübersichten 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114 und 115 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 3: (Drucksachen 17/2151, 17/2152, 17/2153, 17/2154, 17/2155, 17/2156, 17/2157, 17/2158, Fragestunde (Drucksachen 17/2285, 17/2323) ...... 17/2159, 17/2160, 17/2161, 17/2162) . . . . 5298 B 5306 C

Zusatztagesordnungspunkt 3: Dringliche Frage 1 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Befragung der Bundesregierung: Gesetzent- DIE GRÜNEN) wurf zur Neuordnung des Arzneimittel- marktes in der gesetzlichen Krankenver- Datenübermittlung des BKA an die pakis- tanische Polizei im Fall des deutschen sicherung ...... 5299 B Staatsbürgers Rami M. Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Antwort BMG ...... 5299 C Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Dr. (SPD) ...... 5300 B BMI ...... 5306 C Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Zusatzfragen BMG ...... 5300 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 5301 B 5306 D Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Dr. Philipp Rösler, Bundesminister DIE GRÜNEN) ...... 5307 C BMG ...... 5301 B (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 1 DIE GRÜNEN) ...... 5301 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Durch Mittel der Fast-Start-Initiative im BMG ...... 5301 D Bereich des internationalen Klimaschutzes Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 5302 A vom BMU finanzierte Projekte Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Antwort BMG ...... 5302 B , Parl. Staatssekretärin BMU ...... 5308 A Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 5302 D Zusatzfragen Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 5308 B BMG ...... 5303 A Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ Dr. Erwin Lotter (FDP) ...... 5303 C DIE GRÜNEN) ...... 5308 D Dr. (SPD) ...... 5309 B Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG ...... 5303 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 2 DIE GRÜNEN) ...... 5303 D Dr. Bärbel Kofler (SPD) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Auswirkungen des Marktanreizpro- BMG ...... 5304 A gramms auf Investitionen und Steuerein- IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 nahmen als Beitrag für einen wirtschaft- Mündliche Frage 13 lichen Aufschwung; Fortsetzung von René Röspel (SPD) Marktanreizprogramm und internationa- ler Klimaschutzinitiative im Jahr 2011 Beitrag der Grünen Gentechnik zur Welt- ernährung nach Ansicht der Bundesminis- Antwort terin Dr. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Antwort BMU ...... 5310 B , Parl. Staatssekretär Zusatzfragen BMBF ...... 5315 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 5310 C Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5311 A Mündliche Frage 14 Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 5311 D (BÜNDNIS 90/ Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) ...... 5312 A Umstrukturierung der medizinischen For- schung und Lehre in Schleswig-Holstein

Mündliche Frage 6 Antwort Dr. Matthias Miersch (SPD) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF ...... 5315 D Beurteilung der im Rahmen der Verhand- lungen über die Novelle der IVU-Richtlinie Zusatzfrage vereinbarten Übergangsfrist für die Um- Krista Sager (BÜNDNIS 90/ rüstung oder Abschaltung veralteter DIE GRÜNEN) ...... 5316 A Kraftwerke und Großfeuerungsanlagen Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5316 B Antwort Dr. (SPD) ...... 5316 D Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 5317 A BMU ...... 5312 C René Röspel (SPD) ...... 5317 B

Mündliche Frage 7 Tagesordnungspunkt 4: Dr. Matthias Miersch (SPD) Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- Auswirkungen des seit fast 20 Jahren aus rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes einem explodierten Bohrloch der Exxon zur Änderung des § 33 des Gerichtsverfas- Mobil in der Nordsee ausströmenden Me- sungsgesetzes thangases auf Umwelt und Klima (Drucksachen 17/1462, 17/2350) ...... 5317 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antwort Bundesministerin BMJ ...... 5318 A Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU ...... 5312 C Dr. (SPD) ...... 5319 A Zusatzfragen Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) ...... 5320 D Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 5313 A Jens Petermann (DIE LINKE) ...... 5322 D Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5313 C (BÜNDNIS 90/ Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5323 D DIE GRÜNEN) ...... 5314 A (CDU/CSU) ...... 5324 D Dr. Peter Danckert (SPD) ...... 5325 D Mündliche Frage 12 Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ (SPD) DIE GRÜNEN) ...... 5326 A Stand der Erarbeitung der Grundwasser- verordnung und Beteiligung des Deutschen Bundestages Tagesordnungspunkt 5: Antwort a) Antrag der Abgeordneten Dr. Matthias Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Miersch, , , BMU ...... 5314 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Keine Patente auf Pflanzen Zusatzfragen und Tiere Oliver Kaczmarek (SPD) ...... 5314 D (Drucksache 17/2016) ...... 5327 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 V b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 5351 D Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (SPD) ...... 5354 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Patentie- (FDP) ...... 5355 A rung von Pflanzen, Tieren und biologi- schen Züchtungsverfahren stoppen Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/2141) ...... 5327 C DIE GRÜNEN) ...... 5356 A Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 5327 D Dr. (CDU/CSU) ...... 5328 D Tagesordnungspunkt 8: René Röspel (SPD) ...... 5330 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- Dr. (DIE LINKE) ...... 5330 D torsicherheit zu der Unterrichtung durch den (FDP) ...... 5331 C Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent- wicklung: Stellungnahme des Parlamenta- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ rischen Beirats für nachhaltige Entwick- DIE GRÜNEN) ...... 5332 A lung – Peer Review der deutschen Nachhaltigkeitspolitik Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 5333 A (Drucksachen 17/1657, 17/2061 Nr. 1.1, Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ 17/2314) ...... 5357 A DIE GRÜNEN) ...... 5333 B (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 5357 B Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) ...... 5333 B Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 5358 B Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 5334 D (FDP) ...... 5359 D Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 5336 A (DIE LINKE) ...... 5360 D (CDU/CSU) ...... 5361 C Tagesordnungspunkt 6: Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und DIE GRÜNEN) ...... 5362 B Beschwerden an den Deutschen Bundes- tag; Die Tätigkeit des Petitionsausschusses Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 5363 B des Deutschen Bundestages im Jahr 2009 (Drucksache 17/2100) ...... 5337 A Tagesordnungspunkt 9: (DIE LINKE) ...... 5337 B Antrag der Abgeordneten , Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 5339 A Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abge- (SPD) ...... 5340 D ordneter und der Fraktion der SPD: Für eine soziale Revision der Entsenderichtlinie Stephan Thomae (FDP) ...... 5342 A (Drucksache 17/1770) ...... 5364 C (DIE LINKE) ...... 5343 C Josip Juratovic (SPD) ...... 5364 D Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 5366 B DIE GRÜNEN) ...... 5344 D (DIE LINKE) ...... 5367 B (CDU/CSU) ...... 5346 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 5368 A Klaus Hagemann (SPD) ...... 5346 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 5348 D DIE GRÜNEN) ...... 5369 B Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 5349 D Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 5370 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 7: DIE GRÜNEN) ...... 5371 A Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. (CDU/CSU) ...... 5371 C , Jörn Wunderlich, Dr. , weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Tagesordnungspunkt 10: wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Erste Beratung des von der Bundesregierung Schuldrechtsanpassungsgesetzes eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuer- (Drucksache 17/2150) ...... 5350 D gesetzes 2010 (JStG 2010) Roland Claus (DIE LINKE) ...... 5351 A (Drucksache 17/2249) ...... 5372 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Tagesordnungspunkt 11: Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: UN-geführte Un- Antrag der Abgeordneten Dr. , tersuchung des israelischen Angriffs auf Manfred Zöllmer, Elvira Drobinski-Weiß, den Gaza-Hilfstransport – Sofortige weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Aufhebung der Blockade SPD: Gesamtkonzept zur Stärkung des (Drucksache 17/2259) ...... 5387 C Verbraucherschutzes bei Finanzdienstleis- tungen vorlegen b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, (Drucksache 17/2136) ...... 5372 D FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklä- Dr. Carsten Sieling (SPD) ...... 5373 A ren – Lage der Menschen in Gaza ver- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 5374 B bessern – Nahost-Friedensprozess un- terstützen Dr. (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/2328) ...... 5387 C DIE GRÜNEN) ...... 5374 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 5387 D Harald Koch (DIE LINKE) ...... 5376 A (CDU/CSU) ...... 5388 C Dr. Erik Schweickert (FDP) ...... 5377 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 5390 A Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 5391 C DIE GRÜNEN) ...... 5378 C Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 5379 D DIE GRÜNEN) ...... 5392 D Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 5394 A (SPD) ...... 5381 A

Tagesordnungspunkt 14: Tagesordnungspunkt 12: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Köln), , Ekin schusses für Bildung, Forschung und Tech- Deligöz, weiteren Abgeordneten und der nikfolgenabschätzung Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zu dem Antrag der Abgeordneten Axel eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Knoerig, (Weiden), zur Ergänzung des Lebenspartner- , weiterer Abgeordne- schaftsgesetzes und anderer Gesetze im ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie Bereich des Adoptionsrechts (Drucksache 17/1429) ...... der Abgeordneten Dr. 5395 B (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der (Köln), Katja Dörner, Ekin Deligöz, wei- Fraktion der FDP: Brücken bauen – terer Abgeordneter und der Fraktion Grundlagenforschung durch Validie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die revi- rungsförderung der Wirtschaft nahe- dierte Fassung des Europäischen Über- bringen einkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnen – zu dem Antrag der Abgeordneten René (Drucksache 17/2329) ...... 5395 C Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Innova- Tagesordnungspunkt 15: tionslücke schließen – Zügig ein tragfä- higes Konzept zur Stärkung der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Innovations- und Validierungsfor- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und schung vorlegen Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Petra Crone, Dirk Becker, Gerd (Drucksachen 17/1757, 17/1958, 17/2368) . . 5381 D Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Illegalen Holzeinschlag (CDU/CSU) ...... 5382 B und Holzhandel durch eine durchgreifende René Röspel (SPD) ...... 5383 C EU-Verordnung wirksam verhindern (Drucksachen 17/1962, 17/2315) ...... 5395 D Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) ...... 5385 A (CDU/CSU) ...... 5396 A Dr. (CDU/CSU) ...... 5386 A Petra Crone (SPD) ...... 5397 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 5398 A Tagesordnungspunkt 13: Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 5398 D a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Gehrcke, Jan van Aken, Christine DIE GRÜNEN) ...... 5399 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 VII

Tagesordnungspunkt 16: Anlage 1 Antrag der Abgeordneten René Röspel, Priska Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5419 A Hinz (Herborn), Dr. , Kerstin Andreae und weiterer Abgeordneter: Einrich- tung eines Parlamentarischen Beirats zu Anlage 2 Fragen der Ethik (Ethikbeirat) (Drucksache 17/1806) ...... 5400 B Erklärung der Abgeordneten (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Dr. (CDU/CSU) ...... 5400 C namentlichen Abstimmung über die Be- (CDU/CSU) ...... 5401 D schlussempfehlung des Auswärtigen Aus- schusses zu dem Antrag der Bundesregierung: René Röspel (SPD) ...... 5402 C Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) ...... 5404 A scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope- ration in Darfur (UNAMID) auf Grundlage Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 5404 C der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 DIE GRÜNEN) ...... 5405 B und Folgeresolutionen (49. Sitzung, Tages- ordnungspunkt 9 b) ...... 5419 B

Tagesordnungspunkt 17: Anlage 3 Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiterer Abgeordne- Mündliche Frage 3 ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gerd Bollmann (SPD) NEN: Unterstützung für Alleinerziehende verbessern Zeitplan für die Umsetzung der Abfallrah- (Drucksache 17/2330) ...... 5406 B menrichtlinie der EU in nationales Recht Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 5406 B Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 5407 C BMU ...... 5419 C Christel Humme (SPD) ...... 5409 B Miriam Gruß (FDP) ...... 5410 D Anlage 4 Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 5411 D Mündliche Frage 4 Dr. (SPD) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5412 C Regionale Wertschöpfung und Akzeptanz von Windenergieanlagen bei Kommunen nach Einführung des besonderen Gewerbe- Tagesordnungspunkt 18: steuersplittings und Bedeutung für den weiteren Ausbau der Onshore-Wind- Antrag der Abgeordneten , energie , Hans-Josef Fell, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Antwort GRÜNEN: Steinkohlesubventionen jetzt Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin überprüfen BMU ...... 5419 D (Drucksache 17/2142) ...... 5413 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) ...... 5413 C Anlage 5 Rolf Hempelmann (SPD) ...... 5415 B Mündliche Frage 5 Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 5416 B Dr. Hermann Scheer (SPD) Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 5416 D Anreize für Gemeinden zur Ausweisung von Flächen zur Windenergienutzung in Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergeset- DIE GRÜNEN) ...... 5417 B zes auch nach der möglichen Abschaffung der Gewerbesteuer Nächste Sitzung ...... 5418 C Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Berichtigung ...... 5418 B BMU ...... 5420 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Anlage 6 sel des Forschungszentrums Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helm- Mündliche Frage 8 holtz-Gemeinschaft (SPD) Antwort Beurteilung der Forschungsergebnisse zu Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär den Stickstoffoxidemissionen von Euro-5- BMBF ...... 5421 B LKWs Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Anlage 11 BMU ...... 5420 B Mündliche Frage 16 Sönke Rix (SPD) Anlage 7 Beabsichtigte Schließung der Wirtschafts- studiengänge in Flensburg und der Medizi- Mündliche Frage 9 nischen Fakultät in Lübeck (SPD) Antwort Kenntnisse der Bundesregierung über eine Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Studie aus dem Jahr 2005 zur Klimarele- BMBF ...... vanz von Dieselruß 5421 B Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Anlage 12 BMU ...... 5420 C Mündliche Frage 17 Sönke Rix (SPD) Anlage 8 Maßnahmen zur Sicherung der Hochschul- Mündliche Frage 10 standorte Lübeck und Flensburg Frank Schwabe (SPD) Antwort Konkretes Minderungsziel für Dieselruß Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär als Bestandteil der nationalen Klima- BMBF ...... 5421 C schutzpolitik

Antwort Anlage 13 Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU ...... 5420 D Mündliche Frage 18 (SPD) Gespräche zwischen der Bundesministerin Anlage 9 für Bildung und Forschung und dem Mi- Mündliche Frage 11 nisterpräsidenten von Schleswig-Holstein Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ über die Rücknahme der eingeführten DIE GRÜNEN) Mehrwertsteuersubvention für Hoteliers Verpackung abgebrannter Brennstäbe des Antwort Forschungsschiffes „Otto Hahn“ auf dem Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Gelände des Atomkraftwerks Krümmel; BMBF ...... 5421 D Bevorzugung kurzer Transportwege für radioaktive Stoffe Anlage 14 Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Mündliche Frage 19 BMU ...... 5421 A Dagmar Ziegler (SPD) Gespräche zwischen dem Bund und dem Anlage 10 Land Schleswig-Holstein über eine Abwen- dung der drohenden Schließung von Spit- Mündliche Frage 15 zenuniversitäten wie der Universität Lü- Krista Sager (BÜNDNIS 90/ beck DIE GRÜNEN) Antwort Befassung des Wissenschaftsrats mit dem Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär laut Presseinformationen geplanten Wech- BMBF ...... 5421 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 IX

Anlage 15 Erhalt der Universität Lübeck nach dem Modell des Karlsruher Instituts für Tech- Mündliche Frage 20 nologie (SPD) Antwort Konsequenzen aus dem zunehmenden Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Rückzug der Länder aus mit dem Bund BMBF ...... 5423 A vereinbarten Programmen im Bereich Bil- dung und Forschung Antwort Anlage 20 Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Mündliche Fragen 26 und 27 BMBF ...... 5422 A Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Schließung der Medizinischen Fakultät der Anlage 16 Universität zu Lübeck vor dem Hinter- grund des drohenden Ärztemangels; Fi- Mündliche Frage 21 nanzierung wissenschaftlicher Exzellenz Florian Pronold (SPD) durch die Länder Einschätzung der Hochschulrektorenkon- Antwort ferenz zur Schließung des Medizinstudien- Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär gangs an der Universität Lübeck und BMBF ...... 5423 B Schlussfolgerungen der Bundesregierung

Antwort Anlage 21 Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF ...... 5422 B Mündliche Fragen 28 und 29 (Spandau) (SPD) Reduzierung von Staatsaufgaben zulasten Anlage 17 von Bildung und Wissenschaft; wirksames Mündliche Fragen 22 und 23 Verhindern eines Gegeneinanderausspie- (Schwandorf) (SPD) lens von Hochschulstandorten Vereinbarkeit der Schließung der Hoch- Antwort schulen in Flensburg und Lübeck mit der Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Einrichtung von 275 000 neuen Stu- BMBF ...... 5423 D dienplätzen bis 2015 im Rahmen des Hochschulpakts; Verhinderung weiterer Kürzungen im Bildungs- und Wissen- Anlage 22 schaftsbereich auf Länderebene Mündliche Fragen 30 und 31 Antwort (SPD) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Modelle zur Rettung der Universität Lü- BMBF ...... 5422 C beck und Beitrag des Bundes zum Erhalt der von Schließung bedrohten Universitä- ten Anlage 18 Antwort Mündliche Frage 24 Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär (SPD) BMBF ...... 5424 B Hochschulpolitische Situation in Schles- wig-Holstein und Pläne zur Einrichtung ei- Anlage 23 ner Bildungsrepublik Deutschland Mündliche Fragen 32 und 33 Antwort (BÜNDNIS 90/ Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) BMBF ...... 5423 A Sicherstellung der auf dem G-8-Gipfel zugesagten Mittel ohne Kürzungen in Anlage 19 anderen Bereichen der Entwicklungszu- sammenarbeit sowie geleisteter bzw. zu Mündliche Frage 25 leistender Anteil an den deutschen Zusagen Michael Gerdes (SPD) für Mütter- und Kindergesundheit X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Antwort Anlage 28 Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BMZ ...... 5424 D Mündliche Fragen 40 und 41 Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 24 Einsatz von Polizisten im Rahmen der OSZE zur Stabilisierung der politischen Mündliche Frage 34 Lage in Kirgistan Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Antwort Abschaffung der Rundfunkgebührenbe- , Staatsministerin im freiung für Menschen mit Behinderungen Auswärtigen Amt ...... 5427 A und gemeinnützige Einrichtungen für Be- hinderte Antwort Anlage 29 , Staatsminister bei Mündliche Frage 42 der Bundeskanzlerin ...... 5425 A (Leipzig) (SPD) Konsequenzen für die Finanzierung der Anlage 25 Bildungsaufgaben im Aufgabengebiet des BMI durch die Beschlüsse zur Haushalts- Mündliche Frage 35 konsolidierung Erika Steinbach (CDU/CSU) Antwort Kenntnis der Bundesregierung über die Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Anzahl der in den letzten drei Jahren er- BMI ...... 5427 C mordeten Journalisten

Antwort Anlage 30 Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt ...... 5425 B Mündliche Frage 43 Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Bundesgesetzlicher Änderungsbedarf im Anlage 26 Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit unbe- gleiteter minderjähriger Asylbewerber in- Mündliche Fragen 36 und 37 folge der Rücknahme des Vorbehalts zum Dr. Rolf Mützenich (SPD) Übereinkommen über die Rechte des Kin- Äußerungen der Staatsministerin im Aus- des wärtigen Amt Cornelia Pieper zur polni- Antwort schen Präsidentenwahl; Einmischung in Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Wahlauseinandersetzungen europäischer BMI ...... 5427 D Partnerstaaten Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin im Anlage 31 Auswärtigen Amt ...... 5426 A Mündliche Frage 44 Peter Friedrich (SPD)

Anlage 27 Werbung rechtsextremer Gruppierungen wie die NPD über Google-Anzeigen in Mündliche Fragen 38 und 39 Blogs und Onlineangeboten von Tageszei- Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ tungen DIE GRÜNEN) Antwort Nachweis von Deutschkenntnissen beim Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Nachzug türkischer Ehegatten mit einem BMI ...... 5428 A Hoch- oder Fachhochabschluss; Verzicht auf diesen Nachweis bei erkennbar gerin- gem Integrationsbedarf Anlage 32 Antwort Mündliche Frage 45 Cornelia Pieper, Staatsministerin im Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Auswärtigen Amt ...... 5426 C DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 XI

Deutsche Enthaltung bei der Abstimmung Antwort im EU-Ministerrat zum SWIFT-Abkom- Dr. , Parl. Staatssekretär men mit den USA BMJ ...... 5429 D Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Anlage 37 BMI ...... 5428 B Mündliche Frage 51 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Anlage 33 DIE GRÜNEN) Steuermindereinnahmen durch die ge- Mündliche Fragen 46 und 47 plante Verlängerung der Steuerbegünsti- Dr. Eva Högl (SPD) gung für Agrardiesel in den nächsten fünf Verhalten der Bundesregierung bei der Ab- Jahren und Kompensation der Einnahme- stimmung über das SWIFT-Abkommen verluste und Bedeutung des im Koalitionsvertrag Antwort formulierten Ratifizierungsvorbehalts für Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär das Inkrafttreten BMF ...... 5430 A Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Anlage 38 BMI ...... 5429 A Mündliche Frage 52 (BÜNDNIS 90/ Anlage 34 DIE GRÜNEN) Steuerrechtliche Abschreibungsmöglich- Mündliche Frage 48 keiten in den Bereichen Bauen, Wohnen Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ und Stadtentwicklung DIE GRÜNEN) Antwort Verabschiedung einer Laufzeitverlänge- Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär rung für Atomkraftwerke ohne Zustim- BMF ...... 5430 B mung des Bundesrates Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Anlage 39 BMI ...... 5429 C Mündliche Frage 53 Peter Friedrich (SPD) Vereinbarkeit der Bereitstellung abge- Anlage 35 brannter Brennelemente zur Wiederaufbe- reitung in Russland mit dem erklärten Ein- Mündliche Frage 49 satz für eine Stilllegung der RBMK- Sevim Dağdelen (DIE LINKE) Reaktoren Beteiligung von EULEX Kosovo an der Antwort Abschiebung von mehr als 100 Menschen , Parl. Staatssekretär nach Pristina am 22. Juni 2010 BMWi ...... 5430 D Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Anlage 40 BMI ...... 5429 C Mündliche Frage 54 Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 36 Inhaltliche Argumente der Vertreter der Mündliche Frage 50 vier großen deutschen Energiekonzerne zu Sevim Dağdelen (DIE LINKE) einer Brennelementesteuer und einer even- tuellen Laufzeitverlängerung von Atom- Verweigerung der Bereitstellung von Do- kraftwerken kumenten zum Bosnien-Krieg für den Ka- radzic-Prozess vor dem Internationalen Antwort Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla- Peter Hintze, Parl. Staatssekretär wien durch die Bundesregierung BMWi ...... 5431 A XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Anlage 41 Ermessensleistungen für Schwerbehin- derte im Rahmen des Sparpakets Mündliche Frage 55 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Antwort DIE GRÜNEN) Dr. , Parl. Staatssekretär BMAS ...... Alternativvorschläge zu einer Brennele- 5432 B mentesteuer Antwort Anlage 46 Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi ...... 5431 A Mündliche Fragen 61 und 62 Klaus Brandner (SPD) Auswirkungen des beabsichtigten Wegfalls Anlage 42 des Zuschusses an die Rentenversicherung Mündliche Fragen 56 und 57 beim Arbeitslosengeld II und von Erstat- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ tungen einigungsbedingter Leistungen an DIE GRÜNEN) die Rentenversicherung Zusammenhang zwischen der Laufzeitver- Antwort längerung für Atomkraftwerke und der Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Einführung der Brennelementesteuer so- BMAS ...... 5432 B wie Gespräche zwischen BMF und Atom- kraftwerksbetreibern über Alternativen zu dieser Steuer Anlage 47 Antwort Mündliche Fragen 63 und 64 Peter Hintze, Parl. Staatssekretär Werner Dreibus (DIE LINKE) BMWi ...... 5431 B Entwicklung der mit der örtlichen Prüfung von Leiharbeitsunternehmen befassten Mitarbeiter bei der Bundesagentur für Ar- Anlage 43 beit sowie von Verstößen gegen das vom Mündliche Frage 58 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz betrof- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ fene Leiharbeitnehmer seit 2005; Rege- DIE GRÜNEN) lung und Ergebnisse der Nachkontrolle be- anstandeter Leiharbeitsunternehmen Rechtsrahmen für CCS-Projekte gemäß CCS-Gesetz Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Antwort BMAS ...... Peter Hintze, Parl. Staatssekretär 5433 A BMWi ...... 5431 D Anlage 48 Anlage 44 Mündliche Fragen 65 und 66 Mündliche Frage 59 Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Entwicklung der seit 2005 verhängten Buß- Verankerung qualifizierter Reha-Berater gelder aufgrund von Verstößen gegen das bei den SGB-II-Trägern für die Aufgaben Arbeitnehmerüberlassungsgesetz; politi- nach § 104 SGB IX; Erhöhung des Betreu- scher Handlungsbedarf ungsschlüssels für Schwerbehinderte im Antwort SGB II Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Antwort BMAS ...... 5433 C Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS ...... 5431 D Anlage 49 Mündliche Frage 67 Anlage 45 Jutta Krellmann (DIE LINKE) Mündliche Frage 60 Einsatzbranchen mit den meisten Verstö- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ßen gegen das Arbeitnehmerüberlassungs- Einschränkung der Arbeitsförderungsleis- gesetz; Anzahl der von Verstößen betroffe- tungen durch Umwandlung von Pflicht- in nen Beschäftigten seit 2005 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 XIII

Antwort Anlage 54 Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Mündliche Fragen 72 und 73 BMAS ...... 5434 A Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 50 Auswahlkriterien für die Schließung klei- nerer Kasernen sowie Beteiligung betroffe- Mündliche Frage 68 ner Städte und Gemeinden Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Antwort DIE GRÜNEN) Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär Konsequenzen aus den rückläufigen An- BMVg ...... 5435 C meldezahlen von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bei den Berufsbildungs- werken Anlage 55 Mündliche Frage 74 Antwort Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) BMAS ...... 5434 C Schicksal der auf der Joint Priority Effects List der NATO-Truppen für Nordafghanis- Anlage 51 tan verzeichneten Personen Antwort Mündliche Frage 69 Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ BMVg ...... 5436 B DIE GRÜNEN) Umsetzung der im Rahmen der UN-Behin- dertenkonvention empfohlenen Einrich- Anlage 56 tung von Focal Points Mündliche Frage 76 René Röspel (SPD) Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Pflicht zur Veröffentlichung und Registrie- BMAS ...... 5434 D rung aller klinischen Studien im Rahmen des geplanten Arzneimittelneuordnungsge- setzes Anlage 52 Antwort , Parl. Staatssekretär Mündliche Frage 70 BMG ...... 5436 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aktivitäten auf nationaler und europäi- Anlage 57 scher Ebene zur Einführung einer Tier- Mündliche Frage 77 schutzkennzeichnung Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Antwort Neubewertung der Suchtgefahr bei Sozial- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär lotterien in der anstehenden Novellierung BMELV ...... 5435 A des Glücksspiel-Staatsvertrages Antwort Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär Anlage 53 BMG ...... 5437 B Mündliche Frage 71 Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ Anlage 58 DIE GRÜNEN) Mündliche Fragen 78 und 79 Kürzungen im Agraretat zur Gegenfinan- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ zierung der Beibehaltung der Steuerermä- DIE GRÜNEN) ßigung für Agrardiesel Wirtschaftliche Situation freiberuflicher Antwort Hebammen sowie Gewährleistung der Ver- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär sorgung mit Hebammen insbesondere im BMELV ...... 5435 A ländlichen Raum XIV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Antwort Anlage 63 Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär Mündliche Fragen 85 und 86 BMG ...... 5437 C (SPD) Verkehrsaufkommen von Lkw mit einem Anlage 59 Gewicht von über 12 Tonnen auf vier- und mehrspurigen Bundesstraßen; Einnahmen Mündliche Fragen 80 und 81 aus einer Lkw-Maut auf Bundesstraßen Dirk Becker (SPD) und geschätzte Systemkosten Kriterien für die Leistungsbestimmung Antwort von Biogasanlagen und Beibehaltung der Dr. , Parl. Staatssekretär Leistungsbegrenzung von 500 kW im Au- BMVBS ...... 5439 A ßenbereich Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär Anlage 64 BMVBS ...... 5438 A Mündliche Fragen 87 und 88 Christian Lange (Backnang) (SPD)

Anlage 60 Vorgesehene Einsparungen bei den Infra- strukturinvestitionen für die Jahre 2011 bis Mündliche Frage 82 2014 sowie Auswirkungen auf die Länder- Dr. (BÜNDNIS 90/ finanzen und auf zugesicherte Verkehr- DIE GRÜNEN) sprojekte Nichtverwendung des durch die Material- Antwort forschungs- und -prüfanstalt an der Bau- Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär haus-Universität Weimar im Jahr 1992 BMVBS ...... 5439 B empfohlenen Alkalikieselsäurereaktions- verfahrens beim Straßenbau durch die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- Anlage 65 und Bau GmbH sowie eventuell geschä- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung digte Autobahnabschnitte des Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2010 Antwort (JStG 2010) (Tagesordnungspunkt 10) Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 5439 D BMVBS ...... 5438 B (Heidelberg) (SPD) ...... 5440 C Dr. Daniel Volk (FDP) ...... 5443 A Anlage 61 Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 5443 C Mündliche Frage 83 Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5444 B DIE GRÜNEN) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär Finanzierungsvereinbarung für den zwei- BMF ...... 5445 C ten S-Bahn-Tunnel in München und Betei- ligung des Bundes Anlage 66 Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung BMVBS ...... 5438 C der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Brücken bauen – Grundlagenforschung Anlage 62 durch Validierungsförderung der Wirt- schaft nahebringen Mündliche Frage 84 Michael Groß (SPD) – Innovationslücke schließen – Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung der In- Auswirkungen der geplanten Streichung novations- und Validierungsforschung vor- des Heizkostenzuschusses auf die kommu- legen nalen Finanzen und vorgesehene Kompen- sation (Tagesordnungspunkt 12) Antwort Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 5446 C Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär Krista Sager (BÜNDNIS 90/ BMVBS ...... 5438 D DIE GRÜNEN) ...... 5447 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 XV

Anlage 67 (CDU/CSU) ...... 5448 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Johannes Kahrs (SPD) ...... 5449 D – Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Stephan Thomae (FDP) ...... 5450 D Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts Michael Kauch (FDP) ...... 5451 B – Antrag: Die revidierte Fassung des Euro- päischen Übereinkommens über die Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 5451 C Adoption von Kindern unterzeichnen Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 14 a und b) DIE GRÜNEN) ...... 5452 C

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(A) (C) Redetext

51. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Die Sitzung ist eröffnet. Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herzlich in einem Plenarsaal, dessen Möblierung noch nicht ganz dem Üblichen entspricht, aber in dem die Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Zahl der Stühle über Nacht auf die tatsächliche Zahl der Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden Mitglieder des Bundestages zurückgeführt worden ist; damit werden wir vermutlich bei der Abwicklung der – Drucksache 17/1580 – heutigen Tagesordnung gut auskommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kolle- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gen Rainer Arnold zu seinem 60. Geburtstag gratulieren. ZP 3 Befragung der Bundesregierung (B) (Beifall) (D) Der Kollege Rainer Brüderle hat seinen 65. Geburtstag Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- gefeiert, wozu ich besonders herzlich gratuliere. gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. (Beifall) Ich mache auf eine nachträgliche Ausschussüberwei- sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre! Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages Der zunächst vorgesehene Tagesordnungspunkt 1 mit überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- Anträgen zur Religionsfreiheit wird für heute abgesetzt. Wir beginnen gleich mit einer Regierungserklärung des lich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Bundesministers für Wirtschaft und Technologie. Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Darüber hinaus ist beabsichtigt, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- führten Punkte zu erweitern: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- zung der Richtlinie des Europäischen Parla- ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den ments und des Rates über Endenergieeffizienz Bundesminister für Wirtschaft und Technologie und Energiedienstleistungen Aufschwung für Deutschland – Drucksachen 17/1719, 17/2280 – ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Überweisungsvorschlag: fahren Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ergänzung zu TOP 23 Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verbraucherschutz Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Den Deutschen Bundestag bei der Reform der Sind Sie damit einverstanden? Umsatzsteuer beteiligen (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU, der – Drucksache 17/2333 – SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND- Überweisungsvorschlag: NISSES 90/DIE GRÜNEN: Ja, Herr Präsi- Finanzausschuss dent!) 5248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) – Das ist gut so; das erspart uns weitere Verzögerungen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) NEN]: Schwacher Euro!) Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: dass wir in Deutschland hochqualifizierte und hochmoti- Abgabe einer Regierungserklärung durch den vierte Arbeitskräfte haben, dass wir die Konjunkturloko- Bundesminister für Wirtschaft und Technologie motive für die gesamte Europäische Union sind und dass Aufschwung für Deutschland wir in vielen Zukunftsbranchen an der Spitze der techno- logischen Entwicklung stehen. Ich nenne beispielhaft: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Pharmabereich, Biotechnologie, Nanotechnologie, Me- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- dizintechnik, Umwelttechnologie, die erneuerbaren rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei- Energien und Energieeffizienz. Vergessen wir auch nicht nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. die klassischen Stärken unserer Exportwirtschaft: den Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungs- Maschinen- und Anlagenbau, Chemie und Elektrotech- erklärung dem Bundesminister für Wirtschaft und Tech- nik. Auch bei der Automobilindustrie brummt es wieder. nologie Rainer Brüderle. Nicht nur bei Daimler, Audi und BMW gibt es Sonder- schichten, auch viele Mittelständler fahren die Kapazitä- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten hoch.

Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und Die internationalen Export- und Importströme sind Technologie: übrigens sehr viel komplexer, als mancher behauptet. Der Anstieg des deutschen Exports geht vor allem auf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- die starke asiatische Nachfrage zurück. land ist wieder da, nicht nur sportlich, sondern auch wirt- schaftlich und politisch. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des NEN]: Und auf den schwachen Euro!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Diese Länder produzieren ihrerseits Exportüberschüsse. Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na Sie leiden also nicht unter der deutschen Exportstärke ja!) und an ihren Importen, sondern sie nutzen den Import Die Bundesbank sieht das Wachstum für dieses Jahr bei hochwertiger deutscher Produkte, um wirtschaftlich er- 1,9 Prozent, der Deutsche Industrie- und Handelskam- folgreicher zu sein. mertag sogar bei 2,3 Prozent. Auch 2011 wird sich die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Erholung allen Prognosen zufolge fortsetzen. Das alles (B) geschieht bei historisch niedrigen Zinsen und hoher Auch die Vereinigten Staaten haben das offensichtlich (D) Geldwertstabilität. erkannt. Präsident Obama hat im Februar eine Außen- wirtschaftsoffensive gestartet. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Trotz der Regierung!) Nun gibt es einige, die unser erfolgreiches Export- modell infrage stellen. Sie fordern: Erhöht drastisch die Die Auftragsbücher der Industrie haben sich im Früh- Löhne, macht noch mehr Konjunkturprogramme! Aber jahr deutlich gefüllt. Die Produktionstätigkeit hat sich das ist der falsche Weg. kräftig belebt. Die Auslastung der Kapazitäten nimmt wieder zu. Die Perspektiven für den Welthandel, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Weltwirtschaft haben sich deutlich aufgehellt. Der Inter- nationale Währungsfonds rechnet mit einer Zunahme Das wäre eine Art schleichende „Griechenlandisierung“ des Welthandelsvolumens um 7 Prozent in diesem Jahr der deutschen Wirtschaftspolitik. Das machen wir nicht. und 6 Prozent im nächsten Jahr. Wir müssen dabei sein, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) und wir werden dabei sein. Es werden hundertprozentige Sofortabschreibungen vor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geschlagen, sozusagen eine Abwrackprämie für alte Ma- Das sind ermutigende Signale. Das ist genau die Ent- schinen. Das ist kurzsichtig. Das ist kurzatmig. Das ist wicklung, die wir mit unserer wachstums- und arbeits- aktionistische Strohfeuerpolitik. platzfreundlichen Politik erreichen wollen. Die Wachs- Natürlich ist eine starke Binnenkonjunktur wichtig. tumsbeschleunigung findet statt, so wie wir sie im Natürlich sind die sie stärkenden Investitionen wichtig, gleichnamigen Gesetz zum Jahresanfang angedacht ha- aber dafür brauchen wir eine klare Politik mit langen Li- ben. nien und kein kurzes Denken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Davon haben die Bürger konkret etwas. Die Nettoreal- NEN]: Was ist denn kurzes Denken?) löhne steigen seit Jahren erstmals wieder. Wir müssen die Unternehmen auch in Deutschland in- Die Zahlen zeigen auch: Wir sind eine exportorien- vestieren lassen. Technologiefeindlichkeit und ein rück- tierte Wirtschaft, und darauf können wir stolz sein. Wir wärtsgerichtetes Denken schaden unserem Land. Die können stolz darauf sein, dass die ganze Welt unsere Binnennachfrage wird stärker gefördert, wenn wir die hochwertigen Waren und Dienstleistungen nachfragt, Selbstblockaden etwa bei der Kernenergie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5249

Bundesminister Rainer Brüderle (A) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Einzelne haftet für die Folgen seines Handelns im (C) NEN]: Was?) Positiven wie im Negativen. Das heißt, er muss die Früchte seiner Leistung ernten können, aber er muss oder der Gentechnik auflösen. auch für die Verluste, von Fehlentscheidungen ausgelöst, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einstehen und dafür haften. Die Blockade ist bei Ihnen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich verweise auf den Transrapid in der Vergangenheit. Im Zuge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise Ich nenne die CCS-Technologie mit großen Chancen für ist dieses Prinzip durch zahlreiche Rettungsschirme für unsere Wirtschaft, aber auch für den Klimaschutz. Banken und Unternehmen und sogar für Staaten not- Wer nicht in Deutschland investieren darf, wird zum gedrungen verletzt worden. Wir hatten eine heftige Export gezwungen. Im schlimmsten Fall geht er ganz. keynesianische Situation mit großer Deflationsgefahr So stärkt man die Binnennachfrage nicht. Man stärkt sie, und der Gefahr der Liquiditätsfalle, was bedeutet, dass indem man Beschäftigung schafft. Jeder Arbeitslose, der selbst weitere Liquidität nicht zu Impulsen führt. Karl einen Job bekommt, macht sein eigenes Konjunktur- Schiller sagte es einmal so: Wenn die Pferde nicht sau- programm. Er hat mehr Einkommen und damit mehr fen, dann funktioniert das nicht. Konsummöglichkeiten. Sie kennen die Faustformel: 100 000 Arbeitslose weniger bedeuten allein für den ( [SPD]: Das waren noch Zei- Staat rund 2 Milliarden Euro mehr. Die gestiegenen pri- ten, als Karl Schiller Finanzminister war!) vaten Konsumausgaben, die damit verbunden sind, sind Aber jetzt kommt der Unterschied zu den Politik- hierbei nicht eingerechnet. Ich will lieber Hunderttau- ansätzen der Opposition. Es lohnt sich immer, auch das sende kleine private Konjunkturprogramme haben als zweite Kapitel von Keynes zu lesen: Im Aufschwung staatlichen Dirigismus. müssen staatliche Programme zurückgefahren werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir erleben in Deutschland ein gar nicht so kleines Im Aufschwung müssen die Staatsschulden wieder redu- Jobwunder. Die Erwerbstätigkeit nimmt zu, die Ar- ziert werden. beitslosigkeit nimmt ab. Wir können bald die Marke von 3 Millionen Arbeitslosen unterschreiten. Im Juni gab es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – noch 3,15 Millionen Arbeitslose. Das sind fast 260 000 we- Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- niger als im Vorjahr. Erfreulich ist auch die Lage in Ost- NEN]: Dann macht mal!) deutschland. Dort ist die Arbeitslosigkeit das erste Mal (B) Wir müssen also wieder zu einer bewussten Gestaltung (D) seit Jahren unter 1 Million gefallen. des Ordnungsrahmens kommen. Wir bezeichnen das als (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Exit-Strategie. In ganz Deutschland hat sich die Zahl der Kurzarbei- Der Fall Opel ist ein Beleg dafür, dass wir es mit der ter seit dem Höhepunkt im Mai letzten Jahres etwa hal- sozialen Marktwirtschaft ernst meinen. Wir haben uns die biert. Die Bundesagentur für Arbeit sieht hierin Signale Entscheidung nicht leicht gemacht; aber General Motors für weitere Entspannung. Es gibt erste Schätzungen, dass hat wenige Tage nach unserer Entscheidung alle Anträge wir Ende des Jahres die Zahl auf 100 000 zurückführen auf Staatshilfen in Europa zurückgezogen. General Mo- können. tors übernimmt die volle unternehmerische Verantwor- tung – übrigens mit einem historischen Börsengang im Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit ei- Rücken. Dort stehen Zahlen von 80 bis 90 Milliarden US- ner ILO-Arbeitslosenquote von 7,1 Prozent deutlich bes- Dollar im Raum. Wir haben dem deutschen Steuerzahler ser da als die Vereinigten Staaten mit 9,9 Prozent und einen Haufen Geld gespart. liegt unter dem Durchschnitt des Euro-Raums mit über 10 Prozent. Für dieses Jobwunder gibt es eine Formel: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Flexibilität und Sicherheit. Diese Entwicklung haben zu Auch in anderen europäischen Staaten wird man mit der zwei Dritteln betriebliche Bündnisse und flexible Struk- Entwicklung in Deutschland, was dieses Thema angeht, turen ermöglicht – und nur zu einem Drittel die staatli- nicht unzufrieden sein. che Arbeitsmarktpolitik. Der Fall Opel zeigt auch: Die Unternehmen sollten Meine Damen und Herren, wir können die Weichen ihren Gehirnschmalz und ihre Ressourcen in neue Ideen für weiteren wirtschaftlichen Aufschwung in Deutsch- und Produkte stecken. Viel Zeit und viel Geld für Sub- land stellen. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die ventionsberater, Anwälte und Lobbyisten auszugeben, Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die christ- ist weder marktwirtschaftlich noch unternehmerisch. lich-liberale Koalition hat diesen Kompass. In der sozia- len Marktwirtschaft geht es um die richtige Balance von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Staat und Markt, von eigenverantwortlichen Entschei- Zum konsequenten Rückzug des Staates aus den Krisen- dungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und mechanismen gehört, dass wir den Wirtschaftsfonds kollektiven Entscheidungen des Staates. Deutschland nicht willkürlich verlängern; sonst drohen In diesem Zusammenhang ist das Prinzip von Eigen- Gewöhnungseffekte. Bis zum 31. Dezember 2010 kön- verantwortung und Haftung von zentraler Bedeutung. nen noch Anträge gestellt werden. Derzeit sehe ich kei- 5250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Bundesminister Rainer Brüderle (A) nen Grund, den Fonds darüber hinaus weiterlaufen zu schlüsse des G-20-Gipfels vom vergangenen Wochen- (C) lassen. ende zeigen, dass die Einsicht in die Zusammenhänge auch international gewachsen ist. Die Euro-Krise hat uns gezeigt: Wettbewerbsfähigkeit und klare, saubere ordnungspolitische Grenzen sind (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auch in Europa unabdingbar. Auch in Europa brauchen Aber national wird nichts umgesetzt!) wir eine ordnungspolitische Diskussion. Denn in Europa Die Industriestaaten haben sich bei diesem Treffen ver- gibt es unterschiedliche Philosophien und Ansätze, etwa pflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbieren. Die Bun- das skandinavische Wohlfahrtsmodell, das zentralisti- desregierung ist also keineswegs international isoliert, sche Modell der Franzosen, die Freihandelstradition der wenn wir ab dem kommenden Jahr den Ausstieg aus den Engländer und die soziale Marktwirtschaft in Deutsch- in der Krise angewachsenen Staatsdefiziten einleiten. land. Die sogenannten nichtkeynesianischen Effekte der Diese unterschiedlichen Kulturen müssen im Bereich Haushaltskonsolidierung können ihre Wirkung entfalten. der Wirtschaftspolitik wirkungsvoll koordiniert werden. Die Menschen können darauf vertrauen, dass die Schul- Dabei kann es nicht um eine zentrale Detailsteuerung den von heute nicht die Steuern von morgen sind. Des- von Einzelmaßnahmen der Mitgliedstaaten durch einsei- wegen setzen wir an der Ausgabenseite an. tige Vorgaben der EU gehen; so verstehen jedenfalls wir den Begriff „Wirtschaftsregion“ nicht. Wir brauchen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vielmehr ein strukturpolitisches Frühwarnsystem. Für den Etat des Wirtschaftsministeriums bedeutet Die tiefer liegenden strukturellen Fehlentwicklungen das zum Beispiel weniger Subventionen für die Stein- müssen früher, klarer, wirkungsvoller erkannt und ange- kohle. Bemerkenswert ist, dass die Grünen einen Antrag gangen werden. zu diesem Thema auf die heutige Tagesordnung haben setzen lassen, allerdings ohne Aussprache. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Und wie machen Sie das?) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sorry! Aber auch Sie wissen, woran Letztlich steht hinter den Fehlentwicklungen und den das liegt!) Defiziten mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Die tiefe Ursache der griechischen Misere ist mangelnde Wettbe- Schade! Dazu hätte man nämlich manches sagen kön- werbsfähigkeit. nen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aha! Was denn? Sagen Sie doch mal etwas (B) Nicht nur der Blick auf die finanzpolitischen Indika- dazu!) (D) toren wie Defizitquote und Schuldenstand ist wichtig, um Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zukünf- Mit ihrem Sparpaket sendet die Bundesregierung ein tig muss auch die Entwicklung weiterer Kennzahlen Signal der Stabilität und Klarheit. Wir kommen ohne Er- sorgfältig beobachtet werden, zum Beispiel die Entwick- höhung der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer lung von Löhnen, Preisen und Produktivität. Wir brau- aus. Wir wollen durch Sanieren wachsen. chen ein neues, effektiveres Verfahren der wirtschaftspo- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten litischen Begleitung und Überwachung. Es müssen der CDU/CSU) rechtzeitig die richtigen politischen Signale gesendet Stoltenberg und Lambsdorff ist es Anfang der 80er-Jahre und die notwendigen Reformprozesse angestoßen wer- gelungen, gleichzeitig die Nettokreditaufnahme zu hal- den. Dazu gehört auch der notwendige Nachdruck. bieren, die Staatsquote zu senken und dabei auch noch Ein solches Verfahren muss über klare Strukturen, neues Wachstum zu produzieren. Regeln und eventuell auch Sanktionsmöglichkeiten ver- Im zweiten Schritt wollen wir durch Wachstum die fügen. Wir sollten dabei auf vorhandene Strukturen – ich Haushalte sanieren. Mit unserem Sparpaket schaffen wir denke etwa an den Wettbewerbsfähigkeitsrat – auf- den Spielraum für zukünftig niedrigere Steuern und Ab- bauen. Ein solcher Rat – Stichwort „ECO-COMP“ – gaben. Wir schaffen den Spielraum für bessere Kreditbe- könnte die Mitgliedstaaten sturkturpolitisch begleiten dingungen. Nimmt sich der Staat bei der Kreditauf- und zusätzlich als Frühwarnsystem dienen. nahme zurück, haben die Unternehmen ein größeres Als überzeugter Europäer sage ich: Wir müssen un- Kreditangebot zur Verfügung. Eine steuerliche Entlas- sere eigenen Hausaufgaben machen. Unsere Zusage zur tungsperspektive hilft Wachstumskräften. Ein einfaches Öffnung des Arbeitsmarktes ab April nächsten Jahres Steuerrecht, Strukturreformen und Entlastungsperspek- werden wir einhalten. Wir sollten auch nicht durch neue tive gehören zusammen. Schutzzäune neue Barrieren durch die Hintertür auf- Wir werden nicht den Fehler von Grün-Rot wiederho- bauen, nur weil sich einzelne Branchen vor Wettbewerb len und ein monströses Steuervergünstigungsabbauge- fürchten. setz vorlegen, das die Entlastungsperspektive vollkom- men außer Acht lässt. Meine Damen und Herren, das Vertrauen der Bürge- rinnen und Bürger in geordnete Staatsfinanzen gehört zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den unverzichtbaren Voraussetzungen für nachhaltiges der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜND- wirtschaftliches Wachstum. Die Konsolidierung der öf- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht erst einmal fentlichen Haushalte ist kein Selbstzweck. Die Be- eine Ausnahme für Hotels!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5251

Bundesminister Rainer Brüderle (A) Das ist damals ökonomisch und politisch gescheitert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Fritz (C) Die Bevölkerung war tief verunsichert und die Wirt- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 4 Pro- schaft gelähmt. zent!) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn 4 Prozent?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Heute heißt es Maßhalten, damit morgen die Entlastung Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. kommen kann. (Beifall bei der SPD) Um Maß und Mitte geht es auch bei der Energiepoli- tik. Die christlich-liberale Koalition sorgt für eine ver- Garrelt Duin (SPD): lässliche, klimafreundliche und kostengünstige Energie- Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und versorgung. Deshalb werden wir die Laufzeiten für Kollegen! Sehr geehrter Herr Brüderle, das hatten Sie Kernkraftwerke verlängern. Kernenergie ist eine Brücke sich so schön gedacht, als Sie – ich glaube, für das ganze ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Haus überraschend – diese Regierungserklärung zum Thema Aufschwung für den heutigen Morgen auf die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Tagesordnung gesetzt haben. Ihre Vorstellung war so: Thomas Oppermann [SPD]: Habt ihr euch Ich verkünde am Montag, dass der Aufschwung da ist, schon verständigt, um wie viele Jahre?) am Mittwoch führen wir eine glanzvolle Bundespräsi- Im Herbst werden wir dazu die Eckdaten vorlegen. dentenwahl durch, und am Donnerstagmorgen kann ich Der Bundestag wird in der Folge über die Änderung des hier noch einmal kraftvoll sagen, wie erfolgreich diese Atomgesetzes abstimmen. Die Verfassungsressorts prü- Bundesregierung ist. fen das gerade, übrigens auch im Blick auf die kürzlich (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts NEN]: Das hat leider nicht geklappt!) zum Luftsicherheitsgesetz. Ich persönlich gehe davon aus, dass das ohne Beteiligung des Bundesrats geht, da Das hat nicht ganz funktioniert: Nachdem Sie ange- auch der Ausstieg aus der Kernenergie ohne Beteiligung kündigt hatten, wie groß der Aufschwung ist, ist der des Bundesrats möglich war. DAX um 1,5 Prozent eingebrochen. ( [CDU/CSU]: Das hat doch da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – mit gar nichts zu tun! Sie reden wie der Blinde Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: von der Farbe! – Weitere Zurufe von der CDU/ Das war etwas ganz anderes!) CSU) (B) (D) Bezahlbare Energie ist für Wirtschaft und Verbrau- Der gestrige Tag hat eines gezeigt: Ihnen von der Koali- cher wichtig. Mindestens genauso wichtig sind bezahl- tion ist es gestern nicht gelungen, in der regulären Spiel- bare Rohstoffe. Das wird ein Megathema der nächsten zeit einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen nicht gelungen, Jahre werden. Die großen Aktivitäten der Investment- in der Verlängerung einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen banken auf diesem Feld geben erste Hinweise. Die Kar- erst im Elfmeterschießen gelungen – unter tätiger Mit- tellbildung nach Vorbild der OPEC setzt jetzt etwa auch hilfe der Linken in diesem Parlament –, einen Sieg zu er- bei Eisenerz an. In zwölf Monaten haben sich die Preise ringen. Das ist die Wahrheit. für Eisenerz mehr als verdoppelt. Uns muss es darum ge- hen, dass Deutschland weiterhin verlässliche und kos- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tengünstige Rohstoffe zur Verfügung hat. DIE GRÜNEN) Diese Regierung geht auf dem Zahnfleisch. Das wird lei- Klar ist: Der Staat wird nicht selbst in den Markt ein- der gerade in der Wirtschaftspolitik deutlich. greifen und etwa Rohstoffe einkaufen. Wir helfen dort, wo Kooperation von Wirtschaft und Politik einen Mehr- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Kleine wert bringt. Die Bundesregierung baut derzeit in der Mathematik! Rechnen lernen!) Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, eines will ich eine Rohstoffagentur auf. Sie wird der Wirtschaft hel- noch sagen, bevor ich auf die Rede des Herrn Bundes- fen können, konkrete Informationen über Vorkommen zu wirtschaftsministers eingehe. Wir hatten in der vergan- erlangen und Möglichkeiten anzupacken. genen Woche einen Weltwirtschaftsgipfel, nämlich den Auf dem Rohstoffgipfel im Wirtschaftsministerium G-20-Gipfel. Vorher gab es einen G-8-Gipfel. Wenn uns – die zweite Runde hat schon stattgefunden – haben wir in diesem Hause und die deutsche Öffentlichkeit insge- vereinbart, dass gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt, samt – jeden Bürger und jede Bürgerin – in den letzten dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eineinhalb bis zwei Jahren eine Frage beschäftigt hat, und Entwicklung Rohstoffpartnerschaften mit Entwick- dann ist es die: Wie kriegen wir es hin, die richtigen lungsländern auf den Weg gebracht werden können. Die Lehren aus dieser Finanzmarktkrise, die eine reale Wirtschaft selbst wird bis Mitte Juli Vorschläge dazu Wirtschaftskrise geworden ist, zu ziehen? Sehr verehrte vorlegen. Die Märkte werden jetzt weltweit neu verteilt. Frau Bundeskanzlerin, ich hätte erwartet, dass Sie nach Da muss Deutschland als Exportnation dabei sein. Ihrer Rückkehr aus Toronto eine Regierungserklärung darüber abgeben, wie Sie gedenken, weltweit gegen die Wir sind auf einem guten Weg. Der Aufschwung geht Finanzmarktakteure vorzugehen und sie an den Kosten weiter. Der Kurs der Regierung hat sich bestätigt. dieser Krise zu beteiligen. Das wäre heute hier Ihr Platz 5252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Garrelt Duin (A) gewesen. Stattdessen kümmern Sie sich nur darum, Ihre wurde, dass Arbeit wieder in der Grauzone, also in der (C) Koalition mit Ach und Krach zusammenzuhalten. Schwarzarbeit, verschwindet? Dass ordentlich abgerech- net wurde, war gut für die Bürgerinnen und Bürger und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für die Handwerksbetriebe in unserem Land. DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Merkele statt Brüderle!) (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Herr Wirt- Es gäbe also eine ganze Reihe von Punkten, die man schaftsminister hat gesagt, der Aufschwung sei da und ganz konkret anfassen könnte. Aber das ist natürlich von diese Bundesregierung habe so viel dafür getan. Es wäre diesem Wirtschaftsministerium, von dieser Bundesregie- ja schön, wenn der Aufschwung tatsächlich selbsttra- rung nicht zu erwarten. gend wäre. Davon sind wir aber leider noch ein gutes Stück entfernt, weil die Akteure auf den Märkten auch Über einige Themen sind Sie heute locker hinwegge- nach wie vor verunsichert sind. Das gilt ganz besonders gangen, zum Beispiel darüber, dass die Zahl der Insol- für den Binnenmarkt. venzen in Deutschland trotz der konjunkturellen Erho- lung gestiegen ist. In den ersten sechs Monaten des Wenn Sie sich vor Augen führen, dass das Ifo-Institut laufenden Jahres haben 17 360 Unternehmen einen In- die Geschäftsentwicklung in den kommenden sechs Mo- solvenzantrag gestellt. Das sind 7,1 Prozent mehr als im naten sehr zurückhaltend einschätzt, wenn Sie sich ver- Vorjahreszeitraum. Sie haben kein Wort zu dieser Ent- gegenwärtigen, dass das IMK sagt, dass die Wirtschafts- wicklung gesagt. dynamik bereits in der zweiten Jahreshälfte deutlich nachlassen wird, wenn Sie sich den Konjunkturbericht In der letzten Woche haben wir eine sehr schwerwie- des Bankenverbandes anschauen, in dem ebenfalls steht, gende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum dass es viele Gründe gibt, die gegen die Erwartung spre- Grundsatz der Tarifeinheit zur Kenntnis nehmen chen, dass es im zweiten Halbjahr ein deutlich positive- müssen. Ich hätte erwartet, dass sich der Bundeswirt- res Gesamtbild geben wird, schaftsminister hier und heute, in einer solchen Regie- rungserklärung, wenigstens ansatzweise zu diesem (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das hättet Thema geäußert und gesagt hätte: Wir müssen gemein- ihr gern!) sam mit dem DGB und der BDA das weiterführen, was diese beiden hierzu schon entwickelt haben. – Sie glau- dann ist es notwendig, mehr zu sagen als der Bundes- ben noch immer an das seligmachende Instrument der wirtschaftsminister. Er hat heute nur gesagt: Wir machen betrieblichen Bündnisse. Nein, es kommt darauf an, dass eine Exit-Strategie. – Das kann nicht die Antwort auf wir Frieden in den Betrieben haben, und das geht nur diese Herausforderung sein. über die Tarifeinheit in Deutschland. Deswegen wäre es (B) (D) Lassen Sie uns doch endlich eine Debatte darüber be- eine Herausforderung für dieses Parlament, gemeinsam ginnen, welche Instrumente, die wir unter anderem mit mit der BDA, dem DGB und anderen Partnern dafür zu den beiden Konjunkturpaketen auf den Weg gebracht ha- sorgen, dass wir das nach diesem Urteil auch in Zukunft ben und die sehr hilfreich waren – das wird inzwischen sicherstellen können, Herr Fuchs. Durch die Bewälti- auch von der FDP nicht mehr bestritten, auch wenn sie gung dieser Aufgabe könnten wir gemeinsam etwas vo- damals laut dagegen vorgegangen ist –, über das Ende ranbringen. dieses Jahres hinaus fortbestehen müssen, damit wir (Beifall bei der SPD) einen dauerhaften, selbsttragenden Aufschwung in Deutschland bekommen können. Warum kommen Sie Sie setzen stattdessen auf eine völlig falsche Sparstra- überhaupt auf die Idee – es ist wirklich aberwitzig –, das tegie ohne jeglichen Impuls für ein wirklich nachhaltiges erfolgreichste Programm, das wir in den letzten Jahren Wachstum in Deutschland. Das, was Sie hierzu vorlegen, gehabt haben, nämlich das CO2-Gebäudesanierungspro- ist zu wenig. Sie verzetteln sich in Kleinigkeiten, anstatt gramm, so einzudampfen, wie Sie das vorhaben? eine klare Linie für Deutschland auch mit Blick auf die internationalen Verflechtungen der deutschen Wirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaft zu entwickeln. All das gibt es bei Ihnen nicht. DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Absolut unglaublich!) Deswegen bin ich genötigt, Herr Bundestagspräsi- dent Lammert, mit Ihrer Genehmigung, die ich jetzt ein- Das ist der größte Fehler, den man überhaupt machen mal voraussetze, auf das zurückzukommen, was Sie kann, weil doch gerade durch dieses Programm den Bür- gestern gesagt haben. Sie haben es natürlich auf das gerinnen und Bürgern die Möglichkeit eröffnet wird, die Amt des Bundespräsidenten bezogen, als Sie, wie ich eigenen Energiekosten zu senken. Auch für das Hand- fand, sehr nachvollziehbar gesagt haben: Man muss in werk war es sehr erfolgreich, weil es ihm viele Aufträge einer Demokratie kein Amt übernehmen; aber wenn verschafft hat. man denn gewählt ist, dann muss man das Amt mit aller Wie kann man in einer solchen Situation denn nicht Kraft ausüben und ausführen. – Sehr geehrter Herr Bun- wenigstens einmal darüber nachdenken, ob man die Re- deswirtschaftsminister Brüderle, das und nicht mehr ver- gelung, die wir für die Absetzbarkeit der Handwer- langen wir auch von Ihnen. kerrechnungen in der letzten Wahlperiode gemeinsam Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. getroffen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, noch einmal fortsetzt, weil sie so eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ positive Wirkung gehabt hat und weil mit ihr vermieden DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5253

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: nismus muss so verstanden werden, wie er von Keynes (C) Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/ gedacht war: Im Aufschwung müssen Maßnahmen so- CSU-Fraktion. fort zurückgefahren und Sparmaßnahmen eingeleitet werden, damit die Kosten der deflatorischen Phase wie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der ausgeglichen werden können. Ich bin davon über- zeugt, dass die Sparpakete, die wir bis jetzt beschlossen Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): haben, richtig sind. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Dass wir nicht so stark in das Soziale einschneiden, Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf- will ich an zwei Beispielen klarmachen. Der Bereich So- grund eines spürbaren Aufschwungs in der Wirtschaft ziales macht ungefähr 55 Prozent des Bundesetats aus, und ganz besonders – und das ist sehr erfreulich – auf aber der Anteil des Bereichs Soziales an unserem Spar- dem Arbeitsmarkt erleben wir momentan ein Sommer- paket beträgt rund 30 Prozent. Er ist also unterproportio- märchen. Nein, es ist kein Märchen, es ist real. Gott sei nal, weil wir uns unserer Verantwortung gegenüber den Dank ist das so. Wir sind aus der Krise heraus, und zwar sozial Schwächeren in der Republik bewusst sind. Das schneller, als wir alle uns das gedacht haben. zeigt unser Sparpaket sehr deutlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- neten der FDP) derspruch bei der SPD, der LINKEN und dem Wir haben die Folgen dieser Krise gut gemeistert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu haben alle Programme, die wir in diesem Hohen Ich halte es für richtig, dass wir in bestimmten Berei- Hause gemeinsam erarbeitet haben, beigetragen. Herr chen Einsparungen vorgenommen haben. Ich will einen Duin, ich gebe Ihnen recht: Die Konjunkturprogramme Bereich nennen: Wenn wir beim Elterngeld Einsparungen haben gewirkt. Alles andere, was Sie zur Wirtschafts- vorgenommen haben, dann haben wir das deswegen ge- politik von sich gegeben haben, waren aber eher Klein tan, weil das Elterngeld bei Hartz-IV-Familien falsch an- Fritzchens Wirtschaftsweisheiten, die nicht ganz nach- gesetzt ist. Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Das vollziehbar sind. Elterngeld war und ist eine Lohnersatzleistung und nichts Auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat anderes. Wenn heute eine Hartz-IV-Familie mit zwei Kin- gewirkt. Zum 1. Januar dieses Jahres haben wir die Bür- dern inklusive Elterngeld rund 1 870 Euro netto erhält, gerinnen und Bürger in Deutschland in einem Gesamt- dann führt das dazu, dass sich sehr viele dem ersten Ar- umfang von rund 23 Milliarden Euro entlastet. Ein Kon- beitsmarkt nur relativ zögerlich zur Verfügung stellen. junkturprogramm in dieser Größenordnung hat es selten Das muss korrigiert werden, und das wollen wir tun. (B) gegeben. In allen Bereichen wurden Wirkungen erzielt. (D) Mit Sicherheit ist das einer der Gründe dafür, dass die Präsident Dr. Norbert Lammert: Wirtschaft mittlerweile wieder boomt und dass neu ein- Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin gestellt wird. Bei einer Konjunkturumfrage des Ifo-Insti- Haßelmann? tuts haben alle befragten Unternehmen gesagt, dass sie davon ausgehen, dass sich der Aufschwung in der zwei- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): ten Jahreshälfte eher verstetigen und verstärken wird. Herr Duin, Sie haben hierzu etwas Falsches gesagt. Man Warum nicht? sollte die entsprechenden Statistiken eben lesen, bevor man etwas behauptet. Präsident Dr. Norbert Lammert: Na, also. – Bitte schön, Frau Haßelmann. (Klaus Barthel [SPD]: Was lesen Sie denn für Statistiken?) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben mit den Rettungsschirmen für Griechen- Herr Fuchs, da Sie dankenswerterweise ausgeführt land und den Euro auch auf dem europäischen Finanz- haben, dass das Elterngeld für Hartz-IV-Berechtigte ge- markt richtig reagiert. Der Euro steht heute bei strichen werden soll, weil es sich dabei um eine Lohn- 1,23 Dollar. Das ist überhaupt kein Drama. Im Gegen- ersatzleistung handelt und das nicht der Intention des El- teil: Die deutsche exportierende Wirtschaft ist nicht un- terngeldes entspricht, frage ich Sie: Wenn Sie diese zufrieden damit, weil dadurch unsere Chancen im dollar- Argumentation durchgängig beibehalten wollen, warum abhängigen Ausland, in das immerhin rund 40 Prozent kürzen Sie bei Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän- unserer Exporte gehen, verstärkt werden. Das sollte man gern das Elterngeld, nicht aber bei Studierenden und bei in diesem Zusammenhang sehen. Der Euro hat schon Hausfrauen bzw. Hausmännern, die in einer Familien- einmal bei 85 Cent und auch bei 1,55 Dollar gestanden. konstellation leben, wo eine Person ein volles Gehalt be- Das war jeweils zu handhaben; auch das gehört zur zieht und die andere Person nicht arbeitet? Ich finde das Wahrheit. insgesamt nicht richtig. Wo aber greift das Argument der Ich denke, dass die Bundesregierung richtig gehandelt Lohnersatzleistung bei diesen beiden Gruppen? hat, als sie diese Krise jetzt für beendet erklärt hat. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister für diese Aussage Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): dankbar. Es ist völlig richtig, dass wir die Lehre von Ich bin der Meinung, dass die Lohnersatzleistung ge- Keynes vollständig betrachten müssen. Der Keynesia- rade bei Hartz-IV-Empfängern, die dem Arbeitsmarkt ja 5254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Michael Fuchs (A) nicht zur Verfügung stehen – jedenfalls zurzeit nicht –, Auf dem G-20-Treffen in Toronto wurde beschlossen, (C) nicht angebracht ist. Es ist richtig, dass wir das Eltern- die Neuverschuldung bis zum Jahre 2013 zu halbieren geld dort kürzen. Ich habe des Weiteren gesagt, dass je- und bis zum Jahre 2016 auf null zu setzen. mand, der Hartz IV bezieht und Elterngeld empfängt, rund 1 870 Euro netto hat. Wissen Sie, wie viel das (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- brutto ist? Das sind knapp 3 000 Euro brutto. NEN]: Ja!) Ich hoffe erstens, dass das umgesetzt wird, und zweitens, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass dadurch ein neues Denken in der Welt einsetzt, das Das war nicht die Frage!) dazu führt, dass endlich wirklich mit dem Sparen begon- Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass der Hartz-IV- nen wird, und zwar in allen Bereichen; denn nur eine Empfänger dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung Politik, die dazu führt, dass die Haushalte sich nicht steht. Das ist einer der Gründe, warum wir diese Maß- mehr neu verschulden, sondern im Gegenteil in die Lage nahme ergriffen haben. versetzt werden, Schulden abzutragen, wird eine lang- fristige und nachhaltige Politik – daran müsste gerade (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den Grünen gelegen sein – sein. Dafür kämpfen wir. der FDP) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Situation unseres Landes hat sich deutlich verbes- NEN]: Wir machen das mit der Nachhaltigkeit sert. Der Außenhandel gewinnt an Fahrt. Ich habe eben ein bisschen besser!) schon gesagt, dass dazu der Euro-Kurs beiträgt. Die Auf- Dazu gehört für mich, dass die Wirtschaft ein wenig tragsbücher der Industrie füllen sich. Der Bundeswirt- umdenken muss. Ich finde es schon bedenklich, wenn schaftsminister hat vollkommen recht: Das gilt für fast immer wieder neue Forderungen an die Politik gestellt alle Branchen. Vor allen Dingen beim Maschinenbau, werden. Einige dieser Forderungen aus den letzten Wo- der im letzten Jahr eine unserer kritischen Branchen war, chen will ich einmal aufzählen. geht es jetzt wieder nach oben. Der IWF rechnet damit, dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4 Prozent Zum Beispiel erklären die Airlines: Da war Asche wächst. Wir müssen sehen, dass wir davon unseren Teil am Himmel; jetzt brauchen wir Asche von der Politik. – abbekommen. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen „Asche für Asche“ ist eine Politik, die ich nicht beson- wir alles einsetzen. Ich glaube, dass wir dazu in der Lage ders amüsant finde. Dabei handelt es sich um ein origi- sind. näres Risiko einer Airline. Das kann nicht von der Poli- tik gelöst werden. Es ist richtig, wenn wir uns auf den asiatischen Raum (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D) fokussieren. China wird in diesem Jahr um annähernd der FDP) 10 Prozent wachsen. Da werden unsere Hightechpro- dukte gebraucht. Das zeigt sich gerade in der letzten Ich habe auch ein Problem damit, dass wir jetzt eine Zeit. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar da- Anschubfinanzierung für den Kauf von Elektromobili- für, dass er China in den Fokus genommen hat. Dass tätsfahrzeugen leisten sollen. Es ist wiederum eine Auf- seine erste Auslandsreise dorthin führte, hat sicherlich gabe der deutschen Industrie und der deutschen Automo- dazu beigetragen. bilwirtschaft, solche Dinge ohne staatliche Hilfen zu machen. Der Staat kann nicht an allen Stellen eingrei- Viele Maßnahmen, die wir ergriffen haben, sind rich- fend wirken und versuchen, die Fehler, die in der Ver- tig. So haben wir das Kurzarbeiterprogramm verlän- gangenheit in den Unternehmen vielleicht gemacht wor- gert. Allerdings kann man die Frage stellen, ob es auf- den sind, überall zu korrigieren. grund der wesentlich verbesserten Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht unter Umständen schon früher zu- Im Übrigen finde ich es hervorragend, dass der Bun- rückgeführt werden kann, um Kosten zu sparen, damit deswirtschaftsminister verhindert hat, dass Opel zusätz- wir in unseren Sparprogrammen vorankommen. Herr liches Geld bekommt. Dass General Motors in der Lage Duin, es ist festzustellen, dass die von uns umgesetzten ist, das alles selbst zu finanzieren, hat uns dieses Unter- Programme richtig waren. Wenn sie allerdings auf dem nehmen drei Tage nach dem Entscheid des Bundeswirt- Arbeitsmarkt in dieser Form nicht mehr benötigt wer- schaftsministers bestätigt. den, dann ist eben Sparen angesagt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Sparpaket – lassen Sie mich das noch einmal be- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eigentlich ist es tonen – war richtig. Die Bundeskanzlerin hat in der jetzi- schon eine ziemlich große Unverschämtheit, das Minis- gen Weltmeisterschaftsphase das wichtige Auswärtstor terium über Monate mit allen möglichen Anträgen zu be- geschossen, indem sie Herrn Obama dazu gebracht hat, schäftigen – ich wüsste gerne einmal, wie viele Mann- zu erkennen, dass zusätzliche Maßnahmen falsch sind tage dafür draufgegangen sind – und anschließend zu und dass Sparen angesagt ist. Dazu möchte ich ihr herz- sagen: April, April! Wir brauchen euch gar nicht; wir lich gratulieren. Es war alles andere als einfach, das in können es alles selber. – Das ist schon höchst ärgerlich. Toronto umzusetzen und durchzusetzen. So sollte man mit der Bundesregierung und dem Bundes- wirtschaftsministerium nicht umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Garrelt Duin [SPD]: Das war ein Eigentor!) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5255

Dr. Michael Fuchs (A) Einen letzten Punkt will ich erwähnen. Ich halte es für Man muss sie auch im Falle eines Unfalls beherrschen (C) richtig, dass wir uns sehr intensiv mit dem Thema Ener- können. Wenn uns je ein Atommeiler um die Ohren giepolitik beschäftigen. Dazu gehört für mich, dass die fliegt, können Sie – wie wir alle – nichts einschätzen. Sie Kernenergie eine Brückentechnologie in das Zeitalter wissen nicht, wie viele Tote es gibt. Sie wissen nicht, ob der erneuerbaren Energien ist. man unser Land noch bewohnen kann. Sie wissen nicht, wie viele Generationen das betrifft. Ich sage Ihnen: Las- (Klaus Barthel [SPD]: Brückentechnologie?) sen Sie die Finger von einer Technologie, die wir alle Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass nicht beherrschen! Kein Mensch in unserem Land hat bei den erneuerbaren Energien nicht alle Wünsche in verdient, dass Sie da umgekehrt vorgehen. Erfüllung gehen können. Wenn in der Zeitschrift Photon (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- – wahrlich kein Parteiblatt der CDU/CSU – jetzt festge- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- stellt wird, dass der Strompreis nächstes Jahr nur auf- ten der SPD) grund der Fotovoltaik um bis zu 12 Prozent steigen wird, dann ist das mehr als bedenklich. Nächstes Jahr wird es Sie haben mit Stolz verkündet, dass die Wirtschaft im Rahmen des EEG mit Sicherheit zu einer Verdoppe- wächst. Ich sage: trotz der Politik der Bundesregierung, lung der Sätze kommen. Heute ist ein Aufschlag auf den nicht etwa wegen dieser Politik. Dann schauen wir uns Strompreis von ungefähr 2,04 Cent pro Kilowattstunde einmal die drei Gründe dafür an: erforderlich; nächstes Jahr werden es über 4, annähernd 5 Cent pro Kilowattstunde sein. Was bedeutet das? Das Der erste Grund ist, dass die Exporte nach China bedeutet für einen Vierpersonenhaushalt, der ungefähr und Südostasien steigen. Warum? Weil die Chinesen 3 500 Kilowattstunden im Jahr verbraucht, dass er allein ein gewaltiges Konjunkturprogramm gestartet haben, im Rahmen des EEG bis zu 200 Euro zahlen muss. In also das tun, was Sie für Deutschland gerade ablehnen. die Richtung wird das gehen. Dadurch können wir dorthin natürlich mehr exportieren. Jeder, der da zusätzliche Forderungen aufstellt, sollte Der zweite Grund liegt in der Abwertung des Euro genau wissen, was er tut. Er sollte wissen, dass er damit gegenüber dem Dollar und anderen Währungen. Da- die Wirtschaft und natürlich auch die Familien, die durch werden unsere Produkte billiger. Das hat noch Haushalte überbelastet. Das ist meines Erachtens gefähr- nichts mit Qualität zu tun; sie werden erst einmal billiger lich. Da müssen wir jetzt einschreiten. Ich wünsche mir, und lassen sich leichter verkaufen. dass der Bundesrat in der nächsten Woche eine kluge Der dritte Grund ist, dass die Löhne in Deutschland Entscheidung trifft, damit das Gesetz endlich in Kraft in den letzten zehn Jahren real um 11 Prozent gesunken treten kann. Wir müssen schnell absenken. Das ist abso- sind. Dadurch haben Sie den Export erhöht. Das Pro- (B) lut notwendig. blem ist nur, dass die anderen Länder das merken. China (D) Für mich gehört noch etwas dazu: Bei dem Sparpaket will jetzt nicht mehr wie Deutschland das Land mit dem müssen wir darauf achten, dass im Bereich der Strom- berühmten Exportüberschuss sein. China versucht, das steuer keine Fehler gemacht werden; denn wir wollen zum Ende des Jahres hin zu korrigieren. Aber die Bun- die Industrie in Deutschland behalten. Meines Erachtens desregierung hier in Deutschland korrigiert das über- ist Deutschland ein Industrieland. Wir sind nur deshalb haupt nicht. Sie von der Bundesregierung haben nicht so gut aus der Krise herausgekommen, weil die Industrie begriffen, wie wichtig der Binnenmarkt, die Binnenwirt- in Deutschland schnell wieder angepackt hat, weil es schaft für Deutschland sind; Sie setzen allein auf den Ex- schnell wieder vorangegangen ist. Ich möchte nicht in port, was falsch ist. einem Land leben, in dem 27 Prozent des Bruttoinlands- (Beifall bei der LINKEN) produkts in der City of London erzeugt werden. Nicht in der Finanzwelt liegt die Chance für unser Land, sondern Im Übrigen ist das Ganze eine Ausnahme im Jahr in der deutschen Industrie. 2010. Das setzt sich im Jahr 2011 nicht fort, und das hat einen Grund. Als die Krise begann, hatten Sie eine an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dere Logik. Da hat Frau Merkel gesagt: Ich will auf gar keinen Fall ein Sparprogramm; ich will ein Konjunktur- Präsident Dr. Norbert Lammert: programm. – Jetzt, mitten in der Krise, ändern Sie Ihre Gregor Gysi erhält nun das Wort für die Fraktion Die Logik. Sie haben übrigens nie erklärt, warum, warum Linke. also damals das Konjunkturprogramm richtig gewesen sein soll und warum es jetzt plötzlich richtig sein soll, (Beifall bei der LINKEN) dramatische Sozialkürzungen – ich werde darauf noch eingehen – vorzunehmen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Her- Jeweils antizyklisch, Herr Gysi!) ren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, auch Ihren Ausführungen zur Atomenergie. Ich habe an – Ja, ja. Sie die Bitte, einmal ganz im Ernst über Folgendes nach- zudenken: Eine Technologie muss man beherrschen. Der Punkt ist, dass Sie auch andere Länder zu solchen Kürzungsprogrammen, die Sie fälschlich immer „Spar- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- paket“ nennen – da wird nichts gespart; Sie kürzen NEN]: So ist es!) schlicht und einfach –, gezwungen haben, nämlich Grie- 5256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Gregor Gysi (A) chenland, Spanien, Portugal, Irland, Großbritannien und Vokabel „Gerechtigkeit“ hat das Ganze überhaupt nichts (C) Frankreich. Was ist Ihres Erachtens die Folge, wenn dort zu tun. all diese Kürzungsprogramme durchgeführt sind? Die (Beifall bei der LINKEN) Folge ist, dass Deutschland dorthin weniger exportieren kann; denn die Kaufkraft nimmt ab, und deshalb werden Jetzt komme ich zum Elterngeld; darüber hat auch weniger Produkte verkauft. Schon damit ist Ihr Boom be- Herr Fuchs gesprochen. Beginnen wir der Ehrlichkeit endet. halber ganz von vorne: Am Anfang war die Große Ko- alition. Was hat diese Große Koalition beim Elterngeld Da Sie selbst in Deutschland ein solches Sparpro- gemacht, auch Sie, meine Damen und Herren von der gramm, ein solches Kürzungsprogramm, durchführen, SPD? Stellen Sie sich doch einmal selbstkritisch hierhin wird es hier entsprechende Folgen geben, worauf ich und erklären Sie: Das war ein Fehler. – Bis dahin bekam noch eingehen werde. Ich sage Ihnen: Die reine Export- die ALG-II-Empfängerin bzw. der ALG-II-Empfänger orientierung muss weg. Wir brauchen eine deutlich stär- zwei Jahre lang Elterngeld in Höhe von monatlich kere Binnenwirtschaft. 300 Euro. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Erziehungsgeld!) Sie sagen in dem Zusammenhang, Herr Brüderle, – Ja, Sie haben es anders genannt. Aber faktisch gab es dass es falsch wäre, wenn wir höhere Löhne in Deutsch- dieses Geld, und zwar 24 Monate lang. – In der Großen land hätten und ein Konjunkturprogramm durchführten. Koalition ist entschieden worden, die Dauer des Bezugs Ich habe an der Stelle auf zwei Sätze gewartet, in denen zu halbieren, also 12 Monate zu streichen, und zwar nur Sie das erklären oder begründen. Sie kamen nicht. Sie aus dem einen Grund, damit man in der Regel der bes- sagen einfach, es sei falsch. Wieso ist das falsch? Wieso serverdienenden Frau – gelegentlich auch dem besser- ist es eigentlich falsch, unsere Binnenwirtschaft zu stär- verdienenden Mann – nicht mehr 300 Euro, sondern bis ken? Wieso ist es falsch, mehr soziale Gerechtigkeit her- zu 1 800 Euro zahlt. Das heißt, die Sozialdemokratie zustellen? Wieso ist es falsch, die Löhne endlich wieder Deutschlands hat zugestimmt, für ALG-II-Empfängerin- an die Produktivitätsentwicklung anzupassen und damit nen und -Empfänger die Dauer des Bezugs von Eltern- zu steigern? Wieso ist es falsch, diejenigen, die Werte geld zu halbieren, schaffen, daran finanziell zu beteiligen? Dafür habe ich von Ihnen keine Erklärung bekommen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! Das ist die Wahrheit!) (Beifall bei der LINKEN) damit die Bestverdienenden einen Betrag von 1 800 Euro Was machen Sie jetzt? Sie schlagen ein Kürzungspro- bekommen können. Das ist völlig antisozialdemokra- (B) gramm vor. Ein erster Vorschlag ist die Umwandlung (D) tisch. Sagen Sie doch einmal ehrlich, dass das ein Fehler von Pflichtleistungen in Ermessensleistungen bei Ar- war. beitslosen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß doch der Slogan „Fordern und Fördern“. Das Fördern soll jetzt (Beifall bei der LINKEN) gestrichen werden, wenn ich das richtig verstehe. Dass die Union das macht, passt zu ihrer ideologischen Schließlich wollen Sie 16 Milliarden Euro bis 2014 ein- Logik. Aber bei der SPD kann ich es nicht nachvollzie- sparen. Das heißt, die ganzen Ausbildungsprogramme hen. und die Trainingsprogramme, all das, was es sonst noch gibt, müssen von den Jobcentern gestrichen werden. Was Jetzt passiert das, was immer passiert und was mich bieten Sie denn dann den Arbeitslosen? Alle Programme wirklich ärgert. Sie haben einen Schritt gemacht und die sollen doch jetzt Ermessensleistungen werden. Ich weiß Dauer des Bezugs für ALG-II-Empfänger halbiert. Jetzt gar nicht, nach welchem Ermessen entschieden wird. sagen Union und FDP: Gut, wenn die Tür schon einen Entscheidet dann ein Angestellter oder eine Angestellte Spalt geöffnet ist, dann machen wir sie ganz auf und strei- darüber, je nachdem, ob er oder sie Lust hat oder nicht? chen das Geld für ALG-II-Empfänger gänzlich. – Das ist Ermessen ist für mich Willkür. Nein, diese Leistungen die Folge. Ich sage Ihnen: Sie hätten sich das nicht ge- müssen Pflichtleistungen bleiben. Das ist für mich ganz traut, wenn die SPD in der Großen Koalition nicht zuge- entscheidend. stimmt hätte, die Dauer des Bezugs zu halbieren. Sie hät- ten sich nicht getraut, das Geld für diese Menschen ganz (Beifall bei der LINKEN) zu streichen. Aber genau das machen Sie jetzt. Ein anderer Punkt ist die geplante Streichung des Zu- Logisch, Herr Brüderle und Herr Fuchs, ist Ihre Argu- schlages beim Übergang von Arbeitslosengeld I in mentation überhaupt nicht. Sie erklären, man könne den Arbeitslosengeld II. Das ist grob ungerecht. Stellen Sie ALG-II-Empfängern das Geld nicht zahlen, weil es eine sich einmal Folgendes vor: Ein erwerbsloser Ingenieur Lohnersatzleistung sei. Es ist doch ganz egal, was es ist. bekommt Arbeitslosengeld I. Bisher war es so: Bevor Die Menschen bekamen dafür, dass sie Kinder haben, dieser Ingenieur ALG II erhielt, bekam er ein Über- zusätzliches Geld – das war entscheidend und wichtig –, gangsgeld, damit er sich auf diesen Bruch, auf diese Ver- und zwar über einen bestimmten Zeitraum. Dieses Geld änderung seines Lebensstandards einstellen konnte. Jetzt nehmen Sie ihnen jetzt einfach weg. aber wollen Sie diesen Zuschlag einfach streichen. Sie weigern sich, vom Millionär einen halben Cent mehr zu Der Gattin des Millionärs, die ständig zu Hause ist nehmen; aber dem ALG-II-Empfänger streichen Sie das und auch keine Lohnersatzleistung bekommt, sagen Sie, Übergangsgeld. Das können Sie nicht erklären. Mit der dass sie weiterhin Elterngeld bekommt; denn für sie wird Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5257

Dr. Gregor Gysi (A) es nicht gestrichen. Erklären Sie das einmal der ALG-II- ( [DIE LINKE]: Das wird doch (C) Empfängerin! Gehen Sie zu ihr und erklären Sie, warum angerechnet! – Weitere Zurufe von der LIN- die Frau des Millionärs Elterngeld bekommt und sie KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht! In beiden Fällen soll es doch keine Lohnersatzleis- tung sein. Sie bringen keine Logik in Ihre Politik hinein. – lassen Sie mich doch meine Frage beenden –, möglich ist, die 300 Euro zu streichen, weil in diesem Fall das Er- (Beifall bei der LINKEN) ziehungsgeld über das Kindergeld läuft? Es gibt 7 Millionen Hartz-IV-Empfängerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe Hartz-IV-Empfänger. Es geht also um sehr viele Menschen. von der LINKEN) Dann wollen Sie die Heizkostenpauschale für Gering- verdiener streichen. Was sagen Sie diesen Menschen, Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): wovon sie die Heizkosten bezahlen sollen? Nein. Das kann ich Ihnen deshalb nicht zubilligen, weil ja das Kindergeld, von dem Sie hier sprechen, jetzt Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht erhöht wird. Sie streichen vielmehr 300 Euro, weil Herr Kollege Gysi, Herr Geis möchte Ihnen gerne Sie sagen, es sei eine Leistung, die nicht gerechtfertigt eine Zwischenfrage stellen. ist. Es ist ja nicht so, dass Sie zugleich das Kindergeld um 300 Euro erhöhen. Wenn das der Fall wäre, dann Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): könnten wir darüber diskutieren. Aber genau das ma- Ja, bitte. chen Sie ja nicht. Deshalb handelt es sich um eine Schlechterstellung, und es bleibt dabei: Die Hausfrau des Millionärs bekommt weiterhin Geld – Sie nennen es Norbert Geis (CDU/CSU): hier nun Erziehungsgeld –, aber die ALG-II-Empfänge- Herr Kollege, würden Sie mit mir die Unterscheidung rin bekommt nichts. zwischen Elterngeld auf der einen Seite und Erziehungs- geld auf der anderen Seite machen? Erziehungsgeld (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurde seit 1986 gezahlt, unabhängig davon, ob nun eine NEN]: Das Kindergeld wird verrechnet bei Frau zur Arbeit gegangen ist oder nicht. Das wurde als Er- Hartz IV!) ziehungsleistung abgegolten, weil die Frau eine be- – Richtig, es kommt noch hinzu, dass das Kindergeld bei stimmte Erziehungsleistung erbracht hat. Diese Erzie- hungsleistung erbringt sie nach wie vor, unabhängig Hartz-IV-Empfängern verrechnet wird. Diese bekom- davon, ob sie arbeitet oder nicht. Wegen dieser Erzie- men gar kein Kindergeld, weil sie den Zuschlag für Kin- der bekommen. Darüber haben wir uns schon immer (B) hungsleistung bekommt sie die 300 Euro. Diese sollen er- (D) halten bleiben. Was haben Sie dagegen? aufgeregt. Wir halten das für eine völlig falsche Heran- gehensweise. (Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich habe etwas dagegen, dass Sie die Erziehungsleis- Jetzt möchte ich gerne fortsetzen. Das Problem ist tung der ALG-II-Empfängerin nicht anerkennen. Das ist doch folgendes: Wir haben eine Krise. Es gibt einige, die mein Problem. Diese leistet doch auch Erziehungsarbeit. die Schuld für diese Krise tragen. Die Schuldigen sind Warum bekommt sie kein Geld? Das können Sie nicht nämlich die Banker, die Spekulanten und diejenigen, die erklären. für bestimmte politische Entscheidungen verantwortlich sind. Als Ergebnis Ihres sogenannten Sparpaketes kommt (Beifall bei der LINKEN – Abg. Norbert Geis nun heraus, dass weder die Banker noch die Spekulanten [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren noch die Verantwortlichen in der Politik die Folgekosten Zwischenfrage) dieser Krise bezahlen; vielmehr sollen diese die ALG-II- – Er möchte noch eine Frage stellen, Herr Präsident. Empfänger und die Geringverdiener in Deutschland be- zahlen. Erklären Sie denen einmal, was daran gerecht sein Präsident Dr. Norbert Lammert: soll. Nichts haben Sie bisher unternommen, damit die tat- Sie möchten offenkundig auch, dass er eine weitere sächlich Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen Frage stellt. werden. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Einkommen aus Unternehmenstätigkeit werden NEN]: Das würde ich an seiner Stelle auch! übrigens im nächsten Jahr um 7,1 Prozent steigen. Ihr Das ist ja entlarvend!) Vorgehen hat, wenn Sie schon nicht sozial denken, auch wirtschaftliche Auswirkungen: Eine ALG-II-Empfänge- Dann stehe ich dem nicht im Wege. – Bitte schön. rin gibt all das Geld aus, das sie bekommt. Wenn Sie je- doch Herrn Ackermann 100 Euro mehr geben, dann kauft Norbert Geis (CDU/CSU): er nicht für 100 Euro mehr ein, sondern er spekuliert mit Stimmen Sie mit mir überein, dass es dadurch, dass diesen zusätzlichen 100 Euro. Wenn Sie einer ALG-II- die ALG-II-Empfängerin in Form von aufgestuftem Kin- Empfängerin 10 Euro mehr geben, kauft sie dafür ein. dergeld eine Ersatzleistung bekommt Das heißt, die ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger 5258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Gregor Gysi (A) wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so- richtige Weg sein. Wir brauchen endlich eine klare Kurs- (C) wie die Geringverdiener würden die Binnenwirtschaft korrektur. stärken, wenn sie mehr Geld hätten. Die wirklich Reichen und Vermögenden spekulieren bloß, wenn sie mehr Geld (Beifall bei der LINKEN) bekommen, aber stärken nicht die Binnenwirtschaft. Die- Sie sind stolz darauf, dass Sie die Zahl der Arbeits- ser Unterschied muss doch einmal deutlich hervorgeho- losen reduzieren. Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: ben werden. Der DGB hat ermittelt, dass wir 1,6 Millionen weniger (Beifall bei der LINKEN) Vollzeitstellen haben und die Zahl der sogenannten pre- kären Beschäftigungsverhältnisse um 1,7 Millionen zu- Ich stehe mit meiner Meinung nicht alleine da. Der genommen hat. Wirtschaftsrat der CDU hat verlangt, endlich einmal für eine gerechtere Steuerbelastung zu sorgen. Millionäre Präsident Dr. Norbert Lammert: stellen sich hin und erklären sich bereit, höhere Einkom- Herr Kollege. mensteuern zu zahlen. Es ist doch wirklich grotesk: Nur die FDP und die Union weigern sich und handeln konse- quent dagegen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Sie wollen mir wahrscheinlich sagen, dass ich zum (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo bleiben Ende kommen soll. Sie denn da?) – Ja, ich auch. Man sollte nur Politikern trauen, deren Präsident Dr. Norbert Lammert: Vorschläge dazu führen, dass auch sie selber mehr Steu- Nein, Sie wissen doch, dass ich mit Ihnen besonders ern zahlen müssen. Sie dagegen machen immer Vor- großzügig umzugehen pflege. Der Kollege Lindner schläge, die dazu führen, dass Sie selber weniger Steuern möchte ebenfalls durch eine Zwischenfrage Ihre Rede- zahlen. Das macht mich ungeheuer stutzig. zeit verlängern. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Na gut, Herr Lindner. Obwohl Sie mich schon in die Jüngst haben Sie zusammen mit der SPD die Schul- Psychiatrie schicken wollten, höre ich mir Ihre Frage an. denbremse eingeführt. Aufgrund dieser Schuldenbremse müssen bis 2014 knapp 96 Milliarden Euro eingespart werden. Sagen Sie mir doch einmal, wie. Sie sagen, die Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Hälfte solle durch Leistungskürzungen eingespart wer- Sie können jetzt ja beweisen, dass Sie da nicht hinge- (B) (D) den. Aber die Länder sind doch am Ende, und die Kom- hören. munen sind schon kaputt. Wohin soll das noch führen? Schleswig-Holstein zum Beispiel hat die Schulden- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): bremse in die eigene Verfassung übernommen. Wozu Ob ich Sie überzeugt bekomme? führt das dort? Um die Schuldenbremse einzuhalten, muss man dort 5 300 Stellen, mehrheitlich im Schulbe- reich, streichen. An den Hochschulen werden bestimmte Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Studiengänge dichtgemacht. Die Landeszuschüsse für die Sie verweisen darauf, dass in Schleswig-Holstein Schülerbeförderung werden gestrichen. Es wird also in Stellen im Schuldienst abgebaut werden. Erklären Sie allen Bereichen der Bildung gespart. Wenn das alles nicht uns doch einmal, wie es dazu kommen konnte, dass Ihre reichen sollte, dann sollen auch noch Schwimmbäder ge- Partei in der rot-roten Landesregierung von Berlin schlossen und die Zahl der Kultureinrichtungen reduziert insgesamt 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst abge- werden. Ich frage Sie: Was ist das Ziel? Wohin soll das in baut hat, das gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen diesem Land noch führen? GSW an die böse „Heuschrecke“ Cerberus und die In- vestmentbank Goldman Sachs verkauft hat und vor we- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ha- nigen Monaten auch noch dem Börsengang der GSW zu- ben Sie in Berlin doch auch alles gemacht! – gestimmt hat, der von Goldman Sachs und Cerberus Gegenruf der Abg. Dr. betrieben wird. Wie kommt es, dass Sie hier in Berlin [DIE LINKE]: Die Verschuldung in Berlin ha- das Blindengeld gekürzt haben? Wie kommt es, dass Sie ben Sie doch zu verantworten!) gerade im Bereich des Schuldienstes gekürzt haben? – Ja, dass es Berlin schlecht geht, weiß ich. Im Unter- Herr Gysi, wie kommt es dazu, dass Sie uns hier den pu- schied zu Ihnen, Herr Lindner, kümmern wir uns darum. ren Sozialismus predigen, aber dort, wo Sie mitregieren, das vollkommene Gegenteil machen? Wie kommt es, (Beifall bei der LINKEN) dass von Ihnen eine ganz andere Politik verantwortet Meine Frage an die in der Bundespolitik Verantwort- wird? lichen lautet: Wohin soll das in diesem Land führen? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Soll die kommunale Selbstverwaltung beseitigt werden und Zwangsverwaltung eingeführt werden? Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Wollen Sie keine Schwimmbäder und keine Kultur- Beifall für eine Frage heißt ja, dass Sie gar keine Ant- einrichtungen mehr haben? Das kann doch nicht der wort hören wollen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5259

Dr. Gregor Gysi (A) (Jörg van Essen [FDP]: Weil wir sie schon Die meisten Länder können das überhaupt nicht. Das ist (C) kennen!) nichts weiter als das Verkünden einer Illusion. Im Klartext: Der Verkauf der Wohnungsbaugesell- US-Präsident Obama und sein Finanzminister haben schaft war meines Erachtens ein Fehler. Allerdings muss Frau Merkel dringend gebeten, ihren harten Sparkurs in ich sagen, dass FDP, Union und Grüne daran beteiligt Deutschland einzustellen. Aber sie denkt gar nicht daran waren. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. und hat dem widersprochen. Warum? Obama will eine Ankurbelung der Weltkonjunktur, während Sie organi- ( [FDP]: Ich dachte, Sie wol- sieren, dass die Weltkonjunktur abstirbt. Dort ist ein tie- len eine andere Politik machen!) fer Gegensatz entstanden. – Ich werde es Ihnen erklären. Sie sind zum Landesver- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Obama hat fassungsgericht gegangen und haben gesagt: Der Haus- doch zugestimmt! Lesen bildet!) halt ist verfassungswidrig. Dann hat das Landesverfas- Wenn ich an die Bankenabgabe und andere Dinge sungsgericht gesagt: Das stimmt. Es hat gesagt: Ihr denke, muss ich sagen: In letzter Zeit hat Obama in der müsst entweder die Einnahmen erhöhen oder bei den Regel recht und Sie unrecht. Es ist schon merkwürdig, Leistungen kürzen. Weil man bei den Leistungen nicht welche Entwicklung wir hier zu verzeichnen haben. kürzen wollte, ist man diesen Weg gegangen. Trotzdem sage ich: Er war falsch. Das war aber nicht in dieser Le- (Beifall bei der LINKEN) gislaturperiode, sondern in der vorigen. Dafür sind wir Jetzt frage ich Sie: Was haben Sie bei der Regulierung schon ausreichend bestraft worden. In dieser Legislatur- der Finanzmärkte erreicht? periode machen wir das wesentlich besser.

(Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn [BÜND- Präsident Dr. Norbert Lammert: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!) Mit dieser Fragestellung müssen Sie es dann auch fast bewenden lassen. Die Antwort darauf müssen andere ge- Zweitens. Was die Stellenkürzung betrifft, können ben. Sie Schleswig-Holstein und Berlin nicht gut vergleichen. Diese Politik wurde schon von der Union eingeleitet. Das hing damit zusammen, dass zwei öffentliche Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Dienste zusammengekommen sind, nämlich der öffentli- Das ist sehr bedauerlich. Herr Präsident, sehen Sie che Dienst von Westberlin und der öffentliche Dienst einmal, was Sie versäumen. von Ostberlin. Dadurch bedingt war vieles doppelt vor- (B) handen. Das war wirklich eine Sondersituation. Eine Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) solche Sondersituation hat Schleswig-Holstein nicht zu Ja, Sie können mir das Manuskript Ihrer Rede gerne bewältigen. Es hat in Berlin nicht eine einzige betriebs- zur Verfügung stellen. bedingte Kündigung gegeben, und dabei wird es auch bleiben. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Als Letztes sage ich Ihnen: Ihr Versuch, zulasten der sozial Schwachen die Krise zu lösen, ist ungeheuerlich, Mit dieser Ausnahme in Berlin streiten wir überall dafür, ist ungerecht und muss schiefgehen. Sie müssen endlich dass wir mehr Stellen im öffentlichen Dienst bekommen. einmal den Mut haben, bei den wirklich Vermögenden, bei den Bestverdienenden die Steuern zu erhöhen oder (Beifall bei der LINKEN) entsprechende Steuern einzuführen. Dafür stehen Sie Weiter mit dem Thema „prekäre Beschäftigung“. nicht. Deshalb setzt sich jetzt der schwarze Tag von ges- Sie haben Vollzeitbeschäftigung abgebaut und stattdes- tern als schwarzer Tag für die Bevölkerung fort. Hoffen sen die Bereiche der Teilzeitarbeit, der Leiharbeit und wir, dass es bald einmal einen roten Tag gibt. der 400-Euro-Jobs erweitert, und Sie haben den Kreis Danke schön. der Aufstockerinnen und Aufstocker und vor allem der befristetet Beschäftigten erweitert. Das war schon unter (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Andreae SPD und Grünen so, ist von der Großen Koalition fort- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwarze gesetzt worden und wird jetzt weiter fortgesetzt. Was Monate!) glauben Sie, wie dadurch das Land verändert wird? Im- mer weniger Vollzeitbeschäftigung bedeutet eine Schwä- Präsident Dr. Norbert Lammert: chung der Gewerkschaften – das wissen Sie natürlich –, Hermann Otto Solms ist der nächste Redner für die aber das schwächt auch die Betroffenen. Es gibt immer FDP-Fraktion. mehr 400-Euro-Jobs und immer mehr befristete Arbeits- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verhältnisse. Das, was Sie in diesem Zusammenhang or- der CDU/CSU) ganisieren, ist alles nicht hinnehmbar. Zum Schluss muss ich kurz auf den G-20-Gipfel in Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Toronto eingehen. Was haben Sie dort verkündet? Sie Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und haben gesagt: Die öffentlichen Schulden der Länder sol- Herren! Die Unterhaltungsleistung von Herrn Gysi lässt len bis 2013 halbiert werden. Das ist doch ein Scherz. nicht nach, die inhaltliche Substanz seiner Ausführungen 5260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Hermann Otto Solms (A) ist so dünn wie immer. Das beweist sich an den prakti- der Schiedsrichter einseitig eingreift und den besten (C) schen Beispielen: Als er in der Verantwortung stand, Spieler einer Mannschaft vom Feld stellt, kann kein neu- konnte er nichts liefern. trales Ergebnis, kein vernünftiges Wettbewerbsergebnis erzielt werden. (Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Ihr würdet die Regeln alle ab- Im Namen der FDP-Fraktion möchte ich dem Wirt- schaffen! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE schaftsminister für den ermutigenden Bericht, den er GRÜNEN]: Der beste Spieler war Herr Klose hier vorgelegt hat, danken. aber nicht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Genau so muss der Staat in Zukunft vorgehen. Die Bundesregierung, die ja für Fehler in der volkswirt- schaftlichen Entwicklung haftbar gemacht wird, muss (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Fritz belobigt werden, wenn es gut läuft. Denn es ist ja nicht Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ganz ohne ihr Zutun, dass wir eine so positive wirt- FDP fordert die Abschaffung des Schiedsrich- schaftliche Entwicklung haben. ters! Toll!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Das hat Rainer Brüderle in der Causa Opel genau vorge- führt. Gegen den Widerstand auch in der eigenen Regie- Wenn Sie das in den Zusammenhang mit den sozial- rung hat er ordnungspolitisch saubere Politik durchge- politischen Aufgaben stellen, die wir zu bewältigen ha- setzt. Binnen kürzester Zeit – das haben wir alle nicht ben, so ist es das ehrgeizigste, das vornehmste Ziel der erwartet – hat sich gezeigt, dass das tatsächlich die rich- Sozialpolitik, Menschen, die von Transfereinkommen tige Maßnahme war. abhängig sind, wieder in Lohn und Brot zu bringen, da- mit sie eigenständig und eigenverantwortlich handeln (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten können, ihre Familie ernähren können und nicht von an- der CDU/CSU) deren abhängig sind. Deswegen kann ich ihn nur ermutigen, genauso fortzu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fahren, also eine ordnungspolitisch saubere Wirtschafts- der CDU/CSU) und Wettbewerbspolitik zu betreiben. Das wird allen in Deutschland helfen. Gerade in diesem Bereich haben wir jetzt die größten Er- folge erzielt; das zeigen die Daten. Die Arbeitslosigkeit Nun kommt es zu Aussagen wie von Herrn Gysi, die Löhne seien gesunken. Sie sind nicht gesunken, aber die (B) geht unerwartet stark zurück. Wir stellen fest: Wir haben (D) schon wieder Knappheit an Facharbeitern. Wenn die Lohnstückkosten, auf die es im Wettbewerb ankommt, Prognosen stimmen, werden wir im nächsten Jahr im sind in Deutschland sehr maßvoll gestiegen. Das bekla- Durchschnitt die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 1991, gen nun unsere Wettbewerbsländer. Dazu kann man nur also seit der deutschen Einheit, erreichen. Das hätte im sagen: Macht es doch nach! letzten Jahr niemand erwartet. (Klaus Barthel [SPD]: Lohndrückerei!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir haben dadurch erreicht, dass wir unter allen In- der CDU/CSU) dustriestaaten weltweit den höchsten Anteil des produ- Die Maßnahme, die diese Bundesregierung gerade am zierenden Gewerbes am Sozialprodukt haben. Wir wer- Anfang ihrer Tätigkeit geleistet hat, nämlich das Wachs- den von allen Ländern beneidet. Bei uns beträgt der tumsbeschleunigungsgesetz gegen den geballten Wider- Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttoinlands- stand der Opposition und der Journaille durchzusetzen, produkt 22 bis 23 Prozent. Wenn wir die Bauwirtschaft hat wesentlich dazu beigetragen. 22 Milliarden Euro mit einbeziehen, sind es knapp 27 Prozent. Das liegt wurden seit 1. Januar 2010 für die Bürger freigegeben. noch über dem Niveau von Japan. In anderen europäi- Die Bürger nutzen das, wo immer sie können. Durch schen Staaten dagegen ist der Anteil stark gesunken. Konsum und durch Investitionen stärken sie diesen Wir überwinden diese Krise deswegen besser und Wachstumsprozess und tragen dazu bei, dass der Wachs- nachhaltiger, weil wir uns in Deutschland eine so gute tumsprozess ein dauerhafter ist. Struktur mit kleinem und mittelgroßem Gewerbe, produ- Die Wirtschaftskrise ist überwunden. Deswegen müs- zierendem Gewerbe, Dienstleistungsgewerbe und Ähnli- sen wir von kurzfristigen Wirtschaftskrisebekämpfungs- chem erhalten haben. Darum werden wir beneidet. Dies maßnahmen zu dauerhaften, ordnungspolitisch sauber hat Paul Volcker vor kurzem in einem Zeitungsbeitrag angelegten Maßnahmen der Wirtschaftspolitik kommen. festgestellt. Er hat gesagt, es wäre gut, wenn sich die Der Wirtschaftsminister hat hier an die Ordnungspolitik Vereinigten Staaten an Deutschland orientieren und grö- deutscher Prägung erinnert; denn es ist ganz wichtig, ßeren Wert auf das produzierende Gewerbe gelegt hät- dass wir diese ordnungspolitischen Prinzipien wieder ten. einhalten. Der Staat setzt die Regeln und achtet darauf, Auf Großbritannien will ich jetzt gar nicht eingehen. dass die Regeln eingehalten werden. Aber er darf nicht Dort ist es noch viel dramatischer. mitspielen; denn wenn er mitspielt, verletzt er die markt- wirtschaftlichen Prinzipien, verletzt er den Wettbewerb. Jetzt kommt es darauf an, die Aufgaben, die sich uns Das hat das Fußballspiel gegen Serbien gezeigt: Wenn stellen, möglichst schnell und klar zu lösen. Wir brau- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5261

Dr. Hermann Otto Solms (A) chen klare Konzepte in der Energiepolitik. Die Bun- Fahrt auf. Wir sind mitten in der Wahlperiode. Ich sage (C) desregierung hat angekündigt, das bis zum Herbst zu Ihnen voraus: Je näher wir der nächsten Bundestagswahl leisten. Ich bitte auch darum, dass die unterschiedlichen kommen, desto stärker werden wir. Machen Sie sich da- Ansichten innerhalb der Bundesregierung selbst geklärt rauf gefasst. werden statt in der Öffentlichkeit, sodass wir dann ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten meinsam handeln können. der CDU/CSU) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh je! Gemeinsam handeln mit euch! Die Präsident Dr. Norbert Lammert: nächste Drohung!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, Wir brauchen klare Konzepte in der Gesundheitspo- Bündnis 90/Die Grünen. litik. Wir alle wissen, dass Gesundheit durch den medi- zinischen Fortschritt und die längere Lebenserwartung Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Bevölkerung immer teurer wird. Das ist unvermeid- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be- lich. Nun müssen wir dafür sorgen, dass das System so vor ich mit meiner wirtschaftspolitischen Rede beginne, effizient wie möglich arbeitet. Deswegen brauchen wir will ich kurz auf Sie eingehen, Herr Solms. Wenn Sie in diesem Bereich mehr Wettbewerb – daran führt kein den Verlauf der Wahl gestern so darstellen, wie Sie es Weg vorbei –, gerade getan haben, dann hätte ich auch gerne eine Er- klärung, warum die FDP in den Umfragen inzwischen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bei 4 Prozent gelandet ist. Ich zitiere gern die taz, die, Was ist denn mit der Kopfpauschale?) wie ich finde, sehr deutlich getitelt hat: „Einfach, niedrig um die Effizienzreserven zu heben. Aber die steigenden und gerecht“. Das beschreibt, wo Sie gerade stehen. Kosten müssen auch getragen und verteilt werden. Hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, geht es darum, mehr Eigenverantwortung und Mitwir- bei der SPD und der LINKEN) kung der Betroffenen, der Patienten, aber selbstverständ- lich auch der Dienstleister im Gesundheitssystem zu er- Herr Brüderle, der Aufschwung ist nicht Ihr Ver- reichen. Wir brauchen endlich Entscheidungen, die nach dienst. Sie haben in den letzten Monaten nichts dafür ge- vorne gerichtet sind, statt an der überkommenen, aber tan, dass dieser Aufschwung kommt. Das Schlimme ist: nicht mehr tragfähigen Gesundheitspolitik festzuhalten, Die Maßnahmen, die Sie jetzt ergreifen, werden diesen wie wir sie erlebt haben. Aufschwung abwürgen. Ich werde das im Einzelnen dar- legen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizie- (Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜND- (B) ren für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2 Pro- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit der zent. Aber schon im kommenden Jahr soll das Kopfpauschale?) Wirtschaftswachstum nur noch 1,5 Prozent betragen. Ich empfinde die Wahl des Bundespräsidenten ges- Jetzt werden die Weichen gestellt: Entweder wir schaf- tern als eine symbolische Handlung. fen es, diesen Aufschwung zu verstetigen, oder aber wir würgen ihn ab. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir auch! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ Der Aufschwung steht auf zwei Beinen. Viele meiner DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es gefährlich!) Vorredner haben über die Auslandsnachfrage gespro- chen. Die Auslandsnachfrage ist in weiten Teilen abhän- – Ich werde es Ihnen erläutern. Zugegeben, die Koalition gig von einem schwachen Euro. Das kann sich wieder hat am Anfang geschwächelt. Sie hat sich im zweiten ändern. Die Stabilität des Euros können wir nur wenig Wahlgang deutlich gesteigert und dann, als es darauf an- beeinflussen. Aber der Wirtschaftsminister muss durch- kam, die absolute Mehrheit erreicht. aus die Entwicklung des Euros beobachten. Auf dem (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und Bein „Stabilität des Euros“ allein können wir nicht ste- der LINKEN – Garrelt Duin [SPD]: Weit unter hen. Ihren Möglichkeiten! – Fritz Kuhn [BÜND- Allein auf dem zweiten Bein können wir aber auch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso hat die FDP nicht stehen. Der Aufschwung ist in weiten Teilen verur- 4 Prozent?) sacht durch die Konjunkturprogramme. Weltweit sind Die linke Seite konnte sich bis zum letzten Wahlgang über 1 Billion Euro in Konjunkturprogramme investiert nicht einigen. Die SPD schiebt nun die Verantwortung worden. Diese Programme laufen aus. Das heißt, auch auf die Linken. Das ist völlig grundlos; denn man hat dieses Bein bricht weg. sich vorher nicht einigen können. Außerdem ist es auch Wir von den Grünen sind der Ansicht, dass diese noch mathematisch falsch. Die Linken sind nicht verant- Konjunkturprogramme ein Ende haben müssen. Staatli- wortlich, sondern wir haben unsere Mehrheit selbst er- che Stützungsprogramme in dieser Größenordnung kön- reicht. nen wir gar nicht dauerhaft finanzieren. Über die eine (Beifall bei der FDP – Lachen bei der oder andere Maßnahme muss man reden; aber in dieser LINKEN) Größenordnung kann nicht weiter finanziert werden. Wir haben heute eine Rekordneuverschuldung von Die Bundesregierung hat in ihrer Arbeit in allen Be- 65 Milliarden Euro. Eines der Worte, die ich in den letz- reichen am Anfang etwas geschwächelt. Jetzt nimmt sie ten Monaten bei Ihnen, aber auch in der Debatte insge- 5262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Kerstin Andreae (A) samt völlig vermisst habe, ist das Wort „Generationenge- schwung daher gefährdet ist, dann brauchen wir ein drit- (C) rechtigkeit“. Diese Neuverschuldung ist ein Angriff auf tes Standbein. Dieses dritte Standbein sind die die Generationengerechtigkeit, und da machen die Grü- Binnennachfrage und die Binnenkonjunktur. Notwen- nen nicht mit. dig ist also eine Investitionsoffensive im Inland im Be- reich Bildung und im Bereich Klima. Notwendig ist na- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – türlich auch, die Binnennachfrage derjenigen zu stärken, Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wie das die wenig Geld haben. denn?) Was ist jetzt zu tun? Drei Sachen: Sie müssen sparen, Sie haben gesagt: Wir wollen zahlreiche Konjunktur- ohne den Aufschwung abzuwürgen. Sie müssen die Ein- programme auflegen, um Arbeitslose wieder in Arbeit nahmen verbessern, und vor allem müssen Sie in die Zu- zu bringen. D’accord; das klingt gut. Warum kürzen Sie kunft investieren – in Klima, in Effizienz bei Ressourcen dann aber 16 Milliarden Euro bei Qualifizierung und und in Bildung. Umschulung, also bei genau denjenigen Maßnahmen, durch die Arbeitslosen geholfen wird, sich auf dem Ar- (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ja, machen wir beitsmarkt zu etablieren? doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auf die damit verbundenen Fragen können Sie die richti- sowie bei Abgeordneten der SPD) gen oder die falschen Antworten geben. Sie geben die falschen Antworten. Ich erkläre Ihnen das im Einzelnen. Natürlich müssen Sie die Einnahmen verbessern. Mit Sparen allein werden Sie nicht hinkommen; das wissen Was wäre denn „richtig sparen“? Sparen Sie endlich Sie aber auch. Ich fand es niedlich, dass das Nachdenken unsinnige Verkehrsprojekte ein. Bei mir in Süddeutsch- über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes in der FDP land gibt es eines der unsinnigsten Verkehrsprojekte als Steuerrebellion empfunden wird. Ich weiß nicht, was überhaupt: Stuttgart 21. Sie verbuddeln dort Milliarden Sie unter Rebellion verstehen. Über eine solche Anhe- Euro, indem Sie einen Bahnhof unter die Erde legen. Be- bung ist nur nachgedacht worden. Entsprechende Über- erdigen Sie dieses Projekt! Das wäre eine sinnvolle legungen sind gleich wieder eingesammelt worden, an Sparmaßnahme. vorderster Front von Ihnen von der FDP, wie wir haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – lesen dürfen. Dabei werden Sie zum Jagen getragen. Die Jörg van Essen [FDP]: Typisch Grüne!) Leute sagen Ihnen: Erhöhen Sie den Spitzensteuersatz! Aber Sie sollten auch einmal Ihre Förderprogramme (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was habt durchforsten; allein das Wirtschaftsministerium hat 55. ihr denn damals gemacht?) (B) Wir Grüne werden eines machen: Wir werden uns Stück (D) Wir alle, die wir hier sitzen, sind von Ihrem Sparpro- für Stück jedes einzelne dieser Förderprogramme an- gramm in keiner Weise betroffen. Im Gegenteil: Durch schauen und im Hinblick auf seine ökologische Ausrich- das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben diejenigen tung – die fast nicht vorhanden ist – untersuchen. Wir von uns, die Kinder haben, noch mehr bekommen. Das werden Ihnen sagen: Wir können mit weniger und mit ist sozial ungerecht; das schafft eine Schieflage. So geht klareren Programmen mehr erreichen als mit dieser ver- es nicht. stückelten Wirtschaftsförderungspolitik. Wir werden zei- gen, wo Sie Geld sparen können und wie Sie das einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sparte Geld richtig einsetzen können. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es wäre auch richtig, klimaschädliche Subventionen Dass Sie falsche Antworten geben, zeigt sich auch da- zu streichen. Das Umweltbundesamt spricht von Sub- ran, dass Sie bei den Ärmsten sparen. Teilweise verste- ventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro jedes Jahr. hen Sie gar nicht, was man Ihnen vorwirft. Der Disput Wenn Sie anfangen, klimaschädliche Subventionen zu zwischen Herrn Gysi und Herrn Geis war ziemlich inte- streichen, machen Sie dreierlei: Erstens helfen Sie der ressant. Auf einmal wurde klar, welche fachlichen Lü- Wirtschaft, umzusteuern – das ist notwendig –, zweitens cken machen Sie etwas für das Klima, drittens machen Sie et- was für die Haushalte. Streichen Sie Steuervorteile für (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- große Dienstwagen! Schaffen Sie Ökosteuersubventio- NEN]: Löcher!) nen für energieintensive Unternehmen sukzessive ab! in der Koalition zuweilen vorhanden sind. Sie wissen ja (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Vertreiben gar nicht, worüber Sie reden. Sie Unternehmen aus Deutschland!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sagen natürlich, dass Sie bei der Steinkohle strei- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- chen. Machen Sie aber einmal einen konkreten Vor- KEN) schlag! Wir bringen einen konkreten Vorschlag ein, der Dennoch treffen Sie auf diesem Gebiet Entscheidungen. in die Ausschüsse geht. Wenn das eine Standbein „Auslandsnachfrage“ und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und in das andere Standbein „Konjunkturprogramme“ zumin- Nordrhein-Westfalen schreiben Sie das in den dest nicht ganz auf festen Füßen stehen und der Auf- Koalitionsvertrag!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5263

Kerstin Andreae (A) Ich bin sehr gespannt, wie Sie von der Koalition sich – Ach! Ich bin mir sicher, dass ganz schön viele im Saal (C) dazu verhalten. klatschen werden, wenn ich sage, dass die Koalition ökologisch blind ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihre Antworten reichen nicht aus. Ihre Politik ist unso- sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von zial und ökologisch blind. der FDP: Oh!) Warum müssen wir uns jetzt Einnahmen und Ausga- Vor 20 Jahren betrug der Ölpreis 18 Dollar pro Barrel. ben anschauen? Warum müssen wir darauf achten, dass Damals ist prognostiziert worden, dass er in 20 Jahren der Staat handlungsfähig bleibt? Weil wir in die Zukunft 50 Dollar pro Barrel beträgt. Heute liegen wir bei investieren müssen. Wie lautet die richtige Antwort? Sie 76 Dollar pro Barrel. Dieser Preis ist relativ niedrig; vor sagen, die Krise sei vorbei. Die Kanzlerin hat immer ge- zwei Jahren war der Preis schon deutlich höher. Wenn sagt, es sei wichtig, dass wir nach der Krise wieder so wir es nicht schaffen, den Unternehmen zu helfen, sich dastehen wie vor der Krise. Das ist ganz gefährlich. Ent- auf sinkende Rohstoffmengen und steigende Rohstoff- scheidend ist doch, dass wir jetzt die Weichen richtig preise einzustellen, dann haben wir nicht begriffen, wie stellen. Die Weichen liegen bei der Ökologie: Die Öko- wir unsere Wirtschaft umstellen müssen. Deswegen sa- logie ist die beste Ökonomie des 21. Jahrhunderts. gen wir: Sie geben in diesem zarten Aufschwung die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – falsche Antwort, weil Sie den Unternehmen nicht hel- Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jeder Platz in fen, sich umzustellen. Wir geben die richtigen Ant- der Solarindustrie wird mit 153 000 Euro ge- worten. Die Effizienzrevolution im Bereich der Mate- fördert!) rialeffizienz und der Energieeffizienz ist einer der entscheidenden Punkte. Da müssen wir hin: unsere In zehn Jahren – wir alle werden es hoffentlich erle- Kreativität, unser Mut und unsere Entschlossenheit. ben – werden vier von zehn neu zugelassenen Autos in Europa einen Elektromotor haben. Gestern schrieb das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Handelsblatt, dass die Börse das Elektroauto feiert. Die Ich komme zum Schluss. Nietzsche hat gesagt: „Den Börse feiert aber in Amerika; nicht bei uns. Wenn wir Stil verbessern, das heißt den Gedanken verbessern“. Ihr die Chancen auf diesem Markt nicht nutzen, dann ver- Stil steht seit Monaten zu Recht in der Kritik. Der Grund schlafen wir einen Riesenmarkt. sind Ihre Ideen und der Streit, den Sie aufgrund dieser Was machen Sie? Sie lassen sich für Ihren Umgang Ideen haben. Ich sage Ihnen: Grüne Ideen sind besser mit Opel feiern. Helfen Sie lieber der Automobilindus- und, glauben Sie mir, unser Stil ist es auch! (B) trie, auf neuen Pfaden zu gehen! Schaffen Sie ein Markt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) anreizprogramm für schadstoffarme Autos! Geben Sie mehr Forschungsmittel für Speicher, Werkstoffe und An- Präsident Dr. Norbert Lammert: triebe aus! Entwickeln Sie intelligente Verkehrskon- zepte! Dann bewegen Sie sich in einem Zukunftsmarkt; Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPD- das wäre richtig. Vielleicht werden Sie dann dafür gefei- Fraktion. – Nein, das ist gar nicht wahr. Zuerst ist der ert. Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion dran und dann der Kollege Barthel. Das entspricht offen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kundig auch den beiderseitigen Erwartungen, sodass wir Irritationen vermeiden sollten. Bitte schön. Wir haben in Deutschland 18 Millionen Wohnungen. Wir fordern eine Sanierungsquote von 3 Prozent. Das heißt: 540 000 Wohnungen sollen jedes Jahr saniert wer- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): den. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Im Mittelpunkt der heutigen Regierungserklärung (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was kostet steht das Thema Aufschwung. Es ist in der Tat sinnvoll, das denn?) sich zu vergegenwärtigen, was hinter uns liegt. Es wurde Das ist dringend notwendig, für das Klima, aber auch für bereits angesprochen: Es ist noch keine zwei Jahre her, die Arbeitsplätze im Handwerk. Was glauben Sie, welch dass wir in den Abgrund geblickt haben. enormen Impuls Sie geben können, wenn Sie ein ge- (Rita Pawelski [CDU/CSU]: So ist es!) scheites, vernünftiges Gebäudesanierungsprogramm auf den Weg bringen! Das lohnt sich auch noch, weil je- Es wurden 5 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Im der Euro doppelt und dreifach zurückkommt, zum einen letzten Jahr hatten wir einen noch nie da gewesenen durch Steuern und Abgaben, zum anderen, weil öffentli- Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5 Prozent, von che Investitionen private Investitionen nach sich ziehen. den Turbulenzen auf den Finanzmärkten ganz zu schweigen. Keiner wusste genau, was zu tun ist, weil Wir haben Ihnen vorgeschlagen, die Mittel für das diese Situation kein historisches Vorbild hatte. Gebäudesanierungsprogramm zu erhöhen. Was macht die Koalition? Sie hat es abgelehnt. Das ist ökonomisch Die Politik hat national, auf europäischer Ebene und blind. Die Zukunft der Wirtschaft – – international gehandelt. Die Finanzmärkte wurden mit Rettungsschirmen stabilisiert. Weltweit wurden Konjunk- (Patrick Döring [FDP]: Da klatscht keiner im turprogramme initiiert. In Deutschland wurden Konjunk- Saal! Denken Sie einmal darüber nach!) turpakete mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden 5264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Euro geschnürt, was in der Krise zu Stabilität, Sicher- Was werden wir weiter tun? Wir werden das Wachs- (C) heit und Vertrauen geführt hat. In diesem Jahr – wir tum stabilisieren und beschleunigen, und wir werden in- hatten bereits die Hoffnung, dass es aufwärts geht – ha- telligent sparen und konsolidieren. ben wir die Bürger mit dem Bürgerentlastungsprogramm und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nochmals (Garrelt Duin [SPD]: Was heißt das denn?) um rund 23 Milliarden Euro entlastet. Das ist die größte Wie wollen wir das Wachstum beschleunigen? Wir wol- Entlastung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik len mehr Wettbewerb durch moderne und wettbewerbs- Deutschland je gab. Das sind die Fakten, die man sich fördernde Regulierungen in den Gütermärkten. Bei- vergegenwärtigen sollte. spielsweise werden wir das Telekommunikationsgesetz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und das Postgesetz novellieren und dafür sorgen, dass es der FDP) mehr Wettbewerb gibt, der dann auch mehr Arbeits- plätze schafft, und dass wir einen Infrastrukturwettbe- Die Fakten sprechen eine klare und deutliche Spra- werb bekommen. Bei den vor- und nachgelagerten che. Die Finanzmärkte sind wieder stabiler. Am heuti- Diensten in diesen Bereichen wollen wir neue Dienst- gen Tag wird das von der Europäischen Zentralbank leistungen ermöglichen und damit neue Arbeitsplätze gewährte Jahresgeld in Höhe von 442 Milliarden Euro schaffen, wodurch zusätzliches Wachstum entsteht. – das war die größte Summe, die jemals für ein Jahr ge- währt wurde –, geräuschlos zurückgezahlt werden kön- Wir werden weiter entbürokratisieren. Das bringt der nen. Das zeigt: Es ist wieder Vertrauen in die Märkte Wirtschaft etwas und kostet nichts. Nehmen wir ein ein- vorhanden. Die Banken leihen sich gegenseitig wieder faches Beispiel: Wir haben uns vorgenommen, Schwel- Geld. Wir können also hoffen, dass die Finanzmärkte lenwerte zu vereinheitlichen und Aufbewahrungsfristen wieder stabiler sind. Wir müssen und werden nun mit zu verkürzen. Jeder Freiberufler, jeder Unternehmer weiteren Instrumenten dafür sorgen, dass sich eine sol- muss heute seine Rechnungen zehn Jahre lang aufbe- che Krise nicht wiederholt. wahren. Die elektronische Rechnungserstellung funktio- Auch auf den Gütermärkten, die vor allem durch niert noch nicht richtig. Der Normenkontrollrat hat aus- staatliche Aktivitäten stabilisiert wurden – Stichwort: gerechnet, dass allein diese Aufbewahrungsfristen fast Umweltprämie; zu nennen sind auch die Bereiche ener- 7 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Wenn wir vernünftige getische Sanierung und Handwerk –, wurde das Ver- Regelungen umsetzen und beispielsweise die Aufbewah- trauen gefestigt und Umsatz geschaffen. Das ist nicht al- rungsfristen halbieren, dann können wir auch hier lein auf staatliche Stimulanzien zurückzuführen, sondern Wachstum schaffen und sinnvolle neue Ansätze bringen, wir haben einen selbsttragenden Aufschwung, der dazu ohne dass wir uns deswegen verschulden müssten. führt, dass sich die Wirtschaft weiter stabilisiert. Die Au- (B) tomobilindustrie und die Maschinenbauindustrie sind er- Wir werden auch im Energiebereich Wachstumspo- (D) freulicherweise wieder gut ausgelastet. Aufträge sind tenziale mobilisieren. Energieeffizienz ist in der Tat un- vorhanden. Zum Teil werden wieder Sonderschichten ser Thema. Wir wollen die Energieeffizienz bis zum Jahr gefahren. Wir können also von einem selbsttragenden 2020 noch einmal verdoppeln. Wir hatten das schon ein- Aufschwung sprechen. mal – von 1970 bis 1990 – geschafft. Das ist eine große Herausforderung; aber wir werden es angehen, die ent- Das Szenario von 5 Millionen Arbeitslosen ist nicht sprechenden Instrumente zu schaffen. eingetreten. Erfreulicherweise bewegt sich die Arbeits- losigkeit auf einem Niveau von 3 Millionen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr müsst was machen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir werden einen Energiemix schaffen und die Poten- Keiner hat uns das zunächst zugetraut. Nun spricht die ziale, die dort vorhanden sind, heben. Wir wollen den ganze Welt vom „German Jobwunder“. massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Gegenüber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und heute wollen wir sie im Strombereich bis zum Jahre der FDP) 2020 auf über 30 Prozent, vielleicht sogar 35 Prozent steigern. Der Strom muss dann aber immer noch zu 60, 2 Millionen weniger Arbeitslose zu haben, bedeutet 65 oder 70 Prozent von irgendwo anders kommen. Der – die Zahlen wurden eben genannt –, dass mehr in die Sozialkassen eingezahlt wird. 100 000 Arbeitsplätze kommt ja nicht vom Mond, Herr Kuhn, auch bei Ihnen bringen mehr als 80 Millionen Euro an zusätzlichen Ein- nicht. nahmen für die Bundesagentur für Arbeit. Wären sie (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weggefallen, wären Kosten für Arbeitslosengeld I usw. Von der Sonne! – Renate Künast [BÜND- in Höhe von 1,6 Milliarden Euro angefallen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Mond hat doch Uns ist insgesamt ein Betrag von 40 Milliarden Euro keinen Strom! Er ist ein Planet, Sie Irrlicht! Er erspart geblieben. Und „uns“ heißt in dem Fall dem ist ein Planet, kein Stern!) Steuerzahler, weil er keine Steuern dafür aufbringen – Oder aus der Steckdose. – Die volkswirtschaftlichen muss, und dem Beitragszahler, weil er keine höheren So- Folgen der Fotovoltaik hat der Kollege Fuchs vorhin zialversicherungsbeiträge aufbringen muss. Das ist die schon angesprochen. Deshalb werden wir auch die beste Art und Weise, dieses selbsttragende Wachstum volkswirtschaftlichen Potenziale der Kernenergie nut- weiter zu beschleunigen und anzuheizen. zen. Nicht wir, sondern das Öko-Institut und das RWI (Beifall bei der CDU/CSU) haben ausgerechnet, dass dort ein volkswirtschaftlicher Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5265

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Nutzen in einer Höhe von 250 Milliarden Euro verloren Unser Ziel ist, vor allem die Bereiche, in denen noch (C) gehen würde. Deshalb werden wir die Laufzeiten sub- etwas zu tun ist, besser zu fördern. Als Beispiele nenne stanziell verlängern und dafür sorgen, dass dieses nicht ich Migranten und Menschen, die schlecht ausgebildet allein den großen Vier zugute kommt. Vielmehr werden sind oder keinen Abschluss haben; beide Gruppen sind wir eine den Wettbewerb stimulierende Lösung finden, häufig identisch. sodass der Wettbewerb weiter vorankommt. Diese Po- tenziale werden der gesamten Wirtschaft und letztlich (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Für die strei- auch dem Bürger zugute kommen. chen Sie die Förderprogramme!) (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Klientel müssen wir ganz besonders in den Blick nehmen und effektiver fördern. Das werden wir bei- Ich möchte, weil das auch heute wieder erwähnt spielsweise beim Ausbildungspakt tun. wurde, das Thema Binnennachfrage und Lohn anspre- chen. Es wurde gesagt, die Löhne würden zurückgehen. Wenn wir all dies machen, dann gelingt es uns tat- Das stimmt überhaupt nicht. Wir haben immer noch mit sächlich, stärker aus der Krise hervorzugehen, als wir in die höchsten Lohnkosten in Europa. Es ist in der Tat aber die Krise hineingegangen sind. Das ist unser Ziel. Abge- so: Wenn man den Unterschied zwischen Lohnstückkos- rechnet, meine Damen und Herren, wird zum Schluss. ten und Lohnkosten nicht kennt, wird es schwierig. Ich bin mir sicher: Wir haben einen klaren ordnungspoli- tischen Kompass – das ist heute schon vorgetragen wor- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den –, unsere Instrumente werden wirken, und am Ende NEN]: Das ist wie mit dem Unterschied zwi- dieser Legislaturperiode wird Deutschland durch die Ar- schen Kindergeld und Elterngeld!) beit dieser bürgerlichen Koalition von CDU, CSU und FDP besser dastehen, Herr Solms hat ja versucht, Ihnen das darzulegen. (Garrelt Duin [SPD]: Als jetzt! Schlechter geht Es hat sich in den letzten 20 Jahren empirisch erwie- es ja auch nicht!) sen: Jedes Prozent Reallohnanstieg führt zu einer Steige- rung der Binnennachfrage von 0,3 Prozent. Jedes Pro- als Deutschland nach sieben Jahren Rot-Grün dagestan- zent Beschäftigungsanstieg dagegen führt zu einer den hat, und es wird auch besser dastehen als nach vier Steigerung der Binnennachfrage von 0,8 Prozent. Das Jahren Großer Koalition. Davon bin ich überzeugt. Las- heißt, die beste Förderung der Binnennachfrage besteht sen Sie uns die entsprechenden Zahlen, Daten und Fak- in einer guten Beschäftigungspolitik bzw. in der Erwei- ten dann zusammentragen. Dem sehen wir gelassen ent- terung des Arbeitsvolumens. gegen. (B) (Klaus Barthel [SPD]: Das Beste wäre: Alle Vielen Dank. (D) würden arbeiten und kein Geld dafür bekom- men! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz So ein Quatsch! – Dr. Barbara Höll [DIE Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein LINKE]: Aber nur, wenn es ordentlich bezahlt Pfeiffer pfeift im Walde!) wird! Wir brauchen vernünftige Löhne!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir haben dazu einiges in Bezug auf den Arbeitsmarkt Nun hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Frak- getan. Es ist beispielsweise gelungen, vom Jahr 2000 bis tion das Wort. zum Jahr 2008 die Erwerbsbeteiligung der Älteren – der 55- bis 64-Jährigen – von unter 40 Prozent – 37,6 Pro- (Beifall bei der SPD) zent – auf 54 Prozent konsequent zu steigern. Daran werden wir auch weiterhin arbeiten. Klaus Barthel (SPD): Beim Elterngeld – es ist vorhin schon angesprochen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe worden – wollen wir Wahlfreiheit für Familien und Al- es ja gerne zu: Wir haben zumindest zwei Dinge nicht leinerziehende. Wir können es uns auch angesichts der erwartet. Wir haben das, was gestern passiert ist, nicht demografischen Situation nicht leisten, zukünftig auf erwartet, dieses volkswirtschaftliche Asset zu verzichten. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dieses Jahr werden wir am Ausbildungsmarkt einen Gehen Sie doch mal auf heute ein! Heute ist Wendepunkt erleben. Der Ausbildungspakt wird neu ge- schließlich McAllister gewählt worden! Ist das staltet werden. Bisher ging es darum, genug Ausbil- nicht toll?) dungsplätze zur Verfügung zu stellen. Das wird zukünf- tig nicht mehr die Herausforderung sein. Es wird und wir haben nicht erwartet, dass es auf dem Arbeits- zukünftig mehr Ausbildungsplätze geben, als Bewerber markt einen so starken Aufschwung gibt. Das geben wir vorhanden sind. Die Facharbeiter- bzw. Fachkräftelücke unumwunden zu. Wir freuen uns über beides. Über den zeichnet sich schon ab. Diese Entwicklung ist der Demo- Aufschwung am Arbeitsmarkt freuen wir uns allerdings grafie geschuldet. mehr. Zwischen beiden Dingen gibt es aber einen ent- scheidenden Unterschied: Für das, was gestern passiert (Garrelt Duin [SPD]: Da wäre eine moderne ist, konnten Sie etwas. Aber für den Aufschwung am Einwanderungspolitik vonnöten!) Arbeitsmarkt kann diese Koalition nichts. 5266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Klaus Barthel (A) (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ (Beifall der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren (C) CSU]: Aha! Interessant!) [SPD]) Wir müssen uns einmal mit den Ursachen dieser Ent- Sie machen Steuergeschenke statt Modernisierung. Und wicklung befassen. Binnenwirtschaftlich betrachtet zeh- das nennen Sie Mittelstandspolitik. Sie schwächen die ren wir im Moment von den Rettungsschirmen für das Binnenkonjunktur durch Abkassieren bei den kleinen Finanzsystem, die Stabilisierung des Geldkreislaufs, die Einkommen und durch Kürzungen bei den Sozialleistun- Kreditversorgung und die Unternehmen. All das hat die gen; dazu haben wir heute schon etwas gehört. Große Koalition gemacht. Herr Brüderle – Sie werden sich an Ihre Reden vielleicht nur ungern erinnern –, wer Sie versagen bei der europäischen Politik und bei war dagegen? Die FDP. Das Konjunkturprogramm mit G 20. Es gibt keine verbindlichen Verabredungen zur einem Volumen von 81 Milliarden Euro für 2009 und Regulierung. Es gibt keine Refinanzierungsinstrumente 2010 entfaltet in diesem Jahr seine volle Wirkung. Wer gegen die Krise wie die Finanztransaktionsteuer. Da war dafür, und wer war dagegen, Herr Brüderle? stellt sich Frau Merkel, kurz bevor sie nach Toronto fliegt, hin und sagt: Wahrscheinlich haben wir keine (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Die FDP hat Mehrheit für die Finanztransaktionsteuer. Aber es ist gut zugestimmt!) so. Wir führen die Entscheidung herbei; dann wissen wir wenigstens, woran wir sind. – Es ist doch politischer Den betrieblichen Bündnissen hat die FDP zugegebe- Masochismus pur, zu sagen: Schlagt uns; dann wissen nermaßen zugestimmt. Aber was ist bei der Arbeits- wir, dass wir auf dem falschen Dampfer sind. Denn ei- marktpolitik? Kurzarbeitergeld, betriebliche Bündnisse gentlich wollten wir es ohnehin nicht. und Arbeitszeitkonten, das alles funktioniert auf der Grundlage sicherer Arbeitsverhältnisse und starker Be- (Beifall bei der SPD) triebsräte und Gewerkschaften. Das funktioniert aber nicht auf der Grundlage Ihrer Vorstellungen vom Ar- Das heißt – das ist das eigentliche Problem –, die beitsmarkt, von „Hire and Fire“ und von sogenannter Lunte für die nächste Krise ist gelegt. Die Krise ist eben Flexibilität, der Sie seit Jahren das Wort reden. nicht überwunden, Herr Solms. Die weltweiten Un- gleichgewichte im Handel erfahren jetzt einen neuen (Beifall bei der SPD) Schub; das weisen die Zahlen aus. Die Überschüsse in Deutschland und in China steigen weiter, und die Defi- Einen weiteren Beitrag zu dieser Entwicklung leistet zite der Schuldnerländer gehen weiter in den Keller. Die die Niedrigstzinspolitik der EZB, gegen die die FDP Geldvermögen sind schon wieder so groß wie vor der auch immer heftig polemisiert hat. Krise und treiben die Spekulation an. Gegen Finanzbla- (B) sen gibt es keine Regelungen. Deswegen sind auch die (D) Außerdem hilft uns im Moment die Entwicklung, Institute für 2011 äußerst skeptisch. Wenn Sie den Insti- dass die Weltwirtschaft doppelt so schnell wächst wie tuten nicht glauben, dann schauen Sie sich einfach an, die Wirtschaft in Deutschland, nämlich um über 4 bis wie es an den Börsen jeden Tag rauf und runter geht. 5 Prozent. Woher kommt dieses Wachstum, das das Vo- Dies zeigt eine hochgradige Nervosität, und die hat mit lumen unserer Exporte in diesem Jahr um 8 bis 9 Prozent dieser Situation zu tun. Wir sind längst nicht durch die nach oben treiben wird? Es kommt aus Ländern, die in Krise durch. der Wirtschaftspolitik das genaue Gegenteil von dem machen, was diese schwarz-gelbe Koalition seit einem Wir brauchen eine Strategie für die Euro-Zone. Hier halben Jahr predigt. In Ländern wie China und Brasilien ist nichts gelöst. Die Ungleichgewichte bestehen in der zum Beispiel wird sozialer Ausgleich betrieben. In Euro-Zone bzw. in der EU fort. Wir brauchen eine Fi- China unterstützt die Regierung streikende Arbeiter ge- nanzierung der Krisenlasten, die nicht nur im sozialen gen internationale Konzerne. In Brasilien wird seit Jah- Sinne gerecht, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll ren eine binnenwirtschaftlich orientierte Nachfragepoli- ist. Das heißt, man darf nicht da kürzen, wo mit dem tik gemacht. Im Weltmaßstab ist Deutschland als eine Geld Binnenkaufkraft gestärkt wird, sondern muss die der größten Volkswirtschaften leider nicht die Lokomo- belasten, die das große Geld haben und bei denen etwas tive, sondern eher der Bremsklotz des Aufschwungs; zu holen ist. Belastet werden müssen also Finanztransak- auch das weisen die aktuellen Zahlen aus. Sie schmü- tionen und große Vermögen. cken sich also mit fremden Federn. Dieser Aufschwung kommt aus Quellen, mit denen Sie überhaupt nichts zu Schließlich brauchen wir eine Umkehr bei der Lohn- tun haben; vielmehr haben Sie alles bekämpft. entwicklung, das heißt eine Bekämpfung der Prekarisie- rung. Ich fordere die Koalition dringend auf – da gab es (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin unterschiedliche Äußerungen; ich bin gespannt darauf, Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wie Sie das angehen –: Tun Sie gesetzlich etwas, um die Auswirkungen der verheerenden Rechtsprechung des Das heißt bei all unseren Erfolgen aber auch: Die Bundesarbeitsgerichts einzugrenzen! Wir müssen das schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik ist nun wirklich kein Prinzip „ein Betrieb, eine Branche, ein Tarifvertrag“ ret- Exportartikel. Statt Investitionsförderung zu betreiben, ten. Sonst wird der Druck auf die Löhne zunehmen, und sparen Sie. Bei der Gebäudesanierung, die dem Mittel- das können wir in der jetzigen wirtschaftlichen Situation stand helfen würde, sparen Sie. Bei der Solarförderung überhaupt nicht gebrauchen. kürzen Sie. Ich weiß nicht, was Atomwerke mit Mittel- stand zu tun haben. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5267

Klaus Barthel (A) Herr Solms und Herr Pfeiffer, das, was Sie hier über schaftspolitik entscheidend sei, nennen sie überwiegend (C) Lohnstückkosten erzählen, ist purer Unsinn. Herr alle als einen der wichtigsten Punkte, Pfeiffer sagt, Löhne schaden eher; wir brauchen Be- schäftigung. – Wenn man das von der Logik her zu Ende (Thomas Oppermann [SPD]: Eine andere denkt, dann hieße das: Am besten wäre es, alle arbeiten Regierung!) und bekommen kein Geld dafür. – Das wäre der volks- dass eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von wirtschaftliche Gipfel der Erkenntnis. elementarer Bedeutung ist. Da hat die Bundesregierung (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Geh, Herr mit dem Entwurf eines Sparpakets einen richtigen und Kollege!) wegweisenden ersten Schritt gemacht: Herr Pfeiffer, Sie sagen, die Lohnstückkosten bei uns (Beifall bei der FDP – Garrelt Duin [SPD]: stärken die Wettbewerbsfähigkeit im Export. Schauen Wie kommen Sie denn darauf? – Thomas Sie sich doch einmal die Stundenlöhne und die Lohn- Oppermann [SPD]: Aber viele Luftbuchun- stückkosten in der Exportwirtschaft an. Sie sind, volks- gen!) wirtschaftlich gesehen, relativ hoch. Das Problem ist sozial ausgewogen, mit klaren Schwerpunkten – Bildung nur: Es gibt andere Sektoren, in denen die Löhne immer und Forschung. weiter sinken. Dazu gehören der Dienstleistungsbereich und andere nicht exportstarke Sektoren. Daher hat die (Thomas Oppermann [SPD]: Ja, klar!) Anhebung der Löhne im Dienstleistungsbereich mit der Wenn, auch unter Berücksichtigung dieser Sparan- Wettbewerbsfähigkeit unserer Exportartikel – Maschi- strengungen, 55 Prozent der Ausgaben des Bundes für nen usw. – überhaupt nichts zu tun. Soziales getätigt werden und Sie, Herr Kollege Barthel, Sie sind dabei, dem Aufschwung, über den wir hier uns für Sozialpolitik China und Brasilien als Vorbild reden, die Grundlage zu entziehen. empfehlen, zeigt das, wie ver-rückt Ihr Koordinatensys- tem in sozialpolitischen Belangen ist. Herr Brüderle, Sie haben bisher das Richtige be- kämpft. Was andere Regierungen getan haben, bekämp- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fen Sie. der CDU/CSU) Das geht doch völlig an der Realität vorbei. Es gibt Präsident Dr. Norbert Lammert: kaum ein Land, das so unbeschränkt und nachhaltig So- Das können Sie jetzt aber nicht mehr im Einzelnen zialleistungen gewährt wie Deutschland. darstellen. (Thomas Oppermann [SPD]: Was haben Sie (B) denn in Brasilien gemacht? – Klaus Barthel (D) Klaus Barthel (SPD): [SPD]: Es geht um die Entwicklung der letzten Was die frühere Bundesregierung auf diesem Gebiet Jahre!) getan hat, bekämpfen Sie. Sie haben das Falsche gefor- dert, und Sie nennen das Ordnungspolitik. Herr Zu den anderen Themen. Natürlich ist Forschung et- Brüderle, ich kenne Sie ja schon länger. Sie sind als was, was mittelfristig wirtschaftspolitische Bedeutung durchaus pragmatisch und flexibel bekannt. Mein Appell hat. Deswegen ist es vernünftig, dort nicht zu sparen, son- zum Schluss ist: Wenden Sie sich von dieser Art von dern auf dem Wachstumspfad zu bleiben. Bildung ist na- Wirtschafts- und Ordnungspolitik ab, und machen Sie et- türlich auch ganz elementar. Das wirkt langfristig. Deswe- was ganz anderes! gen ist es richtig, dass die Bundesregierung hier nicht spart. Die Konsolidierungsanstrengungen, die sich ja (Beifall bei der SPD) hauptsächlich auf den Bereich Luftverkehrsabgabe, Ban- kenabgabe und auf das zusätzliche Belasten von Kern- Präsident Dr. Norbert Lammert: kraftwerksbetreibern beziehen, müssten genau in Ihrem Das Wort erhält der Kollege Martin Lindner für die Sinne sein. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie hier FDP-Fraktion. nicht viel deutlicher Beifall klatschen, als wir das tun. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso „zusätzliches Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Belasten von Kernkraftwerksbetreibern“? – Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Barthel, ich glaube, das wird der Bundeswirt- NEN]: Ich weiß nicht, wie viele Brennele- schaftsminister ganz sicher nicht machen. Er wäre auch mente Sie in Ihrem Keller liegen haben!) verrückt. Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Steuern sa- (Beifall bei der FDP) gen, weil auch von Kollegen Gysi das einfache Motto ausgegeben wird: Man muss nur bei den Stärkeren ein Jedes größere Wirtschaftsinstitut attestiert, dass hier eine wenig zugreifen. – Schauen Sie sich doch einmal die vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Sich davon steuerpolitische Entwicklung der letzten 40 Jahre an. abzuwenden, wäre vollkommen wahnsinnig. 1958 hat ein Lediger eine Eingangssteuer von 20 Pro- Wenn man Führungskräfte der Wirtschaft fragt, was zent, umgerechnet etwa 860 Euro pro Jahr, bezahlt. Den für nachhaltigen Aufschwung und nachhaltige Wirt- Spitzensteuersatz von 53 Prozent hat ein Lediger mit 5268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) 110 000 DM im Jahr – heute umgerechnet 56 000 Euro – – das ist die Anforderung an diese Bundesregierung und (C) bezahlt. diese Koalition – zu einem vernünftigen Level kommen. (Garrelt Duin [SPD]: Da wollen Sie wieder (Garrelt Duin [SPD]: Sollen die ethischen Fra- hin!) gen bei Ihnen künftig keine Rolle mehr spie- len? Wenn Sie das inflationsbereinigt fortschreiben würden, dann müssten Sie heute als Lediger bei etwa 2 400 Euro Ich glaube, man muss unter dem Begriff „Bürokratieab- 20 Prozent Steuern bezahlen und den Spitzensteuersatz bau“ versuchen – das greift ja in der Regel zu kurz –, das mit 160 000 Euro pro Jahr. Tatsächlich aber zahlen Sie in den nächsten Jahren vernünftig zu erreichen. den Spitzensteuersatz bereits bei 53 000 Euro und den Dazu gehören auch die Exportvorschriften. Natürlich Eingangssteuersatz von 14 Prozent bei 8 000 Euro. müssen wir auch diese überprüfen. Es ist wichtig, die (Klaus Barthel [SPD]: Das ist doch Unsinn! Exportwirtschaft in Deutschland weiter zu stärken. Ich Der Spitzensteuersatz ist doch nicht der effek- verstehe überhaupt nicht, warum die Linke des Hauses tive Steuersatz! – Thomas Oppermann [SPD]: das jedes Mal in einen Gegensatz zur Binnennachfrage Aber doch nicht für den ganzen Betrag! Erklä- stellt. Wir brauchen eine starke Exportwirtschaft. Alles ren Sie doch das Steuersystem mal richtig!) andere ist verrückt. Daran sehen Sie doch ganz deutlich, wenn Sie nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ideologisch verblendet sind, dass die starken Schultern der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE und vor allen Dingen die mittleren Einkommen immer LINKE]: Das hat was mit Gleichgewicht zu mehr belastet wurden. Darum geht es dieser Bundesre- tun!) gierung: Wir müssen die mittleren und auch die kleinen Wir werden weiter daran arbeiten müssen, und natürlich Einkommen entlasten, um den Sozialstaat, den wir hier müssen auch die Löhne und Gehälter international kon- alle wollen, finanzieren zu können. Deswegen ist es ver- kurrenzfähig sein. nünftig, wie hier vorgegangen wird. Damit, dass Sie hier, genau wie in der Sozialpolitik, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gespenster in die Welt setzen, gehen Sie völlig am ech- der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: ten Leben vorbei. Natürlich hat es in Deutschland in den Wann fangen Sie denn damit an? Wann geht es letzten Jahren auch bei den Löhnen und Gehältern eine endlich los? Wann folgen Ihren Ankündigun- gewisse Konsolidierung gegeben, aber es kann doch gen auch Taten?) nicht Ihr Ernst sein, hier zu erzählen, das seien Dum- (B) Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen pinglöhne, Herr Gysi. Im verarbeitenden und für die Ex- (D) wird auch entscheidend davon abhängig sein, inwieweit portwirtschaft relevanten Gewerbe stehen wir innerhalb wir die Anforderungen an die Wirtschaft in sozialpoliti- der Europäischen Union noch immer an vierter Stelle scher, arbeitsrechtlicher und ökologischer Hinsicht opti- von oben. mieren. (Klaus Barthel [SPD]: Und mit einem Niedriglohnsektor!) (Thomas Oppermann [SPD]: Alles nur Sprücheklopferei!) Es ist Ausdruck der völligen Unkenntnis der tatsächli- chen Gegebenheiten, hier von Dumpinglöhnen zu reden. Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Ich halte nichts davon, die hohen Standards, die wir in Deutschland ha- Wir brauchen wettbewerbsfähige Löhne und Ge- ben, blind nach unten zu ziehen. Ich glaube auch, dass hälter. Dabei sind wir in Deutschland auf einem guten viele deutsche Produkte ihre Geltung in der Welt und ihr Weg, und zwar auch dank der Vernunft von Gewerk- hohes Niveau auch dadurch erhalten haben, dass wir in schaften und vor allen Dingen auch dank der betriebli- Deutschland höhere Standards haben als beispielsweise chen Vereinbarungen in den Unternehmen. Dafür dan- in China, Korea oder sonst irgendwo. Ich glaube, dass ken wir. Natürlich ist man auch dort mit Vernunft man hier das Optimum erreichen muss, denke aber, dass vorgegangen. Das war wegweisend, und es zeigt sich in wir uns in vielen Bereichen weg vom Optimum und hin diesen geringen Arbeitslosenzahlen ganz deutlich, zu einem Maximum an Anforderungen bewegen, wo- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten durch deutsche Produkte national und international der CDU/CSU) schlechter wettbewerbsfähig sind. dass man hier eben nicht Ihren ideologischen Phantas- Mit der pharmazeutischen Industrie haben wir ein magorien gefolgt ist, sondern Vernunft hat obwalten las- gutes Beispiel dafür. Wir waren einmal die Apotheke sen. der Welt. Im Laufe der Jahre haben wir uns über Ethik- kommissionen, andere Anforderungen, das Verbot von Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die ord- Tierversuchen und Ähnlichem von dem Optimum an nungspolitische Klarheit dieser Bundesregierung am Produktsicherheit und Ethik hin zu einem solchen Ma- Beispiel Opel eingehen. Ich freue mich wirklich, dass ximum bewegt, dass für die Entwicklung eines Pro- diese Bundesregierung – federführend der Bundeswirt- dukts eine Investition von mindestens 1 Milliarde Euro schaftsminister Brüderle –, anders als viele Vorgänger, nötig ist, wodurch die Unternehmen mit ihren Produk- egal, welcher Couleur, in dieser Frage standhaft geblie- ten nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir müssen hier ben ist. Ich denke an die Maxhütte, an Philipp Holzmann Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5269

Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) und an KarstadtQuelle und höre noch die „Gerhard, Vergleich zu Ihnen scheine ich schon öfter (C) Gerhard“-Rufe. Fahrrad gefahren zu sein!) Verehrter Herr Kollege Duin, im Gegensatz zu Herrn Präsident Dr. Norbert Lammert: Wirtschaftsminister Brüderle haben Sie meines Erach- Herr Kollege Lindner, all die vielen Fälle, die sich tens kein realistisches Bild gezeichnet; denn es steht jetzt vielleicht nennen ließen, lassen sich nach abge- doch unbestritten fest: Kein Land hat die Krise besser schlossener Redezeit nicht mehr unterbringen. bewältigt als wir. Die jetzige christlich-liberale Bundes- regierung und ihre Vorgängerin – das betone ich aus- Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): drücklich – in der Großen Koalition haben doch in den Ich binde das in einem Satz zusammen und sage: Es letzten zwei Jahren eine richtige Politik betrieben. Diese ist jeweils gescheitert. führte zum Erfolg. Ich meine, wir sollten uns alle da- rüber freuen, anstatt uns gegenseitig zu beschimpfen und Herr Duin, eine Stunde bevor GM seine Förderan- das Leben schwer zu machen. Gemeinsam an einem träge zurückgezogen hat, haben Sie Seite an Seite mit Ih- Strang ziehen, ist das Gebot der Stunde. rem linken Bruder noch immer gefordert, Brüderle solle weich werden und deutsche Steuergelder für GM ausge- Wir sind zwar über den Berg, aber trotzdem ist nicht ben. alles eitel Sonnenschein. Die konjunkturelle Frühjahrs- belebung ist stärker als sonst. Die Auftragsbücher des (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mittelstandes und des Handwerks füllen sich. Der Ex- NEN]: Das ist dann die Bilanz von dem port gewinnt an Fahrt. Jedes zweite produzierte Auto Mann? Ich lache mich tot!) geht in den Export. Die Arbeitslosigkeit liegt in ver- Das ist der große ordnungspolitische Unterschied zwi- schiedenen Regionen sogar unter 4 Prozent. Davon ha- schen Ihnen und uns. Sie wären weich geworden und ben wir alle noch vor einem Jahr geträumt. Es ist Wirk- hätten deutsche Steuergelder nach Amerika gegeben. lichkeit geworden, wie Kollege Fuchs vorhin bereits ausgeführt hat. Aufgrund sehr guter Exportmöglichkei- Ich bin froh, dass er standhaft geblieben ist und einen ten können unsere Unternehmen ihre Mitarbeiterzahl na- klaren ordnungspolitischen Kurs hat. Sie können hezu unverändert halten. Die Dienstleistungsbranche schreien, soviel Sie wollen: Die Bundesregierung und plant sogar, Arbeitnehmer einzustellen. diese Koalition werden diesen ordnungspolitischen Kurs unbeirrt fortsetzen. Noch auf anderen Gebieten sind wir spitze. Die tarif- lichen Monatsverdienste der Arbeitnehmerinnen und Ar- Herzlichen Dank. beitnehmer in der Privatwirtschaft sind im letzten Jahr (B) um durchschnittlich 2,7 Prozent gestiegen, in Frankreich (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nur um 2,2 Prozent. Herr Gysi, Sie haben vorhin einen der CDU/CSU) Vergleich gezogen. Ich möchte deshalb besonders darauf verweisen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland Präsident Dr. Norbert Lammert: für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Hinsken für Verdienstmöglichkeiten anbelangt, sehr viel mehr und die CDU/CSU-Fraktion. Besseres geleistet haben als die Nachbarländer, die in etwa mit uns vergleichbar sind. Auch in dieser Hinsicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sind Sie widerlegt. der FDP) Das, was gemacht worden ist, hat den Staat viel Geld Ernst Hinsken (CDU/CSU): gekostet. Das war in der Wirtschaftskrise richtig. Unbe- stritten ist, dass unser soziales Netz spitze ist. Wir müs- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! sen uns aber grundsätzlich die Frage stellen, ob das alles Frau Kollegin Andreae, „Wasser predigen, aber Wein noch bezahlbar ist. Haben wir nicht in den letzten Jahren trinken“ heißt ein schönes Sprichwort. Heute Morgen und vielleicht Jahrzehnten ein bisschen über die Verhält- bin ich mit meinem Fahrrad zum Büro gefahren. Ich nisse gelebt? wurde von drei Dienstlimousinen überholt; in jeder saß ein Grüner. Sie aber fordern die Abschaffung der Dienst- (Klaus Barthel [SPD]: Wer denn?) limousinen. Fordern: Ja! Nutzen: Ja! Ich setze auf die Bürger. Die Bürger, Kollege Barthel, (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: So sind sie sind mündiger als viele Kolleginnen und Kollegen auf halt!) Ihrer Seite des Deutschen Bundestages. Sie sind mündig – So sind sie halt. – Das alles passt nicht mehr zusam- und wissen, was machbar und was nicht machbar ist. men. Ich wollte das bei dieser Gelegenheit ganz kurz er- Deshalb muss die Devise jetzt lauten, dass gespart wer- wähnen, damit ich der Öffentlichkeit das sage, was ihr den muss; denn die Schulden von heute sind die Steuern auch glaubwürdig überbracht werden kann. von morgen. Was ist deshalb zu tun? Wir müssen auf dem Gebiet Leitgedanken entwickeln. Erstens: Haus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – haltskonsolidierung über die Ausgabenseite vorneh- Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men. Zweitens: keine Steuererhöhungen. Drittens: Zu- NEN]: Soll ich Ihnen das erklären? – Renate kunftsinvestitionen fortführen. Viertens: selbsttragenden Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Aufschwung unterstützen. Fünftens: Binnenkonjunktur 5270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Ernst Hinsken (A) ankurbeln. Sechstens: inflationäre Tendenzen im Keim (Garrelt Duin [SPD]: Der Minister hat aber an- (C) ersticken. Schließlich ist Inflation Diebstahl am kleinen gekündigt, dort sparen zu wollen!) Bürger. Für den wollen wir ganz besonders da sein. Ich bitte Sie deshalb, sich dafür einzusetzen, dass das er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) folgt. Wir wollen und werden jetzt einen dauerhaften (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wachstumsprozess anstoßen, der ohne staatliche Hilfe bei Abgeordneten der SPD) auskommt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum (Klaus Barthel [SPD]: Dann brauchen Sie ihn Schluss darauf hinweisen, dass die Energie ein bedeu- ja nicht anzustoßen! – Heiterkeit der Abg. tender Faktor ist. Wenn man nur 50 Kilometer von Te- Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- melin entfernt wohnt, macht man sich natürlich schon NEN]) Gedanken darüber, wie wir vorgehen und wie andere vorgehen. Die Schweden zum Beispiel steigen aus dem Was wollen wir? Erstens: mehr netto – und das trotz Ausstieg aus der Kernenergie aus. Bei uns nimmt man Sparpakets. Zweitens: die Sozialversicherungsbeiträge das – zumindest auf der linken Seite – überhaupt nicht stabil halten. Das hilft den Beschäftigten, Arbeitgebern zur Kenntnis. Man negiert, dass allein in Europa fast und auch Rentnern. 200 Kernkraftwerke in Betrieb sind – (Garrelt Duin [SPD]: Führen Sie die Kopf- pauschale ein?) Vizepräsidentin : Drittens: der Jugend eine Zukunft geben. Ich möchte Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Sie, Herr Minister Brüderle, ergänzen. Was die Jugend- arbeitslosigkeit anbelangt, steht die Bundesrepublik Ernst Hinsken (CDU/CSU): Deutschland als absolutes Spitzenland da. Die Jugend- – ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin –, dass in arbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei 9,5 Prozent, in Deutschland 17 Kernkraftwerke betrieben werden und der gesamten EU bei 20,6 Prozent, in Frankreich bei dass in der europäischen Zone 14 neue Kernkraftwerke 22,2 Prozent, in Spanien bei 40,3 Prozent und in den gebaut werden. Das wird alles beiseitegeschoben. Um in USA bei 19,6 Prozent. Wir müssen für die Jugend, die diesem Bereich wettbewerbsfähig zu sein, muss nun ein- uns so ans Herz gewachsen ist, schon jetzt die Weichen mal auch der Energiepreis stimmen. Der stimmt bei uns stellen, damit sie sich auch einmal so entfalten kann, wie nicht. Deshalb sind wir für Kernkraftwerke als Brücken- wir das jetzt tun können. technologie. Wir brauchen sie, solange wir sie nicht (B) durch alternative Energieerzeugung ersetzen und den (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Strom anderweitig preisgünstig produzieren können. Viertens. Gerade diese Bundesregierung fördert den Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Mittelstand, und zwar zu Recht; denn dort, wo der Mit- telstand stark ist, ist die Arbeitslosigkeit mit am nied- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rigsten. Herr Brüderle, gerade hier haben Sie einige Ak- zente gesetzt, die in die richtige Richtung gehen. Mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dem Wirtschaftsfonds Deutschland hilft die Bundesre- Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peter gierung zielgenau vor allem mittelständischen Unterneh- Friedrich. men bei der Bewältigung der durch die Krise entstande- nen Finanzierungsprobleme. (Beifall bei der SPD) (Joachim Poß [SPD]: Damit hat er doch nichts zu tun! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das hat Peter Friedrich (SPD): er doch noch bekämpft!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf den Anlass der Debatte zurückkommen, In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich be- nämlich die Regierungserklärung von Herrn Minister rücksichtigen, dass es in der Bundesrepublik Deutsch- Brüderle. Herr Brüderle, die Schlüsselworte Ihrer Rede land verschiedene Gebiete gibt, die nicht so stark sind waren „könnte“ und „müsste“. Darum hat sich alles ge- wie bestimmte Ballungsräume. Es ist daher erforderlich, dreht. Ich habe bei intensivstem Nachdenken und Nach- eine Politik aufzulegen, die dem ganzen Land dienlich forschen, welche wirtschaftspolitischen Aktivitäten Sie ist. Herr Minister Brüderle, ich bitte Sie, dafür zu sorgen, bisher in Ihrem Amt entfaltet haben, genau drei Punkte dass an der regionalen Wirtschaftsförderung so weit wie gefunden. Das Erste war der Kreditmediator; darauf irgend möglich festgehalten wird; denn das hat sich be- gehe ich gleich noch ein. Das Zweite war das sogenannte währt. Allein in den letzten 20 Jahren haben wir auf die- Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Dritte war der sem Gebiet durch subsidiäre Hilfe des Staates Opel-Entscheid. Mehr gab es nicht. Welche Ihrer Nicht- (Garrelt Duin [SPD]: Das ist doch kein Aktivitäten ist jetzt genau für das Jobwunder verantwort- Sparen!) lich? Sie profitieren von den Ergebnissen einer ver- nünftigen und guten Konjunkturpolitik sowie von den über 1 Million Arbeitsplätze schaffen und darüber hi- Ergebnissen einer vernünftigen und guten Arbeits- naus über 1,8 Millionen Arbeitsplätze erhalten können. marktreform, die Rot-Grün angestoßen hat und die wir Das, was sich bewährt hat, gilt es hier fortzuführen. in der Großen Koalition fortgesetzt haben. Auf dieser Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5271

Peter Friedrich (A) Welle schwimmen Sie – und auf sonst nichts. So etwas Ich nenne Ihnen einmal ein anderes Beispiel. Im Be- (C) nennt man Trittbrettfahrertum. Mit konzeptioneller Wirt- reich des Marktanreizprogramms haben Sie 144 Mil- schaftspolitik hat das aber überhaupt nichts zu tun. lionen Euro gesperrt, haben das abgewürgt, obwohl Sie da nach eigener Darstellung das 7,2-Fache an Investitio- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen auslösen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei den Hotels geben Sie 1 Milliarde Euro aus für Herr Hinsken, Sie haben den Deutschlandfonds an- 100 Millionen Euro Investitionen, und in dem anderen gesprochen und ihn mit Herrn Brüderle in Verbindung Bereich kürzen Sie rund 100 Millionen Euro, womit Sie gebracht. Noch vor einem halben Jahr hätte Herr gut 700 Millionen Euro Investitionen abwürgen. Das ist Brüderle es sich verbeten, in einem Satz mit dem Ihre Wirtschaftspolitik in diesem Land! Deutschlandfonds zitiert zu werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Garrelt Duin [SPD]: Ja!) DIE GRÜNEN) Damals hat er bei dem, was wir in der Großen Koalition Herr Brüderle hat gesagt: Die Kapazitäten werden zusammen auf den Weg gebracht haben, ordnungspoli- wieder hochgefahren. – Wir können uns hier über das tisch noch Sodom und Gomorrha ausgerufen. Thema Binnennachfrage austauschen. Ich finde den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gegensatz, der immer hergestellt wird, interessant. Es kommt immer von Ihrer Seite, dass Export und Binnen- Jetzt wird es als Erfolg abgefeiert. Man sollte zumindest nachfrage ein Gegensatz sind. Wir betrachten das aus- so ehrlich sein, das Copyright mit anzugeben, wenn man drücklich nicht so. Wir wollen, dass beides funktioniert, sich auf Erfolge bezieht, die andere zu verantworten ha- dass beides gut läuft. Wir brauchen in einem ganz be- ben. stimmten Bereich auch Binnennachfrage. Wir müssen (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ nämlich wieder für mehr Investitionen sorgen. CSU]: Schon Adenauer hat gesagt – –) Alle Firmen, alle Mittelständler, alle Handwerksbe- – Ich weiß. Adenauer hat auch gesagt: Was interessiert triebe haben ihre Investitionen in der Krise geschoben. mich mein Geschwätz von gestern? Sie haben aus der Substanz gewirtschaftet. Sie stehen vor großen Ersatzinvestitionen, weil man eben nicht be- Aber nun zu dem Bild des selbsttragenden Auf- liebig lange aus der Substanz leben kann. Sie müssen schwungs, das Sie alle heute Morgen bemühen: Viel- jetzt also Ersatzinvestitionen tätigen. Sie wollen auch in leicht ist es so. Wir haben Glück, wenn es so ist. Aber Kapazitätserweiterungen investieren. Das ist gut. Das das, was Sie politisch jetzt einleiten, läuft darauf hinaus, wollen wir auch. (B) dass das, was an selbsttragenden Elementen vorhanden (D) ist, kaputtgemacht wird. Ihr Sparpaket betrifft genau die Erleben werden wir in diesem Herbst aber, dass der Anreize, die wir gesetzt haben. Wir wollten, dass es mit steigende Bedarf an Kreditmitteln für Investitionen auf der Konjunktur wieder aufwärts geht. Sie aber entziehen die Bankenregulierung trifft, die wir ja auch wollen. den Kommunen exakt die Mittel, die wir ihnen vorher Wir stehen dazu: Wir wollen, dass die Banken die Risi- gegeben haben, damit sie investieren. Über das, was Sie ken vernünftiger prüfen. Wir wollen, dass mehr Eigen- an Kürzungen im Sozialbereich planen, entziehen Sie kapitalunterlegung vorhanden ist. Wir wollen auch, dass den Menschen exakt die Gelder, die wir ihnen vorher im Basel III zu einem vernünftigen Ergebnis geführt wird. – Rahmen von Entlastungen gegeben haben. Sie machen Da trifft also etwas aufeinander, was sich nicht verträgt, die Rolle rückwärts und würgen den selbsttragenden nämlich ein wachsender Kreditbedarf auf der einen Seite Aufschwung ab. Er trägt nicht. Er erträgt nämlich nicht und ein zurückgehendes Kreditangebot wegen der Ihre Politik. Das werden Sie erleben. Restriktionen, die wir in der Regulierung vornehmen, auf der anderen Seite. Der Minister aber sagt: Das Pro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ blem gibt es nicht. DIE GRÜNEN) Der Kreditmediator hat seine Tätigkeit etwas süffi- Schauen wir uns doch einmal nur einen Punkt aus sant mit den Worten kommentiert, er müsse ein Problem dem an, was Sie „Wachstumspolitik“ nennen! Sie haben herbeireden, weil er nichts zu tun habe. Aber dass sich 1 Milliarde Euro – ich weiß, dass Sie das nicht mehr hö- ein Problem aufbaut, hat Ihr Staatssekretär, Herr ren mögen – darauf verwendet, die Hotels zu subventio- Brüderle, uns auf eine Anfrage hin bestätigt. Der Kredit- nieren. 1 Milliarde Euro! mediator – ich nehme an, dass er für Sie eine Autorität (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist – bestätigt Ihnen das auch. Aber Sie sagen: Das Pro- NEN]: Sinnlos!) blem gibt es nicht. Darum müssen wir uns nicht küm- mern. Das Problem sind die Energiepreise. Das Problem Sie haben damit die bombastische Investition von ist nicht mehr die Kreditversorgung. 100 Millionen Euro ausgelöst. Das, Herr Brüderle, heißt: Sie führen Unternehmen, (Otto Fricke [FDP]: Woher wissen Sie das?) die in den Aufschwung gehen wollen, die etwas dazu beitragen wollen, jetzt sehenden Auges in eine Versor- – Das ist die Behauptung des Fachverbandes. gungsklemme hinein, was den Kreditbereich angeht. Ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es stimmen we- sage Ihnen: Wir brauchen Instrumente. Ich weiß, dass der die Milliarde noch die 100 Millionen!) Sie das prüfen. Wir haben es im Ausschuss jede Woche 5272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Peter Friedrich (A) mit Prüfaufträgen zu tun. Uns würde einmal interessie- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): (C) ren: Was tun Sie dafür, dass die deutsche Wirtschaft in Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und den Aufschwung hinein investieren kann, dass Investi- Herren! Heute ist der 1. Juli. Vor genau 20 Jahren wurde tionen bei uns ausgelöst werden und dass es sich lohnt, in Ostdeutschland die Währungs-, Wirtschafts- und So- die Kapazitäten auf einen Aufschwung hin auszurichten? zialunion eingeführt. Damit wurde über Nacht die win- delweiche Aluminiumwährung gegen die starke und Die Diskussion zum Sparpaket ist bei Ihnen ja nicht harte D-Mark eingetauscht. Das war natürlich auch für beendet. Ich weiß, es gibt immer wieder Appelle des Zu- die Wirtschaft eine Schocktherapie; das muss man ganz sammenhalts, es sei ausgewogen, jetzt müsse die Dis- klar sagen. Seitdem ist der wirtschaftliche Aufschwung kussion aber auch beendet sein. Nach den vielen Prüf- in Gesamtdeutschland natürlich mit dem Aufschwung in aufträgen, sei es zum Thema Gewerbesteuer, sei es zum Ostdeutschland unmittelbar verbunden. Thema Mehrwertsteuer, hatte ich mir heute ein bisschen Klarheit darüber erhofft, wohin Sie wirtschaftspolitisch Wenn man heute Meinungen hört und Zeitungsartikel wollen. Sie haben wieder davon gesprochen, dass Sie darüber liest, wie das damals gewesen ist und was die eine Nettoentlastung wollen. Wir erleben aber eine Net- letzten 20 Jahre für Ostdeutschland gebracht haben, tolüge. Wir erleben, dass die Kommunen die Kindergar- dann stellt man fest: Das ist so ähnlich wie in der heuti- tengebühren erhöhen müssen, dass die kommunalen Ge- gen Debatte. Es wird in Deutschland immer alles bühren überall steigen, dass Sie das Geld, das Sie auf der schlechtgeredet. Der Aufschwung findet gar nicht statt. einen Seite – angeblich – geben wollen, um den Auf- Das, was die Regierung macht, ist sowieso Mist. schwung zu stärken, letzten Endes wieder vereinnahmen (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) wollen. Aber einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Die Kommunen stehen finanziell schon Die Zahlen, denen nicht so einfach widersprochen wer- längst am Abgrund. Sie vergrößern das Problem mit Ih- den kann, werden zwar hingenommen, aber trotzdem ne- rer Politik noch. gativ kommentiert. Ich möchte noch einen Hinweis zur Schuldenbremse Genauso ist es mit dem wirtschaftlichen Aufbau in geben, weil Herr Gysi das Thema angesprochen hat. Ostdeutschland. Ein großes Politikmagazin hat in dieser Herr Gysi, ich teile Ihre Einschätzung: Man kann das Woche einen mehrseitigen Artikel zu diesem Thema ver- Thema Konsolidierung nicht nur über die Ausgabenseite öffentlicht. Es fehlte bloß noch – das hat man schon angehen, sondern muss auch die Einnahmeseite sehen. 1990 gemacht –, dass man die Bilder nachträglich schwärzt, um die wirtschaftliche Situation Ostdeutsch- (Otto Fricke [FDP]: Wie immer bei euch!) lands noch düsterer darzustellen. Diese Darstellung ist (B) einfach unfair, und zwar gegenüber beiden Seiten: unfair (D) Was ich aber nicht verstehe, ist: Als Linker muss ich gegenüber den Menschen in den alten Bundesländern, doch dafür sein, die Staatsverschuldung möglichst ge- die mit einer großen solidarischen Anstrengung den ring zu halten. Die Staatsverschuldung führt doch nur zu wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland in großen einem Effekt: Der Staat leiht sich Geld bei Menschen, Teilen mitfinanziert haben, unfair aber auch gegenüber die genug haben, um es zu verleihen, und zahlt ihnen den Menschen in Ostdeutschland, die nämlich diese dann über die Zinsen eine erhebliche Rendite. Staatsver- Schocktherapie über sich haben ergehen lassen und de- schuldung sorgt für die stärkste Form der Umverteilung. ren gesamtes Lebensumfeld sich änderte. Ihnen wird Deswegen können Sie sich doch als jemand, der angeb- jetzt suggeriert: Das, was ihr gemacht habt, war sowieso lich linke Politik machen will, nicht hier hinstellen und nur Mist. Lasst es doch einfach sein. der Staatsverschuldung das Wort reden. Das passt doch Wenn wir so weitermachen, dann haben wir die übli- nun wirklich nicht zusammen. che deutsche Stimmung. Das Ausland denkt aber ganz Der Generalsekretär der FDP hat schon zugegeben, anders darüber. Das Ausland sieht, dass Deutschland dass der Kompass nicht funktioniert habe. Herr Brüderle trotz der Finanzierung der deutschen Einheit, trotz der hat behauptet, seiner funktioniere noch. Wissen Sie was? großen Lasten, die aufgrund des wirtschaftlichen Auf- Wenn Sie einen funktionierenden Kompass haben, dann baus in Ostdeutschland zu schultern waren, heute, nach benutzen Sie ihn, um eine Bewegung nach vorne zu er- 20 Jahren, die Konjunkturlokomotive in Europa ist. An- zeugen. Bisher haben Sie ihn nicht eingesetzt. dere Länder wie Frankreich sagen: Es kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, dass wir nicht so schnell Danke schön. wie Deutschland sind. – Meine Damen und Herren, das ist doch eigentlich ein großes Lob für uns. Wir müssen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten doch stolz darauf sein, dass wir nach zwei Jahren Wirt- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftskrise wieder die Lokomotive in Europa sind, ob- wohl wir in Ostdeutschland noch weitere Probleme zu lösen haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Entwick- Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. lung der ostdeutschen Wirtschaft der letzten 20 Jahre und den heutigen Stand. Das Wachstum der ostdeutschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wirtschaft ging in der Wirtschaftskrise nicht so stark zu- neten der FDP) rück wie das der gesamtdeutschen Wirtschaft; der Rück- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5273

Andreas G. Lämmel (A) gang war nur halb so groß. Der Zuwachs des Bruttoin- nächsten Haushalt die Kräfte unterstützen, die das (C) landsproduktes wird für dieses Jahr vom Ifo-Institut mit Wachstum auch weiterhin wirkungsvoll befeuern. 1,6 Prozent prognostiziert. Ein Blick in die einzelnen Sektoren der Volkswirtschaften zeigt – ich spreche ein- Hier geht es zunächst einmal um das Thema „For- mal die Zahl Sachsens an, weil ich sie sehr genau kenne –, schung und Entwicklung“. In diesem Punkt, Frau dass im verarbeitenden Bereich, also in genau dem Be- Andreae, sind wir ja nicht so weit auseinander. reich, in dem wir in Gesamtdeutschland besonders stark (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind, seit über zehn Jahren zweistellige Wachstumsraten NEN]: Genau!) zu verzeichnen sind. Hätte nicht die Bauwirtschaft in den letzten Jahren ständig negative Beiträge zum Brutto- Für regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen von inlandsprodukt erbracht, läge die Gesamtwachstumsrate GRW und für die Mittelstandsinnovationen in Ostdeutschland deutlich höher. Das ist doch eine Leis- tung, die wir in Gesamtdeutschland erbracht haben. Der (Zuruf von der LINKEN: Gekürzt!) Aufschwung in Ostdeutschland trägt nämlich unmittel- bar auch zum Aufschwung in Westdeutschland bei. geben wir in einem Jahr allerdings noch nicht einmal so viel aus wie in einem halben Jahr für die Steinkohle. Das Ich möchte auch auf die Entwicklung der Arbeitslo- ist schon ein Problem. Trotzdem werden in den Haus- senzahlen verweisen. Wir sind dabei, die Arbeitslosen- haltsansätzen, die wahrscheinlich nächste Woche im zahlen in Ostdeutschland zu halbieren. Bundeskabinett verabschiedet werden, die Themenberei- che FuE und Innovationsförderung für den Mittelstand Es kann doch nicht geleugnet werden, dass große Er- an erster Stelle stehen. folge beim Aufbau der Wirtschaft in Ostdeutschland zu verzeichnen sind. In besagtem Artikel wird geschrieben, Dann müssen wir Fortschritte beim Thema „freier man habe es in 20 Jahren nicht einmal geschafft, dass ei- Handel“ erreichen. Wir müssen die sogenannte Doha- nes der 100 größten Unternehmen in Deutschland seinen Runde weiterentwickeln und Sitz in Ostdeutschland hat. Meine Damen und Herren, (Zuruf von der LINKEN: Gescheitert!) das ist doch kein Wunder. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Sie von der SPD oder von den Grünen dafür sorgen, dass freier Welthandel weiterhin möglich sich dafür eingesetzt hätten, dass Audi wieder nach ist und somit auch die deutsche Industrie freien Zugang Zwickau zurückgeht, wo es eigentlich hingehört; denn zu den internationalen Märkten hat. Audi ist ursprünglich kein Unternehmen aus Ingolstadt, sondern aus Sachsen. Oder haben Sie sich dafür einge- Wir müssen auch die Rohstoffbasis sichern. Auf die- (B) setzt, dass andere Unternehmen, die früher ihren Sitz in sen Punkt ist der Minister schon eingegangen. Wir begrü- (D) Ostdeutschland hatten, ihre Konzernzentralen wieder zu- ßen das ausdrücklich. Auch wenn der Staat gar nicht so rückverlegt haben? Ich habe davon nichts mitbekom- viele Möglichkeiten hat, hier tätig zu werden – es ist eine men. Deshalb darf man sich doch heute nicht beklagen, Aufgabe der Wirtschaft, für die Erschließung von Roh- dass von den 100 größten deutschen Unternehmen kei- stoffen zu sorgen –, wollen wir hier am Ball bleiben. nes in Ostdeutschland seinen Sitz hat. Auch die Infrastruktur muss weiter ausgebaut wer- In Ostdeutschland ist aber ein neuer Mittelstand ent- den. Hierbei geht es nicht bloß um den Ausbau von standen, und es gibt hocheffiziente Unternehmen, die auf Straßen, sondern genauso um den Ausbau von Breit- modernste Technologien setzen. In Ostdeutschland wird bandinfrastruktur, Wissenschaftsinfrastruktur und Bil- genau auf die Technologien ein Schwerpunkt gelegt, auf dungsinfrastruktur. die Sie – ich schaue jetzt einmal in Ihre Richtung, Frau Das Thema Bildung ist in jedem Fall ein sehr wichti- Andreae – ganz stark setzen. Es handelt sich um die Be- ger Punkt – das ist schon mehrfach angesprochen wor- reiche regenerative Energien, Nanotechnologie, eigent- den –: Bildung in der Schule, Bildung in der Hochschule lich um alle neuen Technologien. Wenn Sie Ihre Blo- und natürlich auch Berufsausbildung. Angesichts der zu- ckade aufgeben würden, würde Ostdeutschland auch bei rückgehenden Zahl an Schulabgängern müssen wir – das Grüner und Weißer Gentechnologie eine Spitzenposition sehe jedenfalls ich persönlich so – die Qualität in der Be- einnehmen. rufsausbildung steigern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ der FDP) CSU]) Ich plädiere dafür, genauer hinzuschauen, wenn man Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann nach 20 Jahren eine Bilanz zieht. ich Ihnen versichern: Der neue Bundeshaushalt wird da- Damit Deutschland auch in Zukunft weiterhin positiv rauf ausgerichtet sein, den Aufschwung, den wir brau- dasteht, gilt es nun, den beginnenden Aufschwung wei- chen und im Moment auch erleben, weiterhin zu unter- ter zu verstetigen. Herr Duin hat im Ausschuss gesagt, er stützen. Sie können dabei mithelfen, indem Sie Ihre verstehe nicht viel von Wirtschaft, dafür aber viel von Stimme in die Haushaltsberatungen einbringen. Fußball. Das hat man auch an seiner heutigen Rede ge- Vielen Dank. merkt. Weil das so ist, trägt Ihre Partei auch keine Regie- rungsverantwortung mehr. Wir jedenfalls werden im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: „Gerecht“ heißt, dass diejenigen, die mehr haben, die (C) Ich schließe die Aussprache. starke Schultern haben, mehr schultern müssen als dieje- nigen, die wenig haben. Sie machen es aber so: Diejeni- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: gen, die wenig haben, tragen die Hauptlast, und diejeni- Beratung des Antrags der Abgeordneten gen, die viel haben, tragen gar nichts. Alexander Bonde, Priska Hinz (Herborn), Sven- Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Haushalt zukunftsfest machen – Nachhaltig Es war eine hohe Stunde der Peinlichkeit, als Frau sanieren – Ökologisch und sozial investieren Merkel bei der Vorstellung des Sparpakets auf die Frage, woran man die Gerechtigkeit erkenne, sagte, dass auch – Drucksache 17/2327 – die Wirtschaft belastet würde, und die Brennelemente- Überweisungsvorschlag: steuer als Beispiel nahm. Wer diesen Punkt als Ausweis Haushaltsausschuss (f) sozialer Gerechtigkeit ins Feld führt, hat nicht verstan- Finanzausschuss den, worum es geht. Im Übrigen nimmt sie den Atom- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales konzernen vielleicht 2 Milliarden Euro ab, schenkt ihnen Verteidigungsausschuss aber 6 bis 8 Milliarden Euro durch die Laufzeitverlänge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rung, die Sie vorhaben. Das ist Zynismus pur. So können Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Sie Haushaltskonsolidierungspolitik nicht betreiben. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ Entwicklung CSU]: Warten Sie einmal ab, Herr Kuhn! – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Klassen- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für kampfgequatsche!) die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so Der zweite Punkt: Sie streichen Mittel im Haushalt verfahren. und vergrößern gleichzeitig die „ökologische Verschul- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- dung“ unseres Landes. Ich will ein Beispiel nennen: Ge- ner das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn für die Fraktion genwärtig wird 1 Prozent aller Gebäude in Deutschland Bündnis 90/Die Grünen. pro Jahr energetisch saniert. Das heißt im Klartext: Wir brauchen 100 Jahre, bis wir einmal durch sind. Schon al- (B) lein aufgrund dieser Schwäche können wir das Klima- (D) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schutzziel – 2050 95 Prozent weniger CO2-Ausstoß – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gar nicht erreichen. Deswegen sagen wir: Wir müssen Kollegen! Wir haben diese Debatte beantragt, weil wir auf eine Quote von 3 Prozent kommen, und dafür müs- der Regierung das, was sie vor der Sommerpause als so- sen wir investieren. Aber was machen Sie? Beim Gebäu- genanntes Sparpaket vorgelegt hat, nicht durchgehen las- desanierungsprogramm streichen Sie kontinuierlich: sen wollen. Mit dem, was Sie vorgelegt haben, erreichen 2009 standen 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung, 2010 Sie das Ziel eines zukunftsfesten Haushalts nicht. Im sind es noch 1,5 Milliarden Euro und 2011 werden es Wesentlichen liegt das daran, dass Ihr Sparpaket nicht nur noch 880 Millionen Euro sein. An den Stellen, an sozial gerecht ist, dass Sie in ökologischer Hinsicht völ- denen Sie investieren müssen, um die „ökologische Ver- lig blind sind und Sie eine Vielzahl von Luftbuchungen schuldung“ abzubauen, streichen Sie die Mittel. Die da- vorgenommen haben. Sie haben Vorschläge niederge- durch entstehenden ökologischen Schäden kosten uns schrieben, die sich nicht realisieren lassen. viel Geld, und das kostet uns Arbeitsplätze in wichtigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunftsbereichen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der erste Punkt: Wie kann man eigentlich in einer und bei der SPD) Zeit, in der man Milliarden Euro zur Rettung der Banken ausgibt und die Bevölkerung fragt, ob dies sinnvoll, not- Wo ist bei dem, was Sie anregen, eine solide und seriöse wendig und richtig ist, die Haushaltskonsolidierung Konsolidierungspolitik zu erkennen? bzw. die Sparpolitik in der Form betreiben, dass die klei- Wir müssen uns auch endlich von dem Gedanken ver- nen Leute belastet und diejenigen, die mehr haben, ver- abschieden, dass es nur die Alternative „Investieren schont werden? Wo ist das soziale Gewissen dieser Ko- oder Sparen“ gibt. Der Gegensatz, der beim G-20-Gip- alition? Im Sparpaket schlägt es sich jedenfalls nicht fel zwischen Obama und Merkel aufgebaut wurde, ist nieder. doch völlig falsch. Jeder, der in einem Betrieb oder ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nem privaten Haushalt konsolidieren will, weiß, dass es sowie bei Abgeordneten der SPD) Felder gibt, auf denen man sparen, und andere, auf de- nen man investieren muss. Ich sage Ihnen: Sie können der Bevölkerung die Haus- haltskonsolidierung nur dann zumuten, wenn Sie ihr (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das tun wir doch! – auch klarmachen können, dass es dabei gerecht zugeht. Otto Fricke [FDP]: Und im Saldo?) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5275

Fritz Kuhn (A) Das ist der Fehler Ihres Sparpakets. Sie investieren nicht CSU]: Jetzt kommt endlich etwas Wegweisen- (C) richtig in ökologische Bereiche. Sie haben gar nicht er- des!) kannt, dass soziale Gerechtigkeit in der sozialen Markt- wirtschaft eine Produktivkraft entfalten kann. Sie glau- Norbert Barthle (CDU/CSU): ben, es ist am besten für die Wirtschaft, wenn es wenig Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten soziale Ausgaben gibt. Aber dass soziale Gerechtigkeit Damen und Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Zufriedenheit, Sicherheit und die Fähigkeit der Men- Grünen gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, wo schen, Teilhabe zu praktizieren, beinhaltet, das verges- wir stehen. Ich finde im Antrag – im Gegensatz zu der sen Sie, wie das, was Sie bisher vorgelegt haben, zeigt. wirklich sehr polemischen Schaufensterrede des Kolle- Deswegen sage ich noch einmal: Wenn Sie dabei blei- gen Kuhn – sehr viel Übereinstimmung in der Analyse. ben, wird es mit Ihnen politisch weiter bergab gehen. Machen Sie die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ rückgängig, heben Sie den Spitzensteuersatz an, zeigen CSU]) Sie den Menschen, dass Sie sich langsam an soziale Ge- rechtigkeit gewöhnen! Kümmern Sie sich auch um die Wir in Deutschland und die Staatengemeinschaften Einnahmeseite des Haushalts; denn diese vernachlässi- weltweit stehen vor finanzpolitischen Herausforderun- gen Sie sträflich. So kommen Sie nicht weiter. gen, wie man sie sich vor einigen Jahren noch nicht hat vorstellen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Wirtschaftskrise hat bewirkt, dass sich die Letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte: Ihr Schulden aller Nationen von 2001 bis 2009 verdoppelt Sparpaket ist voller Verschiebebahnhöfe; das lassen wir haben: von 20,4 auf 41,5 Billionen Dollar. Der Schul- Ihnen nicht durchgehen. Sie wollen den Zuschuss zur denberg in Deutschland ist auf 1,7 Billionen Euro ange- Rentenversicherung für Arbeitslosengeld-II-Emp- stiegen; allein im Bundeshaushalt sind es 1,065 Billio- fänger streichen; das macht 1,8 Milliarden Euro aus. nen Euro. Die Verschuldung des Bundes, der Länder und Die Große Koalition hatte diesen schon halbiert. Was be- der Kommunen ist also derzeit auf dem höchsten je er- deutet das? Sie sparen heute im Haushalt, was zu an- reichten Stand. Diese immense Verschuldung der Staats- wachsender Altersarmut führt, für die in zehn Jahren zu haushalte gefährdet nicht nur die Handlungs- und Ge- zahlen sein wird. staltungsfähigkeit des Staates, sondern destabilisiert auch unser internationales Währungssystem. Das durften ( [CDU/CSU]: 2 Euro im wir jüngst beim Euro erfahren. Deshalb ist eine Rück- Monat!) kehr auf einen soliden, stabilen Konsolidierungs- und (B) Wer wird das zahlen müssen? Die Gemeinden werden Wachstumspfad dringend geboten. (D) dafür zahlen, weil sie für die Grundsicherung im Alter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zuständig sind. neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einerseits brauchen wir das Vertrauen der Finanzmärkte, sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto andererseits zwingt uns unsere Schuldenbremse, die ich Fricke [FDP]: Sind die Gemeinden dafür allein sehr begrüße, zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik. zuständig?) Deshalb ist eine solche Politik der Grundpfeiler christ- lich-liberaler Politik und auch, Herr Kuhn, ein Kernele- Wer mit solchen primitiven Verschiebebahnhöfen der ment der sozialen Marktwirtschaft. Das sichert uns auch Bevölkerung und dem Parlament weismachen will, dies für die Zukunft Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Zu wäre Konsolidierungspolitik, der hat mit Zitronen ge- dem Thema komme ich gleich noch. handelt. Da muss sich die FDP nicht wundern, dass sie laut Umfragen inzwischen bei 4 Prozent gelandet ist. Nun zu Toronto. Ich bin der Auffassung, dass unsere Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister beim (Otto Fricke [FDP]: Oh!) G-20-Treffen in Toronto einen wirklich großen Erfolg Das wird so weitergehen, wenn Sie sich nicht ändern. erzielt haben. Denn die G-20-Staaten haben sich darauf geeinigt, dass die großen Industrieländer bis 2013 ihre Vielen Dank. Verschuldung halbieren und ab dem Jahr 2016 mit dem Schuldenabbau beginnen. Damit hat sich im Kern die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutsche Stabilitätskultur, sprich: die deutsche Schul- sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto denbremse, als internationales Vorbild empfohlen und Fricke [FDP]: Danke, Papi! – Klaus-Peter durchgesetzt. Das ist ein Riesenerfolg. Willsch [CDU/CSU]: Das ist eine Rede aus dem letzten Jahrhundert gewesen!) (Beifall bei der CDU/CSU) An der Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass es Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: richtig war, dass sich die Bundeskanzlerin nicht dem Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle für Druck der USA gebeugt und die Verschuldungsspirale die CDU/CSU-Fraktion. weiter hochgetrieben hat. Sie macht genau das Gegen- teil, und das ist vollkommen richtig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Norbert Brackmann [CDU/ (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Sehr gut!) 5276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Norbert Barthle (A) Das Ergebnis dieses Treffens zeigt auch, dass Ziel fung von Arbeitsplätzen vernichtet werden und damit das (C) und Umfang unseres Sparpakets richtig sind. Es ist ein Wachstum behindert wird. Das darf nicht außer Acht ge- Mix aus moderaten Ausgabenkürzungen und wachs- lassen werden. Zudem würde durch Steuererhöhungen tumsfördernden Investitionen. Es ist sozial ausgewogen zwar kurzzeitig zusätzliches Geld in die öffentlichen Kas- und geeignet, die Defizite maßvoll zurückzuführen und sen gespült, dies würde aber nicht die chronische, also ein nachhaltiges Wachstum zu sichern. Denn nur mit die- strukturelle Unterfinanzierung des Staatshaushalts besei- sem durchgreifenden Konsolidierungskurs verschafft tigen. Das ist mit dem Satz gemeint, der in den vergan- sich der Staat die notwendigen Spielräume, um zu ge- genen Wochen an dieser Stelle mehrfach bewusst oder stalten und die Bürger zu entlasten. Nur ein robustes, vielleicht auch unbewusst fehlinterpretiert worden ist, nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist ein Garant, um nämlich dass wir in der Vergangenheit über unsere Ver- Armutsrisiken zu vermeiden, Arbeitslosigkeit zu verrin- hältnisse gelebt haben. gern und Wohlstand für alle zu sichern. Das mag vielleicht für den Einzelnen so nicht gelten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – das ist keine Frage –, aber für unsere Gesellschaft als Ganzes gilt das sehr wohl. An dieser Stelle gilt es, umzu- Was das Sparpaket angeht, sind mir vier Schwer- steuern. punkte besonders wichtig: erstens Vorrang für wachs- tumsfördernde Zukunftsinvestitionen insbesondere im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bereich Bildung und Forschung, zweitens Überprüfung Allein ein Blick auf die Sozialausgabenquote macht von Transferleistungen auf ihre Effizienz und Zielgenau- dies deutlich: Die Sozialausgaben im Bundeshaushalt igkeit, drittens Rückführung ineffizienter Doppelleistun- 2010 belaufen sich auf mehr als 170 Milliarden Euro gen im Sozialbereich und viertens Subventionsabbau und machen damit rund 54 Prozent der gesamten Bun- und ökologische Neujustierung. Das sind die Kernbot- desausgaben aus. Im Jahr der deutschen Wiedervereini- schaften dieses Pakets. gung lag der Anteil noch bei 34 Prozent. So hat sich das Sie sehen: Wir legen – das ist mir besonders wichtig – inzwischen entwickelt. den Schwerpunkt nicht auf die Erhöhung der Einnah- Auch in dem Antrag der Grünen wird wie auch eben men, sondern auf die Kürzung der Ausgaben. Zahlrei- von Herrn Kuhn wieder der Vorwurf zum Ausdruck ge- che Ökonomen bestätigen uns aus den Erfahrungen der bracht, das Sparpaket sei sozial unausgewogen, und es Vergangenheit, dass Sparpakete, die die Priorität auf hö- werde auf dem Rücken der Arbeitslosen und der Fami- here Steuern oder Investitionskürzungen legen, keinen lien gespart. Erfolg versprechen. Diejenigen Staaten, die Steuern er- höhten, waren nach drei Jahren noch genauso verschul- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (B) det wie vorher. Die Erfolgsaussichten sind dann beson- GRÜNEN]: Das stimmt!) (D) ders gut, wenn bei den Sozialtransfers und beim Das ist falsch. Es ist unverantwortliche Polemik, dies Personal im öffentlichen Dienst gespart wird. Das zeigen immer wieder so vorzutragen. Entweder Sie verstehen die Erfahrungen. Auf mittlere Sicht hemmen Steuererhö- den Kerngedanken des Sparkonzepts nicht, oder Sie hungen das Wirtschaftswachstum, was wiederum die wollen ihn nicht verstehen. Steuereinnahmen senkt und letzten Endes die Konsoli- dierung gefährdet. Ich werde ihn Ihnen nochmals erklären: Soziale Ge- rechtigkeit ist keine Einbahnstraße. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Joachim Poß [SPD]: Das erklärt alles!) Unser Sparpaket setzt deshalb die richtigen Schwer- punkte. Wir haben aus den Erfahrungen der Vergangen- An der ganzen Gerechtigkeitsdebatte stört mich eines heit, auch in anderen Ländern, gelernt, und jetzt sind wir fundamental: dass diese Debatte ausschließlich aus einer auf dem richtigen Weg. einzigen Blickrichtung geführt wird, nämlich aus der Sicht der Leistungsempfänger. Gerechtigkeit ist aber In der öffentlichen Debatte ist immer wieder die Leier nicht eindimensional, sondern muss stets im Hinblick zu hören – auch Herr Kuhn hat es wieder vorgetragen –, auf andere betrachtet werden. Das steht auch im Ein- die Gutverdiener müssten zusätzlich belastet werden. klang mit dem im Grundgesetz verankerten Solidaritäts- Man sollte an dieser Stelle eines bedenken: Das obere prinzip. Drittel der Steuerpflichtigen trägt bereits heute rund 80 Prozent der Einkommensteuer. Das untere Drittel der (Beifall bei der CDU/CSU) Einkommen erhält fast 60 Prozent aller Transferleistun- Mir stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ein Aus- gen, zahlt aber nur 5 Prozent der Steuern und Sozialab- weis sozialer Kälte ist, wenn eine immer kleiner wer- gaben. Das heißt doch de facto: Schon heute tragen die dende Gruppe in unserer Gesellschaft, die mit ihren starken Schultern den Löwenanteil der sozialen Lasten. Steuerbeiträgen eine immer größer werdende Gruppe Auch das muss immer wieder gesagt werden. von Transferempfängern unterstützt, danach fragt, ob die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erbrachten Leistungen den gewünschten Effekt erzielen. neten der FDP) Genau dem werden wir an dieser Stelle gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Zusammenhang mit der Steuererhöhungsdebatte sollte auch immer bedacht werden, inwieweit durch Steu- Angesichts unserer demografischen Entwicklung – Sie ererhöhungen möglicherweise auch Anreize zur Schaf- alle kennen sie – wird sich das Verhältnis der Transfer- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5277

Norbert Barthle (A) zahler zu den Transferempfängern weiter verschärfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Deshalb muss eine Gerechtigkeitsdebatte auch vor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit geführt Das ist nicht zu erklären. Das, was wir hier machen, ist werden. Das blenden Sie auf der linken Seite dieses also gerecht. Hauses immer aus. Das geht nicht. Nochmals: Wir gehen nicht mit der Rasenmäherme- thode vor. Wir setzen zielgenau dort an, wo es möglich Wer sich das Sparpaket genau anschaut, der wird sehr ist, zu sparen. Wir schaffen Wachstumspotenziale. Wir schnell feststellen, dass insofern eine Ausgewogenheit sanieren den Bundeshaushalt. Mit all dem sind wir hier besteht, als Verwaltung, Unternehmen und Sozialleis- genau auf dem richtigen Weg. tungsempfänger an den Lasten in etwa gleichermaßen beteiligt werden. Was die Sozialleistungen in diesem Eines sei noch hinzugefügt: Wir Haushälter werden es Sparpaket angeht, fällt mir auf: Dort wird sogar unter- mit Sicherheit nicht zulassen, dass an dem Sparpaket ge- proportional gekürzt. Würden wir den von vielen immer schliffen, dass es aufgeschnürt oder abgemildert wird. geforderten Rasenmäher anwenden, also proportional Wer meint, angesichts einer besseren Konjunktur müsse gleichmäßig sparen, würde das bedeuten, dass wir im so- man weniger sparen, ist auf dem Holzweg; denn hier zialen Bereich gut das Doppelte von dem einsparen geht es um konjunkturelle Effekte. Wir müssen jedoch müssten, was wir jetzt einsparen. Das sei auch an die strukturell sparen. Das ist die Aufgabe; sie bleibt uns er- Adresse derer gerichtet, die von einem Kettensägenmas- halten. saker oder Ähnlichem gesprochen haben. Wer so spricht, urteilt völlig jenseits der Realität. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn man Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sich anschaut, in welchen Bereichen der Sozialleistungen Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Kürzungen vorgesehen sind: Im Bereich der Eingliede- Joachim Poß. rungsleistungen für Arbeitsuchende sollen durch Er- weiterung des Handlungsspielraums die Arbeitsvermitt- (Beifall bei der SPD) ler in die Lage versetzt werden, zielgenauer als bisher zu fördern. Unser Ziel ist es, Anreize zur Aufnahme einer Joachim Poß (SPD): sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu setzen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Das ist der Kerngedanke dieser Maßnahme; darum geht Kollege Barthle, ich finde es schon erschreckend, dass (B) es. Ihnen, seit die Große Koalition nicht mehr existiert, (D) wohl innerhalb weniger Monate das soziale Empfinden Auch die geplante Anrechnung des Elterngeldes bei gänzlich weggerutscht ist den Beziehern von Arbeitslosengeld II ist richtig. Da- durch wird für mehr Gerechtigkeit in diesem Land in (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ Bezug auf den Niedriglohnsektor gesorgt. Es geht da- CSU]: Im Gegenteil! – Zuruf von der FDP: Ta- rum, Doppelleistungen zu vermeiden. Die zusätzliche schentuch!) Gewährung von Elterngeld für Bezieher von Arbeitslo- und dass Sie sich im Zusammenhang mit diesem Sparpa- sengeld II verringert den Lohnabstand. Sie müssen sich ket offenkundig zum politischen Gefangenen dieser klei- einmal die Berechnungen der verschiedenen Wirt- nen, radikalen, neoliberalen Partei haben machen lassen. schaftsforschungsinstitute anschauen. Darin kommt man klar zu dem Ergebnis: Ein verheirateter Alleinverdiener, (Otto Fricke [FDP]: Vorsicht! Was heißt „radi- der Vollzeit arbeitet, muss mindestens einen Stunden- kal“?) lohn von 11 Euro brutto erzielen, um ohne Transferleis- tungen auf das gleiche verfügbare Einkommen zu kom- Dieser Vorgang ist bei den Parteien der Union zu be- men, das er ohne Erwerbsarbeit erhalten würde. obachten, bei denen zum Beispiel der sozial verpflich- tete Katholizismus bisher immer eine Rolle spielte. ( [SPD]: Dann sorgen Sie da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) für!) Es ist erschreckend, wie das aus dem Ruder läuft. Das ist mehr, als im Niedriglohnsektor gezahlt wird. Auch dieser Tatsache muss man ins Auge schauen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Eine Aufstockung der Regelsätze, wie im Antrag der Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grünen gefordert, würde – das haben Sie verschwiegen, Kollegen Fricke? Herr Kuhn – dieses Problem noch verschärfen. Erklären Sie einmal einem Arbeitnehmer, der keine üppig be- Joachim Poß (SPD): zahlte Vollzeitstelle hat, warum er eigentlich noch arbei- Aber selbstverständlich. ten soll, warum er in das Sozialsystem einzahlen soll und warum er mit seinen Beiträgen unser Land stützen soll, wenn sich jemand, der nicht arbeiten geht, finanziell bes- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: serstellt. Herr Fricke, bitte. 5278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Otto Fricke (FDP): FDP, zur Anhebung des Spitzensteuersatzes und zu an- (C) Herr Kollege Poß, Sie haben gerade meine Partei als deren Maßnahmen konsequent abgeblockt. Das Ergebnis eine „radikale“ Partei bezeichnet. dessen wurde von Ihrem Parteivorsitzenden gemeinsam mit Frau Merkel ziemlich ratlos vorgestellt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Sie sind nach eigenem Bekunden dabei, sich neu auf- [Erfurt] [SPD]: Als „kleine“ Partei!) zustellen, weil wohl viele, die Sie aus Versehen gewählt haben, erkannt haben, welch unheilvollen Einfluss Sie in – Ich finde es sehr bemerkenswert, dass unter Demokra- der bundesdeutschen Politik ausüben. ten, zu denen sich die Grünen angeblich zählen, so auf ein solches Wort reagiert wird. Herr Kollege Poß, ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ würde Sie bitten, entweder den Begriff zurückzunehmen DIE GRÜNEN) oder hier zu erklären, warum Sie der Meinung sind, dass Auch das spricht für meine Ansicht. Sie im Zusammenhang mit der FDP von einer radikalen Partei sprechen können. Herr Kollege Barthle, wenn das Mindestelterngeld für die Ehefrau eines Spitzenverdieners erhalten bleibt, (Nicolette Kressl [SPD]: Da liegen die Nerven das von Hartz-IV-Empfängern aber gestrichen wird, aber blank!) stellt sich die Frage: Was hat das denn mit Ordnungspo- litik oder mit dem Lohnabstandsgebot zu tun? Joachim Poß (SPD): (Otto Fricke [FDP]: Wer hat das denn Sie leugnen die Notwendigkeit eines finanziellen und eingeführt?) sozialen Ausgleichs in dieser Gesellschaft konsequent und radikal. Das ist doch eine haarsträubende Begründung, die Sie da gebracht haben, und sie zeigt, woran es Ihnen mangelt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Damit waren Sie in dieser Koalition leider erfolgreich. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Das ist eine aktuelle Zustandsbeschreibung. GRÜNEN) Es handelt sich bei der FDP um eine Partei, die sich Gestern ist der Versuch einer Neuaufstellung geschei- zum Beispiel bis Mitte Mai vehement dagegen gewehrt tert. Das Sparpaket war der vorletzte Versuch einer Neu- hat, dass der Finanzbereich einen angemessenen Beitrag aufstellung dieser Koalition. zur Finanzierung des Gemeinwesens entrichtet. Wir ha- ben mehrere Stunden mit Ihnen verhandelt. In einer ge- (Otto Fricke [FDP]: Sie haben Schwierigkeiten, (B) wissen Situation ist eine solche Haltung eben vernagelt. Ergebnisse von Wahlen zu akzeptieren!) (D) Man kann auch „vernagelt“ sagen, wenn man nicht „ra- Auch das ist kräftig danebengegangen. dikal“ sagen möchte; (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hatten wir die (Otto Fricke [FDP]: Sagen Sie weiter „radikal“ absolute Mehrheit oder nicht?) oder nicht?) – Herr Barthle, ich wundere mich, dass Sie überhaupt aber es gibt da nichts zurückzunehmen. nicht zu den gemeinsamen Erfolgen der Großen Koali- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tion stehen. Sie weisen nicht auf das hin, was wir ge- DIE GRÜNEN) meinsam an Wichtigem für unser Land erreicht haben. Die FDP ist in der Tat eine radikale Partei. Herr (Patrick Meinhardt [FDP]: Können Sie etwas Fricke, ich würde nie auf den Gedanken kommen, sie als Sinnvolles sagen?) extremistische Partei zu bezeichnen; das liegt mir fern. Das hätten Sie in der Tat tun können. Die FDP ist aber eine radikale Partei in dem Sinne, dass sie radikal die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs in Dem Regierungssprecher und Frau Merkel ist es le- dieser Gesellschaft leugnet und den größeren Koalitions- diglich gelungen, aus Toronto in die Wohnzimmer der partner bis Mitte oder Ende Mai – bis in manchem Be- deutschen Fernsehzuschauer den Eindruck zu vermit- wegung entstanden ist – zum politischen Gefangenen ge- teln, dass eine Protokollerklärung der Gipfelteilnehmer, macht hat, zum Nachteil dieses Landes. Das ist die den guten Willen der dort Versammelten zum Schul- erschreckend. denabbau ausdrückt, ausreicht – in sehr unrealistischer Weise, wenn man sich, was 2013 und 2016 angeht, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Länder und deren Verschuldung im Einzelnen ansieht –, DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ um Veränderungen herbeizuführen. Beim bundesdeut- CSU]: Ich habe doch eben die Fakten genannt! schen Publikum wurde der Eindruck erweckt, das sei die Nehmen Sie das mal zur Kenntnis!) Hauptfrage des G-20-Gipfels gewesen. Dadurch wollte man davon ablenken, dass man auch auf internationaler Wenn es beim sogenannten Sparpaket im Hinblick auf Ebene gescheitert ist, vernünftige Maßnahmen in Sachen die betroffenen Individuen auch keinen sozialen Aus- Finanzmarktregulierung zu vereinbaren, weil die deut- gleich gibt – ich werde gleich noch darauf eingehen –, sche Bundesregierung in dieser Koalition nicht aufge- dann zeigt dies, dass der Einfluss der FDP weiterhin stellt war – dort saßen die radikalen Bremser – und groß ist. Sie haben sehr wahrscheinlich weitergehende Überlegungen aus der Union, teilweise auch aus der (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5279

Joachim Poß (A) weil Instrumente wie die Finanzmarkttransaktionsteuer zwischen so sind, dass eine solche Maßnahme nicht (C) nicht durchgesetzt werden konnten. Sie haben vorher mehr Platz greifen kann. schon den Kampf darum aufgegeben. Durch Ihren Spin wurde davon abgelenkt, dass Frau Merkel ihren durch- Es fehlt in Ihrem Konzept – Kollege Kuhn hat darauf aus vorhandenen guten Ruf, den sie in Europa und auch hingewiesen – die Streichung der neu geschaffenen Pri- weltweit genoss, in der Griechenlandkrise hoffnungs- vilegien für Hotels und für Unternehmenserben. Sie los verspielt hat. Das ist der Vorgang, der tatsächlich haben ja wieder eine aktuelle Auseinandersetzung in Ih- stattgefunden hat und von dem abgelenkt wurde. ren Reihen. Man fasst sich an den Kopf, wenn man sieht, welche Auseinandersetzung da bei Ihnen stattfindet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Man fragt sich, ob Sie nach Finanz-, Wirtschafts- und der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Währungskrise nicht die Kraft finden, um auch mal Im Ausland sieht man das anders! Man muss Dinge zu korrigieren, die offenkundig schiefgelaufen nur Ihre Parteipostillen lesen!) sind. Dem sogenannten Sparpaket fehlt das Gestaltungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ziel, der Kompass. Es fehlt der Wachstumsimpuls für die DIE GRÜNEN) Zeit nach dem Auslaufen der Konjunkturpakete. Und dann stellen Sie sich hin, Herr Lindner, und vertei- Im Moment haben wir zwei Elemente der Wirtschafts- digen die Streichungen bei Hartz IV und anderen sozial entwicklung. Der Export läuft super – wir alle finden das Schwachen, sagen aber kein Wort zu diesen unzumutba- gut, das hat auch etwas mit dem Euro-Dollar-Verhältnis ren Privilegien, die kein Mensch in dieser Republik zu tun –, und die Investitionen werden vorangetrieben. mehr versteht. Wir werden in diesem Jahr erleben, dass bis zum Aus- laufen der Konjunkturpakete noch ungefähr 10 Milliar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Euro an öffentlichen Investitionen in Bewegung ge- DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ setzt werden. Im letzten Jahr sind nur 3 Milliarden Euro CSU]: Lassen Sie sich auch etwas Neues ein- der Investitionen abgeflossen. Aber es stellt sich fol- fallen!) gende Frage: Was ist danach? Sie haben nicht einmal versucht, eine Antwort darauf zu geben. Sie haben keine Die von Ihnen behauptete Beteiligung der Wirtschaft Antwort gesucht. Sie haben ein jämmerliches Bild abge- an der Konsolidierung besteht aus Luftbuchungen und geben. Hoffnungswerten. Da, wo es zur Sache geht – bei sozial Schwachen –, wird konkret gekürzt. Das ist das Ganze. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Und dann sagen Sie: Na ja, wir haben doch einen sozia- (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) len Ausgleich. Frau von der Leyen sagt das lächelnd, (D) Ich habe mir die Pressekonferenz von Frau Merkel wie es ihre Art ist. Ich finde, das ist manchmal etwas und Herrn Westerwelle am 7. Juni angesehen. Es war sehr kalt lächelnd. Sie sagt: Das ist doch sozial ausgewo- nicht nur körperliche Erschöpfung, die sich da niederge- gen, wenn wir bei Behinderten und bei Leistungen für schlagen hat, sondern offenkundig auch geistiges Ausge- Rentner nicht gestrichen haben. Das war die Begrün- branntsein dung von Frau von der Leyen, warum das Paket sozial ausgewogen ist. Man stelle sich das vor. Ich habe es (Beifall bei der SPD) selbst im Fernsehen gesehen und es fast nicht glauben und das Eingeständnis, dass man die Kraft zur Führung mögen. Wenn ich das gelesen hätte, hätte ich noch ein- unseres Landes nicht mehr hat. mal nachgelesen. Es ist eine unhaltbare und fast zyni- sche Begründung, die Frau von der Leyen zur Rechtfer- Was ist mit einer Soforthilfe für die Kommunen? Die tigung dieses Pakets abgegeben hat. Kommunen können doch nicht auf irgendwelche Maß- nahmen warten. Ihnen brennt bereits jetzt der Pelz. Der Frau Merkel und Herr Schäuble argumentieren mit ei- Bund muss gemeinsam mit den Ländern – in erster Linie ner Drittelbelastung. Das Paket sei ausgewogen, weil zu ist es die Aufgabe der Länder – helfen, und zwar schnell. je einem Drittel die Sozialausgaben, die Wirtschaft so- Auf diese zentrale Frage geben Sie keine Antwort. Diese wie Beamte und Verwaltung betroffen sind. Das sind Antwort sind Sie schuldig geblieben. Stattdessen soll die hohle Aussagen, mit denen Sie – weder hier im Parla- Gewerbesteuer – eine alte Obsession von Herrn ment noch bei den Menschen – nicht durchkommen wer- Schäuble; es wird spekuliert, ob das ein Zugeständnis an den. die FDP im Zusammenhang mit dem Präsidentenpoker (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind die war – abgeschafft werden. Das heißt, 30 bis 40 Milliar- Fakten!) den Euro, die jetzt die Wirtschaft tragen muss, sollen bzw. werden in welcher Form und nach welchem Modell Seit wann sind denn Unternehmen und die Verwaltung auch immer auf Verbraucher und Arbeitnehmerinnen der soziale Gegenpol zu den Arbeitslosengeld-II-Emp- und Arbeitnehmer verlagert. Das ist eine gewaltige, zu- fängern oder den Wohn- und Elterngeldempfängern? sätzliche Umverteilungsmaßnahme. Der soziale Gegenpol, meine Damen und Herren, falls es (Beifall bei der SPD) noch nicht in Ihre Köpfe vorgedrungen ist, zu wirtschaft- lich schwächeren Individuen sind nicht irgendwelche In- Ich hoffe, dass die politischen Verhältnisse in diesem stitutionen, sondern wirtschaftlich stärkere Individuen Land – auch nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen – in- wie Spitzenverdiener und Vermögende. 5280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Joachim Poß (A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Verständnis dafür, dass Sie Ansatzpunkte für Kritik su- (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen, muss ich sagen, dass der Tonfall und der Duktus Ihrer Rede etwas Beschämendes hatten. Das ist das Diktat Westerwelles und dieser radikalen Partei, der FDP. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie dividieren Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, dass viele Wähler die Gesellschaft auseinander!) diese Rede gehört haben Die wirtschaftlich Stärkeren spielen in Ihren Belastungs- (Joachim Poß [SPD]: Ich hoffe das auch!) überlegungen gar keine Rolle. Das ist das Skandalöse. und sie unter anderem im Zusammenhang mit den ver- Unklar ist, ob die Belastungen der Wirtschaft, die Sie meintlichen Bemühungen Ihrer eigenen Landesvorsit- vorsehen, überhaupt den Sommer überleben werden. Ich zenden in Nordrhein-Westfalen sehen, Koalitionen zu gehe davon aus, dass Frau Merkel vor der Atomlobby bilden, die offensichtlich – wenn man Ihnen zuhört, be- noch völlig einknicken wird. Vermutlich werden wir gar kommt man diesen Eindruck – nicht ernsthaft gewollt, keinen Gesetzentwurf für eine Brennelementesteuer oder sondern eher ein Akt der Wählertäuschung sind. Ähnliches von der Regierung vorgelegt bekommen. (Lachen der Abg. Iris Gleicke [SPD]) (Otto Fricke [FDP]: Wenn es nach Ihnen ginge, wäre die Welt noch eine flache Das, was Sie heute geboten haben, war aufschlussreich. Scheibe!) Dafür danken wir Ihnen herzlich. Die behauptete Beteiligung des Bankensektors ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris ebenfalls unklar. Ich hoffe, dass, wie angekündigt, um Gleicke [SPD]: Backen Sie mal lieber kleine die Transaktionsteuer in Europa wirklich gekämpft Brötchen! Das Wort „Wählertäuschung“ soll- wird. Wenn das nicht kommt, müssen wir eben über eine ten Sie lieber nicht in den Mund nehmen! – nationale Lösung nachdenken. Johannes Kahrs [SPD]: Von Wählertäuschung verstehen Sie ja etwas! Wulff hat sich gestern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von den Linken tolerieren lassen!) DIE GRÜNEN) Die Koalition wird den Haushalt in dieser Wahlpe- Ich hoffe, dass die 2 Milliarden Euro, die dafür in 2012 riode nachhaltig sanieren. Dazu gehören zwei Aspekte: als erste Scheibe vorgesehen sind, nicht gänzlich aus Ih- erstens eine gute Wirtschaftsentwicklung und zweitens rem Gedächtnis entschwinden werden. die Verringerung der staatlichen Defizite. Das geht bei (B) Alles in allem: Wenn man zusammenfasst, was Sie da dieser Koalition Hand in Hand. Das gebietet nicht nur (D) mit diesem sogenannten Sparpaket vorgelegt haben, die Einhaltung der Schuldenbremse, unser Verfassungs- dann ist das nicht „intelligentes Sparen“, sondern Aus- recht, sondern das gebieten auch die Handlungsfähigkeit druck einer eher dummen, kurzsichtigen und einfallslo- des Staates in künftigen Jahren und unsere Verantwor- sen Finanz- und Regierungspolitik. tung gegenüber künftigen Generationen. Genau deswe- gen schlägt die Regierung diesen Kurs ein. Obwohl Sie Ihren Kandidaten für das Bundespräsi- dentenamt dann doch noch durchgebracht haben, war (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das – wie auch ich fürchte – nicht der Beginn professio- der CDU/CSU) neller und guter Regierungsarbeit. Sie werden sich – so Das bedeutet erstens, dass wir uns um die Wirt- ist es zu erwarten – in der Koalition weiter blockieren schaftsentwicklung kümmern müssen. Das ist ein und den Problemen und Herausforderungen dieses Lan- Aspekt, der mir in der Debatte bisher zu kurz kommt, des überhaupt nicht gerecht werden. Wir alle werden übrigens auch in dem Antrag, den Sie eingebracht haben, deshalb Schaden erleiden. Es ist das Bedauerliche, dass liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Wir offenkundig keine Möglichkeit besteht – es sei denn müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, dass die über den Bundesrat –, den größten Schaden abzuwen- Wirtschaft wieder ins Laufen kommt. Das hat diese Ko- den. alition getan, indem sie Steuerentlastungen für Mittel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stand und Familien durchgesetzt hat, sie hat es dadurch DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: getan, dass sie die Sozialversicherungsbeitragssätze sta- Da klatschen ja nicht mal die Eigenen richtig!) bil gehalten hat, und nicht zuletzt auch dadurch, dass sie mit großen Anstrengungen den Euro, die europäische Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Währungsunion stabilisiert hat. Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für (Otto Fricke [FDP]: Ja! Anders als Rot-Grün!) die FDP-Fraktion. Auch das gehört dazu, wenn man dafür sorgen will, dass (Beifall bei der FDP) die Wirtschaft wieder läuft, dass Arbeitsplätze entstehen können. Florian Toncar (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist gut, dass wir über die Wir haben zum Zweiten ein Konsolidierungspaket Sparpolitik diskutieren. Aber, Kollege Poß, bei allem vorgelegt, das einen Umfang von 80 Milliarden Euro Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5281

Florian Toncar (A) hat, das die Eckwerte für den Haushalt 2011 markiert, Das wird mit einem neuen Konzept, das treffsicherer als (C) aber darüber hinaus auch eine Finanzplanung bis 2014 die bisherige Lösung ist, verbunden sein. beinhaltet. Das heißt, wir haben uns gleich auf vier Jahre verständigt. Das ist, wie ich glaube, eine der besten Bot- (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie wollen doch Pflicht- schaften der Klausur der Bundesregierung. Es ist nicht in Ermessensleistungen umwandeln!) nur über ein Jahr gesprochen worden, sondern es wurde Wenn Sie sich nur den schieren Geldbetrag, um den es ein Fahrplan verabredet, der mittelfristig gilt und uns geht, anschauen – das machen Sie ja –, stellen Sie fest: Orientierung gibt. In Zukunft wird für die Betreuung von Langzeitarbeits- (Johannes Kahrs [SPD]: Leider steht da nichts losen pro Kopf mehr Geld zur Verfügung stehen, als es drin!) 2005 der Fall gewesen ist. Nicht alles, was da drinsteht, ist einfach, auch für unsere (Nicolette Kressl [SPD]: Oh nein! – Bettina Bevölkerung nicht; das wissen wir. Aber es ist notwen- Hagedorn [SPD]: Das glauben Sie doch nicht dig, wenn wir verhindern wollen, dass der Staat in Zu- ernsthaft! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: kunft nicht mehr handlungsfähig ist. Ich habe Angst, dass Sie das selbst glauben, Herr Toncar!) Die Einsparungen betreffen den gesamten Verwal- tungsbereich, und zwar massiv; sie werden zu deutlichen Die Kritik, die Sie an dieser Stelle äußern, ist unglaub- Veränderungen führen. Sie betreffen selbstverständlich würdig, weil Sie selber, als Sie Verantwortung getragen auch die Unternehmen und gerade den Finanzsektor, ent- haben – das gilt auch für die Grünen –, keinen Euro gegen allem, was in der Diskussion immer wieder be- mehr pro Kopf zur Verfügung gestellt haben, als das in hauptet wird. Im Sozialbereich kommt es zu Einsparun- den nächsten Jahren der Fall sein wird. gen; das stimmt. Sie machen ungefähr ein Drittel des (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sparvolumens dieses Paketes aus. Bei einem Sozialaus- Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wahr! gabenanteil am Haushalt in Höhe von 55 Prozent ist das Aber das wollen die nicht hören!) unterproportional. Jetzt möchte ich auf einen weiteren Aspekt eingehen (Bettina Hagedorn [SPD]: Na, na!) – ich kann nicht alle Punkte ansprechen; aber der Kol- – Das ist so. Zahlen lügen nicht, Frau Kollegin lege Otto Fricke wird meine Ausführungen nachher viel- Hagedorn. 33 Prozent sind weniger als 55 Prozent. Das leicht noch ergänzen –: möchte ich für das Protokoll festhalten. (Otto Fricke [FDP]: Gerne! – Zuruf von der LINKEN: Der redet auch noch?) (B) (Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn (D) [SPD]: Ja! Aber da sind über 50 Milliarden Im Antrag der Grünen geht es um ökologisch schädli- Euro Rente mit dabei! – Gegenruf des Abg. che Subventionen. Das ist für Sie eine der ganz großen Otto Fricke [FDP]: Aha! Frau Hagedorn will Maßnahmen, mit denen Sie die Einnahmen erhöhen also bei der Rente kürzen!) möchten. Ich kann nur sagen: Wenn ich lese, was Sie in Ich möchte darauf hinweisen: Dabei wurde noch nicht Ihrem Antrag aufgeschrieben haben, dann empfinde ich berücksichtigt, dass wir es dieses Jahr trotz Sparanstren- das als eine schonungslose Abrechnung mit der Politik, gungen und Schuldenbremse schaffen, 2 Milliarden Euro die Sie unter Rot-Grün gemacht haben. extra für die gesetzliche Krankenversicherung bereit- (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Fast schon zustellen, die Sie in einem Zustand hinterlassen haben, radikal!) der wahrhaftig empörend ist. Man muss doch sagen: Was Sie den gesetzlich Versicherten durch die Gesundheits- Sie haben kein einziges Beispiel dafür nennen können politik der letzten Jahre zugemutet haben, das ist empö- – vielleicht kann das der Kollege Kindler noch –, dass rend, das ist sozial gefährlich, und das werden wir korri- Rot-Grün eine der von Ihnen kritisierten ökologisch gieren. schädlichen Subventionen abgebaut hätte. Ich würde gerne wissen, wo das der Fall war. Vielleicht können Sie (Widerspruch bei der SPD) mir noch eine nennen. Einige dieser Subventionen wur- Dafür stellen wir in diesem Haushalt 2 Milliarden Euro den von Rot-Grün sogar eingeführt. Ob Stromsteuerge- extra zur Verfügung. setz, Energiesteuergesetz oder Spitzenausgleich, das al- les sind Gesetze von Rot-Grün, die unter maßgeblicher (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mitwirkung von Jürgen Trittin zustande gekommen sind. Dass Sie ihm in Ihrem Antrag quasi so einen mitgeben, Wenn es um die Frage: „Welche Einsparungen wer- finde ich erstaunlich, aber in Teilen sicherlich auch be- den letzten Endes im Sozialetat vorgenommen?“ geht, rechtigt. muss man sagen: Der Großteil der Einsparungen wird nicht im Leistungsbereich, sondern im administrativen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bereich vorgenommen, insbesondere bei den Instrumen- der CDU/CSU) ten, die die Arbeitsverwaltung hat, um Arbeitslose wie- der in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Sie schreiben in Ihrem Antrag, wenn diese Koalition nun Missbrauchsmöglichkeiten bei der Strom- oder (Bettina Hagedorn [SPD]: Aha! Bei welchen der Energiesteuer beseitige, dann sei das eine Selbst- denn?) verständlichkeit. Ich hätte es für eine Selbstverständlich- 5282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Florian Toncar (A) keit gehalten, wenn Sie in Ihrer Regierungszeit Gesetze (Beifall bei der LINKEN – Florian Toncar (C) gemacht hätten, die handwerklich so sauber gewesen [FDP]: Das hat auch keiner gesagt! Sie müssen wären, dass es überhaupt keine Missbrauchsmöglichkei- zuhören!) ten gegeben hätte. Das wäre selbstverständlich gewesen. Aber wir gehen jetzt das Problem, das Sie uns hinterlas- Wir reden gar nicht so sehr über das Sparpaket der sen haben, an und leisten damit einen Beitrag zur Haus- Bundesregierung, sondern über einen Antrag, bei dem es haltskonsolidierung. um die Frage geht, wie der Haushalt saniert und zu- kunftsfähig gemacht werden kann. Diese Fragestellung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist völlig richtig; denn man muss diesen Haushalt sanie- der CDU/CSU) ren. Es ist auch klar: Dieser Haushalt stellt definitiv nicht die richtigen Weichen, um etwas Besseres für die Wir müssen bei allem, was wir tun, die Wettbe- Zukunft zu erreichen. Wir müssen diesen Haushalt also werbsfähigkeit unserer Wirtschaft und insbesondere konsolidieren. Das geht nur dann, wenn man einerseits die Zukunftschancen des Mittelstandes im Blick haben; streicht und andererseits klug investiert und sich Gedan- denn dort entstehen Arbeitsplätze und nicht durch Be- ken über Einnahmeerhöhungen macht. Bei all dem muss schlüsse von Parlamenten oder durch Programme von aber der Ausgleich durch einen verantwortlichen Um- Parteien. Deswegen genügt es meines Erachtens nicht, gang mit Steuergeldern und der Erfüllung der Aufgaben dass Sie in Ihrem Antrag aufzählen und benennen, dass des Staates gewährleistet werden. Das ist gegenwärtig es große Potenziale im Umweltbereich und beim Ener- mit Sicherheit nicht der Fall. giesparen gibt. Das ist im Grunde eine Erkenntnis, die weitgehend unumstritten ist. Ich bestreite sie jedenfalls (Beifall bei der LINKEN) nicht. Es genügt aber nicht, Zukunftsbranchen aufzuzäh- len. Hinzu muss die Erkenntnis kommen, dass Arbeits- Wir brauchen Investitionen in gesellschaftlich not- plätze dort nur entstehen können, wenn Unternehmen in- wendige Arbeit, die keine Profite bringt. Warum sage vestieren und wenn Menschen etwas riskieren. Dafür ich das? Weil wir momentan, wenn wir über Investitio- müssen sie die entsprechenden Bedingungen vorfinden. nen reden, eher selten an soziale Bereiche denken, und Das, was Sie zum Spitzensteuersatz schreiben, der im weil wir eher selten daran denken, wie wir Menschen in Kern bei allen Personengesellschaften und Familienun- Bereichen in Arbeit bringen können, für die es keinen ternehmen erhoben wird, konterkariert das völlig. Es Markt gibt. Aber es gibt Bereiche in dieser Gesellschaft, reicht nicht, zu sagen: Umwelttechnologie ist gut. – Wir in denen es zwingend erforderlich ist, dass man sich um müssen auch die Bedingungen dafür schaffen, dass Men- sie kümmert und dass dort Arbeit geleistet wird. Diese schen es wagen, dort mit eigenem Geld einzusteigen. Arbeit muss finanziert werden. Ich glaube, es gibt in die- sem Hause niemanden, der den Spruch „Arbeit statt Ar- (B) Dazu gehört vieles, selbstverständlich auch attraktive (D) steuerliche Rahmenbedingungen. Wir werden uns darum beitslosigkeit finanzieren“ falsch findet. kümmern. Es scheint mir aber tatsächlich so, dass es unter- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schiedliche Ideen dazu gibt, wie man das richtig macht. der CDU/CSU) Wir schlagen Ihnen an der Stelle nachdrücklich vor, ei- nen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ein- Wenn der vorliegende Antrag einen politischen Wert zurichten. Da kann man dann vernünftige Dinge tun, hat, dann den, dass er deutlich macht, dass es in diesem wie zum Beispiel eine Fahrgastbegleitung im öffentli- Parlament zu dem Kurs dieser Regierung, der darauf ab- chen Personennahverkehr einzurichten. Das hat es zum zielt, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und Haus- Beispiel in einigen Städten in Mecklenburg-Vorpom- haltskonsolidierung zu verbinden, im Grunde keine ver- mern gegeben, als Rot-Rot regiert hat und wir mit Mit- nünftige Alternative gibt. teln aus dem Europäischen Sozialfonds – vom Bund gab es nichts dafür – einen öffentlich geförderten Beschäfti- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gungssektor eingerichtet haben und dort beispielsweise im öffentlichen Nahverkehr älteren Damen und Herren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dabei geholfen haben, ihre Station zu finden, Touristin- Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kol- nen und Touristen geholfen haben, den richtigen Weg zu lege Steffen Bockhahn. finden, wo wir Menschen mit Behinderung geholfen ha- ben, die Nahverkehrsmittel ordentlich nutzen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Das ist Arbeit, die Sinn macht. Da wissen die Leute, wa- rum sie aufstehen und warum sie zur Arbeit gehen. Sie Steffen Bockhahn (DIE LINKE): bekommen dafür einen existenzsichernden Lohn aus öf- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und fentlichen Geldern. Wir haben dadurch große Vorteile: Herren! Ich habe gerade gelernt, dass die FDP es für ra- Zum einen haben wir einen gesellschaftlichen Nutzen, dikal-sozial hält, wenn künftig im Gesundheitswesen ein weil gute und notwendige Arbeit geleistet wird, und zum Bankdirektor den gleichen Zuschlag zahlt wie eine An- anderen haben wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit finan- gestellte an der Kasse bei Lidl oder Schlecker. ziert. (Zuruf von der FDP: Das ist falsch!) (Beifall bei der LINKEN) Das ist die Sozialpolitik der FDP. Das finde ich total Das hat natürlich weitere Vorteile: Diese Menschen, schlau. Aber mit sozial hat das ganz sicher nichts zu tun. die dann nicht mehr arbeitslos sind, sondern vernünf- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5283

Steffen Bockhahn (A) tige und sinnvolle Arbeit tun, zahlen auch wieder in die bitte einmal die Belegschaften in den Atomkraftwerken (C) Sozialsysteme ein. Sie sind keine Belastung für die So- an, und schauen Sie sich an, wie viele Menschen dage- zialsysteme, sondern sie stärken sie. Dies sind keine In- gen bei Unternehmen der Fotovoltaik-Branche, im Be- vestitionen, die wir tätigen müssen – quasi als Anspar- reich der Windenergie usw. beschäftigt sind. Wenn Sie abschreibung –, damit diese Menschen irgendwann auch sich allein diese Beschäftigungszahlen anschauen, müss- Rente bekommen, sondern sie tun selbst etwas dafür, ten Sie begreifen, dass Sie momentan auf dem falschen dass sie Rente bekommen können, und zwar eine ver- Weg sind, dass wir Investitionen und Förderung von er- nünftige Rente auf einem vernünftigen Niveau. Das neuerbaren Energien brauchen und nicht alte Dinosau- lohnt sich, und damit sollte man weitermachen. rier weiter füttern müssen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Es gibt noch viele andere Bereiche. Ich möchte hier ten der SPD – Klaus-Peter Willsch [CDU/ nur Seniorenbetreuung oder Integrationslotsen nennen. CSU]: Die Kosten pro Arbeitsplatz sind höher Hier in Berlin, unter einer rot-roten Regierung, gibt es als bei der Kohle!) diese Integrationslotsen im öffentlich geförderten Be- schäftigungssektor. Das ist eine notwendige und sinn- Insofern kann ich Ihnen nur empfehlen, Grundlagen- volle Arbeit, und da wird deutlich mehr getan und ge- forschung im Bereich der erneuerbaren Energien zu un- schaffen, als es mit vielen anderen Programmen des terstützen und zu fördern. Das schafft einen Technolo- Bundes momentan der Fall ist. Insofern lohnt sich auch gievorsprung, den wir brauchen, um uns weiter am so etwas. Hören Sie endlich auf damit, Ihre ideologi- Weltmarkt behaupten zu können. schen Blockaden dagegen aufrechtzuerhalten, und fan- gen Sie an, mit uns über konkrete Projekte zu diskutie- Ich finde es immer ganz erstaunlich, dass gerade ren. Wir haben da gute Vorschläge zu machen. CDU/CSU und FDP sagen, es dürfe keine Bestandsga- rantien und Ewigkeitsgarantien im Bereich der Sozial- (Beifall bei der LINKEN) leistungen geben. Wenn das so ist, frage ich mich natür- Es gibt dabei noch einen zweiten ganz wichtigen As- lich, warum Sie diese Bestandsgarantien gerade bei pekt, den man im Bereich dieser sozial vernünftigen und Ihren Lobbygruppen immer wieder aufrechterhalten auch notwendigen Arbeit nicht außer Acht lassen sollte: wollen. Das kann so nicht sein. Zurzeit müssen wir noch immer sehr viel Geld in den (Beifall bei der LINKEN) Ausgleich von Schäden durch gesellschaftliche Fehl- entwicklungen investieren. Wie viel müssen wir in Pro- Wir brauchen natürlich genauso einen Abbau von (B) gramme investieren, um benachteiligte Jugendliche und Subventionen bei energieintensiven Produktionen. Es (D) benachteiligte Frauen und Männer in den Arbeitsmarkt ist einfach unsinnig, jemanden zu fördern, der sehr viel zu integrieren, um sie überhaupt erst fähig zu machen, Energie verbraucht. Viel mehr Sinn würde es doch ma- wieder etwas tun zu können? Wie viel haben wir mit Ge- chen, die Unternehmen dafür zu belohnen – auch wenn waltprävention und Ähnlichem zu tun? Ich sage Ihnen sie energieintensive Produktionen betreiben –, wenn sie – Sie wissen es selbst eigentlich ganz genau –: Wenn wir diesen Energieverbrauch runterfahren und so etwas für mehr im Bereich der Prävention, wenn wir mehr im Be- die ökologische Wende in Deutschland tun. Da können reich gesellschaftlich notwendiger Arbeit tun, dann wer- Sie etwas ändern. Das können Sie subventionieren: den den die Kosten dafür radikal sinken. Das entlastet die Rückgang von Energieverbrauch. Aber einfach zu ak- Haushalte und gibt uns Gestaltungsspielraum. zeptieren, dass viel Energie gebraucht wird, hilft nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Das muss man nicht weiter fördern. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Genauso ist es nicht notwendig, Flugbenzin nicht zu GRÜNEN]) besteuern. Allein die Steuerfreiheit für Flugbenzin hat Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir das Gewäh- den Bund seit 2005 8,7 Milliarden Euro an Einnah- ren von Subventionen überprüfen und teilweise ändern meausfällen beschert. Ich finde das nicht logisch. Ich müssen. Wenn man sich anschaut, was Sie für Ge- finde das nicht begründbar. Sie können es mir bestimmt schenke an die Atomkraftlobby machen, kann einem nur nachher erklären. schlecht werden. Sie sagen immer, wir brauchen diese (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Technologie, damit der Strom aus der Steckdose auch neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – rauskommt. Ich sage Ihnen: Die Investition in Atom- Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich glaube energie behindert erstens eine ökologische Kehrtwende, nicht, dass sie das erklären können!) und zweitens verhindert sie die Schaffung vieler neuer, produktiver Arbeitsplätze. Ein ganz wichtiger Punkt ist natürlich, die Investitions- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- fähigkeit der öffentlichen Hand sicherzustellen, insbeson- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- dere die Investitionsfähigkeit der Kommunen. Da es ten der SPD) so gewollt ist – ich finde das im Grunde auch in Ord- nung –, dass der Bund über die Struktur der Einnahmen Es ist richtig, dass in jedem Kernkraftwerk Menschen in Deutschland entscheidet, welche Einnahmen also die arbeiten, die dafür gebraucht werden, das Kraftwerk si- Kommunen, die Länder und der Bund bekommen, muss cher und in Betrieb zu halten. Aber schauen Sie sich man sich natürlich auch Gedanken darüber machen, wie 5284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Steffen Bockhahn (A) man sicherstellen kann, dass die Kommunen und die wollen den Spitzensteuersatz wieder erhöhen. Ich kann (C) Länder überhaupt in der Lage sind, zu investieren. es Ihnen aber nicht ersparen, zu fragen: Wer hat ihn denn reduziert? – Das waren zuletzt doch Sie. Ich darf Sie hier an das Grundgesetz der Bundesrepu- blik Deutschland erinnern, in dem festgelegt ist, dass wir (Otto Fricke [FDP]: Und Sie sagen auch nicht, alle gemeinsam die Verantwortung dafür haben, gleich- auf wie viel!) wertige Lebensverhältnisse überall in Deutschland zu schaffen. Das funktioniert nur, wenn die Kommunen Eine wichtige Sache ist auch die Abgeltungsteuer, überall in Deutschland in der Lage sind, zu investieren. bei der wir uns wieder völlig einig sind. Es kann doch Der Wettbewerbsföderalismus, den Sie momentan be- nicht sein, dass jemand, der Millionen und Abermillio- treiben, ist hier definitiv der falsche Weg. nen Euro durch Zinsen oder Spekulationsgewinne verdient bzw. bekommt – verdienen kann man das (Beifall bei der LINKEN) schlecht –, darauf nur 25 Prozent Steuern bezahlt, wäh- Ich darf Ihnen sagen, dass die Halbierung der Mittel rend jemand, der sich in einem Jahr 1 Million Euro hart für die Städtebauförderung, die Sie jetzt vorhaben, zu erarbeitet hat – damit spreche ich Sie von der Koalition einem gigantischen Problemfall für die Kommunen in an –, dafür Steuern gemäß dem Spitzensteuersatz bezah- ganz Deutschland wird. Schauen Sie sich einfach nur die len muss. Das kann selbst aus Ihrer Sicht nicht sozial ge- Investitionsplanungen der Kommunen an. Egal ob in Ba- recht sein. den-Württemberg oder in Mecklenburg-Vorpommern: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Alle Kommunen ächzen darunter, dass aufgrund Ihrer Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Halbierung der Mittel für die Städtebauförderung zuver- GRÜNEN]) lässige Zusagen zurückgenommen wurden. Das ist im Übrigen städteplanerisch nicht sinnvoll, und das ist auch Wir brauchen natürlich auch eine andere Finanzie- ökonomisch nicht sinnvoll, weil Sie dadurch den Hand- rung der Sozialsysteme. Mit der Kürzung der Zuschüsse werksbetrieben, die hier zum Zuge kommen würden, die für die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung betrei- Grundlage für ihre wirtschaftliche Tätigkeit entziehen. ben Sie einfach ökonomischen Wahnsinn, weil Sie damit Daneben wollen Sie im nächsten Jahr die Mittel im nichts anderes tun, als eine Last, die heute bekannt ist, Bereich der energetischen Gebäudesanierung von den Generationen aufzubürden, die Sie eigentlich angeb- 700 Millionen Euro auf 450 Millionen Euro kürzen. Ich lich entlasten wollen. Wer soll denn die Grundsicherung bin mir nicht sicher, ob Ihnen das bekannt ist; deswegen und die Rente für diejenigen bezahlen, die heute keine sage ich Ihnen das noch einmal: Jedem einzelnen Euro, Rentenansprüche mehr erwerben, weil Sie die Zahlung den Sie im Bereich der Gebäudesanierung investieren, der Rentenversicherungsbeiträge für diese gestrichen ha- (B) (D) folgen neun Euro an Folgeinvestitionen. – Es ist ökono- ben? Das, was Sie hier machen, ist Wahnsinn und ver- mischer Unfug, so etwas abzuschaffen. Hören Sie auf rückt. damit! Ihre Arbeitsmarktpolitik, bei der es immer wieder um (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Mini- und Midijobs geht, ist genau der gleiche Wahn- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sinn. Sie zerstören damit die Sozialsysteme; Sie stärken sie nicht. Wenn Sie etwas Vernünftiges tun wollen, um Ich muss natürlich auch noch etwas zur Schulden- die Sozialsysteme und damit auch den Staatshaushalt bremse sagen; denn es ist ganz klar: So, wie Sie das mo- vernünftig in Ordnung zu bringen, dann sorgen Sie da- mentan planen, werden Investitionen verhindert. – Sie für, dass existenzsichernde Beschäftigung geschaffen sagen: Ja, in besonderen ökonomischen Situationen kann wird, die sozialversicherungspflichtig ist. Alles andere man auch mehr Schulden machen. – In diesem Haus hat hilft nicht; alles andere ist kompletter Unsinn. Das kön- niemand irgendwann einmal bestritten, dass man gerade nen Sie sich sparen. im Bereich der Wirtschaftsförderung antizyklisch han- deln muss. Wir alle wollen Wirtschaftsförderung betrei- Ich bin froh, dass jetzt ein Antrag vorliegt, über den ben, aber wir brauchen ein antizyklisches Handeln. Das wir diskutieren können und mit dem uns geholfen wird, tut ja selbst die Koalition. Sie sagen: Wir haben jetzt eine gemeinsam Projekte zu entwickeln. Wir werden ihn jetzt Krise und müssen etwas tun, um die Wirtschaft wieder in beraten und vor der Abstimmung vielleicht noch zu ge- Schwung zu bringen. – Wir gehen aber unterschiedliche meinsamen Ideen kommen. Dadurch wird im Zweifel Wege. Ich sage Ihnen: Wenn Sie antizyklisch handeln mehr geholfen, als sich vorher irgendetwas vorzuneh- und investieren wollen, dann können Sie sich eine men und sich hinterher zu wundern, dass es nicht ge- Schuldenbremse nicht leisten. So, wie das gegenwärtig klappt hat. geplant ist, wird das nicht helfen. Ich danke Ihnen. (Florian Toncar [FDP]: Doch, sie hat auch eine Konjunkturkomponente!) (Beifall bei der LINKEN) – Herr Toncar, die Konjunkturkomponente habe ich ge- rade eben angesprochen. Dass Sie das nicht gehört ha- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ben, verzeihe ich Ihnen. Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion. Wir müssen natürlich auch die Einnahmeseite berück- sichtigen. Ich finde es gut, dass die Grünen sagen, sie (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5285

(A) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und NEN]: Was für eine Arroganz!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Der Antrag, den Sie von den Grünen hier gestellt ha- Bockhahn, ehe ich mir von Kommunisten Ratschläge in ben, enthält viele Ideen – das kommt auch in der Über- Sachen Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Gestal- schrift zum Ausdruck –, zum Beispiel den Haushalt zu- tung geben lasse, muss schon viel passieren. 80 Jahre kunftsfest zu machen und ihn sozialverträglich zu lang hat diese Ideologie Teile des Kontinents, einige sanieren, die genau das beschreiben, was wir mit dem Teile glücklicherweise etwas kürzer, mit katastrophalen Sparpaket tun. Ich verstehe, dass Ihre Haushaltspoliti- wirtschaftlichen Auswirkungen in Geiselhaft genom- ker, zum Beispiel Alex Bonde, sich mit solchen Positio- men, Landstriche verwüstet und Menschen unterdrückt. nen nicht identifizieren. Wir führen im Haushaltsaus- Deshalb brauchen wir Ratschläge von Ihnen wirklich als schuss intelligente Diskussionen miteinander, und Allerletztes. unsere Positionen sind häufig nicht weit auseinander. Es (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE geht Ihnen darum, mit dem alten Muster – hier die Rei- GRÜNEN]: Der Kalte Krieg ist vorbei!) chen, da die Armen, die ausgepresst und unterdrückt werden – ein Bild des Klassenkampfes heraufzube- Andere in der Debatte haben geschmeidiger gespro- schwören, das mit der Wirklichkeit dieses Sparpakets chen. Herr Kuhn, ich will Sie direkt ansprechen. und der Regierungspolitik der christlich-liberalen Koali- tion überhaupt nichts zu tun hat. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Herr Kollege, darf ich Sie, bevor Sie Herrn Kuhn an- GRÜNEN]: Ganz schön peinlich!) sprechen, fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Bockhahn zulassen? Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir nach 40 Jahren hemmungsloser Schuldenwirtschaft in diesem Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Land – ich spreche bewusst von 40 Jahren, weil ich die Aber klar. Zeiten, in denen wir regiert haben, einschließe – endlich zu dem Punkt kommen, zu sagen: Das muss ein Ende ha- ben. Wir können nicht eine Bevölkerung, die schrumpft Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und die im Vergleich zum Jahr 1964, als 1,375 Millionen Herr Bockhahn. Geburten zu verzeichnen waren – das war ein Spitzen- jahrgang –, jetzt nicht einmal mehr die Hälfte, nämlich Steffen Bockhahn (DIE LINKE): nur 765 000 Geburten im Jahr, aufweist, immer mehr be- (B) lasten. Wir versündigen uns an unseren Kindern. (D) Herr Kollege Willsch, ich frage Sie, welche Kennt- nisse meiner Biografie Sie zu der Aussage veranlassen, (Beifall bei der CDU/CSU) dass ich Menschen unterdrückt oder Landstriche ver- wüstet hätte? Das Ende einer solchen Wirtschaft konnten wir beobach- ten, als der IWF und die Europäische Union mit der grie- chischen Regierung über ein Sparprogramm verhandelt Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): und Auflagen erteilt haben. Herr Bockhahn, ich nehme Sie in Haftung für die Par- tei, in deren unmittelbarer Nachfolgerin Sie Mitglied (Otto Fricke [FDP]: Da wollte Rot-Grün ja sind. Sie sind in der Nachfolgepartei der SED. Dafür ste- nicht helfen!) hen Sie, und für diese sind Sie in Mithaftung zu nehmen. Es gab nie eine Trennung und nie einen Schlussstrich. Wenn der Karren so in den Dreck gefahren wird, dann Die Linke ist die Rechtsnachfolgerin der SED, die un- kommt eine Situation wie in Griechenland heraus. Jetzt weit von hier – dort hinten stand die Mauer – Menschen wird über eine Lohnsenkung von 8 Prozent und eine Er- brutal unterdrückt und das Land ökonomisch vollständig höhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozentpunkte inner- ruiniert hat. Das müssen Sie sich zurechnen lassen. halb von drei Monaten gesprochen, weil es anders nicht mehr geht. In eine solche Situation wollen wir mit unse- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rem Land nicht kommen. der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das hat mit meiner Biografie aber nichts zu Sie von den Grünen reden über die Haushaltspolitik tun!) und die nachhaltige Finanzpolitik im Ausschuss wie auch im Plenum sehr gefällig. Wenn wir miteinander dis- – Sie hätten sich eine anständige Partei aussuchen kön- kutieren, stellen wir fest, dass wir durchaus gemeinsame nen, als Sie angefangen haben, sich zu engagieren. Auffassungen haben. Leider steht in krassem Kontrast dazu Ihr konkretes Handeln, wenn Sie Regierungsver- Herr Kuhn, ich habe extra nachgeschaut, was Sie ge- antwortung übernehmen sollen. Schauen Sie sich doch lernt haben. Sie sind Sprachwissenschaftler. Ich habe einmal an, welchen Wahlbetrug Sie mit Ihrer Minder- jetzt gelernt, dass ein Sprachwissenschaftler es versteht, heitsregierung verüben, über die Sie jetzt in Nordrhein- einigermaßen gefällig für die Zuhörer über Dinge zu Westfalen verhandeln. sprechen, die er offenkundig nicht versteht. Das war die Quintessenz dessen, was von Ihrem Vortrag bei mir hän- (Zurufe von der SPD: Oh! – Steffen Bockhahn gen geblieben ist. [DIE LINKE]: Das ist traurig!) 5286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Klaus-Peter Willsch (A) Bei erwarteten Mindereinnahmen von 1,3 Milliarden schneidet! Großartig! Das ist christlich-liberal (C) Euro wollen Sie mit einem Federstrich 1 Milliarde Euro aus Ihrer Sicht!) mehr ausgeben. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Das zeigt, dass bei Ihnen Reden und Handeln – Das ist doch völliger Unfug. Ich will Ihnen das noch weit auseinanderfallen und dass Sie noch nicht so weit einmal kurz erklären. Es geht also um die Frage, warum sind, dass Sie verantwortlich eine Haushaltskonsolidie- jetzt kein Elterngeld mehr an Empfänger von Ar- rungspolitik betreiben könnten. beitslosengeld II – vulgo: Hartz-IV-er – bezahlt werden soll. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sagen Sie etwas zum Thema! – Bettina Hagedorn [SPD]: Es war von Anfang an ein Strickfehler, dass das über- Wer hat eigentlich die meisten Schulden auf- haupt gezahlt worden ist. genommen?) (Bettina Hagedorn [SPD]: Einen Strickfehler nennen Sie das?) Der Kern des Sparpakets ist die Senkung der Ausga- ben. Wir haben überprüft, an welchen Punkten Einspa- Wie wird denn der Bedarf eines Haushalts, der vollstän- rungen möglich sind, ohne das Wachstumspotenzial in dig von öffentlichen Mitteln abhängt und bezahlt wird unserem Land zu gefährden. Gleichzeitig stellen wir si- – wo es sein muss, tun wir das gerne –, ermittelt? Das cher, die Aufgabenwahrnehmung und Aufgabenerfül- Statistische Bundesamt erstellt Einkommens- und Ver- lung gerecht zu verteilen. brauchsstudien. Alle fünf Jahre wird überprüft, wie hoch die Ausgaben der unteren 20 Prozent der Einkommens- Der Vorwurf, um den sich hier alles dreht, dass dieses bezieher – ohne Sozialhilfeempfänger; also nur derjeni- Sparpaket sozial ungerecht sei, ist durch nichts zu recht- gen, die für sich selbst aufkommen – sind. Aus diesen fertigen. Die Sozialausgaben in diesem Lande ent- Werten wird dann abgeleitet, wie hoch der Bedarf von wickeln sich seit 1952 kontinuierlich nach oben. Inzwi- jemandem ist, der Arbeitslosengeld II erhält. schen sind wir bei einem Anteil der Sozialausgaben an den Gesamtausgaben des Staates von 54,17 Prozent an- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gelangt. Vernünftigerweise können Sie deshalb nicht NEN]: Dazu hat das Verfassungsgericht aber über Einsparungen nachdenken und dabei diesen Be- etwas gesagt!) reich vollständig ausklammern. – Nein, lieber Kollege. Dazu kommen wir auch noch. (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber ihr spart doch Das Verfassungsgericht hat gesagt, dass der Satz, den gar nicht! Das ist doch kein Sparen!) Kinder erhalten, nicht als bloßer Prozentsatz des Er- wachsenensatzes ermittelt werden darf. Es wäre auch ökonomisch völlig falsch, diesen Bereich (B) (D) auszuklammern, weil eine Ausgabe für einen sozialpoli- (Bettina Hagedorn [SPD]: Und dass die Bil- tischen Zweck natürlich nicht per se eine gute Ausgabe dung ein eigenständiger Bestandteil der Be- ist und nicht per se eine effiziente Ausgabe ist. Es muss rechnung sein muss!) immer wieder geschaut werden: Erreichen wir mit dieser Ausgabe überhaupt das, was wir erreichen wollten? Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass der Rechenweg, sich an dem unteren Fünftel der Ein- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) kommensbezieher zu orientieren, richtig ist. Das Ganze muss nur für die Kinder auch diskretionär nach einzel- Wird das Steuerzahlergeld, das ein relativ kleiner Anteil nen Ausgabengruppen erarbeitet werden. Das tun wir der Bevölkerung erbringt – Norbert Barthle hat es darge- derzeit. stellt –, auch wirklich effizient eingesetzt? Hier wird also demjenigen, der Hilfe braucht, maßge- Solidarität und Subsidiarität sind zwei Schwestern. schneidert die Hilfe gegeben – nicht üppig, aber ausrei- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die gehören chend. So muss es auch sein, damit der Anreiz bestehen zusammen!) bleibt, wieder aus dieser Situation herauszukommen. Sie gehören zusammen. Wir müssen immer darauf ach- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ten, es bei einer sozialpolitischen Maßnahme nicht so weit zu treiben, dass der paternalistische und für alles Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage – – sorgende Staat sich um alles kümmert. Es muss immer auch der Anreiz gegeben werden, sich selbst zu helfen Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): nach dem Motto: „Hilf dir selbst; wir geben dir Hilfe Kleinen Moment; lassen Sie mich den Gedanken ge- dazu, damit du selbst wieder auf die Beine kommst.“ – rade zu Ende bringen. – Genau das geschieht auch. Dann Es muss immer das Ziel verfolgt werden, sich als Staat ist es Unsinn, das Elterngeld nicht anzurechnen. Es muss zurückzuhalten und die Verantwortlichkeiten beim Ein- genauso angerechnet werden, wie das Kindergeld natür- zelnen oder einer kleinen Gruppe zu lassen, damit dort lich auch angerechnet wird, weil der Grundbedarf eigenverantwortlich gehandelt werden kann. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Sinn des Elterngeldes völlig falsch ver- neten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE standen! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: LINKE]: Indem man Kindern durch die Kür- Sie haben Ihre eigene Maßnahme nicht ver- zung des Elterngeldes die soziale Teilhabe be- standen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5287

Klaus-Peter Willsch (A) sozusagen anhand des Einkaufszettels diskretionär er- das Geld herbei, und du bleibst zu Hause“ oder auch um- (C) mittelt worden ist. Daher ist es Unfug, das Geld oben- gekehrt, wenn die Frau mehr verdient. Das kann jeder drauf zu legen. – Jetzt gebe ich gerne die Zwischenfrage machen, wie er will. Mit diesem Modell, das nicht nur frei. den Zahnarzt oder den Millionär betrifft, sondern eben auch den ganz normalen Mittelstandsfacharbeiter oder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Arbeiter – da sagt man sich: wir müssen nicht zweimal Frau Kressl, bitte sehr. im Jahr in Urlaub; wir brauchen keine zwei Autos; uns ist es wichtig, dass das Kind eine feste Bezugsperson, Mutter oder Vater, zu Hause hat –, wollen wir diese nicht Nicolette Kressl (SPD): bestrafen, indem wir sagen: Ihr bekommt nichts vom Sehr geehrter Herr Kollege Willsch, da Sie jetzt schon Staat. – Ich glaube, das habe ich jetzt hinreichend deut- behaupten, die Elterngeldzahlung habe etwas mit Exis- lich gemacht. tenzsicherung zu tun, was vom Grundsatz her nicht stimmt, würde ich Sie gerne fragen: Was soll das, was Wenn jetzt nicht noch eine Zwischenfrage kommt, Sie vorhaben – Sie wollen nämlich an die nicht erwerbs- fürchte ich, ist meine Redezeit zu Ende. Ich möchte Sie tätige Ehefrau eines Einkommensmillionärs weiterhin gern dazu ermuntern. Wenn Sie noch Gelegenheit neh- 300 Euro im Monat auszahlen –, mit Existenzsicherung men wollen, den einen oder anderen Punkt mit mir zu zu tun haben? vertiefen, können Sie uns dazu in die Lage versetzen, in- dem Sie mir eine Zwischenfrage stellen. – Leider kommt (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Das sie nicht. war doch Ihr Beschluss! Das haben Sie doch in der Großen Koalition durchgesetzt!) Dann kann ich nur noch eine Abschlussbemerkung machen – sonst bekomme ich einen Rüffel von der Präsi- – Da Herr Fricke immer dazwischenschreit: Frau Gruß dentin –: Ich fordere Sie auf, seriös zu diskutieren. Wir hat ja genau dies kritisiert, wenn ich mich nicht irre. werden das riesige Problem der aufgetürmten Schulden (Florian Toncar [FDP]: Sie hat auch recht! – – es sind 1,7 Billionen Euro; das ist für fast jeden in un- Otto Fricke [FDP]: Ihr habt es doch in der serem Land unvorstellbar – nur lösen, wenn wir Ernst Großen Koalition gemacht!) machen, die staatlichen Ausgaben intensiv infrage stel- len Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie müssen nur die Liebe Kollegin – – richtigen Fragen stellen!) (Zurufe – Unruhe) und immer wieder schauen: Gehen wir effizient mit dem (B) (D) Geld um? Gehen wir auch strukturell an die Dinge he- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ran? Wir können uns nicht damit begnügen, in konjunk- Das Wort hat der Kollege Willsch zur Beantwortung turell guten Zeiten mehr Geld einzunehmen; wir müssen der Frage. darangehen, den Staat schlanker zu machen, dem Staat weniger Ausgaben zuzumuten, dem Einzelnen mehr zu- zutrauen. Das ist der Weg, den diese christlich-liberale Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Koalition geht. Sie sind herzlich eingeladen, ihn mit uns Die Diskussion hellt vielleicht auf. Die können wir zu gehen – zum Wohle unseres Vaterlandes. gleich noch ein bisschen kreuz und quer laufen lassen, aber ich will jetzt doch gern die Frage beantworten. Danke schön. Ich habe ausdrücklich nicht von der Grundsicherung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gesprochen. Ich habe ausdrücklich gesagt: Die Grund- Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: „Sechs“, set- sicherung ist da. Es wäre unsinnig, das Elterngeld nicht zen!) zu verrechnen, weil ja der Satz hinreichend hoch ist. (Nicolette Kressl [SPD]: Sie kapieren es nicht! – Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Er versteht es Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege einfach nicht!) Johannes Kahrs. – Moment! Lassen Sie mich doch einmal ausreden! (Beifall bei der SPD) Bei der Frage, ob das Elterngeld, das ja das Erzie- Johannes Kahrs (SPD): hungsgeld abgelöst hat, auch an Haushalte gezahlt wird, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und in denen nur einer arbeitet – Stichwort „Daheimbleib- Kollegen! Wer sich die Debatte angehört hat, fragt sich, prämie“ –, geht es darum, ein gesellschaftspolitisches was sie mit dem Antrag zu tun hat. Es wurde aber klar, Modell, ein familienpolitisches Modell nicht zu bestra- warum in den letzten acht, neun Monaten in diesem fen, das ich zumindest für durchaus positiv halte. Land nicht viel passiert ist. Wir haben eine Regierung, (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) die gestern, glaube ich, ihren achten oder neunten Neu- start probiert hat, und auch den hat sie versemmelt. Das betrifft nicht nur den Millionär, sondern genauso den Facharbeiter, der gemeinsam mit seiner Frau ent- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aber alles scheidet: „Pass auf, jetzt haben wir Kinder; ich bringe christlich-liberal!) 5288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Johannes Kahrs (A) Wenn man sich diese Argumentation anschaut, fragt digungs- und Innenpolitik kommen, die uns alle an die (C) man sich, wie das überhaupt möglich ist. Wand haut, und dann läuft das, zwar nicht in meinem Sinne, aber es wird wohl laufen, denn es ist ja eine Zuvor noch einen kleinen Einschub: Der Kollege Traumkoalition. Nun stehe ich hier seit acht Monaten Willsch hat den Kollegen Bockhahn eben als Kommu- mit offenem Mund und großen Augen und schaue mir nisten bezeichnet. Kommunisten mag es in der Linkspar- an, was Sie für ein Trauerspiel geben. tei ja geben, aber der Kollege Bockhahn ist nun wirklich keiner. Er ist einer von den wirklichen Realpolitikern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dort. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Jetzt nicht GRÜNEN) zu doll! – Zurufe von der FDP: Na ja!) Da passiert gar nichts. Sie haben zwar von konkreten Mit Leuten wie dem Kollegen Bockhahn kann man in Punkten gesprochen. Aber ganz ehrlich: Mit Ausnahme Mecklenburg-Vorpommern vernünftig regieren. Das der Vergünstigungen für Hoteliers habe ich nicht wirk- mag anderswo nicht gehen. lich viel Konkretes erlebt. Wenn Sie sich die Rede vom Kollegen Bockhahn an- (Otto Fricke [FDP]: Kindergelderhöhung! – gehört haben, werden Sie festgestellt haben: Er hat als Weitere Zurufe von der CDU/CSU) einer der wenigen heute sachlich inhaltlich Punkt für Was ich gesehen habe, war ein Koalitionsvertrag, der Punkt argumentiert. mehr Fragen aufgeworfen hat, als er beantwortet hat. (Otto Fricke [FDP]: Stimmt! Hat Poß nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Man muss nicht jeden Punkt teilen, Kollege Fricke, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Otto Fricke [FDP]: Und Herr Poß war sach- GRÜNEN) lich? War er sachlich? – War er nicht!) So viele Arbeitsgruppen, Fragezeichen und ungelöste aber man muss sich inhaltlich mit ihm auseinanderset- Probleme! Wenn ich Sie einmal beraten darf – als Oppo- zen. Ihn einfach als Kommunisten in die Ecke zu stellen, sition können wir das machen, weil wir das Interesse un- finde ich – dazu muss ich sagen: ich bin nicht der Lin- seres Landes im Blick haben –: Wenn man einen Koali- keste in meiner Partei – ein bisschen unanständig. Das tionsvertrag macht, dann muss dieser am Ende so geht eigentlich nicht. Das senkt das Niveau einer De- durchdekliniert sein, dass die drei Vertragspartner das- batte so weit, dass es unerträglich wird. selbe sagen, meinen und wollen. Dann wird er unter- schrieben und umgesetzt. Das ist ein Koalitionsvertrag. (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN – Zurufe) (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) – „Fundamentalistisch“ wäre ärgerlich gewesen. Das haben wir hervorragend mit der CDU und der CSU hinbekommen. Das haben wir auch mit den Grünen er- (Otto Fricke [FDP]: Aber „radikal“ geht? „Ra- folgreich gemacht. Das hat funktioniert. Da kann man in dikal“ geht nach Ihrer Meinung?) dem einen oder anderen Punkt nölen, aber das Land ist – Wenn man radikal spart, kann das sogar positiv sein. damit gut gefahren. (Otto Fricke [FDP]: Aha!) Was Sie zurzeit abliefern, ist ein Haufen von Frage- zeichen. Da haben Sie den einen oder anderen Neustart Wenn man radikal vernünftig spart, ist es noch besser. gehabt, Sie haben sich gegenseitig demontiert, Sie sind „Fundamentalistisch“ hätte ich als Beleidigung empfun- zurückgetreten oder weggerannt. Im Ergebnis haben Sie den. jetzt mit Ihrem 80-Milliarden-Euro-Sparpaket den (Joachim Poß [SPD]: Aber zutreffend! Ich nächsten Neustart gemacht. Da sagt man sich: Das klingt muss mich korrigieren!) erst einmal gut. Einsparungen von 80 Milliarden Euro sind eine echte Nummer. Kollege Willsch hat hier davon Ich finde, dass die Reaktion, Herr Fricke, die Sie gezeigt gesprochen, dass man sich 40 Jahre lang radikal ver- haben, eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat; sie schuldet hat. Er hat auch eingestanden, dass die meiste zeigt nur, wie dünn das Eis ist, auf dem Sie zurzeit ge- Zeit die CDU regiert hat. Aber im Ergebnis hat er ver- hen, wie sensibel und angefasst Sie zurzeit sind. gessen, zu sagen, dass Sie in den nächsten vier Jahren (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem weitere 150 Milliarden Euro Schulden machen werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke Was er auch vergessen hat, zu sagen – das finde ich nicht [FDP]: Ist Ihnen „unsensibel“ lieber? Ich bin ganz unwichtig –, ist: Dieses 80-Milliarden-Euro-Paket, lieber sensibel!) das Sie auflegen, ist genau wie Ihr Koalitionsvertrag. Es ist nur ein Haufen von Zahlen auf einem Stück Papier. Die Frage ist, warum das so ist. Ich muss ganz ehrlich Dahinter stehen keine Beschlüsse, keine Gesetzesvor- zugeben: Als wir am 27. September 2009 so gegen schläge, nichts, worin sich diese Regierung einig ist, und 18 Uhr die Hochrechnungen mit dem Ergebnis für die zwar durchgängig. SPD gesehen haben, war ich ziemlich erschrocken. Ich habe gedacht: Es wird zu einer schwarz-gelben Regie- (Joachim Poß [SPD]: Außer im Sozialbereich! rung mit einer schneidigen Wirtschafts-, Finanz-, Vertei- Das ist konkret!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5289

Johannes Kahrs (A) Sie haben sich mit diesem Sparpaket einen Haufen Pro- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn du (C) bleme geschaffen. Sie haben Probleme aufgebaut, die mal da bist!) Sie nicht bewältigen können. Wenn man das macht, dann muss das alles Sinn und Als Beispiel nenne ich die Brennelementesteuer. Verstand haben. Das ist durchgehend so: Seit den Zeiten Diese finden wir alle suboptimal. Wenn sie wenigstens von – der eine oder andere erinnert sich funktionieren würde; aber damit ist nicht zu rechnen. vielleicht noch an ihn – ist es so, dass Schuldenabbau Dass man als Opposition dagegen ist, daran ist die breite immer aus drei Säulen besteht: Einnahmeverbesserung, Öffentlichkeit gewöhnt. Bei der Brennelementesteuer Wachstumsförderung, Einsparung. aber sagt der eine Partner: Nein, die gibt es nur bei einer Dann habe ich hier eben Worte gehört wie „Wirt- Verlängerung der Laufzeiten. Der andere sagt: Nein, das schaftswachstum fördern“, „Vorrang für Wirtschaft“ und kommt unabhängig von einer Verlängerung der Laufzei- Ähnliches. Wenn ich mir nun Ihr Papier anschaue, stelle ten. Ob sie überhaupt kommt, ist nicht klar. So geht es ich fest, dass da auch etwas von ökologischer Neujustie- mit jedem einzelnen Ihrer Punkte, weil es immer drei rung steht – das ist ja bei der CDU immer ganz gefähr- Parteien gibt. Darüber hinaus gibt es noch den wirt- lich. schaftspolitischen Flügel der CDU/CSU und auch noch andere, die immer wieder anderer Meinung sind. (Heiterkeit bei der SPD) Wenn Sie ein Sparpaket vorgelegt hätten, bei dem Sie In meinem eigenen Wahlkreis – man soll sich ja immer sich selber einig gewesen wären, dann könnten wir et- an praktischen Fragestellungen orientieren – liegen was kritisieren. Aber dazu kommen wir gar nicht; denn Europas größtes Kupferwerk Aurubis und eine Alumi- wenn wir etwas kritisieren, haben Sie uns darin schon niumhütte. Die Ausnahmen von der Ökosteuer für lange übertroffen. diese Unternehmen, die wir den Grünen abgerungen haben – das war für die Grünen bitter – und die auch in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Großen Koalition noch Bestand hatten, sollen jetzt der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE abgeschafft werden. Das bedeutet, dass Grundstoffin- GRÜNEN) dustrie in Deutschland fast nicht mehr möglich ist; So wie die Pläne zur Kopfpauschale kritisiert werden denn es gibt ja einen internationalen Wettbewerb, so et- müssen und wir uns als Opposition wirklich anstrengen, was wie ein Level-Playing-Field. Wir waren uns hier zu sagen, die Kopfpauschale dürfe nicht kommen, so einmal alle einig, dass solche Unternehmen in Deutsch- muss man anerkennen: Das schafft die CSU doppelt so land nach den gleichen Spielregeln wie vergleichbare gut. Unternehmen in Europa bzw. in der Welt behandelt wer- (B) den sollten. (D) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: (Otto Fricke [FDP]: Wir wollen doch keine Wovon reden Sie eigentlich?) amerikanischen Verhältnisse!) Das macht sie mit einer Brutalität, mit der sie Herrn Aber vergleichbare Unternehmen in Kanada, Norwegen, Rösler gegen die Wand fahren lässt, dass man sich fragt, Australien und im Mittleren Osten haben andere Strom- ob das noch eine Koalition ist. preise; unsere können noch so viele Einsparungen vor- Schauen wir uns einmal die sogenannte Bundes- nehmen, sie kämen gegen diese nicht an, wenn man sie wehrreform an, oder was auch immer das sein soll. nicht von der Ökosteuer ausnimmt. Jetzt kommt aber auf Wenn ich mir als Oberstleutnant der Reserve anschaue, einmal diese großartige Wirtschaftskoalition daher und was Sie aus meiner Bundeswehr machen; das ist nicht zerschlägt das. Mit Intelligenz und Sparen, mit dem tragbar und unverschämt. Was Sie bei der Wehrpflicht Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen, liebe Kolle- vorhaben, geht überhaupt nicht. Was bei der Umsetzung ginnen und Kollegen, hat das überhaupt nichts zu tun. der Pläne in der Realität passiert, ist eine Katastrophe. (Alois Karl [CDU/CSU]: Sie machen Klientel- (Zuruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/ politik! – Otto Fricke [FDP]: Das ist dasselbe CSU], in den Reihen der FDP sitzend) Argument wie bei der Steinkohle!) Man sollte die drei von Theo Waigel aufgestellten – Red doch einmal mit der Truppe. Das geht doch gar Punkte beherzigen: Einnahmeverbesserungen, Wachs- nicht. tumsförderung, Einsparungen. Gehen wir Ihre Vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schläge einmal durch. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Einnahmeverbesserungen können Sie nur durch GRÜNEN) Einführung einer Finanztransaktionsteuer und Erhöhung Außerdem sitzt du bei der falschen Partei. Setz dich zur des Spitzensteuersatzes erreichen. Wenn man sich ein- CDU, wo du hingehörst. mal Ihre Pläne anschaut, stellt man fest: alles heiße Luft. Die FDP will es nämlich nicht, die CDU nur ein biss- (Weiterer Zuruf des Abg. Georg Schirmbeck chen, bei der CSU warten wir auf die Erleuchtung. [CDU/CSU]) Zum Spitzensteuersatz ist zu sagen: Die Sozialisten – Ganz ruhig bleiben! Du bist auch im Haushaltsaus- Kohl und Genscher haben es geschafft, mit einem Spit- schuss, wir sehen uns da ja. zensteuersatz von 53 Prozent zu regieren, und keiner in 5290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Johannes Kahrs (A) diesem Land hat „Sozialismus!“ geschrien oder irgend- ständig arbeiten und Steuern zahlen. An diese sollten Sie (C) jemanden der Verantwortlichen beschuldigt, ein Kom- zur Abwechslung einmal denken. munist zu sein. Jetzt, wo wir davon reden, dass man den Vielen Dank. Satz wieder der 50-Prozent-Marke annähern sollte, wer- den wir auf einmal in eine ganz linke Ecke geschoben. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Natürlich bin ich gesamtgesellschaftlich ein Linker, aber bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dass Kohl und Genscher dann links von mir stehen sol- GRÜNEN – Alois Karl [CDU/CSU]: Erbärm- len, ist schwer nachvollziehbar. Ich finde, hier sollten lich!) Sie an Ihrer Argumentation noch ein wenig feilen. Viel- leicht kommt ja dabei etwas Brauchbares zustande. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Das Wort hat nun der Kollege Otto Fricke für die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE FDP-Fraktion. GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Auch bei der Bankenabgabe müssen wir genau der CDU/CSU) schauen, wo die Einnahmen daraus landen. Ich persön- lich denke, dass die Einnahmen daraus in den Bundes- Otto Fricke (FDP): haushalt gehören und nicht in irgendwelche Extratöpfe. Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolle- Der Steuerzahler zahlt für die Rettung, also muss der ginnen und Kollegen! Warum sparen wir eigentlich? Wa- Steuerzahler auch entlastet werden, wenn entsprechende rum müssen wir das tun? Weil wir dadurch, dass wir in Einnahmen generiert werden. Das wäre nur vernünftig. der Vergangenheit in diesem Land nicht gespart haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine Verschuldung haben, die es, wenn wir jetzt nicht mit der LINKEN) dem Sparen anfangen, unmöglich macht, dass für zu- künftige Generationen ein Generationenvertrag mit den- Über Wachstumsförderung können wir viel reden. selben Grundlagen gilt, die auf mich, Geburtsjahrgang Wenn aber der Bundesminister für Verkehr, Bau und 1965, noch zutrafen. Stadtentwicklung – gerade war er noch hier im Plenum; jetzt ist er weg – eine Halbierung der Ansätze für das Nun die typisch deutsche Frage: Wer ist daran schuld? Als Antwort darauf muss man der Bevölkerung doch sa- CO2-Gebäudesanierungsprogramm vornimmt, sollte er auch bedenken, welche Folgen das hat. Es betrifft näm- gen: Alle. Alle sind daran mehr oder weniger beteiligt lich insbesondere die mittelständischen Handwerksbe- gewesen. Wenn die SPD jetzt behauptet: „Nein, wir wa- triebe, die das alles einbauen. ren das gar nicht, wir machen das alles ganz sozial und (B) vernünftig“, (D) (Otto Fricke [FDP]: Das sind die, deren Steu- ersätze ihr erhöhen wollt! Von denen wollt ihr (Johannes Kahrs [SPD]: Hat keiner gesagt!) 50 Prozent Einkommensteuer!) muss man auf Folgendes hinweisen: Wir haben eine Das kann man durchdeklinieren und sich die Folgen Gesamtverschuldung des Bundes – das ist nur das, was Stadtteil für Stadtteil anschauen. Sie begründen die Re- in diesem Hause beschlossen worden ist – von duzierung nun damit, dass das Programm nicht mehr so 1 000 Milliarden Euro. Das ist die berühmte Billion. stark nachgefragt wird. Natürlich wird das Programm Herr Poß, wissen Sie, wie viele Milliarden SPD-Finanz- nicht mehr so stark nachgefragt, wenn die Zinssätze so minister in elf Jahren zu verantworten hatten? stark angehoben werden, dass sie fast das marktübliche (Joachim Poß [SPD]: Wir stehen zu unserer Niveau erreichen. Dann funktioniert das nicht mehr. Es Verantwortung!) sollte ja einen Anreiz dafür schaffen, dass Menschen et- was Sinnvolles tun, indem wir ihnen dabei ein wenig Sie wissen es nicht mehr. 350 Milliarden Euro haben Sie helfen. Wenn Sie die Hilfe faktisch auf null herunterfah- von der SPD zu diesem Haufen hinzugetan. ren, indem Sie die Zinsen stark anheben, und dann be- (Joachim Poß [SPD]: Und Schwarz-Gelb?) haupten, es werde nicht mehr so stark nachgefragt, des- halb könne man hier Einsparungen vornehmen, dann Jetzt tun Sie so, als hätten Sie nichts damit zu tun, an- fragt man sich doch, was das soll. statt zu erkennen, was wir in den letzten Jahrzehnten ge- macht haben, um von diesem Schuldenberg herunterzu- (Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP]) kommen; egal wer an der Macht war. Wir haben Für den Mittelstand und für die Wirtschaft, Herr Fricke, eigentlich immer dasselbe gemacht. Wir haben alle ge- haben Sie schon lange nichts mehr gemacht. sagt: Wir wollen sparen. Das Ergebnis waren immer Steuererhöhungen. Wie war denn das mit der Mehrwert- Die Frau Präsidentin gibt mir ein Zeichen, dass meine steuererhöhung, die die SPD angeblich nicht wollte? Redezeit abgelaufen ist. Ich komme jetzt auch zum Warum haben Sie das denn gemacht? Weil Sie gemerkt Schluss. Ich wünsche mir nur, dass diese Regierung in- haben – damit komme ich zum Antrag der Grünen –, nerlich zu sich selbst findet und auch entsprechend han- dass es überhaupt nicht nachhaltig ist, wenn man ver- delt. Dann hätten wir etwas, was wir kritisieren könnten. sucht, Haushalte über die Einnahmeseite zu sanieren. Im Moment ist uns das gar nicht möglich; denn Sie hauen sich ja nur gegenseitig in die Pfanne. Leidtra- (Joachim Poß [SPD]: Wir waren 2008 doch gende sind das Land und die Menschen, die hart und an- fast beim Haushaltsausgleich!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5291

Otto Fricke (A) Die Bürger draußen, die jetzt vielleicht sagen: „Dem (Johannes Kahrs [SPD]: Sie machen doch (C) von der FDP glaube ich nicht“, bitte ich, einmal über mehr Schulden als wir!) Folgendes nachzudenken: Wenn Sie Schulden hätten, die dem Vierfachen Ihres Jahresnettoeinkommens entsprä- Kann man sagen, dass eine Politik unsozial ist, wenn chen, versucht wird, die Dinge neu zu justieren? (Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben Schulden! (Johannes Kahrs [SPD]: Sie machen doch Wir nicht! Peer Steinbrück war da besser!) mehr Schulden als wir! Sie sind doch der größte Schuldenmacher!) seien Sie Rentner, seien Sie ALG-II-Empfänger, seien Sie Pensionär, seien Sie Arbeitnehmer, glaubten Sie Ich glaube, das ist nur möglich, wenn man Polemik be- dann, dass Sie von der Verschuldung herunterkommen treibt. könnten, indem Sie schauen würden, woher Sie mehr (Beifall bei der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Geld bekommen? Glauben Sie nicht auch, dass man ir- Da klatscht nicht einmal die CDU/CSU!) gendwann einmal fragen muss: Auf was kann ich, auf was soll ich, auf was muss ich bei mir und bei anderen Man muss beim Haushalt Folgendes erkennen: Sie verzichten? können sich nicht nur etwas wünschen, sondern Sie müs- sen auch die Zahlen dazu nennen. Je lauter Sie in den (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Auf die Hotel- ersten Reihen reden und je weniger Sie zuhören, desto subvention! Damit habt ihr doch angefangen! – deutlicher zeigen Sie, dass meine Worte zutreffen. Man Gegenruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/ kann nur eines feststellen: Wir müssen die Ausgaben CSU]: Da sind wir wieder bei den Einnah- durchforsten. Wir müssen prüfen, was nicht richtig ist, men!) auf was wir verzichten können. Wir müssen dringend Darum muss sich eine politische Diskussion drehen. prüfen, auf was wir mit Blick auf die Zukunft verzichten Diese politische Diskussion nimmt diese Koalition mit sollten. Als Erstes müssen wir ganz klar definieren, auf dem großen Sparpaket auf. Wir kommen nur über die was wir verzichten müssen. Sie können das konkret tun. Ausgaben an das Problem heran. Das weiß jeder, der Sie könnten als Opposition doch einmal einen Gegen- einmal persönlich erlebt hat, was Verschuldung bedeutet. haushalt aufstellen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Johannes Kahrs [SPD]: Wann habt ihr das gemacht?) Es ist immer wieder bemerkenswert, dass dann gesagt wird, das alles sei unsozial. Wir wissen, dass das im poli- Die Zuschauer und Zuhörer werden denken, dass Sie (B) tischen Diskurs das Böse ist: Wer unsozial ist, ist ein einen Gegenantrag eingereicht haben. In dem Antrag (D) schlechter Politiker; wer unsozial ist, ist ein schlechter der Grünen steht ganz viel drin. Aber was nicht drin- Mensch. Das stimmt so aber nicht. Unsozial ist derje- steht, ist das Entscheidende bei der Haushaltspolitik – das nige, der sagt: „Wir geben dir mehr“, der aber fünf Jahre ist auch für jeden Bürger wichtig –: Welche Zahl steht später zurückkommt und sagt: „Tut uns leid, das war al- wo? les zu viel; jetzt müssen wir davon wieder herunter.“ Un- (Johannes Kahrs [SPD]: Einigen Sie sich doch sozial ist derjenige, der sagt: „Ich bin sozial und tue in erst einmal auf eine Zahl!) dem und dem Leistungsbereich etwas“, nach der nächs- ten Wahl aber sagt: „Jetzt erhöhe ich die Mehrwert- Steht auf meinem Konto nachher ein Plus, oder steht auf steuer; tut mir leid.“ meinem Konto nachher ein Minus? Zu dem Antrag der Grünen kann ich nur sagen: Es ist sehr viel hineinge- Genau darauf will Rot-Grün bzw. Rot-Rot-Grün wie- schrieben worden. Manche Kritik darin ist vielleicht ge- der hinaus. Sie sagen: Wir geben, wir geben, wir geben, rechtfertigt und gehört zum politischen Diskurs in unse- weil es sozial ist. In ein paar Jahren werden sie aber sa- rer Gesellschaft. Aber immer dann, wenn es konkret gen: „Es tut uns leid, wir haben uns wieder einmal ver- werden sollte, wenn Zahlen angegeben werden sollten, rechnet; wir nehmen, wir nehmen, wir nehmen.“ dann wird Allgemeines gesagt: Wir wollen hier und da Die Koalition geht diesen Weg dieses Mal nicht. etwas tun; wir wollen bei der Gebäudesanierung und bei Wenn diese Koalition unsozial wäre, der sozialen und kulturellen Teilhabe etwas machen; dann wollen Sie 420 Euro Hartz IV haben. Sie machen (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist sie! Den aber nicht rechts den Strich, um zu sagen, wie viel das Konjunktiv können Sie sich sparen!) kostet. wie sähe dann die Antwort auf die folgende Frage aus Man kann das nur grob überschätzen. Das, was Sie in – das muss sich auch jeder Bürger draußen fragen –: Ihrem Antrag vorschlagen, umfasst weit über 20 Milliar- Wie viel von dem, was wir einnehmen – der Kollege den Euro. Dazu kommen dann noch die 20 Milliarden Barthle hat gesagt, dass die Einnahmen im Wesentlichen Euro, die wir aufgrund der Verfassungsregelung einspa- von denen, die starke Schultern haben, kommen –, geben ren müssen; das wollen wohl auch Sie. Das sind dann wir den Schwächeren? Man muss doch feststellen, wie 40 Milliarden Euro. Dies wollen Sie im Wesentlichen das nach den ersten vier Jahren von Rot-Grün war. Da über die Einnahmeseite erreichen. hatten sie eine Quote von 44 Prozent. Nach weiteren drei Jahren lag die Quote bei 50 Prozent. Diese Koalition (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sagt: Wir bleiben über den 50 Prozent von Rot-Grün. Einsparen!) 5292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Otto Fricke (A) Das wird die SPD nicht anders sehen; die Linken sogar Die neueste Studie des DIW hat noch einmal gezeigt, (C) noch ein bisschen stärker. Doch was bedeutet das, wenn dass die Reichen in Deutschland reicher werden, die Ar- Ihnen ein Politiker sagt: „Wir wollen so viel mehr“? Das men ärmer und die Mittelschicht schrumpft. Deswegen bedeutet, dass Sie den Spitzensteuersatz um 50 Prozent- müssen nicht nur einzelne Maßnahmen im Sparpaket so- punkte erhöhen müssten; Sie müssten ihn also auf über zial gerecht sein, sondern es muss insgesamt einen Bei- 90 Prozent erhöhen. Wenn Sie die Mehrwertsteuer erhö- trag dazu leisten, dass die soziale Gerechtigkeit in hen – nur ein Teil davon geht an den Bund –, wären Sie Deutschland wieder größer und die Ungleichheit abge- bei 35 Prozent Mehrwertsteuer. baut wird. (Joachim Poß [SPD]: Quatsch! – Johannes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kahrs [SPD]: Das hat doch keiner gefordert! – und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: LINKEN) Wirr!) Doch mit diesem sogenannten Sparpaket greifen Sie vor Diese Seite Ihrer Forderungen müssen sie der Ehr- allen Dingen den Ärmsten in die Tasche, statt Wohlha- lichkeit halber auch darstellen. Machen Sie konkrete bende an der Konsolidierung der Gesellschaft zu beteili- Vorschläge, nennen Sie konkrete Zahlen und sagen Sie gen. nicht nur, man wolle ein bisschen wegnehmen. Seien Sie Ja, wir brauchen auch Gerechtigkeit auf der Einnah- doch einfach ehrlich, und sagen Sie, wo Sie abkassieren meseite. Ich wusste, dass es in der FDP – gerade bei wollen, sagen Sie, dass Sie nicht sparen und die Ausga- Minister Brüderle, bei Otto Fricke oder Florian Toncar – ben nicht senken wollen. ein ideologisches Dogma ist, dass man keine Steuern er- Herzlichen Dank. höhen will. Ich war sehr erstaunt, dass es auch in der FDP schon Stimmen gibt – ich teile ausdrücklich die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Meinung der Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger –, der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Eini- dass Steuerpolitik auch Umverteilung heißt, dass Steuern gen Sie sich einmal in der Koalition, bevor Sie dazu da sind, zu steuern und Geld umzuschichten. Starke einen Vorschlag machen!) sollten stärker belastet werden, und Schwache sollten entlastet werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Sven-Christian (Otto Fricke [FDP]: Ist das heute nicht der Kindler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Fall?) Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und höhere Ein- (B) Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nahmen aus der Erbschaftsteuer sind ein richtiger Weg. (D) NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Erb- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schaftsteuer geht an die Länder!) zugeben: Mit dem sogenannten Sparpaket spart die Bundesregierung. Sie spart vor allen Dingen an guten Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine und sozial gerechten Vorschlägen, und sie spart sich Finanztransaktionsteuer, weil den Menschen nicht zu er- nachhaltige Vorschläge. Heute wird zwar gekürzt, aber klären ist, warum die Ärmsten die Folgen der Krise be- auf Dauer wird nichts gespart. Denn die soziale und öko- zahlen sollen und nicht die Banken und die Vermögen- logische Verschuldung in der Zukunft wird nur vergrö- den die Lasten der Wirtschafts- und Finanzkrise tragen. ßert. Das ist das große Problem an diesem Sparpaket. Das ist ein wichtiger Punkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Kindler, gestatten Sie eine Zwischen- Wir haben heute schon einiges dazu gehört. Ich kann frage des Kollegen Fricke? nur sagen: Wir haben im letzten Haushaltsverfahren ein detailliertes Konzept mit konkreten Zahlen und mit kon- Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kreten Forderungen bezüglich der Ausgaben- und der NEN): Einnahmeseite vorgelegt. Wenn wir Ihren Haushaltsent- Ja, gerne. wurf in der nächsten Woche vorliegen haben, werden wir im Haushaltsverfahren wieder ein konkretes Konzept vorlegen und belegen, wie eine seriöse grüne Haushalts- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: politik aussieht. Bitte sehr. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das war ein Otto Fricke (FDP): Widerspruch in sich!) Herr Kollege Kindler, ich akzeptiere, dass das die Wichtig ist, glaube ich, auf zwei Punkte einzugehen: Vorstellung Ihrer Partei ist. Aber wenn Sie sagen, dass auf die ökologische und die soziale Seite dieses unaus- Sie das konkret berechnet haben, dann können Sie uns geglichenen Pakets. Unsere Gesellschaft driftet immer doch jetzt hier sagen: Auf wie viel soll die Erbschaft- weiter auseinander. Mittlerweile besitzen die obersten steuer in etwa erhöht werden? Auf wie viel soll die Ver- 10 Prozent 60 Prozent des Vermögens in Deutschland. mögensteuer erhöht werden? Wie hoch soll eine Rei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5293

Otto Fricke (A) chensteuer angesetzt werden? Können Sie uns sagen, Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs- (C) wie viel das Ihrer Meinung nach ungefähr sein soll? fraktionen, mischen Sie sich ein! Nutzen Sie das Recht des Parlaments im Haushaltsverfahren, um Ihre Arbeit (Joachim Poß [SPD]: Erbschaftsteuer ist eine zu machen und das einseitig unsoziale Sparpaket in ein Ländersteuer!) gerechtes Sanierungspaket umzuwandeln! Sparen Sie bei den Subventionen! Kürzen Sie Steuervergünstigun- Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen für Gutverdienende! Erhöhen Sie die Einnahmen NEN): und investieren Sie in die Zukunft! Dann klappt es viel- Ja, das kann ich Ihnen sagen. Wir wollen vor allen leicht auch wieder mit den 5 Prozent, liebe FDP. Dingen eine Vermögensabgabe einführen, um die Belas- tungen Danke. (Otto Fricke [FDP]: Wie viel?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) – ja, ich komme darauf –, die durch die Krise entstanden sind, einzudämmen und die Verschuldung abzutragen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dadurch würden die großen Vermögen pro Jahr ungefähr Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Alois 10 Milliarden Euro dazu beitragen. Wir wollen den Spit- Karl das Wort. zensteuersatz auf 45 Prozent anheben; das macht 2 bis 3 Milliarden Euro aus. Wir wollen auch die Einnahmen (Beifall bei der CDU/CSU) durch die Erbschaftsteuer von 4 auf 8 Milliarden Euro verdoppeln. Das ist auch deshalb wichtig, weil die gro- Alois Karl (CDU/CSU): ßen Vermögen in den letzten Jahren stark gewachsen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sind und auch sie einen Beitrag dazu leisten müssen, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns dass wir die Haushalte gerecht konsolidieren. Darum heute mit dem Antrag der Fraktion der Grünen „Haus- geht es. halt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanieren – Ökolo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gisch und sozial investieren“ befassen, dann erkennt und bei der SPD) man viele alte Hüte, lieber Herr Kindler. Sie wollen Ihr Heil in der Steuererhöhung suchen. Einseitig sollen die Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen, Einkommen höher besteuert und die Vermögen besteuert durch den die ökologische Verschuldung vergrößert werden. Auch die Erbschaftsteuer soll erhöht werden. wird. In den Wortbeiträgen gibt es einige richtige An- Das Ehegattensplitting soll abgeschafft werden. sätze. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass das nur (B) (D) Greenwashing ist, um Ihre atomfreundliche und antiöko- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- logische Politik zu verkaufen. SES 90/DIE GRÜNEN) Ich komme jetzt zu dem Punkt ökologisch schädliche Kaum ein Segment wird von der Steuererhöhungsorgie Subventionen. Das Umweltbundesamt hat kürzlich die ausgenommen. Zahlen erneuert. Wir haben ökologisch schädliche Sub- Man könnte fast sagen: Die grünen Steuerwürgeengel ventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro, durch die wir gehen um. Klimazerstörung, Umweltzerstörung und den Verlust der biologischen Vielfalt finanzieren. Das muss abgeschafft (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden. Unter Rot-Grün, um auf die Frage von Herrn Die staatliche Eingriffspolitik führt zu mehr staatlicher Toncar zurückzukommen, haben wir eine sehr mutige Bevormundung und weniger Freiheit. Der Staat soll kas- ökologische Steuerreform durchgeführt, die dazu beige- sieren, und es soll nach sozialistischem Muster umver- tragen hat, einen ökologisch-ökonomischen Umbau un- teilt werden. serer Gesellschaft voranzutreiben. Wir haben dabei sehr große Erfolge erzielt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei der SPD und der LINKEN – Wider- Dabei haben wir in Verhandlungen mit der Wirtschaft spruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch Ausnahmen vereinbart. Wir haben jetzt erkannt, dass diese kontraproduktiv sind. Deswegen wollen wir Das ist eine rückwärtsgewandte, altmodische Politik. sie abbauen. Wir wollten aber auch andere Subventionen Wir stellen ihr unsere eigenen klaren Vorstellungen ge- abbauen. Das ist am CDU/CSU-FDP-geführten Bundes- genüber. Unsere Politik verzichtet auf direkte Steuerer- rat gescheitert. Wir wollten unter Rot-Grün die Eigen- höhungen. Wir legen den Schwerpunkt auf die Konsoli- heimzulage abschaffen und die Besteuerung von Kerosin dierung und auf den Abbau von Subventionen. Wir einführen. Das hat leider nicht funktioniert. Die CDU/ suchen eine gerechte Verteilung der Lasten. Darüber CSU hat dann zum Glück unter der Großen Koalition die streiten wir. Eigenheimzulage abgeschafft. Ich fordere Sie auf: Kni- Meine Damen und Herren, wenn die Wirtschaft um cken Sie bitte auch bei der Nichtbesteuerung von Kero- etwa 5 Milliarden Euro und der soziale Bereich um sin im Flugverkehr ein und schaffen Sie diese endlich 5 Milliarden Euro zusätzlich belastet werden – von letz- ab! terem müssen wir aber die 2 Milliarden Euro abziehen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die zusätzlich als Zuschüsse zur GKV vorgesehen sind – sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen 5294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Alois Karl (A) 3 Milliarden Euro eingespart werden, dann ist in der Tat schuldung auf 85 Milliarden Euro festgelegt. Tatsächlich (C) eine soziale Ausgewogenheit gegeben. wird dieses Haushaltsjahr mit einer Neuverschuldung von 65 Milliarden Euro abgeschlossen. Das ist viel, im- Die Menschen draußen im Lande wollen Verschiede- mer noch zu viel; aber wir sind auf dem richtigen Weg. nes: Sie wollen solide Staatsfinanzen. Sie wollen einen Diesen richtigen Weg werden wir fortsetzen, auch wenn ausgeglichenen Haushalt, und sie wollen, dass die Wäh- wir dabei von der Opposition keine Unterstützung erhal- rung stabil ist. Darauf haben wir uns verständigt, und das ten werden. sind Grundpfeiler unserer Politik in dieser Koalition. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wissen, dass wir uns auf einen steinigen Weg ge- neten der FDP) macht haben. Aber wir wissen auch – das ist bereits ge- sagt worden –, dass in diesem Land über 40 Jahre lang Herr Kahrs hat vorhin gesagt, acht Monate lang habe mehr Geld ausgegeben als eingenommen worden ist. er hier gar nichts erlebt. Ich sage Ihnen eines, lieber Herr Seit 1969 beschreiten wir einen Weg in den sogenannten Kahrs: Wir haben in den letzten acht Monaten erlebt, Wohlstandsstaat. Es ist nicht länger zu verantworten, dass wir hervorragend aus dieser Wirtschaftskrise he- dass wir etwa 20 Prozent unseres Bundeshaushaltes für rausgekommen sind. den Schuldendienst ausgeben. Es ist geradezu unglaub- lich, dass der Bundesfinanzminister jeden Tag 100 Mil- (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Aber nicht we- lionen Euro für Zinszahlungen aufgrund der Schulden- gen euch!) politik in diesem Lande in den letzten 40 Jahren ausgibt. Wir haben erlebt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze in Ich kann uns nicht zumuten und ich kann auch nicht einer Weise angewachsen ist, wie wir es eigentlich gar draußen vertreten, dass wir unseren Wohlstand heute nicht erwartet hätten. weiterhin dadurch sichern, dass wir Schulden für unsere (Bettina Hagedorn [SPD]: Das glaubt doch Kinder und Kindeskinder machen, die diese dann in Jah- keiner!) ren und Jahrzehnten abbauen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben erlebt, dass die Arbeitslosenzahlen zurückge- gangen sind, in einer Weise, wie wir uns das erwünscht Was könnten wir heute mit dem Geld, das zur Schulden- und erträumt hätten, wie wir es aber nicht erwarten tilgung verwendet wird, an Zukunftsinvestitionen täti- konnten. Wir haben heuer, wahrscheinlich im Herbst, gen? Wir könnten Steuern problemlos senken. In der Bil- weniger als 3 Millionen Arbeitslose. dungs- und in der Forschungsarbeit könnten wir geradezu alle Wünsche erfüllen, wenn wir nicht diese (Bettina Hagedorn [SPD]: Wegen der guten (B) Schuldendienste zu leisten hätten. Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition! Ihr (D) schafft das gerade alles ab!) (Zuruf der Abg. Bettina Hagedorn [SPD]) Unter Schröder und , liebe Frau Ich komme aus der Kommunalpolitik, Frau Hagedorn, gab es mehr als 5 Millionen Arbeitslose. Hagedorn. Ich hatte dort die Gelegenheit, Haushalte zu Das war die Schlussbilanz Ihrer Regierungszeit. Hätten führen, die ausgeglichen waren. Es gibt einem eine un- Sie damals unsere Erfolge gehabt, hätten Sie Dankpro- glaubliche Freiheit, wenn man 99,7 Prozent der Einnah- zessionen veranstaltet, aber Sie hätten nicht in der Weise men für anderes als für Schuldendienst verwenden kann. gesprochen, wie Sie es heute tun. Das, was ich angespro- Ich möchte erleben, dass in diesem Land auch die Fi- chen habe, ist – ich möchte das in Erinnerung rufen, Herr nanzminister und die Parlamente wieder die Freiheit be- Kahrs – eine Entwicklung der letzten acht Monate. kommen, mit den Einnahmen umzugehen, Investitionen zu tätigen und nicht die Schulden zu tilgen, die vor Jah- Meine Damen und Herren, auch der Bundesverkehrs- ren und Jahrzehnten gemacht worden sind, um den minister investiert. Wir werden seine Mittel für Investi- Wohlstand damals und den Wohlstand heute mit Geld zu tionen in dieser kritischen Zeit nicht streichen. Wir finanzieren, das wir nicht haben. investieren in unsere Kinder. Wir investieren in die Bil- dung und in die Forschung. Wir werden hierfür 12 Mil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- liarden Euro mehr ausgeben. neten der FDP) Es ist vieles gesagt worden über die Konsolidierungs- Unsere Politik ist eine Politik, die auf die Zukunft un- maßnahmen, über die Brennelementesteuer genauso wie serer jungen Leute gerichtet ist. Ich bin der Bundesregie- über die Vergünstigung bei der Energiesteuer, die zu- rung und auch unseren Koalitionsfraktionen dankbar, rückgenommen wird. Der Sozialhaushalt hat am Bun- dass wir diesen Weg, der nicht einfach sein wird – ich deshaushalt einen Anteil von 54 Prozent; auch das ist ge- habe es gesagt –, beschreiten wollen. sagt worden. Haushaltskonsolidierung schränkt die Menschen (Bettina Hagedorn [SPD]: Inklusive Rente!) und die Politik nicht ein. Im Gegenteil: Sie gibt uns Per- spektiven für die nächsten Jahre, und sie gibt uns Frei- Vor 20 Jahren, bei der deutschen Wiedervereinigung, be- heit zurück. Wir sind auf einem guten Weg. Steinbrück trug der Haushaltsansatz für Soziales 34 Prozent. In hat vor einem Jahr einen Haushaltsentwurf mit 86 Mil- solch einer Situation zu sagen, dass an den Ärmsten ge- liarden Euro Neuverschuldung vorgelegt. Schäuble hat spart wird – so wird es bei den Grünen gemacht –, ist ein im Herbst im zweiten Haushaltsentwurf die Neuver- völlig falscher Ansatz. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5295

Alois Karl (A) (Bettina Hagedorn [SPD]: An der Arbeits- Möglichkeiten haben, ihre politischen Schwerpunkte zu (C) marktpolitik! Das ist ein Fakt!) setzen und ihre politischen Entscheidungen zu treffen. Ich sage Ihnen eines: Wer eine verkehrte Bestandsauf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nahme vornimmt, der kann auch nicht die richtigen neten der FDP) Schlussfolgerungen ziehen. Wer so an die Haushaltskon- solidierung herangeht, hat keine Chance. Wir werden die Wir wollen nicht, dass unseren Kindern und Enkelkin- Haushaltskonsolidierung in der von uns beschriebenen dern die Möglichkeit genommen wird, die Herausforde- Weise fortsetzen. Ich glaube, wir sind auf einem guten rungen ihrer jeweiligen Zeit zu bestehen. Deshalb ist der Weg. Wir werden uns davon auch durch den Antrag der Aspekt der Generationengerechtigkeit bei uns der Maß- Grünen in gar keiner Weise abbringen lassen. stab allen Handelns. Da haben Frau Andreae und viele andere wohl nicht richtig zugehört. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum Zweiten möchte ich auf das Thema soziale Ge- rechtigkeit kommen. Ich möchte drei Personen anfüh- ren, bei denen man sich vielleicht erst wundert. Der Vor- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sitzende der SPD, – Herr Poß ist leider Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin nicht mehr da; vielleicht trägt es Herr Schneider an ihn Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion. weiter –, hat im April des Jahres 2010 den Gustav- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heinemann-Preis verliehen. Er hat zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD sehr lobende Worte für einen Sozialdemokraten gefunden. Sie haben Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): gesagt, dass die Berliner SPD und die Bundes-SPD auf Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und diesen Sozialdemokraten sehr stolz sein können, weil er Herren! Kolleginnen und Kollegen! Am nächsten Mitt- auch für die eigenen Leute unbequeme Wahrheiten auf woch wird das Kabinett den Entwurf des Bundeshaus- den Punkt bringe und sie ausspreche. Ich möchte aus ei- halts verabschieden. Als ich den Antrag von Bündnis 90/ nem Artikel über diesen Preisträger zitieren: Die Grünen zum Haushalt gesehen habe, habe ich mich zunächst einmal sehr gefreut; denn es ist eine Alterna- Dennoch stieß das Sparpaket in Berlin nicht nur auf tive, mit der man sich auseinandersetzen kann. Im Rah- harsche Kritik. Neuköllns Bezirksbürgermeister, men der parlamentarischen Beratungen im Herbst wer- Heinz Buschkowsky (SPD), den wir uns damit intensiv im Haushaltsausschuss (B) beschäftigen. – der Preisträger – (D) Als letzte Rednerin in dieser Debatte – ich meine hält die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV- nicht nur diesen Tagesordnungspunkt, sondern auch die Empfänger für richtig. Damit werde die Grund- Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung beim vor- sicherung nicht angetastet. Das Sozialsystem stoße herigen Tagesordnungspunkt – möchte ich nicht alle Ar- an seine Grenzen, weil immer weniger Menschen gumente, die schon ausgetauscht worden sind, wiederho- einzahlten … len. Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren: erstens auf die Generationengerechtigkeit, zweitens auf Weil immer weniger Menschen einzahlten, müsse es die soziale Gerechtigkeit, drittens auf die Position, die auch eine Gerechtigkeit für andere geben. Weiter heißt Sie, Herr Poß, und auch andere im Hinblick auf die Be- es in dem Artikel: Wer hier spare, mache sich immer un- deutung der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle beliebt. Das Sparen sei aber notwendig. – Ich teile die von Frau Merkel in Europa und beim Gipfel der G 20 in Aussagen Ihres Preisträgers. Toronto vertreten. (Beifall bei der CDU/CSU – Petra Merkel Bei den Sparbemühungen, bei der Aufstellung des [Berlin] [SPD]: Die SPD teilt das nicht! Es ist Haushalts und der Benennung der Eckwerte sowie bei so! Wir haben sehr unterschiedliche Auffas- den Debatten über das Verhalten der Bundesregierung sungen!) gegenüber Griechenland und auf dem Gipfel in Toronto bildete das starke Bewusstsein, dass wir in der Bundes- Der dritte Punkt umfasst den Gipfel in Toronto und republik Deutschland eine veränderte demografische die Position der Bundesregierung mit Blick auf Grie- Entwicklung haben, den Ausgangspunkt. Dieser Ge- chenland. Wir haben vorhin gehört, dass unsere Bundes- danke ist Triebfeder; er steht allem Handeln voran. kanzlerin noch in der letzten Wahlperiode – so Ihre Aus- sagen – über großes Renommee in Europa verfügt habe. Frau Andreae von den Grünen hat vorhin in ihrer Wir haben auch gehört, dass sie dieses Renommee in der Rede gesagt, dass das Wort „Generationengerechtigkeit“ Debatte über Hilfen für Griechenland verspielt habe. eines der Worte sei, die sie in den letzten Monaten ver- misst habe. Für uns, die christlich-liberale Koalition, ist (Zurufe von der SPD: Ja!) die Generationengerechtigkeit die entscheidende Frage in der Haushaltspolitik. Bei uns geht es eben nicht um Wir haben von Ihnen gehört, dass die Bundeskanzlerin Verteilungsgerechtigkeit, sondern um echte Chancenge- mit ihrer Position isoliert gewesen sei und die Bundesre- rechtigkeit, damit auch zukünftige Generationen die gierung nicht adäquat vertreten habe. 5296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Stefanie Vogelsang (A) (Elke Ferner [SPD]: Genau! – Carsten Schneider vom Einkommen und vom Vermögen ein- (C) [Erfurt] [SPD]: So ist es!) schließlich der Gewerbesteuer und der Grund- steuern sowie des dazugehörigen Schlusspro- Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir als christlich- tokolls in der Fassung des Zusatzabkommens liberale Koalition sind sehr stolz auf die Positionen und vom 5. November 2002 auf das Durchhalten der Bundesregierung. – Drucksache 17/2255 – (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das hat man gestern Überweisungsvorschlag: gesehen!) Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Bei der Griechenlanddebatte haben wir gemerkt, dass gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- es richtig und wichtig war, das Augenmerk auf Haus- kommen vom 17. Februar 2010 zwischen der haltskonsolidierung zu legen. Zu der Aussage, dass wir Bundesrepublik Deutschland und der Arabi- mit unserer Position alleine dastanden: Wir konnten fest- schen Republik Syrien zur Vermeidung der stellen, dass wir für unsere Position nicht nur in ganz Eu- Doppelbesteuerung und Verhinderung der ropa, sondern auch auf dem G-20-Gipfel in Toronto eine Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern große Mehrheit bekommen haben und dass auch in Zu- vom Einkommen kunft die Haushaltskonsolidierung bei den G 20 ein we- sentlicher Maßstab ist. – Drucksache 17/2251 – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Überweisungsvorschlag: neten der FDP) Finanzausschuss Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat aus c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- dem Tagesspiegel beenden, der am 28. Juni schrieb: Es gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- ist kommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malaysia Merkels Verdienst zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf – also das Verdienst dieser Bundesregierung –, dem Gebiet der Steuern vom Einkommen dass die G 20 bei den Staatsfinanzen erstmals eine – Drucksache 17/2252 – gemeinsame Sprache gefunden haben … Überweisungsvorschlag: (B) … in Toronto hat sie eine Klarheit gezeigt, die über Finanzausschuss (D) den Tag hinausweist. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich danke Ihnen für Ihren Antrag. Ich danke Ihnen für gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ab- die Arbeit, die Sie hineingesteckt haben. Ich freue mich kommen vom 25. Januar 2010 zwischen der auf eine gute Beratung der einzelnen Punkte im Haus- Bundesrepublik Deutschland und der Repu- haltsausschuss und auf einen abschließenden Meinungs- blik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbe- austausch im November oder im Dezember. steuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Danke schön. Vermögen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie – Drucksache 17/2253 – des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Damit schließe ich die Aussprache. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf kommen vom 30. März 2010 zwischen der Drucksache 17/2327 an die Ausschüsse vorgeschlagen, Bundesrepublik Deutschland und dem die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie ein- Vereinigten Königreich Großbritannien und verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nordirland zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und zur Verhinderung der Steuer- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 j sowie verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: Einkommen und vom Vermögen 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 17/2254 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än- derungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem König- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael reich Belgien zur Vermeidung der Doppelbe- Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer steuerungen und zur Regelung verschiedener Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern wie der Abgeordneten , Pascal Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5297

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und ZP 2a)Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) der Fraktion der FDP Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/2331 – Den Deutschen Bundestag bei der Reform der Überweisungsvorschlag: Umsatzsteuer beteiligen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 17/2333 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: g) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Finanzausschuss CSU und der FDP b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Sanitäreinrichtungen: Versorgung weltweit Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- verbessern tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/2332 – Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) – Drucksache 17/1580 – Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Überweisungsvorschlag: Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Dabei handelt es sich um Überweisungen im verein- Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil fachten Verfahren ohne Debatte. (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an der SPD die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen und überweisen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der ausbauen Fall. Dann ist das so beschlossen. – Drucksache 17/2321 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 n auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, Überweisungsvorschlag: (B) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. (D) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Tagesordnungspunkt 24 a: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für Bildung, Forschung und richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Technikfolgenabschätzung schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Haushaltsausschuss dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, wei- Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weite- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE NIS 90/DIE GRÜNEN Unabhängige Patientenberatung in Regelange- Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten bot überführen und Moratorium für die Privatisierung von Bundeswäldern erlassen – Drucksache 17/2322 – – Drucksachen 17/796, 17/1823 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Berichterstattung: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Abgeordnete Alois Gerig Verbraucherschutz Petra Crone j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Dr. Christel Happach-Kasan Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Dr. Kirsten Tackmann Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Cornelia Behm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Haltung von Wildtieren im Zirkus grundsätz- lung auf Drucksache 17/1823, den Antrag der Fraktion lich verbieten Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/796 abzuleh- nen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer – Drucksache 17/2146 – stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Überweisungsvorschlag: fehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Koali- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und tionsfraktionen, dagegen die Fraktionen Bündnis 90/Die Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Grünen und die Linke, enthalten hat sich die Fraktion Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der SPD. 5298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Tagesordnungspunkt 24 b: die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bünd- (C) nis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Tagesordnungspunkt 24 f: schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann- ausschusses (2. Ausschuss) Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sammelübersicht 107 zu Petitionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/2154 – Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte abschaffen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Einstimmig angenommen. – Drucksachen 17/1203, 17/2266 – Tagesordnungspunkt 24 g Berichterstattung: Abgeordnete Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Heinz Paula ausschusses (2. Ausschuss) Dr. Edmund Peter Geisen Alexander Süßmair Sammelübersicht 108 zu Petitionen Cornelia Behm – Drucksache 17/2155 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- lung auf Drucksache 17/2266, den Antrag auf Druck- tungen? – Die Sammelübersicht 108 ist angenommen bei sache 17/1203 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Enthaltung der Fraktion Die Linke und bei Zustimmung schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – der übrigen Fraktionen des Hauses. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die Tagesordnungspunkt 24 h: einbringende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke haben sich enthalten. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Sammelübersicht 109 zu Petitionen (B) Tagesordnungspunkt 24 c: – Drucksache 17/2156 – (D) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Sammelübersicht 104 zu Petitionen Die übrigen Fraktionen des Hauses haben sich dafür aus- gesprochen. – Drucksache 17/2151 – Tagesordnungspunkt 24 i: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Einstimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 24 d: Sammelübersicht 110 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 17/2157 – Sammelübersicht 105 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – Drucksache 17/2152 – tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge- stimmt haben CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. tungen? – Einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 j: Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 111 zu Petitionen Sammelübersicht 106 zu Petitionen – Drucksache 17/2158 – – Drucksache 17/2153 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge- SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die stimmt haben CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen hat Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5299

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Tagesordnungspunkt 24 k: Das Wort für den einleitenden Bericht von fünf Minu- (C) ten hat der Bundesminister für Gesundheit, Herr Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dr. Philipp Rösler. ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 112 zu Petitionen Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: – Drucksache 17/2159 – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Wie schon eben erwähnt, hat das Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Bundeskabinett am 29. Juni einen Gesetzentwurf zur tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. CDU/ Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen CSU, FDP und SPD haben dafür gestimmt. Dagegen hat Krankenversicherung beschlossen. Mit dem Gesetz ver- niemand gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und die folgen wir drei wesentliche Ziele: Das erste Ziel ist die Fraktion Die Linke haben sich enthalten. Versorgung der Patientinnen und Patienten mit den inno- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nein, wir ha- vativsten, mit den bestmöglichen Medikamenten auch in ben dagegen gestimmt! – Zuruf vom BÜND- Zukunft. Das zweite Ziel ist es, die Arzneimittelkosten NIS 90/DIE GRÜNEN) im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung im Griff zu behalten. Drittes Ziel ist die Sicherung von Ar- – Entschuldigung! Beide haben dagegen gestimmt. beitsplätzen im Industriebereich in Deutschland. Tagesordnungspunkt 24 l: Das erste Ziel erreichen wir dadurch, dass auch im ersten Jahr nach Markteinführung nach wie vor die volle Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und sofortige Erstattungsfähigkeit von neuen Medika- ausschusses (2. Ausschuss) menten gewährleistet bleibt. Damit können wir sicher- Sammelübersicht 113 zu Petitionen stellen, dass Patientinnen und Patienten im Krankheits- fall sofort den Zugang zu diesen neuen Medikamenten – Drucksache 17/2160 – erhalten können. Dennoch ist uns klar, dass es in Bezug Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- auf die wachsenden Arzneimittelkosten im deutschen tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür Gesundheitswesen bisher immer ein Problem gewesen haben gestimmt CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die ist, dass die Industrie vollkommen alleine die Preise fest- Grünen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Die legen konnte und dass durch die alleinige Festlegung der Linke und die SPD. Enthalten hat sich niemand. Preise und durch die Erstattungsfähigkeit im Prinzip je- des Medikament zu jedem Preis – mit den entsprechen- Tagesordnungspunkt 24 m: den Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung – (B) (D) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- erstattet werden musste. Diese Möglichkeit gibt es künf- ausschusses (2. Ausschuss) tig, wenn überhaupt, nur für das erste Jahr. Sammelübersicht 114 zu Petitionen Wir erwarten gleichzeitig, dass mit der Markteinfüh- rung ein sogenanntes Dossier hinsichtlich des Nutzens – Drucksache 17/2161 – und des Zusatznutzens vorgelegt werden muss. Die Da- ten hierfür können im Rahmen der Zulassungsstudien er- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- bracht werden. Sie werden als Dossier von der Industrie tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür vorgelegt, jedoch nicht bewertet. Die Bewertung soll der haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen SPD Gemeinsame Bundesausschuss übernehmen, gegebenen- und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat sich enthal- falls unter Hinzuziehung des Institutes für Qualität und ten. Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Danach wird Tagesordnungspunkt 24 n: festgelegt, welchen Nutzen oder Zusatznutzen dieses Medikament hat. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Hat es keinen Zusatznutzen im Hinblick auf ver- gleichbare Medikamente, wird es automatisch in eine Sammelübersicht 115 zu Petitionen Festbetragsgruppe aufgenommen bzw. ist dann nur zu – Drucksache 17/2162 – entsprechend vergleichbaren Therapiekosten bei glei- chen Krankheiten erstattungsfähig. Gibt es einen Zusatz- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- nutzen, soll dieses Dossier als Grundlage für Vertrags- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür verhandlungen dienen – das ist neu und erstmalig so –, haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die und zwar zwischen der Industrie auf der einen Seite und Oppositionsfraktionen. dem Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkas- Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: sen auf der anderen Seite, mit dem Ziel, zu Rabatten für die gesetzliche Krankenversicherung zu kommen. Der Befragung der Bundesregierung Listenpreis bleibt also gleich, aber für die gesetzliche Krankenversicherung soll es künftig Rabatterleichterun- Die Bundesregierung hat als Thema der Kabinettssit- gen und damit auch Kostensenkungen geben. zung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kranken- Wir haben erreicht, dass der Preis nicht mehr alleine versicherung. von der Pharmaindustrie festgelegt werden kann, son- 5300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) dern sich marktwirtschaftlich bildet durch Vertragsver- nehmer von Fachbildschirmen – als Beispiel nenne ich (C) handlungen auf Grundlage einer wissenschaftlichen Ba- den Media Markt – den höchsten Listenpreis zahlen soll. sis, nämlich des Zusatzdossiers. Damit können wir Wieso senken Sie nicht die Listenpreise? Das wäre doch sicherstellen, dass die Kosten, die auch im Arzneimittel- viel einfacher, als einen Rabatt einführen, den Sie mögli- bereich dramatisch angestiegen sind, künftig besser kon- cherweise gar nicht bekommen. trolliert werden können, als es bisher der Fall ist. Wir können gleichzeitig sicherstellen – das habe ich eingangs Es macht keinen Sinn, dass der größte Abnehmer gesagt –, dass die Patientinnen und Patienten auch wei- beim Lieferanten den höchsten Listenpreis zahlt. Der terhin mit guten und hervorragenden Medikamenten ver- höchste Listenpreis muss von demjenigen bezahlt wer- sorgt werden können. den, der die geringste Menge abnimmt. Der hohe Listen- preis in Deutschland ist das Problem. Die Listenpreise Das dritte Ziel wird ebenfalls erreicht, nämlich die könnten in Erwartung des Rabattes sogar steigen, sodass Sicherung von Arbeitsplätzen gerade in mittelständi- das Problem, nämlich der zu hohe Listenpreis, durch Ihr schen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie in Gesetz noch verschärft würde. Denn in Erwartung des Deutschland. Im Rahmen der Rabattverträge sorgen wir Rabattes – unabhängig davon, ob er je gewährt wird oder auch dafür, dass künftig das Wettbewerbs- und das Kar- nicht – könnte es sein, dass der Hersteller den Listen- tellrecht Einfluss haben. Es soll nicht mehr möglich sein, preis noch höher ansetzt, sodass wir in Zukunft nicht nur dass eine einzelne große Kasse oder gar der Spitzen- den höchsten Listenpreis, sondern einen noch höheren verband Bund der gesetzlichen Krankenkassen alleine Listenpreis als vorher zahlen müssen. Der überhöhte verhandelt und ein kleines oder mittelständisches Unter- Preis könnte also weiter erhöht werden. Ich verstehe, nehmen dann keine Möglichkeit hat, auf gleicher ehrlich gesagt, den gesamten Ansatz nicht. Augenhöhe im Rahmen eines fairen Wettbewerbs mitzu- halten. Die Anwendung des Wettbewerbs- und des Kar- ( [CDU/CSU]: Das merkt man! Das tellrechts auch in diesem Bereich ist eine mittelstands- ist das Problem! – Stefan Müller [Erlangen] freundliche Lösung, wie sie sich die Bundesregierung [CDU/CSU]: Das, was Sie da erzählt haben, auf die Fahnen geschrieben hat. ist auch nicht zu verstehen!) Ebenfalls Teil des Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: ist die Neuregelung und Festigung der Unabhängigen Patientenberatung. Hier gibt es bisher einen Modellver- Ich beantworte Ihre Frage so, wie ich sie verstanden such, der zum 31. Dezember 2010 ausläuft. Es liegt in habe. unserer Verantwortung – diese Aussage findet sich auch Ich will deutlich machen: In der Tat bleibt der Listen- (B) im Koalitionsvertrag –, die Unabhängige Patientenbera- preis erhalten. Unser Auftrag ist, etwas für die gesetzlich (D) tung auf sichere Beine zu stellen und eine dauerhafte Lö- Versicherten, also für die gesetzliche Krankenversiche- sung zu finden. Auch dies ist Teil des Entwurfs eines rung, zu erreichen. Das tun wir, indem wir dafür sorgen, Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes. dass nicht der volle Listenpreis gezahlt werden muss. Darüber hinaus haben wir uns vorgenommen, im Inte- Der größte Abnehmer wird von diesem Listenpreis also resse aller Beteiligten Deregulierungen vorzunehmen. gar nicht in Mitleidenschaft gezogen, sondern er wird Es gibt kaum einen komplexeren – um nicht zu sagen: durch die Rabatte finanziell entlastet. Ich sage es einmal komplizierteren – Bereich als das deutsche Arzneimittel- so: Sie bekommen den Rabatt ja nicht als Tablette, sozu- recht. Hier wollen wir durch Deregulierung weitere Ver- sagen als Naturalienrabatt, in die Hand gedrückt. Das ist besserungen erzielen, sodass die Leistungserbringer auf der erste Punkt. der einen Seite und die Patientinnen und Patienten auf Der zweite Punkt ist: Sie kritisieren ständig, dass der anderen Seite einen Nutzen von diesem Gesetz ha- möglicherweise die Gefahr besteht, dass die böse Indus- ben. Gleiches gilt auch für die Kostenträger. In Zukunft trie im ersten Jahr mit exorbitanten Listenpreisen in den ist nämlich eine bessere Kostenkontrolle möglich, als es Markt geht, in der Hoffnung, dass das erste Jahr so er- bisher der Fall ist. tragreich ist, dass die weiteren 19 Jahre des Patentschut- zes nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Die gute Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nachricht ist: Da die Listenpreise auch mit Blick auf an- Vielen Dank. – Herr Lauterbach zur ersten Nachfrage, dere Staaten gelten – die Listenpreise gelten jeweils für bitte. ein Produkt –, können wir durch die Reimportquote – ich glaube, diese ist zu Ihrer Zeit mit ausgebaut worden – si- cherstellen, dass die Listenpreise nicht exorbitant stei- Dr. Karl Lauterbach (SPD): gen. Sonst gäbe es einen deutlichen Unterschied zwi- Vielen Dank. – Das Problem in Deutschland ist, dass schen den deutschen Listenpreisen – Sie selber haben zu die Listenpreise für innovative Arzneimittel besonders Recht gesagt, dass die Medikamente nicht allein für den hoch sind. Sie sind höher als in den meisten anderen eu- deutschen Markt produziert werden – und den Listen- ropäischen Ländern. Sie haben gerade eloquent darge- preisen in anderen europäischen Staaten. stellt, dass Sie daran nichts ändern wollen, dass die Lis- tenpreise also unverändert bleiben sollen. Ich verstehe, Wie Sie wissen, gibt es die Vorgabe, dass 5 Prozent ehrlich gesagt, nicht, weshalb der größte Abnehmer die- der abgegebenen Arzneimittel in Deutschland aus Re- ser Arzneimittel in Europa die höchsten Listenpreise importen stammen müssen, sofern sie 15 Prozent oder zahlen soll. Das ist so ähnlich, als wenn der größte Ab- 15 Euro Preisdifferenz zu einem ausländischen Produkt Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5301

Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) oder einem im Ausland verkauften Produkt aufweisen. Eine weitere sinnvolle Maßnahme betrifft die Verein- (C) Wenn die böse Industrie die Listenpreise in Deutschland fachung und Verschlankung von Therapiehinweisen und exorbitant in die Höhe treiben würde, dann hätte man -richtlinien im Rahmen des Gemeinsamen Bundesaus- sehr schnell den Zustand, dass der Preis in Deutschland schusses. Wir können so sicherstellen, dass wir nicht nur eine deutlich höhere Differenz als 15 Prozent oder neue Instrumente im Rahmen der Vertragsverhandlung 15 Euro aufweisen würde. Das würde dazu führen, dass auf den Weg bringen, sondern gleichzeitig auch zu einer sehr viele Medikamente aus dem Ausland importiert Deregulierung zum Beispiel durch Streichung der eben würden. Dann hätte die Industrie mit faulen Eiern gehan- genannten Vorschriften kommen. delt. Deswegen ist das, was Sie befürchten, aus unserer Sicht nicht zu erwarten. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen Dank!) Im Übrigen würde sich nach dem ersten Jahr, nach- dem Verhandlungen oder sogar ein Schiedsstellenspruch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zum Tragen gekommen wären, deutlich zeigen, dass der erste Preis überhöht gewesen wäre. Es dürfen sowieso Frau Bender. nur Medikamente im Rahmen der Wirtschaftlichkeit ver- schrieben werden. Die von Ihnen geschilderte Gefahr se- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hen wir also nicht. Eine Entlastung der deutschen Ver- Herr Minister, Sie haben gesagt, dass die Hersteller sicherten erreichen wir eben durch Rabatte. Deswegen zwecks Bewertung des Nutzens bzw. des Zusatznutzens haben wir künftig in diesem Bereich Rabattverträge. Das neuer Medikamente ein Dossier, also Unterlagen, vorle- hat bisher noch keine andere Regierung hinbekommen. gen sollen. Solche Dossiers müssen aber erst beim Inver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kehrbringen des Arzneimittels vorliegen. Das heißt, zu der CDU/CSU) dem Zeitpunkt, zu dem ein Arzneimittel verordnungsfä- hig ist, haben die Ärztinnen und Ärzte erst eine be- schränkte Informationsbasis und wissen nichts über den Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nutzen oder den Zusatznutzen des betreffenden Medika- Nächste Fragestellerin ist Frau Aschenberg-Dugnus ments. Warum schreiben Sie nicht eine Nutzenbewer- für die FDP. tung parallel zum Zulassungsprozess vor, sodass sie zum Zeitpunkt der Zulassung tatsächlich vorliegt? Warum muss der Hersteller erst auf Verlangen des Gemeinsamen Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Bundesausschusses die notwendigen Unterlagen beibrin- Herr Minister, in den Eckpunkten zur Umsetzung des (B) gen? (D) Teils des Koalitionsvertrages zur Arzneimittelversor- gung wurden auch Maßnahmen zur Deregulierung ver- einbart. Können Sie bitte kurz darlegen, wie das im Ge- Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: setzentwurf umgesetzt worden ist? Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass es in je- dem Fall durch dieses Gesetz zu einer Verbesserung ge- genüber dem heutigen Zustand kommt; denn bisher müs- Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: sen keinerlei Studien vorgelegt werden, weder nach drei Es gibt zwei konkrete Maßnahmen, die im Gesetzent- noch nach sechs Monaten oder nach zehn Jahren. Bisher wurf enthalten sind. Die erste Maßnahme ist die Ab- gibt es keine Verpflichtung, solche Nutzen- oder Zusatz- schaffung der Bonus-Malus-Regelung. Es gibt bisher nutzenstudien zu erstellen. Ich möchte zunächst festhal- bestimmte Zielgrößen, die zwischen den Leistungser- ten: Es war das erklärte Ziel dieser Koalition, dafür zu bringern auf der einen Seite und den Krankenkassen auf sorgen, dass die Ärztinnen und Ärzte wissen, welche der anderen Seite vereinbart werden. Wenn beispiels- Medikamente sie zu verordnen haben, und dass wir wis- weise ein Arzt die Zielgrößen bei der Verschreibung sen, was unsere Patientinnen und Patienten bekommen. nicht erreicht, muss er eine Strafe zahlen. Man erhält Das ist der erste Punkt. also einen Malus. Wenn man unter den Vorgaben bleibt, erhält man einen Bonus. Das halten wir für überflüssig. Der zweite Punkt: Selbstverständlich sollen bereits im Ich glaube, diese Regelung ist auch nicht intensiv ange- Rahmen der Phase-III-Studien – gerne auch vorher – die wendet worden. Es macht also Sinn, sie zu streichen. entsprechenden Daten gesammelt werden, um diese Dossiers – also Dossiers zur Anwendbarkeit, zu Neben- Die zweite Maßnahme ist die Abschaffung der soge- wirkungen und ähnlichen Dingen – auf den Weg zu brin- nannten Zweitmeinungsregelung. Hier gilt die Regel, gen. Es soll darüber hinaus auch ein Konsultationsver- dass hoch innovative Medikamente nicht von jedem Arzt fahren geben, sodass der Gemeinsame Bundesausschuss verschrieben werden können, sondern nur von Ärzten schon vorher in Kontakt mit der Industrie treten kann mit einer bestimmten Ausbildung, die in dem entspre- – und umgekehrt –, um deutlich zu machen, dass man chenden Bereich auch zum Tragen gekommen ist. Wenn noch weitere zusätzliche Daten braucht, falls diese Re- ein Allgemeinmediziner solche Medikamente verschrei- gelvorgaben nicht ausreichen. Dann ist es nur fair, dass ben will, muss er bislang zuerst die Zweitmeinung eines man die Industrie darüber aufklärt und sagt: Bei diesem Spezialisten einholen. Das halten wir für sehr bürokra- speziellen Medikament, bei dieser Indikation brauchen tisch. Wir glauben, dass sich die Leistungserbringer in wir noch mehr Daten als die üblichen Daten, die man im diesen Bereich einbringen können. Rahmen der Phase-III-Studien erbringen müsste. 5302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) Auch hier stellen wir sicher, dass die Industrie recht- Warum ist dieser Teil mit drin? Weil wir – ich finde, (C) zeitig weiß, welche Daten erbracht werden müssen, da- zu Recht – gesagt haben, dass wir für Patientinnen und mit die ersten drei Monate sinnvoll genutzt werden kön- Patienten in Deutschland da sein wollen. Das heißt, wir nen. Wir denken, dass es sinnvoll ist, der Industrie diese wollen diese gute Einrichtung auch weiter verlängern. Zeit zuzugestehen. Es ist kein Verlust, weil es in jedem Ich finde nichts Schlimmes daran. Wenn Sie fragen, wa- Fall nach wie vor eine Verbesserung zum heutigen Zu- rum es in einem Gesetz zur Arzneimittel-Neuordnung stand ist. Aber die Industrie hat dann die Möglichkeit, steht, kann ich nur darauf zurückkommen, was Sie in der zumindest in den ersten drei Monaten die klinischen Er- Folge ausgeführt haben: In der Tat drängt die Zeit. Zum fahrungen mit dem Medikament selbst zu sammeln. Das 31. Dezember 2010 läuft die bisherige vorläufige Erpro- ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen der sofortigen bungsphase aus. Also muss man handeln, damit ab dem Nutzbarkeit für Patientinnen und Patienten auf der einen 1. Januar 2011 eine Unabhängige Patientenberatung in Seite und der Sicherheit und Effizienz durch Nutzen- Deutschland weiter existieren kann. oder Zusatznutzenstudien auf der anderen Seite. Wir bringen deswegen diesen Gesetzentwurf ein, da- mit wir mit Ihnen gemeinsam darüber diskutieren kön- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen und damit wir am Ende hoffentlich einen entspre- Frau Vogler. chenden Gesetzentwurf beschließen können. Dann haben die handelnden Akteure die Sicherheit, dass es nach dem 1. Januar 2011 in der Form, wie im Gesetzent- Kathrin Vogler (DIE LINKE): wurf beschrieben, weitergehen kann. Der Parlamentari- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, ich sche Staatssekretär Daniel Bahr hat im Ausschuss ausge- möchte auf ein anderes Thema zu sprechen kommen, führt, dass es selbstverständlich möglich ist, die Verträge und zwar auf die Unabhängige Patientenberatung, die auch befristet weiterzuführen, bis das Gesetzgebungs- Sie an dieses Arzneimittel-Neuordnungsgesetz ange- verfahren abgeschlossen ist, und wir dann – die Aus- hängt haben. Es erschließt sich nicht unmittelbar, was schreibungen sind im Gesetzentwurf enthalten – nach dieses Thema da eigentlich zu suchen hat. den Ausschreibungen zu einer dauerhaften Einrichtung der Unabhängigen Patientenberatung selbst kommen (Jens Spahn [CDU/CSU]: Man kann es Ihnen können. nicht recht machen!) Im Rahmen der Unabhängigen Patientenberatung soll – Aber Herr Spahn! es auch noch einen Beirat geben; denn die gesetzlichen Wie glauben Sie, sicherstellen zu können, dass die Krankenversicherungen, die diese finanzieren, sollen da- rauf aus unserer Sicht keinen Einfluss haben. Das wird (B) Beratungstätigkeit der unabhängigen Patientenbera- (D) tungsstellen auch nach dem 1. Januar 2011 sichergestellt dann im Einvernehmen mit dem Patientenbeauftragten werden kann, wo wir doch erst jetzt diesen Vorschlag auf geschehen, bei dem ein zusätzlicher Beirat gebildet wird. den Tisch bekommen? Dabei gibt es schon jetzt in den An diesem Beirat sollen gegebenenfalls auch die priva- Beratungsstellen die Situation, dass die Mietverträge ten Krankenversicherungen beteiligt sein, aber nur dann, und Arbeitsverhältnisse in absehbarer Zeit auslaufen. wenn sie ebenfalls bereit sind, sich finanziell an der Un- Erst wenn wir gegen Ende des Jahres dieses Arzneimit- abhängigen Patientenberatung zu beteiligen. Wir werden tel-Neuordnungsgesetz mit dem Anhang zur UPD verab- also selbstverständlich mit den Kollegen der privaten schiedet haben werden und es in Kraft getreten ist, Krankenversicherungen reden, weil ich glaube, dass können die Krankenkassen die notwendigen Ausschrei- auch sie ein Interesse daran haben, dass ihre Versicher- bungen vornehmen. ten gut informiert sind. Das ist unser Weg. So können wir sicherstellen, dass Mir ist eines immer noch nicht ganz klar: Herr Bahr die gute Einrichtung der Unabhängigen Patientenbera- hat uns gesagt, es könne auch ohne gesetzliche Regelung tung – die haben Sie in Ihrer Frage auch nicht kritisiert – von den Krankenkassen gehandelt werden. Unsere Infor- auch im nächsten Jahr erfolgreich fortbestehen kann. mationen sind, dass verschiedene Juristen das ganz an- ders bewerten und sagen, es sei höchstkritisch, wenn die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Krankenkassen jetzt schon tätig würden und ohne ge- der CDU/CSU) setzliche Grundlage die Fortschreibung des jetzigen Mo- dellversuchs vornähmen. Außerdem möchte ich Sie gern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fragen, welche Idee Sie verfolgen, um die privaten Kran- Frau Volkmer, bitte. kenversicherungen an den Kosten zu beteiligen; denn im Gesetz haben Sie nur eine freiwillige Beteiligung vorge- sehen. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Herr Minister, die Bundesregierung plant eine Mehr- kostenregelung hinsichtlich der Rabattarzneimittel, also Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Mehrkosten für die Patienten, die sich für ein nicht ra- Zunächst einmal freue ich mich; denn ich kann Ihren battiertes Arzneimittel entscheiden. Wie wird eine sol- Ausführungen entnehmen, dass Sie eine gewisse Zu- che Regelung auf schon bestehende Rabattverträge und stimmung für die Unabhängige Patientenberatung und auf noch abzuschließende Rabattverträge zwischen den unseren Gesetzentwurf signalisieren. Das finde ich Krankenkassen und der pharmazeutischen Industrie wir- schon einmal gut. ken? Halten Sie eine solche Mehrkostenregelung als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5303

Dr. Marlies Volkmer (A) Modell auch auf andere Leistungsbereiche – Stichwort: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Einstieg in die Kostenerstattung – für übertragbar? Herr Lotter, bitte.

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Dr. Erwin Lotter (FDP): Zunächst einmal soll die Mehrkostenregelung für sol- Herr Minister, Wettbewerb und Wahlfreiheit sind ja che Medikamente gelten, die nicht Gegenstand eines Ra- wichtige Ziele für Liberale. Können Sie bitte noch ein- battvertrages mit der jeweiligen Krankenversicherung mal erläutern, inwieweit diese Ziele in diesem Gesetz- sind. Das führt uns zu dem Problem, das die Patientin- entwurf umgesetzt wurden? nen und Patienten schon heute haben. Nehmen wir an, (Elke Ferner [SPD]: Manchmal hilft wirklich Sie sind eine chronisch kranke Patientin und gehen in die Lesen! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE Apotheke. Sie haben bisher immer ein bestimmtes Medi- GRÜNEN]: Das ist aber eine inhaltsreiche kament genutzt. Plötzlich sagt Ihnen der Apotheker: Es Frage!) tut mir leid, aber Sie können dieses Medikament nicht mehr ohne eine entsprechende Zuzahlung bekommen – momentan können Sie es sogar gar nicht bekommen, Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: auch wenn Sie eine Zuzahlung leisten wollen –, weil Das war eine sehr inhaltsreiche Frage, weil mir da- Ihre Krankenkasse keinen Rabattvertrag mehr mit dem durch die Gelegenheit gegeben wird, noch einmal in be- Hersteller dieses Medikamentes hat. – Es bleibt Ihnen sonderer Weise auf die Qualitäten gerade dieses Gesetz- dann nichts anderes übrig, als zu einem entsprechenden entwurfes hinzuweisen. Ausweichpräparat zu greifen, was medizinisch ohne An vielen Stellen im Gesetzentwurf finden wir die Probleme machbar ist. Grundideen des fairen Wettbewerbs und der Wahlfreiheit Trotzdem sagen viele Patientinnen und Patienten zu für Patientinnen und Patienten verwirklicht. Das fängt Recht, sie möchten bei ihrem Medikament bleiben, das beim Wettbewerb mittels der Preisgestaltung an. Dies ist sie von der Wirkweise, von der Einnahme und vom Ein- anders als bisher. Der Preis wird nicht mehr seitens der nahmezyklus her kennen. Sie bestehen in der Apotheke Industrie festgelegt, weil sie ein Monopol hat, sondern dann häufig darauf, dass sie das Medikament, das sie der Preis kann sich im Rahmen von Vertragsverhandlun- bisher genutzt haben und kennen, auch weiter erhalten gen am Markt bilden. Das ist der wesentliche Kern die- können. Bisher gibt es auch bei entsprechender Bereit- ses Gesetzentwurfes, was im Ergebnis zu enormen Ein- schaft, den Differenzbetrag zuzuzahlen, keine Möglich- sparungen führen wird. keit, dieses Medikament zu erhalten. Sie müssen viel- mehr das Rabattmedikament nehmen, für das ihre Die zweite Möglichkeit, zu Wettbewerb zu kommen, sind die Rabattverhandlungen. Wir sorgen durch das (B) Krankenkasse einen entsprechenden Rabattvertrag abge- (D) schlossen hat. Wettbewerbs- und Kartellrecht für einen fairen Wettbe- werb zwischen den Kassen auf der einen Seite und der Wir halten das aus Sicht der Patientinnen und Patien- kleinen und mittelständischen Industrie auf der anderen ten für wenig akzeptabel. Im Gegenteil: Wir wollen hier Seite, damit nicht eine der beiden Seiten womöglich eine Wahlfreiheit erreichen. Wir wollen also die Möglichkeit Marktmacht bekommt, die sie ausnutzen kann. einführen, dass Sie als Patient in dieser Situation sagen können: Auch wenn meine Krankenkasse keinen Rabatt- Der dritte Punkt ist das eben schon angesprochene vertrag mit diesem Hersteller hat, möchte ich mein altes Modell der Mehrkostenregelung für Patientinnen und Medikament haben, und ich bin auch bereit, dafür, dass Patienten. Wenn sie mehr Freiheiten bei der Auswahl ih- ich mein altes Medikament weiter bekommen kann, ei- res Medikamentes haben wollen – das ist ein grundle- nen entsprechenden Zuschlag zu bezahlen. – Dies ist die gendes Recht der Patientinnen und Patienten –, werden Mehrkostenregelung. Wir haben sie nur für diesen spe- sie diese künftig in größerem Umfang als bisher haben. ziellen Bereich im Gesetz vorgesehen. Ich glaube, das ist Mindestens an diesen drei großen Stellen spüren Sie eine vernünftige Lösung, die es den Patientinnen und Pa- den liberalen Geist in diesem Gesetzeswerk. tienten künftig gestattet, auf ihr Medikament zurückgrei- fen zu können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Auswirkungen auf die Rabattverträge sehen wir Der Kollege Terpe, bitte. ganz gelassen, weil wir nicht davon ausgehen, dass jetzt sehr viele Patientinnen und Patienten sagen: Wir möch- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten weiter unser altes Medikament einnehmen und sind Herr Minister, ich habe eine Nachfrage zu den Rabatt- bereit, mehr zuzuzahlen. – Manche lassen sich auch auf- verträgen, die Sie erwarten. Wir haben gerade ein Ge- klären und davon überzeugen, dass, medizinisch gese- setzgebungsverfahren zur Erhöhung der Zwangsrabatte hen, auch ein anderes Medikament eingenommen wer- von 6 Prozent auf 16 Prozent gehabt. Wie schätzen Sie den kann. Für den Fall, dass sie trotzdem eine andere die Möglichkeit zusätzlicher Rabatte, die Sie jetzt vorge- Meinung haben – das soll es ja durchaus geben, und ich sehen haben, bei Verhandlungen ein? Meine zweite finde, sie sollten dann eine entsprechende Wahlmöglich- Frage, die ich anschließen möchte, ist: Sie wollen im Ge- keit haben –, haben sie künftig eben mehr Wahlmöglich- setz die Pflicht zur Rückzahlung von Preisdifferenzen keiten, als das bisher der Fall war. Ich halte das für einen guten Weg. regeln. Sie erfolgt ab dem 13. Monat im Falle eines Schiedsspruchs. Warum regeln Sie das nicht schon für (Beifall bei der FDP) die ersten zwölf Monate? 5304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: rückkommen. Wenn ein Arzt das bisherige Arzneimittel (C) Die rückwirkende Preisfestsetzung ist, auch juris- eines Patienten, das nicht unter die Rabattverträge der tisch, durchaus heikel. Nun bin ich kein Jurist; aber wir Kasse des Patienten fällt, für medizinisch notwendig er- halten es für sinnvoller, dass man erst nach dem Schieds- achtet und dies begründet, kann er das Medikament zu- stellenspruch, wenn man das entsprechende Ergebnis lasten der Krankenkasse verordnen. Insofern wäre das hat, rückwirkend für höchstens drei Monate zu einer eine Regelung für diejenigen, die nicht einsehen – aus Preisbindung kommt. Die Möglichkeit, zu einer vertrag- welchen Gründen auch immer, ob angeregt durch den lichen Einigung zu kommen, soll nicht bis zuletzt ausge- Arzt oder angeregt durch ein entsprechendes Verkaufs- nutzt werden, um dann festzustellen, dass man zu kei- gespräch des Apothekers –, dass das rabattierte Medika- nem Ergebnis kommt. Wir stellen sicher, dass es gleich ment die gleiche medizinische Wirkung im Rahmen der zu Beginn zu entsprechenden Vertragsverhandlungen Therapie ihrer Krankheit hat, und dann eben etwas kommen kann. Wenn das nicht der Fall ist, soll die draufzahlen müssen. Insofern bleibt das aber bei denen Schiedsstellenlösung greifen. Ich denke, es ist vertretbar, hängen, die sich das auch leisten können. Diejenigen, die dass man die Preise rückwirkend für drei Monate festle- sich das nicht leisten können, haben diese Wahlfreiheit gen kann. Wir haben uns dagegen entschieden, das für nicht. das ganze Jahr zu machen. Zu Ihrer ersten Frage: Wir haben im Zusammenhang Zum anderen möchte ich nachfragen, inwieweit die mit den Rabattverträgen gesehen, dass es bei den Gene- bestehenden Rabattverträge, die ja darauf basieren, dass rika teilweise zu erheblichen Preissenkungen gekommen sich die Kasse gegenüber dem pharmazeutischen Unter- ist, und zwar um bis zu 50 bzw. 70 Prozent. Das ist im nehmen verpflichtet, eine bestimmte Menge abzuneh- hochinnovativen Bereich in dieser Form nicht zu erwar- men – dagegen steht dann der Rabatt des Unternehmens, ten. Das ist ein anderer Markt. Deswegen kann ich Ihnen das sagt, wenn ihr so viel abnehmt, dann gebe ich euch nicht sagen, wie viel wir uns konkret davon versprechen einen entsprechenden Rabatt –, in Zukunft noch garan- und ob es über den Herstellerrabatt – wir nennen das tiert werden können. Normalerweise ist es so: Je größer Herstellerrabatt, nicht Zwangsrabatt – von 16 Prozent hi- die Abnahmemenge ist, desto mehr Rabatt bekomme naus zu weiteren Rabatten kommen kann. Es handelt ich. Wenn ich diese Abnahmemenge aber nicht mehr ga- sich um eine Kombination dieser beiden Instrumente. rantieren kann, dann wird der Rabatt wahrscheinlich ge- Der Herstellerrabatt und das Preismoratorium sind be- ringer werden. Deshalb ist ja wohl davon auszugehen, reits im GKV-Änderungsgesetz, das vor zwei Wochen dass die 2,5 Milliarden Euro, die bisher durch die Ra- verabschiedet worden ist, beschlossen worden. Das war battverträge eingespart worden sind, in Zukunft nicht eine Maßnahme, die ordnungspolitisch durchaus strittig mehr zu erzielen sein werden. diskutiert wurde. (B) (D) Sie macht aber nur dann Sinn, wenn wir jetzt den Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: zweiten Weg über das Arzneimittel-Neuordnungsgesetz Die zweite Frage hatte ich bereits in Teilen beantwor- wählen, das heute diskutiert wird. Dann hat man die tet. Wir gehen nicht davon aus, dass die Menschen jetzt Möglichkeit, über Vertragsverhandlungen von diesem in enormer Zahl – schon gar nicht entsprechend dem ge- Herstellerrabatt wegzukommen. Das ist eine gute Mög- samten Einsparvolumen von 2,5 Milliarden Euro im lichkeit, auf der einen Seite die Einsparmaßnahmen für Rahmen der bisherigen Rabattverträge – zur Apotheke die gesetzlichen Krankenversicherungen sicherzustellen laufen und sagen, ich werde künftig bereit sein, mehr für und auf der anderen Seite zu wettbewerblicheren Struk- mein altes Medikament zu bezahlen, und damit – das ist turen zu kommen. Das ist unser Ziel, zumal sich die Ra- ja Ihre Befürchtung – die Gesamtrabattverträge unterlau- batte nicht allein in Euro-Cent bemessen sollen; im Ge- fen. Davon gehen wir, wie gesagt, nicht aus. Im Gegen- setz ist vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass es zu teil, es ist ja auch Aufgabe und das explizite Ziel von weiteren vertraglichen Ausgestaltungen kommen kann, Apotheken, über die unterschiedlichen Möglichkeiten zu sogenannten Mehrwertverträgen oder Verträgen im aufzuklären. Also werden sie aufklären und sagen: Sie Rahmen der integrierten Versorgung. Man soll also um- können natürlich bei Ihrem Medikament bleiben mit der fassende Verträge schließen können. Möglichkeit der Zuzahlung, Sie können aber auch ein Das hat vor allem einen Vorteil: Wenn es zu Verträgen Alternativmedikament nehmen. Dann müssen Sie nichts gekommen ist, werden die Leistungserbringer, also die zuzahlen, dann haben Sie aber ein etwas anderes Medi- Ärztinnen und Ärzte, von der Richtgrößenprüfung aus- kament. Es heißt anders, und vielleicht ist auch die Ein- genommen. Die Medikamente, die unter den Vertrag fal- nahmevorgabe etwas anders als bei dem Ihnen bekann- len, sollen dann künftig nicht mehr einbezogen werden. ten Medikament. – Es spricht ja nichts dagegen, die Das ist ein weiterer Punkt im Rahmen der Deregulie- Patientin, den Patienten aufzuklären. rung. Die Zielsetzung der Rabattverträge betrifft auch, aber nicht nur das rein Finanzielle. Also nochmals: Wir gehen nicht davon aus, dass Ra- battverträge in großen Mengen unterlaufen werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ihr erster Punkt ist übrigens sehr spannend. Das zeigt Frau Ferner. offensichtlich die unterschiedliche Sichtweise von Ihnen und uns bezüglich der Rechte und der Mitwirkungsmög- Elke Ferner (SPD): lichkeiten von Patientinnen und Patienten, wenn man Herr Minister Rösler, ich möchte zum einen auf das vom Bild eines selbstbestimmten Patienten ausgeht. Sie Thema „Mehrkosten bei rabattierten Arzneimitteln“ zu- haben zwar völlig recht, dass der Arzt natürlich schon Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5305

Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) heute durch das Ankreuzen bestimmter Felder auf dem Selbstverständlich schauen wir uns an, wie sich die (C) Rezept die Möglichkeit hat, dem Patienten aus medizi- Preise in allen anderen Bereichen entwickeln, weil es na- nisch notwendigen Gründen andere Medikamente zu türlich die Möglichkeit gibt, dass man einen Verlust, den verschreiben als die Rabattvertragsmedikamente. Diese man auf der einen Seite hat – im ambulanten Bereich, im Möglichkeit stellen wir auch nicht infrage. Das ist Punkt Bereich der GKV –, durch Kompensation in anderen Be- eins. reichen versucht „zurückzuholen“. Unser Ziel ist, insge- samt zu Einsparungen im Bereich der GKV zu kommen. Aber es ist die Sichtweise des Arztes, wenn er aus Sie können sicher sein, dass wir die Situation sehr genau medizinischen Gründen ein anderes Medikament weiter beobachten werden. Sollte es zu einer Kompensation vorgibt. kommen, dann müssten Gesetzgeber und Bundesregie- (Elke Ferner [SPD]: Wer weiß das denn besser, rung gemeinsam handeln. Das würden wir in jedem Fall der Arzt oder der Patient?) auch tun. Aber die Patientin und der Patient haben auch Rechte, Ich will hier noch auf etwas hinweisen, auch wenn jedenfalls nach unserer Sichtweise. Sie sind aufgeklärt das nicht explizit Teil Ihrer Frage war. Aufseiten der und können selbstbestimmt entscheiden, ob sie ein ande- Koalitionsfraktionen wird zu Recht darüber diskutiert, res Medikament haben wollen oder nicht. Selbstver- wie man Teile dieses Gesetzentwurfes auch auf den Be- ständlich müssen sie dann, wenn sie sich außerhalb der reich der privaten Krankenversicherung übertragen Rabattverträge bewegen, mehr bezahlen. kann; denn es kann ja sein, dass solche Kompensations- möglichkeiten, wie Sie sie im stationären Bereich sehen, (Elke Ferner [SPD]: Die, die es sich leisten auch im Bereich der privaten Krankenversicherung ge- können!) sucht werden. Beides gilt es aus meiner Sicht zu verhin- Aber sie haben die Wahlmöglichkeit. dern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Elke Ferner [SPD]: Aber nur, wenn ich das der CDU/CSU) Geld dafür habe!)

Diese Wahlmöglichkeit haben sie momentan nicht, Frau Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ferner. Sie müssen sie ja nicht nutzen. Ich verstehe Frau Klein-Schmeink, bitte. nicht, warum Sie sich hier gegen die Freiheitsrechte von Patientinnen und Patienten so vehement aussprechen. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GRÜNEN): (B) der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE Herr Minister, Sie unternehmen mit dem Gesetzent- (D) LINKE]: Weil das wieder die Freiheit der wurf den Versuch, im Arzneimittelmarkt mehr Regulie- Wohlhabenden ist!) rungsregelungen, gerade bei der Preisgestaltung, einzu- ziehen. Im europäischen Umfeld hat man dafür die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Positivliste. Man versucht so, das Ganze zu begrenzen. Herr Weinberg, bitte. Sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Patienten legt man eine Liste vor, die Qualität und Transparenz mitei- nander verbindet. Haben Sie ein solches Vorgehen nicht Harald Weinberg (DIE LINKE): geprüft? Warum haben wir in Deutschland 40 000 zuge- Herr Minister, die vorgesehenen Regelungen zu Ein- lassene Medikamente, während es in anderen europäi- sparungen betreffen ja in erster Linie den Erstattungs- schen Ländern sehr viel weniger gibt? Haben Sie nicht preis im Bereich der ambulanten Versorgung, nicht aber die Notwendigkeit gesehen, da einzugreifen? den Krankenhaussektor. Dort erfolgen Abrechnung, Er- stattung und Preisgestaltung anders. Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Wie steht die Bundesregierung zu der Befürchtung, In der Tat gibt es viele Medikamente. Ich will aus- dass die Hersteller wegen eventueller Rabatte im ambu- drücklich festhalten, dass wir es sehr positiv finden, dass lanten Versorgungssektor zur Kompensation höhere es viele Medikamente gibt; denn Sinn und Zweck ist ja, Preise im stationären Bereich verlangen werden und mit Medikamenten Menschen in Krankheit und Not zu letztlich die Einsparungen unter dem Strich geringer aus- helfen. fallen können? Plant die Bundesregierung auch für den (Elke Ferner [SPD]: Dazu muss man wissen, stationären Bereich Regelungen? wie sie wirken!)

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Wir würden uns nicht anmaßen, von vornherein zu sa- gen, was gut ist und was nicht gut ist, was in dieser Liste Zunächst einmal ist es, glaube ich, ein guter Weg, be- erscheinen und was in dieser Liste nicht erscheinen soll. vor man sich neue Maßnahmen vornimmt, erst einmal zu sehen, wie die jetzt geplanten Maßnahmen dann, wenn Wir wollen den Menschen in Deutschland Zugang zu sie in Kraft getreten sind, wirken. Aber in der Tat ist es den bestmöglichen wirksamen Medikamenten und auch häufig so, dass Regeln, die geschaffen werden, zu Aus- zu Innovationen in diesem Bereich bieten. Solche Posi- weichbewegungen führen. Dann besteht die Gefahr, dass tivlisten sind bekanntermaßen sehr innovationsfeindlich. man gleich wiederum neue Regeln auf den Weg bringt. Es muss aber zu Innovationen, zu Neuerungen kommen. 5306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) Bis die sich auf einer Positivliste wiederfinden, geht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) meist sehr viel Zeit ins Land. Das wäre zum Nachteil der Damit beende ich die Befragung der Bundesregie- Patientinnen und Patienten. Deswegen haben wir uns für rung. einen anderen Weg entschieden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 auf: Ich sage es noch einmal: Wir sind davon überzeugt, Fragestunde dass wir die richtige Balance zwischen Innovationsfä- – Drucksachen 17/2285, 17/2323 – higkeit auf der einen Seite und Kostenkontrolle auf der anderen Seite gefunden haben. Bei der reinen Positiv- Ich möchte darauf hinweisen, dass für die Frage- liste hat man nur die Kostenkontrolle im Blick, aber lei- stunde heute nur eine Stunde angesetzt ist. der nicht die Interessen der Patientinnen und Patienten. Wir beginnen gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Fragestunde mit der dringlichen Frage auf Drucksa- der CDU/CSU) che 17/2323 zum Geschäftsbereich des Bundesministe- riums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamen- tarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die letzte Frage, die in unser Zeitbudget passt, ist die Ich rufe die dringliche Frage des Kollegen Hans- von Frau Reimann. Christian Ströbele auf: Inwieweit treffen aktuelle Medienberichte zu (Der Spiegel vom 28. Juni 2010), wonach der von deutschen Ermittlern ge- Dr. Carola Reimann (SPD): suchte deutsche Staatsbürger Rami M. sich am 21. Juni 2010 Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, in Ihrem in Pakistan in der deutschen Botschaft Islamabad habe stellen Gesetzentwurf sehen Sie eine umfassende Geltung des und nach Deutschland zurückkehren wollen, die Botschaft ihm dafür einen Passierschein ausstellte mit der Bitte um all- Kartellrechts für den Gesundheitsbereich vor. Ich seitige behördliche Unterstützung, jedoch das Bundeskrimi- möchte fragen: Welche Konsequenzen erwarten Sie da- nalamt, BKA – nach einem Disput zwischen Auswärtigem raus auf Vertragsbeziehungen, auf die gemeinsamen Ver- Amt sowie dem Bundesministerium des Innern –, seine Er- träge von Leistungserbringern, auf die im Gesetz eigent- kenntnisse zu dem Deutschen an die pakistanische Polizei übermittelte und ihn auf dem Hinweg zu dem Besuch der lich vorgeschriebenen Verträge zur Zusammenarbeit deutschen Botschaft durch die berüchtigte pakistanische Poli- zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, auf zei festnehmen ließ, wie diese bestätigte, und teilt die Bundes- den Gemeinsamen Bundesausschuss und auch auf die regierung die Auffassung, dass eine solche Datenübermittlung Rabattverträge? des BKA an die pakistanische Polizei schon mangels hinrei- chender Rechtsgrundlage (§ 14 Abs. 7 Satz 5 des Bundeskri- (B) minalamtgesetzes) rechtswidrig wäre und den deutschen (D) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Staatsangehörigen ohne Not und weitgehend schutzlos einer ungewissen Haft ausliefern würde, wo ihm Folter durch den Ziel ist insbesondere, das Wettbewerbs- und Kartell- pakistanischen Geheimdienst droht? recht bei Rabattverträgen zur Anwendung zu bringen. Wir gehen davon aus, dass wir damit verhindern, dass Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte. eine Seite ihre Marktmacht zu einer Monopolstellung ausbaut und damit fairen Wettbewerb verhindert. Ein- Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- zelne Kassen verhandeln schon mit kleinen mittelständi- minister des Innern: schen Unternehmen. Teilweise haben große Kassen re- Der Bundesregierung liegen keine bestätigten Infor- gional bereits ein Monopol. Für kleine mittelständische mationen zur Festnahme eines deutschen Staatsangehö- Unternehmen wird es dann schwierig, in einem solchen rigen namens Rami M. vor, der in Waziristan verkleidet Bereich überhaupt noch Fuß zu fassen, weil es de facto und schwer bewaffnet durch das pakistanische Militär keinen echten Wettbewerb der Kostenträger untereinan- festgenommen worden sein soll. Das Auswärtige Amt der mehr gibt. bemüht sich derzeit um Aufklärung. Das wollen wir durch diese Maßnahme verhindern. Wir wollen das gezielt auf die Rabattverträge anwenden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Von daher gehen wir nicht davon aus, dass zum Beispiel Herr Ströbele, Sie haben eine Nachfrage. die Integrierten Versorgungsverträge zwischen Leis- tungserbringern, Kostenträgern und, wenn das zum Tra- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE gen kommt, Industrieherstellern in Mitleidenschaft GRÜNEN): gezogen werden. Unser Ziel ist, dass für die Rabattver- Herr Staatssekretär, liegen denn der Bundesregierung träge, die wir selber ausdrücklich nicht infrage stellen, Informationen darüber vor, dass das Auswärtige Amt mit faire Wettbewerbsregeln gelten; denn auch hier besteht dem Fall zu tun hatte, dass dieser Herr – er wurde in die richtige Balance zwischen Kostenkontrolle auf der meiner Frage angesprochen – mit der deutschen Bot- einen Seite – die 2,5 Milliarden Euro wurden schon an- schaft Kontakt aufgenommen hatte und sich am 21. Juni gesprochen – und fairem Wettbewerb auf der anderen in der deutschen Botschaft seine Papiere abholen wollte Seite. Daran zeigt sich die Mittelstandsfreundlichkeit – das war fest vereinbart –, um nach Deutschland zu- dieser Regierungskoalition. rückzukehren und sich hier den Behörden zu stellen? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Haben Sie das mit dem Kollegen Stadler, der neben der CDU/CSU) Ihnen sitzt, insbesondere auch deshalb intensiv bespro- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5307

Hans-Christian Ströbele (A) chen, weil sich der Kollege Stadler als Mitkombattant im Wenn beispielsweise schwere Gefahren für Mitglieder (C) Untersuchungsausschuss zur BND-Affäre seinerzeit in der Botschaft drohten, dann dürften Daten, die zur Ab- einer Pressekonferenz in dem parallel gelagerten Fall wehr dieser Gefahren notwendig sind, selbstverständlich Zammar sehr drastisch dahin gehend geäußert hat, dass auch übermittelt werden. Es muss im Einzelfall genau es unzulässig sei, wenn das Bundeskriminalamt Daten abgewogen werden, inwieweit einerseits die berechtig- an ausländische Dienste weitergebe und diese dann zum ten Interessen desjenigen, dessen Daten übermittelt wer- Nachteil eines deutschen Staatsbürgers dazu führen den, beeinträchtigt werden bzw. der Datenschutz ge- könnten, dass dieser in ein Foltergefängnis kommt? währleistet ist und andererseits die schutzwürdigen Interessen derjenigen, die in Gefahr sind, gewahrt wer- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den können. NEN]: Da war er ganz scharf, der Herr Staats- sekretär!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Herr Kollege Wieland, Sie haben noch eine Nach- minister des Innern: frage dazu. Welche Daten unter welchen Umständen übermittelt werden dürfen, ist geregelt. Daran müssen sich natürlich Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere auch Herr Staatssekretär, da ich ja nun nicht den Vorteil das BKA, halten. habe, im Parlamentarischen Kontrollgremium zu sitzen, und der Kollege Ströbele mich nach wie vor nicht da- Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof rüber informieren darf, was dort besprochen wird, nun führt gegen mehrere Beschuldigte ein Ermittlungsver- noch einmal ganz konkret gefragt: Laut eines Berichts fahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer des Spiegel von dieser Woche werfen Angehörige dieses ausländischen terroristischen Vereinigung, der Islami- offenbar inhaftierten deutsch-syrischen Staatsbürgers der schen Bewegung Usbekistan, durch, darunter auch ge- Bundesregierung, insbesondere dem Bundesinnenminis- gen einen deutsch-syrischen Doppelstaatler namens terium, vor, diesen Menschen an den pakistanischen Ge- Rami M., die Person, die Sie in Ihrer Anfrage gemeint heimdienst bzw. an die pakistanischen Innenbehörden haben. sozusagen verpfiffen zu haben. Die Frage ist: Trifft das Die Bundesregierung nimmt zu laufenden Ermitt- zu? Und vor allen Dingen: Trifft die Meldung zu, dass es lungsverfahren aus grundsätzlichen Erwägungen keine über diesen Umstand, ob man Informationen an die pa- Stellung. Eine Stellungnahme könnte weiter gehende Er- kistanischen Sicherheitsbehörden geben soll, eine Kon- mittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln. troverse zwischen Auswärtigem Amt, Ihrem Ministe- (B) Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich zu diesem rium und möglicherweise auch dem Justizministerium (D) ganz konkreten Fall nichts sagen kann. Er wird aber Ge- – der Kollege Stadler war ja schon angesprochen – gege- genstand der nächsten Sitzung des Parlamentarischen ben hat? Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an Kontrollgremiums sein. Da wird darüber sicherlich aus- eine CDU-Abgeordnete, die seinerzeit noch Kristina führlich berichtet werden. Köhler hieß, die derartige Datenweitergaben sehr kri- tisch kommentiert und begleitet hat. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kurzum: Wir alle haben seinerzeit gesagt, das, was im Sie haben noch eine weitere Nachfrage? – Bitte Fall „Zammar“ geschehen ist, ist sehr kritisch zu sehen. schön. Es steht im Raum, dass es sich bei diesem Fall um einen zweiten Fall „Zammar“ handeln könnte. Deshalb frage Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE ich Sie: Glauben Sie wirklich, dass die Auskunft: „Wir GRÜNEN): sagen nichts, solange das ein schwebendes Verfahren Herr Staatssekretär, können Sie denn bestätigen, dass ist“, trägt und dass damit die Besorgnis aus der Welt ge- das Bundeskriminalamt in diesem Fall Informationen an räumt werden kann? die pakistanischen Behörden, insbesondere an die dor- tige Polizei oder andere Sicherheitsbehörden, wie zum Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Beispiel den berüchtigten pakistanischen Geheimdienst, minister des Innern: über diesen deutschen Staatsbürger gegeben hat und dass Da ich jetzt zum ganz konkreten Fall nichts sagen dies, wenn es denn geschehen ist, mit § 14 Abs. 7 letzter kann, kann ich natürlich auch Ihre Besorgnis nicht aus- Satz des Bundeskriminalamtgesetzes nicht zu vereinba- räumen. Das ist wohl so. Ich möchte nur, dass Sie zur ren ist, weil danach die Übermittlung von Daten dann zu Kenntnis nehmen, dass eine Datenübermittlung nicht in unterbleiben hat, wenn schutzwürdige Interessen des Be- jedem Fall ausgeschlossen ist, dass eine Datenübermitt- troffenen dem entgegenstehen? Das ist hier zweifellos lung vielmehr dann notwendig ist und die Sicherheitsbe- der Fall. hörden hierzu sogar verpflichtet sind, wenn es darum geht, Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Darüber Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sind wir uns doch alle einig. Es ist in jedem konkreten minister des Innern: Einzelfall abzuwägen, inwieweit die Datenübermittlung Die von Ihnen angesprochene Vorschrift sieht vor, verhältnismäßig ist, um Gefahr für Leib und Leben dass Daten natürlich dann übermittelt werden dürfen, abzuwenden. Wir sind uns ja auch einig, dass in dem wenn dies zur Abwehr von Gefahren erforderlich ist. konkreten Fall, dass Gefahr für Leib und Leben durch 5308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder (A) Übermittlung von Daten abzuwenden ist, eine solche Mitteln ist, also alter Wein in neuen Schläuchen, und (C) Datenübermittlung erforderlich und verhältnismäßig ist. nicht das, was versprochen wurde, nämlich zusätzliche Mittel für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungslän- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dern? Wie bewerten Sie die mittlerweile im Raum ste- Damit kommen wir zu den Fragen auf Drucksache henden Aussagen, nach denen die Mittel, die eingestellt 17/2285 in der üblichen Reihenfolge. wurden unter dem Titel „Klimaschutz in Entwicklungs- ländern“, der im Haushalt 2010 das erste Mal aufgeführt Es handelt sich zunächst um Fragen zum Geschäfts- wurde – das waren nur 35 Millionen Euro –, im nächsten bereich des Bundesministeriums für Umwelt, Natur- Haushalt auf null gesetzt werden sollen und mit Buch- schutz und Reaktorsicherheit. haltungstricks beim Climate Investment Fund ausgegli- chen werden sollen? Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staats- sekretärin Katherina Reiche zur Verfügung. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Bärbel Kofler auf: desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Welche konkreten Projekte im Bereich des internationalen heit: Klimaschutzes hat das Bundesministerium für Umwelt, Na- Frau Kollegin, ich würde Ihnen gerne die Struktur er- turschutz und Reaktorsicherheit, BMU, in diesem Jahr durch die Mittel der Fast-Start-Initiative finanziert, um die Zusagen klären, Ihnen sagen, wie wir unsere Fast-Start-Finanzie- der Kopenhagen-Konferenz zu erfüllen, und wie wird zukünf- rung ernst nehmen, wahrnehmen und umsetzen wollen. tig diese Mittelzusage im Haushaltsentwurf 2011 umgesetzt? In der Tat hat sich die Weltgemeinschaft, darin die Euro- päische Union und selbstverständlich auch Deutschland, Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- im Rahmen des Kopenhagen-Accords, der ein Ergebnis desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- der Klimaverhandlungen von Kopenhagen war, zur Fi- heit: nanzierung verpflichtet. Deutschland hat sich verpflich- Frau Kollegin Kofler, ich beantworte Ihre Frage zur tet, die von Ihnen eben erwähnten 420 Millionen Euro Fast-Start-Initiative wie folgt: Das Bundesumweltminis- durchschnittlich pro Jahr zu übernehmen; das ist unser terium wird seinen Anteil an der deutschen Fast-Start- Beitrag. Wir werden unter anderem im Bereich „Wald- Finanzierung über die Internationale Klimaschutzinitia- schutz, Wiederaufforstung, nachhaltiges Waldmanage- tive, IKI – circa 110 Millionen Euro im Jahr 2010 –, und ment“ investieren. IKI ist Teil der deutschen Fast-Start- über den neuen Haushaltstitel „Klimaschutzmaßnahmen Initiative. Jährlich stehen 120 Millionen Euro für die IKI in Entwicklungsländern“ – das sind 35 Millionen Euro zur Verfügung. im Jahr 2010 – bereitstellen. Ich möchte darauf hinweisen, dass der Mechanismus, (B) (D) Zu konkreten Projekten kann derzeit noch keine Aus- den wir gewählt haben – Versteigerung von Emissions- sage gemacht werden, da die Projektideen fachlich zertifikaten –, weltweit einmalig ist. In Kopenhagen ist geprüft und mit dem Bundesministerium für wirtschaftli- mehrfach positiv erwähnt worden, dass Deutschland das che Zusammenarbeit und Entwicklung sowie dem Aus- einzige Land ist, das einen direkten Zusammenhang zwi- wärtigen Amt abgestimmt werden. Dieser Prozess wird schen der Reduktion von CO2-Emissionen und innovati- voraussichtlich im August abgeschlossen. Die bereits ven Finanzierungsmechanismen bzw. Investitionen in laufenden IKI-Projekte können Sie auf der Internetseite Klimaschutz herstellen kann. Das ist in Kopenhagen und der Internationalen Klimaschutzinitiative abrufen. darüber hinaus sehr gelobt worden. Das BMU wird im Zusammenhang mit der Fast-Start- Dass wir erfolgreich sind, zeigt sich allein daran, dass Finanzierung dieses Jahr zudem 10 Millionen Euro für uns für das Jahr 2010 500 Projektskizzen vorlagen. Sie den UN-Anpassungsfonds im Rahmen des Kioto-Proto- werden zurzeit bewertet. 60 Projekte sind momentan in kolls bereitstellen. Die genaue Ausgestaltung der deut- der Vorauswahl. Ich finde, das zeigt den Erfolg dieser schen Fast-Start-Finanzierung im Haushaltsjahr 2011 ist Initiative. Das Angebot, das wir über die Fast-Start-Ini- Gegenstand der laufenden Haushaltsaufstellung. tiative machen, ist erfolgreich, transparent und wettbe- werbsorientiert. Außerdem orientiert es sich am interna- tionalen Klimaschutz. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kofler, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dr. Bärbel Kofler (SPD): Bevor Frau Kofler ihre zweite Nachfrage stellt, habe ich zwei weitere Fragende, zunächst Herrn Ott. Danke für die Antwort, Frau Staatssekretärin. Sie be- antworten meine Frage nach den Fast-Start-Mitteln mit der Auskunft, dass die Mittel unter anderem über die In- Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ternationale Klimaschutzinitiative, IKI, zur Verfügung Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä- gestellt werden. Ich finde das erstaunlich; denn in Ko- rin, herzlichen Glückwunsch zum knappen Sieg gestern penhagen wurde im Jahr 2009 zugesagt, in den Jahren bei der Bundespräsidentenwahl. Wie komme ich darauf? 2010 bis 2012 jeweils 420 Millionen Euro einzustellen. Die fast missglückte Wahl ist ja nicht das einzige Gur- IKI gibt es seit 2007 und war 2008 erstmals im Bundes- kenspiel Ihrer Mannschaft, das wir in der letzten Zeit ge- haushalt enthalten. Stimmen Sie mit mir darin überein, sehen haben. Ein weiteres Feld ist die Klimapolitik, bei dass das eine Umschichtung von bereits vorhandenen der Zusagen, die die Bundeskanzlerin und die Bundes- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5309

Dr. Hermann Ott (A) regierung insgesamt gemacht haben – auch Ihr Ministe- che Hausbanken in Entwicklungsländern denkt die (C) rium und das Ministerium des Kollegen Niebel –, Schritt Bundesregierung? für Schritt zurückgenommen werden: von einmal ver- sprochenen 420 Millionen Euro pro Jahr für die Jahre Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- 2010 bis 2012 runter auf 70 Millionen Euro. Jetzt soll desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- das, wenn man den Meldungen des Spiegel glauben darf, heit: auf null gesetzt werden. Herr Kollege, diesen Fonds haben wir bereits in Ko- Meine Frage lautet deshalb: Kämpfen Sie, kämpft das penhagen vorgestellt. Ich nehme an, die Kollegen, die Bundesministerium für Umwelt dafür, dass zumindest mitgefahren sind, werden Ihnen davon und auch von den diese geringen Mittel in Höhe von 70 Millionen Euro für Reaktionen darauf berichtet haben. Das Innovative an die Jahre 2011 und 2012 zusätzlich in den Haushalt ein- diesem Fonds ist, dass es sich um einen revolvierenden gestellt werden? Es gab, wie uns zu Ohren gekommen Fonds handelt. Es ist also kein Fonds, bei dem die öf- ist, schon internationale Interventionen aus Ländern des fentlichen Mittel aufgezehrt werden, sondern ein Fonds, Südens, die deutlich machen, dass Deutschland dabei ist, bei dem die Mittel immer wieder zurückfließen. sein Renommee zu verspielen. Wir wissen, dass wir den gesamten weltweiten Bedarf für Klimaanpassung, für den Aufbau von Kapazitäten Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- zum Klimaschutz, zum Ertüchtigen von Entwicklungs- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- und Schwellenländern, in erneuerbare Energien zu in- heit: vestieren, allein aus staatlichen Geldern nicht decken Vielen Dank für die Glückwünsche, die ich Christian können und wir Private dazu brauchen. Private wie- Wulff und nicht mir persönlich zurechne. Aber ich derum wollen sich absichern, wenn sie sich in Regionen nehme sie gern entgegen, Herr Kollege. bewegen, die, vorsichtig gesagt, für sie nicht immer übersichtlich sind; sie gehen dabei ein hohes Risiko ein, Zu unseren Verpflichtungen: Wir nehmen sie nicht sowohl hinsichtlich der Technologie als auch des Invest- nur ernst, sondern wir wollen und werden unseren Ver- ments. Deshalb haben KfW und Bundesumweltministe- pflichtungen nachkommen. Denn uns ist sehr bewusst, rium diesen Fonds über insgesamt 100 Millionen US- dass die Glaubwürdigkeit Deutschlands und auch der Dollar zusammen aufgelegt. Das BMU stellt das Eigen- Europäischen Union bei Cancún und allen weiteren Ver- kapital bereit. Wir übernehmen damit auch einen Teil der handlungen davon abhängt, Verpflichtungen, die wir ein- wirtschaftlichen Risiken, weil, wie ich eben erwähnt gegangen sind, einzuhalten. Insbesondere die Entwick- habe, private Investoren einen Anreiz brauchen. lungs- und Schwellenländer schauen darauf, dass (B) konkrete Projekte ans Laufen kommen. Wir haben gehört, dass dieser Fonds nicht nur gut an- (D) kommt, sondern auch nachgefragt wird. Zumindest ha- Ich glaube, die Zahlen, die ich hier nur kurz skizzie- ben wir nach Kopenhagen viele Anfragen dazu bekom- ren kann, zeigen, wie attraktiv, glaubwürdig und nachge- men. Auch diese Mittel sind innerhalb der IKI, die ich fragt die Projekte sind. Die Haushaltsverhandlungen für gerade erläutert habe, angesiedelt. das Jahr 2011 laufen. Ich kann Ihnen hiermit sagen, dass wir alles unternehmen werden, um die Zusagen zu hal- Wir erwarten, dass wir pro eingesetzten Euro unge- ten, die Haushaltsmittel tatsächlich abrufen zu können fähr das Fünf- bis Sechsfache herausbekommen bzw. an und zur Verfügung zu stellen. Investitionen auslösen können, wie wir es auch schon bei Angeboten innerhalb Deutschlands, aber auch bei anderen internationalen Angeboten umsetzen konnten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Miersch. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kofler. Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Staatssekretärin, die Kollegen haben eben schon Dr. Bärbel Kofler (SPD): darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung arge Pro- Ich möchte noch einmal nachfragen, weil ich die Ant- bleme damit hat, die internationalen Verpflichtungen wort auf die Frage des Kollegen sehr ausweichend fand. einzuhalten. Nun konnten wir diese Woche einer Presse- Eine Analyse der Zusagen der Kopenhagen-Konferenz meldung entnehmen, dass Sie offenbar für den interna- zeigt, dass alle Zusagen, die Sie in die Fast-Start-Initia- tionalen Klimaschutz Kredite geben wollen, dass Sie tive einrechnen, 2007 und 2008 gemacht bzw. in den einen Klimaschutzfonds einrichten wollen, der sich vor Haushalt eingestellt worden sind, nämlich 2008 auf dem allen Dingen an Privathaushalte in Entwicklungs- und G-8-Gipfel in Tokio und auf der UN-Biodiversitätskon- Schwellenländern richten soll. In der Pressemitteilung ferenz und 2007 auf dem UN-Klimagipfel auf Bali. Die heißt es: einzigen beiden Positionen, die neu in den Haushalt ein- Zugang zu Finanzierungsmitteln und Beratungsleis- gestellt worden sind, sind die je 35 Millionen Euro in tungen wird über die Hausbanken ermöglicht. den Etat des BMU und des BMZ. Stimmt es, dass diese Mittel im Haushalt 2011 auf null gesenkt werden sollen? Ich frage Sie – ich denke dabei an die Entwicklungs- Wie setzt sich das Umweltministerium dafür ein, dass länder –: Wäre es nicht sinnvoller, wirkliche Investitio- dies nicht passiert? Wie schätzen Sie die Auswirkungen nen zu ermöglichen, statt Kredite zu vergeben? An wel- auf die Verhandlungen in Cancún ein, wenn die Mittel 5310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Bärbel Kofler (A) auf null gesenkt werden? Dann stehen nämlich die dungen entzogen werden, dies auch gegenläufige Effekte (C) Glaubwürdigkeit unserer Politik und die Zuverlässigkeit auslöst. unserer Zusagen auf dem Spiel. Dass die Bundesregierung überzeugt ist, dass das Marktanreizprogramm ein sinnvolles Programm ist, Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- zeigt sich darin, dass in dem Regierungsentwurf zum desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Bundeshaushalt 2011 die Finanzierung dieses Pro- heit: gramms und der Internationalen Klimaschutzinitiative Frau Kollegin, ich habe gerade ausgeführt, dass die auf hohem Niveau fortgeführt wird. Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2011 laufen. Wir werden Anfang Juli den ersten Haushaltsentwurf im Ka- Zu den Auswirkungen des Marktanreizprogramms binett beraten, und wir setzen alles daran, dass wir un- auf Steuereinnahmen liegt dem BMU keine eigene Ana- sere Zusagen einhalten können. Dass wir insgesamt in lyse vor. wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben, dürfte auch der SPD nicht entgangen sein. Wir haben gerade den Vor- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mittag damit verbracht, über Haushaltsrisiken und die Frau Kofler, eine Nachfrage. damit verbundenen Schwierigkeiten zu sprechen. Dennoch sind wir uns unserer Verantwortung bewusst Dr. Bärbel Kofler (SPD): und werden die Haushaltstitel, die mit der Fast-Start-Fi- Ihre Formulierung „auf hohem Niveau fortgeführt“ nanzierung zusammenhängen, mit konkreten Projekten klingt zwar schön, ist aber natürlich zu hinterfragen. ausfüllen, um in Cancún glaubwürdig aufzutreten. Ich Können Sie mir bestätigen, dass für die beiden Initiati- glaube, dass es nicht nur um Haushaltstitel geht. Ich ven im Etat 2011 88 Millionen Euro weniger als im finde, dass Sie damit die Debatte ein wenig verkürzen. Etat 2010 zur Verfügung stehen? Wenn Ihnen keine Bitte vergessen Sie nicht, dass wir auf vielen Wegen un- Erkenntnisse über Steuereinnahmen vorliegen, wie be- terwegs sind, vor allem um wieder Vertrauen aufzu- werten Sie die Aussage des Ifo-Instituts zum Thema bauen, das offenbar in Kopenhagen zerstört wurde. Marktanreizprogramme, dass allein den Ländern und Kommunen in diesem Jahr 151 Millionen Euro an Steu- Wir haben mit der Konferenz auf dem Petersberg mit ereinnahmen entgehen, wenn jeder zweite Auftrag weg- interessierten und engagierten Entwicklungsländern und bricht? Industrieländern einen guten Aufschlag gehabt, um die Verhandlungen für Cancún vorzubereiten. Dabei ist Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- nicht nur das Engagement Deutschlands gewürdigt wor- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- (B) den, sondern wir haben auch mitgenommen: Je konkre- heit: (D) ter Initiativen und die bilaterale und trilaterale Zusam- Frau Kollegin, Ihre Sorge wegen des Programm- menarbeit laufen, desto überzeugender kann ein Land stopps, der verhängt werden musste, weil wir nach wie wie Deutschland oder auch die Europäische Union in vor eine Haushaltssperre von 115 Millionen Euro haben, Cancún auftreten und hoffentlich die Verhandlungen be- teile ich. Wir versuchen derzeit in intensiven Verhand- fruchten. lungen, diese Sperre aufzuheben. In der Tat stehen dann (Beifall bei Abgeordneten der FDP) in diesem Jahr weniger Mittel zur Verfügung als ur- sprünglich geplant. Die Nachfrage ist groß; das haben Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie gerade indirekt bestätigt. In diesem Jahr haben wir bereits 138,5 Millionen Euro für 90 000 Investitionsvor- Wir kommen jetzt zu Frage 2 der Kollegin Kofler: haben ausgezahlt. Wir müssen außerdem die Förderzusa- Wie bewertet das Bundesministerium für Umwelt, Natur- gen im KfW-Programm „Erneuerbare Energien“ aus den schutz und Reaktorsicherheit die Auswirkungen des Markt- anreizprogramms auf Investitionen und Steuereinnahmen als Vorjahren abarbeiten. Da Mittel reduziert wurden, wir Beitrag für einen wirtschaftlichen Aufschwung, und welche aber die Zusagen einhalten wollen, haben wir einen Pro- Anstrengungen unternimmt das BMU, damit das Marktan- grammstopp verhängt. reizprogramm und die Internationale Klimaschutzinitiative im Jahr 2011 fortgesetzt werden? Noch einmal: Konkrete Zahlen steuerlicher Natur kann ich Ihnen nicht geben. Was ich allerdings feststelle, Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- ist eine nach wie vor rege Aktivität bei Handwerksbe- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- trieben, nicht nur aufgrund des Marktanreizprogramms. heit: Diese Aktivität bezieht sich unter anderem auf den So- larbereich, etwa auf die PV-Installation. Frau Kollegin, ich möchte Ihnen wie folgt antworten: Das Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien setzt Mir scheint, dass wir durch die Förderung erneuerba- Anreize zur Errichtung von Anlagen zur Nutzung erneu- rer Energien auf verschiedenen Wegen insgesamt dafür erbarer Energien und stützt so die Nachfrage von Privat- sorgen, dass wir auf der einen Seite einen höheren Anteil personen und Unternehmen in diesem Bereich. Selbst- erneuerbarer Energien haben – er steigt erfreulicher- verständlich führt das dann auch zu zusätzlichen weise weiterhin – und dass wir auf der anderen Seite steuerlichen Effekten in diesen Sektoren. sehr wohl einen Beitrag zur Förderung der Investitionen von Handwerk und Mittelstand leisten. Gesamtwirtschaftlich ist dabei aber zu berücksichti- gen, dass dann, wenn öffentliche Mittel anderen Verwen- ( [FDP]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5311

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) Frau Kofler, Sie haben das Wort zu einer weiteren Was ein Vergnügen ist, nehme ich an!) Nachfrage. – Sehen Sie! Kein Neid auf den Plätzen der Opposition! Dr. Bärbel Kofler (SPD): Weil wir uns gerade mit der Historie und den Ent- Sie haben zum Schluss das Handwerk und den Mittel- wicklungen der Zukunft beschäftigen, möchte ich ein- stand angesprochen. Sie haben darauf hingewiesen, dass mal darauf hinweisen, dass es zur Zeit von Rot-Grün das Marktanreizprogramm durchaus sehr attraktiv ist. – da gab es dieses Programm auch schon – ein ständiges Können Sie bestätigen, dass trotz dieser Attraktivität Auf und Ab gab und wir deutlich weniger Geld zur Ver- eine Kürzung in diesem Haushaltstitel vorgesehen ist? fügung hatten, als wir es jetzt haben. Wir haben in der Wie bewerten Sie die Aussagen zahlreicher Handwerks- Großen Koalition gemeinsam dafür gesorgt, dass die betriebe, kleiner Unternehmen und Verbände in den ver- Mittel des MAPs verrechtlicht wurden, und wir haben schiedensten Regionen Deutschlands, die schwere wirt- den entsprechenden Ansatz mehr als verdoppelt, infolge schaftliche Einbußen befürchten? Ist es richtig, Mittel guter Zertifikatserlöse sogar fast verdreifacht. Dieser für Programme zu kürzen, die ökologisch sinnvoll sind? unmittelbare Zusammenhang zwischen Zertifikatserlö- sen und MAP war im Haushalt 2009 nicht mehr gege- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- ben. Da hat das Umweltministerium noch unter Minister desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Gabriel nicht mehr hart genug dafür gekämpft, das Geld heit: zu bekommen. Frau Kollegin, wie ich gerade gesagt habe, bemühen wir uns seit Wochen und Monaten unter tatkräftiger Mit- Das Geld für das MAP ist aber geblieben. Wir haben hilfe der Fachpolitiker, diese Haushaltssperre aufzuhe- dafür gesorgt, dass über einen langen Zeitraum sehr sta- ben. Ich sage erneut, dass wir nach wie vor über den bil sehr viel in den Klimaschutz investiert wurde. Noch Haushaltsentwurf 2011 verhandeln. einmal: Gerade in diesem Bereich sollen die Haushalts- verhandlungen dafür sorgen, dass wir die Investitionen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: stabil halten; denn wir wissen gerade aus der rot-grünen Herr Ott, bitte. Zeit, was ein dauerndes Auf und Ab bei Förderprogram- men für die Wirtschaft und die Investoren bedeutet. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wissen auch, dass die Zertifikatspreise, die wir in Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin der Kollegin guten Zeiten ansetzen konnten – etwa 20 Euro –, in der (B) Kofler sehr dankbar, dass sie die Frage nach den steuerli- Rezession auf mittlerweile knapp 15 Euro gerutscht (D) chen Wirkungen der Streichung des Marktanreizpro- sind. Auch da fehlt es an Geld. Das müssen und wollen gramms gestellt hat. Ich bin etwas enttäuscht über die wir kompensieren; wir wollen an der Stelle Sicherheit Antwort. Die Bundesregierung ist sich überhaupt nicht schaffen. Das weiß auch das Wirtschaftsministerium. In- darüber im Klaren, was für negative, schädliche Folgen sofern verhandeln wir beim Haushalt 2011 über Finanz- ihre Handlung auf die Konjunktur hat. sicherheit. Parallel kämpfen wir beim Haushaltsaus- Ich möchte den Blick von den Steuereinnahmen ab- schuss und beim Finanzminister gemeinsam für die und zu den wirtschaftlichen Aktivitäten hinwenden. Ich Entsperrung der Mittel. sehe den Kollegen Peter Hintze aus dem Wirtschafts- ministerium bei Ihnen sitzen. Mein Kollege ist er nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nur als MdB, sondern auch als Wuppertaler Abgeordne- ter. Haben Sie sich mit dem Kollegen vom Wirtschafts- Jetzt der Kollege Miersch. ministerium einmal zusammengesetzt oder haben Sie vor, das zu tun, um die Auswirkungen der Streichungen Dr. Matthias Miersch (SPD): beim Marktanreizprogramm auf die lokale und regionale Frau Staatssekretärin, Sie haben eben davon gespro- Wirtschaft zu untersuchen? chen, dass die Bundesregierung in Kopenhagen viel Lob Schätzungen gehen nämlich davon aus, dass allein der geerntet habe und dass ich mir darüber von Kollegen in Wuppertal ansässigen Wirtschaft, den kleinen und hätte berichten lassen können. Ich will Sie darauf hin- mittelständischen Unternehmen, mehrere 100 000 Euro weisen, dass ich einer der dort anwesenden Kollegen entgehen werden. Meine Frage ist also: Setzen Sie sich war. Ich konnte allerdings kein Lob vernehmen, sondern mit dem Kollegen Hintze und anderen zusammen, um viel Entsetzen über das Agieren der Bundesrepublik die Auswirkungen einer Streichung des Marktanreizpro- Deutschland und der Europäischen Union. Die Grund- gramms auf die lokale Wirtschaft zu untersuchen? sätze des Klimaschutzes und die Glaubwürdigkeit sind beim Marktanreizprogramm doch an eklatanter Stelle Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- verletzt worden. Oder würden Sie allen Handwerkern, desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Handwerkspräsidenten und Unternehmen, die in den heit: letzten Wochen das BMU kontaktiert haben, nicht recht Herr Kollege, zu Ihrer Erbauung, vielleicht auch zu geben, dass der Förderstopp eine entscheidende Investi- Ihrem Missfallen muss ich Ihnen sagen, dass ich quasi tionsbremse ist und dass alles getan werden muss, damit täglich mit Peter Hintze zusammensitze. sich so etwas im Haushalt 2011 nicht wiederholt? 5312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- (C) desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: heit: Zum einen: Ich teile Ihre Einschätzung zu Kopenha- Herr Kollege Miersch, Ihre Frage nimmt offensicht- gen nicht. lich Bezug auf Art. 33 der IVU-Richtlinie über Ausnah- Zum zweiten – ich wiederhole mich –: Wir finden ge- men von emissionsbegrenzten Anforderungen an Groß- nau wie die SPD und die Grünen, dass das Marktanreiz- feuerungsanlagen mit einer begrenzten Restlaufzeit. Es programm wichtig ist. Wir bedauern den jetzigen För- handelt sich um die sogenannte Opt-out-Regelung. Im derstopp und arbeiten gemeinsam an der Aufhebung der Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 15. Februar Sperre. 2010 war bereits eine entsprechende Regelung vorgese- hen. Sie war aus Sicht der Bundesregierung akzeptabel, weil sie zeitlich bis Ende 2023 und auf insgesamt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 20 000 Betriebsstunden begrenzt war. Der gefundene Herr Kollege Fell. Kompromiss stellt gegenüber dem Gemeinsamen Stand- punkt des Rates aus Sicht des BMU eine Verbesserung Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dar, weil die Restlaufzeit auf 17 500 Betriebsstunden be- grenzt wurde. Frau Kollegin Staatssekretärin Reiche, ich nehme Ihre Aussage, dass Ihnen der Haushaltsstopp beim Marktan- reizprogramm Sorgen macht und Sie negative Auswir- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kungen befürchten, gerne zur Kenntnis. Diese negativen Dazu gibt es keine Nachfrage. Auswirkungen sind aber seit langem bekannt: Mit dem Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Miersch auf: Tag des Förderstopps waren am Markt sofort Stornierun- gen erfolgt. Firmen haben sich hilfesuchend an uns ge- Welche Erkenntnisse hat das Bundesministerium für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über die Auswirkun- wandt. Als ich einige Wochen später die Bundesregie- gen des seit fast 20 Jahren aus einem explodierten Bohrloch rung fragte, haben Sie mir für die Bundesregierung der Firma Exxon Mobil in der Nordsee ausströmenden Me- schriftlich geantwortet, dass der Bundesregierung keine thangases auf die Umwelt und das Klima, und in welcher Auswirkungen des Förderstopps beim Marktanreizpro- Weise wird dazu mit der britischen Regierung zusammengear- gramm bekannt sind. Ich frage Sie: Inwiefern sind Ihnen beitet? inzwischen Auswirkungen bekannt? Haben Sie Zahlen, die belegen, wie massiv der Einbruch der Nachfrage Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- nach Solarwärmeanlagen, Holzpelletsanlagen, Wärme- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- (B) pumpen und anderen Heizungsanlagen war, nachdem heit: (D) diese nicht mehr durch entsprechende Programme geför- Herr Kollege Miersch, ich hätte Ihnen gerne noch et- dert wurden? Wie groß ist der Schaden, der durch den was zur EU-Richtlinie und zu den Verhandlungen er- Förderstopp entstanden ist? zählt. Aber ich komme zu Ihrer nächsten Frage. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das können Sie Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- mir dann ja schreiben!) desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: – Ja, das schreibe ich Ihnen. Konkrete Zahlen über Absagen oder nicht erfolgte Ich möchte Ihnen wie folgt antworten. Vom britischen Aufträge kann ich Ihnen nicht nennen. Ich habe bereits Umweltministerium, dem Department for Environment, Frau Kollegin Kofler geantwortet, dass keine konkreten Food and Rural Affairs, wurde dem Bundesumwelt- steuerlichen Daten vorliegen. ministerium im März 2010 auf Anfrage Folgendes mit- geteilt: Bei einer Explorationsbohrung durch Mobil Oil Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wurde im November 1990 eine vergleichsweise nahe an der Oberfläche liegende, unter hohem Druck stehende Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Gerd Gasblase – shallow gas deposit – getroffen, wodurch es Bollmann zum Zeitplan für die Umsetzung der EU-Ab- zu einem Blow-out mit Bildung eines großen Kraters fallrahmenrichtlinie in nationales Recht. Diese Frage kam. Versuche, das Leck zu schließen, verliefen erfolg- wird schriftlich beantwortet. los. Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Scheer zur regiona- len Wertschöpfung und Akzeptanz von Windenergiean- In den 1990er-Jahren hat sich der Gasausstrom so lagen werden ebenfalls schriftlich beantwortet. weit reduziert, dass das Leck weder als Gefahr für die Umwelt noch für die Schifffahrt angesehen wurde. Die Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Kollegen Stelle wurde aber in Seekarten mit Warnhinweisen mar- Miersch auf: kiert. Es gibt Hinweise, dass sich im Bereich der Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur- Leckage eine spezielle Ökosystemstruktur ausgebildet schutz und Reaktorsicherheit die Einigung zwischen dem Eu- hat. Nach den vom Kieler Leibniz-Institut für Meeres- ropäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rahmen der wissenschaften, dem IFM-GEOMAR, bestätigten Infor- Verhandlungen über die Novelle zur IVU-Richtlinie über eine mationen betrug der Gasaustritt 1994 circa 25 Prozent Übergangsfrist bis Ende 2023 für veraltete Kraftwerke und Großfeuerungsanlagen, innerhalb der diese umgerüstet oder des gesamten Methanausstoßes der Nordsee. Neuere abgeschaltet werden müssen? Messungen aus dem Jahr 2006 zeigten, dass vom Me- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5313

Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche (A) thanstrom aus dem Leck circa ein Drittel an die Was- gewisse Risiken gibt. Ich habe aber auch schon im Aus- (C) seroberfläche gelangt und zwei Drittel im Meerwasser schuss erläutert, dass wir sowohl an die Gas- als auch an gelöst oder von Bakterien oxidiert werden. Dabei ist es die Ölexploration, bei dem, was wir in Deutschland zu im Bereich des Kraters zur Ausbildung eines Ökosys- verantworten haben – Stichwort: Doggerbank –, mit sehr tems mit hochspezialisierten Bakterien, Muscheln, Blu- viel höheren Standards, mit sehr viel mehr Überprüfung, mentieren und Fischen gekommen. Die Stärke der Absicherung von Risiken sowie auch mit anderen Er- Quelle ist lokal erheblich. Die Auswirkungen dieser ein- kundungsmethoden herangehen, als das beispielsweise zelnen Quelle auf das Weltklima sind eher gering. im Golf von Mexiko der Fall gewesen ist. Was tun wir? Es gibt in der Tat einen Austausch mit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Fachleuten aus Niedersachsen, die wir hinsichtlich der Das Wort zu einer Nachfrage hat Herr Miersch. Förderung in Schleswig-Holstein fachlich mit in An- spruch genommen haben. Auch Bundesumweltminister Dr. Matthias Miersch (SPD): Röttgen hat kürzlich in einem Interview noch einmal da- Frau Staatssekretärin, teilen Sie meine Einschätzung, rauf hingewiesen, dass unsere gesamte Politik darauf ge- dass wir somit auch vor der Haustür – in der Nordsee – richtet sein muss, weniger Explorationen zu haben; eine Situation haben, wo wir es mit einem Leck zu tun Stichwort: Weg vom Öl, weg vom Verbrauch fossiler haben – allerdings nicht mit einem Ölleck – und es mit Energieträger. Solange wir diese aber brauchen, müssen den technischen Möglichkeiten seit 20 Jahren nicht ge- wir, wo es in unserer Verantwortung liegt, alles unter- lingt, es zu schließen? nehmen, die Risiken möglichst zu minimieren.

Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Fell. Anders als im Golf von Mexiko – ich glaube, nach dieser Parallele fragen Sie – handelt es sich hier nicht Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): um ein Bohrloch, sondern um einen Krater, der wohl nur Frau Kollegin Reiche, ich will das nur klarstellen, mit ganz erheblichen Schwierigkeiten zu verschließen weil sich ansonsten ein interessanter und eigentlich un- wäre, was in der Vergangenheit auch gescheitert ist. Von glaublicher Verdacht entwickeln könnte, nachdem Sie der Leckage geht aber – anders als im Golf von Mexiko – auf die Frage des Herrn Kollegen Miersch eine Antwort keine vergleichbare Umweltgefährdung aus. Ich habe Ih- gegeben haben, nach der er gar nicht gefragt hatte, näm- nen ja gesagt, dass sich verschiedene Institute das ange- (B) lich einem Dimensionsvergleich zwischen dem Krater in (D) guckt haben. Noch einmal: Etwa ein Drittel des Methans der Nordsee, aus dem Methan ausgestoßen wird, und gelangt an die Oberfläche; zwei Drittel werden im Meer- dem Leck im Golf von Mexiko. Ich bin mir sicher, dass wasser gelöst bzw. von spezialisierten Bakterien, die Herr Miersch nicht gemeint hat, dass dieser Krater in der sich im Bereich der Austrittsstelle angesiedelt haben, Nordsee die gleiche Dimension hat. Sie haben es aber verstoffwechselt. Insofern wird auch ein Teil des austre- auf diese Ebene gehoben und gesagt, solche Auswirkun- tenden Methans eliminiert. Die Bakterien – so sagen uns gen gebe es nicht. Sie haben nur entlastende und be- Ökologen – bilden zudem eine lokale Nahrungsgrund- schwichtigende Argumente gebracht, die diesen Methan- lage für andere Organismen. gasausstoß eigentlich verharmlosen und verniedlichen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deswegen will ich noch einmal nachfragen, ob es Herr Miersch. wirklich Ihre Meinung ist, dass man solche Leckagen und Umweltauswirkungen bei den konventionellen Dr. Matthias Miersch (SPD): Energieträgern Öl und Gas nur dann als schlimm emp- findet, wenn sie Auswirkungen haben, wie sie im Golf Das war – jedenfalls nach meiner Auffassung – nicht von Mexiko durch das dortige Bohrloch entstanden sind. meine Frage, aber ich will jetzt meine zweite Nachfrage damit nicht verbrauchen. Wir konnten vernehmen, dass in den letzten Wochen sogar Bundes- bzw. Landesum- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- weltminister die Bundesregierung aufgefordert haben, desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- die Sicherheitsvorkehrungen und die Gesetze in Bezug heit: auf Tiefsee-, aber auch andere Bohrungen zu prüfen. Herr Kollege, wenn Sie unterstellen, dass die Bundes- Können Sie mir über die Schritte, die das Bundesum- regierung Havarien oder auch Risiken nicht ernst nehme, weltministerium diesbezüglich in den letzten Wochen dann weise ich dies wiederum zurück. Ich weise noch unternommen hat, etwas sagen? einmal darauf hin, dass Explorationen hierzulande mit sehr viel höheren Sicherheitsstandards gefahren werden. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Sowohl bei der Exploration als auch beim Betrieb über- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- prüfen wir sehr viel mehr. Ferner werden die Mitarbeiter heit: geschult. Das habe ich im Ausschuss erläutert. Das, was Zum einen, Herr Kollege, haben Sie völlig recht, ich mündlich vorgetragen habe, habe ich Ihnen auch wenn Sie bemerken oder in Ihrer Frage implizieren, dass schriftlich zukommen lassen. Ich bin mir sicher, Sie wer- es, wenn man Erdöl oder auch Erdgas ausbeutet, immer den das intensiv gelesen haben. 5314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche (A) „Verharmlosung“ ist nicht das Stichwort, sondern Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- (C) „Minimierung der Risiken“, so gut es technisch geht. Ich desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- bin überzeugt, dass sowohl das zuständige Landesamt heit: für Bergbau, Energie und Geologie des Landes Nieder- Herr Kollege Kaczmarek, Sie erkundigen sich nach sachsen als auch die Unternehmen daran arbeiten, Mög- dem Stand der Erarbeitung der Grundwasserverordnung lichkeiten zu entwickeln, um noch genauer hinzu- und insbesondere nach der Beteiligung des Bundestages, schauen. In der Vorlage, die Ihnen das BMU hat was mich nicht verwundert. zukommen lassen, finden Sie Angaben dazu, welche Si- cherheitsstandards bei uns gelten, welche Überprüfun- Der Entwurf einer Verordnung zum Schutz des gen bei uns Standard sind und welche Anforderungen es Grundwassers – so möchte ich Ihnen antworten – ist zur- gibt. Insofern möchte ich Ihre Aussage, dass wir Risiken zeit in der Abstimmung zwischen den Ressorts. Es ist verharmlosen oder erst dann aktiv würden, wenn etwas geplant, den Entwurf Mitte Juli 2010 dem Kabinett zur passiert, zurückweisen. Das ist definitiv nicht der Fall. Billigung vorzulegen. Im September 2010 soll der Ent- wurf dann im Bundesrat behandelt werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Konkretisierung des Besorgnisgrundsatzes ent- Herr Ott. sprechend § 48 Wasserhaushaltsgesetz, der der Zustim- mung des Bundestages bedarf, wurde im Verlauf der Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ressortabstimmungen zunächst aus dem Verordnungs- entwurf herausgenommen. Damit bedarf der Verord- Vielen Dank. – Ich glaube, ich muss meinen Kollegen nungsentwurf nicht mehr der Zustimmung des Bundesta- Hans-Josef Fell in Schutz nehmen. Er meinte das sicher- ges. Die Konkretisierung der Anforderungen aus dem lich nicht so, dass Sie irgendetwas verharmlosen wollen. § 48 des Wasserhaushaltsgesetzes soll zu einem späteren Ich muss in Bezug auf die Frage des Kollegen Zeitpunkt im Rahmen einer Artikelverordnung zusam- Miersch eine Nachfrage stellen. Gerade im Hinblick auf men mit der geplanten Ersatzbaustoffverordnung und die Befürchtung, dass auch im Golf von Mexiko die ge- der Novelle der Bundes-Bodenschutzverordnung gere- samte Kammer einbricht, dort ein Riesenkrater entsteht gelt werden. und sich das gesamte Öl auf einmal in den Ozean er- gießt, frage ich Sie: Gibt es im BMU Überlegungen, ob Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht alle Bohrungen unterhalb des Meeresspiegels un- Herr Kaczmarek, eine Nachfrage? – Bitte schön. terlassen werden sollten bzw. ob zumindest in deutschen Gewässern, auf die wir direkt Einfluss haben, keinerlei (B) Bohrungen mehr erfolgen sollten? Bei einer solchen Oliver Kaczmarek (SPD): (D) Bohrung kann immer ein Unfall passieren. Es kann im- Zunächst einmal, Frau Staatssekretärin, vielen Dank mer passieren, dass Kavernen einstürzen und plötzlich für die Beantwortung meiner Frage. – Ich beziehe mich eine Situation entsteht, die überhaupt nicht mehr zu be- auf die Schadstoffeinträge bzw. auf die Vorgaben, die zu herrschen ist. Wir haben nur Glück, dass bei diesem Erd- erlassen sind. Nach Prognosen wird es so sein, dass gasausstoß anscheinend keine größeren Umwelt- und knapp die Hälfte der Grundwasserkörper bis 2015 kei- Menschenschäden zu beklagen sind. Gibt es solche nen chemisch guten Zustand erreichen wird. Überlegungen im BMU? Viele Verbände haben darauf hingewiesen, dass die diffusen Einträge aus der Landwirtschaft in dem vorlie- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- genden Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt wer- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- den, der sich – wie Sie sagen – in der Abstimmung be- heit: findet. Deswegen die Frage: Wie beurteilen Sie diese Es gibt keine Überlegungen, laufende Vorhaben zu Stellungnahmen? Können Sie sie beurteilen, und können unterbinden. Außer den 17 Förderbohrungen auf der Sie Auskunft darüber geben, ob es in dieser Hinsicht Mittelplate und der auf der A6-A – Informationen dazu noch Änderungsbedarf gibt? habe ich Ihnen zukommen lassen – sind keine Details zu Explorationsvorhaben oder Planungen bekannt. Weitere Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- sind unserer Kenntnis nach nicht in Planung. desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Bundesumweltministerium hatte einen Entwurf Wir kommen jetzt zu Frage 8 der Kollegin Ute Vogt, geplant, der auf einem Schwellenwertkonzept basiert. Im die schriftlich beantwortet wird, ebenso wie die Fragen 9 Laufe der Ressortverhandlungen ist man allerdings zu und 10 des Kollegen Frank Schwabe und die Frage 11 dem Schluss gekommen, dass ein Schwellenwertkon- der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl. zept, das wichtig für die Einträge ist, auf die Ihre Frage Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Oliver abzielt, erst in einem nächsten Anlauf, nämlich dann, Kaczmarek auf, die jetzt beantwortet wird: wenn wir die Ersatzbaustoffverordnung verabschieden, vorgelegt wird. Es war angemahnt worden, dass die Poli- Wie ist der aktuelle Stand der Erarbeitung der Grundwas- tikfolgenabschätzung für die einzelnen Stoffe, die wir im serverordnung innerhalb der Bundesregierung, und in welcher Form plant die Bundesregierung die Beteiligung des Deut- Blick hatten, noch nicht umfassend genug gewesen ist, schen Bundestages? dass Materialwerte weiter bewertet werden müssten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5315

Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche (A) Uns als Bundesumweltministerium kommt es darauf Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Rachel steht (C) an, die Wasserqualität auf höchstem Niveau zu halten. für die Beantwortung zur Verfügung. Wir halten das auch mit Blick auf den Ressourcenschutz Wir beginnen mit der Frage 13 des Kollegen Röspel für wichtig. Da wir fachlich so gut wie möglich arbeiten zum Beitrag der Grünen Gentechnik: wollen, haben wir das Schwellenwertkonzept noch einmal zurückgenommen, um die fachliche Arbeit zu er- Ist die Erklärung der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, dass die sogenannte Grüne ledigen und wissenschaftlich das zu erbringen, was ge- Gentechnik einen Beitrag zur Welternährung leisten kann fordert wurde, und wollen dann im Herbst an die Erar- (Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und beitung der Ersatzbaustoffverordnung gehen, die das Forschung „Gentechnik kann Beitrag zur Welternährung leis- Schwellenwertkonzept umfassen soll. ten“ vom 8. Juni 2010), dahin gehend zu verstehen, dass die Bundesministerin Dr. Annette Schavan davon ausgeht, dass transgene Pflanzen einen wesentlichen Beitrag zur Lösung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: des Problems der Welternährung leisten können, und auf wel- chen wissenschaftlichen Gutachten basiert diese Argumenta- Noch eine Nachfrage? – Bitte sehr. tion?

Oliver Kaczmarek (SPD): Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Meine Frage geht in die Richtung, die Sie schon ange- desministerin für Bildung und Forschung: sprochen haben. Ich beziehe mich auf die Schadstoffein- Lieber Herr Kollege Röspel, Frau Bundesministerin träge durch Bauprodukte im Grundwasser. Wenn ich Annette Schavan geht davon aus, dass die Gentechnik richtig informiert bin, haben Sie in dem ersten Entwurf einen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherheit leis- geregelt, dass die Erlaubnis nach Wasserhaushaltsgesetz ten kann. Die Potenziale der Gentechnik werden in einer dann erteilt wird, wenn die Schwellenwerte insgesamt Vielzahl von Publikationen beschrieben, beispielsweise nicht überschritten werden. Es gibt einen neuen Entwurf, in der Broschüre Grüne Gentechnik der Deutschen For- nach dem es möglich sein soll, dass verunreinigtes schungsgemeinschaft sowie in der dort angegebenen Grundwasser in einem angemessenen Zeitraum toleriert Literatur, aber auch in einer Vielzahl von referierten wis- wird, nämlich im Durchschnitt über einen kurzen Zeit- senschaftlichen Publikationen. In dem Zusammenhang raum und in räumlich begrenztem Volumen. Können Sie verweise ich auf Nature Biotechnology von 2010, Jahr- sagen, auf welcher Grundlage Sie zu diesen Veränderun- gang 28, Heft 4, Seite 319 bis 321. gen gekommen sind und ob das mit den EU-Vorgaben vereinbar ist? René Röspel (SPD): Vielen Dank. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- (B) (D) desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: heit: Dann kommen wir zu zwei Fragen der Kollegin Ich fange mit der Frage nach den EU-Vorgaben an. Ja, Sager. Hier geht es um die Umstrukturierung der medizi- es ist damit vereinbar. Allerdings sind wir auch unter nischen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein. zeitlichem Druck, weil wir die Verordnung schon längst Zunächst die Frage 14: hätten umsetzen müssen und uns in einem Vertragsver- letzungsverfahren befinden. Wie steht die Bundesregierung zu den Plänen, wie sie in der Presse zu lesen waren, die Medizinerausbildung aus der Das Schwellenwertkonzept geht – das haben Sie völ- Universität Lübeck herauszulösen und in das Forschungszen- trum Borstel zu integrieren und anschließend das Forschungs- lig richtig gesagt – davon aus, dass dann, wenn ein be- zentrum Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die stimmter Wert unterschritten wird, eine Genehmigung Helmholtz-Gemeinschaft zu überführen, und ist vorgesehen, erteilt wird. Die Philosophie dahinter war, einen hohen im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der medizini- Umweltschutz, einen hohen Schutz des Gutes Wasser zu schen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein zusätzliche Bundesmittel nach Schleswig-Holstein zu transferieren? haben, allerdings gepaart mit Verfahrenserleichterungen. Dieses Konzept hat noch nicht jeden überzeugt. Deswe- gen haben wir das Schwellenwertkonzept zunächst he- Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- rausgenommen. Wir wollen es dann in die Ersatzbau- desministerin für Bildung und Forschung: stoffverordnung, die in einem unmittelbaren fachlichen Frau Kollegin Sager, die Universität Lübeck ist eine Zusammenhang auch mit den von Ihnen erwähnten Bau- Hochschule in der Rechtsträgerschaft des Landes zusatzstoffen steht, einbringen. Unser Ziel ist es aber zu- Schleswig-Holstein. Maßnahmen zur strukturellen Um- nächst, bei der Europäischen Kommission etwas abzu- gestaltung der Medizinischen Fakultät an der Universität liefern, was die Richtlinie eins zu eins umsetzt und für Lübeck fallen demnach logischerweise nicht in die Ent- einen hohen Wasserschutz sorgt. Wir hoffen, noch in scheidungskompetenz des Bundes, sondern in die origi- diesem Jahr mit einem auch ein Schwellenwertkonzept näre Zuständigkeit des jeweiligen Landes, in dem Fall Schleswig-Holsteins. umfassenden Entwurf aufwarten können. Insofern sind auch Aussagen der Bundesregierung zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Finanzierungs- oder Umsetzungsszenarien, wie einer Vielen Dank. möglichen Integration von Teilbereichen der Universität Lübeck in das Forschungszentrum Borstel oder Überfüh- Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes- rungen von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz- ministeriums für Bildung und Forschung. Der Kollege Gemeinschaft, in Anbetracht des geltenden föderalisti- 5316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel (A) schen Kompetenzgefüges und des aktuellen Verfahrens- und Herrn Kubicki, das genau dieses Thema zum Ge- (C) standes nicht angezeigt. genstand hatte. Die von meiner Kollegin zitierten Sätze sind dort so gesagt worden. Insofern verwundern Ihre Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Antworten. Vielleicht können Sie mit der folgenden Eine Nachfrage, Frau Sager. Frage mehr anfangen: Hält es die Bundesregierung für möglich, durch die von der Bundesforschungsministerin angeregte Rücknahme des Mehrwertsteuerprivilegs für Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hotels die Einnahmesituation Schleswig-Holsteins so zu Herr Staatssekretär, Ihre Ministerin Frau Schavan verbessern, dass die dortige schwarz-gelbe Landesregie- wurde am 16. Juni mit der Aussage zitiert: „Ich will rung vom Abbau der Medizinstudienplätze in Lübeck nicht mit ansehen, wie der Studiengang abgewickelt absehen kann? wird“ und am 17. Juni mit dem Satz: „Wir prüfen Mög- lichkeiten einer Hilfe“ – alles bezogen auf die Ankündi- ( [CDU/CSU]: Was ihr damit gung, dass im Sparpaket von Schleswig-Holstein die alles bezahlen wollt!) Abwicklung des Studiengangs Medizin an der Universi- tät Lübeck vorgesehen ist. Was haben Ihre Prüfungen in – Das hat die Ministerin angeregt. Bezug auf die Möglichkeit einer Hilfe inzwischen erge- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die Minis- ben, und in welcher Weise will Frau Schavan der Ab- terin ist eine hervorragende Fachkraft!) wicklung dieses Studiengangs entgegentreten? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: desministerin für Bildung und Forschung: Herr Kollege, mit Ihrer Frage beziehen Sie sich auf Frau Kollegin Sager, bei der genaueren Betrachtung die Frage 17 des Kollegen Sönke Rix. – Die Mehrwert- des Themas wird deutlich, dass die Universität Lübeck und die Frage der Ausgestaltung oder Veränderung der steuerhöhe wird in einer Kommission noch einmal in Medizinischen Fakultät in die Entscheidungskompetenz Ruhe behandelt werden. Insofern wäre es zu früh, heute des dafür zuständigen Landes Schleswig-Holstein fallen abschließende Aussagen dazu zu machen. und insofern auch Schleswig-Holstein entsprechend der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE eigenen politischen Prioritätensetzung und auch den GRÜNEN]: Das ist natürlich schade! Darf ich fachlichen Einsichten in der Frage zu entscheiden hat. noch eine Frage stellen?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) (D) Eine weitere Nachfrage, Frau Sager. Nein, da Sie nicht die Ursprungsfrage, sondern nur eine Nachfrage gestellt haben. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Darf ich das so verstehen, dass die Aussagen von Frau Ich gebe jetzt noch drei Nachfragenden zu dieser Schavan: „Ich will nicht mit ansehen, wie der Studien- Frage das Wort. Danach ist die Zeit für unsere Frage- gang abgewickelt wird“ und: „Wir prüfen Möglichkeiten stunde abgelaufen. – Herr Rossmann, bitte. einer Hilfe“ in Wirklichkeit nur heiße Luft gewesen sind und dass in Wirklichkeit gar nichts geprüft wird? Oder Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): haben Sie Pläne im Zusammenhang mit der angeblichen Herr Kollege Rachel, ist es richtig, dass der Bund in Zusage, dass Schleswig-Holstein bis zu 100 Millionen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz vertreten ist? Euro als Belohnung dafür bekommen soll, dass es dem Wenn das so ist und wenn sich diese Gemeinsame Wis- Wachstumsbeschleunigungsgesetz am Ende im Bundes- senschaftskonferenz aktuell damit befasst, einen Ge- rat doch zugestimmt hat? samtplan hinsichtlich des Bedarfs an und der Versorgung mit Medizinstudienplätzen für Deutschland mit zu erar- Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- beiten: Macht es dann nicht doch Sinn, dass sich auch desministerin für Bildung und Forschung: der Bund dazu stellt? Das dürfen Sie so nicht verstehen. Ich verweise da- rauf, dass selbstverständlich bei allen Aktivitäten sowohl Meine konkreten Fragen lauten: Wie stellt sich der die Länder als auch der Bund die jeweiligen gesetzlichen Bund dazu, dass in Lübeck real hochqualifizierte Stu- und verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten ha- dienplätze, die zu einer Bestbewertung der Medizini- ben, und auch die Bundesbildungs- und -forschungsmi- schen Fakultät an dieser Hochschule beigetragen haben, nisterin wird dies selbstverständlich tun. abgebaut werden sollen, was nicht nur für Schleswig- Holstein, sondern hinsichtlich der gesamten Versorgung mit Studienplätzen der Medizin in Deutschland einen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gravierenden Einschnitt bedeuten könnte? Können Sie Herr von Notz. bestätigen, dass dies von der Ministerin durchaus auch sehr kritisch wahrgenommen worden ist, weshalb sie Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE sich ja dafür engagiert hat? Von daher ist es umso unver- GRÜNEN): ständlicher, dass Sie davon jetzt weder etwas wissen Herr Staatssekretär, am 14. Juni 2010 gab es ein Tref- noch die Ministerin in ihrem Bemühen stützen wollen, fen zwischen der Bildungsministerin, Herrn Carstensen dieser besonderen Universität Lübeck für den medizini- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5317

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) schen Bereich eine Unterstützung zu geben – egal, auf den, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregie- (C) welchem Weg. rung daraus für die weitere Ausgestaltung und Bewer- tung der Exzellenzinitiative? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Herr Kollege Dr. Rossmann, die Studienplätze für desministerin für Bildung und Forschung: Medizin in der Bundesrepublik Deutschland sind Gegen- Herr Kollege Röspel, die Exzellenzinitiative hat sich stand in den Gesprächen zwischen den Bundesländern bisher als außerordentlich interessante und erfolgreiche und der Bundesregierung in den dafür vorgesehenen Stimulierung der Forschung an den deutschen Hoch- Gremien. Eine Einzelbetrachtung eines Hochschulstand- schulen herausgestellt. Wir haben bereits in den ersten ortes kann für die dafür zuständige Landesregierung be- Monaten und Jahren feststellen können, dass sie eine dy- sonders relevant sein, die dort auch in der Verantwortung namische Entwicklung an den Hochschulen und eine en- ist. Die Länder haben generell die Möglichkeit, eine Un- gere Kooperation zwischen den Hochschulen und außer- terstützung des Bundes im Rahmen des Hochschulpakts universitären Forschungspartnern bewirkt hat. Wir als 2020 zu erhalten, wenn sie zusätzliche Studienplätze im Bundesregierung sind sehr gespannt, welche Bundeslän- Bereich Medizin zur Verfügung stellen. der und welche Hochschulstandorte sich in der dritten (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darf ich Runde der Exzellenzinitiative bewerben werden. Die noch eine zweite Frage stellen?) Bundesregierung wird weder die Initiative ergreifen, da- mit sich einzelne Regionen bewerben, noch wird sie ein- zelne Regionen davon abhalten, sich zu bewerben. Es ist Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ausschließlich Aufgabe der zuständigen Hochschulinsti- Frau Hiller-Ohm, bitte. tutionen, dies gegebenenfalls im Zusammenwirken mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen und gege- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): benenfalls in einer Diskussion mit dem zuständigen Herr Staatssekretär, durch die Schließung der Medizi- Land zu tun. Die Bewertung der anschließend eingehen- nerausbildung an der Universität Lübeck ist auch der Be- den Vorschläge wird ausschließlich auf wissenschaftli- stand der gesamten Universität Lübeck stark gefährdet. cher Grundlage und anhand wissenschaftlicher Expertise Ich frage Sie, welche Schlussfolgerungen die Bundesre- erfolgen. gierung aus den Befürchtungen zieht, dass mit der (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darf man Schließung der Universität Lübeck auch Forschungsein- noch eine Frage stellen?) richtungen in der Region Schaden nehmen könnten? (B) (D) Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft hat zum Bei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: spiel geäußert, dass das Borsteler Leibniz-Zentrum ge- Nein. Wir sind bereits sechs Minuten über die Zeit. – zwungen sein könnte, sich anders, beispielsweise in Deswegen beende ich jetzt die Fragestunde.1) Richtung Hamburg, zu orientieren. Meine Frage dazu: Wie plant die Bundesregierung zu verhindern, dass Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: durch die Schließung der Medizinischen Fakultät in Lü- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat beck auch vom Bund mitfinanzierte Einrichtungen Scha- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- den erleiden? derung des § 33 des Gerichtsverfassungsgeset- zes Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: – Drucksache 17/1462 – Sehr geehrte Frau Kollegin, die Frage, welche weitere Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Existenz, welche Veränderungen oder Nichtveränderun- schusses (6. Ausschuss) gen Hochschulstandorte haben, fällt nach unserem Grundgesetz ausschließlich in die Zuständigkeit des je- – Drucksache 17/2350 – weiligen Bundeslandes. Insofern ist die Frage von der Berichterstattung: zuständigen Landesregierung zu beantworten. Abgeordnete Ansgar Heveling Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jörg van Essen Die letzte Frage stellt der Kollege Röspel. Bitte Jens Petermann Jerzy Montag René Röspel (SPD): Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine Herr Staatssekretär, wie bewertet die Bundesregie- Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre rung die Tatsache, dass Medienberichten zufolge die ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Landesregierung von Schleswig-Holstein eine Bewer- bung der Universität Lübeck im Rahmen der Fortsetzung Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der der dritten Exzellenzinitiative als nicht erwünscht abge- Bundesministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger. lehnt und jegliche Unterstützung seitens des Landes Schleswig-Holstein abgelehnt hat, um die Bewerbung 1) Die Fragen 15 bis 88 werden schriftlich beantwortet. Die Frage 75 der Universität Kiel in gleicher Sache nicht zu gefähr- wurde zurückgezogen. 5318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- sungsgericht zu dem Ergebnis, dass es sich in diesen Fäl- (C) ministerin der Justiz: len um eine unzulässige Rückwirkung handele. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Jetzt geht es in einem ersten Schritt – wir haben im legen! Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei unterschiedli- Kabinett mehrere Schritte vereinbart – darum, den Ge- che Probleme gelöst werden, und zwar in der Art und richten eine Hilfe an die Hand zu geben. Wir wissen, Weise, dass im Ergebnis der Rechtsstaat gestärkt wird. dass es 75 bis 85, vielleicht auch 90 Menschen in Siche- Mit der Ergänzung des Schöffenrechts greifen wir einen rungsverwahrung gibt – ganz genau kann man das nicht Vorstoß der Länder auf. Niemand kann – darüber sind sagen –, für die diese Entscheidung des Europäischen wir uns einig – an einem Strafprozess als Schöffe sinn- Gerichtshofs für Menschenrechte zutreffen kann. Wir voll mitwirken, wenn er die deutsche Sprache nicht aus- erleben jetzt in der Praxis, dass die Gerichte unterschied- reichend beherrscht. Er kann in diesem Fall dem Lauf liche Entscheidungen treffen – es kommt zu Entlassun- der Verhandlung nicht richtig folgen, und er kann bei der gen; es kommt zur Ablehnung des Antrags auf Entlas- abschließenden Beratung des Gerichts nicht richtig mit- sung –, weil man sich an die Entscheidung des wirken. Es hat in der Vergangenheit Einzelfälle gegeben, Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die- in denen genau das der Fall gewesen ist. Dieser Miss- sem Punkt nicht gebunden fühlt. Im Moment enden die stand wird mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Ände- Verfahren beim Oberlandesgericht. Wir wollen nun mit rung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes aufge- der Divergenzvorlage eine Ergänzung in unser System griffen. Es geht um die Gründe für die Nichtberufung in aufnehmen. Die Vorlagepflicht an den Bundesgerichts- das Amt des Schöffen. hof, wenn die Oberlandesgerichte von der Rechtspre- Es soll festgeschrieben werden, dass künftig niemand chung eines anderen Gerichts abweichen wollen, hat zum Schöffen berufen werden soll, der die deutsche sich in anderen Fällen bewährt. Das ist also nicht neu. Sprache nicht ausreichend beherrscht. Das richtet sich Wir wollen dieses Instrument jetzt auch für den Fall der zunächst an die Institutionen, die die Schöffen wählen, Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem aber es wird auch eine gesetzliche Grundlage geschaf- psychiatrischen Krankenhaus einführen. fen, damit jemand von der Schöffenliste gestrichen wer- den kann. Wichtig ist – das betone ich hier ausdrücklich, Die Umsetzung eilt. Deshalb bedanke ich mich sehr weil es in den Beratungen des Rechtsausschusses eine dafür, dass es möglich gewesen ist, diese Änderung mit Rolle gespielt hat –, dass die Anforderungen an die in dieses Gesetzgebungsverfahren aufzunehmen. Es Sprachkenntnisse nicht überspannt werden dürfen. Es passt inhaltlich ganz gut zusammen; denn es geht in bei- geht nicht darum, das gesamte juristische Fachvokabular den Fällen um das Gerichtsverfassungsgesetz. Das ist zu beherrschen, sondern es geht darum, zu verstehen, jetzt also nicht ein abwegiger Omnibus, der da gewählt (B) was vorgetragen wird, der Verhandlung zu folgen und wird, was von Rechtspolitikern immer zu Recht kritisiert (D) die Beratung nicht nur mitverfolgen, sondern auch sich wird, sondern es passt inhaltlich zusammen. Außerdem selbst einbringen zu können. Das ist in den Beratungen kommt aus allen Bundesländern, noch einmal auf der des Rechtsausschusses betont und auch von uns erklärt Justizministerkonferenz in der letzten Woche ausdrück- und so zu Protokoll gegeben worden. Das gilt natürlich lich bekräftigt, der Wunsch, diese Regelung zu haben. auch bei der Anwendung. Ich denke, mit dieser Ergän- Wer davon Gebrauch macht, das können wir nicht beur- zung des Gerichtsverfassungsgesetzes sind wir auf ei- teilen; aber hier angesichts einer sich unterschiedlich nem guten Weg. entwickelnden Rechtsprechung einen Beitrag zu leisten, damit es durch eine Vorlage an den Bundesgerichtshof (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zu einer Einheitlichkeit in diesen wichtigen Fragen der Entscheidungsfindung kommt, ist geboten, richtig und Die Schöffen sollen möglichst alle gesellschaftlichen angemessen. Alle verantwortlichen Landesjustizminister Gruppen repräsentieren, also auch Zuwanderer. Gerade haben sich dafür ausgesprochen. Migranten mit deutschem Pass sollen künftig öfter zu Schöffen berufen werden. Gerade weil wir wollen, dass Das ist nur ein Aspekt im Zusammenhang mit den es mehr Menschen mit Migrationshintergrund in diesem schwierigen Fragen der Sicherungsverwahrung. Es gibt Amt gibt, gilt natürlich die Anforderung, dass dieses zwei weitere Aspekte, die heute nicht zur Beratung an- Amt nur dann sinnvoll ausgefüllt werden kann, wenn die stehen: die Änderung der Führungsaufsicht, die wir Ih- deutsche Sprache ausreichend beherrscht wird. Auch un- nen vorschlagen werden, und auch die grundlegende ter diesem Aspekt ist die Ergänzung richtig. Ausrichtung der Sicherungsverwahrung. Das hat jetzt nichts mit dem Fall Mücke vor dem Europäischen Ge- Aber es gibt noch einen zweiten Gegenstand, der im richtshof für Menschenrechte zu tun. Wir wollen ein in Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingebracht worden sich möglichst widerspruchsfreies System und Konzept ist und nicht schon Gegenstand des Gesetzentwurfs des schaffen. Dazu sind Eckpunkte Grundlage der Be- Bundesrats gewesen ist. Hintergrund ist die Entwicklung schlussfassung im Bundeskabinett gewesen. in den letzten Monaten, die Sie alle kennen, und zwar die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Die Eckpunkte – ich habe sie dem Rechtsausschuss Menschenrechte im Hinblick auf die Änderung des Ge- zugeleitet – sehen eine deutliche Verlagerung vor, näm- setzes zur Sicherungsverwahrung im Jahr 1998, mit der lich weg von der nachträglichen hin zu der vorbehalte- die Befristung auf zehn Jahre rückwirkend aufgehoben nen Sicherungsverwahrung, und natürlich den Erhalt der wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschen- primären Sicherungsverwahrung. Dazu gibt es viele Fra- rechte kam hier anders als früher das Bundesverfas- gen, auch wichtige Fragen der Ausgestaltung. Das ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5319

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) aber nicht Gegenstand des jetzigen Gesetzgebungsver- es diese oder jene Person ist. Nein, das ist durchaus ein (C) fahrens, sondern wird Gegenstand eines weiteren Ver- erheblicher Unterschied. Deshalb müssen wir an dieser fahrens sein, mit dem wir uns hoffentlich sehr zügig Stelle genau darauf achten, dass die Regeln, die das Ge- nach der Sommerpause befassen. richtsverfassungsgesetz vorschreibt, eingehalten werden. Ganz herzlichen Dank. Ich blicke jetzt ein bisschen zurück, weil die Zeit es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erlaubt. Aus meiner beruflichen Erfahrung als Strafver- teidiger sage ich: Es gab keine Defizite des Gerichtsver- fassungsgesetzes, sondern Defizite in der Umsetzung der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gesetzlichen Regelungen. Zunächst einmal war der Ein- Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Danckert von der schnitt am 1. Januar 1979, als man den Verteidigern die SPD-Fraktion. Verpflichtung auferlegt hat – den Staatsanwaltschaften übrigens auch, aber die haben davon nie Gebrauch ge- Dr. Peter Danckert (SPD): macht –, die Gerichtsbesetzung bei Verfahren, die am Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- Landgericht oder Oberlandesgericht beginnen, wenn desministerin, das ist in der Tat heute nicht Gegenstand, überhaupt, dann zu Beginn der Hauptverhandlung zu rü- aber Sie haben das Stichwort „Sicherungsverwahrung“ gen. und die Eckpunkte angesprochen. Wir von der SPD- Fraktion sind bereit, dabei konstruktiv mitzuarbeiten. Die Überlegung war gar nicht so schlecht. Es gab Die große Linie stimmt. Ich persönlich würde aus heuti- zwei Gesichtspunkte. Man wollte nicht am Ende des ger Sicht sagen: Wenn die vorbehaltene Sicherungsver- Verfahrens von irgendeiner Besetzungsrüge überrascht wahrung sozusagen eine Art Regelfall würde, nach dem werden, also der Rüge, dass es nicht der gesetzliche Motto „Vorsichtshalber behalten wir uns mal die Siche- Richter war, der mitgewirkt hat. Man spekulierte darauf, rungsverwahrung vor“, dann wäre das nicht der richtige dass die Verteidiger am Beginn des Verfahrens noch Weg. Aber wir sind ja noch dabei, das auszuformulieren. nicht so initiativ werden würden. Das genaue Gegenteil Das Thema Führungsaufsicht wird eine Rolle spielen. war der Fall. Man hat sich mit dieser neuen Materie sehr Wir sind also bereit, dabei mitzuarbeiten. intensiv beschäftigt. Das war auch eine meiner damali- gen Aufgaben. Dabei ergab sich, dass die Hauptmängel, Auf den ursprünglichen Gesetzentwurf ist etwas die wir im Rahmen der Besetzungsrüge aufgedeckt ha- draufgesattelt worden. Danach sollen die Oberlandesge- ben, Verfahrensverstöße waren, die in den Etappen Vor- richte die Möglichkeit haben, zur Vereinheitlichung ihrer schlagsliste und Schöffenwahl bzw. Schöffenauslosung Rechtsprechung eine Sache dem Bundesgerichtshof vor- passiert waren, weil man, was eigentlich überrascht, (B) zulegen. Diese Möglichkeit zu schaffen, ist völlig rich- feststellen konnte, dass diese klaren gesetzlichen Rege- (D) tig. Das ist eine praktische Notwendigkeit, wie wir aus lungen nicht richtig gelesen wurden oder man sich die Hinweisen, die wir zum Bereich der Gesamtrechtspre- Sache sehr einfach gemacht hat. chung der Oberlandesgerichte bekommen haben, erken- nen können. Hier ist eine Vereinheitlichung erforderlich. In dieser Situation sind wir auch heute noch. Der An- Deshalb tragen wir das Gesetz insgesamt mit. lass für diese vorgeschlagene gesetzliche Änderung ist, dass sich am Beginn oder während einer Hauptverhand- Unser Kritikpunkt betrifft die Änderung des § 33 Ge- lung herausstellt, dass ein Schöffe die deutsche Sprache richtsverfassungsgesetz. Das ist ein Anliegen der Bun- nicht ausreichend beherrscht oder keine ausreichenden desländer, das wir schon in der letzten Legislaturperiode Kenntnisse besitzt. Das ist das Kriterium. behandeln sollten. Die damalige Koalition aus CDU/ CSU und SPD hat es nicht für erforderlich angesehen, Die Gerichtssprache ist nach dem Gerichtsverfas- dem zu folgen. Für mich persönlich und für meine Frak- sungsgesetz deutsch. Gewählt werden kann als Schöffe tion hat sich daran auch nichts Wesentliches geändert. nur jemand, der Deutscher ist. Insofern fragt man: Wo ist Wenn das der einzige Punkt wäre, über den wir heute ab- das Problem? Das Problem besteht darin, dass man sich stimmen, würden wir nicht zustimmen können. Aber wir die Sache bei der Erstellung der Vorschlagsliste – das ist lassen uns wegen der Gesamtbedeutung dazu bringen, die erste Etappe – sehr einfach macht. Hier hat die Kom- dem Gesetzentwurf doch zuzustimmen. mune die Aufgabe, 100, 200, 500, manchmal 1 000 – in Großstädten noch mehr – Namen von Einwohnern aus § 33 Gerichtsverfassungsgesetz gibt vor, wann eine ihrem Bereich auf die Schöffenliste zu setzen. Die Sache Person nicht zum Schöffenamt berufen werden soll. wird oft sehr mechanisch – ich sage nicht: willkürlich – Wenn die Person etwa ein bestimmtes Lebensalter noch gemacht, also ohne sich die Personen, deren Namen auf nicht erreicht hat oder ein bestimmtes Lebensalter schon die Vorschlagsliste sollen, genauer anzusehen und mög- vollendet hat oder ihr Wohnsitz nicht in einem bestimm- licherweise auch ohne anhand von persönlichen Daten ten Bereich liegt, soll sie nicht zum Schöffen berufen zu klären: Ist diese Person geeignet, als Schöffe vorge- werden. Auch der gesundheitliche Zustand spielt eine schlagen zu werden, oder nicht? Wenn man das täte, Rolle. dann gäbe es gar keine Notwendigkeit, § 33 des Ge- Aus meiner beruflichen Erfahrung sage ich: Der richtsverfassungsgesetzes um Personen zu erweitern, die Grundsatz, dass der Angeklagte im Verfahren den ver- die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen. fassungsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen Man könnte solche Personen schon vorher aussortieren. Richter hat, ist nicht hoch genug zu bewerten. Nun kann Das Problem aber ist, dass diese Dinge sehr pauschal ge- man meinen, bei den vielen Schöffen sei es doch egal, ob handhabt werden und man sich nicht die Zeit nimmt, 5320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Peter Danckert (A) dem Grundsatz des gesetzlichen Richters genügend Be- gespräch geführt – Sie werden sich daran erinnern, oder (C) deutung beizumessen. Die Erstellung der Liste wird als es ist Ihnen darüber berichtet worden –, in dem gesagt eine ärgerliche und überflüssige Verwaltungsarbeit ange- wurde, dass es sich, wenn Entsprechendes passiert, um sehen. Diese Ansicht führt dann zu Verstößen und zu Si- Willkür handele und ein so gravierender Verstoß sei, den tuationen, die dazu führen, dass man im Verfahren eine man dann wieder rügen könne. Wer schon einmal eine Entscheidung treffen muss, auf die ich noch kurz einge- Revisionsrüge auf richterliche Willkür zu stützen ver- hen werde. sucht hat, der weiß, dass das ein Unterfangen ist, das ei- nen wirklich nicht weiterbringt. Ein weiterer Punkt, den wir damals aufgedeckt haben, bezog sich auf die Schöffenwahl. Wenn man sich wie Mir wäre sehr viel daran gelegen, wenn wir neben ei- das Landgericht die Sache sehr leicht macht ner Lösung für diese nun wirklich nicht eilige Frage, die und die Schöffen zulost, obwohl im Gesetz steht, dass ja nun seit Jahren im Raum steht – ich glaube, fünf bis die Schöffen aus der Schöffenliste gewählt werden müs- sechs Jahre –, uns auch einmal überlegten, wie wir ei- sen, kann es passieren, dass sich, wenn sich die Verteidi- gentlich unser System der ehrenamtlichen Richter, das ger mit dieser Frage beschäftigen, ein gesetzlicher Ver- richtig und notwendig ist, so reformieren können, dass stoß herausstellt, der in Berlin bei der Hilfsschöffenliste wirklich etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Hier wird und in Frankfurt bei der Schöffenwahl dazu geführt hat, nur der eine Punkt aufgegriffen, nämlich dass es sich um dass die Wahl ungültig war. Das hat aber nichts damit zu einen Schöffen handelt, der die deutsche Sprache nicht tun, dass das System, in dem wir arbeiten, erhebliche ausreichend beherrscht. Das ist eine sehr vage und pro- Mängel hat, sondern das hat damit zu tun – ich sage es blematische Formulierung: Wird hier vom Niveau des einmal mit meinen Worten –, dass eine gewisse Faulheit Lesers der Bild-Zeitung ausgegangen oder von welchem oder Nachlässigkeit an den Tag gelegt wurde, die zu die- Niveau? Außerdem sollten wir auch an Wirtschaftsstraf- sen Mängeln geführt hat. verfahren denken. Hier kommt es ja nicht darauf an, dass jemand gut deutsch sprechen kann, sondern darauf, dass In Augsburg war es eine andere Situation. Die Par- er versteht, worum es geht. Aber genau in diesem Be- teien, die in der Gemeindevertretung saßen, haben ge- reich handeln wir nicht, obwohl hier Handlungsbedarf sagt: Wir brauchen 52 Schöffen. Die CSU kann – so sage besteht. ich es einmal – 16 Vorschläge machen. Eine Abspaltung von der CSU – Herr Stadler, wie hieß sie noch? – kann Mir wäre es lieb gewesen, wenn wir eine Gesamtre- 14 Schöffen vorschlagen, und die SPD kann 12 oder form dieser inzwischen sehr schwierigen Fragen – das 13 Schöffen benennen. Dann kamen noch ein paar an- gebe ich zu – gemeinsam auf den Weg gebracht hätten. dere Parteien zum Zuge. – Auch das war ein eklatanter Es handelt sich hierbei um kein parteipolitisches Thema – das sehe ich durchaus –, sondern um ein Thema, bei (B) Verstoß gegen das Gesetz, und auch diese Schöffenliste (D) ist vom Bundesgerichtshof sozusagen atomisiert wor- dem es auch darum geht, unsere Gesellschaft davon zu den. Bei einer normalen Prüfung wäre das nicht möglich überzeugen, dass die Arbeit als ehrenamtlicher Richter gewesen. bei strafrechtlichen Entscheidungen – bei verwaltungs- rechtlichen ist es so ähnlich – notwendig und richtig ist. Man kann an diesem schön abgestuften Verfahren Er- Wenn wir nur an einer Stelle herumdoktern, ist das nicht stellung der Vorschlagsliste, Schöffenwahl bzw. Schöf- überzeugend. Ich habe deshalb erhebliche Bedenken, zu- fenauslosung schon erkennen, was notwendig ist, um zu mal hier auch die Möglichkeit eröffnet wird, dass es zu sehen: Steht auf dieser Liste der Name eines Schöffen, willkürlichen Entscheidungen kommt. Ich hoffe, dass der die deutsche Sprache beherrscht? Jetzt soll eine Än- das nicht eintritt. derung eingeführt werden, weil es Einzelfälle gegeben Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich hat, in denen der Schöffe die deutsche Sprache nicht be- hoffe, dass Sie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit der herrscht hat. In ganz Deutschland, wo jeden Tag gericht- nächsten Zeit – man weiß ja nicht, wie lange das noch liche Verfahren mit Schöffen ablaufen, gibt es gerade geht – sich dieses Themas noch einmal annehmen. Bei zwei, drei oder vier Verfahren mit einem solchen Man- der Sicherungsverwahrung sind wir dabei; bei einer wei- gel. terführenden Diskussion über dieses Thema wären wir An diesem Vorschlag stört mich am meisten, dass so- auch dabei. zusagen ein Einfallstor geöffnet wird, mit dem man in Vielen Dank. der Hauptverhandlung einen nicht genehmen, weil mög- licherweise sehr aktiven Schöffen aus dem Verfahren he- (Beifall bei der SPD) rausnehmen kann. Dieser Missbrauch muss ausgeschlos- sen werden. Das ist erforderlich. Nach der jetzigen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gesetzlichen Regelung – insofern halte ich sie für unvoll- Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff von der kommen – handelt es sich bei der Schöffenbestellung um CDU/CSU-Fraktion. eine unanfechtbare Entscheidung eines Vorsitzenden. Nun werden die allermeisten Vorsitzenden keine will- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kürlichen Entscheidungen treffen; aber ich wünsche mir, dass auf der Basis des derzeit geltenden Rechts im Ge- Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): richtsverfassungsgesetz ein Verfahrensweg ermöglicht Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! wird, mit dem auch dieser Missbrauch ausgeschlossen Herr Kollege Danckert, große Reformen brauchen wird. Wir hatten hierzu ein erweitertes Berichterstatter- manchmal viel Zeit. Dass wir das als christlich-liberale Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5321

Andrea Astrid Voßhoff (A) Koalition noch in dieser Legislaturperiode schaffen, erste Entscheidungen mit unterschiedlichen rechtlichen (C) kann ich Ihnen nicht zusagen. Das sollte uns aber nicht Ergebnissen. Aller Voraussicht nach stehen demnächst davon abhalten, mit kleinen Schritten in die richtige weitere Entscheidungen an. Deshalb und wegen der Richtung zu gehen. grundsätzlichen Frage, um die es hier geht – einerseits geht es um den grundrechtlich geschützten Freiheitsan- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spruch des Einzelnen und andererseits um die ebenso DIE GRÜNEN) schützenswerten Interessen der Opfer und Bürger vor – Seien Sie sicher, dass die christlich-liberale Koalition nach wie vor gemeingefährlichen Tätern –, ist auch aus diese Legislaturperiode gut durchstehen wird. unserer Sicht eine einheitliche Rechtsprechung von grundsätzlicher Bedeutung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Da müssen Sie Wie eben ausgeführt, ist Eile geboten. Deshalb nutzen sich aber völlig wandeln! – Christian Lange wir diesen Gesetzentwurf, um in einer ersten gesetzge- [Backnang] [SPD]: Überraschungen gibt es berischen Reaktion eine Antwort auf das Urteil des immer wieder!) EGMR zu geben. Diese Antwort ist rein verfahrens- Mit der heutigen abschließenden Beratung der Bun- rechtlicher Natur. Durch die Vorlagepflicht zum Großen desratsinitiative zur Änderung des Gerichtsverfassungs- Strafsenat des BGH wollen wir vermeiden, dass bei den gesetzes nehmen wir die Klarstellung auf, dass Schöffen Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte in den – das ist schon gesagt worden –, die die deutsche Spra- Ländern mit Blick auf die potenziell betroffenen Täter che nicht ausreichend beherrschen, von der Ausübung ein rechtlicher Flickenteppich entsteht, also nicht des Schöffenamtes ausgeschlossen sind. Auch wir als Gericht A den betroffenen Täter freilässt, während Union halten diese rechtliche Klarstellung für notwendig Gericht B ihn in der Sicherungsverwahrung belässt. und geboten. Mein Kollege Heveling wird dazu gleich Das Urteil des EGMR hat aber auch neue Fragen im noch einiges aus Sicht der Union sagen. Bereich der Sicherungsverwahrung aufgeworfen, die es Den Gesetzentwurf des Bundesrates – das ist heute nicht heute, aber langfristig für den Gesetzgeber zu be- auch schon erwähnt worden –, den wir heute abschlie- antworten gilt. Dazu gehört die Frage – auch das ist ßend beraten, haben wir als Trägergesetz für eine weitere heute schon angeklungen –, ob und wie wir in Fällen un- Initiative nutzen können. Dass dies zügig geschehen und umgänglicher Entlassungen die Führungsaufsicht für heute zum Abschluss gebracht werden konnte, dafür und weiterhin gefährliche Straftäter effizienter gestalten kön- für die zielgerichtete Vorarbeit dürfen auch wir uns, Frau nen. Die christlich-liberale Koalition ist sich einig, Än- Ministerin, bei Ihnen und beim BMJ, aber auch bei der derungen im Bereich der Führungsaufsicht auf den Weg (B) Opposition, die dies ebenfalls konstruktiv begleitet hat, zu bringen. Das betriff zum einen die Einführung der (D) ganz herzlich bedanken. elektronischen Aufenthaltsüberwachung für Gewalt- und Sexualstraftäter. Um es gleich vorweg zu sagen: Das soll Der eigentliche Grund für die Eile dieses Gesetzge- keine elektronische Fußfessel im eigentlichen Sinn sein, bungsverfahrens ist – das wissen Sie, und das kann man weil es im vorliegenden Fall nicht darum geht, den be- auch ganz offen sagen –, dass wir uns wieder einmal mit treffenden Delinquenten zu Hause festzuhalten. Wir Schutzlücken und grundsätzlichen Fragen im Bereich wollen vielmehr eine Lösung, die es ermöglicht, mithilfe der Sicherungsverwahrung auseinandersetzen müssen. von GPS-Signalen den jeweiligen Aufenthaltsort von Mit diesem Gesetzentwurf eröffnen wir sozusagen er- Sexual- oder Gewaltstraftätern feststellen zu können. neut eine parlamentarische und – davon gehe ich aus – Wenn er sich beispielsweise einem Kindergarten oder ei- intensive und nachhaltige Debatte zu den Grundsatzfra- nem Spielplatz nähert, soll das der Führungsaufsichts- gen der Sicherungsverwahrung. Dass dies notwendig ge- stelle umgehend signalisiert werden, damit dort schnell worden ist, hat – das ist schon angeklungen – seinen reagiert werden kann. Auch über die Erweiterung der konkreten Anlass in der aktuellen Rechtsprechung des Möglichkeit der unbefristeten Verlängerung der Füh- Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der im rungsaufsicht von Sexualstraftätern auf Gewaltstraftäter Dezember vergangenen Jahres und mittlerweile auch wollen wir in diesem Zusammenhang diskutieren. rechtskräftig entschieden hat, dass es sich bei der Siche- rungsverwahrung nicht um eine Maßregel, sondern um Wir müssen auch Antworten auf weitere grundsätzli- eine Strafe im Sinne der Europäischen Menschenrechts- che Fragen geben. Die christlich-liberale Koalition ist konvention handle, die dem Rückwirkungsverbot unter- sich der Bedeutung des Themas bewusst. Sie weiß um liegt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. Sie betrifft, die Notwendigkeit gesetzgeberischen Handlungsbedarfs auch wenn immer eine Einzelfallentscheidung erforder- und wird dieser nachkommen. Die Ministerin hat auf die lich ist, potenziell alle Straftäter, gegen die vor 1998 eine Eckpunkte der Bundesregierung verwiesen. Sicherungsverwahrung ausgesprochen wurde, weil der Ich denke, das Recht der Sicherungsverwahrung ist Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt die bis dahin beste- eines der schwierigsten, wenn nicht gar das schwierigste hende Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung von Thema in der Rechtspolitik. Dieses Thema hat uns in zehn Jahren auf unbefristet verlängert hat. den vergangenen Jahren immer wieder vor Herausforde- Man geht davon aus, dass bundesweit bei circa rungen gestellt; das zeigen auch die Entscheidungen der 70 Personen – Frau Ministerin, Sie nannten andere Zah- Obergerichte. Seit 1995 ist allein im Bereich des Erwach- len – die Frage zu klären ist, ob sie in Ansehung des Ur- senenstrafrechts die Sicherungsverwahrung fünfmal ge- teils des EGMR zu entlassen sind. Dazu gibt es bereits ändert worden. Trotzdem ist immer noch kein wider- 5322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Andrea Astrid Voßhoff (A) spruchsfreies System entstanden. Diejenigen, die das rung in ein neues System der nachträglichen Sicherungs- (C) Thema eine Zeit lang begleitet haben – dazu gehöre ich –, unterbringung überführen und dabei ganz bewusst die wissen, dass wir als Gesetzgeber oftmals auf Einzelfälle Kriterien der Strafe – die Entscheidung des EGMR be- zu reagieren hatten und deshalb oft zu kurzfristigen Ent- sagt, dass die bestehende Sicherungsverwahrung eine scheidungen gezwungen waren. Strafe sei – von der künftigen Sicherheitsunterbringung abtrennen sollte. Das bezieht sich nicht auf die Verurtei- Nichtsdestotrotz haben wir es jetzt mit einer Entschei- lung. Es wird immer wieder gesagt, wir könnten jeman- dung des EGMR zu tun. Es liegt mir völlig fern, die Ent- den nicht nur aufgrund seiner Gefährlichkeit im An- scheidung des EGMR zu kritisieren. Ich denke, an dieser schluss an die Haft in Sicherheitsunterbringung nehmen; Stelle darf ich aber sagen: Ich hätte es als sehr wün- darum geht es nicht. Es muss immer ein Bezug zu der schenswert empfunden, wenn das EGMR die Entschei- Straftat, die zur Verurteilung geführt hat, bestehen. Das dung wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser An- ist selbstverständlich. Wenn dann in einem neuen Ver- gelegenheit zur Großen Kammer verfügt hätte und die fahren entschieden werden muss, ob eine Unterbringung Entscheidung von dort gekommen wäre. erforderlich ist oder nicht, muss von der Gefährlichkeit (Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer des Täters zu dem Zeitpunkt ausgegangen werden. Die [CDU/CSU]) Unterbringung muss dann eine Form von Therapie sein. Ein eigener Spruchkörper, an dem auch Psychiater betei- Den Bürgern ist es nur schwer zu vermitteln, dass Men- ligt sind, sollte dies entscheiden. Auch Therapieansätze schenrechte es gebieten, dass nach wie vor hochgefährli- und Resozialisierungsmöglichkeiten dienen dem Schutz che Straftäter sehenden Auges auf die Menschheit losge- der Bevölkerung. lassen werden. Das muss man an dieser Stelle erwähnen dürfen. Wir meinen, dass man über dieses neue Verfahren dis- kutieren sollte. Ob der Weg gangbar ist, wird die fachli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) che Diskussion zeigen. In jedem Fall wird die christlich- Gleichwohl haben wir uns der Herausforderung zu liberale Koalition dieses Gesetzgebungsverfahren zu ei- stellen, die die deutsche Rechtslage uns im Lichte der nem der schwierigsten Gebiete der Rechtspolitik mit der EGMR-Entscheidung aufzwingt bzw. in der Folge von gebotenen Gründlichkeit betreiben. uns verlangt. Der Gesetzgeber kann nicht untätig blei- Vielen Dank. ben. Wenn man die Entscheidungen des Bundesverfas- sungsgerichts der Vergangenheit liest, wird klar, dass es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durchaus möglich ist, tätig zu werden. Das Bundesver- fassungsgericht hat entschieden, dass ein Verstoß gegen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) die EMRK durch eine entscheidende Änderung der Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der Sach- und Rechtslage entfallen kann. Sogar ein formal Fraktion Die Linke. unrechtmäßiger Freiheitsentzug kann für eine Über- gangszeit gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber die (Beifall bei der LINKEN) Zeit nutzt, um eine neue, konventionskonforme Rege- lung zu schaffen. Aus diesem Grunde, denke ich, führt Jens Petermann (DIE LINKE): kein Weg an der Reform der Sicherungsverwahrung vor- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau bei. Das ist von der Justizministerin vorhin erwähnt wor- Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit den. dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates soll Das Eckpunktepapier ist auch aus Sicht der Union ermöglicht werden, Bürgerinnen und Bürger, die die eine gute Ausgangsgrundlage. Es ist ein Maßnahmen- deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, vom bündel, durch das in vielfältiger Weise versucht wird, Schöffenamt auszuschließen. An die Schöffinnen und nicht nur die aktuelle Lage nach dem EGMR-Urteil zu Schöffen, die regelmäßig als juristische Laien in das Eh- verbessern und die Führungsaufsicht effizienter zu ge- renamt berufen werden, sind in der Tat beträchtliche An- stalten, sondern auch die Frage der zukünftigen Gestal- forderungen gestellt. Sie haben während der Hauptver- tung der Sicherungsverwahrung neu auszutarieren. Die handlung richterliche Befugnisse. Ihre Stimme hat bei Ministerin hat einige Punkte genannt. Ich kann sie aus der Urteilsfindung das gleiche Gewicht wie die Stimme Zeitgründen nicht wiederholen. eines Berufsrichters. Schöffinnen und Schöffen sind gleichfalls mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet. Auch wenn die Eckpunkte für uns eine gute Aus- Deshalb müssen sie in gleicher Weise wie Berufsrichter gangsgrundlage sind, sage ich an dieser Stelle – das ist geeignet sein, die für die Entscheidung erheblichen Tat- dem Koalitionspartner bekannt; darüber ist gesprochen sachen aufzunehmen. worden –: Wir als Union haben noch Diskussionsbedarf bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung. In Was erwartet man also von den Personen, die bereit der derzeitigen Form kann sie nicht bestehen bleiben; sind, dieses wichtige Ehrenamt auszuüben? Sie müssen wir wollen aber nicht, dass sie in Gänze zurückgedrängt zwischen 25 und 70 Jahre alt sein, ihren Wohnsitz im wird. Ich denke, angesichts dieses komplexen Themas Gerichtsbezirk haben und dürfen nicht in Vermögensver- muss noch eine Diskussion geführt werden. fall geraten sein. Sie müssen gesundheitlich für das Amt geeignet sein. Darüber hinaus kann das Ehrenamt des Wir Rechtspolitiker haben in einem Positionspapier Schöffen nur von einem deutschen Staatsbürger ausge- zur Diskussion gestellt, ob man die Sicherungsverwah- übt werden. Das Recht auf ein faires Verfahren für den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5323

Jens Petermann (A) Angeklagten gebietet eine sorgfältige Auswahl der mit einem verfahrensrechtlichen Vorschlag zur Diver- (C) Schöffen. genzvorlage an den Bundesgerichtshof in der Hoffnung, dass es die Richter in ihrem Sinne richten werden. Das Gerichtsverfassungsgesetz verlangt indes für die Eignung als Schöffe generell keine besonderen intellek- Die Linke kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. tuellen Fähigkeiten. Dennoch bedarf es hinreichender Allein das fragwürdige Verfahren des Anhängens an ei- Kenntnisse der deutschen Sprache, da die Gerichtsspra- nen inhaltsfremden Gesetzentwurf ist schon Grund ge- che bekanntermaßen Deutsch ist. Dabei stellt sich die nug für eine Ablehnung. Aber auch inhaltlich überzeugt Frage, ob nicht auf der Grundlage des geltenden Rechts uns der Gesetzentwurf nicht. Die absehbare Verzögerung dem Problem mangelnder Deutschkenntnisse von Schöf- wegen der Vorlage zum Bundesgerichtshof wird dazu fen begegnet werden kann. Die Große Koalition – das führen, dass die Sicherungsverwahrten weiter einsitzen, wurde bereits angesprochen – sah diesbezüglich in der während die Regierung weiter streitet, wie nun zu ver- letzten Legislaturperiode keinen Handlungsbedarf, wo- fahren sei. Das halten wir für unwürdig und kann aus un- bei insbesondere die SPD vor einem Einfallstor für serer Sicht auch nicht als Fortschritt gefeiert werden. Missbrauch warnte. (Beifall bei der LINKEN) Die angesprochenen Fälle mangelnder Deutschkennt- nisse bei Schöffen sind für uns jedenfalls kein Argument Es ist offensichtlich, dass es darum geht, Zeit zu ge- für die dringende Notwendigkeit der geplanten Rege- winnen, um den inhaltlichen Dissens zwischen CDU/ lung, die nun im Galopp durch das Parlament gejagt CSU und der Bundesjustizministerin auszufechten. Statt werden soll. sich mit den grundrechtsrelevanten Regelungen der Si- cherungsverwahrung zu befassen und gesetzgeberisch (Beifall bei der LINKEN) tätig zu werden, verlagern Sie die Frage auf die Recht- sprechung. Dem können wir nicht zustimmen. Wir sagen Wir vertreten die Auffassung, dass Gründlichkeit vor aber grundsätzlich zu, dass wir uns in der Frage der Si- Schnelligkeit gehen muss. Bereits aufgrund der beste- cherungsverwahrung konstruktiv an einer Diskussion henden Rechtslage ist ein Schöffe, der der deutschen beteiligen werden. Sprache nicht ausreichend mächtig ist, unfähig, ein Schöffenamt auszuüben, und kann von der Schöffenliste (Beifall bei der LINKEN – Hans-Christian gestrichen werden. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würden wir gerne hören!) Der Gesetzentwurf lässt völlig offen, auf welcher Grundlage die Gemeindeverwaltungen die sprachlichen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Fähigkeiten der Kandidaten und Kandidatinnen überprü- (D) fen sollen, und kann damit dem selbstgestellten An- Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von spruch nicht gerecht werden. Es ist vielmehr zu befürch- Bündnis 90/Die Grünen. ten, dass allein ein fremdländisch klingender Name Indiz für die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache ist. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dies ergab jedenfalls die Anhörung der von der Koali- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die tion geladenen Sachverständigen in einem Berichterstat- Gerichtssprache ist Deutsch. Ich halte es für selbsterklä- tergespräch. rend, dass selbstverständlich alle Verfahrensbeteiligten (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch deutsch verstehen und sprechen können müssen. Viele überhaupt nicht!) Jahrzehnte war das so unproblematisch, dass der Gesetz- geber nicht die Notwendigkeit sah, in das Gesetz hinein- Wie die betroffenen Personen ihre Kenntnisse nach- zuschreiben, dass Schöffen deutsch sprechen und verste- weisen müssten oder wie die Gemeinden, die die Vor- hen müssen. schlagslisten aufzustellen haben, mit diesen Anforderun- gen umgehen sollen, wird ausgeblendet. Damit öffnet Die Frage ist, ob es jetzt notwendig ist. Es gibt einige der Gesetzentwurf wiederum willkürlichen Entscheidun- wenige Fälle, in denen Schöffen sich tatsächlich selbst gen Tür und Tor. meldeten und sagten, dass sie nicht teilnehmen wollen, weil sie nicht deutsch sprechen können, oder Vorsit- Zum Thema Divergenzvorlage: Es ist offensichtlich, zende dies festgestellt haben. In diesen Fällen haben Ge- dass die Koalition nunmehr mangels bestehender, durch- richte entschieden, interessanterweise die einen, indem dachter Konzepte zur Sicherungsverwahrung an den ur- sie dem Schöffen einen Dolmetscher zur Seite gestellt sprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates den Vor- haben, und die anderen, indem sie einen solchen Schöf- schlag zur Divergenzvorlage des Bundesgerichtshofs fen als ungeeignet zurückgewiesen haben. anhängen will. Dies hat aber mit der Frage der Eignung zum Schöffenamt, dem ursprünglichen Thema, nichts zu Wir sind der Meinung, dass eine Regelung notwendig tun. ist. Deswegen haben wir auch gegenüber der ursprüngli- chen Formulierung, dass ein Schöffe über hinreichende Am Umgang mit diesem Thema zeigt sich wieder, Deutschkenntnisse verfügen muss, im Grundsatz keine dass sich die Koalition sehr schwertut. Selbst ein Rüffel Einwände gehabt. Aber die Tatsache, dass die Koalition des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in in den letzten Tagen die Formulierung geändert hat, und Sachen Sicherungsverwahrung führt nicht dazu, dass die Ergebnisse im erweiterten Berichterstattergespräch sich hier besonders viel bewegt. Die Koalition reagiert haben uns schon nachdenklich gemacht. 5324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Jerzy Montag (A) Diese Regelung richtet sich – der Kollege Danckert lage notwendig. Das Argument der Linken, das wir hier (C) hat das ganz ausführlich und völlig korrekt dargestellt – gehört haben, hat mit der Sache nicht das Geringste zu an die Kommunen. Es stellt sich die Frage: Was machen tun. Es kommt nicht auf eine Verzögerung an, sondern die Kommunen eigentlich mit dieser Regelung bei der auf einen Fall wie folgenden: Wenn das Oberlandesge- Auswahl der Bürgerinnen und Bürger für die Schöffen- richt Nürnberg in Kenntnis der Entscheidung des Euro- wahl? Wir haben im erweiterten Berichterstattergespräch päischen Gerichtshofs für Menschenrechte Personen aus zwei Varianten vernommen. einer Sicherungsverwahrung nicht herauslässt, das Ober- landesgericht Stuttgart dies allerdings tut, dann haben Die eine Variante war: Die Kommunen werden be- wir es mit einer unterschiedlichen Behandlung durch die reits nach dem Namen oder nach dem Geburtsort aussie- Oberlandesgerichte zu tun, ohne dass es eine Möglich- ben. Wenn das geschähe, dann wäre das willkürlich, und keit der Vereinheitlichung gibt. Diese Möglichkeit muss das wäre rechtswidrig. es geben. Bisher ist sie nicht vorgesehen. Deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, stimmen wir der Divergenzvorlage zu. bei der SPD und bei den LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur zweiten Variante. Der Vertreter aus Hamburg, der sowie bei Abgeordneten der SPD) die dortige Behörde leitet, hat gesagt, nach seiner Mei- Aber das entbindet nicht von der Kritik, dass die Ko- nung werde seine Behörde auf diese gesetzliche Rege- alition – sie geht jetzt in die Sommerferien – zur Frage lung überhaupt nicht reagieren, sondern die Vorschlags- der Sicherungsverwahrung bei der Führungsaufsicht listen weiter so zusammenstellen, wie sie es bisher getan – auch da geht es um 70 bis 80 Personen – nichts vorge- hat. Damit verlagert sich das Problem, ob ein Schöffe legt hat, obwohl die Zeit drängt. Das kritisieren wir. Wir Deutsch kann, auf die Situation vor Beginn der Haupt- werden an den Debatten im Herbst teilnehmen. Wir wer- verhandlung: Was macht der Vorsitzende, wenn er mit den uns konstruktiv einbringen. Wir finden einige As- einem Schöffen konfrontiert wird, von dem er denkt, pekte der Eckpunkte der Vorlage der Union sogar posi- dass er nicht genügend Deutsch kann? Schon angesichts tiv. dieser Problematik ist die Änderung des Vorschlags von Bedeutung. Während es bisher auf Vorschlag des Bun- desrats geheißen hat, es müssten hinreichende Kennt- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nisse der deutschen Sprache vorliegen, und man dazu er- Herr Kollege Montag! klärend gelesen hat, ein Schöffe müsse Deutsch verstehen und Deutsch sprechen können, soll jetzt eine Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Veränderung vorgenommen werden. Jetzt heißt es, er Andere finden wir natürlich nicht positiv. Dass Sie zu (B) müsse die deutsche Sprache ausreichend beherrschen. (D) der Frage der Führungsaufsicht – sie ist genauso bren- Jetzt stelle ich Ihnen die Frage: Wer entscheidet ei- nend wie die Divergenzvorlage – hier nicht sofort etwas gentlich nach welchen Kriterien, wer von uns die Spra- vorgelegt haben, das kreiden wir Ihnen an. che ausreichend beherrscht? Einige könnten sagen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbst die, die in diesem Hohen Hause reden, beherr- sowie bei Abgeordneten der SPD) schen die deutsche Sprache nicht ausreichend.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NEN]: Viele!) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Damit wird sozusagen das Feld eröffnet. Ich greife den das Wort der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/ Gedanken von Herrn Danckert auf – dieser Gedanke ist CSU-Fraktion. nämlich richtig –: Wenn die Entscheidung des Vorsitzen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Richters nicht angreifbar ist und unwiderruflich gilt, dann gibt es die Möglichkeit zu einem Missbrauch. An- gesichts dessen sagen wir: Wir wären den Weg, hinrei- Ansgar Heveling (CDU/CSU): chende Deutschkenntnisse zu verlangen, mitgegangen; Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aber die Änderung, eine ausreichende Beherrschung der Eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Revo- deutschen Sprache zur Voraussetzung zu machen, ver- lutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die bunden mit dem Hinweis, dass das eine aktive Sprachbe- Forderung nach einer Bürgerbeteiligung bei der Justiz. herrschung bedeutet, wollen wir nicht mitgehen. Deswe- Entsprechend den Zielen der Vormärzbewegung, die gen lehnen wir diesen Änderungsvorschlag ab. Freiheit des Einzelnen zu sichern und die staatliche Macht zu begrenzen, verlangte das Bürgertum Möglich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keiten zur Mitwirkung an sämtlichen Staatsfunktionen Nun noch ein Wort zur Sicherungsverwahrung, die einschließlich der Justiz. hier ebenfalls in Rede steht. Das, was jetzt zu reparieren (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- ist, hat Schwarz-Gelb vor über zehn Jahren verbockt. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vor über zehn Jahren wurde die Zehnjahresfrist gestri- chen. Über die Übergangsregelungen hat man sich keine Man forderte die Einführung von Schwurgerichten nach Gedanken gemacht. Die Tatsache, dass das nicht gesche- französischem Vorbild, und das mit Erfolg: Nach Aus- hen ist, holt Sie jetzt ein. Trotzdem ist die Divergenzvor- bruch der Revolution im Jahr 1848 wurde die Institution Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5325

Ansgar Heveling (A) der Geschworenengerichte in die Paulskirchenverfas- stellt, dass die beigezogenen Schöffen nicht in ausrei- (C) sung und die Landesverfassungen aufgenommen. chendem Maße der deutschen Sprache mächtig sind. Für diesen Fall kennt das Gesetz bislang keine rechtlich ein- Wenn ein Amt damals so hart von den Bürgern er- wandfreie Lösung. Offensichtlich ist damit alles doch kämpft wurde, dann beweist dies: Unser Schöffenamt nicht ganz so selbstverständlich, wie es mein Vorredner verkörpert die direkte Beteiligung des Volkes an der drit- hier dargestellt hat. ten Gewalt. Es stellt sicher, dass Urteile eben nicht am grünen Tisch, sondern im Namen des Volkes gesprochen Wenn diese Situation eintritt, stellt dies die gerichtli- werden. Die Laienbeteiligung ist nach wie vor eine we- che Praxis vor erhebliche Probleme. Die Praxis versucht sentliche und notwendige Ausgestaltung des Demokra- derzeit im Wesentlichen auf zwei Wegen, dieses Pro- tieprinzips und Ausdruck unserer vielfältigen demokrati- blem zu lösen. Beide stehen jedoch auf rechtlich töner- schen Verschränkungen der rechtsprechenden Gewalt. nen Füßen. Der eine Weg ist, solche Schöffinnen und Schöffen von der Schöffenliste zu streichen. Dies ist in- Neben dem notwendigen juristischen Sachverstand, dessen rechtlich problematisch, weil das Gesetz derzeit der durch die Berufsrichter in das Verfahren eingebracht das Spracherfordernis gerade nicht als Bestellungsvor- wird, wird auf diesem Wege das gesellschaftlich aner- aussetzung konstituiert. Mit welcher rechtlich tragfähi- kannte Gerechtigkeitsempfinden in den Prozess inte- gen Begründung ließe sich dann so vorgehen? Der an- griert. Schöffen wirken dabei nicht nur als gesetzliche dere Weg ist nicht minder problematisch. Hierbei wird Richter an der Entscheidungsfindung mit; sie sind zu- dem des Deutschen nicht mächtigen Schöffen ein Dol- gleich Garanten für die gesellschaftliche Befriedungs- metscher zur Seite gestellt. Inwieweit damit noch die un- funktion des Rechts. Schöffen sind mithin aus unserem mittelbare Wahrnehmung des Prozessgeschehens als Vo- Gerichtssystem nicht mehr wegzudenken. raussetzung zur Beurteilung gewährleistet ist, erscheint Angesichts des zutiefst demokratischen und richtigen fraglich. Ebenso problematisch und strittig ist die Betei- Anspruchs, Schöffen aus möglichst allen Bevölkerungs- ligung des Dolmetschers an der Urteilsberatung, an der schichten zu rekrutieren, bestehen nur relativ wenige nur die zur Entscheidung berufenen Richter teilnehmen formale Grenzen. Grundsätzlich soll das Schöffenamt dürfen. Es stellt sich also auch die Frage nach der ord- von jedem deutschen Staatsbürger ausgeübt werden kön- nungsgemäßen Besetzung des Gerichts. nen. Das soll und muss so bleiben. Daher gibt es in den Es zeigt sich: Beide derzeit von der Praxis gewählten §§ 33 und 34 des Gerichtsverfassungsgesetzes nur einen Lösungswege sind wackelig und daher rechtlich bis hin eng gefassten Katalog von persönlichen und funktiona- zu revisionsrelevanten Überlegungen angreifbar. Das len Ausschließungsgründen. Korrespondierend dazu lässt es sinnvoll erscheinen, mit einer gesetzgeberischen kann nur ein sehr begrenzter Personenkreis, der in § 35 Klarstellung zu reagieren. Dies geschieht mit der Ergän- (B) des Gerichtsverfassungsgesetzes benannt ist, die Beru- (D) zung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes, wonach fung in das Schöffenamt von sich aus ablehnen. Personen, die mangels ausreichender Beherrschung der So wichtig es aber aus grundsätzlichen, den Kern un- deutschen Sprache für das Amt nicht geeignet sind, nicht seres Demokratieverständnisses berührenden Erwägun- zu Schöffinnen und Schöffen berufen werden sollen. Die gen heraus ist, allen Teilen der Bevölkerung den Zugang Koalitionsfraktionen sind der Auffassung, dass durch die zum Schöffenamt zu eröffnen, so wichtig ist es aus Ergänzung des § 33 GVG dem vorstehend beschriebe- grundsätzlichen und grundrechtlichen Erwägungen nen Problem mit einer rechtlich ausreichend klaren Re- auch, die Funktionsfähigkeit der Gerichte und die Be- gelung begegnet wird. achtung sämtlicher Verfahrensgrundsätze wie etwa der Unmittelbarkeit im Strafprozess sicherzustellen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischen- der FDP) frage des Kollegen Danckert? Bei der vorgesehenen Änderung des § 33 des Ge- richtsverfassungsgesetzes geht es daher um die richtige Ansgar Heveling (CDU/CSU): und schonende Ausbalancierung dieses Spannungsfel- Ja. des. Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, sicherzustel- len, dass nach wie vor allen Teilen der Bevölkerung der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zugang zum Schöffenamt eröffnet wird. Es ist aber Bitte schön, Herr Danckert. ebenso unsere Aufgabe, zur Sicherstellung der Funk- tionsfähigkeit des Schöffenamtes dafür Sorge zu tragen, Dr. Peter Danckert (SPD): dass Schöffinnen und Schöffen tatsächlich in der Lage Herr Kollege, wenn wir schon diese Vorschrift ein- sind, ihre wichtige Aufgabe angemessen und amtsent- führen, mit all den Problemen, die im Laufe dieser sprechend auszuüben. Debatte beschrieben worden sind, wäre es dann nicht an- Ein in der Praxis zwar quantitativ nicht zu überschät- gezeigt, dass man im Bereich des § 52 Abs. 3 Gerichts- zendes, in den rechtlichen und tatsächlichen Auswirkun- verfassungsgesetz – das Gericht macht sich unter Betei- gen aber nicht zu unterschätzendes Problem führt daher ligung der Staatsanwaltschaft ein Bild über die Eignung bei den Bestellungsvoraussetzungen an einer Stelle zu des Schöffen bezüglich der ausreichenden Beherrschung Anpassungsbedarf. Hintergrund ist, dass es in der Praxis der Sprache – den Verteidiger des Angeklagten an der Verfahren gegeben hat und gibt, bei denen sich heraus- Entscheidung beteiligen würde? 5326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Es ist nicht ausgeschlossen, dass es noch zu weiteren Danke sehr. – Herr Kollege, Sie haben zu Recht da- Diskussionen kommt. Die heutige Entscheidung über rauf hingewiesen, dass es Gremien gibt – den Gemeinde- das GVG ist sicherlich nicht die abschließende Entschei- rat, aber auch im Wahlverfahren –, in denen Überprü- dung. fungsinstanzen möglich sind. Würden Sie mir zustimmen, dass es einen entscheidenden Unterschied (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zwischen der Zusammensetzung der Schöffenliste bei- NEN]: Das war eine halbe Zusage! – Gegenruf spielsweise am Landgericht Amberg in der Oberpfalz des Abg. Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: mit einem überschaubaren Kreis von Personen, Interes- Eine Diskussion ist noch gar nichts!) sierten und Vorgeschlagenen gibt (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: GRÜNEN]: Da kennt jeder jeden!) War das Ihre Antwort? und dem, was wir im erweiterten Berichterstatterge- Ansgar Heveling (CDU/CSU): spräch zum Beispiel über Hamburg gehört haben? Dort Das war die Antwort. müssen in jeder Wahlperiode 1 700 Schöffen gewählt, das heißt 3 400 Personen in die Liste eintragen werden. Der Leiter der Abteilung, der in Hamburg damit be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schäftigt ist, hat uns gesagt, es ist absolut ausgeschlos- Bitte schön. Dann fahren Sie fort. sen, dass sich die Gemeinde – auf welcher Ebene auch immer – mit diesen Personen näher beschäftigt und mit Ansgar Heveling (CDU/CSU): ihnen spricht. Vielmehr nehmen sie die Leute, die vorge- Auf diese Weise wird ein revisionsfester Weg eröff- schlagen werden. Die genügen aber nicht. Dann nehmen net, um Schöffinnen und Schöffen von der Schöffenliste sie welche nach dem Zufallsgenerator aus dem Einwoh- zu streichen, wenn sich erweist, dass sie der deutschen nermeldeamt. Er hat uns gesagt: Entweder schmeißen Sprache nicht ausreichend mächtig sind. wir die Leute mit ausländischem Namen und Auslands- geburtsorten raus, oder wir machen nichts. Ich frage Sie, Natürlich gibt jede neue Regelung, jedes neue ein- ob Sie den Unterschied zwischen kleinen Gemeinden, in schränkende Zulassungskriterium Raum für Beurteilun- denen Sie vielleicht in der Vergangenheit mitgearbeitet gen. Insoweit sind die in der Diskussion vonseiten der haben, und Großstädten sehen, in denen sich dieses Pro- Opposition aufgeworfenen Fragen keineswegs falsch. blem ergibt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D) (B) GRÜNEN]: Aha!) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Kollege Montag, ich kann natürlich kaum be- Wir als Koalition sind indessen der Auffassung, dass der streiten, dass Amberg und Hamburg unterschiedlich Gesamtproblematik durch die Ergänzung des § 33 GVG große Städte sind. Da gebe ich Ihnen – das ist Punkt eins – gut und richtig Rechnung getragen wird. Natürlich könn- vollkommen recht. Punkt zwei: Es mag auch sein, dass ten die Kommunalverwaltungen – wie vom Kollegen vonseiten der Kommunalverwaltung – das habe ich ja Montag eben angesprochen – trotzdem versucht sein, bei auch entsprechend so angesprochen – diese Praxis so ge- der Aufstellung bloß nach den Namen zu gehen. Aber übt wird. Aber es ist doch ein ganz übliches Verfahren, wir haben ein gestuftes Verfahren. Wir haben zwei Kol- dass die Fraktionen bzw. Parteien und sonstige gesell- legialorgane, die darüber entscheiden: den Gemeinderat, schaftliche Organisationen auch noch eigene Vorschläge der die Listen beschließt, und das Gremium, das die in die Ratsgremien einbringen können, die dann in die Schöffen auswählt. Abstimmung eingehen. Das heißt, es wäre jeder Partei bzw. jeder Institution unbenommen – wenn das eben so (Dr. Peter Danckert [SPD]: Abhaken!) wichtig ist –, selbst darauf zu achten. So praktizieren wir – Herr Danckert, abhaken mag an manchen Stellen die das in meiner zugegebenermaßen eher kleinstädtisch ge- Praxis sein, aber ich selbst bin lange genug kommunaler prägten Situation; aber das spricht nicht dagegen, dass Fraktionsvorsitzender gewesen, um zu wissen, dass man man das in Großstädten nicht genauso praktizieren kann. die Listen schon sehr genau durchgeht; denn man hat (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE eine demokratische Entscheidung zu treffen. Insofern ist GRÜNEN]: Die sortieren doch gar nicht aus!) das aus theoretischer Sicht kein Angriffspunkt. Natürlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Kriterium der Beherrschung der deutschen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sprache missbraucht werden kann, um Schöffen von der Herr Heveling, es gibt eine weitere Frage des Kolle- Liste zu streichen. Diese Möglichkeit wird aber auch gen Jerzy Montag. durch andere Kriterien – wie zum Beispiel die gesund- heitliche Eignung – theoretisch eröffnet. Hier gilt, was Ansgar Heveling (CDU/CSU): überall gilt: Willkürentscheidungen werden durch kei- Herr Kollege Montag, gerne. nerlei gesetzliche Grundlagen abgedeckt und sind dem- entsprechend auch weiterhin rechtlich angreifbar. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir sind der Auffassung, dass es richtig ist, auf die Bitte schön, Herr Montag. Beherrschung der deutschen Sprache – im Gegensatz zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5327

Ansgar Heveling (A) bloßen Kenntnissen – abzustellen. Das Schöffenamt ist Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) ein aktives Amt. Schöffinnen und Schöffen müssen dem tion der SPD Geschehen nicht nur passiv folgen können, sie haben eine aktive Rolle. Ein Urteil ist das Ergebnis von Bera- Keine Patente auf Pflanzen und Tiere tungen. Für und Wider sind diskursiv abzuwägen. Auch – Drucksache 17/2016 – das ist ein hohes und zutiefst demokratisches Element in Überweisungsvorschlag: unseren Gerichtsverfahren. Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall bei der CDU/CSU) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Das setzt aber voraus, dass die an der Beratung Beteilig- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ten ihre Standpunkte auch tatsächlich vor- und einbrin- Ausschuss für Bildung, Forschung und gen können. Dazu muss man mehr können, als bloß zu Technikfolgenabschätzung verstehen. Salopp formuliert: Man muss in der Lage Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sein, den gesunden Menschenverstand, den Schöffinnen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike und Schöffen in die Beratung einbringen sollen, auch Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, tatsächlich zu artikulieren – nicht weniger, aber auch weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- nicht mehr. Daher werden wir der vorgesehenen Ergän- NIS 90/DIE GRÜNEN zung des § 33 GVG zustimmen. Patentierung von Pflanzen, Tieren und biolo- Vielen Dank. gischen Züchtungsverfahren stoppen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 17/2141 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rechtsausschuss (f) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und stimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Ent- Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wurf eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichts- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit verfassungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in Ausschuss für Bildung, Forschung und seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2350, Technikfolgenabschätzung den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1462 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion Federführung strittig Bündnis 90/Die Grünen verlangt getrennte Abstimmung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (B) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es (D) Ich rufe die Ziffer 2 der Beschlussempfehlung auf, dagegen Widerspruch? – Das ist wohl nicht der Fall. und zwar nur Art. 1 Buchstaben a und b. Ich bitte dieje- nigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Teil des Ge- ner dem Kollegen Dr. Matthias Miersch von der SPD- setzentwurfs ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Fraktion das Wort. nen, der Fraktion der SPD bei Gegenstimmen von den Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange- Dr. Matthias Miersch (SPD): nommen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum anderen rufe ich die Ziffer 1 der Beschlussemp- „Keine Patente auf Pflanzen und Tiere“, das ruft bei dem fehlung und Ziffer 2 der Beschlussempfehlung, und einen oder anderen Zuhörer dieser Debatte sicherlich zwar nur Art. 1 Buchstabe c sowie Art. 2 des Gesetzent- erst einmal Erstaunen hervor: Worum geht es? Wenn wurfs auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, man dann noch hört, dass es darum geht, dass den Pa- um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- tentämtern inzwischen in der Tat Anträge vorliegen, sich gen? – Auch dieser Teil des Gesetzentwurfs ist – diesmal das gute Schnitzel oder den herkömmlichen Brokkoli pa- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und tentieren zu lassen, dann merkt man schnell: Auf der ei- Bündnis 90/Die Grünen, bei Gegenstimmen der Fraktion nen Seite ist das Schmunzeln vielleicht nicht aus dem Die Linke – angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf Gesicht zu bekommen, auf der anderen Seite aber auch insgesamt angenommen. die Verwunderung nicht. Dritte Beratung Um das Thema, um das es hier und heute geht, auf den Punkt zu bringen, will ich zu Beginn meiner Rede und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- ein Zitat eines Vertreters eines großen, multinationalen setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen- Konzerns anführen, der gesagt hat: Unser Ziel ist es, die stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit Ernährung der Bevölkerung vom Acker bis zum Teller den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Frak- zu steuern. – An diesem Zitat wird deutlich, welche Stra- tion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Ent- tegie in bestimmten Zentralen dieser Welt ausgeheckt haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. wird und wie diese Strategie aussieht. Wir sind gut bera- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: ten, diese Entwicklung sehr aufmerksam zu verfolgen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Es geht um drei zentrale Bereiche, die alle Menschen Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Gerd weltweit betreffen: Das ist Energie, das ist Wasser, und 5328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Matthias Miersch (A) das ist die Ernährung. Wenn es gelingt, sich ein Recht zusagen der Ursprung der Ernährung schon mit einem (C) auf die Ernährung zu sichern und dieses Recht als Werk- Recht behaftet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die zeug zu verwenden, um die Ernährung zu steuern, wenn SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass dies nicht sogar zu monopolisieren, dann haben wir nicht nur nicht sein darf. ein ökologisches, sondern auch ein ökonomisches und vor allen Dingen ein soziales Problem. Deswegen haben (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem wir heute diesen Antrag eingebracht. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wir in diesem Hohen Hause sind gut beraten, uns BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese Rechtsentwicklung aufmerksam anzusehen und im Übrigen auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Wis- Worum geht es? Wir können sehen, dass die Zahl der senschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministe- Anträge für Patente auf Pflanzen, aber nicht nur auf rium uns sogar schon vor einigen Jahren auferlegt hat. Pflanzen, sondern generell auf die ganze Ernährungs- Da hat er nämlich geschrieben, dass er die Erteilungspra- kette, angefangen bei der Pflanze über Samen bis hin zu xis des Europäischen Patentamts mit Besorgnis zur den daraus resultierenden Produkten einer Pflanze – es Kenntnis nimmt. Wenn man dann noch sieht, dass eine geht beispielsweise nicht nur um die Sojapflanze, son- unabhängige Kontrollinstanz fehlt und dass dieses Amt dern auch um ihr Öl –, zunimmt. Wir sehen auch, dass es durch die für die Patente gezahlten Gebühren und nicht nicht mehr nur darum geht, sich beispielsweise gentech- durch unabhängige Gelder finanziert wird, sodass die nisch verändertes Futter schützen zu lassen, sondern Neigung, ein Patent zu verwehren, nicht besonders stark gleich das Futter, das Schwein, das es gefressen hat, und ausgeprägt ist, dann weiß man, dass wir hier über sehr auch das Schnitzel, das daraus letztlich erwachsen wird. grundsätzliche Dinge reden müssen. Ich lade Sie alle recht herzlich ein, das gemeinsam zu tun. Der Deutsche Diese Beispiele zeigen, ein bisschen umgangssprach- Bundestag sollte möglichst einmütig zum Ausdruck lich formuliert, dass es hier tatsächlich um das Elemen- bringen, dass diese Rechtsentwicklung von uns allen tarste geht. Wir müssen aufpassen, dass wir unser Recht nicht gewollt ist. Das ist ein dickes Brett, weil es nicht auf gewerblichen Schutz, das eigentlich dazu dient, Er- nur um nationales, sondern auch um europäisches Recht findungen zu schützen, sehr wohl in Einklang mit den geht. Aber wir müssen hier handeln, weil diese Rechts- Interessen der Bevölkerung weltweit bringen. entwicklung schädlich für die Menschen ist. Wir erleben augenblicklich aber genau das Gegenteil: dass dieses Recht zu ungenau ist, dass die Begriffe, mit Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. denen in den Patentämtern hantiert wird, auslegungsfä- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem hig sind, sodass sie nach unserer Auffassung miss- (B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) braucht werden. Wir sind gut beraten, uns zu fragen: Wie können wir hier eine Grenze einziehen, damit es nicht zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: diesen Missbräuchen kommt? Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU-Fraktion. Es kann nicht sein, dass wir sagen: Eine Pflanzensorte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darf nicht patentiert werden; aber das Gen, das wir in eine Pflanze stecken, kann dazu führen, dass sämtliche Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Pflanzenarten, ganze Baumgruppen beispielsweise, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! plötzlich patentierungsfähig sind. Dies erleben wir zur- Über das Thema der Patentierung von Tieren und Pflan- zeit. Wir als Gesetzgeber dürfen nicht als Zuschauer zen hat der Deutsche Bundestag bereits im vergangenen agieren, sondern wir sind es, die über gesetzliche Grund- Jahr debattiert. Damals wurde ein Antrag diskutiert, der lagen entscheiden. Wir müssen diese Verantwortung von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wahrnehmen und dürfen diese Verantwortung nicht Ge- wurde. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in den richten überlassen. jetzt eingebrachten Anträgen durchaus erstrebenswerte (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Zielsetzungen. Auch in der Koalitionsvereinbarung hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die christlich-liberale Koalition klar geäußert, dass sie auf landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen Wer sich vor Augen hält, worüber das Europäische keine Patente will. Wörtlich heißt es dort: Patentamt in München am 20. und 21. Juli dieses Jahres verhandelt, der sieht, dass wir es mit dem Versuch zu tun Unabhängig vom Schutz des geistigen Eigentums haben, sogar konventionelle Züchtungsverfahren schüt- wollen wir auf landwirtschaftliche Nutztiere und zen zu lassen. Damit schafft man nicht nur das Recht an -pflanzen kein Patentrecht. einer Pflanzensorte, sondern man setzt sehr viel früher Das ist an Klarheit nicht zu überbieten. an. Man setzt beim Züchtungsverfahren an und versucht, sich das Recht, mit diesem Verfahren eine Pflanzensorte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu züchten, schützen zu lassen. Wir bekennen uns im Koalitionsvertrag – auch vor Wenn jemand dieses Recht hat, dann wird es niemand dem Hintergrund internationaler Abkommen – aber auch anderem möglich sein, auf dieses Züchtungsverfahren ganz klar und ebenso zu Recht zum Schutz des geistigen zurückzugreifen. Dies wird zu einem Problem, weil so- Eigentums: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5329

Dr. Stephan Harbarth (A) Innovationen und Erfindungen sind für die volks- ren, die im Rahmen der Umsetzung der Biopatentrichtli- (C) wirtschaftliche Entwicklung unseres an Rohstoffen nie die Eingrenzung der Reichweite des Patentschutzes armen Landes, für die internationale Wettbewerbs- durch die Einschränkung des Stoffschutzes initiiert ha- fähigkeit unseres Landes und für den Schutz von ben. Arbeitsplätzen in Deutschland von zentraler Bedeu- tung. Wir wollen deshalb den rechtlichen Rahmen (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für einen wirksamen Schutz des geistigen Eigen- NEN]: Sie waren gar nicht dabei!) tums durch Patente, Marken und Muster weiter Damit haben wir in Deutschland ein Schutzniveau stärken und den Zugang zu Schutzrechten für den durchgesetzt, das über die europäischen Vorgaben hi- Mittelstand erleichtern. nausgeht. Der damalige Vorschlag der rot-grünen Bun- Wir werden uns auch auf europäischer und interna- desregierung sah vor, die Bestimmung der Reichweite tionaler Ebene für wirksame Maßnahmen gegen die des Patentschutzes den Gerichten zu überlassen. Auf- weltweite Marken- und Produktpiraterie einsetzen. grund der Initiative von CDU/CSU ist in Deutschland nun eine Patentierung menschlicher Gensequenzen nur So formuliert es der Koalitionsvertrag sehr eindrucks- dann möglich, wenn die Verwendung der Sequenz mit in voll. den Patentanspruch aufgenommen wird. Damit wurde der absolute Stoffschutz durch einen zweckgebundenen Wir stehen für den Schutz des geistigen Eigentums. Stoffschutz ersetzt, sodass der Stoffschutz in Deutsch- Aber wir stehen nicht für einen Schutz des geistigen Ei- land nur für die in dem Patent beschriebene Verwendung gentums um jeden Preis. Wir stehen nicht für einen gilt. Dass Sie dieses hohe Schutzniveau, das Sie CDU Schutz des geistigen Eigentums unter Aufgabe ethischer und CSU verdanken, heute auch auf europäischer Ebene Grundsätze. Zu diesen ethischen Grundsätzen gehört die erreichen wollen, spricht allerdings für Ihre Erkenntnis- Überzeugung, dass Tiere und Pflanzen zentrale Bestand- fähigkeit und freut uns deshalb umso mehr. teile unserer Schöpfung sind. Eine Politik, die sich ethi- schen Grundsätzen verpflichtet weiß, kann aber nicht bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieser Überzeugung stehen bleiben. Sie muss zugleich berücksichtigen, dass auch wissenschaftlicher Fortschritt Auch die christlich-liberale Koalition will nicht, dass zur Lösung von Problemen und zur Linderung von Leid Patente auf jahrhundertealte Züchtungs- und Selektions- ethisch begründet sein mag. verfahren und deren Nutzen zu einer Gewinnmaximie- rung für wenige und zum gleichzeitigen Ausschluss brei- Legt man diese Maßstäbe zugrunde, wird klar: Auch ter Bevölkerungsschichten von diesen Errungenschaften im Biopatentrecht werden Änderungen unumgänglich führt. Auch wir sind gegen Patente auf landwirtschaftli- (B) sein. Aber ebenso klar ist: Der heutige Zeitpunkt ist für che Nutztiere und Nutzpflanzen und sprechen uns des- (D) die Diskussion, an welchen Stellen man das Biopatent- halb für eine entsprechende Änderung des europäischen recht tatsächlich ändern muss, um die Patentierung von Biopatentrechts aus. Wir sind jedoch der Meinung, dass Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren es erst nach der Entscheidung des Europäischen Patent- zu verhindern, denkbar ungeeignet. amts Sinn machen wird, sich im Rahmen des Schnürens eines Gesamtpakets zu überlegen, inwieweit zur Errei- Warum ist er denkbar ungeeignet? Er ist deshalb chung dieses Ziels und darüber hinaus Handlungsbedarf denkbar ungeeignet, weil in wenigen Tagen vor der Gro- auf europäischer Ebene besteht und inwieweit das Bio- ßen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts patentrecht tatsächlich geändert werden muss. die mündliche Verhandlung zum sogenannten Brokkoli- Patent stattfinden wird. Dabei geht es entscheidend um Dabei kann es definitiv nicht angehen, unsere Schöp- den Begriff eines im Wesentlichen biologischen Verfah- fung zu kommerzialisieren. Der Schutz der natürlichen rens. Dies ist von herausragender Bedeutung für die Ab- Lebensgrundlagen und die Bewahrung der Schöpfung grenzung herkömmlicher, nicht patentierungsfähiger auch vor kommerzieller Reservierung sind Kernanliegen Züchtungsverfahren einerseits und patentierbarer erfin- christlich-demokratischer Politik. derischer Leistungen andererseits. Diese Entscheidung sollten wir in Ruhe abwarten und sie dann der weiteren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Debatte zugrunde legen. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber es muss auch klar sein: Wir dürfen berechtigte Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht ein- Sollte sich dabei herausstellen, dass solche biologi- fach grundlos vom Tisch wischen. Wir dürfen nicht zu- schen Verfahren, bei denen ein geringer und damit unwe- lassen, dass die Früchte der herausragenden deutschen sentlicher technischer Anteil hinzukommt, keine – wie Forschungsleistungen in anderen Ländern geerntet wer- das Gesetz es formuliert – „im Wesentlichen biologi- den. Deshalb brauchen wir auch ein zeitgemäßes Patent- schen Verfahren“ sind, dann wird gesetzlicher Ände- recht, das internationalen Standards entspricht. rungsbedarf bestehen. Dann wird es darum gehen, die gesetzlichen Grundlagen zu ändern, weil anderenfalls Dabei leben wir in Deutschland mit Sicherheit nicht Patente möglich wären, für die es inhaltlich keine Recht- von zweifelhaften Patenten, um die man sich so lange fertigung gibt. Dies darf nicht sein. streiten muss, bis sie ohnehin wertlos geworden sind. Aber wir leben vom Rohstoff Grips. Wir leben von der In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen in Erin- Innovationskraft unserer Menschen im Dienste der Men- nerung rufen, dass es vor fünf Jahren CDU und CSU wa- schen, und dies dürfen wir nicht grundlos preisgeben. 5330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Stephan Harbarth (A) Meine Damen und Herren, seien Sie versichert: Die Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): (C) christlich-liberale Koalition hat ein großes Interesse da- Wir haben in den Verfahren damals zum Ausdruck ran, gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren eine gute, gebracht, dass wir keinen absoluten Stoffschutz, sondern eine tragfähige Lösung zu finden. Ich appelliere daher an einen konkreten Stoffschutz wollten. Ich reiche Ihnen Sie und an uns alle, ohne überkommene Klischees und die entsprechenden Unterlagen gerne nach. ohne selbstauferlegte Denkverbote und ohne pawlow- sche Reflexe in eine sachliche, lösungsorientierte Dis- (René Röspel [SPD]: Darauf bin ich sehr ge- kussion einzutreten, sobald die Entscheidung des Euro- spannt!) päischen Patentamts vorliegt. Ihre Erfolgsbilanz ist, dass Sie die EU-Biopatentricht- linie von 1998 nicht mit einem Jahr, nicht mit zwei Jah- Und es geht hier wie immer auch um Ehrlichkeit. Und ren und auch nicht mit drei Jahren, sondern mit sage und zur Ehrlichkeit gehört es, an dieser Stelle anzumerken, schreibe fünf Jahren Verspätung umgesetzt haben. dass Rot-Grün die europäische Biopatentrichtlinie erst mit fünf Jahren Verspätung in deutsches Recht umge- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Herr setzt hat. Die Richtlinie ist von 1998, sie war bis 2000 Röspel! Unglaublich! Da hätten Sie mal lieber umzusetzen. Sie haben unter Bruch geltenden Rechts keine Zwischenfrage gestellt!) diese Richtlinie erst 2005 umgesetzt. Sie haben das im Stile eines Bummelzugs betrieben, und (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nachdem Sie von Bord gegangen waren, beschweren Sie NEN]: Gott sei Dank!) sich jetzt, dass er nicht die Geschwindigkeit eines ICEs aufgenommen hat. Schon damals haben Sie offensichtlich keine Dringlich- keit der Materie gesehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – René Röspel [SPD]: Ich bin (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gespannt auf die Unterlagen! – Ulrike Höfken NEN]: Waren Sie eigentlich dabei?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Sie Heute pressiert es Ihnen so sehr, dass Sie nicht einmal haben nicht einmal verstanden, was in den Un- die Entscheidung des Europäischen Patentamts abwarten terlagen steht!) wollen. Dass Sie jetzt eine solche Eile zur Schau stellen, Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion macht die von Ih- macht Sie gewiss nicht glaubwürdiger. nen demonstrierte Eile keinen Sinn. Lassen Sie uns zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nächst die Entscheidung des Europäischen Patentamts Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- abwarten. Deshalb sind Ihre Anträge zum jetzigen Zeit- (B) NEN]: Das ist doch Blödsinn! Wer hat Ihnen punkt abzulehnen. (D) das aufgeschrieben?) Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, Entschuldigung, ich darf Sie einen Mo- ment unterbrechen. Lassen Sie eine Zwischenfrage des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kollegen Röspel zu? Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) Sehr gerne. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Bitte schön, Herr Röspel. Kollegen! Liebe Gäste! Warum werden Biopatente über- haupt beantragt, und warum sind es gerade Brokkoli, Schweine und Sonnenblumen, die ins Visier der Patent- René Röspel (SPD): jäger geraten sind? Aus Sicht der Linken ist das kein Zu- Vielen Dank. – Herr Kollege, Sie haben jetzt mehr- fall. Das Ziel, das mit Patenten verfolgt wird, ist nämlich fach behauptet, es sei der Union zu verdanken, dass ge- die Kontrolle über Wissen, und in allen drei Fällen geht wisse Ausnahmen gegenüber der europäischen Biopa- es um Lebensmittel. tentrichtlinie bei der Umsetzung zum Tragen gekommen sind. Ich habe das ganz anders in Erinnerung, nämlich Wer über Biopatente Nahrungsmittel kontrolliert, hat so, dass die Kollegen aus der FDP und aus der Union auf Macht bis hin zur Erpressbarkeit. Deshalb ist die Kon- eine Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie von 1998 trolle über Nahrungsmittelquellen eine der effektivsten ohne Veränderung, nämlich eins zu eins, gedrängt haben. Gelddruckmaschinen, die es gibt, weshalb wir dort ge- nau hinschauen müssen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Eins zu eins!) Beim Patentrecht geht es um eine sehr grundsätzliche Frage: Was hat Vorrang? Ist es der Schutz des Rechts auf Ich bitte Sie, mir jetzt Ihre Quellen und Belege dafür zu Zugang zu Wissen oder die Sicherung des Rechts auf nennen bzw. zu geben, dass Sie die Genpatentierung und seine wirtschaftliche Verwertung? Bei Biopatenten spitzt auch die Reichweite einschränken wollten. sich dieser Interessenkonflikt noch weiter zu, weil es um Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5331

Dr. Kirsten Tackmann (A) Wissen über Nahrungsquellen geht. Aus Sicht der Lin- ziert wird. Das ist absolut inakzeptabel und muss (C) ken ist der Zugang zu diesem Wissen durch Biopatente unverzüglich korrigiert werden. aber nicht zu blockieren. Der Grundsatz „Keine Patente auf Leben“ ist für uns nicht verhandelbar. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. NEN]) Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Fazit der Linken: Das aktuelle Biopatentrecht NEN]) verstärkt die Macht von Agrokonzernen gegen die Inte- Dies ist auch breiter Konsens inner- und außerhalb ressen der Gesellschaft. Dagegen müssen wir Wider- der Parlamente. Auch der Bundestag hätte diese Position stand leisten – in Deutschland, in der EU und bei der längst beschließen können. Linke, SPD und Grüne wa- WTO. Das Biopatentrecht darf das Recht auf Teilhabe an ren sich schon vor einem Jahr einig – zumindest bei die- Wissen nicht einschränken. sem Thema –, aber die SPD hatte in der Großen Koali- Vielen Dank. tion leider nicht die Kraft, das dann auch durchzusetzen. Dabei besteht dringender Handlungsbedarf; denn die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Kritik an der europäischen Patentgesetzgebung und dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Europäischen Patentamt wächst; das ist schon genannt worden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der Die Spielräume in der schwammigen EU-Biopatent- FDP-Fraktion. richtlinie werden skrupellos ausgenutzt. Sie existieren nicht versehentlich, sondern absichtsvoll. Ein Beispiel: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Patente auf im Wesentlichen biologische Verfahren zur der CDU/CSU) Züchtung von Pflanzen und Tieren dürfen nicht erteilt werden. Doch wer definiert „im Wesentlichen“? Dem Stephan Thomae (FDP): Missbrauch durch findige Juristen im Auftrag von Saat- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von gutkonzernen, der Chemieindustrie und Gentechnikun- den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die ternehmen wird hier Tür und Tor geöffnet. Grünen eingebrachten Anträge auf ein vollständiges Ver- Die Linke will verhindern, dass die Grundlagen des bot der Patentierung von Tieren und Pflanzen greifen Lebens zur Beute privatwirtschaftlicher Interessenten zwar durchaus diskussionswürdige Themen und Frage- werden. Die Natur ist keine schützenswerte Erfindung, stellungen auf, aber sie gehen eindeutig viel zu weit. (B) (D) sondern das Ergebnis der Evolution. Gene können ent- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter deckt und ihre Funktion kann aufgeklärt und genutzt Bleser [CDU/CSU]) werden, aber sie sind kein privater Besitz, und sie dürfen es auch nicht werden. Patente haben eine wichtige Doppelfunktion: zugunsten des Erfinders und der Allgemeinheit. Einerseits schützen (Beifall bei der LINKEN) sie nämlich die Investitionen des Patentinhabers, ande- rerseits aber gewährleisten sie der Öffentlichkeit Ein- Es ist doch geradewegs absurd, dass immer öfter blick in die Erfindung. Durch die Veröffentlichung fließt wichtige Forschungsergebnisse nur deshalb nicht mehr die Erfindung in den allgemein zugänglichen wissen- wissenschaftlich veröffentlicht und damit allgemein zu- schaftlichen Wissensstand ein. Die Alternative wäre, gänglich gemacht werden, um ihre wirtschaftliche Ver- dass ein Unternehmen seine Neuentwicklungen nicht wertung nicht zu gefährden. zum Patent anmeldet, sondern geheim hält. Dann aber Wenn Forschung in diesem Maße finanziellen Ver- kann die Wissenschaft nicht auf der Grundlage des Pa- wertungsinteressen unterworfen wird, behindert das den tentes aufbauen und weiterforschen, und sie kann die Er- Wissensfortschritt, den die gesamte Gesellschaft drin- findung nicht substanziell und substanziiert kritisieren. gend braucht. Dieser Fesselung auch der Agrarwissen- Es muss deshalb gerade im Interesse einer kritischen schaften dürfen wir nicht tatenlos zusehen. Wissenschaftsbeobachtung sein, dass biotechnologische Erfindungen im Patentverfahren veröffentlicht werden. Ein weiterer Aspekt ist mir wichtig, der im Grünen- Das ist aber mit dem geforderten Pauschalverbot jegli- Antrag steht. Die Agrogentechnik ist eine Risikotechno- cher Patente auf Tiere und Pflanzen nicht möglich. logie. Eine unabhängige Begleitforschung zu ökologi- Es geht, Frau Kollegin Dr. Tackmann, nicht darum, schen und gesundheitlichen Gefahren wird deshalb drin- die Kontrolle über Natur und Lebensmittel zu erhalten, gend gebraucht. Wir müssen genau wissen, ob zum sondern es geht darum, dass Patente das geistige Eigen- Beispiel Gentechnikmais das Bodenleben beeinflusst, ob tum eines Erfinders schützen und die Erfindung zugleich die Gentechkartoffel Amflora von Wildschweinen ge- auch der Öffentlichkeit zugänglich machen sollen. Sie fressen wird und was gegebenenfalls die Folgen sind. stellen damit eine Alternative zur Geheimhaltung von Doch es mehren sich Berichte, dass kritischen Forsche- Forschungsergebnissen dar. rinnen und Forschern das für diese Arbeiten dringend nötige gentechnisch veränderte Saatgut nicht zur Verfü- Auch die FDP ist der Meinung, dass eine Überprü- gung gestellt wird. Damit sabotieren Konzerne die kriti- fung der Patenterteilungspraxis des Europäischen Pa- sche Forschung, selbst dann, wenn sie öffentlich finan- tentamtes im biotechnologischen Bereich – übrigens 5332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Stephan Thomae (A) auch in anderen Bereichen – durchaus Sinn macht. Die scheidung“, die jetzt kommt. Beim „Sonnenblumen-Pa- (C) FDP teilt auch die Auffassung, dass Patente konsequent tent“ ist es genau zu dem gekommen, was die Kollegen ausschließlich auf biotechnologische Erfindungen erteilt von der FDP auch nicht wollen: Der ursprüngliche Pa- werden sollten und nicht auf biologische Entdeckungen. tentantrag umfasste neben dem konventionellen Züch- Auch die Patentierung biologischer Züchtungsverfahren tungsverfahren einer speziellen Sonnenblumensorte und ihrer Produkte lehnt die FDP ab. Diese Abgrenzung auch das Saatgut, die Pflanze, sogar die Verwendung des muss möglicherweise verbessert oder auch gesetzlich Öls zum Braten und Backen und einen unglaublich wei- konkretisiert werden, falls das die Rechtsprechung nicht ten Claim. Dieses Patent ist dann im Verfahren auch tat- aus eigener Kraft leisten kann. Allerdings gibt es mo- sächlich erteilt worden. Man hat im Einspruchsverfahren mentan dafür nicht genügend Anhaltspunkte. Die FDP nur das Züchtungsverfahren als „nicht patentierbar“ be- ist ebenfalls der Ansicht, dass die bestehenden Rechts- urteilt, aber die anderen Ansprüche bestehen lassen. unsicherheiten beseitigt werden müssen. Das aber kann nicht jetzt im Zusammenhang mit den von Ihnen vorge- Damit ist genau die Situation eingetreten, die wir legten Anträgen geschehen, sondern das muss nach der schon Dutzende Male erlebt haben, nämlich dass etwas Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Euro- patentiert wird, was mit Erfindung nichts mehr zu tun päischen Patentamtes in den aktuellen Fällen – Brokkoli hat. Das heißt, wir müssen zu einer rechtlichen Konse- und Tomaten – geprüft werden. Momentan ist es dafür quenz kommen, zu einer Veränderung dieser Gesetze. noch zu früh. Ich finde, das muss im Sinne einer Eigentumswahrung, im Sinne von Innovationsermöglichung möglichst Ich danke Ihnen. schnell geschehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Im Moment werden jeden Monat 10 bis 20 neue Pa- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tente erteilt. Übrigens war vor einem Jahr ein Argument Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von von Ihnen, die Widerspruchsverfahren seien doch alle so Bündnis 90/Die Grünen. klasse und erfolgreich. 70 Prozent sind tatsächlich er- folgreich. Aber Sie müssen sich auch mal vor Augen halten, was das für die mittelständischen Firmen oder Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Länder oder auch die Umweltgruppen, Kirchen, und wer Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und alles dabei ist, bedeutet. Im Fall einer solchen Ein- Kollegen! Zum Kollegen Harbarth nur so viel: Neue Ab- spruchseinlegung fallen oft Kosten von bis zu geordnete genießen ja immer einen gewissen Welpen- 100 000 Euro an, und auf den Kosten bleibt man auch (B) (D) schutz, aber die Debatte völlig von den Füßen auf den bei Erfolg sitzen. Das heißt, im Fall des Patentrechts gilt Kopf zu stellen, das geht nicht. Ich glaube, Sie haben die de facto das Recht des finanziell Stärkeren. Das kann ja Unterlagen der rot-grünen Koalition mit denen der CDU/ nun nicht Grundlage einer Gesetzgebung sein. Das ist CSU oder der jetzigen Koalition verwechselt. eine grobe Wettbewerbsverletzung und fördert eine bis- ( [CDU/CSU]: Steht so im Proto- her undenkbare Monopolisierung in der Land- und Le- koll des Bundestags!) bensmittelwirtschaft. Es war nun so, dass die Umsetzung der Biopatent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richtlinie genau die Probleme geschaffen hat, die wir ge- Die Patente sind die Lizenz zum Gelddrucken. Das rade haben. Wir haben damals sehr zu Recht – übrigens sehe ich auch so wie die Kollegin Tackmann. Man sieht auch mit vielen von Ihnen und dem Deutschen Bauern- übrigens, dass die Patente echte Preistreiber sind. Wenn verband – gegen das ganze Heer der Juristen dafür ge- man mal auf die Daten in den USA schaut, die dort über kämpft, in der deutschen Rechtsprechung ein Züchter- die Kosten des Saatguts veröffentlicht worden sind, dann privileg oder eine Percy-Schmeiser-Klausel und sieht man beim Mais eine 30-prozentige Preissteigerung Ähnliches zu verankern, um das Schlimmste zu verhin- im Jahr 2009 gegenüber 2008. Bei Soja sind es dern. 25 Prozent, womit nicht im Mindesten entsprechende (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ertragssteigerungen verbunden sind. und bei der SPD) Inzwischen beherrschen zehn große Konzerne zwei Nichtsdestotrotz, Kollege Miersch, ich wäre auch Drittel des globalen Saatgutmarktes, und die dominie- glücklich gewesen, Sie hätten diese Rede schon vor ge- renden von denen, Monsanto, Syngenta, DuPont und nau einem Jahr halten können. Damals war die Situation Bayer, beherrschen auch den Düngemittel- und Pestizid- genau umgekehrt. Zu dem damaligen Antrag der Grünen markt. Hier sind die Patente tatsächlich eine Lizenz zum zur Veränderung der Biopatentrichtlinie haben Sie ge- Gelddrucken. sagt: Lassen Sie uns doch abwarten, überprüfen. – In- zwischen haben wir erteilte Patente. Wir wollen die Forschungsfreiheit sicherstellen und damit auch die Praxis wieder so gestalten, dass For- Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, was im schungsfreiheit und Zugang zu Daten im Sinne des Ge- Mai passiert ist, nämlich auf die Erteilung des „Sonnen- setzes wieder möglich sind. blumen-Patents“. Das ist übrigens ein klarer Vorgriff auf die „Brokkoli-Entscheidung“ oder die „Tomaten-Ent- (Zuruf von der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5333

Ulrike Höfken (A) Wir wollen kein Patent auf Leben, kein Patent auf gen. Gerade deshalb, denke ich, muss die Debatte mit (C) Pflanzen und Tiere – so wie es in Ihrem Koalitionsver- großer Sorgfalt geführt werden. trag steht; daran darf ich erinnern –, wir wollen eine Überarbeitung der Konstruktion des Europäischen Pa- Die Frage der Patentierbarkeit führt automatisch zu tentamts und die Beseitigung aller Interpretationsspiel- Interessenkonflikten zwischen dem Schutz des geistigen räume. Ich hoffe, dass wir gemeinsam dazu kommen, Eigentums auf der einen Seite und dem Grundsatz der hier eine bessere Gesetzesgrundlage zu erstreiten. allgemeinen Verfügbarkeit natürlicher genetischer Res- sourcen auf der anderen Seite. Ich glaube, das ist der Vielen Dank. Kernpunkt. Der Schutz geistigen Eigentums über Pa- tente ist in einem Hochtechnologieland wie Deutschland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN generell unverzichtbar; denn der Schutz einer Erfindung sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- und die Wertschöpfung, die aus deren Vermarktung ge- KEN) zogen werden kann, sind ein großer Ansporn, erfinde- risch tätig zu werden und besser zu sein als andere. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kollegen Dr. Matthias Miersch. der FDP) Des Weiteren macht dieser Schutz Innovationen der Dr. Matthias Miersch (SPD): Öffentlichkeit zugänglich. Frau Höfken, Sie sollten nicht Frau Kollegin Höfken, Sie haben mich persönlich an- nur negativ über Patente und Verteuerungen in der Praxis gesprochen und gesagt, Sie hätten sich gewünscht, dass reden; Sie sollten auch sagen, dass Patentschutz zumin- ich bereits vor einem Jahr diese Rede gehalten hätte. Ich dest in Deutschland etwas ermöglicht, nämlich dass die möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- gefundenen neuen Erkenntnisse für alle verfügbar ge- men, dass ich, seitdem ich diesem Hohen Hause ange- macht werden. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. höre, nämlich seit 2005, in vielen Reden diesen Stand- punkt für die SPD-Bundestagsfraktion immer sehr Darauf gründet sich ein großer Teil unserer Wirt- deutlich vertreten habe, dass man aber, wenn man in ei- schaftskraft und unseres Wohlstands. Das Patent ist folg- ner Koalition ist – das wissen Sie sicherlich auch aus ei- lich ein elementarer Baustein unserer Wettbewerbswirt- gener Erfahrung –, seine Position nicht immer eins zu schaft und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. eins in Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge um- Wir sehen aber auch die nicht unberechtigte Sorge setzen kann? von Züchtern und Landwirten, dass Biopatente zu einer zunehmenden Konzentration der Pflanzenzüchtung auf (B) (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenige große Unternehmen sowie zu einer Verengung Zur Erwiderung, Frau Höfken. der biologischen Vielfalt in der Produktion auf wenige Hochleistungssorten und Rassen führen können. Der un- gehinderte Zugriff auf genetische Ressourcen muss aber Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): allgemein möglich sein und bleiben. Ich glaube, das ist Das erkenne ich sehr gern an. Das war auch kein An- eine Forderung, die wir alle unterschreiben können. griff auf Sie. Ich hoffe nur, dass wir aus der Debatte von vor einem Jahr lernen können. Alle Argumente, die da- Biopatente stellen allerdings eine Besonderheit im mals gegen eine Gesetzesänderung und entsprechende Patentrechtssystem dar. Wir haben es hier nicht mit tech- Initiativen vorgebracht worden sind, wurden inzwischen nischer – toter – Materie zu tun, sondern mit Lebewesen, einer Prüfung unterzogen. Jetzt muss man endlich zum die sich fortpflanzen und vermehren können. Dabei sind Handeln kommen. die Belange der Naturwissenschaften, rechtliche Rah- menbedingungen, ökonomische Nutzerinteressen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht zuletzt auch ethische Grundsatzfragen zu berück- Vielen Dank. – Dann hat als nächster Redner das sichtigen und miteinander in Einklang zu bringen – ein Wort der Kollege Dr. Max Lehmer von der CDU/CSU- sehr komplexes System also. Fraktion. Die Erteilung von Patenten ist an das Europäische Pa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tentübereinkommen sowie die EU-Biopatentrichtlinie gebunden. Ich will mich jetzt nicht mit der Vergangen- heit aufhalten. Ich nehme den Status, wie er ist, und kon- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): zentriere mich darauf, wie man die weitere Entwicklung Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- in den Griff bekommen kann. Für eine Biopatentierung nen und Kollegen! Werte Gäste! Die politische Diskus- muss die Frage gestellt werden, ob insbesondere die EU- sion um die Patentierung von Nutztieren und Nutzpflan- Biopatentrichtlinie, die konkrete Aussagen zur Reich- zen wird in der Öffentlichkeit, sicher auch heute, mit weite von Biopatenten auf lebende Organismen enthält, großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit der rasant fort- noch die Anforderungen an eine verantwortbare Politik schreitenden Entwicklung der Biotechnologie im In- und erfüllt oder ob Anpassungen in Erwägung gezogen wer- Ausland gewinnt dieses Thema selbstverständlich immer den sollten. mehr an Bedeutung und – Herr Miersch, Sie haben auf Entwicklungen hingewiesen, die zu Recht Sorge bereiten – Die derzeit geltenden europarechtlichen Grundlagen gibt den Menschen Anlass zu Ängsten und Befürchtun- – das ist wichtig – schließen nur Patente auf Pflanzensor- 5334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Max Lehmer (A) ten und Tierrassen aus. Aber wie ist mit patentierten Ver- Zweitens. Die Reichweite eines Patents ist ebenfalls (C) fahren umzugehen, die nicht auf den Schutz einer Sorte eine elementare Frage. Wie weit also darf sich der abge- oder Rasse gerichtet sind, sondern bewusst oberhalb leitete Stoffschutz eines Verfahrenspatents überhaupt er- oder unterhalb dieser taxonomischen Ebene ganz legal strecken? Müssen die Nachkommen eines mittels des pa- zu einem Patentschutz für Nutzpflanzen oder Nutztiere, tentierten Verfahrens erzeugten Tieres oder einer dem sogenannten abgeleiteten Stoffschutz, führen kön- entsprechenden Pflanze vom Schutz des Patents erfasst nen? sein? Als prominentestes Beispiel ist das mehrfach ange- Die Kernbotschaften der heute zur Debatte stehenden sprochene Brokkoli-Patent zu erwähnen, das im Juli vor Anträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Pa- Grünen, sich gegen eine Patentierung von Pflanzen und tentamtes in München verhandelt wird. Die Patentierung Tieren starkzumachen, stehen in weiten Teilen im Ein- von Pflanzen und deren Nachkommen ist hier mittels ei- klang mit der Position der Regierungskoalition – und nes Verfahrenspatents – sozusagen durch die Hintertür – auch meiner persönlichen Position. möglich, da der Patentantrag sich nicht auf eine spezielle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sorte bezieht. Daher plädiere ich – trotz der unterschiedlichen Vor- Das sieht meine Fraktion sehr kritisch. Hier wird eine stellungen zu Nutzung und Einsatzmöglichkeiten der klare – auch ethische – Grenze überschritten; das möchte Biotechnologie; hier gab es ja oft genug Dissens – aus- ich ganz deutlich postulieren. drücklich für einen breiten Konsens innerhalb des ge- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD samten Hauses, der eine klare Grenze – ich sage es noch und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie einmal – zwischen Erfindungen als geistigen Leistungen bei Abgeordneten der LINKEN) und Entdeckungen von natürlichen Ressourcen in Form von Genen zieht. Wir müssen die Vielfalt unserer genetischen Ressourcen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der an landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen er- SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE halten. Unseren Landwirten und Züchtern müssen sie GRÜNEN) auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Wir sollten die Positionen zu einem fraktionsüber- Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns greifenden Antrag bündeln. Das ist heute mein Vor- der Bedeutung dieses Themas voll bewusst. Ministerin schlag. Herr Miersch, ich nehme gern die Einladung an, Aigner hat bereits Mitte vergangenen Jahres zu einem das gemeinsam zu tun. Wir liegen in der Zielprojektion (B) runden Tisch zum Thema Biopatentierung mit Vertretern sehr nahe beieinander. Dies wäre nicht nur ein wichtiges (D) von Landwirtschaft, Industrie und Verbraucherschutzor- Signal gegenüber der Öffentlichkeit. Ein gemeinsamer ganisationen eingeladen. Ich halte es für wichtig, alle Antrag würde auch die Position Deutschlands in dieser Beteiligten an einen Tisch zu bringen. Frage auf EU-Ebene stärken und könnte eine Signalwir- Der Beirat für Biodiversität und genetische Ressour- kung haben, um dann erforderliche Änderungen des eu- cen beim BMELV wurde gebeten, eine Analyse der zu ropäischen Rechts anzustoßen. erwartenden Auswirkungen der Biopatentierung auf Ich danke Ihnen. Landwirtschaft und Züchtung durchzuführen. Das ange- forderte Gutachten wird bereits in den nächsten Tagen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem vorliegen. Wie ich gehört habe, wird es am kommenden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Mittwoch der Ministerin übergeben und der Öffentlich- geordneten der SPD) keit vorgestellt. Ich bin gespannt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mitte Juli wird vor der Großen Beschwerdekammer Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm des Europäischen Patentamtes eine Anhörung zum be- Priesmeier von der SPD-Fraktion. reits erwähnten Brokkoli-Patent stattfinden. Dort soll ge- klärt werden, welche technischen Schritte ausreichend (Beifall bei der SPD) bzw. notwendig sind, um aus einem nicht patentierbaren – ich zitiere – „im Wesentlichen biologischen Verfahren“ Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): ein patentierbares „technisches Herstellungsverfahren“ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe zu machen. Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lehmer, ich Ich schlage vor, das Gutachten des Beirats für Biodi- danke Ihnen für Ihre Positionierung und auch für Ihre versität und die Anhörung zum Brokkoli-Patent zunächst Rede. Sie haben im Verhältnis zum Kollegen Harbarth abzuwarten und aus den Ergebnissen dann die nächsten etwas abgerüstet. Ich glaube, das ist auch im Hinblick Schritte abzuleiten. auf die notwendige gemeinsame Zielfindung in diesem Bereich vernünftig gewesen. Zwei Fragestellungen werden dabei in den kommen- den Wochen und Monaten im Mittelpunkt stehen. Meine Damen und Herren, wer die Schöpfungsge- schichte im 1. Buch Mose gelesen hat, der weiß, dass Erstens. Ab wann ist ein Verfahren überhaupt paten- Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Er hat uns tierbar? auch beauftragt: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5335

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) … füllet die Erde und machet sie euch untertan und (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (C) herrschet über die Fische im Meer und über die Vö- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gel unter dem Himmel und über das Vieh und über GRÜNEN) alles Getier, das auf Erden kriecht. Im Kern muss es darum gehen, dass auch zukünftig Da steht nichts vom Europäischen Patentamt. Gott sei alle Züchter das tun können, was sie bereits seit Jahrhun- Dank! derten tun, nämlich die Eigenschaften von Pflanzen und Tieren so zu verbessern, dass ihr Nutzen zum Wohle al- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) ler zunimmt. Das setzt einen Wettbewerb aller Züchter untereinander voraus, und nicht nur zwischen einzelnen Aber aus diesen Worten wird vielleicht deutlich, dass wir Züchtern, die sich Patente gesichert haben. Die Zucht eine ethische Verantwortung für all unser Tun und all un- war und ist immer eine große kulturelle Leistung. Diese ser Handeln tragen, für den verantwortungsvollen Um- sollte man nicht kleinreden, auch wenn es natürlich sinn- gang miteinander, aber auch für den verantwortungsvol- volle Regelungen für die Wahrung des geistigen Eigen- len Umgang mit unserer Umwelt und mit unseren tums geben muss. Mitgeschöpfen. Das sollten wir in dieser Debatte und ge- rade auch in der Auseinandersetzung über die Frage der Wir stehen nun vor großen Herausforderungen. Wir Biopatente immer im Blick behalten. müssen die Produktivität der Tiere und der Nutzpflanzen bis 2050 um mindestens 70 Prozent verbessern. Im Hin- Die Debatte hier wird von einem großen Grundkon- blick auf den Klimawandel haben wir Sorge dafür zu tra- sens getragen. Ich sehe durchaus die Möglichkeit, etwas gen, dass standortangepasste Sorten entwickelt werden. Gemeinsames zu formulieren und einen gemeinsamen Hierzu muss auch die Gelegenheit gegeben werden; das Beschluss zu fassen. Es wäre sicherlich auch für unsere darf nicht mit globalen Patenten verhindert werden. deutsche Position im Hinblick auf die europäische Vielmehr muss jeder einzelne Züchter die Gelegenheit Rechtsetzung hilfreich, wenn wir mit einer Stimme spre- haben, das Zuchtprodukt, das gerade jemand vor ihm er- chen würden. reicht hat, weiter zu verbessern. In diesem Bereich darf Ich gebe zu: Die Rechtsmaterie ist recht kompliziert. es keinen Ausschließlichkeitsanspruch geben. Dafür be- Ich bin Tierarzt und kein Jurist. Aber nehmen wir einmal nötigen wir einen verlässlichen und eindeutigen Rechts- ein Beispiel aus der Praxis: In den 60er- und 70er-Jahren rahmen. haben wir große Fortschritte bei der Verbesserung der Bei der Umsetzung der Biopatentrichtlinie ist sicher- Mastleistung von Schweinen erreicht. Insbesondere lich nicht alles optimal gelaufen. Wir sollten aber dafür wurde ein hoher Magerfleischanteil erreicht. Kollege (B) Sorge tragen, dass weiterhin gerade das Züchterprivileg (D) Holzenkamp könnte uns, wenn er da wäre, sagen, wie und das Landwirteprivileg – für diesen Bereich können wichtig das ist. Wir hatten aber auch Probleme: Wässri- und wollen wir ja Politik gestalten – erhalten bleiben. ges Fleisch schrumpfte beim Erhitzen in der Pfanne um Patente an sich bedeuten ein Monopol auf Zeit für eine die Hälfte; das kennen Sie alle noch. Schweine sind zwar befristete oder ausschließliche Nutzung. Das kann natür- nicht serienweise, aber häufig aufgrund von Kreislauf- lich von Dritten genutzt werden, aber nicht jeder ist dazu problemen umgefallen und verendet. in der Lage. Ein typisches Symptom für mich in der Behandlung Man muss das Augenmerk beim Patentrecht nicht nur war das Bananenschwein; es war aufgrund einer Mus- auf die europäische Ebene und die europäische Land- keldegeneration immer ein wenig gekrümmt. Ursache wirtschaft richten, sondern auch darüber hinaus. Unter dafür war ein Gen, das man nicht genau bestimmen Umständen sind Züchter nicht in der Lage, die Patentge- konnte. Es gab aber ein einfaches Verfahren: Die Tiere bühren zu bezahlen. Wer heute erfahren hat, wie teuer es wurden mit Halothan narkotisiert, und dann wurde ge- sein kann, ein Patent anzumelden, der weiß nun, dass schaut, wie sie reagieren. Daran konnte man feststellen, man dafür viel Kompetenz und viel Geld braucht. Davon ob das Tier eine positive oder eine negative Entwicklung kann man die Entscheidung im Patentrecht letztendlich nehmen würde. Hätte jemand dieses Verfahren patentie- aber nicht ausschließlich abhängig machen. Da heute ren lassen, hätte er ein Durchgriffsrecht bekommen, das 70 Prozent der Biopatente von den zehn größten Unter- ihn am Umsatz eines jeden Schnitzels und Bockwürst- nehmen angemeldet werden, muss man darüber nach- chens beteiligt hätte. Der Verbraucher hätte dafür an der denken, inwieweit das zur Monopolisierung der Pflan- Ladentheke unter Umständen die nächsten 20 Jahre ei- zen- und Tierzucht beiträgt. nen höheren Preis bezahlen müssen, während der Erfin- der zugleich in ganz entscheidender Weise die Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es Zuchtrichtung in Europa hätte mitbestimmen können. uns nach der Entscheidung am 20. Juli 2010 gelingen wird, gemeinsam eine Position zu finden, die wir weiter- An diesem einfachen Beispiel wird deutlich, welche entwickeln können und die allen nutzen wird. Tragweite Biopatente für unsere Ernährung und unsere Lebensmittel entfalten können. Lebensmittel sind ja ein Vielen Dank. Mittel zum Leben und aus diesem Grunde nicht allein ökonomischen Interessen preiszugeben. Dass das nicht (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem geschieht, dafür tragen auch wir die Verantwortung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 5336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sind die Hefen mit dabei –, und morgens haben Sie ein (C) Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Brötchen gegessen; da ist die Hefe auch dabei. Sie spielt hat nun die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan von eine Rolle beim Thema CO2, man kann Bioethanol da- der FDP-Fraktion das Wort. raus herstellen usw. Es gibt also viele verschiedene He- fen. Eine ganze Reihe von ihnen ist patentiert, damit die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Erfindung bewahrt wird. Wir müssen sagen: Das wollen wir weiterhin so haben. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Wir wollen auch, dass die Krebsmaus als Instrument ist gut, dass wir bei dieser die Menschen im Lande be- zur Erforschung von Krebs und für die Ermittlung von wegenden Frage, bei dieser Frage, die einen bedeuten- Heilmitteln genutzt wird. Das ist aber etwas ganz ande- den ethischen Hintergrund hat, zu einer vergleichsweise res als das, was beispielsweise mit einem Schnitzelpa- großen Gemeinsamkeit gefunden haben. Ich denke, dass tent versucht wird. Das wollen wir alle miteinander damit die Voraussetzung dafür gegeben ist, dass wir ei- nicht. nen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen. Ich be- Die Studie „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti- danke mich dafür. gungspotenziale der Biotechnologie in Deutschland“, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der die von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, CDU/CSU) Energie zusammen mit dem Fraunhofer-Institut, der Hans-Böckler-Stiftung und der Industrievereingung Bio- Ich bedanke mich auch für das Beispiel, das Kollege technologie vorgelegt wurde, sagt uns ganz deutlich, Priesmeier genannt hat. Es hat uns verdeutlicht, worum dass wir erhebliche Potenziale haben. Es gilt, was im Fa- es geht. Ich bedanke mich auch für den Beitrag des Kol- zit steht: Die Biotechnologie ist eine ausgesprochene legen Lehmer, der die ganze Palette beschrieben hat. Spitzen- und Wachstumstechnologie. Sie schafft Ar- Was uns im Zusammenhang mit der Biopatentrichtli- beitsplätze. Dafür muss die Rote, Weiße und Grüne Bio- nie und deren Umsetzung stört, ist die Tatsache, dass im- technologie in ihrer gesamten Bandbreite forciert ange- mer mehr Anstrengungen unternommen werden, mit ju- wendet werden. ristischen Methoden Minierfindungen rechtlich abzu- Um die Erfindungshöhe zu halten, brauchen wir Pa- sichern, statt mit naturwissenschaftlichen Methoden tente. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Poli- neue Erfindungen zu erdenken. Genau das wollen wir tiker, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der unseren anders haben. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Anforderungen genügt. Wir wollen nur Erfindungen mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einer bestimmten Erfindungshöhe und keine Kleinigkei- (D) (B) der CDU/CSU) ten patentieren. Herkömmliche Verfahren und Produkte aus herkömmlichen Verfahren wollen wir nicht patentie- Wir sind uns aber auch darüber einig – das ist in den ren; das ist zurzeit der Fall. Wir wollen sicherstellen, Beiträgen deutlich geworden –, dass wir auch in Zukunft dass wir weiterhin ein Land sind, in dem es Innovationen Patente brauchen. Wir brauchen den Schutz geistigen Ei- gibt, die zum Wohle der Menschen angewendet werden, gentums bei biotechnologischen Erfindungen. Vor die- und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in an- sem Hintergrund möchte ich noch einmal deutlich ma- deren Ländern. chen: Es geht nicht um „Kein Patent auf Leben!“. Mit diesem Schlachtruf vermitteln wir genau die falsche Bot- Zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich schaft. Es gibt kein Patent auf Leben. Niemandem ist es des Klimawandels und der Welternährung brauchen wir gelungen, eine chemische Verbindung zum Leben zu er- entsprechende Erfindungen. Ich glaube, dass wir auf ei- wecken. Es gilt: Omne vivum ex vivo. Alles Leben ent- nem guten Weg sind, wenn wir uns über unsere Positio- steht aus Leben, nen in dieser rechtlich ausgesprochen schwierigen Frage austauschen und zu einem gemeinsamen Beschluss kom- (Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier men. [SPD]) Vielen Dank. und deswegen kann Leben nicht patentiert werden. Da- rüber sind wir uns alle, glaube ich, einig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wilhelm Ich schließe die Aussprache. Priesmeier [SPD]) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Gleichzeitig sollte man einmal sagen: Es ist nicht Drucksache 17/2016 an die in der Tagesordnung aufge- sinnvoll, dass wir als eine erfindungsreiche Nation Pa- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- tente stigmatisieren. Wir haben seit circa 130 Jahren verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Patente auf Lebewesen. 1873 erhielt Louis Pasteur das so beschlossen. Patent auf Bäckerhefe. Wir haben inzwischen mehrere Tausend Patente auf Mikroorganismen, und zwar nicht Die Vorlage auf Drucksache 17/2141 soll an die in der nur auf Bakterien, sondern auch auf Pilze, beispielsweise Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen auf Hefen. Mit Hefen kann man verschiedene Sachen werden, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktio- machen: Abends trinken Sie das Bier oder den Wein – da nen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5337

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) beim Rechtsausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die wir in einer öffentlichen Sitzung über die wirtschaftli- (C) Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Er- che Lage der Hebammen beraten, die sich mit der Re- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. kordzahl von 180 000 Unterstützerinnen und Unterstüt- zern an das Parlament gewandt haben. Bereits im Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Februar hatten wir es mit einer ähnlich hohen Zahl von Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern zu tun, als wir die beim Agrarausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen im Berichtsjahr 2009 eingegangene Petition zum Thema Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Internetsperren behandelten. So erfreulich die Entwick- gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen lung dieses Portals auch ist und so sehr wir es begrüßen, der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge- dass auf diese Weise die Petitionsmöglichkeiten in der genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Bevölkerung besser bekannt werden, dürfen wir nie ver- Die Grünen abgelehnt. gessen: Unser Kerngeschäft bleibt die herkömmliche Pe- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der tition, die persönliche Bitte und Beschwerde. Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Der Einzelpetent, der keine Unterstützer an seiner Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Seite hat, wird von uns genauso ernst genommen und gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit gleichen seine Eingabe wird genauso sorgfältig geprüft und bear- Mehrheitsverhältnissen angenommen. beitet wie die Masseneingabe mit 100 000 oder mehr Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: (Beifall im ganzen Hause) Beratung des Berichts des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Erwähnen möchte ich an dieser Stelle den Polizisten, der seiner erkrankten Ehefrau eine Niere spenden wollte und Bitten und Beschwerden an den Deutschen der zunächst die Auskunft erhielt, danach den Polizei- Bundestag dienst nicht mehr ausüben zu dürfen. Der Petitionsaus- Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des schuss konnte hier wie auch in den folgenden Beispielen Deutschen Bundestages im Jahr 2009 helfen. – Drucksache 17/2100 – In weiteren Petitionen ging es um die bessere Aus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wahl einer passenden Rehabilitationsklinik für ein be- Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider- hindertes Kind, die nachträgliche Zuerkennung einer Er- spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- werbsminderungsrente oder die Anerkennung von (B) schlossen. Kindererziehungszeiten für 13 Pflegekinder, die die Pe- (D) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- tentin neben ihren eigenen vier Kindern im Laufe der nerin der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Kersten Jahre in ihrer Familie aufgenommen hatte. Steinke von der Fraktion Die Linke, das Wort. Meine Damen und Herren, zu Beginn habe ich von (Beifall bei der LINKEN) Vertrauen gesprochen, das Petentinnen und Petenten uns entgegenbringen. Dieses Vertrauen müssen wir aber auch durch sorgfältige Arbeit rechtfertigen. Doch angesichts Kersten Steinke (DIE LINKE): der großen Zahl von Petitionen ist es nicht einfach, das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver- große Arbeitspensum immer in angemessener Zeit zu er- ehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss- ledigen. Dies geht nur mit einer ausreichenden organisa- dienstes! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit torischen und materiellen Ausstattung sowie mit qualifi- nunmehr 61 Jahren ist der Petitionsausschuss die zentrale ziertem und hochmotiviertem Personal. Auf dieses Einrichtung unseres Parlaments für die Behandlung aller Personal des Petitionausschussdienstes und der Fraktio- an den Deutschen Bundestag gerichteten Bitten und Be- nen können wir Abgeordneten uns jederzeit verlassen. schwerden aus der Bevölkerung. Trotz aller Klagen über eine in Deutschland grassierende Politikverdrossenheit Gerade unsere öffentlichen Petitionen bedürfen eines wurden 2009 18 861 Petitionen von den Bürgerinnen und höheren Betreuungs- und Arbeitsaufwandes, welcher Bürgern eingereicht. Diese Zahl macht deutlich, welch den Ausschussdienst oft an die Grenzen der Kapazität enormes Vertrauen unserem Parlament und somit uns bringt. Ich möchte mich deshalb besonders bei den Mit- Abgeordneten entgegengebracht wird. Verstärkt wird arbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschuss- diese Tatsache dadurch, dass sich hinter dieser Zahl von dienstes unter Leitung Herrn Haases recht herzlich be- 18 861 Einzelpetitionen fast 900 000 Unterstützerinnen danken und den Wunsch und die Hoffnung äußern, dass und Unterstützer von Massen- und Sammelpetitionen die Zusammenarbeit weiterhin so gut bleibt, wie sie jetzt verbergen. ist. Noch beeindruckender sieht das Bild aus, wenn man die (Beifall im ganzen Hause) Nutzung unseres Internetportals betrachtet. 525 000 Nut- zer haben sich allein im Berichtsjahr registrieren lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ausgesprochen är- Es gab über 1 Million Mitzeichnungen von öffentlichen gerlich sind bei der hohen Arbeitsbelastung und den Petitionen, und circa 60 000 Diskussionsbeiträge wur- knappen Ressourcen Posteingänge von einigen wenigen den abgegeben. Am Montag, also vor drei Tagen, haben Petenten, die sich mit großer Regelmäßigkeit an den 5338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Kersten Steinke (A) Ausschuss wenden, und zwar nicht mit persönlichen An- handelt und dass es nicht nur die Wünsche einzelner Op- (C) liegen, sondern mit Bitten höchst allgemeiner Art. positionsfraktionen sind. Selbstverständlich gilt auch für diesen Personenkreis (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- das Recht aus Art. 17 des Grundgesetzes. Art. 17 besagt, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- dass jedermann das Recht hat, sich mit Bitten und Be- ten der SPD) schwerden an die zuständigen Stellen und an die Volks- vertretung zu wenden. Wenn aber eine einzelne Person Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahresbericht monatlich bis zu 100 Petitionen an uns sendet, stellt sich des Petitionsausschusses belegt eindrucksvoll, welche schon die Frage nach einer Missbrauchsgrenze für die Probleme und Sorgen die Menschen in unserem Land Ausübung des Petitionsrechtes. haben. Mit gut 20 Prozent der Eingaben ist das Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales das am stärksten Lassen Sie mich ganz klar sagen: Der Petitionsaus- betroffene Ressort. Dabei waren die dominierenden schuss wurde geschaffen, um bedrängten Menschen mit Themen die Grundsicherung für Arbeitsuchende in all zum Teil existenziellen Problemen beizustehen. Selbst ihren Facetten und Eingaben zur Rente. Den zweiten hierfür ist die uns zur Verfügung stehende Arbeitszeit Platz – mit der größten Steigerungsrate im Vergleich eher knapp bemessen. Schriftverkehr als Beschäfti- zum Vorjahr – belegen Eingaben aus dem Geschäftsbe- gungstherapie gehört nicht dazu. Wenn also ein Petent reich des Bundesministeriums der Justiz. Die Hauptpro- gerne seinen Geburtstag im Bundeskanzleramt feiern blemfelder sind hier Eingaben zum Unterhalts- und möchte oder ein anderer Blondinenwitze verbieten las- Scheidungsrecht sowie zu Privatinsolvenzverfahren. Es sen will, so gehört das für uns ausdrücklich nicht in die folgen mit je 10 Prozent der Eingaben die Geschäftsbe- Kategorie wirkliche Sorgen und Nöte der Menschen. reiche des Bundesministeriums des Innern und des Bun- (Beifall im ganzen Hause) desministeriums der Finanzen und schließlich mit fast 10 Prozent der Bereich des Bundesministeriums für Ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in 17 Sitzungen im sundheit. Jahr 2009 wurden vom Petitionsausschuss rund 7 000 Pe- titionen abschließend behandelt. In 13 Berichterstatter- Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es gibt viel Ar- gesprächen haben wir uns mit Petitionen zu Themen wie beit. Ich möchte deshalb besonders das Engagement her- die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, vorheben, mit dem die Mitglieder unseres Ausschusses die Rechtsstellung der Beamten oder dem Dauerbrenner um die bestmögliche Lösung für die Petentin oder den Lärmschutz beschäftigt. Petenten ringen. Eine Antwort aus den Ministerien oder deren untergeordneten Behörden wird nicht einfach hin- Gerade diese aufwendigen Beratungen mit Vertretern genommen, sondern hinterfragt. (B) der Bundesregierung sind für uns in besonderer Weise (D) geeignet, Hilfen im Einzelfall auszuloten. Es ist eben (Beifall bei der LINKEN) nicht damit getan, an die jeweils zuständigen Institutio- So haben sich in vielen Fällen, obwohl sie beim ersten nen eine Anfrage zum Sachverhalt zu senden und deren Ansehen als aussichtslos eingestuft worden waren, Lö- Stellungnahme dann als unabänderliche Tatsache hinzu- sungen gefunden, die den Petenten wieder Hoffnung ga- nehmen. Die Mitglieder des Ausschusses sehen ihre ben, sodass diese Fälle in deren Sinn doch noch positiv Aufgabe darin, alles nur Machbare im Interesse der Pe- abgeschlossen werden konnten. Es gab auch immer wie- tentinnen und Petenten zu erreichen. Dabei nutzen wir der Fälle, bei denen bereits bestehende Gesetze aufgrund alle Möglichkeiten, die dem Petitionsausschuss zur Ver- von Petitionen überarbeitet werden mussten, da mögli- fügung stehen. Diese reichen von der unmittelbaren Ein- che Härtefälle im Vorfeld nicht bedacht worden waren. bindung von Vertretern der Bundesregierung im Rahmen Das sind die Erfahrungen, bei denen wir stolz auf das Er- der Berichterstattergespräche über die Durchführung öf- reichte sind. fentlicher Anhörungen bis hin zu einem Ortstermin. All dies hilft den Mitgliedern des Petitionsausschusses, Leider kann ich nicht verschweigen, dass es schon sachkundige Entscheidungen zu fällen. traurig stimmt, wenn wir in manchen Situationen fest- stellen müssen, dass uns bedauerlicherweise die Hände Meine Damen und Herren, 6 552 Bitten und Be- gebunden sind und wir kein positives Votum abgeben schwerden konnten 2009 durch Rat, Auskunft oder Über- können. sendung von Materialien erledigt werden. 1 316 Anliegen wurden vom Petitionsausschuss positiv beschieden. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich Etwa 600 Petitionen überwies der Deutsche Bundestag nochmals betonen: Art. 17 und Art. 45 c des Grundge- auf Vorschlag des Ausschusses an die Bundesregierung setzes sind nicht irgendwelche Artikel von vielen, son- mit der Bitte, für Abhilfe zu sorgen. dern die Rechtsgrundlage für unsere Tätigkeit. Das ist unser Auftrag, und um diesen zu erfüllen, erwarten wir Kritisch anmerken möchte ich in diesem Zusammen- die uneingeschränkte Kooperation der von uns angerufe- hang, dass wir nicht über alle Berichte der Bundes- nen Stellen. Wir werden nicht lockerlassen und immer regierung glücklich sind, mit denen sie auf unsere Abhil- wieder nachhaken, wenn es um die Petentinnen und Pe- feersuchen antwortet, und dass wir uns in vielen Fällen tenten geht, die sich voller Vertrauen an uns, an den eine zügigere Beantwortung von Anfragen wünschen. Bundestag, und an die Bundesregierung gewandt haben. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Regierung viel- leicht zu sehr verdrängt, dass es sich bei diesen Abhil- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die kommen- feersuchen um Beschlüsse des gesamten Bundestages den Jahre erhoffe ich mir von den Mitgliedern unseres Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5339

Kersten Steinke (A) Parlaments weiterhin eine über alle Fraktionsgrenzen hi- die betroffenen Bürger im Prinzip keine Lärmbelästi- (C) nausgehende konstruktive Zusammenarbeit, so wie wir gung mehr. es im Petitionsausschuss in den meisten Fällen praktizie- ren. Meinen schon nicht mehr ganz neuen Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Kollegen im Ausschuss möchte ich sagen, dass ich und der LINKEN) mich auf die gut begonnene Zusammenarbeit in dieser Ich denke, ein solches Beispiel zeigt deutlich: Es geht Legislaturperiode auch in den kommenden Jahren freue. nicht nur um Gesetzesänderungen; wir müssen nicht im- Herzlichen Dank. mer hier im Plenum irgendetwas ändern. Es geht darum, Wege zu suchen, mit den Petenten und den zuständigen (Beifall im ganzen Hause) Ministerien Lösungen oder zumindest Kompromisse zu finden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ein zweites Beispiel verdeutlicht das noch eindrucks- Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter voller. Einem dienstunfähigen Oberstleutnant der Bun- Baumann von der CDU/CSU-Fraktion. deswehr war die Fortführung seines Studiums an einer staatlichen Landesuniversität versagt worden. Mit einem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hohen Votum konnten wir erreichen, dass er das Studium neten der FDP) fortsetzen konnte. Darüber hinaus hat das Verteidigungs- ministerium die Petition zum Anlass genommen, für die Günter Baumann (CDU/CSU): Universitäten der Bundeswehr eine generelle Festlegung zu treffen, dass dienstunfähige Soldaten und Offiziere Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ihr Studium fortsetzen können. Kollegen! Gerade in den letzten Tagen haben sich Peten- ten bei uns bedankt. Da Dank bei uns Abgeordneten Die beiden beliebig herausgegriffenen Beispiele aus nicht allzu oft vorkommt – Dank tut gut –, möchte ich dem letzten Jahr zeigen, dass wir im Ausschuss mit mit der Schilderung folgenden Beispiels beginnen: An- Hartnäckigkeit eine Menge für die Bürgerinnen und Bür- wohner einer schönen Wohngegend in Zossen-Wüns- ger erreichen können. Immerhin sind im letzten Jahr dorf, Brandenburg, beschwerten sich im April 2008 rund 50 Prozent der Petitionen positiv ausgegangen: In beim Petitionsausschuss des Bundestages über Lärmbe- 7 Prozent der Fälle haben wir dem Anliegen direkt ent- lästigungen durch Diesellokomotiven, die in der Nähe sprochen. In 4 Prozent der Fälle haben wir ein hohes Vo- ihrer Wohngebäude abgestellt worden waren. Seit einer tum an die Adresse der Bundesregierung erzielt. In den Fahrplanumstellung der Bahn im Jahre 2006 werden meisten Fällen konnten wir damit etwas bewegen. In (B) diese Lokomotiven verändert abgestellt, und deren Ag- 39 Prozent der Fälle haben wir den Petenten mit Rat, (D) gregate laufen am Tag und nachts, sodass die Anwohner Auskunft oder Materialübersendung geholfen. nicht schlafen können. Die Petenten wandten sich zu- nächst an die Bahn. Es gab eine Reihe von Gesprächen – Die Bearbeitung von Petitionen ist ein wichtiges ohne jede positive Reaktion. Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, das gut angenommen wird. Wir stellen uns dieser Auf- Der Petitionsausschuss hat 2009 fraktionsübergrei- gabe. Die Vorsitzende sprach davon: Im letzten Jahr gin- fend beschlossen, die Petition dem Bundesministerium gen fast 19 000 Petitionen ein. Man muss sich eine wei- für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Erwägung zu tere Zahl auf der Zunge zergehen lassen: Täglich gehen überweisen – ein sehr hohes Votum. Wer dachte, dass 75 neue Petitionen im Bundestag ein. Die Zahl der Peti- sich nun etwas bewegt, hat sich natürlich geirrt. Wir ver- tionen, die bearbeitet werden müssen, ist schon gewaltig. mochten zu erkennen, dass es Alternativen gibt. Das Die Vorsitzende hat bereits auch diese Zahl genannt: Im Ministerium hat uns die Antwort der Bahn mitgeteilt, vergangenen Jahr haben sich 2 Millionen Bürgerinnen man sehe keine Alternativen. Diese Antwort akzeptier- und Bürger durch Einreichung von Petitionen und Mas- ten wir nicht. Am 3. Mai dieses Jahres führten wir in senpetitionen sowie Mitunterzeichnung, auch im Inter- Wünsdorf einen Ortstermin durch. Trotz Regens und net, in irgendeiner Art am Petitionswesen beteiligt. schlechten Wetters haben wir dort alles besichtigt und gesagt: Es gibt garantiert Möglichkeiten, die Lokomoti- Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu der Frage, wie ven anders abzustellen. Uns war klar: Die Petenten ha- die Petitionen in Deutschland verteilt sind. Trotz eines ben keinen rechtlichen Anspruch auf Lärmschutz, da es Rückgangs stellen wir nach wie vor fest, dass die meis- sich um keine Neubaustrecke handelt. Trotzdem waren ten Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen. wir, speziell nach dem Ortstermin, der Meinung: Es gibt Spitzenreiter ist Brandenburg mit 1 504 Petitionen im Möglichkeiten. Jahr; das sind 598 Petitionen auf eine Million Einwoh- ner. Auf den folgenden Plätzen liegen Berlin, Thüringen, In dem Gespräch vor Ort mit Petenten und der Bahn Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpom- haben wir festgestellt: Die Bahn bewegt sich keinen mern. Nun kann man natürlich wieder sagen: Die Ossis Zentimeter und rückt von ihrer Meinung nicht ab. Wir meckern am meisten. Aber ganz so einfach ist es eben haben deutlich gemacht, dass wir dies nicht akzeptieren, doch nicht. Es gibt in den neuen Bundesländern eine und haben die Angelegenheit nicht für erledigt erklärt. Reihe von Problemen, die im Einigungsvertrag nicht Diese Woche teilten die Petenten dem Petitionsaus- komplett geregelt werden konnten und die heute nach schuss mit, der Ortstermin habe offensichtlich Wirkung wie vor bestehen. Zum Beispiel haben wir uns mit einer gezeigt, die Züge würden anders abgestellt. Es gibt für ganzen Reihe von Rentenfällen oder offenen Vermö- 5340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Günter Baumann (A) gensfragen – Probleme mit der Treuhand, die noch heute Günter Baumann (CDU/CSU): (C) bestehen – in den neuen Bundesländern beschäftigt, die Ich komme zum Schluss. – Wir haben eine Reihe be- es in den alten Bundesländern nicht gibt. sonderer Befugnisse, was uns ermöglicht, uns ein inten- sives Wissen anzueignen. Es gibt Ortstermine und Zwei weitere Zahlen: Der Ausschuss hat im letzten Berichterstattergespräche, die wir stark nutzen. Im Ex- Jahr insgesamt über 17 000 Petitionen bearbeitet – auch tremfall erhalten wir Akteneinsicht. Das ist für unsere das ist eine beachtliche Zahl –; in Ausschusssitzungen Arbeit wichtig. Wir stehen mit unserer Tätigkeit nicht waren es durchschnittlich 30 Petitionen. immer im Mittelpunkt des Parlaments, aber mit unserer geräuschlosen Arbeit erreichen wir die Bürger und erzie- An dieser Stelle sage ich einen herzlichen Dank an len dadurch eine Reihe von Erfolgen. Wir können viele alle Abgeordneten im Ausschuss, die wöchentlich in ih- Probleme lösen, aber nicht alle. ren Büros mindestens zehn, manchmal bis zu 30 Petitio- nen – bei Klaus Hagemann und mir sind es meist noch Ich habe mit einem Beispiel begonnen, ich möchte ein paar mehr – bearbeiten müssen, und dies neben ihrer mit einem Beispiel enden. Arbeit in mindestens einem zweiten oder gar einem drit- ten Ausschuss. Das muss an dieser Stelle einmal gewür- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: digt werden. Aber bitte sehr kurz, Herr Kollege, Sie haben schon (Beifall im ganzen Hause) deutlich überzogen.

Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen Günter Baumann (CDU/CSU): aller Fraktionen im Ausschuss auch für das überwiegend Wenn sich zum Beispiel ein Petent an uns wendet und gute und kollegiale Miteinander herzlich bedanken. Man uns auffordert, man möge in Deutschland alle Autos merkt ständig: Im Mittelpunkt steht das Problem, um das gelb spritzen, wir uns kümmern wollen, und nicht der Parteienstreit. (Stephan Thomae [FDP]: Sympathische (Beifall im ganzen Hause) Farbe!) An dieser Stelle richte ich im Namen der CDU/CSU- weil damit die Wirtschaft angekurbelt und die Verkehrs- Bundestagsfraktion einen besonderen Dank an die Mit- sicherheit erhöht würde, können wir dem natürlich nicht arbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes. stattgeben. Die Vorsitzende sprach bereits davon: Ohne die Arbeit Vielen Dank. des Ausschussdienstes könnten wir unsere Arbeit nicht (B) durchführen. Wir brauchen eine kompetente und sachli- (Beifall im ganzen Hause) (D) che Vorarbeit, sonst würde vieles nicht funktionieren. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der nächste Redner ist der Kollege Stefan Schwartze Natürlich muss es der Ausschussdienst auch aushalten für die SPD-Fraktion. können, wenn wir Abgeordnete manchmal eine ganz be- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan sondere Meinung haben, die nicht der des Ausschuss- Thomae [FDP]) dienstes entspricht. Aber so sind halt die Abgeordneten. Mit der Einführung des Systems der öffentlichen Peti- Stefan Schwartze (SPD): tionen im Herbst 2008 haben wir eine neue Form der Pe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiter des tition gefunden, die sich bewährt hat. Eine Reihe von Ausschussdienstes! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abgeordneten – auch ich gehörte damals dazu – hatte Die Zahlen des Petitionsberichtes 2009 sind beeindru- Angst vor starkem Missbrauch. Die Befürchtungen sind ckend. Wieder sind fast 19 000 Petitionen an den Deut- bisher nicht eingetreten. Die Bürger sind klug genug, das schen Bundestag gerichtet worden. Um einen Vergleich Angebot ordentlich zu nutzen. Wir haben damit einen zu nennen: Das entspricht der Einwohnerzahl meiner wichtigen Beitrag zum Abbau von Politikverdrossenheit Heimatstadt Vlotho. Es ist also wirklich beeindruckend. geleistet. Dass so viele Menschen dem Petitionsausschuss des Bundestages ihr Vertrauen entgegenbringen, ist ein gro- Es tut jedem Abgeordneten gut, wenn er nach einer ßer Erfolg. öffentlichen Sitzung mit einem Petenten ins Gespräch kommt und der Petent sich dafür bedankt, dass er nach Als neues Mitglied habe ich schnell gemerkt, was die Berlin kommen durfte und sein Anliegen vortragen Mitgliedschaft im Petitionsausschuss vor allem bedeutet: konnte. In vielen Fällen können wir nicht helfen; aber tiefe Einblicke und Erfahrungen in die ganz persönlichen dass sie in Berlin waren und mit uns gesprochen haben, Lebensbereiche und Schicksale von Menschen in unse- ist für sie ein besonderes Ereignis. Dafür sind sie dank- rem Land, Erfahrungen, die man sonst nicht gewinnen bar. kann und die einen oft persönlich berühren. Diese Viel- zahl von persönlichen Schicksalen und Problemen, aber auch die Vielzahl von Ideen und Anregungen der Bürge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rinnen und Bürger sorgen dafür, dass man sich als Abge- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. ordneter immer wieder mit neuen Themen befasst. Als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5341

Stefan Schwartze (A) Mitglied des Petitionsausschusses kann man sich über rinnen und Bürger organisierten sich aus Angst vor Zen- (C) Arbeitsmangel nicht beklagen. sur. Der Ausschuss ist mehr als der Kummerkasten der Eine Onlinepetition wurde in wenigen Wochen von Nation. Er gewährt einen Blick darauf, welche Sorgen mehr als 130 000 Mitzeichnern unterstützt, und es kam die Menschen haben und an welchen Stellen Probleme in zur öffentlichen Ausschusssitzung. Dabei wurde deut- unserer Gesellschaft entstehen. lich, dass keine Fraktion dieses Hauses mehr an diesem Sperrgesetz festhält. Das ist ein Musterbeispiel für die (Beifall bei der SPD, der FDP und dem positive Entwicklung des Petitionswesens in den vergan- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genen Jahren. Es ist die ureigene Aufgabe der Politik, diese Sorgen zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erkennen und den Menschen zu helfen. Die Mütter und der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Väter des Grundgesetzes haben das Petitionsrecht daher GRÜNEN) nicht nur fest im Grundgesetz verankert, sondern sie ha- ben auch dafür gesorgt, dass der Petitionsausschuss als Durch die Möglichkeit der Mitzeichnung und die öffent- Verfassungsausschuss einen hervorgehobenen Rang im liche Beratung ist es gelungen, die Aufmerksamkeit auf Bundestag genießt. den Petitionsausschuss und seine Arbeit zu lenken. Es ist außerdem gelungen, die Schwächen eines untauglichen Es ist unsere Aufgabe als Mitglieder dieses Ausschus- Gesetzes zu erkennen. ses, die hohen Ansprüche zu erfüllen. Dazu gehört auch, dass wir das Petitionsverfahren ständig weiterentwi- Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den am häufigs- ckeln, wie dies zuletzt bei der Einführung der E-Petition ten mitgezeichneten Onlinepetitionen zwei Petitionen im Jahr 2008 erfolgt ist. Die Zahlen des Onlineportals sind, die sich mit dem Thema Internet und PC-Spiele be- zeigen deutlich, dass der Petitionsausschuss den Sprung fassen. Die jungen Menschen, die mit dem Internet auf- in die neuen Medien geschafft hat. Dies ist deswegen so gewachsen sind und die neuen Medien ganz selbstver- wichtig, weil dadurch der jungen Generation das Peti- ständlich nutzen, haben mit der Onlinepetition ein tionsrecht nahegebracht wird. Medium entdeckt, welches ihrer Lebenswelt entspricht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Dass sich die Onlinepetition nicht nur auf diese Gene- FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN ration beschränkt, hat die Petition der Hebammen, die und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir in dieser Woche in einer öffentlichen Anhörung be- handelt haben, gezeigt. Dabei ist deutlich geworden, Dieser Erfolg sollte uns darin bestärken, das Petitions- dass durch die Arbeitsbedingungen, die schlechte Be- (B) recht auch zukünftig populärer und leichter zugänglich zahlung und die dramatisch ansteigenden Kosten der (D) zu machen. Berufshaftpflicht eine ganze Berufsgruppe um ihre Exis- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der tenz bangt. Es ging um Arbeitsbedingungen, wie sie auf FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN viele Freiberufler zutreffen. Es ist deutlich: Hier muss und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gehandelt werden. Wir werden hierzu auch eine Initia- tive einbringen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben daher die An- regung des Deutschen Kinderhilfswerks aufgenommen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kindern und Jugendlichen den Zugang zum Petitions- DIE GRÜNEN) ausschuss im Internet zu erleichtern. Gemeinsam arbei- Diese öffentliche Petition hat bewiesen, dass durch ten wir an Vorschlägen, wie ein solches Internetportal die Modernisierung des Petitionswesens die Menschen aussehen könnte. Ein kinder- und jugendgerechtes Peti- wichtige gesellschaftliche Themen besser auf die politi- tionsportal im Internet ist der richtige Weg, auch die sche Bühne bringen können. Die Petition der Hebammen ganz Jungen über ihr Petitionsrecht aufzuklären und sie ist ein Musterbeispiel dafür. Der Sprung in die neuen zu ermutigen, ihre eigenen Probleme oder Vorschläge an Medien war erfolgreich. den Petitionsausschuss zu richten. Damit können wir frühzeitig für Vertrauen in die Demokratie und ihre ge- Durch die Onlinepetition haben wir viele junge Men- wählten Vertreter werben. schen erreichen können. Mit Kindern und Jugendlichen wollen wir SPD-Abgeordnete nun eine Zielgruppe errei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen, die von ihrem Petitionsrecht bisher leider sehr we- der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- nig Gebrauch macht. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass SES 90/DIE GRÜNEN) wir auch in diesem Punkt erfolgreich sein werden. Das Wie wichtig es ist, das Petitionsverfahren modern zu Petitionsrecht als Grundrecht ist in diesem Ausschuss in präsentieren und neue Verfahren zu ermöglichen, hat guten Händen. eine Petition gezeigt, die für große Aufmerksamkeit und Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich eine breite Debatte gesorgt hat. Es handelt sich dabei um ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit der letzten die Petition gegen die Einrichtung von Internetsperren. Monate bedanken. Ich freue mich auch auf die weitere Nachdem das sogenannte Sperrgesetz vom Deutschen Arbeit im Ausschuss. Mein ganz besonderer Dank gilt Bundestag verabschiedet worden war, bildete sich eine den Mitarbeitern des Ausschussdienstes. breite Protestbewegung derjenigen, die das Internet aus- giebig und regelmäßig nutzen. Besonders junge Bürge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 5342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Stefan Schwartze (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten arbeitet wie Massenpetitionen. Dem Petitionsausschuss (C) der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des ist sehr wohl bewusst, dass die Zahl der Petenten allein BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) noch kein Kriterium für die Relevanz und Signifikanz eines Anliegens darstellt. Der Vorschlag eines einzelnen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Petenten kann genauso gut wie ein Vorschlag sein Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege – manchmal auch viel besser –, für den vielleicht durch Stephan Thomae. eine geschickte Kampagne Tausende von Unterschriften gesammelt worden sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der CDU/CSU) bei Abgeordneten der SPD)

Stephan Thomae (FDP): Das Petitionsportal des Bundestages ist ein ausdrück- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren des Aus- licher Aufruf an die Bürger, an der politischen schussdienstes! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken und sich Grundgesetz sieht in seinem Art. 17 vor, dass jedermann konstruktiv politisch-gestalterisch einzumischen. Diese sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schrift- Möglichkeit ist also ein Erfolgsprodukt des Bundesta- lich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen ges. Stellen und an die Volksvertretung wenden kann. In Aus dem Ihnen vorliegenden Bericht des Petitions- Art. 45 c regelt das Grundgesetz, dass für die Behand- ausschusses ergibt sich: Im Jahr 2009 – es ist schon da- lung dieser Bitten und Beschwerden ein Petitionsaus- rauf hingewiesen worden – haben 51 öffentliche Petitio- schuss eingesetzt wird. Der Petitionsausschuss ist damit nen mehr als 2 000 Unterstützer gefunden. neben dem Auswärtigen Ausschuss, dem Verteidigungs- ausschuss und dem Europaausschuss einer der vier Ver- Interessant ist, dass die Zahl der Zugriffe auf das Peti- fassungsausschüsse; Kollege Schwartze hat gerade da- tionsportal des Bundestages höher ist als die Zahl der rauf hingewiesen. Aufrufe jeder anderen Webseite des Bundestages, sogar der Hauptseite. Allein in den ersten sechs Monaten des Diesem Ausschuss kommt in der Architektur der ge- Jahres 2010 wurde über 31-Millionen-mal auf die Peti- setzgebenden Gewalt eine doppelte Sonderstellung zu: tionsseiten des Bundestages zugegriffen. Das zeigt das Zum einen ist er neben dem Ausschuss für Wahlprüfung, große Interesse der Menschen an diesem Instrument. Immunität und Geschäftsordnung der einzige Aus- schuss, dem aufseiten der Bundesregierung kein Minis- Wenn eine Petition innerhalb von drei Wochen seit terium gegenübersteht; wir sind also sozusagen eine rein Einreichung mehr als 50 000 Unterstützer findet, dann (B) parlamentarische Veranstaltung. Zum anderen ist der Pe- erhält der Petent die Möglichkeit, sein Anliegen den Ab- (D) titionsausschuss diejenige Einrichtung des Bundestages, geordneten in einer öffentlichen Sitzung des Ausschus- über die auch der einzelne Bürger direkt und unmittelbar ses noch einmal mündlich zu erläutern; der Kollege ein Handeln der Volksvertretung auslösen kann. Baumann hat schon ausgeführt, dass es für die Petenten auch ein besonderes Erlebnis ist, hier in Berlin im Bun- Die Verfassung hatte ursprünglich Einzelbitten und -be- destag aufzutreten. Damit werden Petitionen mehr und schwerden aus dem persönlichen Lebens- und Erfah- mehr zu einem Instrument politischer Teilhabe. rungsbereich der Menschen im Sinn. Aber es bleibt nicht aus, dass in Petitionen auch Themen aufgegriffen wer- Die Erfolgsgeschichte öffentlicher Petitionen ermu- den, die allgemeine oder öffentliche Anliegen zum In- tigt die Regierungsfraktionen, das Petitionswesen wei- halt haben. Das kommt manchmal in sogenannten Ein- terzudenken und weiterzuentwickeln. CDU, CSU und zelpetitionen einzelner Bürger zum Ausdruck, noch viel FDP haben deshalb in ihrem Koalitionsvertrag verein- mehr aber in Mehrfach- oder Sammelpetitionen. bart, dass Massenpetitionen unter Beteiligung der Fach- ausschüsse im Plenum des Bundestages beraten werden. Mehrfachpetitionen sind Petitionen mehr oder weni- Damit öffnet sich sozusagen die Kronkammer unserer ger gleichen Inhalts, die mehr oder weniger zufällig und parlamentarischen Demokratie erstmals direkt und un- unabhängig voneinander den Bundestag erreichen und mittelbar für Anträge aus der Mitte der Bevölkerung. In dann gemeinsam beraten und behandelt werden. Bei Zeiten, in denen sich viele Menschen von der Demokra- Sammelpetitionen werden für eine bestimmte Petition tie abwenden, ist es ein gutes Zeichen, dass wir uns ganz systematisch Unterschriften gesammelt. Das geschieht ostentativ den Menschen stärker zuwenden und sie in seit 2005 – es ist schon darauf hingewiesen worden – im den Deutschen Bundestag hineinnehmen, in dem wir uns Wesentlichen im Wege der öffentlichen Petitionen, bei wiederum unmittelbar und direkt an die Öffentlichkeit denen die Bürger über das Petitionsportal des Internet- wenden. auftritts des Deutschen Bundestages die aktuellen öffent- lichen Petitionen einsehen, mitzeichnen und Diskus- Trotzdem muss herausgestellt werden: Die eigentli- sionsbeiträge dazu verfassen können. che Bestimmung des Petitionsrechts ist es natürlich nicht, dass im Wege der Petitionen noch einmal alle poli- Dies hat den Charakter des Petitionswesens verändert. tischen Diskussionen wiederholt werden, die ohnehin Einzelpetitionen oder Mehrfach- und Sammelpetitionen das Tagesgeschehen bestimmen. Es mag zwar ein Unter- weniger Petenten werden allerdings sowohl vom Aus- schied sein, ob nur eine Fraktion des Bundestages oder schussdienst als auch von uns Abgeordneten genauso aber 100 000 Bürger eine politische Frage zum Gegen- ernst genommen und genauso gründlich studiert und be- stand einer parlamentarischen Beratung machen. Aber Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5343

Stephan Thomae (A) das Petitionswesen kann und soll die Tagesordnung des Ingrid Remmers (DIE LINKE): (C) Bundestages nicht bestimmen. Wir wollen bestimmten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Petitionen den Weg in die Plenardebatten öffnen. Aber nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Ausschuss- die Voraussetzungen dafür sollen doch so ambitioniert dienstes! Die Wählerinnen und Wähler sind der Souve- sein, dass der Beratung einer Petition im Plenum ein be- rän eines jeden demokratischen Staates. Sie stimmen für sonderer Ausnahmecharakter anhaftet. eine Kandidatin oder einen Kandidaten und eine Partei Regelfall und Hauptaufgabe des Ausschusses sollten und übertragen ihr damit die Wahrnehmung ihrer Inte- bleiben, sich mit konkreten Bitten und Beschwerden zu ressen. Allerdings wächst in Deutschland die Zahl der beschäftigen, mit denen sich Menschen hilfesuchend an Menschen, die sich durch die derzeitigen Mehrheitsver- die Volksvertretung wenden. Über alle Fraktionsgrenzen hältnisse und vor allem die Mehrheitsentscheidungen hinweg prüfen die Mitglieder des Petitionsausschusses nicht mehr repräsentiert fühlen und tatsächlich allzu oft und des Ausschussdienstes sehr gewissenhaft die Sub- auch nicht mehr repräsentiert werden. Bis zu einem ge- stanz einer jeden Petition. In vielen Fällen holen wir wissen Grad ist das sicher ein Stück weit normal. Aber Stellungnahmen der Ministerien ein oder führen zusam- Demokratie verliert ihre Legitimation, wenn zu viele men mit Ministerialbeamten oder gar Staatssekretären einzelne Menschen und ganze gesellschaftliche Gruppen mündliche Anhörungen durch. Wir lassen uns Bericht den Eindruck haben, dass ihre Stimme und ihre Interes- erstatten mit dem Ziel, dass eine Behörde ihre Entschei- sen überhaupt nicht mehr zählen. dung unter neuen Gesichtspunkten vielleicht noch ein- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet mal prüft. Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber natürlich haben wir als Ausschuss die Teilung Das verfassungsrechtlich verankerte Recht, sich mit der Staatsgewalten zu respektieren. Der Petitionsaus- seinen Bitten und Beschwerden direkt an den Bundestag schuss ist weder eine Superrevisionsinstanz der Ge- zu wenden, kann ein Mittel sein, dem zumindest teil- richtsbarkeit noch eine oberste Bundesbehörde. Wir kön- weise entgegenzuwirken. Deswegen ist es umso wichti- nen der Staatsverwaltung keine Weisungen erteilen. ger, dass der Bundestag – also wir alle – die Arbeit des Aber wir können versuchen, Anstöße zu geben. Wir kön- Petitionsausschusses ernst nimmt. Es handelt sich bei nen Signale aufnehmen. Der Petitionsausschuss ist ein den Petentinnen und Petenten eben nicht um lästige Bitt- Seismograf des Gesetzgebers. Wir spüren oft als Erste steller. Die Eingaben der Menschen – einzeln oder in die kleinen und die großen Beben, die eine gesetzgeberi- Gruppen – müssen auch und gerade von der Bundes- sche Entscheidung hervorrufen kann, aber auch Pro- regierung als notwendiges Korrektiv ihrer politischen bleme, die vielleicht gar nicht auf die Gesetzgebung zu- Entscheidungen anerkannt werden. Die Petitionsstatis- rückzuführen sind. (B) tik weist als Seismograf und Indikator der aktuellen poli- (D) Ich möchte abschließend auf zwei – für meine Be- tischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu viele griffe sehr spektakuläre – Massenpetitionen hinweisen, Missstände und Ungerechtigkeiten aus. Es ist schließlich nämlich einmal auf die GEMA-Petition, die von einer unsere Aufgabe, diese Missstände und Ungerechtigkei- Petentin aus meinem Wahlkreis Oberallgäu initiiert und ten als Fehlfolgen der hier beschlossenen Gesetze wieder eingereicht worden ist, und auf die schon erwähnte Peti- zu beseitigen. tion der Hebammen. In beiden Fällen ist es nicht so, dass wir als Gesetzgeber diese Probleme ohne Weiteres lösen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- können. Dafür mangelt es uns an direkter Gesetzge- neten der SPD und des Abg. Memet Kilic bungskompetenz. Deswegen können wir das nicht legis- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lativ lösen. Aber das Parlament kann seinen informellen Die Arbeit des Petitionsausschusses erlaubt sowohl Einfluss geltend machen. Das Parlament kann sein Ge- die qualitative als auch die quantitative Evaluation der wicht in die Waagschale werfen. Gesetzgebung. Sie nimmt vorweg, was oft später in der So zeigt sich in der hohen Zahl von 18 861 Petitionen öffentlichen und politischen Diskussion erscheint. Damit im Jahre 2009 und von fast 900 000 Unterstützern von zeigen sowohl der Einzelfall als auch die Massenpetition Massenpetitionen, dass trotz aller – oft auch berechtigten – anschaulich die Tauglichkeit von einzelnen Gesetzen. Kritik an den Riten der parlamentarischen Demokratie die Volksvertretung weiterhin als Gravitationszentrum Vor allem in der Hartz-IV-Gesetzgebung zeigt sich unseres Staatsaufbaus verstanden wird. Somit sollte die immer wieder an erschütternden Beispielen, welche of- Rolle des Petitionsausschusses in unserer Verfassungs- fensichtlichen Härtefälle vor dem Gesetz vollkommen architektur nicht zu gering geachtet werden. korrekt sind. So bringen beispielsweise die Anrechen- barkeit von fast allen anderen Einkünften oder auch die Vielen Dank. Falschberechnungen der zuständigen Behörden Arbeit- suchende viel zu oft in existenzielle Notlagen. Solche (Beifall im ganzen Hause) Ergebnisse in der Umsetzung von Gesetzen sind völlig inakzeptabel, und die Architekten der Hartz-IV-Gesetz- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gebung wären gut beraten, die auch durch das Petitions- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Remmers wesen festgestellten Auswirkungen ihrer Reform für die Fraktion Die Linke. schnellstens abzustellen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 5344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Ingrid Remmers (A) Ich möchte neben der Hartz-IV-Gesetzgebung auf ei- ment zivilgesellschaftlicher Lobbyarbeit entwickelt. Ich (C) nen weiteren Schwerpunkt im Jahresbericht 2009 näher halte diese Entwicklung vor allem deshalb für sehr eingehen. Die Arbeit der bundeseigenen Bodenverwer- erfreulich, weil sie die bislang benachteiligte zivilgesell- tungs- und -verwaltungs GmbH als Nachfolgerin der schaftliche Interessenvertretung – also bürgerschaftli- Treuhand war und ist Gegenstand zahlreicher Beschwer- ches Engagement oder die sogenannten Graswurzelbe- den – und das nicht nur in Bezug auf die Privatisierung wegungen – gegenüber anderen, finanziell meist recht von Seen. Die oft undurchsichtigen Richtlinien für den gut ausgestatteten Verbänden, zum Beispiel der Wirt- Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen und die in- schaft, erheblich stärkt. Damit verhilft das Instrument transparenten Entscheidungen waren häufig Grundlage der öffentlichen Petition den zivilgesellschaftlichen von Beschwerden. Hier setzt sich die vor allem von Ost- Gruppen zu mehr Gerechtigkeit bei der Vertretung ihrer deutschen erlebte unrühmliche Vergangenheit der Treu- Interessen, und das ist gut so. hand fort und gipfelt in dem eben schon erwähnten flä- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem chendeckenden Verkauf von Seen in Brandenburg und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mecklenburg-Vorpommern. Kurzzeitig hatte die Vorgän- gerregierung – bei diesem Thema strategisch clever – Abschließend noch kurz einige Punkte. Meine Frak- den Verkauf vor der Bundestagswahl im September letz- tion und ich wünschen uns von Herzen, dass noch sehr ten Jahres gestoppt, um ihn nach der Wahl gleich wieder viel mehr Menschen die Möglichkeiten nutzen mögen, zu erlauben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bürgerin- sich mit ihren Anliegen direkt an den Bundestag zu wen- nen und Bürger ernst nehmen sieht anders aus. den – in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Auch ich möchte mich in diesem Zusammenhang für Um das Beispiel zu Ende zu führen: Laut einem Be- die gute Zusammenarbeit im Ausschuss und die Arbeit richt des RBB vom 19. Juni dieses Jahres plant die des Ausschussdienstes herzlich bedanken. BVVG den Verkauf von weiteren 300 Seen in Ost- deutschland in den nächsten Jahren. Demnach sollen die Zuletzt möchte ich betonen, wie wichtig es ist, dass Seen zwar vorrangig den Kommunen zum Kauf angebo- der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit die von ten werden, die Frage ist aber, ob sich die klammen den Bürgerinnen und Bürgern mittels Petitionen aufge- Städte und Landkreise ihre eigenen Seen überhaupt leis- zeigten Probleme und Missstände wirklich ernst nimmt. ten können. Obwohl die Seen sowieso der öffentlichen Das gilt für jedes Einzelanliegen genauso wie für die Hand in Form der BVVG gehören, sollen die Kommu- Massenpetitionen. nen dafür bezahlen, einen wichtigen Faktor für den Tou- Passiert das nicht, bleibt es beim öffentlichen Debat- rismus auch weiterhin nutzen zu dürfen. Das ist schon (B) tierklub, und das Petitionsrecht verkommt womöglich (D) eine seltsame Logik, wenn es um die wirtschaftliche Zu- zur plebiszitären Krücke. Als Folge würden sich die kunft der neuen Länder geht. Bürgerinnen und Bürger zu Recht weniger denn je ernst Vergleichbar mit der Seenprivatisierung im vergange- genommen fühlen. Dies würde die Politikverdrossenheit nen Jahr haben im ersten Halbjahr 2010 auch die Heb- verstärken und an der Legitimation des Parlaments na- ammen mithilfe breiter öffentlicher Unterstützung in gen. Das Vertrauen in die Demokratie würde weiter ge- kürzester Zeit eine öffentliche Ausschusssitzung durch- schwächt werden. Das dürfen wir nicht zulassen. gesetzt. Dazu musste sich die Bundesregierung am ver- (Beifall bei der LINKEN) gangenen Montag erklären. Der Wähler ist der Souverän des Staates und nicht sein (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich denke, Bittsteller. wir reden über 2009!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. – Dies ist nur ein kleines weiteres Beispiel, Frau Kolle- gin. Die zehn Sekunden haben wir, glaube ich, übrig. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Klaus Hagemann [SPD]) (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Es geht nicht um die zehn Sekunden, Frau Kollegin!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Hebammen haben in absoluter Rekordzeit mit ei- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort ner öffentlichen Petition auf ihr Anliegen aufmerksam der Kollege Memet Kilic. gemacht. In der Folge musste und muss sich der Aus- schuss wie auch das Gesundheitsministerium mit den Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): massiv steigenden Haftpflichtprämien im Vergleich zu Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der kaum steigenden Vergütung der Hebammen beschäf- Kollegen! Ich möchte der Frau Vorsitzenden und den tigen. Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen sowie deren Diese und andere Beispiele, speziell Beispiele von öf- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die bisher gute fentlichen Petitionen, zeigen die direkte Einflussmög- und faire Zusammenarbeit im Ausschuss danken. lichkeit der Bürgerinnen und Bürger, die durch die Ver- (Beifall im ganzen Hause) öffentlichung der Themen diese viel stärker in das öffentliche Bewusstsein bringen. Sie zeigen aber auch, Ich bin neu in diesem Ausschuss. Darum gilt mein dass sich die öffentliche Petition zunehmend zum Instru- Dank insbesondere auch den Mitarbeiterinnen und Mit- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5345

Memet Kilic (A) arbeitern des Ausschussdienstes. Ihnen ist es gelungen, wusstsein dafür, dass Politik nicht nur alle vier Jahre bei (C) mir und den vielen anderen neuen Abgeordneten mit Wahlen gemacht wird, wächst. Es passiert sehr viel zwi- größter Geduld, Engagement und Kompetenz den Ein- schendurch. Darauf können wir aufbauen, aber es bleibt stieg in die Arbeit des Ausschusses zu erleichtern. Dafür natürlich noch viel zu tun. Wir müssen nachlegen. mein Dank auch im Namen meiner Fraktion! Die besondere Bedeutung des Petitionsrechts zeigt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sich auch darin, dass es nicht nur als Bürgerrecht, son- bei der SPD und der FDP) dern auch als Menschenrecht im Grundgesetz verankert ist. Es steht allen Menschen offen, Erwachsenen wie Im vorliegenden Jahresbericht finden sich einige ein- Kindern, Inhaftierten und Geschäftsunfähigen, deut- drucksvolle Beispiele dafür, dass der Petitionsausschuss schen Staatsbürgern und Menschen ohne deutsche nicht nur bei den laut vorgetragenen Anliegen aufmerk- Staatsbürgerschaft, gleichgültig wo auf dieser Welt sie sam wird. Gerade bei den leise, verzweifelt und einsam leben. Mehrere Hundert Menschen aus dem Ausland ha- vorgetragenen Petitionen hört der Petitionsausschuss ge- ben dieses Recht im vergangenen Jahr wahrgenommen. nau hin; denn das Anliegen der Einzelnen ist sein Kern- Viele von ihnen beklagen sich über die restriktive Visa- geschäft. Der Petitionsausschuss kümmert sich um die, vergabepraxis der deutschen Auslandsvertretungen. die sonst nicht gehört werden. Ganz gleich, ob sie von Viele Familien werden zerrissen, weil Ehegatten und einer Person eingereicht oder von Hunderttausenden un- Angehörige nicht zu ihren in Deutschland lebenden Ver- terstützt wird: Jede Petition ist dem Petitionsausschuss wandten ziehen dürfen. Sie können keine hinreichenden gleich viel wert. Deutschkenntnisse nachweisen, haben oft aber auch Durch die Instrumente E-Petition, öffentliche Petition keine Möglichkeit, die Sprache im Ausland zu erlernen. und öffentliche Ausschusssitzung ist der Zugang zum Petitionsausschuss einfacher und das Verfahren durch- Wir verzeichnen allerdings auch einen besonders star- sichtiger geworden. Die Bürgerinnen und Bürger ma- ken Anstieg bei den Petitionen zum Aufenthalts- und chen rege davon Gebrauch. Über das Internetportal des Asylrecht. Die Zahl der Petitionen zum Asylrecht ver- Petitionsausschusses können sich die Bürgerinnen und doppelte sich im vergangenen Jahr. Fast ausschließlich Bürger direkt in das parlamentarische Geschehen einmi- ging es hier um die Angst der Menschen vor einer Über- schen. Das ist einzigartig im Bundestag. Mit über 56 000 stellung in die griechischen Auffanglager. Obwohl das Beiträgen ist es zudem eines der größten Politikforen in Bundesverfassungsgericht in mindestens sieben Fällen Deutschland überhaupt. im Eilverfahren untersagt hat, dass Menschen an Grie- chenland überstellt werden, ist die Bundesregierung in Die Petitionen haben einen Namen und ein Gesicht der Regel nicht bereit, hier Abhilfe zu schaffen. Sie ver- bekommen. Die Menschen hinter den Anliegen werden (B) weist auf die aus ihrer Sicht noch unklare Rechtslage. (D) sichtbar. Somit erkennt jeder, dass Politik nicht nur die Unglücklicherweise konnten wir daher weniger Men- Angelegenheit von einigen wenigen, sondern von jedem schen helfen, als ich mir gewünscht hätte. Es liegt an Mann und jeder Frau sein muss, die in unserem Land et- uns, uns in diesem Punkt anzustrengen. was ändern und verbessern wollen. Die Menschen wollen mitreden und mitgestalten. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen als mündige Bürgerinnen und Bürger ernst ge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- nommen werden. Mitbestimmung ist das wichtigste Mit- KEN) tel gegen die angebliche Politikverdrossenheit. Sie heißen beispielsweise Susanne Wiest, eine Tages- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mutter aus , die für ein bedingungsloses bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- Grundeinkommen streitet und binnen kurzer Zeit 53 000 ordneten der FDP) Unterzeichnerinnen und Unterzeichner für ihre Petition gewonnen hat. Da ist Franziska Heine, eine Webdesigne- Daher müssen wir das Petitionsrecht noch bekannter ma- rin, die für ihre Petition zur geplanten Netzsperre nicht chen und den Zugang vereinfachen. Wir müssen auch nur 130 000 Unterstützerinnen und Unterstützer fand, die Menschen gewinnen, die bisher zu wenig von den sondern auch ein Umdenken in der Bundesregierung be- Möglichkeiten Gebrauch machen, sich einzumischen, wirkt hat. Da ist der Schüler Isaak Schwarzkopf. Der zum Beispiel Erwerbslose, Frauen, Ältere und Immi- 13-jährige Junge aus Thüringen fordert in seiner öffentli- granten. Ändern muss sich auch die hohe Quote der Ein- chen Petition, den Worten zur Begrenzung der Klima- gaben, die nicht als öffentliche Petition zugelassen wer- erwärmung auf 2 Grad endlich Taten folgen zu lassen, den. Gerade bei den öffentlichen Petitionen könnte die und macht konkrete Vorschläge an die Politiker. Der Mitzeichnungsfrist verlängert und das Quorum gesenkt kleine Isaak gegen den Rest der Welt? Nein. Auch der werden. Rund 60 Prozent der eingereichten öffentlichen Schüler Isaak hat für seine Onlinepetition bereits viele Petitionen wurden nicht als solche zugelassen. Ich würde Unterstützer und Mitstreiter gefunden. mich freuen, wenn diese hohe Quote sinken würde. Die Menschen waren mit der Arbeits-, Sozial- und Ich freue mich auf weitere spannende und erfolgrei- Gesundheitspolitik der Bundesregierung nicht zufrie- che Jahre im Dienst der Bürgerinnen und Bürger. den – Tendenz steigend. Im Jahresbericht 2009 findet Vielen Dank. der unzulängliche und ungerechte Umgang der Bundes- regierung mit der Bankenkrise, der Abwrackprämie und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei dem Konjunkturpaket sein unmittelbares Echo. Das Be- der SPD, der FDP und der LINKEN) 5346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Landesparlaments zugewiesen mit dem Hinweis, dem (C) Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann für Anliegen des Petenten, wenn man eine Möglichkeit die CDU/CSU-Fraktion. sehe, nachkommen zu wollen und für Lärmschutz zu sorgen. Das ist also ein positives Beispiel dafür gewesen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass wir im Gespräch die schwierige Situation haben verbessern können. Gero Storjohann (CDU/CSU): Der Petitionsausschuss selbst ist sehr offen für Kritik, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und und er nimmt auch gern Probleme auf, um daraus dann Herren! Das Jahr 2009 – um dieses Jahr geht es im vor- Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wir möchten kon- liegenden Bericht – war in zweierlei Hinsicht ein beson- krete Verbesserungen erreichen. deres Jahr für den Petitionsausschuss: Erstens konnten wir unser 60-jähriges Bestehen feiern, und zweitens war Ein Problem in der letzten Zeit waren fehlende Ab- es über das ganze Jahr möglich, öffentliche Petitionen stellplätze an den Autobahnen für Lkws. Es gab eine im Internet einzureichen, zu diskutieren und mitzuzeich- Petition, es gab eine öffentliche Beratung im Petitions- nen. Es war ein schönes Jahr, das wir heute würdigen. ausschuss, und es gab auch eine Begleitung durch Ra- Das 60-jährige Jubiläum zeigt, dass wir Kontinuität diosender, die dieses Thema speziell für Trucker aufbe- haben. Es zeigt aber auch, dass wir uns der Zeit anpassen reitet haben. Es ist kein Hauptpunkt gewesen, aber wir müssen und dies auch tun wollen. haben dieses Anliegen begleitet. Jetzt sind viele Initia- tiven gestartet worden, um Stellplätze für Trucks aus- Das Petitionswesen hat sich stetig weiterentwickelt. zubauen. Bis zum Jahre 2012 sollen insgesamt etwa Es ist ein Vorzeigemodell geworden. Es wird sowohl im 15 000 Plätze zur Verfügung stehen. Das ist ein gutes Inland als auch im Ausland anerkannt, und es wird nach- Programm, das wir mit begleiten konnten. gefragt, wie wir das Petitionsrecht handhaben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Es stößt auf viel Interesse. Ich erinnere daran, dass in des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE England, der Urdemokratie, gar kein Petitionswesen GRÜNEN]) existiert. Wir sind schon wesentlich weiter. Wir haben in Berlin viele ausländische Delegationen empfangen kön- Zum Schluss, meine Damen und Herren, möchte ich nen, die sich danach erkundigten, wie hier die Zusam- deutlich machen, dass wir Individualinteressen sehr menarbeit funktioniert und wie das Petitionswesen orga- wohl unterstützen und dass wir uns als Korrektiv bei Ge- nisiert ist. Besonders Delegationen aus frankophonen setzen sehen, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Ländern Westafrikas – ich freue mich, dass Herr Ohne die Mitarbeiter in unseren Büros und ohne die Mit- arbeiter des Petitionsausschusses wäre diese wichtige „Afrika-Fischer“ anwesend ist –, (B) Aufgabe nicht vollumfänglich zu leisten. Deshalb (D) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) möchte auch ich mich im Namen der CDU/CSU-Frak- tion für diese tolle Mitarbeit und Unterstützung herzlich aus Algerien, Marokko und Tunesien sowie aus Vietnam bedanken. haben sich generell über unser Ausschusswesen infor- miert. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Die Petitionsausschüsse und Ombudsleute aus dem geordneten der SPD und der LINKEN) Inland, die nach Berlin reisten, interessierten sich natür- lich vor allen Dingen für das System der öffentlichen Eingaben. Allgemein erfährt die Praxis eine sehr posi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tive Resonanz – nicht nur vonseiten der Vertreter anderer Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Parlamente, auch seitens der Bürgerinnen und Bürger. Hagemann. Sie wissen, dass wir uns als Petitionsausschuss auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ um die Zusammenarbeit mit den Petitionsausschüssen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) der Landesparlamente kümmern. Deswegen laden wir regelmäßig die Vorsitzenden der Petitionsausschüsse der Landesparlamente ein. Wir freuen uns schon außeror- Klaus Hagemann (SPD): dentlich auf die Laudatio der Vizepräsidentin Frau Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hasselfeldt zum 60-jährigen Bestehen Ende September Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! in Schwerin. Gestern haben wir um diese Zeit den neuen Bundespräsi- denten gewählt. Wir Mitglieder des Petitionsausschusses gehen auch vor Ort, wenn wir es für angebracht halten. Zeitbedingt (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Noch nicht! geht das nicht in jedem Fall. Aber wir machen das doch Versucht!) sehr häufig. Wir waren an der A14, um uns den Lärm – Doch, er ist es schon. höchstpersönlich anzuhören. Die Gefahr ist bloß immer, dass der Wind in dem Augenblick aus der falschen Rich- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber nicht tung kommt und wir uns dann die Lärmbelastung vor- gestern um diese Zeit!) stellen müssen. Hier war das an der Sülzetalbrücke, und – Der dritte Wahlgang zeichnete sich ab. wir haben rechtlich nicht unbedingt helfen können. Aber wir haben die Petition dann dem Petitionsausschuss des (Zuruf von der SPD: Der zweite!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5347

Klaus Hagemann (A) Meine Damen und Herren, wir haben ihn gewählt, ob Sie Wir haben noch einen Wandel vollzogen; auf die öf- (C) wollen oder nicht, fentlichen Petitionen ist schon hingewiesen worden. Lie- ber Günter Baumann, Sie haben eben deutlich gemacht, (Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN) dass bei der Union und der FDP erst große Bedenken be- und es ist Herr Wulff geworden. Ich gratuliere ihm sehr standen haben. Ich würde es ein bisschen flapsiger sa- herzlich zu dieser Wahl. Er ist unser Staatsoberhaupt. gen: Wir haben euch zum Jagen getragen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein, nein! – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Günter Baumann [CDU/CSU]: Absolut bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE falsch!) GRÜNEN) – Sie waren noch gar nicht dabei, Herr Lehrieder. – Ihr Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Eines, liebe habt dann mitgemacht, und wir haben es zusammen hin- Sibylle Pfeiffer, muss ich dazu allerdings doch sagen: bekommen. Gestern waren ein paar Leute mehr hier im Plenarsaal als jetzt. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Die Rede war bis jetzt gut!) (Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Das hat sich so positiv entwickelt, dass jetzt alle Väter dieses Gedankens sind. Es ist richtig, öffentliche Petitio- Ich meine nicht Sie, liebe Gäste, sondern meine Kolle- nen zu ermöglichen, um die Zivilgesellschaft zu stärken, ginnen und Kollegen Abgeordnete. Wir Petitionsaus- um die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubinden. schussleute sind hier quasi unter uns und können unsere Diskussionen weiterführen. Ich möchte, Herr Kollege Thomae, Ihre Anregung aufgreifen, wieder eine Weiterentwicklung vorzuneh- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Es ist wie in der men. Das ist eine gute Anregung. Wir bieten auch hier- Kirche: Du beschimpfst die Falschen!) für die Zusammenarbeit an, so wie es üblich ist. – Es ist immer so: Man trifft die Falschen. – Aber ich Ich möchte darauf hinweisen, dass wir die öffentli- möchte für dieses Thema jetzt nicht zu viel Zeit ver- chen Petitionen noch stärker ausweiten müssen. Was plempern. nützt dem Petenten die Debatte hier im Plenarsaal, wenn er sich nicht beteiligen kann? Zumindest im Rahmen der Es wurde immer wieder herausgestellt, der Bundes- öffentlichen Petition und der Anhörung kann er sich ein- präsident sei ein Kümmerer, er sei ein Brückenbauer, er bringen. Das ist sicher ein guter Weg, den wir hier gehen müsse Gräben zuschütten, er sei ein Ermutiger – alles können. (B) richtig. Das sind Wendungen, die gestern zu hören und (D) zu lesen waren. Das gilt aber genauso für uns vom Peti- Ein anderes Beispiel ist die Diskussion um das Gesetz tionsausschuss, vom Parlament, die wir für die Mitbür- über Internetsperren. Durch die Petition dazu ist erreicht gerinnen und Mitbürger tätig sind, die sich an uns wen- worden, dass das Gesetz jetzt nicht angewendet wird den. Auch das ist von Ihnen allen schon gesagt worden. bzw. hinfällig ist. Wir haben diese Aufgabe wahrzunehmen. Ein weiteres Beispiel ist die große Petition zur Finanzmarkttransaktionsteuer. Diese Petition hat ausge- Wir sind gezwungen, immer wieder neue Formen zu löst, dass sogar die Bundesregierung sich mit dieser Idee entwickeln; denn nichts ist beständiger als der Wandel. auseinandersetzt, und hat sie in der Diskussion unter- Ich möchte eine Petition herausgreifen, die von uns ver- stützt. Der Petent hat also einiges bewegt. Ich hoffe, dass langt hat, solche neuen Formen zu entwickeln, und zwar die Anhörung dazu bald erfolgen kann; denn die Forde- die Beschwerden von ehemaligen Heimkindern, die in rung ist berechtigt. den 40er-, 50er-, 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahr- hunderts im Heim waren, uns ihr Schicksal geschildert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und aufgezeigt haben, wie dramatisch es gewesen ist. DIE GRÜNEN) Ich möchte hier die Vorgängerin in meinem Amt, Diejenigen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise durch Gabriele Lösekrug-Möller, erwähnen und ihr herzlich ihre Geldgier ausgelöst haben, müssen an der Finanzie- dafür danken, dass sie unser Petitionswesen immer wie- rung der Banken- und Wirtschaftsrettungsschirme betei- der mit Ideen sehr bereichert hat. Ein Dankeschön an ligt werden. Das steht in der Petition, und das kann nur dieser Stelle! so erreicht werden, wie es darin dargelegt worden ist. Es darf nicht der Eindruck entstehen: Wer Geld hat, der darf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sich alles erlauben. der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt bei uns auch Petitionen, die ruhen. Sie ruhen sanft, und es geht nicht voran. Dies betrifft das Thema Sie hat auch erkannt, dass es notwendig ist, einen runden „Generation Praktikum“. Auf der Tribüne sitzen viele Tisch einzurichten, weil wir mit dieser Thematik über- junge Leute. Man hört es immer wieder in Gesprächen: fordert waren, weil Sachverständige dazukommen muss- Es besteht die Furcht, dass man nach einer qualifizierten ten. Nur so konnten wir uns intensiver mit der Thematik Ausbildung nicht die Chance hat, aktiv in das Berufsle- beschäftigen. Liebe Gabriele, noch einmal herzlichen ben einzusteigen. In diesem Zusammenhang ist die Zeit- Dank! arbeit sowie die Tatsache zu nennen, dass es nicht genü- 5348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Klaus Hagemann (A) gend Arbeitsplätze gibt. Diese Sorgen müssen wir ernst Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) nehmen. Herr Kollege, das Sehen des Leuchtens reicht nicht. Es werden Praktika über Praktika angeboten; man soll Klaus Hagemann (SPD): noch ein schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum Ich sehe es, Frau Präsidentin. Der Kollege Baumann hintendran absolvieren. Wir haben diese Petitionen schon hat aber auch zwei Minuten überzogen. vor Jahren in Zeiten der Großen Koalition aufgegriffen und sind als Tiger gesprungen. Bisher sind wir noch nicht (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Zurufe gelandet – noch nicht einmal als Bettvorleger –, weil man von der CDU/CSU) sich in der Bundesregierung – damit meine ich nicht nur die jetzige Bundesregierung, es ist noch ein Staatssekre- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tär anwesend, Bei Ihnen geht es auch in diese Richtung. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber ein guter!) Klaus Hagemann (SPD): sondern auch ihre Vorgängerin während der Großen Ko- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen alition – zwischen zwei Ministerien nicht einigen besser, einfacher und verständlicher formulieren. Das konnte, welche Stellungnahme gegenüber dem Petitions- gilt sowohl für die Bundesregierung, an die ich diese ausschuss dazu abgegeben wird. Das darf nicht sein. Die Bitte richte, Herr Staatssekretär Dr. Schröder, als auch Bundesregierung muss hier schneller handeln. Wir müs- für uns selbst. sen zu einem Ergebnis kommen; denn die jungen Men- Zum Schluss sage ich ein Dankeschön an Sie alle für schen haben sich als Petenten in dem vollen Vertrauen, die gute, kollegiale, zum Teil freundschaftliche Zusam- dass wir handeln, an uns gewandt. An dieser Stelle be- menarbeit. Ein herzliches Dankeschön geht auch an die steht Handlungsbedarf. Lassen Sie uns das vorantreiben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes. und nach vorne bringen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall im ganzen Hause) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach Ausbildung und Studium müssen die jungen Men- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schen eine Perspektive haben. Wir sprechen immer vom Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für Fachkräftemangel. Wir sagen ihnen, dass sie eine Fami- die CDU/CSU-Fraktion. (B) lie gründen und Kinder bekommen sollen. Gleichzeitig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) stehen derart schlechte Voraussetzungen am Anfang des neten der FDP) Berufslebens. Dort besteht in der Tat Handlungsbedarf. Lassen Sie uns das endlich nach vorne bringen. Lassen Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sie uns hier die Bundesregierung treiben. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Ich möchte noch die Diskussion um das Quorum, das Liebe Kollegen! Ich will mich nicht der Unsitte der Vor- erforderlich ist, um eine öffentliche Anhörung durchzu- redner anschließen und gnadenlos überziehen, weil die führen, in Erinnerung rufen. Zwar gehen wir jetzt in der nach mir folgende Rednerin meiner Fraktion das auszu- Entwicklung voran, wie ich schon gesagt habe. Dennoch baden hätte, liebe Sibylle Pfeiffer. sollten wir nachdenken; da stimme ich dem Kollegen Seit nunmehr viereinhalb Jahren darf ich im Petitions- Kilic zu. Vielleicht ist es doch zu viel verlangt, ausschuss mitwirken. Am Anfang bin ich nolens volens 50 000 Unterschriften in drei Wochen zu erreichen. Au- in diesen Ausschuss geraten und dann freiwillig dort ge- ßerdem stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen, blieben, weil hier, wie die Vorredner bereits ausgeführt wenn nach der Zeit des Quorums noch Zigtausende Un- haben, ein sehr kollegiales Verhältnis sowie ein partei- terschriften eingehen. Diese Unterschriften können wir übergreifendes Verständnis der Probleme der Mitbürge- nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Hier gibt es rinnen und Mitbürger festzustellen sind. also genügend Ansatzpunkte, die wir uns anschauen und Mit jeder Eingabe, die ich als Berichterstatter im Peti- die wir aufgreifen sollten. tionsausschuss bearbeiten darf, bestätigt sich: In kaum Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab- einem Gremium des Deutschen Bundestages hat man als schluss noch kurz die von uns verwendete Sprache an- Volksvertreter eine so unmittelbare Berührung mit den sprechen. Leider habe ich keine Zeit mehr, Ihnen sehr Anliegen der Wählerinnen und Wähler. Wer sich an den delikate Formulierungen vorzulesen, die von Juristen Petitionsausschuss wendet, bekommt für ein konkretes vorgelegt worden sind und die kein Mensch versteht. Anliegen Unterstützung. Behörden und Gesetzgeber er- – Frau Präsidentin, ich sehe das Leuchten. – Übrigens halten ein Feedback aus dem täglichen Leben und Ant- müssen auch wir zwei Formen des Petitionsberichtes worten auf die Frage, wo noch Korrekturbedarf besteht. vorlegen: einen Bericht, der formaljuristisch in Ordnung Sie dürfen versichert sein – das gilt auch für die Zu- ist und alle Facetten betrachtet, und zusätzlich eine ver- schauer auf den Tribünen –: Auch wenn Otto Normal- ständliche Form, damit die Bürgerinnen und Bürger das verbraucher vielleicht nicht so schnell eine befriedi- Ganze verstehen. gende Antwort bekommt – wenn wir als Abgeordnete Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5349

Paul Lehrieder (A) bzw. als Petitionsausschuss eine Behörde anschreiben, periode weiterbehandelt werden, ist es nun notwendig, (C) bekommen wir eine Antwort. Wir können ein Vorhaben, sie mit Wissen um das Bundesverfassungsgerichtsurteil ein Anliegen oder ein Problem also transparent, öffent- vom 9. Februar noch einmal neu bewerten zu lassen. lich und bei der Behörde mit entsprechendem Gewicht vortragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in folgendem aktuellen Beispiel münden die Anliegen von Bürgern in Als Abgeordnete bekommen wir Rückkopplung über Gestalt von Eingaben an den Deutschen Bundestag im- das Wirken der Gesetzgebung in Fällen, wie sie jedem mer wieder in konkrete Entscheidungen und Korrektu- von uns auch in unserer Wahlkreisarbeit begegnen. Wer ren. Für die Petenten ist wichtig, zu sehen: Die Politik sich an den Petitionsausschuss wendet, sollte allerdings nimmt die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernst. wissen: Der Ausschuss kann weder einen Verwaltungs- So wurde in einem konkreten, von mir behandelten Fall akt noch einen Gerichtsbeschluss verändern oder aufhe- ein Antrag auf ALG-II-Leistungen abgelehnt. Grund: die ben. Er ist vor allem ein Untersuchungsorgan, das das Verwertbarkeit eines Vermögens aus der privaten Ren- Handeln von Verwaltungen und die Wirkung von Geset- tenversicherung. Der Petent gab an, der vorzeitige Ver- zen überprüft. Sobald ein Petent an den Petitionsaus- kauf wäre für ihn mit finanziellen Verlusten von etwa schuss herantritt, wird seine Beschwerde oder Bitte von 15 000 Euro verbunden gewesen und bringe ihn in die einer privaten Angelegenheit zu einem öffentlichen An- Gefahr von Altersarmut. Bei Abschluss des Rentenversi- liegen. cherungsvertrages habe er keine Möglichkeit gehabt, im Rahmen eines Modells für das Alter zu sparen, welches Sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie sich sicher- rechtlich anrechnungsfrei sei. lich denken können, ist dies besonders auf den Feldern Arbeit und Soziales der Fall, für die ich im Petitionsaus- Die Problematik, die diesem und ähnlichen Anliegen schuss in erster Linie Bericht erstatten darf. Viele Bürger zugrunde liegt, war der unionsgeführten Bundesregie- nutzen das Petitionsrecht, um sich über die Gesetze des rung bewusst. Wir haben bereits in unserem Koalitions- Bereichs Arbeitsmarkt oder deren Umsetzung zu be- vertrag, lieber Kollege Thomae, aufgenommen, dass die schweren oder Verbesserungen vorzuschlagen. Einige Höhe des Schonvermögens verdreifacht werden soll, um Vorredner sind bereits darauf eingegangen. Mit 21 Pro- für das Alter entsprechend Vorsorge leisten zu können. zent der Eingaben ist das Ressort Arbeit und Soziales Anstelle von bisher 250 Euro sollen zukünftig 750 Euro wie auch in den Vorjahren das Ressort im Petitionsaus- pro Lebensjahr aus einer selbst erwirtschafteten Renten- schuss, zu dem die meisten Zuschriften eingingen. Von zusatzleistung anrechnungsfrei bleiben. Der Bericht des den Themen her bildeten auch in diesem Jahr die Grund- Petitionsausschusses sieht auf Seite 28 insofern aus- sicherung für Arbeitsuchende – Stichwort Arbeitslosen- drücklich vor – mit Ihrem Einverständnis, Frau Präsi- geld II – mit 1 120 Petitionen und das klassische Ar- dentin, würde ich gerne die genaue Formulierung zitie- (B) (D) beitslosengeld mit 144 Petitionen den Schwerpunkt. ren –: Stark vertreten waren auch Problematiken rund um den Arbeitslohn, die Förderung der beruflichen Weiterbil- Der Petitionsausschuss empfahl daher, die Eingabe dung sowie die Arbeitsmarktpolitik an sich und die Bun- der Bundesregierung als Material zuzuleiten, damit desagentur für Arbeit als Institution. sie im Rahmen der zukünftigen Gesetzgebung in die Überlegungen einbezogen werden kann, und Im Übergang zur Rente war das Thema des Nachwei- leitete sie auch den Fraktionen des Deutschen Bun- ses von Zeiten der Arbeitslosigkeit für die Rentenversi- destages zu. cherung von großer Bedeutung. Sie sehen an diesem Beispiel – damit möchte ich be- Das Schwergewicht der Petitionen zur Grundsiche- reits vorzeitig zum Ende kommen –, dass die Politik rea- rung für Arbeitsuchende betraf Fälle, in denen sich giert. Politik und Gesetze sind ein lernendes System. Die Petenten über die Bearbeitung ihres persönlichen Leis- Rückkopplung in Form der Anliegen der Bürgerinnen tungsfalles durch die örtlichen Träger der Grundsiche- und Bürger im Petitionsausschuss ist hierfür eine wert- rung für Arbeitsuchende beschwerten. Dabei ging es oft volle Unterstützung. In diesem Ausschuss werden die um die Anrechnung einmaliger Einnahmen, zum Bei- Anliegen der Bürger nicht als Arbeitsbelastung, sondern spiel um die von Geldgeschenken oder Rückerstattungen als positive Anregung und als wohlmeinende Begleitung im Rahmen der Lohnsteuer oder der Betriebskosten der unserer Initiativen hier in Berlin gesehen. Wohnung, oder auch um Sanktionen, die den Petenten auferlegt worden waren, Stichwort: Fordern und För- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dern. (Beifall im ganzen Hause) Gerade auch die Höhe der Regelsätze der Grund- sicherung nach dem SGB II war immer wieder Thema. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Im Vorfeld der in diesem Jahr erfolgten Entscheidung Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar, insbe- Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. sondere bezogen auf die Regelsätze für Kinder und Ju- gendliche, beanstandeten zahlreiche Bürgerinnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bürger deren Höhe und machten Verbesserungsvor- schläge. Viele dieser Petitionen stammen noch aus der Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): vergangenen Wahlperiode. Da sie nicht der Diskontinui- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tät unterliegen und somit auch in dieser Legislatur- Dies ist für mich die dritte Legislaturperiode als Mitglied 5350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Sibylle Pfeiffer (A) des Petitionsausschusses. Ich mache das leidenschaftlich In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die im (C) gerne, freiwillig, zusätzlich und, wie ich glaube, mit sehr Petitionsausschuss anfallende Arbeit und die hohe Zahl viel Liebe und sehr viel Einsatz. Deshalb kann ich all das der Petitionen ein Spiegelbild der Gesellschaft sind: Der Gute und Schöne, was meine neun Vorredner zur Ar- eine Bürger verlangt, dass der Staat alles regelt, der beitsweise des Petitionsausschusses gesagt haben, unter- zweite Bürger meint, dass der Staat gar nichts regelt, streichen. An dieser Stelle erlaube ich mir aber auch während der dritte Bürger meint, dass der Staat zu viel zwei, drei kritische Bemerkungen. Ich denke, auch die regelt und seine persönliche Freiheit zu sehr einschränkt. dürfen wir einmal äußern. Dieses Spannungsverhältnis müssen wir aushalten, und wir müssen objektiv beurteilen, ob die Entscheidung im Ich glaube, dass der Petitionsausschuss nach völlig vorgebrachten Einzelfall angemessen ist oder nicht. anderen Regeln funktionieren sollte als unsere übrigen Ausschüsse. Unsere Arbeit ist nämlich eine andere. Wir In all den Jahren im Ausschuss, die ich nun hinter mir sollen objektiv, anonym und unvoreingenommen den habe, habe ich gelernt: Egal wie die Mehrheitsverhält- Einzelfall betrachten und schauen, ob wir den Bürger in nisse im Parlament gerade sind, macht die Arbeit im Pe- irgendeiner Art und Weise unterstützen können, ob wir titionsausschuss den Angehörigen der Opposition beson- hilfreich sein können, ob wir etwas ändern können. Lei- ders viel Spaß. Man kann alles versprechen, ohne in der der stelle ich aber fest, dass ideologische und parteipoli- Verantwortung zu stehen. Das ist einfach. Die jetzige tische Debatten zunehmend gerade und vor allen Dingen Opposition ist in dieser Hinsicht – das habe ich festge- im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksamen Mas- stellt – äußerst fleißig. senpetitionen vorkommen. Das finde ich schade. ( [CDU/CSU]: Im (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So schaut es Versprechen!) aus!) Rechnerisch ist es aber wahrscheinlich die teuerste Op- Ein Schelm, der Böses dabei denkt, aber es besteht position, die wir, soweit ich das überblicken kann, je hat- die Gefahr, dass der Petitionsausschuss manipuliert und ten. für Partikularinteressen instrumentalisiert wird. (Klaus Hagemann [SPD]: Warum?) (Klaus Hagemann [SPD]: Das ist bei allen Dass wir im Petitionsausschuss trotz aller parteipoliti- Fraktionen so!) schen Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen zweifel- los ein kollegiales Verhältnis haben, verleiht der Arbeit Inhaltliche Debatten dieser Art gehören in die zuständi- die Würde und Substanz, die wir brauchen. Der Bürger gen Fachausschüsse und nicht in den Petitionsausschuss. weiß: Sein persönliches Anliegen ist bei uns in besten (B) Wir können nicht so etwas wie Ersatzgesetzgeber sein. Händen. Ich glaube, auf diese Art und Weise sind wir für (D) Das fällt in die Zuständigkeit der anderen Ausschüsse. die Demokratie sehr hilfreich. Massenpetitionen werfen meiner Ansicht nach ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie weiteres Problem auf. Oft genug geht es dabei nicht um bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ausnahmefälle oder ein konkretes Problem, sondern es GRÜNEN) geht häufig um politische Fragen im engeren Sinne. Die politische Willensbildung sollte aber in und vor allen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dingen über die Parteien stattfinden. So ist es im Grund- gesetz, bei der Parteienprivilegierung, verankert. Hier Ich schließe die Aussprache. überschreiten wir manchmal die Grenze dessen, was der Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte von die- Petitionsausschuss leisten kann, und betreten die Arena ser Stelle aus den Mitgliedern des Petitionsausschusses der parteipolitischen Auseinandersetzung. Aber gerade für deren Engagement und die zusätzliche Arbeit, die sie dafür sind wir nicht da. zu ihrer fachlichen Arbeit in diesem Haus erbringen, ei- nen herzlichen Dank aussprechen und wünsche ihnen al- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) les Gute. Ich wünsche mir, dass wir die parteipolitischen Grund- (Beifall) satzdebatten zukünftig aus der Arbeit des Petitionsaus- schusses heraushalten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Nach wie vor halte ich die Beschäftigung des Peti- Erste Beratung des von den Abgeordneten tionsausschusses mit Einzelpetitionen für unheimlich Roland Claus, Jörn Wunderlich, Dr. Dietmar wichtig und für unheimlich wertvoll. Aber auch bei den Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Frak- Einzelpetitionen habe ich manchmal ein ambivalentes tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gefühl; denn wir können es nicht allen Petenten recht … Gesetzes zur Änderung des Schuld- machen. Wir können nicht alle Wünsche erfüllen, und rechtsanpassungsgesetzes wir können nicht alle Anliegen umsetzen. Als Bundes- – Drucksache 17/2150 – tagsabgeordnete müssen wir uns auch einmal etwas trauen. Wir müssen mutig sein und den Bürgern die Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Wahrheit sagen: Der Staat kann und darf nicht alles leis- Innenausschuss ten, und er kann es nicht jedem recht machen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5351

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die und Geld gesteckt hat, den Abriss voll bezahlen muss, (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, wenn der Vertrag ausläuft. damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos- sen. (Beifall bei der LINKEN) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wir bitten Sie um Zustimmung zum Gesetzentwurf, Wort der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die davor natürlich um sachgerechte Behandlung in den Linke. Ausschüssen. Wir wissen sehr wohl, dass es Einwände gegen unseren Vorschlag gibt. Es gibt Verbände, die sa- (Beifall bei der LINKEN) gen, das Urteil des BGH von 2008 gebe hinreichend Si- cherheit, man brauche den Schritt gar nicht. Wir haben Roland Claus (DIE LINKE): mit diesen Verbänden erst jüngst ausführlich diskutiert. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich sage Ihnen: Das mag auf jene Nutzer zutreffen, die Herren! Wir reden hier über Lauben, Datschen und Ga- ausreichend selbstverteidigungsfähig sind. Es trifft auf ragen im Osten Deutschlands, also in den neuen Bundes- sehr viele nicht zu. Wir alle im Hause wissen, dass zwi- ländern. Genauer gesagt: Es geht im Kern um die Rechte schen recht haben und recht bekommen zuweilen ein von Grundeigentümern einerseits und Besitzern und großer Unterschied besteht. Deshalb ist die Initiative Nutzern von Baulichkeiten, Anpflanzungen etc. anderer- notwendig. seits. Die juristischen Feinheiten sind hinlänglich in der Begründung unseres Gesetzentwurfes nachzulesen. Zu Wir werden darüber hinaus weitere Vorschläge unter- DDR-Zeiten geschaffene private Werte auf volkseige- breiten, wie im Osten gewonnene Erkenntnisse und ge- nem Grund und Boden sind der Gegenstand. Zur Erinne- machte Erfahrungen mehr als bisher bundesweit genutzt rung: Es gab in der DDR mehr als 3 Millionen Kleingär- werden können. ten. Diese waren Orte der Erholung und zum Teil auch (Beifall bei der LINKEN) der Selbstversorgung. Ich sage es gleich: Es wäre für ganz Deutschland klug und modern gewesen, das Klein- Im 20. Jahr der deutschen Einheit ist es an der Zeit, den gartenrecht der DDR für die ganze Bundesrepublik zu Erfahrungsvorsprung, den Menschen im Osten im Um- übernehmen. gang mit Umbrüchen, schwierigsten Situationen und Neuanfängen gewonnen haben, für ganz Deutschland (Beifall bei der LINKEN) nutzbar zu machen. Vergessen wir eines nicht: Aus der Nach der Wende kam es zum Einigungsvertrag. Es Krise führen nur neue Wege. wurde der unsägliche Grundsatz „Rückgabe vor Ent- (Beifall bei der LINKEN) (B) schädigung“ angewandt. Die neue Rechtslage bedeutete, (D) dass die Vertragsbeziehungen zwischen Verpächtern und Nutzern völlig neu geregelt werden mussten. Dafür steht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Zu diesem Gesetz Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Jan- hat meine Fraktion hier, auch als sie noch anders hieß, Marco Luczak das Wort. bereits seit 1994 – ich habe etwas recherchiert – kontinu- ierlich Vorschläge eingebracht. Wir schlagen Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heute eine kleine Änderung dieses Gesetzes vor, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, und zwar für beide Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Seiten: mehr Rechtssicherheit für die Verpächter und für Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- die Nutzer. legen! Wir diskutieren hier und heute über das Schuld- Ich weiß, dass seit fast 20 Jahren zwischen den neuen rechtsanpassungsgesetz, ein Instrument, das in der Tat Grundeigentümern und den Nutzern solcher Erholungs- zwei völlig gegenläufige und vor allen Dingen hochemo- grundstücke sehr viele vernünftige Regelungen getroffen tionale Interessenlagen ausgleichen will: Auf der einen wurden. Auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit, Seite stehen die vielen Nutzer von Freizeit- und Erho- wenn man einen solchen Gesetzentwurf einbringt. Denn lungsgrundstücken, für die ihre Datsche zu DDR-Zeiten das verdient Anerkennung. Es ist aber auch viel mehr als in der Tat ein Stück gelebter Freiheit war. Auf der ande- nötig vor den Gerichten gelandet. Deshalb streben wir ren Seite stehen die Grundstückseigentümer. Auf ihrem eine Verbesserung der Rechtssicherheit bzw. Abschaf- Grund und Boden sind diese Datschen errichtet worden. fung der Rechtsunsicherheit an, die bei Vertragsbeendi- Die Nutzungsverträge wurden seinerzeit auf Grundlage gung eintritt. Dabei geht es um die Fragen: Was muss an des Zivilgesetzbuches der DDR geschlossen. Damit Werthaltigem entschädigt werden? Wie hoch sind die gründeten sie auf einer sozialistischen Rechts- und Wirt- Abrisskosten, und wie verteilen sie sich? schaftsordnung, die staatlich gelenkt war und kaum pri- vate Freiheit für die Ausgestaltung dieser Rechtsverhält- Wir haben jetzt zum Teil eine so kuriose Rechtslage, nisse ließ. dass Vertragsbrüchige zum Teil besser gestellt werden als Vertragstreue. Der Bundesgerichtshof hat das bereits So waren die Nutzungsverträge für diese Erholungs- mit einem Urteil im Jahre 2008 deutlich bestätigt. Wir grundstücke und die darauf errichteten Datschen faktisch wollen mit unserem Gesetzentwurf eine Praxis beenden, unkündbar. Darauf haben die Nutzer vertraut und Inves- wonach der Eigentümer eines Wochenendhauses oder ei- titionen getätigt. Dieses Vertrauen ist in der Tat schutz- ner Garage, in die er jahre- oder jahrzehntelang Mühen würdig. 5352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Jan-Marco Luczak (A) Für die Union ist es aber genauso wichtig, an dieser zustimmen werden. Im Kern wollen Sie mit Ihrem rück- (C) Stelle herauszustellen, dass auch die Eigentümer ein be- wärtsgewandten Gesetzentwurf nichts anderes erreichen rechtigtes Interesse daran haben, ihre Eigentumsrechte – das schreiben Sie auch selbst –, als die Rechtsposition unter den heutigen freiheitlichen Vorzeichen der sozialen der Nutzerinnen und Nutzer zu stärken, also letztlich die Marktwirtschaft zur Geltung zu bringen. Nutzer im Verhältnis zu den Eigentümern besserzustel- len. Dazu wollen Sie zwei Dinge ändern: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Erstens. Die zu zahlende Entschädigung für errichtete Bauwerke soll unabhängig davon sein, aus welchem Wir wollen, dass die Eigentümer die Möglichkeit haben, Grund und von wem ein Nutzungsverhältnis gekündigt zu entscheiden, ob sie über kurz oder lang ihr Grund- wird. stück wieder selbst nutzen wollen oder ein kostende- ckendes Nutzungsentgelt hierfür erhalten. Zweitens. Die zu zahlende Entschädigung soll immer mindestens nach dem Zeitwert des Bauwerkes und Um die Dimension deutlich zu machen – der Kol- höchstens bis zur Höhe der Verkehrswerterhöhung des lege Claus hat schon einige Zahlen genannt –: In der Grundstücks durch das Bauwerk bemessen sein. DDR hatte mehr als jeder Zweite ein solches Erho- lungsgrundstück. Wenn man die vielen Kleingartenan- Mit dem ersten Punkt wollen Sie letztlich eine wohl- lagen herausnimmt – sie unterliegen nämlich anderen durchdachte Differenzierung des Gesetzgebers aushe- gesetzlichen Voraussetzungen –, so verblieben immer beln. Im Gesetz wird nämlich danach unterschieden, ob noch rund 1 Million Verträge, die in bundesdeutsches das Nutzungsverhältnis durch den Eigentümer oder Recht zu überführen waren. durch den Nutzer bzw. durch eine von ihm verschuldete Kündigung beendet wird. Kündigt der Vermieter bzw. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz regelt die Frage, der Eigentümer, so verliert der Nutzer das von ihm er- wie diese DDR-Grundstücksnutzungsverträge in bun- richtete Gebäude gegen seinen Willen. Damit gehen die desdeutsches Recht überführt werden können. Das Ziel Investitionen, die er im Vertrauen auf den langfristigen war und ist, das möglichst sozialverträglich zu machen Fortbestand des Nutzungsverhältnisses getätigt hat, ver- und die Interessen beider Seiten zum Ausgleich zu brin- loren. Es ist dann nur recht und billig, dass er dafür eine gen. Ich finde, das ist seinerzeit sehr gut gelungen. Das Entschädigung bekommen soll. Das sieht das Gesetz so Schuldrechtsanpassungsgesetz hat diesen wirklich vor. Der Nutzer soll eine Entschädigung bekommen, die schwierigen Interessenkonflikt mithilfe eines sehr weit das Gesetz nach dem Zeitwert des Bauwerks zum Zeit- gehenden Kündigungsschutzes, einer Begrenzung der punkt der Rückgabe als Entschädigung bemisst. Nutzungsentgelte und einer differenzierten Regelung über die Entschädigung bei einer Vertragsbeendigung Kündigt hingegen der Nutzer selbst oder gibt er durch (B) (D) aufgelöst. sein eigenes vertragswidriges Verhalten den Anlass zur Kündigung, dann ist er in Bezug auf seine Investitionen Was macht nun die Linke aus dieser gelungenen und gerade nicht schutzbedürftig bzw. beendet er das Nut- auch von den Betroffenen allseits akzeptierten Rege- zungsverhältnis aus freien Stücken. Dennoch soll er für lung? Sie schreibt in ihrem Gesetzentwurf, dass es sich die Erhöhung des Verkehrswertes des Grundstücks eine um „ein durch Zeit- und Handlungsdruck geprägtes spe- Entschädigung erhalten; denn immerhin handelt es sich kulatives Termingeschäft sui generis“ handelt. Meine um einen Vermögenswert, der dem Eigentümer zufließt, Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. ohne dass er einen Beitrag dazu geleistet hat. Deswegen Für mich klingt das eigentlich nur nach blankem Popu- ist es richtig, dass auch an dieser Stelle eine Entschädi- lismus. gung fließen soll. Allerdings ist diese nach den Vorstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lungen des Gesetzgebers in der Regel niedriger zu hal- ten, als es der Zeitwert des Gebäudes wäre. Das ist auch Die Linke versucht mit dieser Wortwahl, wieder auf sachlich begründbar: Wegen der fehlenden Schutzbe- der allgemeinen Welle der Empörung gegen die Exzesse dürftigkeit des Nutzers erhält dieser nicht eine Entschä- auf den Finanzmärkten zu reiten. Das mag Ihnen zu Zei- digung in Höhe seiner Aufwendungen, sondern weniger. ten der Wirtschafts- und Finanzkrise opportun erschei- nen, aber es ersetzt keine sachliche Auseinandersetzung. Dass der Gesetzgeber diese unterschiedlichen Sach- Daran lassen Sie es an dieser Stelle wieder einmal feh- verhalte aufgrund der unterschiedlichen Schutzbedürf- len. tigkeit auf der Ebene der Entschädigungen auch unter- schiedlich behandelt, ist konsequent und in der Sache (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- absolut berechtigt. Deswegen liegt die Linke in der Sa- neten der FDP) che völlig daneben, wenn sie die genannten Unter- Tatsächlich wird hier nämlich versucht, die Schlach- schiede beseitigen will, wie immer am liebsten dadurch, ten von gestern erneut zu schlagen. Wir haben schon im dass alles über einen Kamm geschoren und gleichge- Jahr 2006 sehr ausführlich über das Schuldrechtsanpas- macht wird. sungsgesetz diskutiert. Damals ging es um recht ähnlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelagerte Problemstellungen. Seinerzeit haben Sie, um im Bild zu bleiben, die Schlacht verloren, und Ihr Vor- Sie wenden hier dagegen ein, der BGH habe diese schlag wurde abgelehnt. Ich wage, vorherzusagen: Das Differenzierung mit einem Urteil aus dem Jahre 2008 wird Ihnen auch heute passieren. Ich will Ihnen auch letztlich ad absurdum geführt. Ich kann mich des Ein- gerne erklären, warum wir Ihrem Gesetzentwurf nicht drucks nicht erwehren, dass Sie dieses Urteil gar nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5353

Dr. Jan-Marco Luczak (A) gelesen haben. Aber das wäre vielleicht ein bisschen zu des Eigentums nach unserem Grundgesetz ausgestattet (C) einfach, und deswegen will ich das an dieser Stelle nicht ist. Ich will es mir jetzt aber nicht anmaßen, Ihnen hier unterstellen. Als Alternative bleibt dann freilich nur, Nachhilfeunterricht zu geben. Ich könnte hier das Urteil dass Sie dieses Urteil nicht verstanden haben. Das würde des Bundesverfassungsgerichts zitieren, auf das Sie Be- diese Sache auch nicht wirklich besser machen. zug nehmen. Darin steht sehr deutlich, dass der eigen- tumsrechtliche Gehalt vor allen Dingen durch Privatnüt- In der Sache hat der BGH nämlich gesagt, dass es im zigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Einzelfall tatsächlich sein kann, dass ein Nutzer mehr Eigentümers gekennzeichnet ist. Nun kontern Sie gleich Entschädigung erhält, obwohl er selbst kündigt oder ob- wieder mit Art. 14 Abs. 2 GG, mit der Sozialbindung des wohl ihm aufgrund vertragswidrigen Verhaltens gekün- Eigentums. Es ist völlig richtig, dass diese besteht; aber digt wurde. Daraus ziehen Sie dann aber den Schluss, auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht in dem zi- dass hier eine völlig willkürliche Rechtslage entstanden tierten Urteil sehr deutlich gesagt, dass eine einseitige sei, nach der im Ergebnis die Höhe der Entschädigungs- Bevorzugung oder Benachteiligung mit den verfassungs- leistung überwiegend zufällig davon abhänge, welche rechtlichen Vorstellungen eines sozialgebundenen Pri- der Parteien die Kündigung zuerst ausspreche. Damit vateigentums nicht im Einklang steht. versuchen Sie wiederum, zu insinuieren, dass es einen Wettlauf geben könnte, wer das Nutzungsverhältnis zu- Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht das Schuld- erst kündigt, um sich eine möglichst hohe Entschädi- rechtsanpassungsgesetz, als es dies 1999 genau unter die gung zu sichern. Das wiederum soll letztlich den gerade Lupe genommen hat, im Wesentlichen bestätigt. Das Ge- angesprochenen spekulativen Charakter des Nutzungs- richt hat nur eines gemacht: Es hat einzelne Regelungen verhältnisses bzw. der gesetzlichen Regelung begründen. in der Tat für nicht in vollem Umfang mit der Eigentums- Tatsächlich hat der BGH sehr deutlich gemacht, dass garantie vereinbar erklärt. Das lag aber nicht etwa daran, es – anders als Sie in Ihrem Gesetzentwurf behaupten – dass das Gesetz hier zu eigentumsfreundlich ausgestaltet gerade keine Besorgnis gibt, dass das Nutzungsverhält- gewesen wäre. Im Gegenteil: Das Gericht hat das Gesetz nis einen solchen spekulativen Charakter erhält. Richtig als zu nutzerfreundlich ausgestaltet betrachtet. ist nämlich, dass es dem Nutzer darauf ankommt, das Wenn Sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf behaupten, Gebäude auf dem Erholungsgrundstück möglichst lange dass die Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgeset- zu nutzen und nicht irgendwelche Spekulationsgewinne zes der gescheiterte Versuch seien, einseitig die „Rechte zu erzielen. Er hat also gerade kein Interesse daran, die der Grundstückseigentümer zu erweitern“, dann wird Nutzung vorzeitig aufzugeben. dies weder dem Willen des Gesetzgebers noch der Reali- Auch bei dem Eigentümer kann es zu dem behaupte- tät gerecht. (B) ten Wettlauf überhaupt nicht kommen. Das Gesetz sieht (Beifall bei der CDU/CSU) (D) hier eine sehr weitgehende Beschränkung der Kündi- gungsmöglichkeiten vor. Der BGH hat sehr deutlich ge- Der Gesetzgeber hat letztendlich die Konsequenzen sagt, dass die im Gesetz verankerte Wertung entspre- aus diesem Urteil gezogen und das Schuldrechtsanpas- chend hinzunehmen ist. sungsgesetz geändert. Sie wollen hier mit Ihrem Gesetz- entwurf eigentlich nichts anderes erreichen als eine Alles in allem geht ihre Argumentation also an der Rolle rückwärts: Sie wollen wieder zu dem Zustand zu- Sache vorbei. Das wurde Ihnen auch höchstrichterlich rück, bei dem man Nutzer gegenüber den Eigentümern vom BGH bestätigt. Dass Sie hier trotzdem einen sol- einseitig bevorteilt. Daran merkt man erneut, dass Sie of- chen Gesetzentwurf vorlegen, lässt mich wieder zu dem fensichtlich immer noch in Ihren sozialistischen Denk- Schluss kommen, dass Sie das Urteil des BGH entweder strukturen verhaftet sind und sich davon nicht lösen kön- nicht gelesen oder nicht verstanden haben. nen. Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, den (Zuruf von der CDU/CSU: Reiner Populis- Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen, ist die mus!) Entschädigung mit mindestens dem Zeitwert des Bau- werkes, ganz unabhängig davon, wer aus welchem Das Schlimme dabei ist aber, dass Sie sich damit in of- Grund gekündigt hat. Das ist schlicht verfassungswidrig; fenen Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundes- das muss man hier ganz klar und deutlich sagen. Wenn verfassungsgerichts begeben. Ich habe es gerade ausge- Sie sich das Urteil des BGH anschauen, dann wird Ihnen führt: Die Grundrechte der Eigentümer müssen auch im das klar. In der Tat wundert mich ein solcher Gesetzent- Rahmen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes gewahrt wurf nicht. Wir alle wissen, dass Ihre Partei und Ihre werden. Hierzu ist sehr deutlich ausgeführt worden, dass Fraktion immer noch ein recht gespaltenes Verhältnis zu es das Bundesverfassungsgericht als Verletzung der den Grundrechten und den rechtsstaatlichen Prinzipien Grundrechte der Eigentümer ansieht, wenn der Eigentü- unseres Grundgesetzes haben. Das haben Sie jüngst wie- mer den Nutzer auch dann für den Verlust des Nutzungs- der sehr deutlich unter Beweis gestellt, als sich Ihre Prä- rechts entschädigen muss, wenn es keinen korrespondie- sidentschaftskandidatin weigerte, die DDR als das zu be- renden Vorteil des Grundstückseigentümers gibt. Genau zeichnen, was sie war, nämlich als einen Unrechtsstaat. das könnte aber der Fall sein, wenn man ausnahmslos und ohne Differenzierung immer auf den Zeitwert eines Bau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werkes abstellte; denn es ist überhaupt nicht gesichert – es Vor diesem Hintergrund müsste man Sie eigentlich kommt auf den Einzelfall an –, ob ein solcher Mehrwert sehr deutlich darauf hinweisen, wie der Schutzumfang überhaupt besteht und ob er realisierbar ist. Deswegen 5354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Jan-Marco Luczak (A) stehen Sie da in völligem Widerspruch zur Rechtspre- nen Wert hat, erhält er keine Entschädigung. Nur wenn (C) chung des Bundesverfassungsgerichts. die Errichtung des Gebäudes zu einer Werterhöhung des Grundstücks insgesamt führt, soll der Eigentümer den Ihr Gesetzentwurf ist letztendlich – damit komme ich bisherigen Nutzer nach dem durch das Bauwerk erhöh- zum Schluss – ein Unterfangen, das offensichtlich da- ten Verkehrswert des Grundstücks entschädigen. Das rauf abzielt, eine verfassungsrechtlich anerkannte Aus- heißt: Der Nutzer kann bei eigener Kündigung zwar laut gleichsleistung, eine akzeptierte Ausgleichsregelung, au- Schuldrechtsanpassungsgesetz keine Entschädigung nach ßer Kraft zu setzen und erneut Zwist und Zwietracht dem Zeitwert des Bauwerks beanspruchen, wohl aber zwischen den Alteigentümern und den Datschenbesit- bereits jetzt die oftmals bessere Entschädigung wegen zern zu säen. Damit spielt die Linke mit den Ängsten der der Verkehrswerterhöhung des Grundstücks. Menschen und versucht hier, populistisch, einseitig und unredlich ihre Interessen durchzusetzen. Sie werden ver- Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, über den stehen, dass wir von der Union einem solchen Antrag wir diskutieren, fordert, dass der Grundstückseigentümer nicht zustimmen können. zukünftig immer einen Wertausgleich bei der Vertrags- beendigung zahlen soll, und zwar unabhängig davon, Danke schön. welcher Vertragsteil die Kündigung vornimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei der Anpassung der Rechts- und Eigentumsord- nung der DDR an das Rechtssystem der Bundesrepublik Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Deutschland stand der Deutsche Bundestag vor der Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen für schwierigen Aufgabe, die Interessen von Nutzern und Ei- die SPD-Fraktion. gentümern in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. (Beifall bei der SPD) Die Datsche bedeutete – darauf ist heute schon hingewie- sen worden – für zahlreiche Bürger der DDR ein wertvol- les Stück Freiheit. Hinzu kam, dass die Nutzer von Erho- Sonja Steffen (SPD): lungsgrundstücken in der DDR – das waren eine ganze Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Menge – eine erheblich stärkere Rechtsposition gegen- Kollegen! Je länger das Spiel dauert, desto weniger Zeit über den Eigentümern hatten, als dies nach dem heutigen bleibt; das gilt im Sport und in vielen anderen Lebensbe- Recht der Fall ist. Schließlich war zu berücksichtigen, reichen. Dies wissen auch die Eigentümer der Datschen dass viele Nutzer das Grundstück zum Teil mit viel Zeit in den neuen Bundesländern. Die Häuschen zur Erho- und großer Mühe nutzbar gemacht haben. lung, um die es in der heutigen Debatte im Wesentlichen geht, stehen nämlich meist auf fremdem Grund und Bo- Der Gesetzgeber hat andererseits auch den Interessen (B) den. Für diese Fälle gilt das Schuldrechtsanpassungsge- der Eigentümer Rechnung zu tragen und die Entschädi- (D) setz. Es besagt, dass der gesetzliche Kündigungsschutz gungsregelungen in einem ausgewogenen Verhältnis zu im Jahr 2015 endet. gestalten. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz hat einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden In- Bis dahin ist nicht mehr viel Zeit. Was passiert dann teressen von Nutzern und Eigentümern hergestellt. Das mit den Datschen? Müssen die Nutzer Angst haben, dass Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz im Jahr das Nutzungsverhältnis 2015 automatisch endet und die 1999 im Wesentlichen bestätigt. Die Entschädigungsre- Baulichkeiten dann dem Grundstückseigentümer zufal- gelungen wurden vom Bundesverfassungsgericht nicht len? Nein, kein Vertrag endet automatisch. Richtig ist: beanstandet. Mit dem 3. Oktober 2015 endet der gesetzliche Kündi- gungsschutz des Schuldrechtsanpassungsgesetzes. Grund- Die Forderung der Fraktion Die Linke, dem Nutzer stückseigentümer können dann die Verträge nach Maßgabe stets eine Entschädigung mindestens nach dem Zeitwert des Bürgerlichen Gesetzbuches kündigen. Entscheidend des Bauwerks zukommen zu lassen, ist mit den Grund- ist: Die Grundstückseigentümer können, sie müssen aber sätzen des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht ver- nicht kündigen. Die alten Verträge behalten weiterhin einbar und stellt auch nicht, wie Sie, Herr Kollege Claus, ihre Gültigkeit, wenn sie nicht gekündigt werden. meinten, eine kleine Änderung dar. Für die Eigentümer ist sie erheblich. In vielen Fällen hat das Bauwerk für Was passiert aber, wenn ein Grundstückseigentümer den Grundstückseigentümer keinerlei wirtschaftlichen dennoch von seinem Kündigungsrecht Gebrauch macht? Wert. Es ist gerecht, dass der Nutzer im Falle einer Ei- Dann fällt ihm auch das Eigentum an der Baulichkeit zu. genkündigung nur dann eine Entschädigung erhält, wenn In diesem Fall hat der Nutzer einen Entschädigungsan- der Verkehrswert des Grundstücks durch das Bauwerk spruch auf den aktuellen Zeitwert des von ihm errichte- erhöht wird. Wenn keine Werterhöhung vorliegt, wäre es ten Bauwerks. Herr Kollege, Sie haben bereits darauf unbillig, dem Eigentümer den vollen Wertausgleich für hingewiesen. Dabei ist nicht entscheidend, ob der das Bauwerk aufzubürden. Die Gesetzesinitiative ist Grundstückseigentümer für das Bauwerk Verwendung meiner Meinung nach einseitig, populistisch und daher hat. Zudem muss der Eigentümer eine Entschädigung für abzulehnen. die Anpflanzungen zahlen. Vielen Dank. Wenn der bisherige Nutzer kündigt, so bedarf es kei- nes Schutzes bezüglich seiner Investitionen. Da er das (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Nutzungsverhältnis aus freien Stücken beendet, ist er FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht schutzbedürftig. Selbst wenn das Gebäude noch ei- SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5355

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die sinnvoll sind. Das ist zum Teil schon ausgeführt wor- (C) Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Marco den. Man kann es eben nicht anders machen, als dass das Buschmann. Eigentum an einem Bauwerk dem Grundstückseigentü- mer zugeordnet wird. Natürlich muss es dafür einen Er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) satzanspruch geben. Dass man dabei das wesentliche In- teresse des Bauwerkseigentümers berücksichtigt, ist Marco Buschmann (FDP): doch völlig klar; aber das wesentliche Interesse lag eben in der Nutzung. Wenn jemand freiwillig auf die Nutzung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und verzichtet, dann ist ebenso völlig klar, dass man den an- Kollegen! Nach den ausgezeichneten Ausführungen des ders behandelt, weil sein Interesse anders ist, als denjeni- Kollegen Luczak und auch der Kollegin Steffen will ich gen, bei dem die Nutzung unfreiwillig beendet wird. die eben vorgetragenen Punkte nicht wiederholen. Mir Deshalb ist die Unterscheidung, die wir im Schuld- scheint es aber angebracht – insbesondere nach den Aus- rechtsanpassungsgesetz vorfinden, sachgemäß. Die bei- führungen von Herrn Claus, der gewissermaßen obiter den Fallkategorien haben Herr Kollege Luczak und Frau dictum vorgetragen hat, dass er das DDR-Recht gegen- Kollegin Steffen hier schon differenziert dargestellt. über dem deutschen, bundesrepublikanischen Recht für vorzugswürdig hält –, die Materie systematisch zu be- Die Kritik der Linken an diesem System ist deshalb leuchten. nicht nachvollziehbar. Sie fordern, dass man diese Un- Unserem geltenden Zivilrecht liegen kluge, volks- terscheidung aufheben soll. Es sind auch einzelne tech- wirtschaftlich sinnvolle und auch gerechte Entscheidun- nische Punkte – ich will auf die Details kommen – nicht gen und Erwägungen zugrunde. So finden wir im BGB nachvollziehbar. So soll etwa klargestellt werden, dass etwa den Grundsatz, dass die Verbindung von verschie- der Ersatzanspruch zum Zeitpunkt der Vertragsbeendi- denen Gegenständen unterschiedlicher Eigentümer zu gung über das Nutzungsrecht geschehen soll. Das gibt einem einheitlichen Gegenstand auch zu einer einheitli- die geltende Rechtslage bereits her. Der Blick in § 12 chen Zuordnung bei einem einzigen Eigentümer führt. Abs. 1 Satz 1 des Schuldrechtsanpassungsgesetzes er- Wir finden das beispielsweise in § 947 BGB für die Ver- leichtert die Findung der Rechtslage. Danach muss die bindung beweglicher Sachen. Dort ist geregelt: Entsteht Entschädigung durch den Grundstückseigentümer „nach durch die Verbindung zweier beweglicher Sachen eine Beendigung des Vertragsverhältnisses“ geleistet werden. neue einheitliche Sache, so steht das Eigentum daran Auch Ihre grundsätzliche Kritik an dieser Differenzie- demjenigen zu, der Eigentümer der Hauptsache ist. – rung ist abzulehnen. Wenn der ehemalige Bauwerks- Diesen Grundsatz finden wir auch bei den Grundstücken eigentümer freiwillig auf die Nutzung verzichtet, ist er und den Gebäuden – nämlich in § 946 BGB – konkreti- (B) eben weniger schutzwürdig. Das ist hier schon ausge- (D) siert. Dort geht es um die Verbindung von beweglichen führt worden. Diese Unterscheidung ist, wie gesagt, inte- Sachen mit einem Grundstück. Dabei ist klar, dass das Grundstück genau diese Hauptsache ist. Daher steht das ressengerecht. Eigentum auch dem Grundstückseigentümer zu. Über die eine Ausnahmekonstellation, die Sie hervor- Wer nach diesen Vorschriften – das ist auch das Ge- heben, quasi zum Grundsatz erheben und als Begrün- rechte an dem System – sein Eigentum verliert, der steht dung nehmen, das ganze System über den Haufen zu nicht ohne Ersatz da, sondern dem steht nach § 951 BGB werfen, können wir gerne nachdenken. Diese Konstella- ein entsprechender Ersatz zu. Dieses Regelungssystem tion kennen wir tatsächlich: Es kommt wirklich in Aus- ist klug und auch gerecht. Man sollte es hier nicht dis- nahmefällen vor, dass der Zeitwert des Grundstücks kreditieren. Es ist nämlich klug, weil es volkswirtschaft- durch die Existenz eines Gebäudes stärker steigt, als das lich zweckmäßig ist. Bleiben wir bei den beweglichen Gebäude selber wert ist. Diese Fälle treten in attraktiven Sachen: Wenn wir ein mechanisches Uhrwerk wieder Lagen im Außenbereich durch den erweiterten Bestands- auseinandernehmen müssten, nur weil die Zahnräder un- schutz, den auch das Bundesverfassungsgericht gewährt, terschiedlichen Eigentümern gehören, dann würde ein ein. Aber das sind Ausnahmefälle, bei denen Sie über- Wirtschaftsgut, dessen Wert größer ist als die Summe haupt nicht klarmachen, um welche Größenordnungen seiner Teile, zerstört werden, und der darin verkörperte es geht. Das gesamte System, dem volkswirtschaftlich Mehrwert würde auch zerstört werden. Das ist nicht sinnvolle Erwägungen und auch Gerechtigkeitserwägun- sinnvoll. Es ist klug, weil es Streit vermeidet, und auch gen, die absolut überzeugend sind, zugrunde liegen, we- gerecht, weil die Interessen aller Beteiligten – siehe den gen dieser einen Ausnahme bzw. Fallgruppe, die Sie Ersatzanspruch – berücksichtigt werden. nicht einmal quantifizieren, über den Haufen zu werfen, ist nicht sinnvoll. Wir können gerne über diese spezielle Das Zivilrecht der DDR folgte diesem klugen und ge- Fallkonstellation nachdenken; dann müssten wir einmal rechten Regelungssystem nicht, wenn es um Bauwerke empirisch untersuchen, um wie viele Fälle es überhaupt auf Grundstücken ging. Da hatte man eine unterschiedli- geht. Aber das ist kein Grund für einen Systemwechsel. che Zuordnung vorgenommen. Es ist ein Problem der Deshalb werden Sie verstehen, dass wir Ihrem Anliegen Transformation in ein anderes Rechtssystem, das man nicht folgen werden. lösen muss. Herzlichen Dank. Für die notwendige Überführung in die heutige gül- tige Rechtslage hat man Übergangsregelungen gefunden, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 5356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich stelle mir auch die Frage, weshalb wir diesen Weg (C) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin dann nicht auch in umgekehrter Richtung gehen sollten, Ingrid Hönlinger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- wenn nämlich der Grund für die Vertragsbeendigung in nen. der Sphäre des Nutzers liegt, weil dieser selbst kündigt oder sich vertragswidrig verhält. Wenn in diesen Fällen Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Zeitwert des Bauwerks unter der Verkehrswertsteige- rung des Grundstücks liegt, dann müsste man dies, wenn Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und man Ihren Gedanken zu Ende denkt, auch dem Eigentü- Kollegen! Wir befassen uns bei dem Entwurf eines Ge- mer zugute kommen lassen. Eine einseitige Lösung zu- setzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgeset- gunsten des Nutzers erscheint mir hier nicht klar und zes mit einem Thema, das seinen Ursprung in der Wie- auch nicht ausgewogen. dervereinigung von Ost- und Westdeutschland hat. Es lohnt sich, diese Geschichte der Vereinigung auf eine Ähnliches gilt, wenn wir den Zeitpunkt für die Entste- faire und ausgewogene Grundlage zu stellen. Aus die- hung des Anspruchs auf Entschädigung so abändern, wie sem Grunde war die Frage, wie wir mit den Nutzungs- es die Linke vorschlägt. verhältnissen an Grundstücken im Osten Deutschlands umgehen, schon mehrfach Gegenstand der Beratungen Bei der jetzigen gesetzlichen Regelung ist der Zeit- in diesem Haus. Die Kernfrage besteht darin, wie wir die punkt der Rückgabe des Grundstücks an den Eigentümer Rechtsverhältnisse von Eigentümern und Nutzern von maßgeblich. Dieser Zeitpunkt soll nach Vorstellung der Grundstücken in der ehemaligen DDR regeln, auf denen Linken auf die Vertragsbeendigung vorverlagert werden. Wochenendhäuser, Datschen oder Garagen errichtet Sie begründen dies mit möglichen zivilrechtlichen An- worden sind. Konkret geht es um die Folgen der Beendi- sprüchen des Nutzers. gung des Nutzungsverhältnisses. Was passiert aber, wenn Vertragsbeendigung und Ziel des Gesetzentwurfes der Linken ist es, in vier Rückgabe des Grundstücks zeitlich auseinanderfallen, Punkten Änderungen an der Gesetzeslage herbeizufüh- wenn sich der Zustand des Bauwerks in dieser Zeit ver- ren: beim Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf schlechtert? Dann ist das Bauwerk immer noch in der eine Entschädigung, bei der Bemessung der Höhe der Verfügungsgewalt des Nutzers. Der Eigentümer kann Entschädigung, bei der Tragung der Kosten für den Ab- nicht darauf einwirken. Warum sollte der Eigentümer bruch von Bauwerken und bei der Erhöhung des Nut- dann das Risiko der Verschlechterung tragen? zungsentgelts. Zu einer ausgewogenen Regelung gehört auch, dass Anfangen möchte ich mit der Frage der Bemessung Risiken nicht einseitig auf den Nutzer oder einseitig auf (B) der Entschädigung im Falle der Beendigung des Nut- den Eigentümer verteilt werden. Liebe Kolleginnen und (D) zungsverhältnisses. Bisher wird im Gesetz eine Unter- Kollegen auch von der Linken, wir wollen doch auf eine scheidung danach getroffen, wer das Ende des Nut- Balance der Rechte und Pflichten aller Beteiligten ach- zungsverhältnisses veranlasst hat. Die erste Regelung ten. betrifft die Fälle, in denen der Nutzer selbst kündigt oder durch sein vertragswidriges Verhalten Anlass zur Kündi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gung gegeben hat. In diesen Fällen bemisst sich die bei der CDU/CSU und der SPD) Höhe der Entschädigung danach, wie der Verkehrswert Auch bei den Abbruchkosten schlagen Sie eine neue des Grundstücks durch das Bauwerk erhöht wird. Regelung vor. Sie ist aus unserer Sicht zu unbestimmt. Die zweite Regelung betrifft die Fälle, in denen der Deswegen können wir ihr nicht folgen. Eigentümer dem Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält, kündigt. Hier ersetzt die Entschädigung den Zeitwert des Aus den genannten Gründen können wir Ihrem An- Bauwerks. Bei dieser Regelung ist der Gesetzgeber da- trag insgesamt nicht zustimmen. Er ist in wichtigen De- von ausgegangen, dass der Zeitwert des Bauwerks höher tails nicht ausgewogen. Er begünstigt unverhältnismäßig ist als die Verkehrswertsteigerung durch das Bauwerk. eine Seite. Er verkompliziert das Verfahren. Er erhöht Das heißt, der Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält, das Risiko von Rechtsstreitigkeiten und fördert die Bü- sollte im Falle einer Kündigung des Eigentümers besser- rokratie, insbesondere wenn ich an Ihren Vorschlag zur gestellt werden. Erhöhung der Nutzungsentgelte denke. Insgesamt stellt der Gesetzentwurf aus unserer Sicht keine Verbesserung Die Linke problematisiert jetzt den Fall, dass die Ver- der Rechtslage dar. Deswegen lehnt meine Fraktion ihn kehrswertsteigerung des Grundstücks höher sein könnte ab. als der Zeitwert des Bauwerks. Werde in diesen Fällen nur der Zeitwert des Bauwerks ersetzt, könne das den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vertragstreuen Nutzer gegenüber dem Nutzer, der selbst bei der CDU/CSU und der SPD) kündigt oder sich vertragswidrig verhält, schlechterstel- len. Diesen Vorschlag kann man noch einmal überprü- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fen. Allerdings führt das aus unserer Sicht zu einer Ver- Ich schließe die Aussprache. komplizierung des Verfahrens. Denn es hat zur Folge, dass gleich zwei Werte ermittelt werden müssen, näm- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- lich die Verkehrswertsteigerung des Grundstücks und wurfs auf Drucksache 17/2150 an die in der Tagesord- der Zeitwert des Bauwerks. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5357

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann Bundestag, und es ist die besondere Aufgabe des Parla- (C) ist die Überweisung so beschlossen. mentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Des- halb freuen wir uns, dass der Parlamentarische Beirat Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: zum dritten Mal in Folge vom Deutschen Bundestag ein- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gesetzt wurde, dass sich mit diesem Gremium auch die richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Bedeutung, die man diesem Thema beimisst, verstetigt und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un- hat. Wir freuen uns, dass wir in dieser Legislaturperiode terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat – es ist Schritt für Schritt ein Ringen um mehr Kompe- für nachhaltige Entwicklung tenzen gewesen – wiederum mit neuen Rechten ausge- stattet worden sind, dass wir jetzt die Befugnis erhalten Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats haben, jeden einzelnen Gesetzentwurf der Bundesregie- für nachhaltige Entwicklung – Peer Review rung daraufhin zu überprüfen, ob dem Erfordernis, eine der deutschen Nachhaltigkeitspolitik Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen, konsequent und – Drucksachen 17/1657, 17/2061 Nr. 1.1, 17/2314 – ausführlich Rechnung getragen wurde. Kurz: Wir freuen uns, dass wir mit handfesten Rechten im parlamentari- Berichterstattung: schen Alltag ausgestattet sind. Abgeordnete Dr. Dr. Matthias Miersch (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Michael Kauch und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ralph Lenkert Man kann sagen: Wir sind fast so gestellt wie ein rich- Dr. Valerie Wilms tiger Ausschuss. Ich sage „fast“. Das zeigt, dass wir Er- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die folge haben. Es zeigt aber auch, dass es neben den Berei- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, chen, in denen wir eine stärkere Stellung als normale Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver- Ausschüsse haben, die sich immer nur mit ihren spezifi- fahren. schen Themenbereichen befassen dürfen, während wir eine globale Zuständigkeit für Nachhaltigkeit haben, Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- noch bestimmte Dinge gibt, die wir fordern. ner dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Frak- tion das Wort. Wir freuen uns, dass der Peer Review, über den wir heute diskutieren, ganz dezidiert diese Forderung unter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stützt und sagt, man muss die Stellung des Parlaments neten der FDP) bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie stärken, (B) und dass die Peers fordern, dass ein ständiger Ausschuss (D) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): für Nachhaltigkeit eingesetzt wird. Wir begreifen das als Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rückenwind, unsere Forderung weiter zu vertreten und Dies ist die erste Debatte, die wir als Mitglieder des Par- darauf zu dringen, dass wir in der Geschäftsordnung des lamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in Bundestags ausdrücklich erwähnt werden und die Feder- dieser Legislaturperiode im Plenum führen können. Des- führung für die Begleitung der nationalen Nachhaltig- halb gestatten sie mir zunächst eine grundsätzliche Be- keitsstrategie, aber auch für die Begleitung der Nachhal- merkung. tigkeitsstrategie der Europäischen Union erhalten. Ich finde, das ist die logische Konsequenz aus der hohen Be- Aus unserer Sicht ist Nachhaltigkeit nicht irgendein deutung, die wir dem Thema Nachhaltigkeit politisch Politikbereich neben anderen, sondern es handelt sich beimessen. Deshalb kämpfen wir als Beirat über alle um eine zentrale Querschnittsaufgabe, die in allen Poli- Fraktionen hinweg gemeinsam dafür. tikbereichen zur Geltung kommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten der FDP) Wir haben Anlass, noch weitere Punkte aus dem Be- Das gilt selbstverständlich für den klassischen Be- richt der Peers aufzugreifen und zu unterstützen, wie wir reich von Umwelt- und Naturschutz. Es gilt aber ganz es in unserem gemeinsamen Antrag tun. Ich will an die- genauso für den Bereich Haushalt und Finanzen; es gilt ser Stelle sagen: Es ist bemerkenswert, dass wir eine ge- für Wirtschaft und Soziales. Die Liste ließe sich fortfüh- meinsame Stellungnahme aller Fraktionen im Deutschen ren. Wir haben in all diesen Bereichen die besondere Bundestag abgeben – bei einem Sondervotum der Links- Verantwortung, nicht an den kurzfristigen Erfolg, an Partei in einer Frage. Das zeigt, dass es hier bei allem ta- kurzfristigen Gewinn zu denken, sondern an das lang- gespolitischen Streit einen Konsens gibt, diese wichtigen fristige Erfordernis, heute so zu handeln, dass es auch Zukunftsfragen gemeinsam zu lösen. Einer dieser künftigen Generationen gerecht wird. Punkte ist unsere Forderung, die nationale Nachhaltig- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP keitsstrategie, die bisher einen Zeithorizont bis 2020 hat, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) langfristiger zu formulieren. Auch das fordern die Peers. Sie fordern, man muss mindestens bis zum Jahr 2030 Um es auf einen Nenner zu bringen: Wir dürfen nicht denken, planen und skizzieren, am besten aber in den heute auf Kosten von morgen leben. Das ist unsere ge- Bereichen, in denen es angezeigt ist, bis zum Jahr 2050. meinsame Verantwortung als Abgeordnete im Deutschen Diese Forderung machen wir uns zu eigen – gerade an- 5358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Andreas Jung (Konstanz) (A) gesichts der wachsenden globalen Herausforderungen serer Betrachtung haben wir in eine gemeinsame (C) wie Umwelt, Klimaschutz, Ressourcenschutz und Arten- Stellungnahme gefasst und gemeinsam einen Entschlie- vielfalt. ßungsantrag vorgelegt. Diese fraktionsübergreifenden Beratungen und die aus ihnen hervorgehenden Papiere Aber auch in den wirtschaftlichen Fragen ist es rich- sind stark konsensorientiert. Ich will an dieser Stelle sa- tig, zu sagen: Wenn wir nachhaltig handeln wollen, dann gen: Das ist auch gut so. muss es sich tatsächlich auf einen solchen langen Zeit- raum beziehen. Es ist gut, dass auch die Bundesregie- Erinnern wir uns: Seit 2002 haben wir die Fragen der rung in ihrer Stellungnahme nach der letzten Sitzung des Nachhaltigkeitspolitik am Ende immer mit einer sehr Staatssekretärsausschusses erklärt hat, auch sie sehe breiten Mehrheit beantworten können. Das ist gut für diese Notwendigkeit. Wir werden uns dafür einsetzen, dieses Thema. Ich sage: Würden wir das nicht hinbe- dass bei der Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie kommen, dann würden wir kein gutes Zeichen setzen. im Jahr 2012 diese Konsequenzen tatsächlich gezogen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich will abschließend noch darauf hinweisen, dass ich CDU/CSU) zwei weitere Punkte aus diesem Bericht für besonders Ich muss allerdings sagen: Der Parlamentarische Bei- wichtig halte. Es wird darauf hingewiesen, Nachhaltig- rat für nachhaltige Entwicklung ist deshalb keine parla- keit noch besser mit den Ländern und in der Zusammen- mentarische Kuschelecke, und einen Schmusekurs gibt arbeit zwischen Bund und Ländern abzustimmen, und es es da auch nicht. Wir wissen ja: In vielen Bereichen der wird auf das Erfordernis hingewiesen, bürgerschaftliches Politik des Alltags haben wir durchaus unterschiedliche Engagement und die gesellschaftlichen Akteure einzube- Positionen. Deshalb will ich nicht den Eindruck erwe- ziehen und eine gesellschaftliche Debatte zu führen. Ich cken, dass wir in allem immer übereinstimmen. Mitnich- finde allgemein, dass das wichtig ist. Es wird besonders ten! wichtig bei der Vorbereitung der Nachfolgekonferenz Rio-plus-20 sein – 20 Jahre nach Rio. Da wird es not- Als Mitglieder des Parlamentarischen Beirates für wendig sein, dass gesellschaftliche Akteure, Parlament nachhaltige Entwicklung müssen wir uns in den Dienst und Regierung an einem Strang ziehen, um gemeinsam der besonderen Aufgabe stellen, und die heißt „nachhal- den Durchbruch zu schaffen, den wir für Nachhaltigkeit tige Politik“. Wir gucken über Legislaturperioden hin- national und international bis zum Letzten brauchen. weg, wir schauen über lebende Generationen hinaus, und wir arbeiten quer zu den Ressorts. Herzlichen Dank. Das ist eine große Herausforderung. In der Regel wird (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und hier eher darüber diskutiert: Was machen wir heute, und (D) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) was betrifft uns jetzt? Es geht also nicht um die lange Perspektive. Ich behaupte: Wenn sich die Nachhaltig- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: keitspolitik auf das Tagesgeschäft beschränken würde, Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Lösekrug- dann würde sie dieses Etikett nicht verdienen. Deshalb Möller für die SPD-Fraktion. will ich nur sagen: In der Tagespolitik sind wir in vielen Fällen anderer Meinung als die jetzige Mehrheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Das gilt für das Marktanreizprogramm, für das EEG, für Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe die Atomkraft und für die Steuerpolitik. Ja, das sehen Kolleginnen und Kollegen! Dieser Peer Review, über wir anders als Sie. Trotzdem sagen wir: Wir sind bei- den wir heute reden, richtet den Fokus stark auf Wirt- sammen, wenn es darum geht, gemeinsam etwas Gutes schaft und Energie und betrachtet Anstrengungen der für die Zukunft zu gestalten. Politik, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu imple- mentieren. Dieser Blick internationaler Experten auf un- Was wird uns durch den Peer Review dazu beschei- sere nationalen Anstrengungen ist der SPD-Bundestags- nigt? Rückblickend wird festgestellt: Wir sind klug und fraktion willkommen, und wir begrüßen das ausdrück- kraftvoll gestartet. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist der lich. richtige Ansatz. Nach starkem Start sind nun die Institu- tionen etabliert, und es stellen sich weitere Aufgaben. (Beifall bei der SPD) Herr Jung, Sie haben schon die Nachhaltigkeitsprü- Wir als Parlamentarischer Beirat sind auch Gegenstand fung in der Gesetzesfolgenabschätzung angesprochen. der Betrachtung. Der Kollege Jung hat schon darauf hin- Damit haben wir uns einen dicken Brocken vorgenom- gewiesen: Wir wurden sehr wohlwollend betrachtet, und men, den wir aber gut bewältigen müssen. Wir müssen eigentlich wünscht man, dass man uns verstetigt. Das ist Wert darauf legen, dass das im Gesetzgebungsverfahren ein großes Lob. Allerdings haben wir uns auch selbst mit verbindlich eingefügt wird. Unser Augenmerk muss na- den zahlreichen Empfehlungen befasst, die die Peers türlich auch darauf liegen, dass wir die Länder ermun- gegeben haben. Sie beschreiben Stärken und Schwä- tern, uns zu folgen, wenn wir das auf Bundesebene er- chen, Chancen und Risiken, und sie geben Empfehlun- folgreich gemacht haben. Wir müssen die Zusammen- gen, was wir besser machen könnten. Das Ergebnis un- arbeit von Bund und Ländern in der Nachhaltigkeitspoli- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5359

Gabriele Lösekrug-Möller (A) tik grundsätzlich voranbringen. Hier gibt es noch jede tioniert, was Sie postulieren. Sie sagen, eine gerechte (C) Menge zu tun. Verteilung heute sei eine gute Basis für das Recht kom- mender Generationen. Als wäre es damit gesichert! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nein, wir wissen, dass das nicht der Fall ist. Wir sind der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ambitionierter. Wir wollen Gerechtigkeit heute mit der GRÜNEN) Option auf Gerechtigkeit und gutes Leben kommender Schauen wir auf das gesamte Verfahren, dann stellen Generationen in Einklang bringen. Das ist der Anspruch, wir aber auch fest: Wir beschäftigen uns im Augenblick und der ist nicht gering. sehr mit den grundsätzlichen Regeln und mit der Frage, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem wie wir das institutionalisieren. Das ist gut so, aber wir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- dürfen hier nicht stecken bleiben. Wenn wir bei den Ver- geordneten der FDP) fahrensfragen stecken bleiben, dann haben wir einen Ef- fekt wie beim Mehltau. Viele werden das von ihren Ro- In konkrete Politik übersetzt heißt das: Wir wollen die sen her kennen. Dabei kann auf Dauer nichts Rechtes im Bereich der Nachhaltigkeit interagierenden Felder herauskommen. Deshalb sage ich: Das eine ist es, diese von Ökologie, Ökonomie und Sozialem miteinander ver- Arbeit zu erledigen, das andere ist aber, die beschriebene bunden diskutieren und entwickeln, weil wir glauben, Sorge der Peers ernst zu nehmen. dass nur ein solcher zusammenführender Ansatz die richtigen Vorschläge für die Politik der Zukunft und für Was für eine Sorge haben sie beschrieben? Ich will die Politik von heute bringt. hat dazu schon das mit den Worten von Volker Hauff sagen, der bis vor vor 30 Jahren festgestellt: Es gilt, von der ständigen Ver- kurzem ja der Vorsitzende des Rates für Nachhaltige wechslung von Wachstum und Entwicklung wegzukom- Entwicklung war. Er sagte als Erstes: Es ist gut, dass men. – Recht hat er gehabt. Noch heute ist die Gefahr diese Peers, namhafte internationale Experten, bestellt groß, dass wir das eine mit dem anderen verwechseln. Es wurden. Sie kommen zu dem Ergebnis: Früher war ist schon der Mühe wert, darüber zu diskutieren, was wir Deutschland spitze in der Umweltindustrie, heute – und unter Wachstum verstehen. Auf diese Debatte im Beirat das ist die Warnung – verliert Deutschland aber an Bo- und hier im Parlament freue ich mich. Ich halte es für den, jedenfalls dann, wenn Deutschland die neuen Spiel- geboten, sie jetzt zu führen. Deshalb sagt die SPD: Aus regeln des internationalen Green Race nicht beherzigt. gutem Grund werden wir grundsätzlich. Die Regierung Was ist der Green Race? – Dabei geht es um die Glo- hat eine große Selbstverpflichtung seit 2002. Wir wollen balisierung mit Nachhaltigkeitskriterien. Der Wettlauf das Regierungshandeln konstruktiv begleiten. Wir wer- um die Entwicklung und Produktion der effizientesten den dabei aufmerksam sein. Wir werden konstruktiv sein (B) Systemlösungen für die nachhaltige Wirtschaft ist in vol- und eigene Vorschläge einbringen, wie es für die SPD (D) lem Gang. Es geht um den Umbau von Produktion und üblich ist, und das ist immer gut gewesen. Konsum zu klimagerechten, ressourceneffizienten und Vielen Dank. nachhaltigen Formen, also um keine Kleinigkeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deshalb finde ich den Bericht anregend; mit ihm soll DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht kritisiert werden. Ich verstehe ihn als mutmachend, CDU/CSU) als Herausforderung und als ein Impuls, zu sagen: Lasst nicht nach! Ihr habt so stark angefangen, macht stark weiter! – Ich glaube, der Parlamentarische Beirat unter- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: stützt das umfassend. Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) CDU/CSU und der LINKEN) Michael Kauch (FDP): Ich will allerdings auch einen Aspekt der Nachhaltig- keit ansprechen, den ich persönlich in dem Bericht etwas Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine unterbelichtet dargestellt finde, nämlich die Bevölke- Vorrednerin, Frau Lösekrug-Möller, hat gesagt: Die Nach- rungsentwicklung. Wir alle wissen: Weltweit wächst die haltigkeitspolitik muss heraus aus der Kuschelecke. – Ich Bevölkerung, und die Lebensbedingungen der Menschen glaube, das ist richtig und wichtig. Ich will versuchen, sind noch immer vom Mangel geprägt. In Deutschland das kuschelige Thema mit ein paar harten Fakten anzu- wächst die Bevölkerung jedoch nicht; sie schrumpft. reichern. Die FDP setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass es eine Politik der Generationengerechtigkeit gibt. Das heißt, wir stehen hier vor anderen Aufgaben, aber Frau Lösekrug-Möller hat schon angedeutet, dass wir nicht vor leichteren. Bevölkerungsentwicklung von der hier schon einmal eine Rednerin der Linken erlebt ha- Zukunft her zu denken, ist deshalb eine sehr große und ben, die gesagt hat: Es gibt kein Gerechtigkeitsproblem anspruchsvolle Aufgabe. Welche Fragen stellen sich zwischen den Generationen, nicht einmal zwischen Arm dann, und welche möglichen Antworten gibt es? Was be- und Reich, sondern nur zwischen denen, die die Produk- deutet das für Gerechtigkeit heute, öffentliche Haushalte tionsmittel besitzen, und denen, die sie nicht besitzen. – und Steuerpolitik? Dazu darf ich den Kolleginnen und Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Ich Kollegen von den Linken sagen: Ihr Minderheitenvotum hoffe, dass Herr Lenkert diese Tradition heute nicht fort- ist ein bisschen zu schlank. Ich glaube, dass nicht funk- setzen wird. 5360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Michael Kauch (A) Wir sollten uns anschauen, was Generationengerech- jetzt acht Jahre alt und hat immer noch den gleichen (C) tigkeit bedeutet und was wir in den vergangenen Jahren Zeithorizont. Wir sollten bei der nächsten Überprüfung vielleicht falsch gemacht haben. Ich denke, die Finanz- der Nachhaltigkeitsstrategie, die in dieser Wahlperiode krise hat gezeigt: Wir haben mit unseren Staatsausgaben ansteht, nicht nur wieder um zehn Jahre nach vorn bli- über unsere Verhältnisse gelebt. Jetzt präsentieren wir cken, sondern bis 2030. Ich begrüße, dass der Staats- mit den Rettungspaketen, die wir schnüren müssen, den sekretärsausschuss im letzten Monat die Aussage getrof- kommenden Generationen die Rechnung. fen hat, dass der Zeithorizont verlängert werden soll. Ich hätte mir aber eine klarere Aussage gewünscht. Ich sage (Dr. [DIE LINKE]: Die Finanzmärkte deshalb sehr deutlich – ich denke, auch im Namen der dereguliert – das haben Sie gemacht!) Koalitionsfraktionen –, dass wir hier ein klares Vorgehen Das sollte uns nicht noch einmal passieren. Wir müs- erwarten, so wie es der Deutsche Bundestag heute be- sen jetzt die Haushalte in Ordnung bringen, sonst ist al- schließen wird, nämlich die Perspektive auf 2030 zu er- les Gerede von Nachhaltigkeit nur Sonntagsrede. weitern und in den Feldern, wo es sinnvoll ist – beim Klimaschutz und auch beim Energiekonzept –, auf 2050. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Mit von Ihnen Die Bundesländer sind angesprochen worden. Wir unterstützten Steuersenkungen!) haben ein völlig zersplittertes System von Nachhaltig- keitsstrategien. Manche Länder haben eine Nachhaltig- Deshalb müssen wir auch unsere Sozialsysteme für keitsstrategie, andere haben keine; die einen machen es die Veränderungen wetterfest machen, die angesichts ei- ernsthaft mit Indikatoren, bei den anderen hat man den ner schrumpfenden und alternden Bevölkerung auf uns Eindruck, das ist Greenwashing für die PR. Deshalb zukommen. Man kann sich nicht wie die Linken hinstel- müssen wir die Bundesländer endlich klarer in die natio- len und sagen: Wir wollen immer mehr, und alles soll so nale Nachhaltigkeitsstrategie – es ist nicht die bundes- bleiben, wie es ist. – Wir müssen uns vielmehr Gedan- politische Nachhaltigkeitsstrategie, es ist die nationale ken darüber machen, wie wir soziale Sicherheit auch Nachhaltigkeitsstrategie – integrieren, als das heute der noch für die Generationen schaffen, die mit mir oder Fall ist. nach mir in Rente gehen oder Pflege in Anspruch neh- men müssen. Auch dann müssen diese Systeme noch Die internationalen Experten haben an einigen Stellen funktionieren. gute Anregungen gegeben; an anderen Stellen wollen wir ihnen nicht folgen. Das finde ich richtig. Ich finde es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten richtig, dass wir ihnen nicht folgen, wenn es um die For- der CDU/CSU) derung geht, das Amt eines Nachhaltigkeitsbeauftragten Wir müssen uns auch bei Infrastrukturprojekten, für die der Bundesregierung einzuführen. Auf Beauftragte (B) (D) wir viel Geld ausgeben, überlegen: Ist auch in schiebt man häufig Dinge ab. Man kann einen Beauf- 100 Jahren noch Nachfrage für das da, was wir hier in tragten einsetzen, wenn es sich um ein enges Gebiet han- Stein meißeln, oder sind vielleicht flexiblere, neue Tech- delt, aber nicht, wenn es sich um eine Querschnittsauf- nologien beispielsweise bei der Abwasserentsorgung ein gabe handelt. Es ist richtig, dass an dieser Stelle das sinnvollerer Weg in der Investitionspolitik dieses Staa- Kanzleramt das federführende Ministerium ist. Das soll- tes? ten wir auch nicht ändern. Es ist eine Binsenweisheit, aber ich sage es hier noch Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die guten einmal deutlich als Mitglied des Umweltausschusses: Anregungen des Peer Reviews aufgreifen, wie wir es in Auch bei den natürlichen Ressourcen haben wir vom unserem Antrag getan haben, und erkennen wir Nach- Kapital statt von den Zinsen gelebt, und deshalb ist es haltigkeitspolitik als das, was es ist: eine Chance für die richtig, dass sich der Umweltausschuss federführend mit deutsche Wirtschaft, eine Verantwortung gegenüber dem Bericht des Nachhaltigkeitsbeirats beschäftigt hat. kommenden Generationen und eine Politik, die wir ge- Das zeigt aber, dass sich die Nachhaltigkeitspolitik auf- meinsam mit den Menschen machen müssen. Denn nicht grund der Verantwortung gegenüber kommenden Gene- nur durch Gesetze, sondern erst durch das Engagement rationen wie ein roter Faden durch alle Politikbereiche der Bürgergesellschaft wird Politik tatsächlich nachhal- ziehen muss. Die FDP hat dies im Koalitionsvertrag ver- tig. ankert und erreicht, dass zur Nachhaltigkeitsprüfung, die Vielen Dank. wir seit letztem Jahr im Bereich der Gesetzgebung ha- ben, im Laufe dieser Legislaturperiode eine Generatio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie nenbilanzierung hinzukommen muss; denn Transparenz bei Abgeordneten der SPD) ist der erste Schritt zur Umkehr. Wir müssen zunächst er- kennen, welches die langfristigen Wirkungen unserer Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gesetze sind, um sie dann verbessern zu können. Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Fraktion Die Linke. CSU]) (Beifall bei der LINKEN) Politik braucht Perspektive für Jahrzehnte und nicht für Legislaturperioden. Deshalb finde ich es richtig, dass Ralph Lenkert (DIE LINKE): der Nachhaltigkeitsbeirat sehr klar gesagt hat, die Nach- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und haltigkeitsstrategie sei in die Jahre gekommen. Sie ist Herren! Heute sprechen wir endlich über Nachhaltigkeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5361

Ralph Lenkert (A) Wir von der Linken tragen die Stellungnahme des Bei- Tankred Schipanski (CDU/CSU): (C) rats für nachhaltige Entwicklung zum Bericht zur Nach- Kollege Lenkert, ich wollte nur fragen, von welcher haltigkeitsstrategie teilweise mit, aber wir stellen fest, Studie Sie im Zusammenhang mit den Lehrbeauftragten dass die starke Ungleichheit von Arm und Reich zu sprechen. Im zuständigen Bildungsausschuss ist eine Spannungen in der Gesellschaft führt. Das ist eine Ge- derartige Studie nicht bekannt. Auch in unser beider fahr für die Demokratie. Heimatland, Thüringen, ist das nicht so. Ich komme von einer Universität. Was Sie da sagen, ist einfach nicht (Beifall bei der LINKEN) richtig. Das ist der Boden, auf dem religiöser und politischer Fa- natismus entstehen. Extreme Armut, aber auch Chancen- Ralph Lenkert (DIE LINKE): losigkeit, fehlende Bildung und Ungerechtigkeiten füh- Wenn Sie einmal rein zufällig die Statistiken gelesen ren über die Stationen „Resignation“ und „Frustration“ hätten zu Wut und Hass. Nachhaltige Politik muss dies stoppen. (Michael Kauch [FDP]: Welche? – Daniela Raab (Beifall bei der LINKEN) [CDU/CSU]: Welche? Die Quelle!) Einige Beispiele: Erstens zu den Universitäten. Bis – die Statistiken der Arbeitsämter –, dann hätten Sie fest- zum Jahr 2000 stellten neben Professoren festangestellte gestellt, dass wir in der Bundesrepublik mehrere Tau- Dozenten die Mehrzahl der Lehrkräfte an den Hochschu- send gut bezahlte Dozenten hatten. Jetzt sind es noch 94. len. Der Beruf war für die besten Studienabsolventen at- Wenn Sie einen Lehrbeauftragten suchen, dann gehen traktiv. Die Erfahrungen sagen: Mehr als vier bis fünf Sie in die Universitäten! Dort können Sie mit Leuten hochwertige Lehrveranstaltungen je Woche inklusive sprechen, die für 500 Euro diese Arbeit machen und auf- der notwendigen Vor- und Nachbereitungszeiten und der stocken gehen oder mehrere Jobs nebenbei machen. Im ausreichenden Betreuung der Studenten sind für Dozen- Wahlkampf sind manche zu mir gekommen und haben ten nicht machbar. gesagt, sie arbeiteten für 800 Euro 40 Stunden die Wo- che und wüssten nicht, wie sie ihre Familie über die Wegen der Regierungspolitik, auch Ihrer Regierungs- Runden bringen sollen. politik, müssen Hochschulen sparen. Deshalb beschäfti- gen sie jetzt statt Dozenten Lehrbeauftragte. Die Arbeit Herr Schipanski, Sie verschließen die Augen davor. ist die gleiche wie vorher, aber die Lehrbeauftragten Sie haben sicherlich die richtigen Fragen zum Bericht erhalten je wöchentlicher Lehrveranstaltung nur circa gestellt, aber mit Sicherheit haben Sie niemals nachge- 500 Euro pro Semester. Das macht bei vier bis fünf fragt, wie die Situation dort wirklich ist. Mit Sicherheit (B) Lehrveranstaltungen fette 2 000 bis 2 500 Euro in sechs haben Sie beim Bildungsstreik nicht die Schilderungen (D) Monaten. Das ist untragbar. der Situation aufgenommen. Wenn Sie auf die Internet- seite bildungsstreik.net gehen, werden Sie diese Be- (Beifall bei der LINKEN) schreibung finden. Wenn Sie sich erkundigen, werden Sie feststellen, dass Ihre Politik an dieser Stelle versagt Mit etwa 400 Euro im Monat müssen diese Ausbilder un- hat. Wenn Sie studiert haben, ist das schön, aber gelernt serer akademischen Zukunft entweder mittels Hartz IV haben Sie nicht genug. aufstocken, oder sie liegen ihren Verwandten und Part- nern auf der Tasche, und das ist beschämend für unser (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring Land. [FDP]: Man darf zu allem reden, auch nicht zur Sache! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der LINKEN) ist ja unverschämt! Herr Kollege, reden Sie mal zum Thema! Sie haben die falsche Rede Die meisten Lehrbeauftragten übernehmen diese Ar- gegriffen!) beit als Pausenfüller in ihrer beruflichen Entwicklung. Die Leidtragenden davon sind unsere Studenten als Zweitens zum Bahnverkehr. Für den Prestigebahnhof unsere Zukunft. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, er- „Stuttgart 21“ plant die Regierung in den Haushalten reichen wir garantiert keine nachhaltigen Studienbedin- mindestens 4,9 Milliarden Euro ein. Ich komme aus gungen an den Hochschulen. Was wir brauchen, sind Jena, dem gern gepriesenen technologischen Leuchtturm Mindeststandards in der Arbeitsgesetzgebung, geänderte Thüringens, der wohl 2017 vom Fernverkehr abgehängt Arbeitszeitgesetze und ein gesetzlicher Mindestlohn wird, weil die ICEs dann über die Neubaustrecke über auch an den Hochschulen. Erfurt fahren. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat das mit dem Peer Review zu tun?)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Bahn verspricht eine super Zugverbindung nach Er- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des furt, aber Schwarz-Gelb streicht die Mittel für den not- Kollegen Schipanski? wendigen Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung. (Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Stadt Gera, die auch zu meinem Wahlkreis ge- Gern. hört, kämpft mit wirtschaftlichen Problemen. Eine gute 5362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Ralph Lenkert (A) Verkehrsanbindung würde nachhaltig helfen. Leider ist mich, dass wir, nachdem wir den Parlamentarischen Bei- (C) Gera seit Jahren vom Fernverkehr abgehängt. Chemnitz, rat sehr schnell eingesetzt haben – ich bedanke mich Zwickau, Weimar, Eisenach – alle diese Städte liegen noch einmal für die Unterstützung dabei –, heute auch ebenfalls an der Mitte-Deutschland-Verbindung und einmal eine Debatte zu diesem Thema führen können. könnten sich nachhaltig entwickeln. Weil die Regierung Lassen Sie mich zum Thema kommen. Was bedeutet aber Milliarden für „Stuttgart 21“ verschleudert, ist für Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit heißt: Wir müssen im andere Bahnnetzinvestitionen kein Geld mehr da. Das ist Bundestag unsere Entscheidungen so treffen, dass wir eine für uns nicht nachvollziehbare nachhaltige Deindus- den künftigen Generationen nicht mehr Lasten aufbür- trialisierungspolitik. den als den heute lebenden. Wenn ich mir die Gesetzent- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der würfe anschaue, die wir in dieser bislang erst kurzen FDP: Das ist schlicht falsch! – Zuruf von der Legislaturperiode schon vorgelegt bekommen haben, CDU/CSU: Thema verfehlt!) insbesondere die bedeutenden und umfangreichen, dann muss ich leider feststellen, dass sie durch die Bank weg Ändern Sie die Haushaltsplanung zugunsten der Bahn- alles andere als nachhaltig sind. strecken in der Fläche. Das wäre nachhaltig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drittens ganz kurz zur Steuerpolitik. Hätten FDP und und bei der SPD sowie des Abg. Ralph CSU eine Nachhaltigkeitsprüfung gemacht, wäre ihnen Lenkert [DIE LINKE]) mit Sicherheit der Hotel-Mehrwertsteuer-Schwachsinn nicht passiert. Dabei sind die Bundesministerien bereits seit Sommer 2009 verpflichtet, Gesetzentwürfe auf ihre nachhaltige (Beifall bei der LINKEN – Entwicklung hin zu prüfen. Ich dachte, wir wären hier [SPD]: Ihre Rede wäre beim Nachhaltigkeits- schon einen deutlichen Schritt in Richtung nachhaltiges test auch nicht zugelassen worden!) Deutschland vorangekommen. Sie können sicher sein, dass wir die Arbeit des Beira- Die Nachhaltigkeitsziele wurden seinerzeit von Rot- tes engagiert und nachhaltig unterstützen. Grün eingeführt. Auch die jetzige Bundesregierung stellt (Daniela Raab [CDU/CSU]: Aber bitte nicht so! sie nicht infrage. Diese Ziele sind in Anbetracht der Darauf können wir gerne verzichten!) enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wie Klimawandel und Zunahme der Weltbevölkerung abso- Aus unserer Sicht sind in der Stellungnahme zum Be- lut unabdingbar. Daran kommen wir nicht vorbei. richt die entscheidenden Schwerpunkte bislang nicht ausreichend berücksichtigt. Deshalb werden wir uns ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) halten. und bei der SPD) (D) (Beifall bei der LINKEN – Auch die bislang Benachteiligten müssen endlich in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Lage versetzt werden, sich etwas vom Wohlstands- Afghanistan vergessen! – Manfred Grund kuchen zu nehmen. Doch dieser Kuchen kann nicht stän- [CDU/CSU]: Die Treuhand hätte man auch dig wachsen; schauen wir nach Indien und China. Viel- noch anführen können!) mehr müssen die Anteile am Kuchen stets kleiner werden. Wir in den Industriestaaten und gerade in Deutschland sind hingegen immer noch dabei, aus dem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kuchen die letzten Reste herauszupressen, also unsere Nun hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Frak- Schöpfung und damit unsere Lebensgrundlage langfris- tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. tig zu zerstören.

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schauen wir uns in diesem Peer Review einmal an, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wie die Experten, die von außen auf Deutschland ge- Ich will versuchen, wieder auf das Thema „Peer Re- schaut haben, unsere Nachhaltigkeitsstrategie bewerten. view“ zurückzukommen. Auf jeden Fall stellen sie fest – diese Kritik ist schon ge- kommen –, dass der Zeithorizont der Nachhaltigkeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, strategie zu kurz ist. Das sehen wir von den Grünen bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) genauso. Wir müssen bis 2030 und perspektivisch si- cherlich bis 2050 blicken; Herr Kauch hat es eben ge- Lassen Sie mich in den mir zur Verfügung stehenden sagt. Darüber besteht wohl im gesamten Beirat Konsens. vier Minuten aus der Sicht der Grünen darstellen, wo wir Vor allen Dingen muss – die gegenwärtige Situation noch einige Schwächen sehen. halte ich für eine absolute Katastrophe – die Zusammen- Herr Kollege Jung hat schon geschildert, wie der Parla- arbeit der Akteure, insbesondere zwischen Bund und mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung funktio- Ländern, deutlich besser werden. niert. Ich bin sehr froh, in diesem Gremium mitzuwirken. (Beifall im ganzen Hause) Wir arbeiten dort interfraktionell und konsensorientiert, um wirklich etwas zu bewegen; denn das Thema Nach- Ich wende mich zunächst einmal an die Länder. So- haltigkeit betrifft uns alle und orientiert sich nicht an weit ich informiert bin, haben die Länder die Erarbei- kurzzeitigem Legislaturperiodendenken, sondern muss tung einer gemeinsamen deutschen Nachhaltigkeitsstra- auf die Zukunft ausgerichtet sein. Insofern freue ich tegie für nicht notwendig erachtet. Man muss sich das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5363

Dr. Valerie Wilms (A) einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das führt zu dem beschäftigt hat. Der Peer Review, gleichsam ein Gutach- (C) Ergebnis, dass wir mit unterschiedlichen Zielvorgaben ten über die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, setzt ei- arbeiten. Wir hier im Bund haben 21 Indikatoren, nen, wie ich und auch meine Kolleginnen und Kollegen Schleswig-Holstein hat 35 Indikatoren. Das passt nicht finden, sehr einseitigen Schwerpunkt auf die Fragen, wie überein. So schaffen wir es wirklich nicht, die Strategie wir mit dem Klimawandel umgehen und was für uns auch noch bis auf die kommunale Ebene herunterzubre- Umweltschutz im täglichen Politikverständnis bedeutet. chen. Hier klaffen also große Lücken. Dabei verkennt dieses Gutachten, um es auf Deutsch zu formulieren, leider – ich bedaure das sehr und erhoffe Ein Beispiel ist die Flächenreduzierung. Hier müssen mir, dass sich das in der zukünftigen Entwicklung anders nun wirklich die Länder ran; aber es passiert nichts. Wir darstellen wird –, dass nachhaltige Politik nicht nur entziehen der Natur jeden Tag immer noch 104 Hektar; Klima- und Umweltschutz bedeutet, sondern sehr, sehr das Nachhaltigkeitsziel sind 30 Hektar pro Tag. Perspek- viel mehr. tivisch müssen wir bis auf 0 Hektar herunter, wenn wir wirklich etwas erreichen wollen. Nachhaltige Politik muss sich zum Beispiel auch, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Kauch richtigerweise angesprochen hat, mit der sowie bei Abgeordneten der SPD) Frage beschäftigen: Wie können wir uns umweltgerecht verhalten und generationengerecht in unserem politi- Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Punkte, die wir schen Tagesgeschäft denken? Diesbezüglich kann ich den nachfolgenden Generationen als Hypotheken auf- mich der Kritik vollumfänglich anschließen. Es muss bürden. Ich denke nur an das Thema Staatsschulden. Ge- uns gelingen, neben den vielen Umweltverbänden, die rade die Gesetzentwürfe zur Griechenland-Hilfe und für natürlich eine wichtige Rolle bei der Nachhaltigkeits- den Euro-Rettungsschirm hätten es verdient, einer Nach- strategie spielen, auch die Gewerkschaften, die Wirt- haltigkeitsprüfung unterzogen zu werden; diese konnten schaftsunternehmen, Familienunternehmen sowie die wir jedoch aus formalen Gründen bislang noch nicht Kirchen und die Sozialverbände auf unserem Weg hin zu durchführen. einer nachhaltigen Entwicklung mitzunehmen und von Ich habe nun in aller Kürze ein paar Problempunkte diesem zu überzeugen, sofern sie diesen nicht sowieso aufgezeigt. Ich möchte mich aber auf jeden Fall auch für schon eingeschlagen haben. Unsere Familienunterneh- die sehr intensive und gute Zusammenarbeit über die men, liebe Marie-Luise Dött, handeln und denken ei- Fraktionsgrenzen hinweg bedanken. Im Parlamentari- gentlich schon ziemlich nachhaltig. schen Beirat schaffen wir es wirklich, für eine nachhal- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tige Entwicklung zu agieren. Wir haben aber nur eine ge- neten der FDP) wisse Stärke, wenn wir zusammenarbeiten; wir sind (B) (D) nämlich kein Ausschuss, sondern nur ein Beirat. Wir Sie bilden aus, übernehmen im Optimalfall die Auszu- können nur dann etwas erreichen, wenn wir gemeinsam bildenden und sorgen damit dafür, dass auch diese für etwas in Gang setzen. Ich hoffe, Herr Lenkert, dass die ihre Familien da sein können und sich im Unternehmen Linken auch zukünftig immer mit dabei sein werden. so lange wie möglich fortbilden und weiterentwickeln können. Auch das ist nachhaltig. Hier besteht aber Vielen Dank. durchaus noch Entwicklungspotenzial. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch die Frage der Infrastruktur – das ist völlig rich- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tig, Frau Kollegin Wilms; auch das Verkehrsministerium CDU/CSU und der FDP und des Abg. Ralph ist hier vertreten – berührt Nachhaltigkeitsgesichts- Lenkert [DIE LINKE]) punkte und sollte nicht nur unter kurzfristigen Gesichts- punkten betrachtet werden. In diesem Bereich haben wir, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wie ich glaube, auch noch einiges aufzuholen. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Daniela Raab für die CDU/CSU-Fraktion. Ich meine deswegen: Lassen Sie uns dieses Thema so breit wie möglich angehen und manchmal unser politi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sches Tagesgeschäft wirklich hintanstellen, um visionär neten der FDP) zukünftige politische Forderungen gemeinsam zu entwi- ckeln. Ich glaube, wir müssen uns unter diesem Dach zu- Daniela Raab (CDU/CSU): sammenfinden. An der einen oder anderen Stelle werden Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wir zwar nach wie vor auseinanderdriften, weil wir un- Herren auf den Besuchertribünen! Liebe Kolleginnen terschiedliche Vorstellungen haben, was gut ist, weil das und Kollegen! Jawohl, der Peer Review ist eine gute Sa- Ausdruck des politischen Wettbewerbs ist; aber das ge- che. Wir haben ihn nicht nur mit großer Freude zur meinsame Ziel muss in der Tat die Schaffung von Gene- Kenntnis genommen, sondern gerade in unserem Beirat rationengerechtigkeit auf allen Politikfeldern sein. Wir auch durchaus verinnerlicht. Allerdings ist auch ein we- müssen uns den Problemen in den sozialen Sicherungs- nig Kritik zu üben. Diese ist an der einen oder anderen systemen ehrlich stellen, und wir müssen uns ehrlich der Stelle schon einmal angeklungen. Frage stellen, wie viel Schulden wir noch machen wol- len. Die Hauptkritik, die ich für meine Fraktion und auch für meine Arbeitsgruppe äußern möchte, betrifft einen Damit wir uns richtig verstehen: Das bereitet keinem Punkt, der heute schon den einen oder anderen Redner in diesem Raum Freude, weder der Regierung noch der 5364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Daniela Raab (A) Opposition. Das, was wir insbesondere in den letzten die die Geschäftsordnung derzeit umgestalten: Nehmt (C) zwei Jahren getan haben, mussten wir tun, und die Ent- den Beirat nicht nur ernst, sondern wertet ihn weiter auf. wicklung auf dem Arbeitsmarkt gibt uns diesbezüglich In dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wur- – das haben wir heute wieder gehört – recht. Auch das den ganz eindeutige Sätze dazu gefunden. Es wird Zeit, möchte ich an dieser Stelle unbedingt festhalten. dass wir sie in der Praxis umsetzen. Die Empfehlungen des Peer Review, die wir teilen, Vielen Dank. sind schon genannt worden. Die Stärkung des Kanzler- amtes möchte ich hier doppelt und dreifach unterstrei- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der chen. Auch wir Mitglieder der Unionsfraktion wünschen FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- uns, dass wir im Organisationsplan des Kanzleramtes SES 90/DIE GRÜNEN) nicht nur irgendwo das Wort „Nachhaltigkeit“ finden, sondern dies auch mit personellen Ressourcen unterlegt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wird. Ich schließe die Aussprache. (Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Das wäre sehr schön. Dafür werden wir natürlich weiter- zu der Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats für hin arbeiten. nachhaltige Entwicklung zu dem Peer Review der deut- schen Nachhaltigkeitspolitik. Das betrifft die Drucksa- Liebe Frau Wilms, Sie haben mir aus der Seele ge- chen 17/1657 und 17/2314. Der Ausschuss empfiehlt, in sprochen. Es wäre wirklich schön, wenn die Nachhaltig- Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh- keitsprüfung in den Ministerien auch einmal stattfinden men. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer würde. ist dagegen? – Enthaltung? – Die Beschlussempfehlung (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom- Es wäre schön, wenn nicht nur die gerne verwendeten men. Textbausteine „Wir haben die Nachhaltigkeit geprüft; es ist alles in Ordnung“ oder „Keine Auswirkungen auf die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Nachhaltigkeitspolitik“ genutzt würden, sondern man Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip sich wirklich einmal die Mühe machen würde, sich zu Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer (B) überlegen – das macht man bei anderen Punkten ja auch –, Abgeordneter und der Fraktion der SPD (D) ob der Gesetzentwurf vielleicht doch nicht so ganz nach- haltig ist. Vielleicht ist er zu Recht nicht nachhaltig, weil Für eine soziale Revision der Entsenderichtli- es sich um ein drängendes Problem handelt; das kann ja nie sein. Aber wenn er nachhaltig ist, meine lieben Freunde, – Drucksache 17/1770 – dann sagt es uns. Es ist doch ein Qualitätsbeweis, wenn ich unter einen Gesetzentwurf schreiben kann: Er ist aus Überweisungsvorschlag: folgenden Gründen nachhaltig: erstens, zweitens, drit- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss tens. – Es geht also nicht nur um die formelle Kabinetts- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie reife, die ich mit einer solchen Prüfung erreichen Ausschuss für Bildung, Forschung und möchte, sondern es geht auch um die materielle Ausfül- Technikfolgenabschätzung lung des Begriffs „Nachhaltigkeit“ in der täglichen Ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union setzgebung. Auch das wünschen wir uns aus vollem Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Herzen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so ver- bei Abgeordneten der SPD und des fahren. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache. Wenn die Kolleginnen Wenn wir allein die Möglichkeiten nutzen, die uns und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre zum Teil schon gegeben sind, dann können wir – da bin Gespräche vor dem Saal führen, können wir uns auf den ich ganz beim Kollegen Kauch – sehr gut auf einen Ak- Redner konzentrieren. – Als erster Redner hat das Wort tionsplan Nachhaltigkeit und einen Beauftragten für der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. Nachhaltigkeit verzichten. Mir ist es schon wichtig, dass (Beifall bei der SPD) wir das Thema nicht auslagern, sondern wir uns als Par- lament selber ernst nehmen und sagen: Hierher gehört die Debatte. Das Thema gehört nicht zu einer Einzelper- Josip Juratovic (SPD): son, die von der jeweiligen Regierung benannt wird, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- sondern wir wollen das selber machen, weil das unserem nen und Kollegen! Die Wirtschaftskrise hat gezeigt: Wir parlamentarischen Selbstverständnis entspricht. Wir müssen der sozialen Dimension Europas endlich eine können das. – Ich glaube, dieser Beirat beweist das. Des- Gestalt geben. Darüber sind wir uns einig, zumindest in halb ist mein letzter Wunsch an die Damen und Herren, Sonntagsreden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5365

Josip Juratovic (A) Ein soziales Europa ist nur mit einer Revision der Von der Uminterpretation der Richtlinie sind alle Län- (C) Entsenderichtlinie möglich. Mit der Entsenderichtlinie der betroffen. Die reicheren Länder werden durch die är- sollte ursprünglich Lohndumping verhindert werden. Je- meren Länder zu Niedriglöhnen gedrängt. Die Men- doch wurde die Richtlinie in den vergangenen Jahren schen aus ärmeren Ländern werden zu unanständigen vom EuGH anders interpretiert. Was einst Fairness zum Arbeitsbedingungen eingesetzt, was zu Wettbewerbsver- Ziel hatte, verhindert heute Fairness auf dem Arbeits- zerrungen führt. Damit werden die Arbeitnehmer aus markt. Wir fordern eine Revision der Richtlinie, um das verschiedenen Ländern gegeneinander ausgespielt. Sie ursprüngliche Ziel, den fairen Wettbewerb ohne Lohn- stehen in einem Unterbietungswettbewerb. Diesen unso- dumping, klarzustellen. zialen Wettbewerb müssen wir verhindern. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Mit dieser Forderung stehen wir in einer langen Tra- GRÜNEN) dition. Schon 1919, als die Internationale Arbeitsorgani- sation ins Leben gerufen wurde, war den Gründungs- Alle reden immer von einem fairen Wettbewerb; doch staaten klar: Wir müssen Sozialdumping verhindern, wir haben keinen fairen Wettbewerb, sondern pures indem wir Mindestarbeitsbedingungen festlegen. Keine Lohndumping. Volkswirtschaft soll einen Vorteil durch Unterbietung er- langen. Daran arbeitet die ILO bis heute, und daran müs- Wie Sie wissen, gilt ab 2011 die Arbeitnehmerfreizü- sen auch wir arbeiten: weg vom Lohndumping, hin zum gigkeit für mindestens acht weitere EU-Mitgliedstaaten. fairen Wettbewerb. Wir müssen vorher klären, welche Arbeitsbedingungen und Tariflöhne von den ausländischen Unternehmen hier (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte in Deutschland beachtet werden müssen. Denn Lohn- Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dumping schadet uns allen. Vor allem schwächen wir un- sere Unternehmer, die ihren Mitarbeitern faire Arbeitsbe- Fairer Wettbewerb war auch der Grundgedanke, als dingungen bieten. Sie können bei diesem Lohndumping die Entsenderichtlinie geschaffen wurde. In einem Mit- nicht mithalten und sind dadurch gefährdet. gliedstaat sollen keine Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum tätig sein, für die ein anderes Recht gilt. Die Mit Niedriglöhnen schwächen wir auch unsere Ar- Arbeitnehmer, die in ein anderes Land gehen, sollen die beitnehmer. Die Arbeitnehmer in Deutschland verlieren gleichen Rechte haben wie die dortigen Arbeitnehmer. entweder ihren Job, weil es billigere Arbeitskräfte aus Dazu gehören unter anderem Regelungen zu Höchstar- anderen Staaten gibt, oder sie verdienen Hungerlöhne, beitszeiten, Mindesturlaub, Mindestlöhnen, Sicherheit um mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu kön- (B) und Gesundheit am Arbeitsplatz. nen. (D) Die Entsenderichtlinie wurde aber nicht immer so ge- Kolleginnen und Kollegen, wir müssen gegen diese handhabt, wie sie geplant war. In mehreren Entschei- Klassengesellschaft unter den Arbeitnehmern vorgehen. dungen meinte der Europäische Gerichtshof, dass von Eine Klasse kommt in den Genuss von fairen Arbeitsbedin- ausländischen Unternehmen nur bestimmte Mindest- gungen, steht aber vor der Gefahr, ihre Jobs zu verlieren. standards gefordert werden dürfen. Höhere Standards, Die andere Klasse arbeitet unter niedrigeren Standards und zum Beispiel Tarifverträge, müssen laut dem EuGH von lebt deswegen am Rande des Existenzminimums. Eine ausländischen Arbeitnehmern nicht eingehalten werden – solche Klassengesellschaft ist zutiefst unsozial und unge- so die Rechtsprechung im Rüffert-Urteil; Gegner war recht, das Land Niedersachsen. Demnach dürfen in Deutsch- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem land keine öffentlichen Aufträge mehr vergeben werden, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die eine Tariftreueklausel beinhalten. Die Bindung an Tarifverträge darf laut EuGH kein Kriterium für die Auf- und sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. tragsvergabe sein. Unser Grundprinzip muss lauten: Gleicher Lohn und Die Entsenderichtlinie wurde damit ins Gegenteil ver- gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am glei- kehrt. chen Ort. Das ist keine Gleichmacherei, sondern ein Grundprinzip von Fairness auf dem Arbeitsmarkt. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen nicht, dass Arbeitnehmer in ein anderes EU-Land der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE entsandt werden und dort zu schlechteren Bedingungen GRÜNEN) arbeiten müssen als die Arbeitnehmer im Gastland. Für Politisch war gewollt, dass wir Lohndumping verhin- entsandte Arbeitnehmer müssen die gleichen Bedingun- dern. Wenn ausländische Unternehmer nicht an unsere gen gelten. Tarifverträge gebunden sind, wird aber mit genau dieser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Richtlinie Lohndumping legitimiert. Zudem werden die DIE GRÜNEN) Arbeitsbedingungen mit Arbeit am Wochenende und Nachtarbeit schlechter, und das häufig ohne wirksame Öffentliche Auftraggeber müssen das Recht haben, Kontrolle des Arbeitsschutzes. Dies macht mehr als ihre Aufträge so zu vergeben, dass die Unternehmen Ta- deutlich: Wir müssen die Entsenderichtlinie revidieren rifverträge einhalten müssen. Es kann nicht sein, dass und zurück zu den ursprünglichen Zielen kommen. wir in Deutschland Tarifverträge abschließen, die dann 5366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Josip Juratovic (A) ein Unternehmen aus dem Ausland einfach aushebeln ein Streik keine der vier Grundfreiheiten der EU – Waren- (C) kann. verkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrs- freiheit sowie Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs Im Übrigen wollen öffentliche Auftraggeber, darunter – einschränken darf. viele Bundesländer, ihre Aufträge zu fairen Bedingun- gen vergeben. Das zeigt das Beispiel Niedersachsen, und Es wird oft behauptet, der EuGH habe mit seinen Ent- das zeigt sich dadurch, dass viele Länder unseren hier scheidungen im Fall Viking und in den ähnlich gelagerten eingebrachten Antrag unterstützen. Fällen Laval und Rüffert den wirtschaftlichen Freiheits- rechten des EG-Vertrags, besonders der Niederlassungs- Mit der geforderten sozialen Revision der Entsende- freiheit und der Dienstleistungsfreiheit, Priorität gegen- richtlinie arbeiten wir auch an unserem Ziel eines sozia- über der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit eingeräumt. len Europas. Wir haben vier Dimensionen in Europa: den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen, die ge- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!) meinsame Währung und die soziale Dimension Europas. Die ersten drei Dimensionen haben wir bereits erfolg- Hier reihen sich mit ihrer Antragsbegründung die Kolle- reich umgesetzt. Nun geht es darum, aus der wirtschaftli- gen der SPD ein. Sie nehmen dabei besonders auf das chen Einheit auch ein soziales Europa zu entwickeln. gewerkschaftliche Streikrecht und auf die Tarifautono- mie Bezug. Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den Euro oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet auch, Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lieber dass faire Arbeitsbedingungen für alle Menschen in un- Kollege Juratovic, mit Ihrem Antrag setzen Sie sich un- serer Union geschaffen werden. Dahin muss unser Weg ter anderem dafür ein, dass in allen Rechtsvorschriften führen. Dafür tragen wir Verantwortung. auf europäischer Ebene, die Fragen der Entsendung be- rühren, das Grundrecht auf Tarifverhandlungen und kol- (Beifall bei der SPD) lektive Maßnahmen verankert wird. Ihre Forderungen Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, setzen betreffen größtenteils übergreifende europäische Sach- Sie sich nicht nur in Sonntagsreden für einen fairen verhalte, auf die die Bundesregierung nur geringen Ein- Wettbewerb ein! Lassen Sie uns gemeinsam die Bundes- fluss hat. regierung dazu bewegen, mit unseren EU-Partnern eine (Widerspruch der Abg. Brigitte Pothmer Revision der Entsenderichtlinie in Angriff zu nehmen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und damit einen weiteren Schritt in Richtung eines sozial gerechten Europas zu gehen. – Sie können nachher noch reden, Frau Pothmer. Stellen Sie eine Frage, dann schauen wir mal. (B) Ich freue mich auf die weitere Beratung und danke für (D) Ihre Aufmerksamkeit. Zur Frage, ob die Entsenderichtlinie als Konsequenz der Urteile des EuGH revidiert werden muss, gab es am (Beifall bei der SPD) 2. Juni dieses Jahres eine Anhörung des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Euro- Vizepräsidentin : päischen Parlaments. Die Europäische Kommission hat Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die in diesem Zusammenhang angekündigt, zu prüfen, ob Unionsfraktion. überhaupt ein Bedarf für eine Revision der Entsende- richtlinie besteht, und frühestens 2011 einen entspre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chenden Vorschlag vorzulegen. Mit Ihrem Antrag, liebe neten der FDP) Kolleginnen und Kollegen von der SPD, greifen Sie die- sen Prüfungsergebnissen vor. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs drücken Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! die Spannung zwischen ökonomischen Sachzwängen ei- Liebe Kollegen! Im Jahr 2004 setzte der lettische Bauun- nerseits und dem notwendigen Arbeitnehmerschutz an- ternehmer Laval Arbeitskräfte aus seinem Heimatland dererseits aus. Hier muss sine ira et studio eine Lösung auf einer Baustelle in Schweden ein. Die Entlohnung er- gefunden werden. Anders als die SPD bin ich aber der folgte gemäß den lettischen Tarifverträgen. Schwedische Auffassung, dass diese Urteile eine Revision der Entsen- Baugewerkschaften fassten dies als Lohndumping auf derichtlinie nicht notwendigerweise erzwingen. und versuchten, den Bauunternehmer dazu zu bewegen, die eingesetzten Beschäftigten gemäß den schwedischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tarifvereinbarungen zu entlohnen. Zur Durchsetzung ih- rer Forderungen blockierten sie die Baustelle in Schwe- Der EuGH hat in seinen Entscheidungen betont, dass den. die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach dem EG-Vertrag als fundamentale wirtschaftliche Frei- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Klasse, die heitsrechte garantiert werden. Ihnen kommt aber nicht Schweden! Bravo!) nur eine Wirkung als Abwehrrecht bei staatlichen Ein- griffen zu, sondern auch eine direkte Wirkung gegenüber – Ja, das hätten auch die Linken machen können. den Behinderungen der Freiheitsrechte durch private Der Europäische Gerichtshof erkannte in seinem Ur- Dritte. Zu diesen zählen auch die Gewerkschaften. Der teil vom 18. Dezember 2007 das Grundrecht auf Streik EuGH hat damit zum ersten Mal anerkannt, dass das zwar ausdrücklich an, er vertrat aber die Auffassung, dass Streikrecht als soziales Grundrecht im Sinne des Ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5367

Paul Lehrieder (A) meinschaftsrechts anzusehen sei. Im Urteil Laval greift muss auf alle Branchen erweitert werden. Die Erklärung (C) er den Begriff des Sozialdumpings auf und sieht im der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen muss Streikrecht zum Schutz der Arbeitnehmer gegen So- erleichtert werden. Ein flächendeckender Mindestlohn zialdumping ein zwingendes Allgemeininteresse. muss eingeführt werden. Abschließend möchte ich noch auf ein interessantes (Beifall bei der LINKEN) Detail aufmerksam machen, das die SPD im letzten Ab- satz ihrer Antragsbegründung versteckt hat. Sie hält Damit wären die größten Löcher gestopft. demnach nicht mehr kompromisslos an ihrer ursprüngli- Wir wollen aber noch mehr als nur Löcher stopfen. chen Forderung nach einem flächendeckenden gesetzli- Bereits im Februar 2006 fanden in Berlin und Straßburg chen Mindestlohn fest, sondern scheint endlich dem stets zwei große Demonstrationen statt, und zwar unter Eis von der Union bevorzugten Weg der tarifvertraglichen und Schnee; das war eine schweinekalte Angelegenheit. Mindestlöhne Positives abgewinnen zu können. Danke Das Ergebnis war: Die Dienstleistungsrichtlinie wurde schön! Aber das nur am Rande. anschließend mit Änderungen eingeführt. Unsere ehemaligen sozialdemokratischen Mitkoalitio- Die Dienstleistungsrichtlinie regelt, dass Unterneh- näre werden sich noch daran erinnern können, dass die men in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union Große Koalition in der letzten Wahlperiode gerade die Dienstleistungen anbieten können. Viele Menschen sor- Entsenderichtlinie zum Anlass genommen hat, das gen sich seitdem, dass Beschäftigte, die nun europaweit Arbeitnehmer-Entsendegesetz auszuweiten. Insgesamt arbeiten können, europaweit um die billigsten Löhne wurden mit Gebäudereinigern, Briefdienstleistern, der konkurrieren müssen. Um das zu verhindern, gibt es die Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistern, der Abfallwirt- europäische Entsenderichtlinie. Sie regelt, dass Beschäf- schaft, Aus- und Weiterbildungsdienstleistern nach dem tigte, die mit ihren Unternehmen innerhalb der EU arbei- SGB II oder SGB III, Wäschereidienstleistern und auch ten, nicht schutzlos sind. Sie enthält Mindestarbeitsbe- Bergbauspezialarbeitern acht Branchen neu in den Gel- dingungen; dabei geht immer mehr als das Minimum. tungsbereich des Gesetzes aufgenommen. Die Zahl der Vor Ort gelten dann für inländische und entsendete Ar- Arbeitnehmer, die durch Mindestlöhne nach dem Arbeit- beitnehmer die gleichen Bedingungen. Ziel der Entsen- nehmer-Entsendegesetz geschützt werden können, war derichtlinie ist es also, Lohndumping und Lohnkonkur- damit von 700 000 auf 3 Millionen gestiegen. renz zu vermeiden sowie einheitliche Rechtsstandards an Daneben sind durch die Modernisierung des Mindest- einem Arbeitsort zu sichern. Das ist an sich eine gute arbeitsbedingungengesetzes, des MiArbG, Mindest- Idee. löhne auch in solchen Bereichen ermöglicht worden, in Dieser Plan wurde jedoch ohne den Europäischen Ge- (B) denen die Tarifbindung gering ist und das Arbeitnehmer- richtshof gemacht. Er hat mit seinem Urteil die Minimal- (D) Entsendegesetz nicht angewandt werden kann. Wir ha- standards in Maximalstandards verwandelt. Mehr als ben damit eine gute Voraussetzung für die Einführung das, was in der Richtlinie steht, geht demnach nicht. der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit ge- Plötzlich wurde das Streikrecht vor Ort eingeschränkt. schaffen, die ab dem Jahr 2011 gelten wird. Aus diesem Geltende Tarifverträge wurden als Wettbewerbshemmnis Grund ist eine Revision der Entsenderichtlinie zum jetzi- erachtet und für ungültig erklärt. Wirtschaftliche Frei- gen Zeitpunkt nicht notwendig. Ich denke deshalb, wir heitsrechte – Herr Lehrieder hat sie erwähnt – gehen da- sollten hier zunächst abwarten, zu welchem Ergebnis die mit auch in diesem Land vor Freiheitsrechte der Men- EU-Kommission bei der Überprüfung der Richtlinie schen. Das ist skandalös und verkehrt das Anliegen der kommt. Aufgrund des ausdrücklichen Wunsches meines Richtlinie in das Gegenteil. Nachredners, des Kollegen Wadephul, möchte ich ihm die verbleibende Minute hiermit schenken. Schon einmal wurde versucht, die Arbeitnehmer- rechte in Europa auszuhebeln. Nach dem ersten Entwurf Danke schön. der Dienstleistungsrichtlinie sollte der Firmensitz da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rüber entscheiden, welche Arbeits- und Tarifstandards gelten. Ein Chaos von 27 parallel geltenden Arbeitsrech- Vizepräsidentin Petra Pau: ten drohte. Die Firmen hätten sich durch eine Verlage- Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die rung ihres Firmensitzes die für sie günstigsten Bedin- Fraktion Die Linke. gungen heraussuchen können. Das wurde zum Glück verhindert. (Beifall bei der LINKEN) Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes kom- men diese Zustände nun durch die Hintertür zurück. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Deswegen muss ein absoluter Riegel vorgeschoben wer- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! den. Es muss dafür gesorgt werden, dass auf soziale Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Mai 2011 Standards geachtet wird, auch auf europäischer Ebene. kommt die absolute Arbeitnehmerfreizügigkeit in Eu- ropa: Die Übergangsregelungen für die Entsendung von Ich wiederhole: Wir brauchen in diesem Bereich Arbeitnehmern aus den neuen Beitrittsländern, die bis- Nachbesserungen; an dieser Stelle muss sich etwas än- her keinen freien Zugang hatten, laufen dann aus. Die dern. Es muss einen Mindestlohn geben. Tarifstandards europäische Entsenderichtlinie muss daher sozial gestal- müssen eingehalten und ihre Durchsetzung erleichtert tet werden. Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz werden. Im Grunde muss die Richtlinie über die Entsen- 5368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Jutta Krellmann (A) dung von Arbeitnehmern auf alle Bereiche ausgeweitet EU-weit geltenden sozialen Mindeststandards einen har- (C) werden. ten Kern an Sozialschutzbestimmungen des Ziellandes für entsandte Arbeitnehmer vorschreibt und diesen zu- Vielen Dank. sätzlichen Schutz auch gewährleistet. Es ist also eine (Beifall bei der LINKEN) Richtlinie im Interesse der entsandten Arbeitnehmer und nicht im Interesse der Arbeitnehmer im Zielland. Man Vizepräsidentin Petra Pau: muss sich deutlich vor Augen führen: Das ist der Hinter- grund der Entsenderichtlinie, Herr Juratovic, Sie schüt- Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die teln so sinnend den Kopf. Vor diesem Hintergrund ist es FDP-Fraktion. schlicht falsch, zu behaupten, dass das soziale Europa (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) unter die Räder der wirtschaftlichen Grundfreiheiten ge- raten sei. Das ist ausdrücklich nicht der Fall. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Entsenderichtlinie darf nicht dazu missbraucht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! werden, unter dem Deckmantel des Schutzes sozialer Der europäische Binnenmarkt ist für den Wohlstand und Rechte protektionistische Maßnahmen zu treffen, den wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedstaaten der EU von wesentlicher Bedeutung. Gerade weil wir uns viel- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Schützen Sie leicht schon daran gewöhnt haben, ist der Hinweis wich- die Menschen und nicht die Waren, die Unter- tig, dass offene, europaweit freie Märkte für Waren und nehmen!) Dienstleistungen die besten Voraussetzungen für Wachs- um die Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit ein- tum und Beschäftigung in jedem der Mitgliedsländer der zuschränken – das will ich für meine Fraktion sehr deut- Europäischen Union sind. lich sagen –, Die Europäische Union hat einen erheblichen Beitrag (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der zum europaweiten Wohlstand, zur Schaffung von Ar- CDU/CSU) beitsplätzen und zum sozialen Fortschritt geleistet. Ich will hier einmal einige Daten nennen: Nach Berechnun- weil dadurch die genannten enormen Vorteile des euro- gen der EU-Kommission wäre der Wohlstand der EU, ge- päischen Binnenmarktes gefährdet wären. Ein europäi- messen am Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2006 um scher Binnenmarkt ist aber erforderlich, um auf den 2,2 Prozent niedriger gewesen, wenn es den europäischen Weltmärkten gegenüber Wettbewerbern mit großen Hei- Binnenmarkt nicht gegeben hätte. Die Beschäftigung matmärkten erfolgreich konkurrieren zu können. wäre im Jahr 2006 um 1,4 Prozent – das sind über die ge- (B) samte EU gerechnet 2,75 Millionen Arbeitsplätze – nied- Sozialer Fortschritt realisiert sich nur durch wirt- (D) riger ausgefallen. schaftlichen Fortschritt. Das verkennt der Antrag der SPD, Herr Juratovic. Ihr Antrag ist von Protektionismus (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hat nichts geprägt. Er stellt die soziale Freiheit – deswegen habe mit der Entsenderichtlinie zu tun!) ich den Gedanken bewusst entwickelt – schlichtweg auf den Kopf. Er schränkt in gewisser Weise auch die Chan- – Ja, das ist das Problem, Herr Kollege. Sie sagen: Das cengerechtigkeit ein. hat nichts damit zu tun. Aus meiner Sicht hat das schon etwas damit zu tun. Gerade in den neuen mittel- und ost- Zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes hat europäischen Mitgliedstaaten ist das Pro-Kopf-Einkom- der Kollege Lehrieder schon einiges gesagt. Ich finde, men in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen, um Viking, Laval, Rüffert und Luxembourg machen eines fast ein Drittel auf 52 Prozent des Durchschnitts der al- klar: Die Richtlinie soll das Arbeitsrecht in den Mit- ten Mitgliedstaaten. Die Löhne in den neuen Mitglied- gliedstaaten nicht harmonisieren, sondern koordinieren. staaten sind zwischen 2000 und 2008 erheblich gestie- Das ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Unterschied. gen. In mehreren neuen Mitgliedstaaten legten die realen Ich möchte deutlich sagen, dass die Urteile viel Freiraum Bruttolöhne um mehr als 100 Prozent zu. für die Lohnfindung in den Mitgliedstaaten zulassen. Die Urteile sind, wie ich finde, ein effektives Instrument, Warum sage ich das? Ich sage das, weil wir bei allem, um Sozialdumping zu verhindern. Sie bauen auf dem was wir tun und bei den durchaus nachvollziehbaren Prinzip auf, dass die Rahmengestaltung der Arbeitsbe- Schutzinteressen, die hier vorgetragen werden, am Ende dingungen für entsandte Arbeitnehmer vorrangig durch nicht gefährden dürfen, dass der von uns gewollte, sinn- Gesetze und Tarifabschlüsse des Gastlandes bestimmt volle Austausch von Gütern und Dienstleistungen über wird und dass die Arbeitnehmer von diesen Rahmenbe- Gebühr behindert wird. dingungen profitieren können, ohne sie selbst aushan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deln zu müssen. Deswegen hat der Europäische Gerichtshof die in der Zu den einzelnen Punkten in Ihrem Antrag will ich EU garantierten Grundfreiheiten gestärkt. Er hat deutlich Folgendes sagen: Eine europäische Regelung zur Tarif- gemacht, dass in einem Katalog von rund 70 Richtlinien autonomie ist unserer Auffassung nach vor dem Hinter- und zahlreichen Verordnungen ein Mindeststandard in grund des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht notwen- Europa festgelegt ist, der ohnehin in jedem einzelnen dig. Es ist auch nicht die Aufgabe europäischer Mitgliedsland gewährleistet wird. Er hat zusätzlich klar- Rechtsetzung, über Mindeststandards hinaus Sozialpoli- gestellt, dass die Entsenderichtlinie zusätzlich zu den tik zu betreiben. Der Grund für Beschränkungen auf ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5369

Dr. Heinrich L. Kolb (A) wisse Faktoren in den Richtlinien ist – darauf haben Sie rinnen und Arbeitnehmern nicht durch die Dienstleis- (C) eben selbst hingewiesen –, dass das Entsendeverhältnis tungsfreiheit eingeschränkt werden kann. temporärer Natur ist. Die Arbeitnehmer, die zu uns kom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men, sind nicht Teil des hiesigen Arbeitsmarktes. Sie ha- und bei der SPD) ben sich unserem Arbeitsmarkt auch nicht verpflichtet. Eine zeitliche Begrenzung sehe ich nicht als hilfreich an. Sie würde zu einem ständigen Wechsel der Arbeitneh- Vizepräsidentin Petra Pau: merschaft führen. Und eine Änderung der Ausschrei- Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage bungskriterien – das ist ja auch ein Punkt Ihres Antrags – des Kollegen Kolb? widerspricht ausdrücklich der Idee des offenen Binnen- marktes. Das ist, wenn ich es richtig sehe, bei den Urtei- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf Rüffert Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage des Kollegen und Luxembourg genauso gesehen worden. Kolb. Die Idee, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle (Zurufe bei der CDU/CSU: Oh!) Branchen auszuweiten, wird von uns abgelehnt. Da rate Ich möchte mit meiner Rede fortfahren. – Das betrifft ich wirklich zur Vorsicht. Schon in der Vergangenheit sowohl die Löhne, die Arbeitszeiten, die Urlaubsansprü- wurde das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch in Bran- che und auch andere soziale Standards. Zukünftig müs- chen, in denen es keine klassische Entsendeproblematik sen die Standards gelten, die in dem Land, in dem die gab, ich will es mal so sagen, „missbraucht“. Wie das im Dienstleistung angeboten wird, gesetzlich oder tariflich Mai 2011 werden wird, das sollten wir uns einmal in vereinbart worden sind. Ruhe ansehen. Ich glaube, dass da im Moment – mit Hinweis auf die Freizügigkeit, die sich dann ergibt – Genau das gilt jetzt nach dem Urteil des Europäischen sehr viel Panik gemacht wird. Ich bin zurückhaltend und Gerichtshofs in Sachen Laval und Rüffert eben nicht rate auch allen anderen zur Vorsicht. Gerade die Anhö- mehr. Nach diesem Urteil werden entsandte Beschäftigte rung vier verschiedener Verbände und auch der Bundes- tatsächlich zu so etwas wie Sendboten des Lohndum- agentur am Montag – das will ich auf die Frage des Kol- pings. Das ist für die Betroffenen, aber auch für die Be- legen Vogel noch einmal sehr deutlich sagen – hat schäftigten hier ein Zustand, den wir nicht hinnehmen gezeigt, dass man nichts Genaues weiß. Es gibt auch viel können. Es ist aber auch ein Rückschlag für das soziale Überlieferung von einem zum anderen, und am Ende Europa. machen die sich gegenseitig verrückt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (B) Also gehen wir das ruhig, sachlich und mit der gebo- (D) tenen Vorsicht an. Dann wird es auch eine vernünftige Herr Kolb, wir werden eine Akzeptanz der europäi- Regelung geben. Eine Überarbeitung der Entsendericht- schen Verständigung in viel stärkerem Umfang brau- linie ist aus unserer Sicht jedenfalls nicht erforderlich. chen, als das bisher der Fall ist. Und wenn wir keine Ak- Deswegen stehen wir dem Antrag des Kollegen zeptanz für Europa schaffen, dann wird es uns auch nicht Juratovic, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, gelingen, in der Wirtschafts- und der Finanzpolitik – da, kritisch und ablehnend gegenüber. wo wir es dringend brauchen – Regelungen zu treffen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – und bei der SPD – Abg. Dr. Heinrich L. Kolb Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist sehr [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) schade!) – Herr Kolb, versuchen Sie es nicht noch einmal. Ich finde, dass Sie Ihre Redezeit hatten. Ich muss Ihnen ein- Vizepräsidentin Petra Pau: mal sagen: Ich finde, es reicht auch einfach. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn mit Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ihnen passiert?) Es ist die Aufgabe der Politik, genau hier auf soziale Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rahmen zu setzen. Es muss vollkommen und unmissver- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ständlich geklärt werden, dass Mindestanforderungen grüne Position ist ganz klar und ganz eindeutig: Das eben keine maximalen Normen darstellen, wie es derzeit Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen nach diesem Gerichtsurteil der Fall ist. Ort“ muss innerhalb der gesamten EU durchgesetzt wer- den. Dieses Prinzip muss einen höheren Stellenwert ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben als die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlas- Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat doch nun wirk- sungsfreiheit. lich – das müsste eigentlich auch bei Ihnen angekommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sein – endgültig geklärt, dass die Freiheit des Marktes bei der SPD und der LINKEN) nicht über alles gestellt werden darf. Daraus müssen wir Lehren ziehen. Der europäische Wettbewerb muss ein Deswegen muss die Entsenderichtlinie überarbeitet wer- Wettbewerb um die Qualität der Dienstleistung sein und den, und zwar so, dass sie zugunsten von Arbeitnehme- nicht ein Wettbewerb um Schmutzlöhne. Genau dafür 5370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Brigitte Pothmer (A) braucht man für diesen Wettbewerb einen Rahmen. Der Das ist auch eine Chance auf eine Verlängerung der Re- (C) Rahmen muss so gesetzt sein, dass die Mitgliedstaaten dezeit. Sie waren heute nämlich ein bisschen knapp. auch die Möglichkeit haben, über die Mindeststandards hinauszugehen. Diese Standards müssen sowohl für ein- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heimische als auch für entsandte Beschäftigte einheitlich NEN]: Aber ich kann mich auch kurzfassen, gelten. Herr Kolb!) Seit dem Urteil des EuGH ist in der Sache allerdings Meine Zwischenfrage hätte Ihnen also die Chance gebo- ganz wenig passiert; auch das muss man an dieser Stelle ten, noch etwas mehr zu diesem Thema zu sagen. einmal sagen. Das Europäische Parlament hat die Kom- Was ich Sie gefragt hätte und worauf ich Sie jetzt hin- mission bereits 2008 aufgefordert, tätig zu werden. Aber weisen möchte, ist Folgendes: Es muss in den letzten handfeste Ergebnisse haben wir nicht vorzuweisen. Jahren irgendein entscheidendes Ereignis gegeben ha- Sie, Herr Lehrieder, haben vorhin gesagt: Was kann ben. Denn wenn ich es richtig sehe, hat Rot-Grün in der denn die arme Bundesregierung dafür? Deutschland ist eigenen Regierungszeit mit den Hartz-Gesetzen im Be- das größte europäische Land. Wenn sich Deutschland in reich der Zeitarbeit genau das Prinzip, von dem Sie ge- dieser Frage engagieren würde, dann wäre da auch Be- rade gesprochen haben – gleicher Lohn für gleiche Ar- wegung drin; das muss man eindeutig sagen. Aber, liebe beit am gleichen Ort –, außer Kraft gesetzt. Der Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, das ist Grundsatz des Equal Pay kann nämlich überschrieben auch zu Zeiten der Großen Koalition, als Sie mitregiert werden. Genau das befürchten Sie auch jetzt: dass Ar- haben, nicht geschehen. beitnehmer bzw. Zeitarbeitnehmer aus anderen Ländern zu uns kommen könnten und auf der Basis eines Tarif- vertrages hier billiger wären. Wann in den letzten Jahren Vizepräsidentin Petra Pau: ist da Entscheidendes passiert, was dazu geführt hat, Kollegin Pothmer, kommen Sie bitte zum Schluss. dass Sie heute sagen: „Jetzt sehen wir die Welt vollkom- men anders; jetzt glauben wir, die Dinge sind nicht mehr Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): so, wie sie vorher waren“? Ja. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aus Fehlern muss man auch lernen können!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es folgt gleich eine Ich will Sie auf einen letzten Punkt hinweisen, weil Kurzintervention. Sie haben also noch viele Möglichkei- Sie der FDP immer einen Lobbyismusvorwurf machen ten. Bitte sagen Sie Ihren letzten Satz. – ich will Ihre Beschimpfungen gar nicht wiederholen, (B) sondern ich weise all das, was Sie über uns gesagt ha- (D) ben, mit Nachdruck, Abscheu und Empörung zurück –: Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich würde mir wünschen, dass die Union und die FDP (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten endlich ihre Blockade aufgeben. Es liegt auf nationaler der CDU/CSU) und auf europäischer Ebene einiges im Argen. Es ist Ich habe meinen Kindern früher immer aus einem Kin- jetzt wirklich allerhöchste Zeit, zu handeln. Wenn Sie Ih- derbuch vorgelesen. Es heißt: Der große Platsch. In die- ren Ruf als Beschützer der Lohn- und Standarddrücker sem Buch passiert Folgendes: Drei Hasen schlafen am nicht weiter zementieren wollen, dann sollten Sie sich in Ufer eines Sees im Urwald. Bewegung setzen. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich danke Ihnen. NEN]: Kurzintervention!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dann fällt eine Papaya ins Wasser, und die drei Hasen bei der SPD und der LINKEN) erschrecken sich so sehr, dass sie fluchtartig losrennen.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Frau Präsiden- Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heinrich tin, müssen wir uns ein Märchen erzählen las- Kolb das Wort. sen? – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Der Letzte macht das Licht aus!) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Der hatte doch schon sechs Minuten!) Dann kommen ihnen andere Tiere entgegen, und alle fra- gen sie: Was ist denn los? Am Ende heißt es: „Der Platsch kommt.“ Alle Tiere im ganzen Urwald waren Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): fluchtartig in Bewegung, bis sie dem erfahrenen, alten Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin Löwen begegnet sind. Er hat dann zu ihnen gesagt: Im- Pothmer, es ist eigentlich schade: Ich lasse Ihre Fragen mer mit der Ruhe! immer zu. Da wäre es doch nur angemessen, wenn auch ich Sie fragen dürfte. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Und die FDP ist der Platsch?) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie hatten doch gerade schon sechs Mi- Damit komme ich zum Ende meiner Kurzinterven- nuten!) tion, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das rate ich auch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5371

Dr. Heinrich L. Kolb (A) uns: Wir sollten überprüfen, was genau passiert ist, ob Dann hätten Sie vielleicht wieder eine Chance. Wenn Sie (C) ein Platsch unterwegs ist, mit kaltem Herzen und kalter Hand so weitermachen, wird die FDP-Fraktion jedenfalls in diesem Parlament (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Morgen er- nur eine geringe Zukunft haben. zählen wir das nächste Märchen!) Ich danke Ihnen. von dem sich alle gegenseitig verrückt machen lassen, oder ob da wirklich etwas dran ist. Das wird uns die Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fahrung wohl am besten lehren können. und bei der SPD – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dann macht es platsch!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigen uns doch schon die Zahlen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für Deswegen sollten wir hier, wie ich es gesagt habe, ganz die Unionsfraktion. langsam und vorsichtig ans Werk gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das hätte ich Sie gerne gefragt, das hätte ich Ihnen gerne gesagt. Jetzt machen wir es auf diesem Wege. Ich hoffe, dass Sie meine Zwischenfragen beim nächsten Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Mal wieder zulassen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Kollegin Krellmann vorhin einen Vielen Dank. Tiervergleich angestellt hat, hatte ich die Befürchtung, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der dass uns auch das weggenommen wird. Aber nach der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Kurzintervention vonseiten der FDP haben wir gemerkt: Platsch nimmt Platz!) Tierwelt kann die Koalition besser. Vergleiche aus die- sem Bereich sind unser Privileg. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sie haben das Wort zur Erwiderung. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bringe das Buch mal mit! Schönes Buch!) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme auf den Kern der Debatte zurück. Nach- Lieber Kollege Kolb, ich lasse Ihre Zwischenfragen dem der Kollege Lehrieder in einer zeitlich etwas knapp zukünftig nur dann zu, wenn Sie sie mir vorher vorlegen. (B) geratenen, aber inhaltlich sehr fundierten Rede die we- (D) (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ sentlichen Punkte erwähnt hat, will ich die Sachlage DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schildern, wie sie sich auf europäischer Ebene darstellt. CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LIN- Wir dürfen uns im Deutschen Bundestag schließlich KEN) keine Scheinwelt aufbauen. Die Kommission hat eindeu- tig erklärt, dass sie nach der entsprechenden Diskussion Ich glaube, Ihre Geschichte über Platsch und der Auf- im Fachausschuss des Europäischen Parlaments evaluie- ruf, Ruhe zu bewahren, ist eine Aufforderung an Ihre ei- ren und die Richtlinie überprüfen wird. Der gerade im gene Fraktion. Denn seitdem Ihre Umfragewerte um Amt befindliche EU-Kommissar Herr Andor hat ange- 4 Prozent herumdümpeln, kann man von Ruhe in Ihrer kündigt, im nächsten Jahr gegebenenfalls eine revidierte Truppe überhaupt nicht mehr reden. Richtlinie vorzulegen. In dieser Situation soll man die europäischen Institutionen das machen lassen, wofür sie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ da sind. Wenn sie angekündigt haben, zu evaluieren, DIE GRÜNEN und der SPD) dann kann sich jeder daran beteiligen und Einzelergeb- Das ist ein Hühnerhaufen, ein Hühnerhof. Daher wäre es nisse dazu liefern. Aber man soll die europäischen Insti- wahrscheinlich besser, Sie würden eine solche Kurz- tutionen erst einmal arbeiten lassen und nicht mit einer intervention an Ihre eigenen Leute richten. vorgefassten Meinung an die Sache herangehen. Jetzt zum Kern Ihrer Kurzintervention. Herr Kolb, ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) finde es bedauerlich, dass Sie, wenn Sie eine bestimmte Information aufgenommen haben, stehen bleiben. Sie Ein weiterer Punkt, der darauf hinweist, dass es sich haben nicht zur Kenntnis genommen, dass wir nach der Ihrerseits um einen Schnellschuss handelt, ist – wir se- von Rot-Grün getroffenen Entscheidung, die Leiharbeit hen das mit Freude –, dass die SPD jetzt von einem ge- zu öffnen, schon zwei Anträge gestellt haben, das zu setzlichen Mindestlohn Abstand genommen hat; das hat korrigieren; denn wenn wir bemerken, dass wir einen der Kollege Lehrieder gesagt. Sie wollen auf das zurück- Fehler gemacht haben, sind wir – anders als Sie – in der kommen, was sinnvoll und vernünftig ist. Der tarifliche Lage, das selbstkritisch zu hinterfragen und diesen Feh- Mindestlohn soll in den einzelnen Branchen durch die ler zu korrigieren. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auf Tarifvertragsparteien festgelegt werden. Das haben Sie Ihrer sonntäglichen Klausursitzung genau nach diesem klugerweise in Ihren Antrag hineingeschrieben. Das Prinzip gehandelt hätten. begrüße ich und zeigt die von Frau Pothmer angemahnte Lernfähigkeit bei den Sozialdemokraten. Diese gibt es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) übrigens auch bei der FDP. 5372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Johann Wadephul (A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann überdenken Sie das an dieser Stelle noch einmal (C) NEN]: Ja?) und ziehen Ihren Antrag zurück. Auf der angesprochenen Klausursitzung hat der General- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. sekretär der Freien Demokratischen Partei etwas zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mehrwertsteuersenkung zugunsten der Hoteliers gesagt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Petra Pau: NEN]: Müssen Sie jetzt schon die FDP vertei- Ich schließe die Aussprache. digen?) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Seitens der Union kann man das nur begrüßen. Vielleicht Drucksache 17/1770 an die in der Tagesordnung aufge- kommen wir im Herbst nach ausführlichen Beratungen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- gemeinsam zu neuen Ergebnissen. Auch die Grünen ha- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung ben noch Nachholbedarf. so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Was auch dafür spricht, dass es sich um einen Schnellschuss handelt, ist, dass Sie die europäische Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rechtsprechung nicht ausgewertet haben. Ich will gar gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes nicht meine Meinung dazu sagen; ich bin zwar Jurist, 2010 (JStG 2010) aber kein Europarechtler. Nur so viel: Lesen Sie in der – Drucksache 17/2249 – tageszeitung vom 12. September 2008 nach, was der Überweisungsvorschlag: deutsche EuGH-Richter Thomas von Danwitz zu den in- Finanzausschuss (f) frage kommenden Urteilen gesagt hat. Dann würden Sie Innenausschuss von der linken Seite des Hauses wesentliche Teile des- Rechtsausschuss sen, was Sie vorgetragen haben, nicht wiederholen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Richter hat gesagt – ich darf zitieren –: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Wenn man die Urteile genau ansieht, erkennt man, Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu dass es keine derart einseitige Linie gibt. Nehmen diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. wir das Viking-Urteil …, das in meinen Augen die – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich grundsätzlichste Bedeutung hat. Hier wurde klar um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: das Streikrecht der Gewerkschaften als Grundrecht Olav Gutting für die Unionsfraktion, Lothar Binding für (B) anerkannt. Zwar werden Streiks als potenzieller die SPD-Fraktion, Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion, (D) Eingriff in die Binnenmarkt-Grundfreiheiten der Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke, Lisa Paus Unternehmen eingestuft, laut EuGH sind Streiks für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Parla- aber grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie für die mentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk für die Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen notwen- Bundesregierung.1) dig sind. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- An anderer Stelle sagt er, als er gefragt wird, ob die wurfs auf Drucksache 17/2249 an die in der Tagesord- Richtlinie denn dem wichtigen Zweck der Erhaltung des nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es sozialen Friedens dient: dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Entscheidend ist aber, dass die Entsenderichtlinie ein Kompromiss ist, der hinterher nicht einfach un- Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: ter Berufung auf bestimmte Interessen wieder in- Beratung des Antrags der Abgeordneten frage gestellt werden kann. Wenn ich mit Kollegen Dr. Carsten Sieling, Manfred Zöllmer, Elvira aus Ungarn oder Polen spreche, dann ist aus ihrer Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Sicht der Marktzugang jedenfalls sehr wichtig. Fraktion der SPD Auf den Aspekt möchte ich hinweisen. Wir können Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbrau- uns als Exportnation Deutschland nicht hinstellen und cherschutzes bei Finanzdienstleistungen vorle- sagen: „Die sollen alle unsere Produkte kaufen“, aber gen uns dann, wenn diese eine Chance auf dem Arbeitsmarkt – Drucksache 17/2136 – nutzen wollen, auf den sie möglicherweise mit günstige- ren Personalkosten kommen könnten, abschotten. Wir Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) schaffen kein Zweiklassen-Arbeitnehmerrecht, Herr Rechtsausschuss Juratovic, sondern wir schaffen zwei Klassen von Staa- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ten in der Europäischen Union. Das wird außerordent- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und lich kritisch gesehen, das sollten wir nicht machen. Verbraucherschutz Wenn Sie guter Europäer sind, Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss (Josip Juratovic [SPD]: Ein sehr guter Euro- päer!) 1) Anlage 65 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5373

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Komische Wahr- (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre nehmung!) keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen. – Ich sage gleich noch etwas dazu. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD- Das größte Problem ist aber, dass ein Gesamtkonzept Fraktion hat der Kollege Dr. Carsten Sieling. fehlt, Kollege Dautzenberg. Da kommen Sie auch nicht (Beifall bei der SPD) drum herum und nicht heraus. Wir brauchen ein Gesamt- konzept für den Anlegerschutz, das alle Aspekte um- fasst. Dr. Carsten Sieling (SPD): ( [CDU/CSU]: Die werden Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Sie nie erfassen, weil es immer neue Produkte Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach der Bundestags- gibt!) wahl kam in eine meiner ersten Bürgersprechstunden, die ich als neu gewählter Abgeordneter durchgeführt Das ist ein Grund, warum wir heute hier diesen Antrag habe, ein älteres Ehepaar und trug mir vor, was ihnen vorlegen, in dessen Zentrum die Überlegung steht, dass zwei Jahre zuvor, schon im Jahr 2007, geschehen ist. Sie wir einen Finanz-TÜV, ein Bündel von Maßnahmen, waren immer noch empört. Sie hatten einen Anruf eines brauchen, mit dem dafür gesorgt wird, dass die einzelnen ihnen vertrauten Bankberaters bekommen, und dieser Dinge beobachtet und kontrolliert werden. hatte gesagt, er habe ein Angebot nur für ganz spezielle (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das sind alles Kunden: Zertifikate der Lehman-Bank: gute Zinsen, si- nur Sprechblasen, Herr Kollege!) cher, kein Risiko. Das Ehepaar schlug zu, wie es so viele gemacht haben. Den Ausgang kennen wir alle. Sie haben Die Finanzprodukte müssen vom Anfang bis zum sich verspekuliert, die Altersvorsorge ist dahin. So geht Schluss, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verkauft es Tausenden Menschen. Das ist das Problem und der werden, durchleuchtet werden. Wir müssen die Situation Grund, warum wir sagen, dass es dringend notwendig erreichen, dass Produkte, Beratung und Verkauf unter ist, dass wir im Bereich des Anlegerschutzes und des ständiger Beobachtung stehen. Verbraucherschutzes erweiterte Maßnahmen treffen, da- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!) mit so etwas vermieden wird. Der Schaden in Deutsch- land wird auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Das ist deut- Was dafür nötig ist, haben wir in unserem Antrag darge- lich zu viel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir legt. müssen hier handeln. Darum haben wir unseren Antrag Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen: vorgelegt. (B) (D) Erstens. Wir wollen gesetzlich verbindliche – und (Beifall bei der SPD) nicht nur mehr oder weniger freiwillige – und verständli- Es gibt viele Gründe dafür, dass das so passiert ist. che Produktinformationsblätter mit standardisierten An- Die Berater sind nicht ausreichend qualifiziert. Die Be- gaben, damit die Dinge verglichen werden können. Wer raterinnen und Berater stehen unter Erfolgsdruck, weil falsche Informationen hineinschreibt, der muss dafür sie mehr Provision erbringen müssen. All dies ist in den auch haften. letzten Wochen auch durch die Medien gegangen. Auf (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg tariflicher Ebene hat es Vereinbarungen dazu gegeben. [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die Informationen über die Finanzprodukte – hier Zweitens. Wir wollen die Aufsichtsbefugnisse der wird es noch ernster – sind unverständlich und nicht BaFin weiterentwickeln. Dafür gibt es bereits Vorbilder durchschaubar. Niemand beaufsichtigt das, was auf den im Investmentbereich. Das muss ausgeweitet werden, Märkten passiert und angeboten wird. ohne dass für die BaFin oder die öffentliche Hand ein Haftungsverhältnis begründet wird. Das muss vermieden Diese Dinge müssen geändert werden. Die Große Ko- werden, aber die Aufsicht kann weiterentwickelt wer- alition hat schon in der letzten Legislaturperiode durch- den. aus einige Verbesserungen erzielt. Drittens. Wir müssen die Verbraucherverbände stär- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ken. Bellen und Beißen: Das ist das Prinzip, nach dem wir dort handeln. Ich nenne nur das Stichwort „Verlängerung der Verjäh- rung bei Falschberatung durch die Banken“. Das war ein Viele weitere Dinge stehen in unserem Antrag, zum richtiger und wichtiger Schritt. Wir haben damals ge- Beispiel die Regulierung des Grauen Kapitalmarkts und meinsam mit der CDU/CSU einen Antrag auf den Weg Weiteres. gebracht, der viele gute Vorschläge beinhaltet hat. Pas- Die Zwischenrufe haben schon gezeigt: Gleich wer- siert ist seitdem aber leider gar nichts. den die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition hier (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg sprechen und sich mit ihren Taten rühmen. [CDU/CSU]: Sie haben eine komische Wahr- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!) nehmung, Herr Kollege!) Sie werden sich Ihrer vermeintlichen Taten mit lauen Man muss sagen: Gar nichts ist passiert. warmen Worten rühmen. Da ist nicht viel gewesen. Frau 5374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Carsten Sieling (A) Aigner, die Verbraucherschutzministerin, hat eine „Qua- Warten Sie doch noch ein paar Tage. In wenigen Tagen (C) litätsoffensive Verbraucherfinanzen“ vorgelegt, passiert wird dieses Konzept vorgelegt, Herr Sieling. Sie haben ist aber nichts. elf Jahre den Bundesfinanzminister gestellt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Interessant wurde es, als der Bundesfinanzminister ei- Bei uns dauert es nur acht Monate, bis ein schlüssiges nen Gesetzentwurf mit einigen durchaus beachtenswer- Gesamtkonzept vorgelegt wird. Das wird mit Sicherheit ten Aspekten im Hinblick auf die Qualifikation von Fi- noch in diesem Monat vom Kabinett verabschiedet. Wir nanzberatern und vielen anderen Verbesserungen ins werden schon im September, also nur ein Jahr nach der Spiel gebracht hat. Was aber ist passiert? Bundestagswahl, dieses Konzept sehr intensiv beraten können. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was denn?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf schon im Juni im Dr. [FDP] – Kerstin Tack Kabinett beschlossen werden, damit wir hier etwas Or- [SPD]: Die Sicherheit kennen wir!) dentliches zu beraten haben. Er ist aber wieder von der Tagesordnung genommen worden. So verlautete es je- Wir haben deutlich gesagt, dass wir jedes Produkt, je- denfalls. den Produzenten und jeden Vermittler einer Regulierung unterwerfen wollen. Sie haben als Beispiel die Lehman- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Auf welcher Tages- Zertifikate genannt und auf den vertrauensvollen Bank- ordnung war er denn, Herr Kollege?) berater hingewiesen. In der Tat hat es riesige Schäden – Ob er auf der Tagesordnung war? – Es wurde jeden- gegeben. Aber Sie haben den geregelten Markt ange- falls vorbereitet, und Sie wissen auch, dass es eine Vor- sprochen. Das war der Bankenmarkt – da gibt es das abstimmung darüber gab. Wertpapierhandelsgesetz und das Kreditwesengesetz –, der sehr stark reguliert ist. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber er kann Das ist aber ein großer Unterschied!) das nicht auseinanderhalten!) Was ist der Hintergrund? – Der Wirtschaftsminister Trotzdem gab es 50 000 Lehman-Geschädigte. Wir ken- Brüderle hat Gesprächsbedarf. Es ist das übliche Spiel: nen den Fall von Phönix Kapitaldienst. Da gab es CDU/CSU und FDP laufen in unterschiedliche Richtun- 30 000 geschädigte Anleger. Auch da hat die Aufsicht gen. Dahinter steckt wahrscheinlich, dass die einen oder geprüft, konnte den Schaden aber nicht verhindern. Ich anderen Lobbyverbände wieder interveniert haben. erinnere an die Göttinger Gruppe – atypische Beteiligun- (D) (B) gen –, die auch ständig geprüft wurde. Alle Kapital- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dienste haben geschrieben, was das für ein schlimmer DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Verein sei, aber trotzdem hat die bestehende Aufsicht Oh!) nicht eingegriffen. – Sie können ja das Gegenteil belegen. Vizepräsidentin Petra Pau: Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Flosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage Kollege Sieling, kommen Sie bitte zum Schluss. des Kollegen Schick?

Dr. Carsten Sieling (SPD): Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. – Allein durch diesen Vor- Na klar. gang wird deutlich, wie richtig und wichtig es war, dass (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn es der wir als SPD unseren Antrag hier vorlegt haben. Sache dient!) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Flosbach, Sie haben gerade ein einheitliches An- Vizepräsidentin Petra Pau: legerschutzkonzept angekündigt, das in wenigen Wo- Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Klaus- chen vorliegen werde. Meine Frage ist, ob der Gesetz- Peter Flosbach das Wort. entwurf zum Anlegerschutz, der angekündigt ist, schon (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dieses Konzept ist oder ob Sie noch etwas Weiteres vor- neten der FDP – Christian Freiherr von Stetten legen wollen, mit dem die Ziele des Koalitionsvertrages [CDU/CSU]: Jetzt kommt Qualität in die De- erreicht werden sollen. Das war mir bei Ihren Ausfüh- batte!) rungen nicht ganz klar.

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt einen Entwurf der Bundesregierung – das wis- Herr Kollege Sieling, Sie fordern ein schlüssiges Ge- sen Sie wahrscheinlich –, der bereits mit Verbänden dis- samtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes. kutiert wird. Er wird uns in Kürze vorliegen. Er wird Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5375

Klaus-Peter Flosbach (A) wesentliche Teile der im Bereich Verbraucherschutz dis- beschrieben werden. Darin sind wir uns wahrscheinlich (C) kutierten Themen enthalten. Darüber und über die An- einig. träge, die Sie vorgelegt haben, werden wir mit Ihnen ge- meinsam gerne im September und Oktober diskutieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ steht schon im Wertpapierhandelsgesetz!) CSU]) Das Wichtigste dabei ist, dass wir Möglichkeiten eröff- Sie haben es in elf Jahren nicht hinbekommen. Warten nen, wie die Anlegersicherheit gestaltet werden kann. Sie die paar Tage ab, bis wir unser Konzept vorlegen. Ich sehe das auch so wie Sie, dass wir ein breites Spek- Das ist doch der einfachste Weg. trum standardisierter Produkte für den Anleger haben müssen, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich bin nicht in der SPD!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) – Sie waren viele Jahre mit dabei. bei denen er weiß, ob es eine Einlagensicherung gibt und sein Geld nicht verlorengehen kann. Das ist meines Er- Es gibt Schäden auf dem Finanzmarkt. Sie kennen die achtens wichtig. Aber für den Anleger, der bereit ist, Schrottimmobilien. Auch in diesem Zusammenhang auch ein größeres Risiko einzugehen, müssen wir andere sind Tausende von Leuten über den Tisch gezogen wor- Schutzvorschriften schaffen. Zum Beispiel bei geschlos- den. Auch hier haben wieder die Banken gehandelt, die senen Fonds ist meines Erachtens das Gutachten der Kredite gegeben und die Immobilien zu 100 Prozent in Wirtschaftsprüfer, das sogenannte IDW-S4-Gutachten, einer Höhe beliehen haben, die diese nicht wert waren. der richtige Weg. Sie fordern in Ihrem Antrag, es müsse vom Beginn Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Be- der Anlage bis zum Ende alles geprüft werden. Wir kön- reich, der eine hohe Bedeutung hat, ist natürlich die Re- nen das versuchen. Wir haben derzeit eine Prospektprü- gulierung der Vermittler. Hier gibt es derzeit zwei Kon- fung. Das ist aber nur eine formelle Prüfung, keine in- zepte, aber in beiden Konzepten sind mehrere Positionen haltliche Prüfung. Wir müssen aufpassen, dass wir keine völlig identisch. Wir wollen, dass es ein einheitliches Scheinsicherheit erzeugen. Entscheidend ist, was in dem und öffentliches Register gibt. Jeder Anleger soll öffent- Produkt steckt. lich sehen können, wer ihm da gegenübersteht, von mir aus, welche Vita er hat, welche Qualifikation er hat, ob (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) er eine Haftpflichtversicherung hat, ob er abgesichert ist für mögliche Risiken. Ich bin außerdem der Meinung, (B) Das muss natürlich geprüft werden. Wir bekommen jetzt (D) eine neue europäische Richtlinie zu den alternativen In- dass ein Gespräch dokumentiert und protokolliert wer- vestments. Auch hier, meine ich, muss zunächst einmal den muss, damit man weiß, was da gelaufen ist. Wir der Anbieter geprüft werden. Die Schäden sind bei den brauchen natürlich – das ist wichtig – den Prospekt. Da- Anbietern entstanden. Diese sind die Verursacher des rin steht normalerweise – gucken Sie sich die Prospekte Schadens. Deswegen ist es wichtig – das sage ich in an –, der Vermittler darf nicht vom Prospekt abweichen. Richtung von Herrn Schick –, dass die Prospekthaftung Dennoch bin ich der Meinung, das Gespräch sollte pro- über die sechs Monate hinausgeht. Es ist also wichtig, tokolliert werden. Das ist meines Erachtens auch für den dass der Anbieter stärker geprüft wird. Verbraucher der beste Schutz. Es muss einfach deutlich sein, dass der Verbraucher erkennt, ob es eine Risiko- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) anlage oder eine Nichtrisikoanlage ist. Denken Sie doch bitte an unsere Diskussion im ver- Es gibt zwei Konzepte: Soll das alles über die Gewer- gangenen Sommer. Ich spreche von der großen Anhö- beordnung reguliert werden, oder soll es über die BaFin, rung zum grauen Kapitalmarkt. Auch da ging es um die also die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, als Frage, was inhaltlich geprüft werden kann. Die Aufsicht Aufsicht reguliert werden? – Ich meine, wir müssen hier hat uns Abgeordneten gesagt: Wir sind in der Lage, for- an den Verbraucher denken. Was dient dem Verbraucher mell zu prüfen, aber den wirtschaftlichen Gehalt einer am meisten? Anlage können wir nicht prüfen, weil wir nicht die Fach- Die Situation ist doch, dass wir im Markt viele ver- leute dafür haben. Um das einzelne Produkt bewerten zu schiedene Wettbewerber haben, die sich um den Ver- können, müssten wir riesige Abteilungen von Experten braucher bewerben, und jedes Gespräch wird protokol- beschäftigen, die auch entsprechende Prognosen auswer- liert. Wenn der Anbieter ein faires Angebot gemacht hat, ten. – Denken Sie an den klassischen Fall des geschlos- wird er nichts dagegen haben, und dann wird er auch da- senen Immobilienfonds. In den neuen Bundesländern für haften können. gab es in der Startphase teilweise hohe Mieten. Wenn ein Mieter ausfällt, ist das ganze Konzept im Eimer. Es ist Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum eine Risikoinvestition. Beim Verbraucherschutz geht es Schluss. Wichtig ist, dass wir den Verbrauchern fair und darum, dass der Verbraucher weiß, dass auf einem Pro- offen aufzeigen, wo sie Schutz haben können, aber auch dukt deutlich steht, wenn in ihm ein Risiko steckt. Es deutlich machen, wo es keinen Schutz gibt. Wer ein Ri- muss dem Einzelnen klargemacht werden, dass das Ri- siko bewusst eingeht, der muss auch das Risiko tragen siko hoch ist und es sich nicht um eine Anlage handelt, können. Das ist dann nicht die Sache des Verbraucher- die 1, 2 oder 3 Prozent abwirft. Das Risiko muss deutlich schutzes. Wir wollen nicht jeden reglementieren, ihm 5376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Klaus-Peter Flosbach (A) vorschreiben, dass er sein Geld nur im Sparbuch anlegen sind. Stattdessen verfolgte die SPD während ihrer Regie- (C) kann, sondern wir wollen schon einen Wettbewerb im rungsbeteiligung andere Interessen. Mit dem Zahlungs- Finanzmarkt haben. Ich freue mich auf die weitere Bera- diensteaufsichtsgesetz, kurz „ZAG“ genannt, hat sie für tung zu diesem Thema. eine Verbreitung von Wildwestmethoden im Bereich der Kreditkartenkredite beigetragen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Trotz dieser großen Lücke enthält der SPD-Antrag Vizepräsidentin Petra Pau: – das möchte ich nach den kritischen Anmerkungen be- Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak- tonen – viele unterstützenswerte Forderungen, mit denen tion Die Linke. linke Positionen aufgegriffen werden. Auch die Linke will die unabhängige Finanzberatung ausbauen und sagt (Beifall bei der LINKEN) Nein zum Provisions- und Profitstreben in der Finanz- und Versicherungsbranche. Honorarberatung bedeutet Harald Koch (DIE LINKE): nicht zwangsläufig mehr Qualität; doch ohne die Über- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- windung provisionsgetriebener Beratung und produktbe- nen und Kollegen! Auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen zogener Verkaufsvorgaben gibt es keine wirklich unab- und Kollegen, werden in den vergangenen Monaten etli- hängige Beratung. Warum sorgen wir hier zum Beispiel che Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern eingegan- nicht dafür, dass das Berufsbild eines zertifizierten gen sein, die Sorge um ihr mühsam Erspartes haben. Das Finanzberaters etabliert wird? klang hier ja auch schon bei Herrn Dr. Sieling durch. (Kerstin Tack [SPD]: Das steht im Antrag! – Viele haben in der Finanzkrise durch hoch riskante, in- Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja, in unserem An- transparente Finanzprodukte, die ihnen als sicher und trag!) renditeträchtig verkauft wurden, eine Menge Geld verlo- ren. Auch die gesetzlichen Regelungen zu Beratungspro- Auch die Verschuldung durch verantwortungslose tokollen weisen viele Lücken auf. Sie schützen eher die Kreditvergaben ist ein großes Problem. Von mehr als Berater vor Haftungsrisiken als die Beratenen vor Nach- 6 Millionen überschuldeten Menschen sind gut 85 Pro- teilen. Produktinformationsblätter sollten einheitlich die zent nicht selbst für ihre Lage verantwortlich. Risikoklasse, den maximal möglichen Verlust sowie die tatsächlichen Gesamtkosten ausweisen. Die Linke for- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na!) dert für beides standardisierte und insbesondere verbind- (B) Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie liche Verfahren. (D) dürfen nicht länger zulassen, dass Tausende Menschen Ein Finanz-TÜV muss ferner wichtiger Bestandteil ihre Rücklagen für das Alter, für die Pflege oder für Not- der Finanzaufsicht sein. Finanzprodukte sind vor ihrer fälle verlieren Zulassung auf Verbraucherfreundlichkeit, wirtschaftli- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wo verlieren che Nachhaltigkeit, Sozial- und Umweltverträglichkeit die das denn, Herr Kollege?) sowie Risikopotenzial zu prüfen und zu klassifizieren. Gefährliche und schlichtweg überflüssige Produkte, die bzw. finanziell gar keine Zukunft mehr sehen. nur der Spekulation im globalen Finanzkasino dienen, Viel zu spät wurde in Deutschland, aber ebenso welt- müssen endlich vom Markt genommen werden. weit bemerkt, dass eine Regulierung der Finanz- und (Beifall bei der LINKEN) Kreditmärkte auch aus Verbraucher- und Anlegersicht dringend geboten ist. Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Der finanzielle Verbraucherschutz muss gesetzlich legen, es wäre schön, wenn nicht immer so lange gewar- verbindlicher geregelt und gestärkt werden, erstens tet würde, bis das Kind schon in den Brunnen gefallen durch Regulierung und Entschleunigung der Finanz- ist. märkte, unter anderem durch eine Finanztransaktion- steuer, sowie durch Maßnahmen für eine verantwor- Die SPD spricht im Titel ihres Antrags aus meiner tungsvolle Kreditvergabe, – Sicht etwas großspurig von einem „Gesamtkonzept“. (Zuruf von der SPD: Warten Sie ab!) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Koch, achten Sie bitte auf das Signal. Doch über die Kreditvergabe als wichtigste Finanz- dienstleistung und die damit verbundenen Probleme ver- liert der Antrag kein Wort. Die Linke fordert beispiels- Harald Koch (DIE LINKE): weise eine Stärkung der Schuldnerberatungsstellen. – ja –, zweitens durch die Entschlackung der für die Privatanleger schier undurchschaubaren Masse an Fi- (Beifall bei der LINKEN und des Abg. nanzprodukten und drittens vor allem durch bessere Re- Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gulierung, Transparenz und Verständlichkeit der verblei- NEN]) benden Produkte. Die SPD hätte, wenn sie es ernst meinte, ihre Forde- Danke schön. rungen bereits im letzten Jahr umsetzen können, weil sie meist von Linken und Grünen übernommen worden (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5377

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: (C) Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?) Dr. Erik Schweickert das Wort. – Wir lesen Zeitungen sehr wohl. – Die Pflicht zur Füh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Leo rung eines Beratungsprotokolls, zur Einhaltung des Ge- Dautzenberg [CDU/CSU]: Es geht aber nicht bots einer anlegergerechten Beratung und zur Offenle- um Wein, Herr Kollege!) gung von Provisionen wird mehr Transparenz in die Anlageformen bringen und somit den Anlegerschutz Dr. Erik Schweickert (FDP): deutlich erhöhen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht (Kerstin Tack [SPD]: Das ist nicht Ihr Ver- nur deshalb, weil vielleicht der eine oder andere, der dienst! Das war die Große Koalition! – noch reden muss, zu spät gekommen ist, möchte ich das Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und was hat die aufgreifen, was Sie, Herr Kollege Sieling, zu Anfang aus FDP damit zu tun?) Ihrem Wahlkreisbüro berichtet haben. Wenn ich richtig zugehört habe, hat die Dame Seien Sie zuversichtlich, dass es, wenn die BaFin als Aufsicht über Finanzdienstleistungen das Recht be- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ehepaar!) kommt, Bußgelder für Falschberatungen zu erheben, bei Ihnen erzählt, was sie 2007 erlebt hat. Ich hoffe, Sie ha- 50 000 Euro doch schon wehtut. Das ist wieder ein klei- ben der Dame dann auch gesagt, wer denn 2007 die Ver- ner Baustein in die richtige Richtung. antwortung getragen hat und was 2007 von denen unter- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nommen worden ist, sehr geehrter Herr Kollege. Auch bei den Qualifikationsvoraussetzungen von Fi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nanzberatern gehen wir voran. Anders als vielleicht der Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wo? In den USA? eine oder andere hier möchte ich nicht den mehr oder In den USA war es Bush! – Kerstin Tack minder staatlichen Bankberater haben. Die Berater und [SPD]: Nicht richtig zugehört, Herr Kollege!) auch die Vertriebsverantwortlichen – das wird oftmals – Ich glaube schon, dass ich zugehört habe. Sonst hätte vergessen – müssen sich registrieren. Wir wollen, dass ich zum Beispiel das „Bellen und Beißen“ nicht auf- bei falscher Anlageberatung auch die Möglichkeit be- schreiben können; da bin ich mir sicher. Im Bellen sind steht, Kundenbeschwerden nachzugehen, sodass die Sie großartig; das gestehe ich Ihnen zu. BaFin dem dann entgegenwirken kann. Die BaFin wird damit auch die Kompetenz bekommen, Wertpapier- (Zuruf) dienstleistungsunternehmen den Einsatz des einen oder (B) (D) – Ihr Kollege hat das gesagt. Ich zitiere nur den Antrag- anderen Mitarbeiters zu untersagen. steller. Ich glaube, es ist gut, wenn man da mal ein biss- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) chen Substanz hineinbringt. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sehen also: Wir gehen nach vorne. NEN]: Jetzt geht’s aber mal los!) Die Informationsblätter werden künftig stärker regle- Wir bellen und beißen nicht, sondern wir arbeiten or- mentiert sein. Der Diskussionsentwurf aus dem Bundes- dentlich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbrau- finanzministerium sieht ein – das finde ich übrigens sehr cher. gut – nicht mehr als zwei DIN-A4-Seiten umfassendes Produktinformationsblatt vor. Wir sind doch alle genervt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – seien wir einmal ehrlich –, wenn wir 30 Seiten bekom- Meine Damen und Herren, wir sind uns im Ziel doch men, die letztendlich keiner liest. einig. Wir wollen mehr Transparenz. Wir wollen eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bessere Regulierung bei den Finanzdienstleistungen und somit ein Mehr an Verbraucherschutz. Die Euro-Krise Lieber sollten es weniger sein, die dafür die wichtigen hat uns gezeigt, dass es am Finanzmarkt noch Rege- Punkte enthalten. Dann haben wir alle gewonnen. lungsbedarf gibt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Der Antrag, den die Sozialdemokraten eingebracht der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: haben, zeigt aber auch die gute und zügige Arbeit der Warum hat Herr Brüderle nicht auf Sie ge- christlich-liberalen Koalition. In dem Antrag beschrei- hört? – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg ben Sie viele Problembereiche und sagen: Da müsste [CDU/CSU]: Das hat mit Herrn Brüderle man etwas tun. – Sie haben elf Jahre lang nichts getan. nichts zu tun!) Ich möchte Ihnen sagen, wo wir etwas getan haben. Sie – Seit wann ist Herr Brüderle denn Bundesfinanzminis- haben das ja schon als Erwartung geäußert. Ich möchte ter? Sie nicht enttäuschen, sehr geehrter Herr Kollege, und Ihnen das noch einmal vor Augen führen. Mit dem Ge- Gehen wir einmal weiter. Es war die christlich-libe- setz zur Stärkung des Anlegerschutzes und der Verbesse- rale Koalition – auch wenn es wehtut, Herr Kollege –, rung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes wird die mit dem Gesetz zur Vorbeugung gegen missbräuch- dieser sogenannte graue Kapitalmarkt nämlich einer liche Wertpapier- und Derivategeschäfte eine Regelung durchgreifenden Regulierung unterzogen. zum Verbot ungedeckter Leerverkäufe auf den Weg ge- 5378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Erik Schweickert (A) bracht hat. Wir wirken damit den Risiken für die Funk- werden auch weiterhin im Sinne eines guten Anleger- (C) tionsfähigkeit der Finanzmärkte entgegen. schutzes vorangehen. Ich freue mich auf die gute Zu- sammenarbeit und auf die Aussprache mit Ihnen. Ich Damit habe ich Ihnen nur einige Beispiele genannt, hoffe, dass Sie Ihren Leuten dann, wenn Sie erläutern, mit denen wir das Anlegerschutzniveau deutlich erhö- was 2007 falsch gelaufen ist, auch sagen, wer es jetzt re- hen. gelt. Für mich als Verbraucherschützer gibt es weitere Vielen Dank, meine Damen und Herren. Baustellen, an denen wir arbeiten müssen. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir sie angehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Rahmen der Zusammenführung der deutschen Fi- nanzaufsicht bei der Bundesbank wäre für uns eine Eta- Vizepräsidentin Petra Pau: blierung des Verbraucherschutzes ein wichtiger Punkt; Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die denn wir brauchen eine bessere Aufsicht und keine Ver- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. staatlichung der Verbraucherzentralen, wie das in Ihrem Antrag mit den Marktwächtern gefordert wird. Der Marktwächter darf kein Nachtwächter sein. Aus diesem Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Grunde möchte ich eine gute, schlagkräftige Verbrau- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! cherzentrale haben, die schaut, was am Markt möglich Drei Jahre nach Beginn der Finanzkrise ist die verbrau- ist und welche Entwicklungen es am Markt gibt. Wir cherpolitische Bilanz der Regierung immer noch relativ wollen aber keine Verstaatlichung der Verbraucherzen- schlecht. Banken und andere Anbieter von Finanzpro- tralen. Wir brauchen keine Hilfssheriffs, die der Mei- dukten machen mehr oder weniger weiter wie bisher. nung sind, sie müssten jetzt losgehen. Das muss die Auf- Die Regierung hat es versäumt, die notwendigen Refor- sicht machen. Jeder muss dort tätig werden, wo er hinge- men zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher hört, und seine Kernkompetenz in diesem Bereich auch auf den Finanzmärkten umzusetzen. Ich will Ihnen drei ausfüllen. Beispiele aus Verbrauchersicht nennen. Da geht es weni- ger um Regulierung im Großen als um kleine Ärger- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Oh! Die FDP nisse, die enormen volkswirtschaftlichen Schaden an- fordert mehr Staat!) richten. Auch beim Thema Honorarberater ist nach unserer Nehmen wir als erstes Beispiel die Überziehungszin- Meinung ein Ausbau erforderlich. Wir brauchen ein kla- sen. Die Verbraucherzentrale in Bremen schätzt, dass die res Profil. Jeder muss wissen, ob er einem Honorarbera- Deutschen allein von Dezember 2008 bis April 2010 (B) (D) ter oder einem Verkäufer gegenübersitzt. Das muss über 700 Millionen Euro aufgrund überhöhter Dispo- transparent ausgewiesen werden. und Überziehungszinsen gezahlt haben. Diese Punkte sind für den Verbraucherschutz notwen- (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) dig. Dann bekommen wir auch das Vertrauen wieder zu- rück, das sehr viele Banken tatsächlich verspielt haben. Das mag man vielleicht als Kleinigkeit abtun, aber 0,7 Mil- Ich bin mir auch sicher, dass sehr viele Banken noch liarden Euro sind eine ganze Menge Geld. nicht verstanden haben, was sie den Anlegerinnen und Anlegern angetan haben. Hier müssen wir ein bisschen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer hat das für ein Umdenken in der Branche Sorge tragen. Sehr ge- denn festgestellt, Frau Kollegin?) ehrter Herr Kollege, das muss aber mit den Vorschlägen Die in der Studie untersuchten Banken kassierten Über- geschehen, die wir auf den Weg gebracht haben. ziehungszinsen zwischen 17 und 20 Prozent. Wenn wir (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auf welchen uns den Leitzins anschauen, den die Europäische Zen- Weg?) tralbank im Moment festgelegt hat, stellen wir fest, dass das Geld derzeit eigentlich relativ billig ist. – Sehr geehrter Herr Kollege, wenn Sie es in elf Jahren nicht schaffen, ein Gesetz vorzulegen, während wir uns (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist wahr!) in der kurzen Zeit, die wir jetzt hier die Verantwortung tragen, schon auf Gesetzentwürfe geeinigt haben, Wer aber den Dispo überzieht, den kommt das sehr teuer zu stehen. Besonders dreist ist die Commerzbank; denn (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber noch ist es sie nimmt den höchsten Überziehungszins. Dabei ist das nicht passiert!) die Bank, die wir nicht mit Millionen, sondern mit Mil- liarden an Steuergeldern päppeln. Da frage ich mich: Ist dann müssen Sie auch einmal akzeptieren, dass wir den das nicht ein Anlass, um auf den Finanzmärkten einzu- Schritt in die richtige Richtung gehen, den Sie elf Jahre greifen? Man muss sich doch die Frage stellen: Wenn so lang verpasst haben. weit von dem abgewichen wird, was die Geldpolitik vor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gibt, nämlich einen niedrigen Leitzins, müsste man dann der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: nicht im volkswirtschaftlichen Sinne regulierend ein- Können Sie mir das Papier überreichen?) greifen? Bevor Frau Präsidentin jetzt anfängt, es blinken zu (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist wirklich lassen, will ich Ihnen nur noch Folgendes sagen: Wir ökonomischer Unsinn!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5379

Nicole Maisch (A) Beispiel Nummer zwei: Abzocke bei EC-Kartenge- Ideen nur so sprudeln, wäre es ganz gut, wenn auch der (C) bühren. Die FDP hat dieses Thema erfreulicherweise im Verbraucherschutz Gehör finden würde. Verbraucherausschuss auf die Tagesordnung gesetzt. Wir Zum Schluss: Funktionierende Märkte brauchen gut haben ein Fachgespräch durchgeführt, zu dem leider informierte Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn kein Vertreter der Union erschienen ist; trotzdem war es Sie das Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellie- sehr gut. Da haben wir herausgefunden, dass die EC-Kar- ren, dann wäre es doch schön, wenn Sie auch die Finanz- tengebühren immer mehr steigen. Aber auch hier bleibt dienstleistungen aufnähmen. Wir wissen, dass auch die es bei der Thematisierung in der Presse. Das ist zwar FDP das möchte. Wir werden Sie daran messen, ob Sie schön, aber das reicht noch nicht. Eine Pressemitteilung sich in diesem Punkt gegen die CDU durchsetzen. hat noch keinem Verbraucher, keiner Verbraucherin ge- nutzt. Der Grund, warum Sie an diese ganzen Themen (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Steht im Koali- nicht herangehen, ist, dass Sie, wie ich glaube, eine Beiß- tionsvertrag drin!) hemmung gegenüber der Finanzbranche haben. – Es steht ja so viel im Koalitionsvertrag. Man weiß gar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht, wo man anfangen soll. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wir setzen ihn KEN) um, Schritt für Schritt!) Sie scheuen den Konflikt: Sie schreiben zwar Pressemit- – Schritt für Schritt, ja; aber man hat ja normalerweise teilungen, aber Sie trauen sich nicht, gesetzliche Rege- nur vier Jahre Zeit. Deshalb denke ich, jetzt wäre es an lungen zu treffen. der Zeit, konkret ans Arbeiten zu gehen, statt nur Presse- mitteilungen zu schreiben. Ähnliches gilt für das dritte Beispiel, die Provisionen. Herr Professor Schweickert hat über die Honorarbera- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tungen gesprochen. Wir wissen, dass Provisionen häufig und bei der SPD) Fehlanreize für Beratung setzen. Man berät unter dem Aspekt: „Wie kann ich die höchste Provision erzielen?“, Vizepräsidentin Petra Pau: aber nicht nach dem Grundsatz: „Was ist das Beste für Das Wort hat der Kollege Dr. Frank Steffel für die den Kunden?“ Jetzt müssen sich Frau Aigner und Herr Unionsfraktion. Schäuble aber fragen lassen: Wo sind Ihre Vorschläge zur Deckelung von Provisionen? Trauen Sie sich an die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kick-backs heran? Wie wollen Sie Transparenz bei den neten der FDP) Provisionen schaffen? Wie wollen Sie die verbraucher- (B) (D) freundliche Honorarberatung fördern? Nur in Über- Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): schriften zu reden, reicht nicht. Man muss auch konkrete Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Konzepte vorlegen. Zu später Stunde habe ich den Eindruck: Mancher Streit ist etwas künstlich und die Aufregung auch. Ich vermute, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass wir uns einig sind, dass die internationale Finanz- sowie bei Abgeordneten der SPD) krise leider auch Spuren bei Verbrauchern und Bankkun- Ein kleines Beispiel: Ministerin Aigner verspricht uns den hinterlassen hat. Ich teile auch ausdrücklich das, was seit vielen Monaten, dass sie den Begriff „Honorarbera- Sie, Frau Maisch, gesagt haben, nämlich dass die Sen- ter“ gesetzlich schützen lassen wird. Das macht Sinn. kung der Zinsen, beispielsweise durch die Europäische Das löst zwar nicht das ganze Problem, würde zumindest Zentralbank, im Wesentlichen natürlich dazu dienen aber dafür sorgen, dass jemand, der „Honorarberater“ sollte, den Mittelstand zu unterstützen, die eigenen Zins- auf seinem Türschild stehen hat, nicht noch zusätzlich sätze zu senken, Anreize für Investitionen zu geben und Provision kassiert. Das ist eigentlich keine so schwierige den Verbrauchern und Konsumenten durch günstige Sache. Trotzdem haben wir hierzu bislang noch keinen Zinssätze ein Stück weit das Investieren zu erleichtern, Gesetzentwurf gesehen. statt die Vorteile aus dieser Maßnahme für die Sanierung der Banken zu verwenden, wie es momentan offenkun- (Kerstin Tack [SPD]: Im Herbst!) dig die meisten Institute tun. – Wahrscheinlich im Herbst; alles kommt im Herbst. Ich glaube, wir sind uns auch darüber einig, dass die Banken selbst ein sehr großes Interesse daran haben (Nicolette Kressl [SPD]: Welches Jahr?) müssen, dass das verloren gegangene Vertrauen in ihre Wir Grünen fordern seit langem eine Reform der Fi- Institutionen, aber auch in ihre Mitarbeiterinnen und nanzaufsicht. Dazu werden Sie in der morgigen Debatte Mitarbeiter möglichst schnell zurückgewonnen wird; vom Kollegen Schick noch genauere Ausführungen hö- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ren. der FDP) Wir möchten auch, dass der Verbraucherschutz zu ei- denn wenige Branchen leben stärker von ihrer gesell- ner Kernaufgabe der Finanzaufsicht wird. Wir wünschen schaftlichen Akzeptanz als die sensible Geldanlagebran- uns, dass sich am Wettbewerb der Ideen um die beste Fi- che. Wenn wir einmal bei den Kleinanlegern bleiben: nanzaufsicht, den Brüderle und Schäuble ausgerufen ha- Die berühmte Omi mit ihrem Sparbuch überlegt sich ben, auch Frau Ministerin Aigner beteiligt. Wenn die schon sehr genau, ob sie der Person und dem Institut ver- 5380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Frank Steffel (A) traut. Im Übrigen hat die schwierige Entwicklung für halben Prozentpunkt mehr selbst zu übertreffen. Auch (C) mich auch etwas Positives, nämlich, dass das Vertrauen diese Mentalität müssen wir, glaube ich, in Deutschland in Sparkassen sowie in Volks- und Raiffeisenbanken in ändern. Deutschland nachhaltig gestärkt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Dr. Erik Schweickert [FDP]) wie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Beifall bei Besuchern auf der Tribüne) Ich will noch etwas anderes thematisieren. Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle in einer Rede zu einem – Ich bedanke mich für den Beifall von den Tribünen, anderen Thema – Kollege Sieling wird sich vielleicht er- obwohl das, wenn ich recht informiert bin, nach der Ge- innern – darauf hingewiesen, dass es für mich als Mittel- schäftsordnung nicht gestattet ist. – Ich glaube, dass es ständler, der ich neben meinem Mandat sein darf, ganz für die Struktur des Finanzplatzes Deutschland erfreu- entscheidend ist, dass bei diesen Bankgeschäften der lich ist, dass wir weiterhin Privatbanken, öffentlich- verheerende Eindruck entsteht, dass man mit Geldanla- rechtliche Banken und genossenschaftliche Banken wie gen mehr Geld verdienen kann als mit ordentlicher Ar- die Volks- und Raiffeisenbanken haben. beit. Das demoralisiert Arbeitnehmer, das demoralisiert Mein Kollege Flosbach ist, wie ich finde, auf sehr kleine und mittlere Unternehmen. Das zerstört mehr als viele Details auf fundierte und qualifizierte Weise einge- den Finanzplatz Deutschland. Das zerstört die Leis- gangen. Deswegen möchte ich den Grundsatz, der auch tungsbereitschaft von 82 Millionen Menschen, die wir in in einigen anderen Reden thematisiert wurde und un- diesem Land dringend brauchen. streitig ist, unterstreichen: Das Anreizsystem in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Banken ist bei den sensiblen Produkten, die dort gehan- des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) delt werden, nach meiner Überzeugung inakzeptabel. Es kann nicht sein, dass ein Mitarbeiter primär entspre- Viele Dinge wurden angesprochen, chend dem Zinsertrag seines Instituts entlohnt wird, (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wann kommt das wenn es darum geht, einer älteren Dame, einer Rentne- Gesetz?) rin, für ihre Alterssicherung mehr oder weniger mündel- sichere Anleihen oder Anlageformen zu empfehlen. Das und viele Dinge wurden durchgesetzt. Wir haben die ist eine Fehlsteuerung. Ich hoffe, dass die Institute das Prospektrichtlinie verändert. Wir haben die Durchsetz- begriffen haben. Ich weiß übrigens nicht, ob man das in barkeit von Ansprüchen aus Falschberatung bereits vor letzter Konsequenz gesetzlich regeln kann. einem Jahr verändert; der Kollege Flosbach hat darauf hingewiesen. Ein wesentliches Gesetz, das den grauen (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kapitalmarkt optimieren soll und über das in diesem (B) NEN]: Das haben Sie ja abgelehnt!) Hause intensiv diskutiert wird, steht vor der Schlussab- (D) – Ich komme gleich zu den Gesetzen. Lassen Sie mich stimmung. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die Bun- das kurz sagen. desrepublik Deutschland sowohl in der Großen Koali- tion als auch jetzt in der bürgerlich-liberalen Koalition in Ich finde zwei Dinge wichtig: diesem Punkt einmal mehr nicht nur Motor in Europa ist, Der erste Punkt: Wir dürfen es den Banken nicht zu sondern im Anlegerschutz, im Konsumentenschutz auch leicht machen und sagen: Wir von der Politik nehmen wieder einmal federführend in der Welt ist. euch die Verantwortung ab; wir erlassen Gesetze, ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richtet euch nach den Gesetzen, und das war es. (Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ Es gibt kein Land, das es in den letzten drei Jahren bes- CSU]) ser gemacht hat als wir. Auch deswegen sinkt die Ar- beitslosigkeit und geht es den deutschen Unternehmen Nein, ich erwarte, dass die Banken ihrer volkswirtschaft- nach der Krise besser als vielen Unternehmen in anderen lichen und – das sage ich ausdrücklich – ihrer morali- Ländern. schen Verpflichtung gegenüber Konsumenten nachkom- men, die das System und das Produkt im Einzelnen gar Ich möchte abschließend auf eines hinweisen, das mir nicht überblicken können. wichtig ist. Ich glaube, wir sollten versuchen, die Debat- ten der letzten Monate, die uns hier sehr intensiv be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schäftigt haben, so zu nutzen, dass wir jetzt für Vertrauen Dr. Erik Schweickert [FDP]) werben – das hat nichts mit Parteipolitik zu tun –: Ver- Der zweite Punkt: Ich appelliere sehr bewusst an uns trauen in unseren Finanzplatz, Vertrauen in unsere Ban- – da kann jeder in seinem persönlichen Umfeld anfan- ken, Vertrauen übrigens auch in unsere Politik, in alle gen –, dass wir die Gier von Anlegern und Konsumenten Parteien und Fraktionen. Wir müssen zeigen, dass wir thematisieren. Es ist eben nicht besonders geschickt, für die Lehren aus der Krise gezogen haben, dass es sich einen halben Prozentpunkt mehr Zinsen irgendeine mehr lohnt, in Deutschland zu investieren, dass es sich lohnt, oder weniger unübersichtliche Anlageform zu wählen. sein Geld in Deutschland anzulegen. Am Ende der Krise Die gute alte Bundesanleihe, das gute alte Festgeld und gehen wir mit allen Konsequenzen gestärkt daraus her- der gute alte Sparkredit haben auch ihre Vorteile. Des- vor, haben weniger Arbeitslose und mehr Wohlstand als wegen sollten wir der deutschen Bevölkerung sagen: vor der Krise. Manchmal bringt ein halber Prozentpunkt weniger am Herzlichen Dank. Ende wesentlich mehr Erträge und auch ruhigere Nächte, als wenn man gierig versucht, sich mit einem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5381

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Das heißt, wir brauchen eine bessere Regelung für kla- (C) Kollege Steffel, ich danke für den Hinweis auf unsere rere Standardisierung. Genauso ist es beim Informations- Geschäftsordnung. Für diejenigen, die im Rahmen der freiheitsgesetz. Es geht nicht darum, dass das zwei politischen Bildung unserer Debatte weiter folgen, ver- Seiten hat; das ist ja schön. Viel wichtiger sind Verständ- weise ich auf § 41 unserer Geschäftsordnung: lichkeit, Transparenz und Klarheit. Deshalb brauchen wir Standardisierungen, die klarmachen, dass man mitei- Wer auf den Tribünen Beifall oder Mißbilligung äu- nander vergleichbare Strukturen erwirbt. ßert oder Ordnung und Anstand verletzt, kann auf Anordnung des Präsidenten sofort entfernt werden. (Beifall bei der SPD) Das hatte ich natürlich nicht vor, aber ich bitte darum, Das ist das Anliegen, das uns umtreibt. Wir reden über dies auch denjenigen zu übermitteln, die inzwischen tur- Verbraucherschutz. nusgemäß die Tribüne verlassen haben. Beifallsbekun- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hätten Sie dungen und Ähnliches sind nur hier im Plenum erlaubt. besser gemacht, als Sie in der Regierungsver- Diese Geschäftsordnung haben wir uns gemeinsam ge- antwortung waren!) geben. Wir sollten versuchen, das entsprechend durchzu- halten. Auch dem BMELV ist die Debatte heute Abend nicht wichtig genug, um die Regierung zu vertreten. Die De- Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD- batte, die wir heute Abend und morgen früh führen, Fraktion. muss einer Regierung mehr wert sein, als sie lediglich (Beifall bei der SPD) hinterher im Protokoll nachzulesen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kerstin Tack (SPD): DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Ministerin Aigner als Verbraucherschützerin der Kolleginnen und Kollegen! Warum diskutieren wir heute Nation kündigt nicht nur eine stärkere Regulierung im Abend und morgen früh über Anträge zu einem Thema, Bereich der Vermittler an. Sie hat durch die Presse auch bei dem wir merken, dass es Brisanz hat? Sie sagen, das verlauten lassen, wie wichtig ihr die Informationsblätter sei alles im Fluss, im Herbst komme Ihr Konzept. Sie sind. Es ist aber nichts gekommen. haben sich sogar selber Mut zugesprochen und haben ge- sagt: mit Sicherheit. Wir warten auf genau dieses Kon- Was hat sie zum Datenschutz gesagt? Sie hat nichts zept. Wir legen alle unsere Konzepte vor, weil wir die dazu gesagt. Was hat sie zum Thema Protokollierung Hoffnung haben, dass Sie die Ansprüche, die unserer vorlegen wollen? (B) Meinung nach zu einem richtigen und sinnvollen Anle- (D) ger- und Verbraucherschutz gehören, in Ihr Konzept auf- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir haben doch nehmen. Das, was wir bisher gehört haben, zeigt, dass es die Protokollierung, Frau Kollegin!) Lücken gibt, über die wir reden müssen. Es ist nichts gekommen. Sie ist nicht einmal in die Ge- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Die haben Sie spräche zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium hinterlassen!) eingebunden. Wenn wir schon über Verbraucherschutz reden, dann ist er mindestens zu beteiligen. Das machen – Nun legen Sie Ihr Konzept erst einmal vor; dann wir heute Abend und morgen früh. Herzlichen Dank da- schauen wir es uns an. für! Ich hoffe, dass die eine oder andere hilfreiche Idee in Ihr Konzept aufgenommen wird. An vielen Stellen brauchen wir eine Stärkung derjeni- gen, die schwächer sind und sich nicht so vieles leisten Danke schön. können. Deswegen, Herr Schweickert, geht es mitnich- ten darum, Verbraucherzentralen zu verstaatlichen, son- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern es geht darum, Zugänge zu einer unabhängigen der LINKEN) Finanzberatung zu ermöglichen, vor allem für die Men- schen, die sich eine Beratung organisieren und leisten Vizepräsidentin Petra Pau: können müssen, die ihnen nützt, die frei zugänglich ist Ich schließe die Aussprache. und ein hohes Vertrauensgehalt hat. Deshalb muss man Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf insbesondere beim Anleger- und Verbraucherschutz Drucksache 17/2136 an die in der Tagesordnung aufge- auch die Organisationen, nämlich die Verbraucherzentra- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- len, deutlich stärken; dies wird nicht durch Verstaatli- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung chung erreicht. so beschlossen. (Beifall bei der SPD – Dr. Erik Schweickert Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: [FDP]: Verbraucherpolitik ist keine Sozialpoli- tik!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Zur Frage der Protokollierung. Die Protokollierung ist und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) bereits Gesetz. Die BaFin hat ausgeführt, dass zwei Drit- tel der Protokolle nicht ausreichend, miserabel, unver- – zu dem Antrag der Abgeordneten Axel ständlich und den Verlauf nicht nachvollziehend sind. Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael 5382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der richtet sich an den fünf Bedarfsfeldern Klima und Ener- (C) Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- gie, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit sowie Kommuni- ten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter kation aus. Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abge- Mit innovativen Produkten, Technologien und Dienst- ordneter und der Fraktion der FDP leistungen entstehen dort neue Leitmärkte mit hohem Brücken bauen – Grundlagenforschung Wachstumspotenzial. Ein aktuelles Beispiel ist die Na- durch Validierungsförderung der Wirtschaft notechnologie. Sie gilt als Schlüsseltechnologie für viele nahebringen Branchen wie Chemie, Pharmaindustrie oder die Auto- mobilindustrie. Erfolge aus diesem Nanokosmos sind – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, unter anderem Nanopartikel, die Tumore bekämpfen Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter können. Winzige Datenspeicher ganzer DVDs passen Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- auf Flächen eines Centstücks. tion der SPD Nanotechnologien setzen früh in der Wertschöpfungs- Innovationslücke schließen – Zügig ein trag- kette an. Marktprognosen sprechen von einer Hebelwir- fähiges Konzept zur Stärkung der Innova- kung von bis zu 100 Milliarden Euro für den gesamten tions- und Validierungsforschung vorlegen Weltmarkt. Ohne Validierungsförderung wären diese – Drucksachen 17/1757, 17/1958, 17/2368 – Produkterfolge nicht zustande gekommen. Berichterstattung: Damit soll erreicht werden, dass die Ergebnisse der Abgeordnete Axel Knoerig Forschung von Hochschulen und außeruniversitären René Röspel Einrichtungen als Quelle für neue Ideen, Verfahren, Pro- Dr. Martin Neumann (Lausitz) dukte und Dienstleistungen sehr viel stärker genutzt Dr. Petra Sitte werden. Am 26. Mai 2010 hat das BMBF die Fördermaß- Krista Sager nahme „Validierung des Innovationspotenzials wissen- schaftlicher Forschung“ gestartet. Hier sind nun 32 Mil- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die lionen Euro freigesetzt, um die Innovationslücke in der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Forschungspolitik zu schließen. Man greift auf das Wis- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sen markterfahrener Investitionsmentoren zurück. Sie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege stellen sicher, dass Neuentwicklungen marktgerecht Axel Knoerig für die Unionsfraktion. positioniert werden können. Einen neuen Gründergeist kann man nicht – das wis- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) sen wir – über Nacht schaffen. Er erfordert ein kulturel- les Umdenken. Die Forscher müssen aus ihrer traditio- Axel Knoerig (CDU/CSU): nellen Rolle, in ihrer Disziplin zu denken, herausgelöst Wertes Präsidium! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- werden. Sie müssen pragmatisch zu Entwicklern, zu un- legen! Union und FDP wollen in dieser Legislatur- ternehmensbezogenen Persönlichkeiten werden. periode den Brückenschlag zwischen Wirtschaft und Wissenschaft voranbringen. Das wollen wir zum einen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um die Ergebnisse der Forschung für die Wirtschaft bes- Das duale System bei uns hat sich bewährt. Berufs- ser nutzbar zu machen, zum anderen aber auch, um die schulbesuch und Ausbildung in einem Betrieb, das ist Wirtschaft besser an der Bildungs- und Forschungspoli- eine gute Mischung. Dieses Jahr drängen über tik zu beteiligen. 150 000 Menschen weniger auf den Arbeitsmarkt. Des- Der zur Debatte stehende Antrag „Brücken bauen – wegen ist es gut, auf der einen Seite die Ausbildung zu Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der stärken und auf der anderen Seite die bewährte For- Wirtschaft nahebringen“ trägt genau diese Handschrift. schungspolitik fortzuführen. Nach der schweren Finanz- Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb festgehalten: und Wirtschaftskrise ist dies wichtig, damit wir wieder zu Wachstum kommen. Wir werden neue Impulse für den Wissens- und Technologietransfer und die Validierung von For- Wir haben gute Zahlen in Aussicht. Deutschland er- schungsergebnissen geben. wartet ein Wachstum von 2,1 Prozent. 24 Prozent der Betriebe wollen jetzt neue Arbeitsplätze schaffen. Ende Damit wollen wir die Gleichmacherei in Bildung und 2010 kann die Arbeitslosenzahl unter 3 Millionen fallen. Forschung sowie in der Wirtschaftsferne der For- Das sind gute Zahlen für unser Land. Das ist Wirt- schungspolitik von SPD, Grünen und der Linken über- schafts-, Innovations- und Forschungspolitik aus einem winden. Guss. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zwischen Erfindung und Innovation, ist nur individuell noch einige grundsätzliche Betrachtungen ausführen. zu schlagen, indem Forschungsleistungen projektbezo- Wesentliche Indikatoren weisen darauf hin, dass gen geprüft werden. Die zukunftsfähige Hightech-Strate- Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten relativ zu- gie der Bundesregierung will neue Akzente setzen und rückgefallen ist. Das heißt, wir sind zwar immer noch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5383

Axel Knoerig (A) stark, aber andere sind dabei, uns zu überholen. Wir wol- René Röspel (SPD): (C) len an die technologische Führungsposition, die wir vor Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, an- Herren! Lieber Kollege Knoerig, Sie sind ja noch relativ knüpfen; da müssen wir hin. Eines wissen wir: Sozialis- neu im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- tische Funktionäre haben noch nie Wohlstand erarbeitet, folgenabschätzung. Auch im Rückblick auf die letzten sondern ihn bestenfalls schlecht verwaltet. Jahre muss ich feststellen, dass wir da eigentlich immer einen recht sachlichen Umgang gepflegt und uns an den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Inhalten orientiert haben. Ich bin ein bisschen erstaunt, Die konservativ-liberale Regierung strebt die Verbes- dass Sie Ihren Beitrag hier – wir wollen eigentlich über serung von Rahmenbedingungen für die Erarbeitung von Validierungsforschung reden; das habe ich so verstan- mehr Wohlstand an, während der rot-rot-grüne Links- den; das steht jedenfalls so in der Tagesordnung – gleich block für immer mehr Umverteilung von immer weniger mit Begriffen wie „Gleichmacherei“ und „sozialistische Wohlstand steht. Umverteilung“ begonnen haben. Vielleicht sollten wir so etwas zumindest zu so später Stunde einfach einmal bei- (Lachen des Abg. Harald Koch [DIE LINKE] – seitelegen – es sind ja nicht mehr so viele Zuschauer Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist ein da – und tatsächlich über das reden, worüber wir hier Gruselkabinett!) wirklich sprechen sollen. Einen Hoffnungsschimmer hat es gestern gegeben, als (Beifall bei der SPD und der LINKEN) die rot-rot-grüne Zusammenarbeit nicht so richtig klap- pen wollte; das lässt für Nordrhein-Westfalen hoffen. Wenn man sich die Bilanz, was Technologiezuwachs Sollte dieses Trio infernale doch eines Tages Deutsch- in Deutschland anbelangt, der letzten elf Jahre – bei Rot- land regieren, Grün beginnend, in die Große Koalition mündend – an- schaut, ist sehr leicht von der Hand zu weisen, dass das (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gott Schreckgespenst, das Sie hier gerade aufgezeigt haben, bewahre!) überhaupt aufgetreten ist und jemals auftreten wird. wird ein weiterer, zumindest relativer Niedergang die si- Wir haben damals in der rot-grünen Regierung begon- chere Konsequenz sein. nen – übrigens in Fortsetzung der Politik der schwarz- gelben Regierung –, die Nanotechnologie weiterzuent- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) wickeln. Wir haben einen gewaltigen Schub an neuer – Ja, Sie lachen. – Wer wie die 68er-Bewegung gute Technologie in den Bereichen der Energieeffizienz, der Werte verneint und mit den Erben des totalitären DDR- erneuerbaren Energien und anderer Energien auf den (B) Staatssozialismus zusammenarbeitet, der demontiert die Weg gebracht. Wir brauchen uns also überhaupt nicht zu (D) strukturellen Grundvoraussetzungen für Frieden, Frei- schämen. Mit Blick auf den Vorwurf der Technikfeind- heit und Wohlstand noch stärker. lichkeit, den Sie immer wieder zu konstruieren versu- chen, kann ich nur an den Bundespräsidenten erinnern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der in meinem Wahlkreis geboren wurde und einmal Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Selbst das ganz klug gesagt hat: müssen Sie ablesen!) Wer mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt, – Ja, lieber Kollege. Ein gutes Studium hört bekanntlich sollte nie vergessen, dass drei Finger seiner Hand nie auf. Sie würden nicht so kräftig dazwischenrufen, auf ihn selbst zeigen. wenn Sie nicht ordentlich zugehört hätten. Das war ein kluges Wort von Gustav Heinemann. Damit komme ich zum Schluss. Die heute zur Diskus- Wir reden über Validierungsforschung. Was ist das? sion stehende Validierungsförderung ist ein kleiner, aber Wir haben in Deutschland in den letzten Jahren alle wichtiger Baustein für unser Land. Wir können als roh- gemeinsam eine exzellente Forschungsinfrastruktur ge- stoffarmes Land den noch vorhandenen Wohlstand nur schaffen. Wir haben eine sehr gute angewandte halten, wenn wir um das, was wir teurer sind, auch bes- Forschung. Wir sind im Automobilbereich, im Chemie- ser sind. Wohlstand entsteht nicht durch sozialistische bereich und im pharmazeutischen Bereich sehr gut. Wir Umverteilung, sondern durch Innovation und Fleiß. Wir haben eine hervorragende Grundlagenforschung; daran können vermelden, dass die Innovationspolitik der sind die Max-Planck-Gesellschaft und andere beteiligt. CDU/CSU-FDP-Regierung gegriffen hat, auch dank ei- Sicherlich gibt es im universitären Bereich Defizite. ner vorausschauenden und bewährten Bildungs- und Forschungspolitik von Frau Bundesministerin Professor So gut wir aber in der Theorie häufig sind, so groß ist Annette Schavan und ihren beiden Parlamentarischen unser Problem – das haben wir auch von der Experten- Staatssekretären, Thomas Rachel und . kommission Forschung und Innovation immer wieder und zu Recht zu hören bekommen – bei der Umsetzung Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. der Theorie in die Praxis. Wie also gelingt es uns besser, Forschungsergebnisse tatsächlich in Produkte umzuset- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zen, die kommerziell anwendbar, also kommerzialisierbar sind? Das ist genau der Punkt, an dem die Validierungs- Vizepräsident Dr. h. c. : forschung ansetzt: Wie schaffen wir es, Forschungser- Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion. gebnisse zu bewerten und daraus Produkte zu machen? 5384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

René Röspel (A) Wir befinden uns auch da in einer guten Tradition. chen, ob es nicht irgendein Programm gibt, das geeignet (C) Noch zur Zeit der Großen Koalition haben wir uns zu- ist, eine finanzielle Förderung für dieses Projekt auf den sammengesetzt, dieses Thema aufgenommen und nicht Weg zu bringen. Herzlichen Glückwunsch! Wenn Sie nur mit Fraktionskollegen von Ihnen, sondern auch mit von einem Forscher verlangen, erst einmal alle Möglich- dem Ministerium sehr intensive Diskussionen geführt, keiten der Förderung zu überprüfen, dann wird er sicher- wie wir im Bereich der Validierungsforschung weiter- lich in 50 Prozent der Fälle das Handtuch werfen. Er kommen. wird dann von Ihnen – das wird in den Richtlinien des BMBF erwartet – auch noch gezwungen bzw. es wird Seien Sie mir nicht böse – es ist nicht abwertend ge- vorausgesetzt, dass er den Nachweis führt, dass er keine meint –; aber ich glaube, Sie haben tatsächlich noch andere Möglichkeit der Förderung bekommen konnte. nicht den Kern des Problems verstanden, über das wir Erst dann kann er sich auf die Suche nach einem Innova- reden und um das wir uns kümmern sollten. Validie- tionsmentor begeben und möglicherweise eine Validie- rungsforschung heißt nämlich, recht schnell, gut und zu- rungsförderung erhalten. Wenn das keine Bürokratie ist, verlässig, möglicherweise auch sehr hart zu beurteilen: wenn das nicht Behinderung von Validierung ist, dann Ist das Forschungsergebnis eines Forschers wirklich ge- weiß ich es auch nicht. eignet, kommerzialisiert zu werden oder nicht? Dafür ist (Beifall bei der SPD) die Maßnahme „VIP“ des BMBF – Sie haben sie ange- führt – einschließlich Ihres begleitenden Antrags, der im Der Antrag der SPD stellt eine Alternative dar. Mit Prinzip nichts anderes als den Inhalt der BMBF-Maß- ihm schlagen wir den richtigen Weg ein. Ich will noch nahme wiedergibt, wirklich nicht geeignet. Um das zu einmal sagen, worum es im Kern geht. Es geht nicht da- belegen, will ich Ihnen zwei Beispiele nennen: rum, zu beurteilen, ob es sich um exzellente Grundlagen- forschung handelt oder nicht. Das ist nicht die Frage. Erstens. Der Forscher soll sich selbst einen Innova- Vielmehr geht es darum, ob sie kommerzialisierbar ist. tionsmentor suchen, also jemanden, der das Projekt be- Das heißt, es kann sein, dass jemand hervorragende, no- gleitet. Das hört sich zunächst einmal gut an, führt aber belpreisverdächtige Forschung betreibt, der Validierer möglicherweise zu zwei unterschiedlichen Problemen. aber sagen muss: Das ist super, aber nicht kommerziali- Sie zwingen einen Forscher oder eine Forscherin, der sierbar. Umgekehrt kann es genauso sein: Bei jeman- oder die sich jahrelang exzellent mit Grundlagenfor- dem, der eher durchschnittliche, nicht aufregende For- schung oder anderem befasst hat, jetzt gute Ergebnisse schung betreibt, sagt ein Validierer: Mit dem richtigen hat und sich eigentlich nur mit Forschung befassen will, Anstoß und einer vernünftigen Begleitung werden wir sich einen Innovationsmentor zu suchen, jemanden, der daraus ein innovationsfähiges und vermarktbares Pro- dazu geeignet ist, wirtschaftlich zu beurteilen, ob ein dukt machen. (B) Forschungsergebnis vernünftig zu nutzen ist oder nicht. Darum geht es: Wir brauchen jemanden aus einer un- (D) Das heißt, Sie verlangen von einem Forscher, der mögli- abhängigen Validierungsagentur – das ist der Vorschlag, cherweise nichts anderes will als forschen, dass er sich den die SPD macht –, einen Profi, der dafür bezahlt wird erst einmal einen Experten sucht, der in der Lage ist, zu und der nicht ehrenamtlich tätig ist wie ein Pate. Dieser beurteilen, ob sein Projekt, seine Forschungsergebnisse kann klar entscheiden: Das ist ein Projekt, das umgesetzt kommerzialisierbar sind. Ich sage Ihnen: Daran wird der werden kann, das ist ein Forschungsprojekt, das wir Forscher im Regelfall gar nicht viel Interesse haben; er kommerzialisieren können. Wenn das nicht der Fall ist, will sich nicht auf diese Suche machen. dann muss er eine harte Entscheidung treffen. Dann wird die Forschung zwar fortgesetzt, aber es bleibt bei der Es kann aber auch ein zweites Problem auftreten. Es Forschung. Das ist der Ansatz von Validierungsfor- kann sein, dass der Forscher im Rahmen von Ausgrün- schung. Das bestätigen Ihnen viele Wissenschaftsorgani- dungen bereits Kontakte zu jemandem in der Wirtschaft sationen, wenn Sie mit ihnen Gespräche führen. Sie soll- hat, der sagt: Ich kann mir vorstellen, vielleicht einmal ten auf sie hören. dein Projekt zu fördern, aber ich werde es nicht finanzie- ren. – Dann hat der Forscher jemanden, der das Projekt Wir glauben, dass das von Ihnen vorgeschlagene In- kennt; er kann ihn auch als Innovationsmentor benen- strument versanden wird, da es keinen großen Unter- nen. In diesem Moment bricht aber eine der zentralen schied zur üblichen Projektförderung darstellt, die ver- Voraussetzungen für eine vernünftige Validierung, für nünftigerweise seit Jahren durchgeführt wird. Es wird eine Bewertung, ob das Forschungsergebnis kommerzia- nicht dazu führen, dass mehr Forschungsprojekte in lisierbar ist oder nicht, in sich zusammen. Die Neutralität kommerzialisierbare Produkte umgesetzt werden. Fol- und Objektivität des Innovationsmentors ist nämlich gen Sie unserem Weg. Er enthält weniger Bürokratie, nicht mehr gegeben, weil er ein Interesse hat, dass es mit und er zeigt den Forschern eine vernünftige Perspektive diesem Forschungsprojekt irgendwie weitergeht, mögli- auf. cherweise mithilfe einer öffentlichen Förderung. Das Vielen Dank. sind zwei Probleme, die wir den Forschern nicht zumu- ten wollen. (Beifall bei der SPD)

Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel im Zusammen- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hang mit den Leitlinien der VIP-Fördermaßnahme. Sie Das Wort hat nun Kollege Martin Neumann für die verlangen von den Forschern zunächst einmal, die euro- FDP-Fraktion. päische Forschungsförderung sowie die Förderung durch den Bund und durch die Länder daraufhin zu untersu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5385

(A) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): internationale – Aktivitäten zeigen, dass dies möglich (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- sein wird. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Röspel, ich habe Ihnen intensiv zugehört Wir fördern – es ist wichtig, das an der Stelle hervor- zuheben – Projekte aller Forschungsbereiche, die tech- (René Röspel [SPD]: Das ist gut!) nisch machbar sind und die ihr wirtschaftliches Potenzial – was aus dem einen oder anderen Vorschlag wird, wird unter Beweis stellen. Entscheidend dafür – das ist der man sehen –, aber ich bin anderer Auffassung. Ich bin Punkt, den Sie angesprochen haben – sind eine Mach- nämlich der Meinung, dass man unseren Wissenschaftle- barkeitsstudie bzw. eine Machbarkeitsuntersuchung, rinnen und Wissenschaftlern vieles zutrauen kann. technische Weiterentwicklung, Erschließung neuer An- wendungen und natürlich am Ende dann auch eine ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wisse Demonstrationsentwicklung. Florian Pronold [SPD]: Das stimmt!) Bedeutsam und außerordentlich wichtig bei diesen Ich selbst habe viele Jahre auf dem Gebiet der For- Förderprogrammen ist die Technologieoffenheit. Darauf schung gearbeitet. Das zentrale Kriterium war immer: legen wir ganz großen Wert. Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler muss über den Inhalt der Forschungsarbeit hinaus in der Lage (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sein, das eine oder andere auch auf dem Weg, den wir René Röspel [SPD]: Wir auch!) beschließen werden, selbst zu machen. Denn nur durch die Öffnung wird es möglich werden Innovationen sind der Schritt in die Zukunft. Ideenge- – das muss man noch einmal ganz klar hervorheben –, ber für diesen Prozess sind viele fleißige Wissenschaftle- alle Potenziale der Grundlagenforschung zu nutzen. Na- rinnen und Wissenschaftler. Sie sind es, die für uns türlich können auch noch nicht etablierte Forschungsfel- Durchbrüche in Forschung und Entwicklung erzielen. der, von denen es eine ganze Menge gibt, von dieser För- Für diese große Aufgabe brauchen sie unsere Unterstüt- derung profitieren. zung; Eines ist doch völlig klar an dieser Stelle: Wir können (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) heute noch nicht genau wissen, in welchen Bereichen in denn wir wissen – das haben Sie richtig gesagt –, dass in den nächsten Jahren Innovationen entstehen werden. Die Deutschland zwischen den wissenschaftlichen Ergebnis- Ausgrenzung von Forschungsbereichen ist daher nicht sen und der Möglichkeit, diese wirtschaftlich zu verwer- zukunftsweisend und kann uns später, glaube ich, teuer ten, leider eine große Lücke klafft – international gibt es zu stehen kommen. (B) andere Wege –, die wir endlich schließen müssen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) In den vergangenen Jahren gab es viele Gutachten Meine Damen und Herren, ich spreche jetzt alle Frak- und Expertisen, die auf den erheblichen Bedarf an öf- tionen an. Ich freue mich, dass die Idee der Validierungs- fentlicher Validierungsförderung aufmerksam gemacht förderung auch bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fällt haben. Es wurde deutlich, dass es vielen Wissenschaftle- und Sie dieses Vorhaben unterstützen. Dass in Bezug auf rinnen und Wissenschaftlern an nötigen finanziellen Detailfragen Meinungen auseinandergehen – darüber Ressourcen fehlt – darum geht es vor allen Dingen, das können wir in Zukunft auch reden –, ist bei solchen Pro- Know-how ist das andere Problem, das Sie angespro- zessen nichts Neues. Sie stimmen mir aber sicherlich zu, chen haben –, das wirtschaftliche Potenzial ihrer Ideen Herr Röspel, dass die Kernbotschaft klar ist: Wir wollen zu überprüfen und damit zu validieren, das heißt, zu eine Innovationsbewegung aus der Wissenschaft heraus überführen. Wir wollen endlich eine Brücke zwischen entstehen lassen – mit flachen Strukturen, kurzen An- Wissenschaft und Wirtschaft schlagen. tragswegen, schnellen Entscheidungswegen und ohne (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen. Wir wollen die wichtigen Akteure auf diesen Gebieten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zusammenführen und die klaffende Lücke endlich schließen. Die Devise lautet dabei: einfach, schnell und gut. Mit unserem Antrag „Brücken bauen – Grundlagen- Ich bedanke mich. forschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nahebringen“ fordern wir die Bundesregierung auf, ein Konzept zur Validierungsförderung vorzulegen. Ein sol- ches Förderprogramm liegt nun vor und wird im Jahr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 2011 umgesetzt. Dieses Programm soll Wissenschaftle- Die beiden folgenden Rednerinnen – Petra Sitte und rinnen und Wissenschaftler motivieren, die Ergebnisse Krista Sager – haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) und Erkenntnisse auf ihre Markttauglichkeit hin zu über- Damit kann ich dem Kollegen Philipp Murmann von der prüfen und dann endlich in die Wirtschaft zu überführen. CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen. Die Fördermaßnahme wird – davon bin ich überzeugt – der Wissenschaft konkrete Unterstützung, Hilfestellung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Nachweise für die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen geben. Viele ähnliche – auch 1) Anlage 66 5386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Das Projekt war in England als praktisch irrelevant ein- (C) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gestuft und nicht gefördert worden. Kroto führte dann et- gen! Wir haben heute Morgen über die aktuelle wirt- was verbittert aus – ich zitiere –: schaftliche Situation in Deutschland gesprochen und sind, glaube ich, übereingekommen, dass wir uns auf Alle angewandten Forschungsstrategien sind zweit- dem Weg aus der sogenannten realwirtschaftlichen Krise rangig. Wenn man genau weiß, was man erforschen befinden. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Investitionen will, kann man mit Sicherheit nichts grundlegend ziehen an, Unternehmen machen wieder mehr Umsatz Neues entdecken. und stellen sogar neue Leute ein. Dazu haben verschie- (René Röspel [SPD]: Er hat sie erfunden! Ent- dene Faktoren beigetragen: Investitionen wurden ver- deckt hat sie der Architekt Fuller!) schoben, die jetzt natürlich nachgeholt werden. Der ak- tuelle Euro-Kurs spielt dabei sicherlich auch eine Rolle. Damit hat er ein Problem angesprochen, das wir auch Der Euro ist wieder – im Gegensatz zu den Höhenflügen in der Validierungsforschung lösen wollen. Es gibt zwei zuvor – auf einem Niveau angekommen, das man als unterschiedliche Kulturen – Herr Röspel, auch Sie haben Unternehmer eher als normal empfindet. Aber es gibt das beschrieben –: Der Forscher ist an seiner Forschung eben auch viele Unternehmen – man sieht das –, die ins- interessiert. Das soll er auch sein. Er soll Experimente besondere in Entwicklung investiert haben. Diese kön- durchführen und Hypothesen aufstellen. Erfolgreich ist nen jetzt den Aufschwung nutzen und zusätzliche Um- er dann, wenn er eine gute Veröffentlichung in einer an- sätze generieren. gesehenen Zeitschrift vorzuweisen hat und von seinen Ich denke, das muss man auch dazu sagen: Auch un- Kollegen dafür Anerkennung erfährt. Aber wir brauchen ser Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat einen Stein in auch denjenigen, der die Frage stellt: Welche neuen Pro- diese Mauer gelegt. dukte und Anwendungen kann man daraus generieren? Das ist ein anderer Blickwinkel auf das gleiche Projekt, (René Röspel [SPD]: Reine Hypothese!) den wir ebenfalls einnehmen müssen. Dafür ist das Vali- Wir haben nämlich nicht nur die Arbeitnehmerfamilien dierungsprojekt genau richtig. entlastet, sondern auch im Unternehmensbereich einige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weichen gestellt, was dazu beiträgt, dass die Unterneh- men wieder investieren. Diesen Erfolg sollte man aner- Diese Anwendungspotenziale zu erkennen, ist für un- kennen. sere Volkswirtschaft von sehr großer Bedeutung. Denn wozu forschen wir, wenn wir die Anwendungen, die sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – generieren lassen, nicht auch in volkswirtschaftlichen René Röspel [SPD]: Diesen Glauben lassen (B) Nutzen umsetzen? Wir brauchen beides: Forschergeist, (D) wir Ihnen!) aber auch Unternehmergeist. Beides müssen wir weiter Die Frage ist nun: Wie können wir diese Entwicklung fördern. Die Validierungsforschung soll die Schnittstelle nachhaltig gestalten? Die Stichworte dazu sind gefallen: zwischen diesen beiden Sichtweisen sein. Forschung und Entwicklung, Innovation, Technologie. Wir wollen diese Dinge voranbringen und Wirtschaft Die Konkurrenz wächst. Viele neue Entwicklungen und Wissenschaft vernetzen. Genau da setzt der Antrag stammen nicht mehr aus den klassischen Industrielän- zur Validierungsforschung an. Wir wollen damit auch dern, also aus Amerika oder den europäischen Staaten, das schon genannte Programm, welches das Ministerium sondern Asien spielt im Wettbewerb um Talente, um erfreulicherweise so schnell auf den Weg gebracht hat, Technologien und natürlich auch um neue Märkte eine flankieren und noch weiter unterstützen. immer größere Rolle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Deutschland sind wir weiterhin gut. Der Erfinder- geist ist ungebrochen. 2009 wurden 47 859 Patente aus Was bedeutet Validierung? Kennen Sie den Lotus- Deutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet. effekt für selbstreinigende Fassaden? Oder die Erkennt- nisse über die Papillomviren, denen wir die Impfung ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen Gebärmutterhalskrebs verdanken? Oder den GMR- neten der FDP) Effekt, der die Basis für die Datenspeicherung auf Fest- platten war? Das alles sind Ergebnisse von Grundlagen- – Ich denke, das ist einen Applaus von allen wert. – forschung. Sie alle haben das Potenzial für sehr gute An- (René Röspel [SPD]: Aber wir alle können wendungen. Um diese Anwendungen früh zu erkennen, nichts dafür!) bedarf es besonderer Anstrengungen. Hier wollen wir ansetzen. Aber viel zu wenige Patente erreichen die Inkubations- phase; hier liegt das Problem. Auch im dritten EFI-Gut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) achten wurde festgestellt, dass viele erfolgversprechende Der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1996, Sir Forschungsergebnisse gerade aus dem öffentlichen Be- Harold Kroto – nicht jeder von uns wird ihn kennen –, reich nicht effektiv vermarktet werden. Auch hierfür ist entdeckte die C60-Fullerene, ein Material, das 100-mal die Validierungsförderung wichtig. stärker als Stahl und nur ein Sechstel so schwer wie Stahl ist. Ich möchte noch ganz kurz auf den SPD-Antrag zu sprechen kommen. Erst einmal stelle ich fest – auch Sie (René Röspel [SPD]: Er hat sie erfunden!) haben das beschrieben, Herr Röspel –: Wir sind uns im Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5387

Dr. Philipp Murmann (A) Grunde einig, dass dieses Thema wichtig ist und wir es fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen (C) fördern müssen. angenommen. (René Röspel [SPD]: Das ist ja schon mal Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- gut!) lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1958 mit dem Titel „Innovationslücke – Ja, das ist schon einmal gut. – Jetzt kommt es darauf schließen – Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung an: Wie macht man das am besten? Sie schlagen einen der Innovations- und Validierungsforschung vorlegen“. Fonds vor. Ich denke, auch darüber kann man reden. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Aber eine Zentralstelle, die darüber wacht, wie validiert stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- wird, halte ich für nicht sinnvoll. Ich bin eher der Mei- fehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben ange- nung, dass dadurch Bürokratie geschaffen wird. Sie nommen. behaupten das von unseren Vorschlägen. Ich glaube al- lerdings, das Modell, das Sie vorschlagen, ist bürokratie- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: lastiger als unseres. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten (René Röspel [SPD]: Lieber Bürokratie für Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine den Mentor als für den Forscher!) Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Wenn man Ihren Antrag liest, stellt man außerdem fest, dass Sie sich an der einen oder anderen Stelle widerspre- UN-geführte Untersuchung des israelischen chen. Angriffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofor- tige Aufhebung der Blockade (Florian Pronold [SPD]: Was? Das kann nicht sein!) – Drucksache 17/2259 – Insofern bin ich der Meinung, dass man darüber noch b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, einmal reden muss. SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären – Ich komme zum Schluss auf den GMR-Effekt zurück, Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nah- (René Röspel [SPD]: Wofür steht denn die ost-Friedensprozess unterstützen Abkürzung?) – Drucksache 17/2328 – der übrigens vom deutschen Professor Grünberg am For- Nach einer interfraktionelle Vereinbarung ist für die (B) (D) schungszentrum Jülich entdeckt wurde, wofür er 2007 Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre den Nobelpreis für Physik erhielt. Welche Anwendungen dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. sich daraus ergeben könnten, haben die Amerikaner zu- erst festgestellt. So wurde IBM in diesem Bereich zum Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Marktführer. Meine Damen und Herren, so etwas sollte Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke das Wort. uns nicht allzu häufig passieren. Deswegen betreiben wir (Beifall bei der LINKEN) Validierungsförderung. Ich hoffe, wir haben damit gro- ßen Erfolg. Auch dieses Projekt wird natürlich ständig überprüft. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ich danke für die Aufmerksamkeit an diesem wunder- glaube, dass wir alle Veranlassung haben, den Menschen baren Sommerabend und wünsche uns allen noch eine zu danken, die sich für die Aufhebung der Blockade ein- gute Diskussion. gesetzt und sich an der Aktion „Free Gaza“ beteiligt ha- Danke schön. ben. Sie haben etwas hinbekommen, das wir nicht ge- schafft haben. Sie haben eine Situation herbeigeführt, in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der die Blockade möglicherweise aufgehoben wird und ein Stück weit Hoffnung in Gaza einzieht. Ich finde, das Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist ein bedeutender Fortschritt. Deswegen bin ich dank- bar. Das gilt auch für meine Kolleginnen Ich schließe die Aussprache. und Inge Höger, die sich an dieser Aktion beteiligt ha- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- ben. Ich finde, da kann man durchaus großmütig sein. empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung (Beifall bei der LINKEN) und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/2368. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Uns allen ist klar, dass diese Blockade völkerrechts- schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- widrig ist, dass sie in den Beschlüssen der UNO kritisiert tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1757 wird, dass sie eine Entmündigung und Entwürdigung der mit dem Titel „Brücken bauen – Grundlagenforschung Menschen in Gaza herbeigeführt hat und dass sie ihnen durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebrin- die Luft zum Atmen genommen hat. Ich sage ausdrück- gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – lich: Diese Blockade hat auch eine Schattenwirtschaft Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- und einen Schwarzmarkt in Gaza hervorgerufen und hat empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- den Terrorismus gestärkt und nicht geschwächt. Das sind 5388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Wolfgang Gehrcke (A) einfach die nüchternen Ergebnisse. Zu diesen kommt (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Reden Sie mit (C) man, wenn man Bilanz zieht. Ihren Freunden von der Hamas!) (Beifall bei der LINKEN) Wir haben heute – Kollege Stinner und andere waren da- bei – sehr viele Ratschläge von den Kollegen der Verein- Die Blockade ist so etwas wie die Fortsetzung des Krie- ten Nationen erhalten, wie man einen solchen Friedens- ges. Das kann man einfach nicht akzeptieren. prozess fördern und durchsetzen kann. (Beifall bei der LINKEN) Ich will zum Schluss noch eine Bitte äußern, die sich Jetzt ist etwas Besonderes passiert, das ich hier gewür- mehr an die Politiker in Israel und Palästina richtet. Ich digt wissen will. Der Antrag der vier Fraktionen kann bitte, dass die gemeinsame, nicht einmütige, sondern nun zu einem wirklich interfraktionellen Antrag gemacht einstimmige Entscheidung dieses Hauses nicht als anti- werden. Wir werden diesem Antrag zustimmen. israelisch und nicht als antipalästinensisch interpretiert wird, sondern so genommen wird, wie sie von den ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schiedenen Fraktionen hier gemeint ist: als ein Versuch, endlich einen unwürdigen und den Frieden gefährdenden Das heißt, dass zum ersten Mal in der Nahostfrage alle Zustand zu beenden. Das ist der Gestus dieser Resolu- Fraktionen des Hauses einen gemeinsamen Antrag ha- tion, und ich bin froh, dass wir den gemeinsam so tragen ben. können. (Beifall bei der LINKEN) Herzlichen Dank. Dieses Signal wird mit Sicherheit auch im Nahen Osten, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten insbesondere in Israel und Palästina, wahrgenommen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Thomas Silberhorn für die Diese Gewichtung muss man verstehen. Ich will gar CDU/CSU-Fraktion. nicht über Details reden. Der Antrag enthält jedenfalls zwei klare Forderungen, denen ich nur zustimmen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erstens wird gefordert, eine internationale Untersuchung einzuleiten. Zweitens wird die Forderung erhoben, einen Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Weg zur Aufhebung der Blockade zu finden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hilfsaktionen für Gaza, die heute Gegen- (B) (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das steht da (D) alles drin!) stand der Debatte sind, waren ersichtlich nur der äußere Rahmen für das eigentliche Ziel dieser Aktion, nämlich – Warten Sie doch ein bisschen ab! – Wenn das die ge- die israelische Blockade zu durchbrechen. Es ist auch meinsame Position des Hauses ist, dann kann man rela- unstrittig, dass deswegen das Angebot abgelehnt worden tiv viel erreichen. ist, die Ladung auf dem Landweg nach Gaza zu bringen. Insoweit reden wir nicht von einer humanitären, sondern Für mich ist es ein Rätsel, wie die israelische Regie- von einer in erster Linie zu propagandistischen Zwecken rung so dauerhaft und nachhaltig gegen die Interessen veranstalteten Aktion. Es ging Ihnen nicht in erster Linie des eigenen Landes handeln kann. um die Menschen in Gaza, sondern es ging um die Kon- (Beifall bei der LINKEN) frontation mit Israel. Dieses Signal ist wichtig, um zu einer politischen Um- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kehr zu kommen. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es! Sehr richtig!) (Beifall bei der LINKEN) Auch wenn vonseiten der Linken Zustimmung zu Mit Sicherheit – das wird keiner bestreiten – werden die dem fraktionsübergreifenden Antrag signalisiert wird, Sicherheitsinteressen Israels zu beachten sein. Ich muss schon erwähnt werden, dass die Linke aktiv die möchte, dass meine Freunde in Israel wieder ins Café Provokation durch sogenannte Friedensaktivisten unter- gehen können, ohne Angst vor Selbstmordanschlägen stützt hat, die mit Waffen ausgestattet waren und islamis- haben zu müssen. Ich möchte, dass sich meine Freunde tischen Terrorgruppen zuzurechnen sind. in Palästina, im Westjordanland und in Gaza endlich im eigenen Land frei bewegen können. Das ist doch nicht (Zurufe von der Linken) zu viel verlangt. Das passt ins Bild, nachdem Vertreter der Linken immer (Beifall bei der LINKEN) wieder die Solidarität mit der radikal-islamistischen His- bollah und der Hamas bekundet haben. Eine Politik in diese Richtung zu öffnen, kann doch nur im Interesse des ganzen Hauses sein. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!) Das gehört zur ganzen Wahrheit dazu. Wir müssen klarmachen und uns wünschen, dass in diesem Friedensprozess möglichst alle politischen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Lesen Sie Kräfte einbezogen werden, damit er stabil ist. mal Ihren Antrag!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5389

Thomas Silberhorn (A) Deswegen sage ich ganz deutlich: Bevor Sie vonsei- genheiten und ging hin bis zu dem Vorgehen gegen die (C) ten der Linken sich auf das Völkerrecht berufen, müssen Gaza-Solidaritätsflotte. Sie sich schon die Frage stellen, welchen Aktionen Sie hier den Mantel des Gutmenschentums umhängen wol- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Vergessen len. Die Linke steht in einer bis heute ungebrochenen Sie Kollege Niebel nicht!) Tradition zur SED – zur Partei des Mauerbaus, des Immerhin sind Anzeichen für ein Umdenken erkenn- Schießbefehls, des Missbrauchs und der Missachtung bar. Die israelische Regierung hat beschlossen, eine unab- des Völkerrechts. hängige Untersuchungskommission zum Einsatz gegen (Widerspruch bei der LINKEN – Mechthild diese Flotte einzurichten. Der Bundestag unterstützt die Rawert [SPD]: Langsam wird es aber langwei- Forderung des UN-Generalsekretärs nach einer internatio- lig! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/ nalen Untersuchung des Einsatzes in seiner fraktionsüber- DIE GRÜNEN]: Darum geht es heute nicht!) greifenden Resolution ausdrücklich. Wir brauchen in der Tat eine rückhaltlose und objektive Aufklärung dieser Und dass die ach so friedliebende DDR ein Unrechts- Vo rgä n ge . staat war, wird bis heute von Ihnen ausdrücklich geleug- net. Deswegen sage ich ganz deutlich: Ihnen fehlt in die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ser Debatte jegliche Legitimation. Herr Präsident, da sich meine Redezeit dem Ende zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – neigt, darf ich darauf hinweisen, dass noch weitere sie- [SPD]: Langweilig!) ben Minuten für unsere Fraktion ausstehen, die ich gerne für mich in Anspruch nehmen würde, weil mein Kollege Ich darf Sie erinnern, was Gregor Gysi zum 60. Jah- nicht anwesend ist. restag der Gründung Israels im April 2008 erklärt hat. Er hat Kritik an der einseitigen Parteinahme der Linken im Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nahost-Konflikt geübt, und er hat erklärt, dass Solidari- Sie müssen sie nicht unbedingt in Anspruch nehmen; tät mit Israel zur deutschen Staatsräson gehöre. denn der andere Redner Ihrer Fraktion, der Kollege ( [DIE LINKE]: Ja, und?) Mißfelder, ist erschienen. Davon ist bis heute bei Ihnen wenig übriggeblieben. Denn wenn man dieser Auffassung ist, dann muss das Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Konsequenzen haben. Wenn die Sicherheit und das Exis- Ach, er ist hier; wunderbar. tenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson sind, dann hat das die Konsequenz, dass weder die Öffnung (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) des Gazastreifens noch eine weitergehende Friedenslö- Sie müssen also nicht filibustern. sung mit den Palästinensern zulasten der Sicherheit Is- raels gehen darf. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich würde gerne noch Herrn Allerdings müssen wir durchaus die Frage stellen, wie Mißfelder hören!) das israelische Sicherheitsinteresse zu definieren ist, was genau der Sicherheit Israels dient. Mit Blick auf einige Thomas Silberhorn (CDU/CSU): der Handlungen der israelischen Regierung in den letz- ten Monaten kann man sich des Eindrucks nur schwer Das ist mir leider entgangen. erwehren, dass manche in dieser Regierung israelische Ich darf dann abschließend nur noch ausführen, dass Sicherheitsinteressen fundamental anders definieren, als in einem weiteren Punkt ein Umdenken Israels erkenn- das etwa die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, bar ist, nämlich durch das Angebot Israels, die Positiv- weite Teile der internationalen Gemeinschaft und sogar liste durch eine sogenannte Negativliste zu ersetzen, also ein nicht unerheblicher Teil der israelischen Gesellschaft dadurch, nicht mehr zu bestimmen, welche Güter im selbst tun. Einzelnen in den Gazastreifen hineindürfen, sondern Das birgt durchaus zwei nicht zu unterschätzende Ge- umgekehrt festzulegen, was ausdrücklich nicht hinein- fahren: Zum einen kann es eine Eskalation dieses Kon- darf. Das ist ein wichtiger und konstruktiver erster flikts geben. Zum anderen liegt darin eine mögliche Be- Schritt, um hier weiterzukommen. lastung auch für die Koalition gegen das iranische Atom- Ich meine, dass wir sehr deutlich sehen müssen, dass programm und die iranischen Vormachtbestrebungen in eine dauerhafte Friedenslösung auch im Interesse Israels dieser Region, die auch Israel als die größte Gefährdung liegt. Alle Komponenten für eine Verhandlungslösung für die regionale Stabilität betrachtet. liegen seit Jahren auf dem Tisch. Jetzt tut der politische Ich meine, dass die israelische Regierung gespürt hat, Wille not, tatsächlich zu Ergebnissen zu kommen. Wenn dass sie zuletzt bei mehreren Gelegenheiten selbst engste man die Lage auf der palästinensischen Seite betrachtet, Freunde geradezu vor den Kopf gestoßen und zum Teil wird deutlich, dass die Situation dafür im Moment güns- sehr schwerwiegende Fragen aufgeworfen hat. Das be- tig ist. gann bei der Ankündigung während des Besuchs des US-Vizepräsidenten Biden, in Ostjerusalem neue Sied- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lungen zu bauen, reichte über die Behandlung des türki- Herr Kollege, Sie sollten Ihrem Kollegen nicht die schen Botschafters entgegen allen diplomatischen Geflo- Redezeit wegnehmen. 5390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Die israelische Regierung versucht – auch das müssen (C) Ich komme zu meinem letzten Satz. – Ich denke, dass wir anerkennen –, in der fragilen Situation, in der sich dieses Zeitfenster, das sich durch die Konstellation vor ihre Koalition befindet, Schlussfolgerungen zu ziehen. Ort bietet, jetzt genutzt werden sollte. Es ist richtig, dass jetzt eine Negativliste für den Gaza- streifen beschlossen worden ist, von der ich hoffe, dass Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. sie Anwendung finden wird, damit die humanitäre Situa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tion im Gazastreifen verbessert wird. Wir sollten hier Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE auch vermerken, dass die ägyptische Regierung versucht GRÜNEN]: Das wird aber angerechnet!) hat, in der schwierigen Situation eine konstruktive Rolle zu übernehmen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich glaube, wir müssen Israel deutlich machen, dass Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die durch die Abriegelung des Gazastreifens genau das Ge- SPD-Fraktion. genteil von dem erreicht wird, was Israel eigentlich er- reichen will. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN Dr. Rolf Mützenich (SPD): und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir schon gewünscht, dass man ein bisschen von Es ging damals um die Befreiung des entführten Solda- den vorbereiteten Redemanuskripten abgewichen wäre ten Schalit und darum, den Waffenhandel einzuschrän- und zu der aktuellen Situation, ken und die Hamas zu schwächen. All diese Ziele, die mit der Gaza-Abriegelung erreicht werden sollten, sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht erreicht worden. Herr Staatsminister, es ist die Auf- DIE GRÜNEN) gabe der Bundesregierung, dazu beizutragen – das kön- dass nämlich auch die Fraktion der Linken einem ge- nen wir aufgrund unserer besonderen Beziehungen zu Is- meinsamen Antrag zustimmen will – ich begrüße das –, rael –, dass dieses Problemfeld endlich von den zumindest das eine oder andere gesagt worden wäre. politischen Akteuren in Israel erkannt wird. Ich würde mir wünschen, dass sowohl die Bundeskanzlerin als (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem auch der Außenminister gegenüber der israelischen Re- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gierung noch aktiver werden würden, als sie das bisher Kollege Gehrcke, ich weiß um Ihre Arbeit innerhalb gewesen sind. (B) (D) Ihrer Partei. Sie bemühen sich, für die Interessen Israels Es ist richtig, dass wir die Rolle der Vereinten Natio- im Allgemeinen und auch für die Sicherheitsinteressen nen, der Europäischen Union und auch des Quartetts be- zu werben. Sie haben das gerade in Ihrer Rede noch ein- tont haben. Diese haben sich sehr stark aus der Verant- mal getan. Ich halte es für einen wesentlichen Fortschritt wortung lösen müssen, weil es nicht genügend im Vergleich zu anderen Legislaturperioden zuvor, wenn Fortschritte gegeben hat. Wenn das Quartett gerade auf- man bei einer so schwerwiegenden Frage hier im Deut- grund der Situation im Gazastreifen wieder eine Rolle schen Bundestag zu einem gemeinsamen Konsens spielt, dann stellt sich auch eine neue Herausforderung kommt. für die Europäische Union. Mit den neuen Strukturen in (Beifall bei der SPD, der FDP und dem der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik muss es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- gelingen, zwischen Israel und Palästina zu vermitteln geordneten der LINKEN) und in Bezug auf den Gazastreifen zu politischen Fort- schritten zu kommen. Wir können die humanitären Pro- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist bleme zum jetzigen Zeitpunkt nicht lösen; wir sollten gut, dass es gelungen ist, die vier Fraktionen zusammen- aber alles tun, damit die Situation der Menschen, die in zuhalten. Das war nicht so einfach. Kollege Mißfelder, diesem Konflikt von allen in Geiselhaft genommen wer- wir haben den einen oder anderen Anruf in dieser Hin- den, zumindest verbessert wird. Langfristig wird aber sicht erhalten. Ein Teil des Problems ist – das wird da- Hilfe nicht ausreichen. durch ersichtlich –, dass die unterschiedlichen Gruppen so stark in ihrer Vorstellung verhaftet sind, dass sie glau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben, diesen Konflikt nur aus ihrer Sichtweise heraus lö- der LINKEN) sen zu können, was dazu führt, dass Empathie fehlt. Langfristig wird eine Lösung nur gelingen, wenn die Umso mehr bin ich froh, dass zwischen diesen vier Frak- Menschen im Gazastreifen wieder ein wirtschaftliches tionen ein Konsens erreicht worden ist. Fundament finden. Dazu muss die Privatwirtschaft wie- Es ist richtig, dass die Situation in den letzten Wochen der funktionsfähig werden. zu Bewegung geführt hat. Herr Kollege Gehrcke, ich (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN glaube aber, das ist nicht allein wegen der Gaza-Flottille und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erfolgt, sondern wegen dieses schrecklichen Anlasses und auch wegen des unverhältnismäßigen Einsatzes von Ich bin froh, dass es gelungen ist, in dem gemeinsa- Gewalt in diesem Konflikt, durch den die Gewaltspirale men Antrag zu betonen, dass es nicht reicht, was die is- im Nahen Osten verstärkt wird. raelische Regierung jetzt unternommen hat, wenn auch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5391

Dr. Rolf Mützenich (A) der eine oder andere internationale Beobachter eingela- gegenüber der Hamas überdenken und die Frage klären, (C) den werden soll. Die Forderung der Vereinten Nationen wie wir damit umgehen. Wir führen im Grunde genom- und der Europäischen Union nach einer internationalen men auf Bitten der israelischen Regierung schon Gesprä- und transparenten Aufklärung, aus der auch Konsequen- che mit der Hamas wegen des entführten Soldaten Scha- zen gezogen werden müssen, muss erfüllt werden. Das lit. Aber wir müssen versuchen, uns aus diesen gilt insbesondere dann, wenn internationales Recht Widersprüchen zu befreien. Denn hinter der Hamas verletzt worden ist; denn internationales Recht ist die droht, so glaube ich, vielleicht noch eine viel größere Richtschnur für das Handeln Deutschlands und der Herausforderung, die wir im Gazastreifen immer wieder Europäischen Union, aber auch für das Handeln des de- gesehen haben. Deswegen würde ich mir wünschen, dass mokratischen Staates Israel. Auch er muss sich interna- wir darüber im Auswärtigen Ausschuss sprechen. tionalem Recht unterwerfen. Insbesondere bin ich froh, dass es gestern zu einem (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN Treffen von Vertretern der türkischen und der israeli- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schen Regierung gekommen ist; denn wir werden die bei Abgeordneten der CDU/CSU) türkische Regierung weiterhin für eine Vermittlung in diesem Konflikt brauchen. Ich würde mich freuen, wenn Herr Staatsminister, der deutsche Außenminister hat die Bundesregierung das unterstützen würde. die Einladung des israelischen Kabinetts angenommen, in den Gazastreifen zu reisen. Es darf nicht bei einer Ganz herzlichen Dank. Showveranstaltung bleiben. – Sie schütteln den Kopf. Ich kenne die neuesten Informationen nicht. Vielleicht (Beifall im ganzen Hause) sollte ich zurückhaltender formulieren. – Der Besuch darf keine Showveranstaltung werden. Ich hätte mir ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wünscht, dass die israelische Regierung auch andere Das Wort hat nun Kollege Rainer Stinner von der europäische Regierungen eingeladen hätte, und zwar so- FDP-Fraktion. wohl solche, die innerhalb der Europäischen Union große Verantwortung tragen, als auch solche, die eine kritischere Haltung gegenüber Israel einnehmen, als wir Dr. Rainer Stinner (FDP): – ich habe eben über unsere historische Verantwortung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gesprochen – das tun. Auch das wird zu der geforderten fraktionsübergreifende Antrag, den wir heute beraten, Transparenz gehören. Das müssen wir im europäischen hat ja schon im Vorfeld durchaus Öffentlichkeitswirkung Rahmen deutlich machen. erreicht; darüber ist völlig zu Recht berichtet worden. Denn das, was wir hier erleben, ist tatsächlich eine neue (B) (D) (Beifall bei der SPD) Qualität gemeinsamer deutscher Außen- und Sicher- Der Gazastreifen ist das vorherrschende Problem, heitspolitik. Ich würdige das ausdrücklich. Ich möchte über das wir reden. Wir müssen aber auch daran erin- insbesondere unserer Kollegin Frau Müller ganz herzlich nern, dass die US-amerikanische Regierung vielleicht für ihren Beitrag dazu danken. Er war hervorragend. nicht das letzte Mittel, aber eines der letzten Mittel ein- (Beifall im ganzen Hause) setzt, um die Gespräche zwischen der Regierung Fajjad und Präsident Abbas auf der einen Seite und der israeli- Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Das begrüße schen Regierung auf der anderen Seite voranzubringen. ich außerordentlich. Das ist gut. Ich sage aber auch ganz klar: Die Zeit läuft weg. Es stehen letztlich nur noch ganz wenige Wochen Auch Ihnen ist es vielleicht so gegangen wie mir: Ich zur Verfügung. Wir müssen aufpassen, dass wir durch habe in den letzten Tagen eine ganze Reihe von Briefen unsere Politik die Spaltung der palästinensischen Gesell- und Mails von besorgten Menschen überwiegend aus is- schaft nicht noch verstärken. raelorientierten Organisationen bekommen. Die müssen wir natürlich ernst nehmen. Deswegen lassen Sie mich Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch einleitend sehr deutlich sagen, was dieser Antrag nicht einmal appellieren: Ich glaube, dass das Abkommen von beinhaltet. Mekka, das ein wichtiger Punkt für die nationale Ein- heitsregierung in Palästina gewesen ist, durchaus wieder Er beinhaltet erstens keine endgültige, abschließende auf die Tagesordnung gehört. Wir müssen auch gegen- Bewertung der Ereignisse vom 31. Mai, über den palästinensischen Fraktionen dafür werben, (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Ja, klar!) dass eine Regierung der nationalen Einheit die einzige Chance sondern die eindeutige Forderung nach einer internatio- nalen Untersuchung. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) für eine anhaltende und gerechte Friedenslösung in Pa- Zweitens. Er beinhaltet nichts, was die berechtigten lästina ist – und dann auch zum Nutzen Israels. Sicherheitsinteressen Israels in irgendeiner Weise ver- nachlässigt. Ganz im Gegenteil: Wir weisen in diesem Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen. Wir ha- Antrag gemeinsam bestimmt fünfmal auf die wirklich ben während der Aktuellen Stunde über die Situation im berechtigten israelischen Interessen hin. Das haben wir Gazastreifen gesprochen, aber auch über die Rolle des immer wieder dort, wo wir es tun konnten und sollten, politischen Islam. Ich glaube, wir müssen unsere Rolle sehr deutlich formuliert. 5392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Dr. Rainer Stinner (A) Drittens ist ganz bedeutsam für uns alle: Dieser An- schen uns, dass das Quartett und damit auch die Europäi- (C) trag bedeutet natürlich in keinster Weise – in keinster sche Union in diesem wichtigen Konflikt eine stärkere Weise! – irgendein Abrücken von dem gemeinsamen Rolle spielen. Konsens im Deutschen Bundestag über unsere historisch (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des bedingte besondere Beziehung zum Staat Israel. Die ist Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) von diesem Antrag in keinster Weise grundsätzlich be- rührt. Das möchte ich sehr deutlich sagen. Ich bitte Sie, Herr Staatsminister, das mit Ihren Mitteln zu unterstützen und in Europa entsprechend voranzutrei- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD ben. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) In diesem Antrag geht es nicht mehr und nicht weni- ger um die dringend gebotene Verbesserung der Lebens- Die Ereignisse vom 31. Mai, so tragisch sie waren bedingungen im Gaza. Wir hatten heute Morgen wieder – ich erinnere an die Toten –, haben etwas in Gang ge- mit John Ging beim Frühstück ein interessantes Ge- bracht. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen: spräch, in dem er uns eindrücklich geschildert hat, wel- Die Diskussion heute Abend führen wir eigentlich nur che miserablen Bedingungen humanitärer Art im Ga- infolge der Diskussion, die vor drei Wochen dazu statt- zastreifen herrschen. Das Wichtige daran ist erstens die gefunden hat; gar keine Frage. Sie hat einen Prozess des humanitäre Frage, die gelöst werden muss. Die ist aber Überlegens in Gang gebracht. Ich bin sehr froh darüber, mit welcher Konsequenz unser Minister Niebel seine in vielen Teilen der Welt ähnlich schlimm. Hinzu kommt Position vertreten hat. Er hält es für völlig inakzeptabel, aber zweitens: Wir sind der festen Überzeugung, dass dass es, nachdem Deutschland im Gazastreifen mit Zu- die Negativsituation im Gazastreifen gegen die Interes- stimmung Israels, zum Teil sogar auf Wunsch Israels hu- sen Israels gerichtet ist und dass sie insbesondere die In- manitäre Projekte durchführt, einem deutschen Minister teressen der Hamas fördert. Denn der Hamas ist es durch nicht erlaubt sein soll, diese Projekte zu besuchen. Es die Blockade, die wir erleben, gelungen, eine Tunnel- war richtig, dass Minister Niebel darauf deutlich reagiert und Schattenwirtschaft aufzubauen, bei der sehr viel hat. Das muss möglich sein. Es ist notwendig, dass wir Geld fließt und sehr viele Leute reich werden. Der für hier so klar Position beziehen. Ich bedanke mich bei die Entwicklung des Gazastreifens dringend notwendige Minister Niebel ausdrücklich für diese klare und deutli- Aufbau einer tragenden Wirtschaft im Gazastreifen wird che Haltung. dadurch aber nicht erreicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich sage sehr deutlich: Nach unserem Dafürhalten er- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- höht die Verbesserung der Lebenssituation im Gazastrei- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) fen gerade auch die Sicherheit Israels. Auch deshalb ist (D) es so wichtig, dass wir hier entsprechend vorankommen. Wir alle wissen, dass speziell Minister Niebel völlig unverdächtig ist, was Israel angeht. Er gehört – ich darf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das einmal so sagen – zu den Hardlinern unter den Is- der CDU/CSU) rael-Unterstützern. Wenn ihm hier der Kamm schwillt, dann ist, glaube ich, wirklich etwas geschehen. Es ist Deshalb sagen wir im Antrag gemeinsam ganz deut- ganz wichtig, dass wir diese Botschaft senden. lich: Es reicht nicht aus, die Zahl der Lkws von 140 auf etwa 160 zu erhöhen. Es geht darum, grundsätzlich an Wir stehen für den gemeinsamen Antrag. Ich bin froh der Blockade zu arbeiten und sie zu beseitigen, um bes- darüber, dass wir das geschafft haben. Damit ist ein Be- sere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Das ist ganz ginn gemacht; dies ist kein Ende. Wir stehen als Deut- wichtig, und daran müssen wir gemeinsam arbeiten. scher Bundestag, als FDP-Fraktion weiterhin dafür: Wir wollen europäische Initiativen und deutsche Initiativen „Gemeinsam arbeiten“ heißt für mich natürlich, dass in diesen wichtigen Friedensprozess einbringen. Wir ste- dies nicht nur Deutschland tut. Es ist schön, dass wir die- hen dafür, dass wir dabei sehr wohl die berechtigten In- sen gemeinsamen Antrag haben – das ist völlig klar –, teressen der beteiligten Parteien berücksichtigen. Aber aber wir sollten unsere Rolle im Rahmen der Europäi- wir wollen Fortschritt, wir brauchen Fortschritt, und wir schen Union sehen. Herr Staatsminister, falls Sie noch werden unseren Beitrag dazu leisten. eine Unterstützung des Parlaments brauchen, um die eu- ropäischen Institutionen, insbesondere Frau Ashton, an- Vielen Dank. zustoßen, ein bisschen mehr zu tun, kann ich Ihnen ver- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und sichern: Die Unterstützung durch unsere Fraktion hätten dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie dafür. Wir würden die notwendige Hilfestellung ge- ben. Ich sage das so deutlich, weil ich den Energy Level Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – um es auf Neudeutsch zu sagen – der Europäischen Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Müller für die Union für überschaubar halte. Hier kann und muss noch Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. mehr geschehen. Ich bin dankbar, Herr Staatsminister, dass die Bundes- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- regierung seit Monaten betont, dass sie die Rolle des NEN): Quartetts stärken will. Das ist völlig richtig. Aber ich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kann bisher noch nicht so Auch ich bin sehr froh, Herr Stinner, Herr Mützenich, richtig erkennen, dass das auch geschieht. Wir alle wün- Herr Mißfelder Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5393

Kerstin Müller (Köln) (A) (Zuruf von der LINKEN: Herr Gehrcke!) Die Blockade hat bisher die Hamas sowie andere Ex- (C) tremisten gestärkt und eben nicht geschwächt. Das kann – er hat daran nicht mitgearbeitet, aber ich sage gleich die UNO sehr deutlich daran darstellen, dass eine ille- noch etwas dazu –, dass es uns gelungen ist, einen An- gale Schattenwirtschaft durch die Tunnel errichtet trag der vier Fraktionen zustande zu bringen. Ich möchte wurde, die nun die Hamas stärkt und diejenigen mich bei Ihnen ganz herzlich bedanken. schwächt, die nicht mit der Hamas kooperieren wollen und die die illegalen Güter, die über diese Tunnel in den Ich glaube, dass es ein ausgewogener Antrag ist – Sie Gazastreifen kommen, nicht kaufen wollen, um zum haben es gerade erwähnt –, bei dem wir einerseits wirk- Beispiel Schulen zu bauen. Es ist wirklich absurd, zu lich die Sicherheitsinteressen Israels im Blick haben und sehen, dass diese Blockade de facto eine Blockade der in dem wir andererseits ganz konkret Vorschläge dazu UNO ist, die sagt: „Wir kaufen dieses illegale Material machen, wie, mit welchen Schritten man die humanitäre nicht, auch wenn wir damit Schulen errichten könnten“, Lage der Menschen in Gaza verbessern kann. aber gleichzeitig – heute habe ich von John Ging diese Ich begrüße es, dass dieser Antrag schon von der Zahl noch einmal gehört – 40 000 Flüchtlingskinder ab- Bundesregierung aufgegriffen wurde; denn Herr Niebel lehnen muss, weil die UNO-Schulen überlaufen sind. hat sich auf seiner Reise, an der Parlamentarier aus allen Diese Kinder gehen dann in die Koranschulen der Ha- Fraktionen teilgenommen haben, bereits auf den Antrag mas. bezogen, obwohl er erst heute beschlossen wird. So Was macht das für einen Sinn? Es macht keinen Sinn. wünschen wir uns das. Man schwächt diejenigen, die aktiv gegen das Islamisie- rungsprojekt der Hamas und anderer im Gazastreifen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist vorgehen wollen. Das darf nicht sein. Deshalb brauchen auch mal etwas!) wir eine schrittweise Öffnung, und zwar sowohl eine Ich habe das schon öffentlich erklärt und will es auch Öffnung über den Landweg als auch parallel dazu Ver- hier im Deutschen Bundestag noch einmal sagen: Auch handlungen über einen Transport von UN-Gütern über ich war nicht damit einverstanden, dass man dem Ent- den Seeweg. Das hat John Ging noch einmal deutlich wicklungshilfeminister den Zugang nach Gaza verwei- gemacht. gert hat. Wir führen dort Entwicklungsprojekte durch. Ich will hier noch kurz darauf eingehen, dass es die Wir haben vor, ein Klärwerk zu bauen, das sehr wichtig Sorge gibt, damit würden die Sicherheitsinteressen Is- und entscheidend für die dortigen Lebensbedingungen raels nicht gewahrt. Wir sagen hier sehr klar: Das soll ist. In diesem Fall muss es ihm möglich sein, sich anzu- mit Israel vereinbart werden. Die Idee ist, dass entweder schauen, was dort gebaut wird. in Aschdod oder in Zypern eine Kontrolle stattfindet und (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei erst dann die Schiffe nach Gaza gelassen werden. Damit (D) der CDU/CSU, der SPD und der FDP) würde man erstens einen unbürokratischen Zugang schaffen und zweitens denjenigen den Wind aus den Se- Meine Damen und Herren von der Linken, ich bin geln nehmen, die vielleicht unter ganz anderer politi- froh, dass Sie sich entschlossen haben, diesem Antrag scher Flagge demnächst wieder auf Gaza zusteuern wol- zuzustimmen. Ich hatte heute ein Gespräch mit John len. Das ist der Charme der Idee, zusätzlich einen Ging, dem Leiter von UNRWA. Ich weiß nicht, ob einige Seeweg zu eröffnen. Ich würde mich freuen, wenn auch von Ihnen ebenfalls die Gelegenheit dazu hatten; er ist das möglich wäre und wenn sich die Europäische Union, auch morgen noch einmal hier. Er ist begeistert davon, auch ausgehend von unserem Antrag, hierfür einsetzen dass gerade von Deutschland ein solches Signal ausgeht. würde. Er hat noch einmal betont, dass er auf eine interfraktio- Letzter Punkt. Wir sehen in Europa zunehmend eine nelle Initiative hofft – die natürlich stärker wird, wenn antiisraelische Stimmung. Ich halte es auch deshalb für alle dabei sind; ich sage das für meine Fraktion sehr klar. wichtig, dass wir mit konkreten Initiativen – das hat Da können alle mal über ihren Schatten springen. Dann John Ging heute noch einmal deutlich gesagt – nach hat dies nämlich eine andere Bedeutung in Europa. Auch vorne blicken und sehen, wie man die Lage verbessern die Chance, in Europa gehört zu werden, wird größer, kann. weil gerade die Deutschen mit ihrem besonderen Ver- hältnis zu Israel hier natürlich immer eine besondere Rolle spielen müssen. Diese Rolle nehmen wir wahr, in- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dem wir diesen Antrag gemeinsam auf den Weg bringen. Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Dafür möchte ich mich bei allen bedanken. (Beifall im ganzen Hause) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir sind uns einig, dass die Gaza-Blockade beendet In diesem Sinne freue ich mich, wenn wir heute eine werden muss. Sie ist inhuman. Sie ist aber auch politisch breite Zustimmung zu unserem Antrag bekommen. kontraproduktiv, weil sie nicht im Interesse Israels ist. Wenn sie es denn wäre, würde man vielleicht noch einen Vielen Dank. anderen Blick darauf haben. Sie hat die Ziele aber nicht erreicht. Leider ist Gilad Schalit immer noch nicht be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, freit. Auch der Raketenbeschuss konnte nicht gestoppt bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- werden. ordneten der CDU/CSU) 5394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schiffe dort (C) Das Wort hat nun Kollege Philipp Mißfelder für die kontrollieren und weiterfahren lassen!) CDU/CSU-Fraktion. Allein schon diese technische Frage darf man nicht au- (Beifall bei der CDU/CSU) ßer Acht lassen. Das zeigt erneut, dass die Aktionen, die im Zusammenhang mit der Flottille geschehen sind, Philipp Mißfelder (CDU/CSU): nicht in erster Linie dazu dienten, Hilfsgüter nach Gaza Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zu bringen, sondern vielmehr mediale Aufmerksamkeit Herren! Frau Müller, zunächst möchte ich Ihnen für Ihre und propagandistische Effekte im Blick hatten. Auch das Initiative danken. Es handelt sich um einen fraktions- ist zumindest nach heutigem Stand bei dieser Debatte zu übergreifenden Antrag. Nach den Vorfällen um die beachten. Gaza-Flottille haben wir im Auswärtigen Ausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) frühzeitig miteinander gesprochen. Um es nicht zu ver- schweigen: Sie haben den Anstoß für diese Debatte ge- Für uns – das hat unsere Bundeskanzlerin in ihrer geben und die Idee zu einem fraktionsübergreifenden Rede am 18. März 2008 vor der Knesset zum 60. Jahres- Antrag gehabt. tag der Gründung des Staates Israel deutlich gemacht – Dem haben wir nach Diskussionen in unserer Frak- stehen die Sicherheitsinteressen Israels an erster Stelle. tion gerne zugestimmt, weil wir bei der Diskussion im Wortwörtlich hat die Bundeskanzlerin gesagt: Auswärtigen Ausschuss und vielen anderen Gelegenhei- … das Bewusstsein für die historische Verantwor- ten festgestellt haben, wie groß und wie breit der Kon- tung und das Eintreten für unsere gemeinsamen sens bei diesem Thema eigentlich ist. Werte – das bildet das Fundament der deutsch-is- Selbst wenn in der Außendarstellung häufig der Ein- raelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis druck entsteht, dass die Linkspartei grundsätzlich ande- heute. rer Meinung sei, so glaube ich doch, Herr Gehrcke, dass gerade auch die Wortbeiträge, die Sie schon an verschie- Deshalb ist es auch richtig, dass es zu unserer Staats- denen Stellen abgegeben haben, keinen Zweifel daran räson gehört, die besonderen Beziehungen zu Israel lassen, dass Sie sich auf einem ähnlichen, gemeinsamen nicht nur in Worthülsen zu kleiden, sondern auch mit Le- Boden befinden, wie wir das tun. Das gilt für Ihre Frak- ben zu füllen. Das bedeutet, dass wir zu jedem Zeit- tion allerdings nur eingeschränkt. Diesen Eindruck habe punkt, auch bei der Betrachtung der Situation in Gaza, ich leider häufig. Ich wünschte mir, dass Sie sich viel- die legitimen Sicherheitsinteressen von Israel im Blick leicht hätten überwinden können, unseren Antrag zu un- haben. (B) (D) terstützen und auf Ihren eigenen Antrag heute zu ver- Trotzdem darf natürlich die Frage der politischen Im- zichten. plikationen nicht außer Acht gelassen werden. Man darf Nichtsdestotrotz wollen wir dafür werben, dass die wohl sagen – Herr Mützenich, Frau Müller, Rainer Debatte in Zukunft mit großer Ernsthaftigkeit weiterge- Stinner, wir haben uns in dieser Legislaturperiode mit führt wird. Auch der bisherige Verlauf dieser Debatte hat vielen Freunden aus Israel bei vielen Gelegenheiten da- ja gezeigt, dass wir den sachlichen Blick auf die Tatsa- rüber unterhalten und das Ganze auch mit viel Empathie chen behalten wollen und unseren Grundsätzen treu blei- begleitet –, dass wir als Freunde Israels selbstverständ- ben wollen, was die Ausrichtung der Politik gegenüber lich auch die politische Dimension des israelischen Han- unseren Freunden in Israel angeht. delns im Blick haben und uns deshalb als Freunde auch ein klares, offenes Wort erlauben. Insofern möchte ich Vor diesem Hintergrund möchte ich, ähnlich wie der Bundesregierung danken, dass sie in ihrer unmittel- Rainer Stinner es schon gemacht hat, auf die Reaktionen baren Reaktion auf die Vorfälle rund um die Gaza-Flot- im Vorfeld verweisen: Bevor die Drucksache vorlag, tille diese Grundhaltung zum Ausdruck gebracht hat. wurde der eine oder andere von uns schon von Personen aus Israel nahestehenden Bewegungen gefragt: Was (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) steckt eigentlich hinter diesem Antrag, von dem wir in der Zeitung gelesen haben? Welche Zielrichtung verfolgt Es geht in unserem Antrag nicht um die simple Forde- er? Ist denn gesichert, dass die Sicherheitsinteressen Is- rung nach Aufhebung der Blockade. Vielmehr muss raels im Mittelpunkt der Beratungen stehen? – Zu kei- auch die Sicherheit der Menschen in Israel garantiert nem Zeitpunkt der Beratungen des Antrags hat dies ein werden, und zwar durch ein Grenzkontrollregime, durch geringe Rolle gespielt, sondern dies stand immer – das die Waffenlieferungen nach Gaza strikt unterbunden war fraktionsübergreifend der Fall – im Mittelpunkt un- werden können. Deshalb fordern wir in unserem Antrag serer Überlegungen. die Bundesregierung auf, den UN-Generalsekretär zu bitten, unter Berücksichtigung dieser Interessen im Ein- Ich möchte in dieser Debatte auch klar sagen, dass es vernehmen mit Israel gemeinsam den Prozess einzulei- wahrscheinlich, zumindest nach unserem heutigen Dis- ten, dass Güter dorthin auf dem Seeweg eingeführt wer- kussionsstand, technisch nur möglich sein wird, eine den können. Seeverbindung nach Gaza einzurichten, wenn man so verfährt, dass die Güter der Schiffe in Aschdod gelöscht Wie wichtig die heutige Debatte ist, sieht man auch werden und nach entsprechenden Kontrollen nach Gaza daran, dass ein großer Teil des Hauses diesen Antrag un- eingeführt werden. terstützt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5395

Philipp Mißfelder (A) Ich begrüße ausdrücklich die Ankündigung der israe- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines (C) lischen Regierung, dass die Blockade gelockert werden Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartner- soll. Auch glaube ich, dass Ägypten an dieser Stelle eine schaftsgesetzes und anderer Gesetze im Be- besondere Würdigung erfahren muss: Dass Ägypten eine reich des Adoptionsrechts gute und konstruktive Rolle in diesem Prozess spielt, da- für danke ich vielen engagierten Vertretern in Ägypten. – Drucksache 17/1429 – Überweisungsvorschlag: All unsere Bemühungen reichen allerdings noch nicht Rechtsausschuss (f) aus, um das große Ziel von Frieden und gemeinsamem Innenausschuss Miteinander zu erreichen. Darum müssen sich alle noch Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mehr bemühen, als sie es ohnehin schon tun. Deshalb ist b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker der Dank immer mit der Aufforderung verbunden, mehr Beck (Köln), Katja Dörner, Ekin Deligöz, weite- zu tun und nichts zu unterlassen, was zu einer weiteren rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Annäherung führen kann. NIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Die revidierte Fassung des Europäischen Über- der Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] und einkommens über die Adoption von Kindern Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE unterzeichnen GRÜNEN]) – Drucksache 17/2329 – Eines ist klar: Mit der heutigen Debatte und dem ge- Überweisungsvorschlag: meinsamen Antrag setzen wir ein Zeichen. Wir zeigen, Rechtsausschuss (f) dass es uns wichtig ist, die Konflikte gemeinsam an der Auswärtiger Ausschuss Seite Israels zu lösen. Gerade vor dem Hintergrund unse- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rer historischen Verantwortung und unserer Geschichte, Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die in der heutigen Zeit nicht von Schuld, sondern von diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – großer Verantwortung geprägt ist, geht es darum, gemein- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich sam die Ziele des Friedens zu erreichen. Ich finde, unser um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ute Antrag ist dabei sehr hilfreich. Granold, Johannes Kahrs, Stephan Thomae, Michael (Zuruf von der LINKEN: Unserer aber auch!) Kauch, Dr. Barbara Höll, Volker Beck.1) Ich bedanke mich noch einmal bei den Fraktionen, die Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen daran mitgewirkt haben. auf den Drucksachen 17/1429 und 17/2329 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, (B) Herzlichen Dank. wobei die Vorlage auf Drucksache 17/2329 federführend (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie im Rechtsausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- NISSES 90/DIE GRÜNEN) weisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich schließe die Aussprache. richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/2259 mit dem dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk Titel „UN-geführte Untersuchung des israelischen An- Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter griffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofortige Aufhe- und der Fraktion der SPD bung der Blockade“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Illegalen Holzeinschlag und Holzhandel durch Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist eine durchgreifende EU-Verordnung wirksam mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der verhindern Fraktion Die Linke abgelehnt. – Drucksachen 17/1962, 17/2315 – Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Berichterstattung: Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2328 mit Abgeordnete Alois Gerig dem Titel „Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären – Petra Crone Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nahost-Frie- Dr. Christel Happach-Kasan densprozess unterstützen“. Wer stimmt für diesen An- Dr. Kirsten Tackmann trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An- Cornelia Behm trag ist einstimmig angenommen. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die (Beifall im ganzen Hause) Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Alois Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: Gerig, Petra Crone, Dr. Christel Happach-Kasan, a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Behm. Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weite- ren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 1) Anlage 67 5396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Alois Gerig (CDU/CSU): Behörden Zulieferer bzw. Abnehmer nennen können. Da- (C) Die Europäische Union beabsichtigt, im Rahmen des mit wird sichergestellt, dass die Rückverfolgbarkeit in der Aktionsplans „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung Handelskette gewährleistet ist, gleichzeitig aber nicht alle und Handel im Forstsektor“, Forest Law Enforcement, Marktteilnehmer übermäßigen Dokumentationsaufwand Governance and Trade – FLEGT, durch eine neue Ver- betreiben müssen. ordnung Regelungen für den Handel mit Holz zu treffen. Ziel der neuen Verordnung ist es, den illegalen Holzein- Auch Waldbesitzer in Deutschland, die aus ihrem schlag zu bekämpfen. Illegaler Holzeinschlag ist inner- nachhaltig bewirtschafteten Wald Holz gewinnen und halb der EU kein ausgeprägtes Problem. In den Mit- vermarkten, sind Erstinverkehrbringer. Das Bundes- gliedstaaten ist in der Regel gewährleistet, dass kein waldgesetz, die Waldgesetze der Länder, die Forstver- Raubbau am Wald betrieben wird. In anderen Teilen der waltungen und nicht zuletzt die ganz überwiegende Welt hingegen stellt der illegale Holzeinschlag ein gra- Anzahl von verantwortungsbewussten Waldbesitzern vierendes Problem dar – er trägt erheblich zur weltwei- sorgen dafür, dass in Deutschland der Wald nachhaltig ten Waldzerstörung bei. Die Nachfrage nach Holz in Eu- bewirtschaftet wird und illegaler Holzeinschlag so gut ropa ist dafür mitverantwortlich. Die CDU/CSU wie keine Rolle spielt. Besondere Nachweispflichten für unterstützt deshalb das Vorhaben, den Handel mit Holz Waldbesitzer erscheinen mir deshalb nicht angezeigt. Es durch eine EU-Verordnung zu regeln und so gegen den ist der Bundesregierung zu verdanken, dass in der Ver- illegalen Holzeinschlag vorzugehen. ordnung illegaler Holzeinschlag in Deutschland wie in anderen EU-Mitgliedstaaten als ein vernachlässigbares Die Einigung über einen Verordnungsentwurf erwies Risiko eingestuft wird und dadurch erheblicher bürokra- sich als sehr schwierig. Die Kommission hatte im Okto- tischer Aufwand für die Waldbesitzer abgewendet wer- ber 2008 einen ersten Entwurf vorgelegt. Erst am den konnte. 10. Juni dieses Jahres konnten Parlament, Rat und Kommission im Rahmen eines Trilogs die letzten Streit- Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff. punkte ausräumen und sich auf einen Verordnungsent- Es ist zu erwarten, dass die stoffliche und energetische wurf verständigen. Die Einigung steht am 7. Juli im Eu- Holznutzung in den kommenden Jahren zunehmen wird. ropäischen Parlament zur Abstimmung. Im Herbst will Dies ist auch erforderlich, wenn wir unsere ehrgeizigen sich der Rat abschließend mit der Verordnung befassen. Klimaschutzziele erreichen wollen. Gleichzeitig wollen Es ist damit zu rechnen, dass Parlament und Rat der wir, dass Waldbesitzer die biologische Vielfalt im Wald Verordnung zustimmen. schützen, den Wald auf den Klimawandel vorbereiten und den Wald als Erholungsraum für Menschen erhal- Der Antrag der SPD-Fraktion enthält zahlreiche For- ten. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, die circa (B) derungen, die die Bundesregierung auf EU-Ebene 2 Millionen privaten Waldbesitzer nicht mit neuer Büro- (D) durchsetzen soll. Da sich die Bundesregierung engagiert kratie zu belasten. in die Verhandlungen eingebracht hat, macht es keinen Sinn, sie mit diesem Antrag zum Handeln aufzufordern. Ein weiterer Punkt, der mir am Herzen liegt, ist das Außerdem sind die Verhandlungen sowohl innerhalb des Handelsverbot für illegal geschlagenes Holz. Man kann Rates als auch zwischen Rat und Parlament abgeschlos- darüber streiten, wie wirkungsvoll ein solches Verbot ist. sen. Somit besteht für die Bundesregierung derzeit keine Ein Vermarktungsverbot wäre nur schwer umzusetzen, Möglichkeit, sich für die gestellten Forderungen einzu- da im Einzelfall der illegale Einschlag, also der Rechts- setzen. Aus diesen Gründen kann die CDU/CSU den An- bruch im Drittland, nachgewiesen werden müsste. Dies trag nicht unterstützen. Der Antrag würde höchstens ist derzeit in aller Regel nicht gerichtsfest möglich. Aus Sinn machen, wenn das Europäische Parlament die Ver- meiner Sicht ist ein Handelsverbot dennoch wichtig. Eu- ordnung ablehnt und die Verordnung neu verhandelt ropa muss ein klares Zeichen setzen, dass wir illegalen werden müsste. Dies ist nach meiner Auffassung nicht Holzeinschlag nicht akzeptieren und unseren Teil dazu nur unwahrscheinlich. Es ist auch nicht wünschenswert. beitragen, die globale Waldzerstörung aufzuhalten. Der Verordnungsentwurf, auf den sich Kommission, Rat Weltweit schreitet die Zerstörung der Wälder sehr und Parlament geeinigt haben, ist ein tragfähiger und schnell voran. Jährlich gehen 13 Millionen Hektar Na- guter Kompromiss, der nicht mehr verändert werden turwälder verloren – insbesondere in den Tropen. Wald- sollte. Um in der Bekämpfung des illegalen Holzein- zerstörungen gefährden nicht nur die Biodiversität – schlags voranzukommen, wäre es sicher nicht hilfreich, auch die für den Klimaschutz notwendige Kohlenstoff- wenn der Bundestag den Kompromiss infrage stellte. speicherung der Wälder wird erheblich abgesenkt. Es Auch dies spricht dafür, den vorliegenden Antrag abzu- wird also höchste Zeit, dass die EU Regelungen gegen lehnen. den Handel mit illegal geschlagenem Holz trifft. Zwei- fellos ist es ein Schwachpunkt des Kompromisses, dass Zu den gelungenen Regelungen in der geplanten die Verordnung erst in 27 Monaten wirksam werden soll. Verordnung gehört die Rückverfolgbarkeit in der Han- Leider konnte sich die Bundesregierung mit ihrer Forde- delskette. Natürlich sollten alle Marktteilnehmer dafür rung nach einer früheren Inkraftsetzung nicht durchset- sensibilisiert sein, dass ihre Handelsware Holz nicht aus zen. illegalem Einschlag stammt. In der geplanten Verordnung werden besondere Sorgfaltspflichten sinnvollerweise dem In der Gesamtbewertung bleibt aber festzuhalten, Erstinverkehrbringer auferlegt. Für die übrigen Markt- dass die geplante Verordnung wirkungsvolle Regelungen teilnehmer werden einfache Informationspflichten vorge- gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz vor- schrieben. Sie müssen bei Kontrollen der zuständigen sieht, ohne die legale und nachhaltige Waldbewirtschaf-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5397

Alois Gerig (A) tung in Deutschland unverhältnismäßig zu belasten. So- Die Sorgfaltspflichtregeln für den Erstinverkehr- (C) wohl die Umweltverbände als auch die Waldbesitzer bringer des Holzes sind um das Kriterium des ver- können mit dem erzielten Kompromiss leben. Ich danke nachlässigbaren Risikos ergänzt. Dieses wurde auf aus- der Bundesregierung, dass sie die Einigung engagiert drücklichen Wunsch des BMELV aufgenommen, um die vorangetrieben hat und die Verabschiedung dieser wich- deutschen Kleinstbetriebe bzw. mittelständischen Be- tigen Verordnung nun in greifbare Nähe rückt. triebe rechtlich abzusichern. Wir stimmen mit dem Euro- päischen Parlament überein, dass es eines „negligible risk“ nicht bedürft hätte. Das vernachlässigbare Risiko Petra Crone (SPD): wird in der Verordnung selbst nicht definiert, was bei Das Verbot für den Handel mit Holz aus illegaler mir die Sorge hervorruft, dass damit rechtliche Unsi- Herkunft wird kommen. Dies ist das erfreuliche Ergeb- cherheiten eher verstärkt als minimiert werden. Den nis aus den Trilogverhandlungen auf europäischer bürokratischen Aufwand, den unsere deutschen Klein- Ebene. Mit der erreichten Einigung wird endlich eine waldbesitzer sowie die kleinen und mittelständischen Grundlage gegen die weltweite Zerstörung von Wäldern Holzfirmen durch die Sorgfaltspflichtregelung leisten geschaffen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, dass müssten, sehe ich eher in geringen und überschaubaren das zuständige Ministerium unter der Leitung von Ilse Maßen. Genügen würde in den meisten Fällen doch die Aigner sich doch noch bewegt hat, um auch den eigenen Handelsrechnung, der Lieferschein oder der Grund- Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP zu erfüllen. buchauszug, der meinen Wald ganz legal als mein Ei- Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde das Ministe- gentum ausweist. rium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- schutz die Maßnahmen gegen illegal geschlagenes Tro- Erfreulich an der EU-Verordnung ist, dass die Rück- penholz verschärfen. Mit unserem Antrag wollten wir verfolgbarkeit für Holz und Holzprodukte über die der Regierungskoalition die Gelegenheit geben, sich am gesamte Lieferkette in Form von einfacher Informa- tionspflicht gewährleistet ist. Wir hätten uns für die Da- eigenen Anspruch zu messen. Schließlich besitzt tenerhebung jedoch eine stärkere Berücksichtigung der Deutschland auf EU-Ebene gewichtiges Stimmenpoten- Art der Waren gewünscht. Eine Produktspezifikation, zial, um auch andere europäische Partner zu bewegen. wie sie bei der Sorgfaltspflicht erforderlich ist, fehlt. Aus Die Zustimmung zu den Zielen des Antrags war im Aus- Sicht der SPD-Bundestagsfraktion wäre es aus Gründen schuss erfreulicherweise in allen Parteien vorhanden. eben der Rückverfolgbarkeit sehr naheliegend, wenn Aber um ein Ziel zu erreichen, kann eine Instrumenten- Art. 4 a eine Ergänzung um einen Punkt c erfahren auswahl nicht ausbleiben. In unserem Antrag haben wir würde, aus dem hervorgeht, was genau gekauft bzw. die Maßnahmen vorgestellt, die eine Verordnung auf (B) gehandelt wurde. Bestand die Ware aus Rund- oder (D) europäischer Ebene benötigt, um nicht als Makulatur zu Schnittholz? Die Antwort auf diese Frage könnte in der enden. Rückverfolgbarkeit und Identifikation entlang der Han- Schlussendlich müssen die Verbraucher und Verbrau- dels- und Verarbeitungskette von eklatanter Bedeutung cherinnen durch die Verordnung in die Lage versetzt sein. Es ist sehr bedauerlich und unverständlich, dass die EU-Verordnung die indigenen Völker nur noch als werden, eine bewusste Kaufentscheidung für legal ge- „dritte Interessengruppe“ definiert, obwohl zuneh- schlagenes Holz zu treffen. Tropenholzmöbel sind aus mende Abholzung des Regenwalds deren Lebensweise meiner Sicht bis heute nur dann akzeptabel, wenn sie mit massiv bedroht. Der Durchsetzung und Einhaltung der dem Gütesiegel des FSC ausgezeichnet sind. Menschen- und Landrechte indigener Völker ist nicht Zur EU-Verordnung selbst. An erster Stelle stand für gedient, wenn wir verklausulieren, statt zu benennen. uns das Verbot des Handels mit illegalem Holz und ille- Alles in allem ist die EU-Verordnung gegen den Han- galen Holzprodukten. Bisher blieb der Import von ille- del mit illegalem Holz auf dem europäischen Markt trotz galem Holz in die Europäische Union und damit auch Mängel ein guter Startpunkt, doch der Weg bis zum Ziel nach Deutschland ungeahndet. Dies wird sich zumindest ist noch weit. Schwachstellen sind die Ausnahmerege- für den Erstinverkehrbringer des Holzes ändern. Durch lungen, zum Beispiel für Papier. Hier wird hoffentlich in das Verbot, mit illegalem Holz zu handeln, wird der den nächsten Jahren noch nachgebessert. Der gesamte Nachweis von Legalität zur Pflicht. Wir hätten diese Waldflächenverlust der Erde beläuft sich laut Berech- Nachweispflicht gern für alle Marktteilnehmer die ge- nungen der Welternährungsorganisation, FAO, auf jähr- samte Lieferkette entlang gesehen, aber das Verbot für lich etwa 13 Millionen Hektar. Dies entspricht ungefähr den Erstinverkehrbringer ist alles in allem erfreulich. der Größe Griechenlands. Deutschlands Wälder mit ins- Die FDP hatte ein Verbot noch in den Beratungen unse- gesamt 110 000 Quadratkilometern wären innerhalb res Antrags abgelehnt. Ich finde, dass von dieser Rege- eines Jahres gerodet. An dieser Stelle möchte ich den lung eine hohe Symbolkraft von einer Region wie zahlreichen Umweltorganisationen danken. Es ist deren Europa ausgeht. Wir senden damit ein Zeichen, dass wir großer Verdienst, dass sie die Problematik des illegal ge- es nicht dulden, wenn illegales Holz vorsätzlich oder be- schlagenen Holzes in das Bewusstsein der Entschei- wusst oder grob fahrlässig auf den Markt gebracht wird. dungsträger und in die öffentliche Diskussion gebracht Damit flankieren wir die Bemühungen auch in den Län- haben. Vielen Dank dafür. Es bedarf nun eines coura- dern selbst und zeigen, dass uns das Thema wirklich gierten Arbeitsprogramms, um den Raubbau an den ernste Anstrengungen wert ist. Wäldern zu stoppen.

Zu Protokoll gegebene Reden 5398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Schwerpunkt der Nachweispflichten liegt auf dem (C) Die Erhaltung von Primärwäldern weltweit ist ein Erstinverkehrbringer. Sie gewährleisten die vom Parla- wichtiges Ziel. Für die Menschen vor Ort stellen intakte ment geforderte Rückverfolgbarkeit von illegalen Holz- Urwälder die Lebensgrundlage dar. Sie schützen den produkten. Die Kennzeichnung jedes einzelnen Holzblei- Boden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvolle stifts, jedes einzelnen Holzspielzeugs konnte abgewehrt nachwachsende Rohstoffe. Sie sorgen für eine bessere werden. Gleichzeitig werden mit der Einführung eines Luftqualität und produzieren Sauerstoff. Aber vor allem Verbots des Handels mit illegalen Holzprodukten berech- sind naturnahe Wälder die wichtigsten und größten Re- tigte Forderungen der Umweltschutzverbände, bezogen servoire der Artenvielfalt weltweit. Diese Schatzkam- auf die Erstinverkehrbringer, berücksichtigt. Die verein- mern der biologischen Information sind zudem entschei- fachten Informationspflichten für die Handelskette ver- hindern einen bürokratischen Papierkrieg. Diesem Ziel dend an der Speicherung von atmosphärischem CO2 beteiligt. Insbesondere die Rodung von Flächen für den dient auch das Streichen der Pflicht des Nachweises von Anbau von Soja, die Weidehaltung und die Anlage von Recyclingprodukten. Die Einbeziehung dieses umfang- Palmölplantagen, aber auch der illegale Holzeinschlag reichen Feldes hätte eine kaum zu überblickende Auswei- bedrohen die wertvollen Waldflächen. Der Waldverlust tung der Kontrollen und des bürokratischen Aufwandes ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südostasiens und bedeutet. Südamerikas erheblich, Satellitenbilder verdeutlichen Die EU hat im Jahr 2006 zwar ungefähr ein Drittel ih- die gravierenden Verluste. Zudem verfolgen nur wenige res Rohholzes aus Drittstaaten importiert, ist aber welt- Staaten außerhalb der EU eine nachhaltige Forstpolitik. weit gesehen nicht der größte Importeur von Holz und Holzprodukten. Für uns ist daher die Frage berechtigt, Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei der wie effektiv der Einfluss europäischer Regelungen auf Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holz- den weltweiten Holzhandel ist. Wir mussten in der Ver- handels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihres gangenheit feststellen, dass beispielsweise die Zertifizie- Rohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Wir rung der Waldbewirtschaftung in Ländern ohne gute Re- müssen ein gemeinsames Interesse daran haben, dass es gierungspraxis, ohne starke Regierungen nicht den sich hierbei um legales Holz, gewonnen aus nachhalti- erhofften Erfolg gebracht hat. Eine Reihe von Ländern, ger Bewirtschaftung, handelt. Wir als FDP haben uns beispielsweise China, ist nach wie vor bereit, nichtzerti- immer ausdrücklich gegen den illegalen Holzeinschlag fiziertes Holz oder solches mit fragwürdigen Dokumen- und -handel ausgesprochen. Zur Ergänzung der 2005 im ten in riesigen Mengen zu importieren und zu verarbei- Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT, Forest Law ten. Vor diesem globalen Hintergrund unterstützt die Enforcement, Government and Trade, vorgesehenen FDP vor allem die Strategie, parallel zu den Handelsver- Maßnahmen, speziell der angestrebten freiwilligen Part- (B) boten über freiwillige Partnerschaftsabkommen mit (D) nerschaftsabkommen, Voluntary Partnership Agree- Drittstaaten eine nachhaltige und sozial gerechte Wald- ments – VPA, und der Einfuhrbeschränkungen ist eine bewirtschaftung im Sinne einer fairen Entwicklungshilfe Verordnung zum Stopp des Imports von illegal geschla- voranzutreiben. Der Raubbau an wertvollen Urwaldflä- genem Holz in die EU eine denkbare Option. Daher un- chen kann nur durch eine Verbesserung der Lebenssitua- terstützen wir die Bemühungen von EU-Parlament, tion der Menschen vor Ort gestoppt werden. Ohne die Kommission und Ministerrat, im Trilog über die Ausge- Teilnahme der betroffenen Menschen in diesen Staaten staltung einer Verordnung über den Holzhandel zu einer kann eine nachhaltige Waldbewirtschaftung nicht er- vernünftigen, wirkungsvollen und umsetzbaren Lösung reicht werden. zu kommen. Wir freuen uns, dass es den europäischen Institutionen Die FDP begrüßt den im Botschafterausschuss von unter Beteiligung der Bundesregierung gelungen ist, zu EU-Parlament, Kommission und Ministerrat beschlos- einem zielführenden Ergebnis zu kommen. Der Kompro- senen ausgewogenen Kompromiss. Dieser Durchbruch miss wird voraussichtlich Anfang Juli im EU-Parlament bei den Verhandlungen über das europaweite Verbot verabschiedet werden. Ich bin überzeugt, dass damit ein illegalen Holzhandels ist eine gute Nachricht für den Instrument geschaffen wird, das helfen kann, den Raub- Klima- und Urwaldschutz. bau der wertvollen Urwälder einzudämmen, insbeson- dere wenn es der EU gelingt, über Partnerschaftsabkom- Wir haben uns immer für sinnvolle und praktikable men mit möglichst vielen Staaten nachhaltige und Lösungen starkgemacht: Die jetzt erzielte Lösung be- effektive bilaterale Vereinbarungen zu treffen. Aus den inhaltet wirksame Kontrollmaßnahmen mit vertretbaren genannten Gründen sind wir der Meinung, dass sich die bürokratischen Belastungen für die betroffenen Akteure. Grundlage des Antrags der SPD-Fraktion durch die Deswegen freuen wir uns, dass die Verordnung nun unser Kompromissvorschläge im Komitologieverfahren aufge- Vertrauen in nachhaltig wirtschaftende Kleinwaldbesit- löst hat. Wir lehnen den Antrag der SPD somit ab. zer ausdrückt. Die Einführung des Begriffs des „ver- nachlässigbaren Risikos“ führt zu einer vereinfachten Nachweispflicht. Die Kleinwaldbesitzer müssen nicht Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): mehr gesondert nachweisen, dass sie ihr Holz tatsächlich Seit drei Wochen rollt der Ball. Endlich einmal eine legal geschlagen haben. Hier musste die Verhältnismä- Fußballweltmeisterschaft in Afrika. Wir haben das eine ßigkeit gewahrt bleiben. Angesichts von 1 Million Klein- oder andere wirklich schöne Spiel gesehen. Fanfeste waldbesitzern in Deutschland ist dies eine wichtige Ent- wurden gefeiert, Tore bejubelt, Bier getrunken, Würste scheidung, die Bürokratielasten mindert. gegrillt. Gute Stimmung und Gartenpartys standen die

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5399

Dr. Kirsten Tackmann (A) letzten Wochen auf dem Programm. Bei aller Freude- überarbeitet werden müssen. Dabei sollten einige (C) trunkenheit wird der Blick auf die Herkunft der Produkte Punkte, die jetzt unter den Tisch gefallen sind, einbezo- um uns herum jedoch gerne vernebelt. Ich finde es nicht gen werden. Beispielsweise: Bücher, Zeitungen und an- nur wichtig, zu wissen, wer die Grillwürstchen herge- dere Druckerzeugnisse müssen in die Regelungen einge- stellt hat und wie die Nutztiere vorher gelebt haben. Ich schlossen sein. Doch natürlich bietet sich auch hier die finde es nicht nur wichtig, zu wissen, wo das Bier ge- – meiner Meinung nach sinnfreie – Möglichkeit, illega- braut wurde und ob die Landwirtinnen und Landwirte les tropisches Holz auf den europäischen Markt zu brin- für ihre Braugerste einen fairen Preis erhalten haben. gen. Das muss kritisch im Auge behalten werden. Ich finde es genauso wichtig, zu wissen, ob die Holz- kohle aus einer legalen und nachhaltigen Waldbewirt- Die Linke unterstützt den Antrag der SPD. Er fasst schaftung stammt und ob die Gartenmöbel vielleicht aus die auch aus unserer Sicht nötigen Kriterien einer wirk- illegalem Raubbau stammen. Gerade Gartenmöbel wer- samen EU-Verordnung zusammen. Dass nur Teile davon den oft aus tropischen Hölzern hergestellt. Diese ver- wirklich umgesetzt werden, anstatt alle Forderungen zu sprechen durch ihr langsames Wachstum und damit här- erfüllen, ist zu kritisieren. Aber es ist wichtig, dass nun teres Holz eine längere Lebensdauer für Stühle, Tische das Gesetzgebungsverfahren zum Holzhandelsgesetz ab- und Liegen. geschlossen wird. Diesen Antrag hätten wir problemlos gemeinsam einreichen können, wahrscheinlich sogar zu Doch so einfach ist das nicht. Man kann sich leider dritt. Das ist leider – noch nicht – gewollt. Dem Antrag nicht sicher sein, dass alles mit rechten, also ökologisch stimmen wir trotzdem zu. und sozial verantwortungsvollen Dingen zugegangen ist. Illegaler Raubbau in den Wäldern des Südens und teilweise auch Ostens ist immer noch auf der Tagesord- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nung, leider. Illegaler Raubbau muss geächtet werden. Die Einigung von Kommission, Rat und EU-Parla- Ihm ist durch wirksame Handelseinschränkung die ment über eine europäische Holzhandelsverordnung Grundlage zu entziehen. Genau vor dieser Aufgabe steht Mitte dieses Monats kam – um ehrlich zu sein – überra- die Europäische Union. Darüber wurde in den vergan- schend schnell. Ich hatte mit einem längeren Gezerre ge- genen Monaten trefflich gestritten. Im Rahmen der EU- rechnet, und ich nehme an, meinen Parlamentskollegen Gesetzgebung könnte mittels einer wirklich wirksamen ging es nicht viel anders. Vor diesem Hintergrund kann EU-Verordnung ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung man sagen: Dieser Antrag, mit dem die SPD die vorge- des illegalen Raubbaus geleistet werden. Wirklich wirk- legte Holzhandelsverordnung im Rahmen des FLEGT- same Maßnahmen – beispielsweise die Kontrolle der ge- Plans verschärfen wollte, kam gerade noch rechtzeitig. samten Wertschöpfungskette in Kombination mit einem Diesen SPD-Antrag haben wir von Anfang an unter- (B) Verbot des Handels mit illegalem Holz – wurden lange stützt, weil die von der Kommission vorgeschlagenen (D) von der Bundesregierung und anderen Mitgliedstaaten Sorgfaltspflichten für Holzhändler ohne ein Importver- im Agrarministerrat blockiert. Doch das beständige bot für illegales Holz unvollständig und unzureichend Lobbying von WWF, Greenpeace, Robin Wood und an- gewesen wären. Nach dieser Einigung ist der vorlie- deren Umwelt- und Naturschutzverbänden hat Wirkung gende Antrag nahezu gegenstandslos geworden, aber gezeigt. Auch die Oppositionsfraktionen von SPD, Grü- nur nahezu; denn die abschließende Bestätigung der Ei- nen und Linken haben die Bundesregierung immer wie- nigung durch das EP und den Ministerrat stehen noch der aufgefordert, sich einer wirksamen Verordnung nicht aus. Theoretisch könnte diese Einigung also noch schei- länger in den Weg zu stellen. Die nun zu erwartende EU- tern. An dieser Stelle möchte ich jedoch an alle Beteilig- Verordnung auf EU-Ebene darf gerne als Erfolg dieses ten appellieren, die Einigung zu bestätigen. Aus meiner gemeinsamen Engagements gewertet werden. Denn Sicht lohnt es sich, diesen im Trialogverfahren erzielten Deutschland ist in der EU immer ein wichtiger Taktge- Kompromiss zu beschließen. Denn gegenüber der Kom- ber, sowohl beim Befördern von Ideen als auch beim missionsvorlage und dem Ministerratsvotum konnten Blockieren von Vorschlägen. entscheidende Verbesserungen durchgesetzt werden. So wird die Verordnung zukünftig im Kern ein Importverbot Nun ist der Weg für ein europäisches Holzhandelsge- für illegales Holz beinhalten. Außerdem muss Holz auf setz frei. Kommission, Parlament und Ministerrat der dem EU-Markt zukünftig eine nachweisbare Herkunft Europäischen Union haben sich auf einen gemeinsamen haben. Bei Verstößen sollen Strafen verhängt werden. Entwurf für ein solches Gesetz verständigt. Ich hoffe, dass der euphorischen Meldung des WWF: „EU nimmt Die seit Jahren geführte Diskussion um ein nationa- Kampf gegen illegalen Holzhandel auf“ eine wirksame les oder ein EU-weites Verbot von illegalem Holz hat da- EU-Verordnung folgen wird. Der Kompromissentwurf mit hoffentlich ein vorläufiges Ende gefunden. Mit die- soll im Juli vom Parlament und im Herbst vom Minister- ser Forderung sind wir in der letzten Legislaturperiode rat verabschiedet werden. Danach muss ernsthaft und regelmäßig an einer schwarz-gelben Mehrheit geschei- wirksam an der Umsetzung in den einzelnen Mitglied- tert, die alle Vorstöße in diese Richtung hat an sich ab- staaten gearbeitet werden. Darauf wird die Linke die tropfen lassen, ohne sich auch nur je einmal zur Forde- kommenden Jahre achten. rung nach einem EU-weiten Importverbot für illegal geschlagenes Holz zu bekennen. Von daher bin ich froh, Bei aller Freude über den bevorstehenden Abschluss dass wir nun hoffentlich einige Schritte weiter sind. der EU-Verordnung, möchte ich trotzdem schon mal Nachbesserungsbedarf anmelden. Mittelfristig wird Nun müssen die neuen Regelungen zunächst erst ein- diese Verordnung auf ihre Wirksamkeit überprüft und mal in Kraft treten und ein paar Jahre lang wirken, da-

Zu Protokoll gegebene Reden 5400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Cornelia Behm (A) mit man beurteilen kann, ob sie ausreichend sind oder Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und (C) ob eine Nachbesserung notwendig ist. Der sechs Jahre Geschäftsordnung Rechtsausschuss nach Inkrafttreten von der Kommission vorzulegende Ausschuss für Arbeit und Soziales Bericht sollte dafür genutzt werden, diese Zwischenbi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend lanz zu ziehen und gegebenenfalls einen neuen legislati- Ausschuss für Gesundheit ven Prozess in Gang zu setzen. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re- An dieser Stelle kann ich natürlich nicht verhehlen, den zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Re- dass wir Grüne mit dieser Einigung keineswegs voll- den der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Dr. Thomas ständig zufrieden sind, sondern noch weitergehende Feist, Rudolf Henke, René Röspel, Dr. Martin Neumann, Forderungen und Vorstellungen hatten. Das fängt schon Dr. Petra Sitte, Priska Hinz. mit der viel zu langen Frist von 27 Monaten bis zum In- krafttreten der Regelungen an. In der Sache sind wir nicht wirklich überzeugt davon, dass die Maßnahmen Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): auf die Erstinverkehrbringer konzentriert werden und Am 26. November des letzten Jahres hat der Deutsche dass für die nachgelagerte Handelskette nur einfache Ethikrat seine erste Stellungnahme zur anonymen Kin- Informationspflichten gelten sollen. Problematisch ist desabgabe veröffentlichtet. Am 15. Juni dieses Jahres es, dass Betriebe mit vernachlässigbarem Risiko von folgte die zweite Stellungnahme zu Humanbiobanken in Nachweisverfahren entbunden werden sollen, weil diese der Forschung. Diese beiden Beispiele zeigen, dass sich Ausnahme ein Schlupfloch für die Einschleusung von il- nicht nur beim wissenschaftlichen Fortschritt neue ethi- legalem Holz sein kann. Spätestens wenn ein Betrieb sche Fragestellungen, sondern dass sich in allen gesell- mehr Holz vermarktet, als er nachhaltig ernten kann, schaftlichen Bereichen ethische Fragen ergeben, welche wäre mein Misstrauen geweckt. Da dieser Betrieb je- die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Ge- doch von jeglicher Nachweisverpflichtung befreit ist, er- setzgeber vor zahlreiche Herausforderungen stellen. fahre ich das nicht. Und besonders kritisch sehen wir, dass Druckerzeugnisse von den Regelungen ausgenom- Ich habe die jüngst veröffentlichten Stellungnahmen men sein sollen. Denn das heißt, dass in diesem Markt- intensiv gelesen und bin den Mitgliedern des Deutschen segment keine Vorkehrungen gegen den Einsatz illega- Ethikrates dankbar, dass sie mit diesen Ausarbeitungen len Holzes getroffen werden müssen. anerkannten Sachverstand in die gesellschaftliche und politische Debatte einbringen. Es war richtig, dass der Aus diesem Grund werden wir Grüne die neue Verord- Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Einrichtung des nung sehr genau daran messen, ob sie den hohen Erwar- Deutschen Ethikrates im Jahr 2007 ein unabhängiges tungen tatsächlich gerecht wird und den Import illegalen Expertengremium geschaffen hat, welches das Parla- (B) Holzes in die EU stoppen kann oder ob Änderungen not- ment und die Bundesregierung berät. Zur parlamentari- (D) wendig sind. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der schen Begleitung und Unterstützung der Debatten des Frage, ob die Sanktionen bei Verstößen für eine Wirk- Deutschen Ethikrates wurde vom Deutschen Bundestag samkeit der Verordnung ausreichend sein werden. Aber in der letzten Wahlperiode zusätzlich der Parlamentari- auch die Frage, ob es richtig war, bestimmte Holzpro- sche Beirat zu Fragen der Ethik insbesondere der Le- dukte von den Regelungen auszunehmen, muss mit Ein- benswissenschaften, Ethikbeirat, eingesetzt. schränkungen im Rahmen einer Zwischenbewertung noch einmal überdacht werden. Im Tätigkeitsbericht des Ethikbeirates der letzten Wahlperiode wurde die Erforderlichkeit einer parlamen- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tarischen Begleitung der Beratungen über ethische Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- Grundsatzfragen und der Arbeit des Deutschen Ethikra- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- tes durch alle Fraktionen anerkannt. Auch aus den Dis- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- kussionen in der letzten Wahlperiode zur Einrichtung sache 17/2315, den Antrag der Fraktion der SPD auf des Deutschen Ethikrates ist deutlich geworden, dass Ei- Drucksache 17/1962 abzulehnen. Wer stimmt für diese nigkeit in diesem Hohen Hause über die Notwendigkeit Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- besteht, ethische Fragestellungen in den politischen haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Entscheidungsprozess verantwortlich mit einzubeziehen. men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Ich teile somit die Einschätzung, dass die Berücksichti- der drei Oppositionsfraktionen angenommen. gung ethischer Fragen eine wesentliche Aufgabe der Politik darstellt und dass der Kontakt zum Deutschen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Ethikrat daher unerlässlich ist. Ich komme allerdings nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Tä- Beratung des Antrags der Abgeordneten René tigkeitsbericht über die Arbeit des Ethikbeirates zu der Röspel, Priska Hinz (Herborn), Dr. Petra Sitte, Überzeugung, dass dies auf anderen Wegen besser ge- Kerstin Andreae und weiterer Abgeordneter lingen wird als durch die Wiedereinsetzung dieses Gre- Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats miums. Aus diesem Grund kann sich die Fraktion der zu Fragen der Ethik (Ethikbeirat) CDU/CSU dem vorliegenden Gruppenantrag nicht an- schließen. – Drucksache 17/1806 – Persönlich bin ich der Meinung, dass sich alle Abge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und ordneten mit den Fragen der Ethik im politischen Ent- Technikfolgenabschätzung (f) scheidungsprozess befassen müssen. Hierfür sind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5401

Dr. Thomas Feist (A) direkte Kommunikationswege zwischen dem Ethikrat Ich halte die direkten Möglichkeiten der Kommunika- (C) und dem Deutschen Bundestag – und zwar ohne Ein- tion zum Deutschen Ethikrat für die bessere Variante als schaltung eines weiteren Gremiums – wichtig. Bei der die verengte Kommunikation über ein zusätzliches Gre- Einrichtung des Deutschen Ethikrates war es das er- mium wie den Ethikbeirat. Daher begrüße ich es aus- klärte Ziel, den Deutschen Ethikrat als Beratungsinstanz drücklich, dass der Deutsche Ethikrat angekündigt hat, für alle Abgeordneten zu profilieren. Wir dürfen daher in regelmäßigen Abständen parlamentarische Abende als Abgeordnete nicht die Verantwortung für die Ent- und andere thematische Veranstaltungen zu organisie- scheidung von ethischen Fragestellungen auf wenige ren, um mit den Abgeordneten ins Gespräch zu kommen. Parlamentarier delegieren. Die Befürchtung, dass der Der erste parlamentarische Abend im März dieses Ethikbeirat nicht als Scharnier, sondern eher als Fla- Jahres war bereits ein voller Erfolg. Die Vielzahl der an- schenhals für ethische Fragen auf dem Weg in den Deut- wesenden Mitglieder des Deutschen Bundestages hat schen Bundestag fungiert, ist nicht von der Hand zu wei- deutlich gezeigt, wie groß das Interesse der Politiker am sen. Diese Befürchtung wurde auch nicht durch die direkten Kontakt mit den Sachverständigen ist. Die Mit- Tätigkeit dieses Gremiums in der letzten Legislatur- glieder des Deutschen Ethikrates diskutierten mit den periode entkräftet. Eher bestätigt sich der Eindruck, Abgeordneten über die von ihm abgegebenen Stellung- dass der Ethikbeirat die breite Auseinandersetzung der nahmen und informierten über weitere Vorhaben. Da- Abgeordneten mit der Thematik erschwert hat. Ein wei- rüber hinaus boten sie an, die Abgeordneten auch durch terer Kritikpunkt: Ich halte ich es nicht für zielführend, persönliche Stellungnahmen in den jeweiligen Aus- dass der Ethikbeirat sich auf dem Wege der Selbstbefas- schüssen zu unterstützen. sung selbst Themenschwerpunkte suchen, Anhörungen Die Diskussion mit den Mitgliedern des Ethikrates in durchführen und inhaltliche Empfehlungen abgeben den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und auf kann. Es ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll, hiermit parlamentarischen Abenden oder auf anderen Veran- quasi ein parlamentarisches Gegengremium zum Deut- staltungen des Deutschen Ethikrates halte ich für den schen Ethikrat zu institutionalisieren, welches sich mög- zweckmäßigeren Weg, um die Arbeit des Deutschen licherweise parallel mit ähnlichen Themen beschäftigt Ethikrates parlamentarisch zu begleiten und ethische und zu unterschiedlichen Empfehlungen kommen kann. Fragestellungen im politischen Prozess zu berücksichti- Dies ist weder zweckmäßig noch effizient, vor allem gen. Ich stelle fest, dass sich der Ethikbeirat nicht be- wenn man bedenkt, dass der Deutsche Bundestag dem währt hat. Es ist legitim, Gremien, die ihre Aufgabe Deutschen Ethikrat im Jahr 2009 knapp 1,7 Millionen nicht erfüllen konnten, nicht wieder einzusetzen. Gerade Euro für seine Arbeit zur Verfügung gestellt hat. in diesem Fall gibt es bessere Wege, um die parlamenta- Im parlamentarischen Diskussions- und Entschei- rische Begleitung ethischer Fragestellungen sicher zu (B) dungsprozess muss deutlich werden, dass alle Abgeord- stellen. Die Nichtwiedereinsetzung des Ethikbeirates (D) neten gleichermaßen gefordert sind, sich über ethische verbindet aus meiner Sicht höchstmögliche Durchlässig- Problemstellungen zu informieren und eigenverantwort- keit der beiderseitigen Kommunikation mit der Entbüro- lich Entscheidungen zu treffen. Es muss dabei aber der kratisierung des parlamentarischen Betriebes und spart Verantwortlichkeit jedes Parlamentariers überlassen finanzielle Mittel in Zeiten knapper Haushaltskassen sein, wie und in welchem Umfang die Empfehlungen des ein, die zum Betrieb des Ethikbeirates notwendig wären. Ethikrates in der eigenen Arbeit zum Tragen kommen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich daher dem Antrag auf Die Wiedereinsetzung des Ethikbeirates würde dagegen eine Wiedereinsetzung des Ethikbeirates aus guten den Eindruck erwecken, dass der Deutsche Bundestag Gründen nicht anschließen. die wichtigen Fragen der Ethik an ein Gremium wegde- legiert, welches stellvertretend für die Abgeordneten tä- Rudolf Henke (CDU/CSU): tig wird. Ich möchte an dieser Stelle aus der Rede des Im Zuge des raschen Fortschritts und wachsender Bundestagspräsidenten, Dr. Nobert Lammert, vom Möglichkeiten in der medizinischen Forschung gibt es 9. November 2006 zur Einsetzung des Deutschen Ethik- ständig neue Therapieansätze und Diagnoseverfahren, rates zitieren: die Heilung von bisher nicht oder nur begrenzt heilbaren Erkrankungen ermöglichen oder zumindest in Aussicht Wir können alle miteinander kein Interesse daran stellen. Manche dieser Entwicklungen werfen ethische, haben, dass der Eindruck entsteht, es gebe im Deut- gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische schen Bundestag eine kleine Anzahl von Ethik- und rechtliche Fragen nach den voraussichtlichen Fol- experten, aber der große Rest sei bei ethischen Fra- gen für den Einzelnen und die Gesellschaft auf, die sich gen entweder nicht interessiert oder indifferent. Im im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwick- Übrigen wäre dies nicht nur ein verheerender, son- lungen im Bereich der Lebenswissenschaften und ihrer dern auch ein falscher Eindruck, der insbesondere Anwendung auf den Menschen ergeben. Uns allen ist die in dieser Kombination kaum akzeptabel wäre. Spannung zwischen Stammzellforschung und Embryo- nenschutz präsent. Solche Fragen berühren unser Ver- Diesen prinzipiellen Punkt möchte ich vor dem Hin- ständnis von Gesundheit, Krankheit, Behinderung sowie tergrund des Gruppenantrages noch einmal unterstrei- unsere verfassungsrechtliche Verantwortung für den chen. Ethische Fragestellungen müssen von den Abge- Schutz der Würde des Menschen. ordneten in den Ausschüssen, im Plenum des Deutschen Bundestages und im Dialog mit den Experten des Deut- Hier handelt es sich um einen vielfältigen Themen- schen Ethikrates diskutiert werden. kreis, der zum Beispiel die Möglichkeiten und Grenzen

Zu Protokoll gegebene Reden 5402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Rudolf Henke (A) der Medizin an der Schwelle zwischen Leben und Tod, In ethischen Fragen sind wir alle in diesem Parla- (C) der Organspende, die Frage des Verhältnisses von Auf- ment dazu verpflichtet und dafür verantwortlich, sich wand und Erfolg einzelner Behandlungen auch im Blick gewissenhaft und sehr genau abwägend mit jedem ein- auf die Kosten und damit einhergehend die Verteilung zelnen Thema zu befassen. Zur Gewissensbildung kön- von Gesundheitsgütern oder auch Rechte und Pflichten nen wir die Stellungnahmen und Empfehlungen des beim Impfen berührt. Das jüngste Urteil des Bundesge- Deutschen Ethikrates heranziehen. Unser Urteil müssen richtshofs zum Abbruch künstlicher Ernährung während wir jedoch auf Grundlage unserer eigenen ethischen und eines Wachkomas erinnert uns aktuell an die Tragweite moralischen Vorstellungen und Wertungen bilden. und Schwierigkeit derartiger Fragen. Es ist notwendig, dass diese Themen, die unsere ethi- René Röspel (SPD): sche Haltung zu Gesundheit, Krankheit und Behinde- Synthetische Biologie, Nanobiotechnologie, die rung berühren, von Abgeordneten des Deutschen Bun- Grenzen der Sterbehilfe oder die Nutzung knapper Res- destages wahrgenommen und thematisiert werden. sourcen im Gesundheits- und Pflegewesen – durch Fort- schritte insbesondere im Bereich der modernen Lebens- Begleitet und beraten werden wir seit 2007 bei der wissenschaften werden wir als Gesellschaft und als Bearbeitung und Erörterung solcher Fragen vom Deut- Politik seit Jahren vor alte wie neue ethische Herausfor- schen Ethikrat. Dieses Gremium, das bewusst ohne Mit- derungen gestellt. Das wohl bekannteste Beispiel für glieder aus dem Kreis der Abgeordneten eingerichtet diese Entwicklung ist die jahrelange Debatte über die wurde, hat die Aufgabe, dem gesamten Parlament in ak- Chancen und Grenzen der Forschung an und mit tuellen Fragen der Lebenswissenschaften zur Verfügung menschlichen embryonalen Stammzellen. Diese Pro- zu stehen. bleme und Herausforderungen muss ein technikbeglei- Unsere Fraktion ist zu dem Ergebnis gekommen, dass tendes und -gestaltendes Parlament in gesetzgeberi- es dafür keiner weiteren parlamentarischen Institution sches Handeln übersetzen. bedarf, die eine Art „Scharnierfunktion“ innehätte, in- Wir legen heute in erster Lesung dem Deutschen Bun- dem sie etwa aktuelle bio- und medizinethische Themen destag den unterschriftenstärksten Gruppenantrag in sammelt, um sie dann an den Deutschen Ethikrat weiter- der Geschichte unseres Parlaments zur Beratung vor. zuleiten. 241 Abgeordnete haben mit ihrer Unterschrift diesen Ich denke, dass die Möglichkeiten eines solchen Bei- Antrag unterzeichnet. Dies ist ein starkes Signal für eine rats von manchen seiner Befürworter überschätzt wer- aktive Rolle des Parlaments in den kommenden Beratun- den. gen über ethische Herausforderungen insbesondere in (B) den Lebenswissenschaften. (D) Im Unterschied dazu brauchen wir einen direkten Dialog zwischen den Mitgliedern des Deutschen Ethik- Mit der Ersetzung des vom Bundeskabinett von Kanz- rats und dem Parlament. Hierfür ist aber keine „Vor- ler Gerhard Schröder eingesetzten Nationalen Ethikra- instanz“ nötig. tes durch einen Deutschen Ethikrat hat die damalige Ko- alition von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007 einen Unser Bundestagspräsident Norbert Lammert hat guten Schritt getan, um die Legitimation des Ethikrates einmal gesagt, dass wir – alle Abgeordneten des Deut- auszuweiten und gesetzlich festzuschreiben. Dies war schen Bundestages – kein Interesse daran haben kön- ein richtiger Schritt, um die Beratungstätigkeit des nen, dass der Eindruck entsteht, es gäbe im Parlament Ethikrates zu verstetigen. Heute ist der Deutsche Ethik- nur eine kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der rat das auch international sichtbarste biomedizinische große Rest sei bei ethischen Fragen entweder nicht inte- und bioethische Beratungsgremium in Deutschland. ressiert oder indifferent. Ein Parlamentarischer Beirat erweckt jedoch genau diesen Eindruck, da nur eine be- Wir als SPD haben uns damals immer dafür einge- grenzte Anzahl von Abgeordneten aller Fraktionen in setzt, dass der Ethikrat als Beratungsgremium parla- diesem Gremium zusammenarbeiten würden. mentarisch angebunden sein muss, wenn seine Empfeh- lungen in politische Beratungen und – gegebenenfalls – Es gibt, wie schon erwähnt, eine Vielzahl von ethi- politisches Handeln einfließen sollen. Daher haben wir schen Themen, die wir in diesem Hause aufgreifen und uns als Mitglieder der SPD-Fraktion – gegen Wider- bearbeiten müssen. In der Vergangenheit wurde deut- stände vonseiten der CDU und CSU – für einen Ethik- lich, dass die Mehrzahl der Themen aufgrund ihrer ho- beirat eingesetzt und tun dies auch heute. hen Komplexität in die Zuständigkeit mehrerer Fachaus- schüsse fallen. Daher ist eine fachliche Befassung und Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des eine intensive ressortübergreifende Bearbeitung im ge- Gruppenantrages setzen sich für einen Ethikbeirat ein, samten Deutschen Bundestag statt in geschlossenen Zir- der stärker als in der vergangenen Legislaturperiode keln erforderlich. Somit ist es sinnvoll, den Kontakt und auch eigene inhaltliche Akzente setzen kann. In der ver- die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ethikrat zu in- gangenen Wahlperiode hat der Ethikbeirat leider auf tensivieren, sozusagen den Ethikrat auf direktem Wege Wunsch der Fraktion von CDU und CSU nur ein be- anzusprechen. Mit dem Gesetz zur Einrichtung des grenztes – und in Teilen unklares – Mandat erhalten. Deutschen Ethikrates hat der Deutsche Bundestag fest- Wir korrigieren mit dem vorliegenden Gruppenantrag gelegt, dass das Parlament aus sich heraus den Ethikrat die – damals von Unionsseite gewollten – Defizite des um Stellungnahmen bitten kann. „alten“ Ethikbeirates.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5403

René Röspel (A) Hierbei knüpfen wir ausdrücklich auch an den Antrag die aktuellen Themen des Ethikrates zeigt. So fallen die (C) der Fraktion der FDP an, die im November 2006 einen Grenzen der Chimären- und Hybridbildung sicher Antrag zur „Einrichtung eines Parlamentarischen Bei- (auch) in die Kompetenz des Forschungsausschusses. rates für Bio- und Medizinethik“ in die Beratungen ein- Bei Fragen der Sterbehilfe, der Selbstbestimmung und gebracht hatte. Warum sich trotzdem bisher aus der Demenz oder der Intersexualität sieht dies jedoch schon Fraktion der FDP fast keine Abgeordnete bzw. kein Ab- ganz anders aus. Genau deswegen braucht der Bundes- geordneter unserer Gruppeninitiative angeschlossen tag ein Gremium, welches sich gezielt mit ethischen hat, ist mir nicht verständlich. Ich kann mir dies nur da- Streitfeldern und Problemen auseinandersetzt. Ansons- mit erklären, dass CDU und CSU unter Verweis auf die ten besteht die Gefahr, dass die vom Ethikrat diskutier- Koalitionsvereinbarung viele der Mitglieder der FDP- ten Themen zwischen die Schnittstellen der Bundestags- Fraktion von einer Unterstützung abgehalten haben. ausschüsse fallen. Dabei hatte der FDP-Abgeordnete Michael Kauch am 9. November 2006 im Bundestag noch richtigerweise Dieser Ethikbeirat kann und soll nicht nur als Ge- festgestellt: „Ohne parlamentarische Begleitung bleibt sprächspartner für den Deutschen Ethikrat fungieren, der Ethikrat aber ein Torso.“ Genau dies wollen wir mit sondern auch Kontaktmöglichkeiten für Verbände, Inte- unserem Antrag verhindern. ressengruppen und interessierte Bürgerinnen und Bürger bieten. Er ist – dies muss man immer wieder betonen – Der Ethikbeirat soll sich – wie schon in der vergange- kein Gegengremium zum Deutschen Ethikrat, sondern er nen Legislaturperiode erfolgreich praktiziert – regelmä- ergänzt die Institution Ethikrat wirksam und sinnvoll. ßig mit dem Ethikrat und seinen Mitgliedern austau- Wie die Erfahrung der letzten Legislaturperiode zeigt, schen. So können wir sicherstellen, dass das Parlament sehen dies auch die Mitglieder des Ethikrates so. Bei ei- über den Fortgang der Beratungen im Ethikrat regelmä- ner Ablehnung des nun vorliegenden Einsetzungsantra- ßig informiert wird und nicht erst nach der Veröffentli- ges besteht eine Gefahr, die auch von Mitgliedern des chung von Stellungnahmen über kommende Fragestel- Deutschen Ethikrates gesehen wird: dass die Arbeit des lungen in Kenntnis gesetzt wird. Gleichzeitig können der Ethikrates im politischen „Nirwana“ endet und die Ethikbeirat und seine Mitglieder dem Deutschen Ethikrat meist mühevoll erarbeiteten Stellungnahmen ad acta ge- signalisieren, welche Themen aus Sicht des Parlaments legt werden, sobald sie gedruckt wurden. Dies wäre eine besondere Relevanz hätten. Auch eine Tendenz, wie dann eine echte Verschwendung von Steuergeldern, die bestimmte Regelungsvorschläge im parlamentarischen doch offenkundig von Mitgliedern der Fraktion von Umfeld aufgenommen werden würden, ließe sich durch CDU und CSU vermieden werden soll. einen regelmäßigen Austausch zwischen Deutschem Ethikrat und Beirat zumindest andeuten. Der Ethikrat Dass die enge Verbindung von ethischer Expertenin- (B) hätte dann die Möglichkeit, in seinen Stellungnahmen stitution und Parlament zu einer fruchtbaren Zusam- (D) bestimmte Fragen oder Punkte, die von besonderem In- menarbeit führen kann, zeigt das Beispiel Dänemark. teresse für die interessierten Mitglieder des Bundestages Als ein seit 1987 bestehendes Beratungsgremium hat der sind, noch ausführlicher darzustellen, was sich positiv Dänische Ethikrat über die Jahre viel Lob für seine Ar- auf die politische Anschlussfähigkeit der Stellungnah- beit erhalten. Ein wichtiger struktureller Bestandteil der men auswirken dürfte. Arbeit des Dänischen Ethikrates war und ist das parla- Zur Verbreiterung der Ethikdebatte im Parlament mentarische Begleitgremium, welches die Tätigkeit des sieht unser Antrag auch vor, die Zahl der Mitglieder des Rates begleitet. Dieser dänische „Ethikbeirat“ – wenn Ethikbeirates auf 18 zu erhöhen. So ist möglich, dass man ihn so nennen darf – beeinflusst sogar die Beset- sich mehr Mitglieder des Bundestages über ihre Mitar- zung des Dänischen Ethikrates. Man kann daher sagen, beit im Ethikbeirat über ethische Problemfragen austau- dass ein Baustein der erfolgreichen Arbeit des Däni- schen und informieren und Themen in die parlamentari- schen Ethikrates die enge Verbindung zum Parlament sche Beratung tragen. An Themen wird es weder ist. Von diesem erfolgreichen Beispiel wollen wir lernen. Ethikbeirat noch dem Deutschen Ethikrat mangeln. Für die „alternativen Vorschläge“ zur Vernetzung Trotz der offenkundigen positiven Rückwirkungen für von Parlament und Ethikrat – wie sie etwa der Unions- die Ethikdebatte in Deutschland haben Vertreter der abgeordnete Dr. Thomas Feist in der „Frankfurter All- CDU/CSU den Gruppenantrag bereits öffentlich abge- gemeinen Zeitung“ vom 18. Mai 2010 präsentiert hat – lehnt. Das finde ich bedauerlich. Die hierbei verwende- gibt es hingegen keine erfolgreichen internationalen ten Argumente sind jedoch nicht stichhaltig. Vorbilder oder Beispiele. Solche Vorschläge lassen de- Nachgerade absurd ist insbesondere das Argument, mokratische Legitimation und gewohnte Transparenz dass in Zeiten der Kostensenkung ein Ethikbeirat eine vermissen. vermeidbare finanzielle Belastung darstelle. Als ob die Der Bundestag benötigt „ein parlamentarisches Ge- Informationsmöglichkeiten des Parlaments der erste genüber, wenn der Gesetzgeber seine eigene bioethi- Punkt sind, bei dem man finanzpolitisch – nach Steuer- sche Kompetenz nicht weiter auslagern und relativieren geschenken für Hoteliers – das Sparen beginnen sollte. will“ – diese Feststellung stammt nicht von einer Abge- Auch die Möglichkeit, dass die Berichterstatterinnen ordneten oder einem Abgeordneten, der den Gruppenan- und Berichterstatter im Forschungsausschuss den Ge- trag unterzeichnet hat; diese Feststellung stammt von sprächsfaden zum Ethikrat aufrechterhalten sollen, ist Mechthild Löhr, der Bundesvorsitzenden der Christde- ein nicht tragfähiger Vorschlag, wie schon der Blick auf mokraten für das Leben.

Zu Protokoll gegebene Reden 5404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

René Röspel (A) Es ist mir vollkommen unverständlich, warum offen- tion! Das Parlament hat mit der Verabschiedung des Ge- (C) kundig gerade die Fraktion von CDU und CSU ihren setzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats, Ethik- Mitgliedern untersagt hat, den Gruppenantrag mit zu ratgesetz – EthRG; Bundestagsdrucksache 16/2856 – unterzeichnen. Stattdessen scheint die Unionsfraktions- klar erkennen lassen, dass es kein Parallelgremium führung darauf zu drängen, dass in der Schlussabstim- braucht, denn der Ethikrat besetzt den Platz eines Bera- mung die Koalitionsfraktionen den Gruppenantrag ge- tungsgremiums für das Parlament. schlossen ablehnen. Es hat sich seither gezeigt, dass der Deutsche Ethik- Wir fordern Sie auf: Beenden Sie diese koalitionstak- rat kein Expertengremium ist, das hinter verschlossenen tischen Spielchen und geben Sie die Abstimmung über Türen tagt. Vielmehr hat er sich in seiner Arbeit durch den vorliegenden Gruppenantrag frei! Spätestens wenn Transparenz und öffentliche Berichterstattung ausge- im Bundestag die nächste Stammzell- oder Sterbehilfe- zeichnet. Das wollen wir auch weiter unterstützen. debatte ansteht, werden Sie sehen, dass der Ethikbeirat ein wichtiges und sinnvolles Gremium ist. Grundsätzlich muss klar sein: Es geht nicht um die Verdrängung von ethischen Fragestellungen aus dem politischen Bewusstsein. Vielmehr müssen wir darüber Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): nachdenken, wie wir die Arbeit in diesem Bereich neu Der Parlamentarische Ethikbeirat der 16. Legislatur strukturieren und moderieren und die Arbeit des Parla- konstituierte sich am 23. April 2008. Die grundlegende ments stärken. Das kann auch in der Form des direkten Aufgabe sollte sein, das Parlament in ethischen Fragen Dialogs miteinander innerhalb politischer Prozesse zu unterstützen und die Arbeit an solchen Fragestellun- stattfinden, ohne ein neues festes Gremium einzurichten. gen zu begleiten. Der Beirat sollte somit ein parlamen- tarisches Begleitgremium, eine „Scharnierstelle“ zwi- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): schen dem Deutschen Ethikrat und dem Parlament sein. Der vorliegende Antrag zur erneuten Einsetzung ei- Heute debattieren wir über einen Antrag zur erneuten nes Ethikbeirates findet meine Unterstützung. Dafür Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates zu Fra- sprechen eine ganze Reihe von Gründen. Das Hauptar- gen der Ethik in der 17. Wahlperiode. Doch bevor ein gument ergibt sich aus konkreter parlamentarischer Er- solches Gremium erneut wieder aufersteht, lohnt es sich, fahrung meiner Mitarbeit im letzten Ethikbeirat. Nach- kritisch auf die Ergebnisse und Arbeitsweisen des Beira- dem sich in der vergangenen Legislaturperiode keine tes der letzten Legislatur zu schauen. Die Unterrichtung Mehrheit für die Einrichtung eines Ethikkomitees des vom Juli 2009 durch den Parlamentarischen Beirat zu Bundestages fand, wurde die Einsetzung eines Ethikbei- Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissen- rates beschlossen. Dieser hat nun entgegen mancher Er- (B) schaften, Bundestagsdrucksache 16/13780, lässt einige wartung erfolgreich die Arbeit des Deutschen Ethikrates (D) interessante Rückschlüsse zu. begleiten können. So heißt es im dritten Abschnitt zum Selbstverständnis Der Deutsche Ethikrat, eingesetzt von Bundestag und und zur Arbeitsweise des Ethikbeirats: „Selbstverständ- Bundesregierung, greift als reines Sachverständigengre- nis und die Arbeitsweise des Ethikbeirates sind jedoch mium lebenswissenschaftliche Themen auf. Der Ethik- noch nicht abschließend geklärt.“ Das Gleiche gilt für beirat des Bundestages, besetzt mit Abgeordneten, die das Selbstbefassungsrecht. Dies blieb ebenfalls unge- allerdings auch nicht ohne Sachverstand arbeiten, klärt. Inhaltliche Beschlüsse und Empfehlungen zu Be- wurde mit keinen eigenen inhaltlichen Kompetenzen richten des Ethikrats zu fassen, fällt auch nicht in das ausgestattet. Er fungierte als Schnittstelle zwischen Aufgabengebiet des Ethikbeirates. Anhörungen fanden Deutschem Ethikrat und gesellschaftlicher Öffentlich- mangels Selbstbefassungsrecht auch nicht statt. Das al- keit. Er hat daher zum einen die parlamentarische Rele- les ist außerordentlich bedenklich. Wozu soll dieser Bei- vanz von in Politik und Gesellschaft diskutierten Ethik- rat nun eigentlich dienen? In einer bunten Runde The- themen ausgelotet. Zum anderen hat er Themen men zu besprechen, die als relevant identifiziert worden aufgegriffen, die im Deutschen Ethikrat bearbeitet wur- waren, ist sicher nicht verkehrt. Aber wo bleibt das Ziel? den. So hat er die ethischen, sozialen und rechtlichen Auswirkungen der Chimärenbildung, der synthetischen Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie Biologie, der Nanomedizin, der Angebote anonymer doch mal ganz ehrlich: Für das, was in den letzten Jah- Kindesabgabe oder auch den gesetzlichen Regelungsbe- ren im Ethikbeirat besprochen worden ist, braucht es da darf für Biobanken erörtert, auch dies mit dem Ziel, zu die gesamte Maschinerie eines parlamentarischen Bei- klären, ob parlamentarischer Handlungsbedarf er- rates? Eine weitere Bühne für bereits geführte Fachdis- wächst. kussionen brauchen wir nicht. In den Ausschüssen wird demnächst eine Verständi- Meiner Erfahrung nach ist es sinnvoll, den Ethikbei- gung darüber erfolgen, inwieweit es einer Moderation rat wieder einzusetzen, weil es dann auf parlamentari- zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Deutschen scher Ebene einen konkreten Ansprechpartner für eine Ethikrat bedarf oder ob nicht andere Formen der Zu- Vielzahl von Interessengruppen und für den Deutschen sammenarbeit effektiver und in der Sache zielführender Ethikrat gibt. Viele Themenstellungen erweisen sich sind. nämlich in ihrer ethischen Relevanz als klassische Quer- schnittsthemen. Es ist zumeist erst nach näherer Be- Wir dürfen nicht vergessen: Der Deutsche Ethikrat in trachtung auszumachen, ob und welche Ausschüsse des seiner heutigen Form hat eine demokratische Legitima- Deutschen Bundestages in die Diskussion einzubinden

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5405

Dr. Petra Sitte (A) sind, erst recht wenn sich Verknüpfungen zu aktuellen tariern, sondern auch unter anderen beim Präsident der (C) Gesetzgebungsverfahren ableiten. Nicht jeder bzw. je- Bundesärztekammer, bei Mitgliedern des Deutschen dem Interessierten, jeder bzw. jedem Wissenschaftler Ethikrates und Vertretern der Kirchen. Fragestellungen oder jeder Institution sind die parlamentarischen Gre- der Bioethik brauchen einen umfassenden gesellschaftli- mien in ihrer inhaltlichen Zuständigkeit, Arbeitsteilung chen und politischen Diskurs. Die Themenfelder sind und institutionellen Platzierung bekannt. Auch in diesen komplex und berühren in besonderem Maße die ethi- Zusammenhängen kann der Ethikbeirat hilfreiche Mitt- schen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft; gerade lerfunktion hinein in den Bundestag übernehmen. Er soll deshalb ist ein intensiver Austausch zwischen Wissen- auch in Zukunft als Begleitgremium ausgestaltet, aber schaft, Öffentlichkeit und Politik nötig. Das bedeutet kein eigenständiger Ausschuss werden. Er soll den Aus- auch, dass es nicht ausreicht, ein externes Beratungs- schüssen weder in deren inhaltlichen Arbeit vor- noch in gremium wie den Deutschen Ethikbeirat einzusetzen, deren Kompetenzen eingreifen. In Auswertung der Er- ohne gleichzeitig einen Ansprechpartner im Parlament fahrungen aus seiner Tätigkeit in der letzten Legislatur- zu verankern. Wir brauchen für die Gewährleistung von periode enthält der Antrag dennoch Vorschläge, die Ar- parlamentarischer Kompetenz und Sensibilität ein eige- beit des Beirates zu qualifizieren und verbindlicher zu nes fachkompetentes Dialogforum und dürfen Aufga- gestalten. Ich halte das für sinnvoll. benbereiche nicht vollständig an ein außerparlamenta- risches Gremium delegieren. Ethische Fragen der Lebenswissenschaften stellen sich mit wissenschaftlichem Fortschritt, vor dem Hinter- Mit der Einsetzung des Deutschen Ethikrates in der grund der Globalisierung, der Erweiterung des Kanons 16. Wahlperiode als Nachfolger des Nationalen Ethikra- von Wertekonzepten und erfolgter oder sich anbahnen- tes wurde das Gremium durch den Parlamentarischen der Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen Beirat zu Fragen der Ethik ergänzt. Doch seit Beginn nicht immer gänzlich neu, aber sehr wohl mit neuen, zu- der neuen Legislaturperiode im September 2009 blo- sätzlichen Problemstellungen. Einmal getroffene Ent- ckiert Schwarz-Gelb die erneute Einsetzung des parla- scheidungen sind also durchaus nicht für die Ewigkeit, mentarischen Gremiums, das eine wichtige Scharnier- sondern bedürfen wiederholter Prüfungen, ob sie als Re- funktion übernommen hat und durch die Ausweitung der aktionen, ob sie als Antworten noch akzeptabel sind Kompetenzen, wie es dieser Antrag vorsieht, weiter oder ob die aktualisierte Datenbasis nicht längst Ände- gestärkt würde. rungen bzw. Anpassungen erfordert. Der Ethikbeirat Lassen Sie mich eines zunächst erwähnen, um keine sollte beispielsweise als Vorbereitungsgremium mit den Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich schätze die Ausschüssen gemeinsam prüfen, ob dem Deutschen Arbeit des Deutschen Ethikrates sehr und sehe die Ein- Ethikrat Themen zur Befassung anheimgestellt werden setzung eines parlamentarischen Beirats in keiner Weise (B) (D) sollten. als Konkurrenz. Es geht und ging nie darum, ein Gegen- Dass sich sowohl der Präsident des Deutschen Bun- gremium oder Parallelstrukturen aufzubauen. Nein, der destages, Herr Dr. Lammert, als auch Mitglieder des parlamentarische Ethikbeirat hat seine eigene Bedeu- Deutschen Ethikrates und Vertreter der Kirchen positiv tung und Legitimation. Der Deutsche Ethikrat braucht eingestellt auf eine Neueinsetzung des Ethikbeirates ge- einen Ansprechpartner im Bundestag; dafür ist der par- zeigt haben, betrachte ich als weitere Gründe, sich im lamentarische Beirat das adäquate Gremium. Um Poli- Bundestag ernsthaft und interfraktionell mit diesem Ein- tikberatung erfolgreich zu machen, muss es Abgeordnete setzungsantrag auseinanderzusetzen. Auf der konstituie- geben, die – auch aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Bei- renden Sitzung des Ethikbeirates am 23. April 2008 rat – Themen und Empfehlungen aufarbeiten und in die führte der Präsident des Bundestages aus, dass man sich Fraktionsdebatten einbringen. Dies hat auch der Be- vom Deutschen Ethikrat notwendige Informationen für richt über die Tätigkeit des Beirats deutlich gemacht: die parlamentarische Arbeit verspreche und dass dessen Wir brauchen die Scharnierfunktion zwischen externem sachverständige Mitglieder am gesellschaftlichen Dis- Ethikrat und Parlament, um zu verhindern, dass wich- kurs mitwirkten. Dieser Diskurs solle dann auch in die tige ethische Fragestellungen nicht im Alltagsgeschäft parlamentarische Arbeit einbezogen werden. Die wich- untergehen. tigste Aufgabe, so der Bundestagspräsident weiter, sei Die Arbeit des parlamentarischen Beirats hat in den es, den Deutschen Ethikrat parlamentarisch zu begleiten zwei Jahren seiner Existenz Positives geleistet und die sowie ethische Sachkompetenz und parlamentarische Debatte bereichert. Um Themen zu identifizieren, hat Arbeit miteinander zu verbinden. sich der Beirat auch mit inhaltlichen Fragestellungen In diesem Sinne hoffe ich auf vielfältige Unterstüt- befasst und Expertengespräche beispielsweise zu Nano- zung und spätere Zustimmung zum Antrag auf Einset- technologie, Chimären- bzw. Hybridbildung und synthe- zung eines Ethikbeirates des Deutschen Bundestages. tischer Biologie durchgeführt. Letztgenannter For- schungsbereich, synthetische Biologie, wurde durch den Beirat neu aufgegriffen und damit in seiner Bedeutung Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gestärkt. Im Anschluss daran wurde im Juli 2009 das NEN): Büro für Technikfolgenabschätzung beauftragt, eine 241 Unterzeichner dieses Antrags aus vier Fraktio- Stellungnahme zu den Entwicklungen in der syntheti- nen machen es überdeutlich: Die Wiedereinsetzung des schen Biologie unter Einbeziehung der Aktivitäten auf parlamentarischen Ethikbeirats ist längst überfällig und europäischer und internationaler Ebene vorzubereiten. findet zahlreiche Unterstützung, nicht nur bei Parlamen- Dennoch haben wir Grünen von Anfang an kritisiert,

Zu Protokoll gegebene Reden 5406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Priska Hinz (Herborn) (A) dass der Beirat nicht über ausreichende Kompetenzen Forderungen an die Bundesregierung enthält, an deren (C) verfügt und sich die Arbeitsweise nur teilweise bewährt Umsetzung ohnehin bereits seit längerem gearbeitet hat. Die Zusammenarbeit zwischen Ethikbeirat und wird. Die Bundesregierung ist nicht tatenlos geblieben. Deutschem Ethikrat kann sich nicht weiterhin darauf beschränken, Stellungnahmen und Berichte entgegenzu- Alleinerziehende sind in unserer Gesellschaft längst nehmen, sich aber selbst nicht inhaltlich äußern zu dür- keine Randgruppe mehr. Fast jede fünfte Familie in fen und Empfehlungen zu erarbeiten. Deutschland ist alleinerziehend; über 2 Millionen min- derjährige Kinder leben bei ihren alleinerziehenden Aus diesem Grund fordern wir in diesem Antrag zu- Müttern oder Vätern. Obwohl der Wunsch alleinerzie- sätzliche Kompetenzen, damit der Deutsche Bundestag hender Eltern nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit selbstbewusst und in eigenständiger Rolle Positionen groß ist und die meisten gerne erwerbstätig wären, rei- aufbereiten kann. Der Beirat soll sich in Zukunft auf dem chen die vorhandenen Rahmenbedingungen häufig nicht Wege der Selbstbefassung Schwerpunkte geben können, aus, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Empfehlungen vorlegen und Anhörungen durchführen sowie inhaltliche Beschlüsse fassen können. Ethische 41 Prozent der Alleinerziehenden – das sind über Fragestellungen gehören in die Mitte des Parlaments 600 000 Eltern mit 1 Million Kindern – erhalten Leis- und dürfen nicht komplett ausgelagert werden. Durch tungen nach dem SGB II. Es mangelt an Plätzen in Kin- Abstimmung und Kooperation mit dem Deutschen Ethik- dertagesstätten und Ganztagsschulen sowie an familien- rat würden auch weiterhin keine Doppelstrukturen ent- freundlichen Arbeitszeiten. Daher war und ist es richtig, stehen. Die Einsetzung eines parlamentarischen Ethik- dass Alleinerziehende die besondere Unterstützung der beirates ist dringend geboten. Warum sich die Damen Gesellschaft benötigen und auch bekommen müssen. und Herren der CDU/CSU-Fraktion dagegen so zur Bereits in der letzten Legislaturperiode hat die von Wehr setzen, ist mir nicht verständlich. CDU/CSU geführte Bundesregierung neue Handlungs- Herr Kollege Feist hat in der FAZ kritisiert, es käme konzepte zur Unterstützung Alleinerziehender entwi- zu einem „Flaschenhals“, wenn ethische Themen auf ckelt, die jetzt auch im Antrag der Grünen eingefordert den Beirat beschränkt blieben. Ich möchten Ihnen ent- werden: gegnen, dass die Einladung des Ethikrates in den For- Alleinerziehende benötigen finanzielle Unterstützung schungsausschuss und zu parlamentarischen Abenden zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit der Einführung keine kontinuierliche Behandlung von bioethischen The- des Elterngeldes, der Weiterentwicklung des Kinderzu- men in einem dafür zuständigen Gremium ersetzen. schlags, der Anhebung des Kindergeldes und der Ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und führung des Schulbedarfspakets wurde Erhebliches zur (B) FDP, geben Sie sich einen Ruck; stimmen Sie diesem An- Armutsvermeidung von Alleinerziehenden geleistet. Im (D) trag zu und lassen Sie uns dann im Ethikbeirat konstruk- Koalitionsvertrag haben Union und FDP zudem verein- tiv zusammenarbeiten. bart, den Unterhaltsvorschuss künftig bis zum 14. Le- bensjahr des Kindes zu zahlen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Alleinerziehende benötigen Unterstützung bei der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Um sie in Drucksache 17/1806 an die in der Tagesordnung aufge- die Lage zu versetzen, selbst für ihren Unterhalt zu sor- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- gen, hat das Familienministerium vor gut einem Jahr verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das Modellprojekt „Vereinbarkeit für Alleinerziehende“ die Überweisung so beschlossen. aufgelegt. Bis März 2010 sind an 12 Pilotstandorten die Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17: Angebote der Arbeitsagenturen und Grundsicherungs- stellen mit der bestehenden Infrastruktur vor Ort ver- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja zahnt worden. Es entstanden wirksame Netzwerke aus Dörner, Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiterer Beratung und praktischer Hilfe vor Ort – von einem Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ abgestimmten Angebot an Kinderbetreuung bis zur DIE GRÜNEN zielgenauen Qualifizierung und Beschäftigung, die Al- Unterstützung für Alleinerziehende verbes- leinerziehende in die Lage versetzten, sich aus dem sern Transferbezug zu befreien. Die Pilotprojekte wurden un- terstützt von den Lokalen Bündnissen für Familie und – Drucksache 17/2330 – sollen jetzt in die Breite getragen werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Darüber hinaus hat Bundesarbeitsministerin angekündigt, dass sie dafür Sorge tragen Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die wird, dass in den Jobcentern der Blickwinkel auf Allein- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die erziehende verändert wird. Jobcenter sollen Alleinerzie- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dorothee hende nicht länger als schwer vermittelbar ansehen, Bär, Nadine Müller, Christel Humme, Miriam Gruß, sondern aktiv mithelfen, ihnen konsequent alle Hürden Jörn Wunderlich und Katja Dörner. aus dem Weg zu räumen, die einer Erwerbstätigkeit im Dorothee Bär (CDU/CSU): Wege stehen. Eine gute Kinderbetreuung zu organisieren Wir debattieren heute über einen Antrag, von dem die und mit den Arbeitgebern flexible und damit familienge- Antragsteller selbst zugestehen, dass er in der Mehrzahl rechte Arbeitsbedingungen aushandeln, ist keine fami- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5407

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) lienpolitische Schwärmerei, sondern handfeste zukunfts- Weil Alleinerziehende den Alltag mit ihren Kindern (C) weisende Arbeitsmarktpolitik. alleine meistern müssen und sie bei Haushaltsführung, Kindererziehung und Sicherung des finanziellen Ein- Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit bleibt kommens viel stärker gefordert sind als Elternpaare, ha- für Alleinerziehende eine Leerformel ohne ausreichende ben CSU und CDU sie mit einem umfangreichen Maß- und qualitativ hochwertige Angebote der Kinderbetreu- nahmenpaket unterstützt und bereits konkrete Hilfen ung. Durch bevorzugte Berücksichtigung von Alleiner- angestoßen. Ich freue mich, dass wir als Familienpoliti- ziehenden bei der Platzvergabe wird diesem Anliegen ker der Regierungskoalition dafür auch Unterstützung Rechnung getragen. Der geplante Rechtsanspruch ab aus der Opposition zu erfahren scheinen. 2013 beschränkt sich nicht auf halbtägige Betreuung. Der Umfang der täglichen Unterstützung richtet sich nach dem individuellen Bedarf – und der liegt bei Allein- Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): erziehenden natürlich höher als bei anderen Familien. Wir diskutieren heute den Antrag der Fraktion Bünd- Auch mit der Forderung nach Qualitätsverbesserung nis 90/Die Grünen mit dem Titel: „Unterstützung für Al- der Kinderbetreuung tragen die Grünen mit ihrem An- leinerziehende verbessern“. Das Thema ist ein wichti- trag Eulen nach Athen: Die Bundesregierung unterstützt ges. Sie wissen, dass es der CDU/CSU-Fraktion und die für die Aus- und Fortbildung verantwortlichen Bun- insbesondere den Familienpolitikerinnen und Familien- desländer in ihrem Bemühen, die Qualität in der Kinder- politikern ein besonderes Anliegen ist, diejenigen zu un- betreuung kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu ver- terstützen, die Kinder erziehen und somit für die Zukunft bessern. Der Bund beteiligt sich daher nicht nur an den unserer Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Ausbaukosten für die Betreuungsplätze, sondern auch Das gilt für Familien, das gilt aber selbstverständlich an den Betriebskosten. Hierzu zählen auch Kosten für auch für diejenigen, die diese Verantwortung – ob ge- zusätzlich erforderlich werdendes Personal. Bund und wollt oder ungewollt – alleine übernehmen. Das sind die Länder haben bereits 2008 einen Qualifizierungspakt Alleinerziehenden. Die Unterstützung für diejenigen zu für Fachkräfte in der Betreuung von Kindern unter drei verbessern, das halte ich für ein wichtiges Anliegen, das Jahren beschlossen. Sie in Ihrem Antrag formulieren. Seither wurde einiges erreicht: Seit 2009 ist die Auf- Und auch das formuliert der Antrag völlig richtig: stiegsfortbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher bun- Alleinerziehende haben einen besonders schweren Stand desweit staatlich förderfähig. Für pädagogische Fach- in unserer Gesellschaft – und das aus einer ganzen kräfte in Kindertageseinrichtungen wurden Programme Reihe von Gründen. Signifikante Zahlen dazu findet man für die Fort- und Weiterbildung entwickelt. Über das im jüngst erschienenen Familienbericht des Familien- (B) Bundesbildungsministerium wird die Medienqualifizie- ministeriums. Demnach sind von den 8,4 Millionen Fa- (D) rung der Erzieher gefördert; das BMFSFJ plant ein Pro- milien mit Kindern unter 18 Jahren 1,6 Millionen allein- gramm zur Erhöhung der Anzahl männlicher Fachkräfte erziehend – Tendenz steigend. Das bedeutet konkret, in Kitas. Es gibt das Aktionsprogramm Kindertages- dass ungefähr jedes sechste Kind unter 18 Jahren bei ei- pflege, mit dem Tagespflegepersonen gewonnen werden nem alleinerziehenden Elternteil aufwächst. In 90 Pro- sollen. zent der Fälle sind es die Mütter, die sich alleine um ih- ren Nachwuchs kümmern. Diesen Forderungen der Grünen können wir also nicht nur zustimmen. Wir setzen sie bereits mit unseren Alleinerziehende Frauen und Männer stehen vor eigenen familienpolitischen Konzepten um. Ablehnen zahlreichen und vielfältigen Herausforderungen und werden wir dagegen die weiteren Vorschläge, die keines- Problemen, die sie im Alltag zu bewältigen haben. Zwar wegs primär den Alleinerziehenden nützen. Wir lehnen haben zwei von drei Elternteilen jemanden, der ihnen es ab, das Ehegattensplitting abzuschaffen, da es – an- bei der Betreuung des Kindes oder mehrerer Kinder ders als es im Antrag behauptet wird – sehr wohl zu ei- hilft. Zumeist sind es enge Verwandte und Freunde, die ner Förderung von Familien führt. Das Zerrbild der kin- hier einspringen. Trotzdem haben viele das Gefühl, Fa- derlosen Millionärsgattin, die es sich auf Steuerzahlers milie und Beruf nicht unter einen Hut zu bekommen und Kosten gut gehen lässt, spiegelt ja nun wirklich nicht auch in anderen Bereichen des privaten und öffentlichen den Regelfall wider. Ebenfalls ablehnen werden wir die Lebens das Nachsehen zu haben. Dieses Spannungsver- Forderung, die Ankündigung des Betreuungsgeldes aus hältnis wird besonders deutlich, wenn man sich vor Au- dem SGB VIII zu streichen, das BAföG durch eine Kin- gen hält, dass zwei Drittel der alleinerziehenden Frauen derkomponente zu ergänzen und eine Kindergrundsiche- mit Kindern unter 18 Jahren erwerbstätig sind. Sie kön- rung einzuführen. nen sich leicht ausmalen, wie wertvoll und vor allem selten freie Zeit wird, wenn sich eine alleinerziehende Auch bleibt es bei der im Sparpaket vorgesehenen Mutter oder ein alleinerziehender Vater neben dem Voll- künftigen Anrechnung des Elterngeldes auf SGB-II-Leis- zeitjob noch um das heranwachsende Kind kümmert. tungen. Diese Verrechnung des Elterngeldes bei Lang- zeitarbeitslosen ist uns nicht leicht gefallen. Aber dieser Neben erwerbstätigen Alleinerziehenden mit ihren Schritt ist vertretbar, weil der Lebensunterhalt von besonderen Problemen gibt es allerdings auch die weit Langzeitarbeitslosen und ihren Kindern vollständig vom größere Gruppe von Alleinerziehenden, die sich ihren Staat finanziert wird. Zudem werden wir an anderer Lebensunterhalt nicht selbstständig finanzieren können. Stelle das Geld gezielter in bessere Bildungschancen für Insbesondere viele alleinerziehende Mütter sind auf Leis- diese Kinder investieren. tungen der Arbeitslosenversicherung und des SGB II an-

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Nadine Müller (St. Wendel) (A) gewiesen. Fast drei Viertel der Alleinerziehenden mit bericht über die Pilotprojekte, und bereits jetzt wird an (C) drei oder mehr Kindern beziehen Leistungen des SGB II. der Struktur der nächsten Förderperspektiven gearbei- Diese sehr hohe Hilfsquote hat zur Folge, dass Alleiner- tet. ziehende die gesellschaftliche Gruppe sind, die mit am stärksten unter finanziellen Problemen leidet – während Dieses Programm geht Hand in Hand mit einer Viel- der Erziehungszeit, aber auch im Alter. Vor allem für die zahl weiterer Maßnahmen und Initiativen, die auf den Kinder und ihre zukünftige Entwicklung ist dieser Zu- Weg gebracht wurden. Ich denke dabei an das Pro- stand sehr problematisch. Mit insgesamt einer Million gramm „Perspektive Wiedereinstieg“ oder an die zahl- armutsgefährderter Kinder, die in Alleinerziehenden- reichen Initiativen des BMAS und der Bundesagentur für haushalten leben, ist diese Gruppe einfach viel zu groß. Arbeit sowie des BMFSFJ, die den Wiedereinstieg ins Berufsleben und die Vereinbarkeit von Familie und Be- Diese Zahlen beschreiben die schwierige Lage, in der ruf ermöglichen und erleichtern sollen. Dabei ist es ge- sich sehr viele Alleinerziehende befinden. Von daher ist rade für Alleinerziehende wichtig, ein flexibles und ein Antrag zu diesem Thema grundsätzlich berechtigt. niedrigschwelliges Netzwerk mit verlässlichen Struktu- Bei der Lektüre der Forderungen von Bündnis 90/Die ren auf die Beine zu stellen und individuell zugeschnit- Grünen war ich doch etwas verwundert, und ich will Ih- tene Angebote zu machen. Dabei gilt es, neue Wege zu nen sagen, weshalb. Erstens könnte man bei der Lektüre gehen und neue Maßnahmen zu erproben sowie erfolg- Ihrer Zeilen den Eindruck bekommen, die jetzige Bun- reiche Modellprojekte in die Fläche zu tragen. Meine desregierung und auch die Vorgängerregierung hätten verehrten Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, sich nicht oder kaum um die Alleinerziehenden und ihre der in Ihrem Antrag mal mehr, mal weniger deutlich er- Kinder gekümmert, sie sogar vernachlässigt. Jeder, der hobene Vorwurf der Untätigkeit läuft für jedermann er- Zeitung liest oder sich einmal in seinem Kreis von Ver- sichtlich voll ins Leere. wandten und Bekannten umhört, weiß, dass das nicht der Fall ist. Übrigens, wenn ich das hier erwähnen darf: Selbst DGB-Chef Michael Sommer, der ja nicht gerade in dem Zweitens ist in keiner Weise erkennbar, in welche Verdacht steht, ein Lobbyist schwarz-gelber Gesell- Richtung Sie mit Ihren Forderungen eigentlich wollen schaftspolitik zu sein, lobt die Anstrengungen des Fami- und welches gesellschaftliche Konzept dahinter steht. lienministeriums, die Chancen für Alleinerziehende mit Da soll mal an dieser Maßnahme etwas rumgedreht Hartz-IV-Bezug auf eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt werden, mal an jener, und am Ende soll es zusätzliches zu erhöhen. Ich finde das bemerkenswert. Geld richten. Allem Anschein nach herrscht in Ihren Reihen eine gewisse Orientierungslosigkeit darüber, wo Kaum anders verhält es sich mit dem in Ihrem Antrag die familienpolitische Reise denn nun hingehen soll. (B) erkennbaren Vorwurf, die Regierungskoalition würde zu (D) Und drittens frage ich mich, weshalb Sie die jüngsten wenig für die Kinder von Alleinerziehenden tun. Dem Programme und Aktivitäten des Familienministeriums lässt sich einfach entgegenhalten, dass gerade der Aus- auf dem Gebiet der Alleinerziehenden bewusst ignorie- bau der Kinderbetreuungsplätze den Bedürfnissen der ren. Ich möchte Sie deshalb recht herzlich einladen, den Familien und Alleinerziehenden entgegenkommt. Die Blick für das zu öffnen, was die Bundesregierung für Al- Rahmenbedingungen zur Aufnahme einer vollen Er- leinerziehende und ihre Kinder tut. Ich bin Ihnen dabei werbstätigkeit werden wesentlich verbessert. auch gerne mit einigen Beispielen behilflich. Und um dann doch mal auf die monetären Leistungen Schon bei den Fragen, wie alleinerziehende Mütter zu sprechen zu kommen, möchte ich natürlich auch nicht und Väter Familie und Beruf möglichst widerspruchsfrei die Erhöhung des Kindergeldes im Rahmen des Wachs- vereinbaren können, war und ist das Familienministe- tumsbeschleunigungsgesetzes unerwähnt lassen. In die- rium sehr aktiv. Vor etwa einem Jahr genau wurde bei- sem Sinne wurde auch der Kinderfreibetrag von 6 024 spielsweise ein Projekt ins Leben gerufen, welches auf auf 7 008 Euro erhöht. Sie sehen, dass auch in finanziell intelligente Vernetzung unterschiedlicher Akteure setzt schwierigen Zeiten Schwarz-Gelb Alleinerziehende nicht und nicht bloß auf die Erhöhung von Leistungen, wie es im Stich lässt, sondern vielmehr auch die materielle Un- so häufig von vermeintlichen und selbsternannten Gut- terstützung ausbaut. menschen aus dem linken politischen Spektrum gefor- Nicht unerwähnt lassen möchte ich natürlich auch dert wird. Das Programm mit dem Namen „Vereinbar- das Elterngeld, das einem alleinerziehenden Elternteil keit für Alleinerziehende“ knüpft Verbindungen mit alleinigem Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht zwischen Trägern der Grundsicherung, Kammern, Ver- für eine Dauer von 14 statt 12 Monaten zusteht. Zusätz- bänden, Kommunen sowie Jugendhilfe- und Bildungs- liche finanzielle Unterstützung gibt es durch das Wohn- trägern. Auf kurzem Wege wird der Informationsaus- geld. Denn für Berechtigte, die allein mit ihren Kindern tausch wesentlich verbessert. Alleinerziehende können zusammenwohnen und wegen ihrer Erwerbstätigkeit nun viel einfacher eine auf ihre Bedürfnisse zurechtge- oder einer Fortbildung länger außer Haus sind, gibt es schneiderte Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten einen Einkommensfreibetrag von 600 Euro jährlich für erhalten. Die Tür auf den Weg zurück in den Arbeits- jedes Kind unter zwölf Jahren. Darüber hinaus schießt markt wird ein Stück weiter aufgestoßen. der Staat Unterhalt vor, wenn dieser für das Kind aus- Gerade am Montag dieser Woche hat das Familien- bleibt. Unserer Koalitionsvertrag sieht dessen Auswei- ministerium eine Impulsveranstaltung zu diesem Pro- tung bis zum 14. Lebensjahr der Kinder bei gleichblei- gramm durchgeführt. Im Sommer kommt der Abschluss- bender Leistungsdauer von maximal sechs Jahren vor.

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Nadine Müller (St. Wendel) (A) Ich könnte so noch eine ganze Weile fortfahren, will von Frauen und Männern wirken sich bei dieser Gruppe (C) dies aber mit Blick auf die Zeit nicht tun. Lassen Sie besonders nachteilig aus. Außerdem sind vor allem al- mich aber bitte Folgendes abschließend anmerken: Ihr leinerziehende Frauen überproportional stark in Teilzeit Antrag bildet keine ernst zu nehmende Alternative zur oder Minijobs tätig. unserer Familienpolitik und unserer Politik gegenüber alleinerziehenden Müttern und Vätern und ihren Kin- Staat und Gesellschaft sind hier in vielerlei Hinsicht dern. Sie verheddern sich vielmehr im Klein-Klein und gefordert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- im Dickicht von Einzelforderungen, die einen anderslau- ten haben in Regierungsverantwortung den Wunsch tenden Gesamtentwurf vermissen lassen. Es stellt sich nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie nach ein wenig die Frage: wozu dieser Antrag und weshalb besten Chancen für alle Kinder aufgegriffen. gerade jetzt? Beim Ausbau der Kinderbetreuung müssen wir weiter Weiter möchte ich noch auf einen anderen, weitestge- vorangehen und mehr Tempo machen. Denn ein flexi- hend unerwähnten, aber für mich zentralen Zusammen- bles, bedarfsgerechtes und qualitativ gutes Betreuungs- hang hinweisen: Meiner persönlichen Einschätzung und Bildungsangebot für Kinder aller Altersstufen ist nach hat die sozialpolitische Debatte um die Lebenswelt der Schlüssel gerade für Alleinerziehende, Familie und von Alleinerziehenden eine gewisse Schieflage. Viele Beruf miteinander verbinden zu können. scheinen zu glauben, in der Erhöhung der Bezugsleis- Um den Bedarf an Betreuungsplätzen vor Ort besser tungen und Vergünstigungen und dem Ausbau der Be- einschätzen zu können, brauchen wir aktuelle Zahlen. treuungsangebote läge die Lösung. Internationale Stu- Erst auf Grundlage dieser Daten können wir wirklich dien wie eine der OECD und ein Vergleich zwischen den beurteilen, ob der tatsächliche Bedarf nicht zu niedrig Bundesländern sprechen da eine andere Sprache. Die angesetzt sein könnte. OECD sagt deutlich, dass es in Deutschland im Ver- gleich zu anderen Ländern für Alleinerziehende zu we- Unser gemeinsames Ziel muss sein, von bis nige Anreize gibt, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Konstanz ein flexibles und bedarfsgerechtes Betreuungs- angebot für alle Kinder bereitstellen zu können. Denn Ich finde, unser Augenmerk sollte verstärkt auf der nur so schaffen wir tatsächliche Wahlfreiheit und er- Frage liegen, wie wir Anreize und Chancen vor allem möglichen es Frauen und Männern, Familie und Beruf für Bezieher von Leistungen der Arbeitslosenversiche- so zu vereinbaren, wie sie es möchten. rung und des SGB II schaffen können, wieder ihren Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden. In diese Richtung Frau Ministerin, werden Sie aktiv und berufen Sie so zielt unsere Politik für Alleinerziehende, ohne dabei die schnell wie möglich einen Krippengipfel ein. Auf der (B) Unterstützungsleistungen zu vernachlässigen. Wir Grundlage aktueller Daten muss geklärt werden, wie (D) möchten, dass mehr Menschen ihr Leben und somit auch der Bund die Länder und Kommunen bei dieser wichti- das ihrer Kinder wieder selbst in die Hand nehmen. Ich gen gesellschaftspolitischen Aufgabe zusätzlich unter- möchte dafür werben, uns auf diesem Weg zu unterstüt- stützen kann. Ein schneller Ausbau unserer Bildungs- zen. und Betreuungsinfrastruktur hat höchste Priorität. Nur die Hände in den Schoß zu legen und Zweckoptimismus zu verbreiten, hilft niemandem. Christel Humme (SPD): „Alleinerziehende – von der Gesellschaft im Stich ge- Es ist immerhin erfreulich, dass Sie Ihrem Mentor lassen!“ So überschrieb 2007 eine große deutsche Frau- Roland Koch öffentlich widersprochen haben, als dieser enzeitschrift einen Artikel, der die Lebenssituation, die den vereinbarten Rechtsanspruch auf einen Betreuungs- Sorgen und Nöte von Alleinerziehenden näher unter die platz ab 2013 infrage gestellt hat. Das allein reicht aber Lupe nahm. nicht aus. Wie berechtigt ist diese Beschreibung? Wie ist die Gute und verlässliche Betreuung ist ein zentraler Lage von Alleinerziehenden heute? Wie ist ihre Lebens- Baustein in der wirksamen Unterstützung von Alleiner- situation und die ihrer Kinder? – Ich begrüße es, dass ziehenden. sich der Deutsche Bundestag heute erneut mit der Situa- tion von Alleinerziehenden beschäftigt und wir gemein- Erwerbstätige Alleinerziehende stehen häufig alleine sam eine Bestandsaufnahme vornehmen können. in der Verantwortung, ein existenzsicherndes Einkom- men für sich und ihre Kinder zu erzielen. Gute Löhne Sicher ist: den oder die typische Alleinerziehende gibt sorgen außerdem für eine existenzsichernde Alterssiche- es nicht. Trotz der unterschiedlichen Lebenslagen haben rung. Da 90 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind, viele der rund 1,6 Millionen Alleinerziehenden sehr erfahren sie besonders stark die immer noch bestehen- ähnliche Bedürfnisse. 2,2 Millionen Kinder und Jugend- den Diskriminierungen im Erwerbsleben – insbesondere liche unter 18 Jahren leben in Alleinerziehendenhaus- bei der Entlohnung. Denn noch immer verdienen Frauen halten – überwiegend bei ihren Müttern, denn 90 Pro- im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihre männlichen zent aller Alleinerziehenden in Deutschland sind Kollegen. Frauen. Daher brauchen wir endlich gesetzliche Regelungen Alleinerziehende sind vor besondere Herausforde- für gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit rungen gestellt. Die immer noch problematische Verein- sowie einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist der rich- barkeit von Familie und Beruf, die ungleiche Bezahlung tige Weg, um Alleinerziehende wirksam vor Armut und

Zu Protokoll gegebene Reden 5410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Christel Humme (A) einer dauernden Abhängigkeit von staatlichen Transfer- stimmtes Konzept und individuelle Hilfen um in ihrer be- (C) leistungen zu schützen. sonderen Situation Berufstätigkeit und Kindererziehung vereinbaren zu können, nicht in Armut abzurutschen und Neben guter Kinderbetreuung, existenzsichernden ihren Kindern die Chancen bieten zu können, die sie ver- Löhnen und gezielten finanziellen Hilfen brauchen ar- dient haben. beitsuchende Alleinerziehende eine individuelle Bera- tung und passgenaue Arbeitsvermittlung in den Arbeits- Die SPD hat im April mit dem Beschluss „Alleiner- agenturen sowie speziell auf ihre Lebenssituation ziehende – LeistungsträgerInnen unserer Gesellschaft“ zugeschnittene Bildungs- und (Weiter-)Qualifizierungs- ein umfassendes Gesamtkonzept mit konkreten Schritten angebote. zur gezielten Förderung dieser Familienform vorgelegt. Bildung und Weiterqualifizierung kommt bei Alleiner- Und was tut die zuständige Ministerin? ziehenden eine besondere Rolle zu. Mehr als ein Viertel Sicherlich nicht nur ich hätte mir gewünscht, dass aller Alleinerziehenden und über die Hälfte der allein Frau Schröder auch bei der Verteidigung anderer Posi- erziehenden Arbeitslosen haben keinen beruflichen Ab- tionen ihres Haushaltes als Interessensvertreterin von schluss. Bei jungen Müttern unter 25 Jahren liegt der Millionen Familien und Kindern in diesem Land Wider- Anteil sogar bei 70 Prozent. Hier müssen wir mit pass- stand bei den massiven Haushaltseinschnitten geleistet genauen Bildungs- und Qualifizierungsangeboten anset- hätte. Stattdessen hat sie die unsozialen Kürzungen beim zen. Elterngeld und gar die Streichung des Elterngeldes für Wir haben daher in der großen Koalition den Rechts- Empfängerinnen und Empfänger von Hartz IV klaglos anspruch auf das geförderte Nachholen eines Schul- hingenommen. Dies, Frau Ministerin, zeigt leider, dass abschlusses durchgesetzt. Jetzt geht es darum, dies Ihnen offenbar der Zugang und die dramatischen Aus- während der Kindererziehung auch in Teilzeit zu ermög- wirkungen dieser unsozialen Streichungen nicht bewusst lichen. sind – oder Sie diese billigend in Kauf nehmen. Stattdes- sen nicken Sie völlig überflüssige Steuerprivilegien für Was hilft nun Alleinerziehenden und ihren Kindern Luxushotels ab. am besten? Sie brauchen einen Mix aus Infrastruktur, zielgerichteter finanzieller Hilfe und Zeit. Ich fasse zusammen: Ein überzeugendes Konzept ge- gen Familien- und Kinderarmut und eine zielgerichtete Stattdessen müssen sie unter der unsozialen Familien- Förderung von Alleinerziehenden ist seitens der zustän- förderung von Schwarz-Gelb ächzen. Neben der unso- digen Ministerin und der schwarz-gelben Bundesregie- zialen Kürzung bzw. gar der Streichung des Elterngeldes rung leider weit und breit nicht in Sicht. für Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II-Leis- (B) tungen ist der aktuelle Familienausgleich ein weiteres Alleinerziehende und ihre Kinder haben Besseres ver- (D) Beispiel für eine verfehlte und unsoziale Steuerpolitik. dient als eine Regierung des sozialen Kahlschlags und eine Fachministerin auf Tauchstation. Jedes Kind sollte dem Staat selbstverständlich gleich viel wert sein, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Der aktuelle Familienleistungsausgleich erfüllt dieses Miriam Gruß (FDP): Ziel eindeutig nicht. Denn reiche Familien werden über Die FDP steht für ein neues, modernes Familienbild, höhere Steuerabzugsmöglichkeiten viel stärker entlastet das dem Wandel unserer Gesellschaft gerecht wird. Die- als Familien mit geringem Einkommen durch ein erhöh- ser Wandel äußert sich unter anderem in der steigenden tes Kindergeld. Zahl von Alleinerzieherhaushalten in Deutschland. Hier sind neue Lösungsansätze von der Politik gefordert. Die Daher wollen wir einen Kindergrundfreibetrag, denn allgemeine Prämisse einer modernen liberalen Fami- damit wird jedes Kind wirklich gleich stark gefördert. lienpolitik muss deshalb sein, Konzepte zu entwickeln, Durch diesen Abzug von der Steuerschuld würden wir die sowohl dem klassischen Familienbild als auch den auch Familien mit niedrigem Einkommen und damit neuen Realitäten gerecht werden. auch Alleinerziehende stärker fördern können. Jetzt pro- fitieren hauptsächlich Gut- und Spitzenverdiener von Die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland steigt, der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs- und damit auch die Zahl der Kinder, die in Alleinerzie- kosten. herhaushalten aufwachsen. Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe – die meisten Alleinerziehenden sind ge- Außerdem wollen wir Alleinerziehenden mit dem Kin- schieden oder leben in Trennung, andere sind verwitwet. derzuschlag zielgenau helfen. Damit wir Alleinerzie- Wieder andere entscheiden sich aber auch ganz bewusst hende mit ihren Kindern mit diesem Instrument besser gegen eine traditionelle Form der Familie. So unter- erreichen können, wollen wir den Kinderzuschlag wei- schiedlich die Gründe für die Entscheidung auch sein terentwickeln. mögen, so sehen sich doch Alleinerziehende grundsätz- Unabhängig davon bleibt unser sozialdemokratisches lich ähnlichen Problemlagen gegenüber: Sie können Ziel: kostenlose Betreuung und Bildung – von der Kita sich im Alltag nicht auf einen Partner verlassen, befin- bis zur Universität! den sich oftmals in einer ständigen Auseinandersetzung um Unterhalt und Sozialleistungen und müssen sich ge- Die heutige Debatte mit vielen richtigen Vorschlägen gebenenfalls eine neue Wohnung oder einen neuen Ar- auch aus dem Antrag der Grünen hat es noch einmal beitsplatz suchen. Angesichts der Vielzahl von tatsächli- deutlich gemacht. Alleinerziehende brauchen ein abge- chen Problemen und rechtlichen Fragen unterstützen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5411

Miriam Gruß (A) wir Liberalen die Forderung nach einer Erweiterung lienfreundliche Maßnahmen zukünftig an Bedeutung bei (C) von Kindertagesstätten zu Familienzentren. der Suche nach qualifiziertem Personal gewinnen wer- den; denn trotz Krise hätten derzeit fast 29 Prozent der Die finanzielle Situation von Alleinerziehenden ver- Unternehmen Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu schlechtert sich nach einer Trennung oder Scheidung finden. deutlich. Sie haben im Normalfall rund die Hälfte weni- ger Einkommen zur Verfügung als ein vergleichbarer Die Bundesregierung hält klar am ab 2013 geltenden Paarhaushalt mit zwei Kindern. Ehepaare, die getrennt Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz fest. Im Be- leben, benötigen aber sogar mehr Geld, um den gleichen richt 2008 über den Stand des Ausbaus für ein bedarfs- Lebensstandard zu erreichen wie eine in einem Haushalt gerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder zusammenlebende Familie. Das zusätzlich benötigte unter drei Jahren wird festgestellt, dass das aktuelle An- jährliche Haushaltsnettoeinkommen beträgt im Durch- gebot an Tageseinrichtungen und der Tagespflege für schnitt fast 10 000 Euro. Kinder im Alter von unter drei Jahren noch gesteigert werden muss, um bis 2013 eine durchschnittliche Be- Die finanzielle Situation ist für das Leben und die Ge- treuungsquote von 35 Prozent zu erreichen. Hier sind sundheit von Alleinerziehenden und ihren Kindern aber deutliche Anstrengungen in Ländern und Kommunen ge- von entscheidender Bedeutung; viel zu viele Kinder aus fragt. Wir befinden uns hierbei aber auf einem sehr gu- Alleinerziehendenfamilien leben mit einem Armutsri- ten Weg – in Ostdeutschland liegt die Betreuungsquote siko. Der Anteil der Alleinerziehendenhaushalte, die schon jetzt bei teilweise 60 Prozent. ALG-II-Leistungen oder Sozialgeld beziehen, ist über- durchschnittlich hoch. Hier werden wir Lösungen und Im Koalitionsvertrag haben wir weitere Maßnahmen Wege finden, wie diesem Trend entgegengewirkt werden für einen verbesserten qualitativen und quantitativen kann. Das Merkmal „alleinerziehend“ darf nicht in di- flexiblen Ausbau bei Trägervielfalt auch unter Einbezie- rekter Verbindung mit prekären finanziellen Verhältnis- hung der Tagespflege vereinbart. Hierzu gehört nach sen stehen. Auffassung der Liberalen ein Mix von Elterninitiativen, Zwei Drittel der nicht erwerbstätigen Alleinerziehen- Kinderbetreuungseinrichtungen, Tagesmüttern und -vä- den würden aber gerne arbeiten. Wir werden daher neue tern, privaten und privat-gewerblichen Initiativen und Wege finden müssen, um alleinerziehenden Elternteilen betriebsnahen Einrichtungen, die sich durch Flexibilität den Weg in den Beruf zu ermöglichen. So ist zu prüfen, der Betreuungszeiten, ein qualitativ hochwertiges Ange- wie durch Anreizsysteme die Teilzeitbeschäftigung at- bot oder durch Hol- und Bringdienste der veränderten traktiver ausgestaltet werden kann, um die Vereinbarkeit Nachfragesituation anpassen. von Familie und Erwerbsleben zu erleichtern und Al- (B) In einer Allianz von Bildungs- und Familienpolitik (D) leinerziehenden so die schrittweise Rückkehr in das Er- gehören Kindertageseinrichtungen und Tagespflege zum werbsleben zu ermöglichen. Fundament des Bildungssystems. Kinderbetreuungsein- Was junge Alleinerziehende ohne Abschluss einer richtungen und Schulen müssen personell und struktu- Ausbildung oder mit dem Wunsch nach Weiterbildung rell verlässlich ausgestaltet sein, um ihrem Bildungs- betrifft, werden wir innerhalb des jetzigen Finanzie- und Betreuungsauftrag umfassend gerecht werden zu rungssystems bessere Unterstützungsmaßnahmen schaf- können. Ganztagsangebote mit Mittagessen müssen ver- fen. Überlegungen wie etwa besondere Darlehen und stärkt angeboten werden. Stipendien oder Zuschüsse für die Kinderbetreuung für Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest: Die Ver- Alleinerziehende während einer (Teilzeit-)Ausbildung besserung der Situation von Alleinerziehenden stellt oder eines Fernstudiums sind hier mögliche Optionen. klare Forderungen an den Staat, bis zu deren Erfüllung Die Regierungsfraktionen setzen sich außerdem dafür es noch viel zu tun gibt. In diesem Zusammenhang sind ein, als Sofortmaßnahme im Rahmen der bestehenden jedoch Maßnahmen wie ein flächendeckender Mindest- Ausbildungsförderung für junge Menschen ein Baby- lohn, wie er im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die BAföG einzuführen. Danach wird jeder Mutter, die Grünen gefordert wird, nicht der richtige Ansatz. Anstatt BAföG bezieht, die Möglichkeit eingeräumt, anstelle des Arbeitsplätze zu riskieren, geht es vielmehr darum, bes- jetzt vorgesehenen Darlehensteilerlasses nach Ab- sere Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Fa- schluss des Studiums für die Dauer ihres BAföG-Bezugs milie und Beruf besonders auch für Alleinerziehende zu eine Zulage – Baby-BAföG – zu beziehen. Gleichzeitig schaffen. Dafür setzen wir uns ein. wollen wir uns bei den Hochschulen, Ländern und Ge- meinden für einen qualitativen und quantitativen Aus- Jörn Wunderlich (DIE LINKE): bau der Kinderbetreuung an Hochschulen bzw. an Hochschulstandorten einsetzen. Wir befassen uns heute in erster Lesung mit dem An- trag der Fraktion der Grünen, die Unterstützung für Al- Flexible Arbeitszeitmodelle oder auch Sabbaticals leinerziehende zu verbessern. Im September 2008 habe für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ich zu einem fast gleichlautenden Antrag Ihrer Fraktion werden wir gerade auch mit Blick auf die steigende Zahl festgestellt, dass Ihr Antrag in vielen Dingen die Unter- von Alleinerziehenden ausbauen. Möglichkeiten zur Ver- stützung der Linken findet und richtig gedacht ist. Aber einbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sind auch kritisch habe ich auch darauf hingewiesen, dass Ihr An- im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. trag in einigen Positionen nur halbherzig und unkonkret Großbetriebe gehen zu 66 Prozent davon aus, dass fami- ist.

Zu Protokoll gegebene Reden 5412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Jörn Wunderlich (A) Mit Interesse habe ich nun den vorliegenden Antrag ge- In Ihrem Antrag klingt es sinngemäß: gemeinsam mit (C) lesen. Es bleibt die Frage: Was wollen Sie wirklich – ich den Ländern Unterstützungsangebote für Alleinerzie- betone: wirklich – mit dem Antrag erreichen? Wie kon- hende im sozialen Nahraum etablieren, um bei der Be- kret wollen Sie den Alleinerziehenden wirklich helfen? wältigung von multiplen Problemlagen zu helfen. – Was Ich kann nur feststellen: Den Alleinerziehenden wird mit soll das? Sie bleiben auch hier Ihren unverbindlichen Ihrem Forderungspaket nicht wirklich geholfen. Die Al- Forderungen treu. leinerziehenden werden wieder alleine gelassen, weil Sie in Ihren Forderungen unkonkret und an der Oberflä- Zum Schluss noch zum Punkt II.4 Ihres Antrages: Ich che bleiben. zitiere: Das Interessante jedoch ist: Mir kommen einige For- Die Benachteiligung von Transferempfängern beim mulierungen in Ihrem Antrag bekannt vor. Ich nenne ein Elterngeld, die insbesondere Alleinerziehende be- Beispiel: In Ihrem Antrag fordern Sie auf Seite 2 unter trifft (wieder) zu beseitigen. Punkt II.1, um die spezifischen Benachteiligungen Al- Sie wollen hier etwas abschaffen, was noch gar nicht leinerziehender auszugleichen, den Rechtsanspruch auf geltendes Recht ist? Was soll diese Forderung? ganztägige Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen. Eine langjährige Forderung der Linken! Bei Ihnen gibt Fazit: Wenn Sie den Alleinerziehenden wirklich hel- es nur eine kleine Einschränkung: Sie haben sich nicht fen wollen, dann lassen Sie uns konkrete Vorschläge er- getraut, unsere Forderung nach Gebührenfreiheit mit zu arbeiten. Es müssen sofort spürbare Veränderungen auf übernehmen. den Tisch, wenn die Politik nicht weiter an Glaubwür- digkeit verlieren soll. Mit Ihrem Antrag wollen Sie of- Weiterhin wollen Sie spezifische Benachteiligungen fene Türen einlaufen? Nein! Sie bleiben wieder vor den in der Steuerpolitik für die Alleinerziehenden ausglei- offenen Türen stehen und suchen verzweifelt nach der chen. – Wie schön. Welche spezifischen Benachteiligun- Klinke. Eine materielle Sicherstellung der Alleinerzie- gen meinen Sie? Was wollen Sie ändern? Und – falls es henden lässt Ihr Antrag vermissen. Lassen Sie uns bes- Ihnen nicht aufgefallen sein sollte – Sie haben den gan- ser gemeinsam eine Lösung finden – im Interesse aller zen Abschnitt zu den Steuererleichterungen für die Al- Kinder. leinerziehenden, wie er im alten Antrag noch enthalten war, im vorliegenden Antrag gestrichen. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was soll das also? Weiter wollen Sie – Spiegelstrich 10 – Wer Kinder erzieht, verdient Respekt. Doch Respekt „… gemeinsam mit den Ländern im BAföG eine Kinder- und warme Worte allein reichen nicht! Familien brau- komponente … ergänzen, die eine bessere Vereinbarkeit chen gute Rahmenbedingungen und tatkräftige Unter- (B) (D) von Elternschaft und Studium während der Ausbildungs- stützung. Das gilt umso mehr für Alleinerziehende. Sie phase ermöglicht …“. Diese Kinderkomponente gibt es sind im Alltag stärker belastet, müssen viele schwierige bereits. Es wäre doch im Interesse der Alleinerziehenden Entscheidungen oft alleine treffen und sind in kritischen besser, über eine Anhebung der Kinderkomponente Situationen oft auf sich gestellt. Alleinerziehende sind nachzudenken. öfter von Armut betroffen als Paare mit Kindern. Auf- Ich komme zu Punkt II.2 Ihres Antrages: Mit den For- grund dieser Belastungen haben Alleinerziehende sogar derungen zu den Regelsätzen gehen wir konform. Wo einen schlechteren Gesundheitszustand. Alleinerzie- bleiben Ihre Forderungen zum Kinderzuschlag? 67 Pro- hende sind keine Randgruppe in unserer Gesellschaft. zent der Alleinerziehenden nehmen den Kinderzuschlag Nahezu jedes siebte Kind in den alten Bundesländern in Anspruch; ein Großteil, obwohl er dadurch geringere wird von einem Elternteil allein großgezogen. In den Leistungen erhält als beim ALG II, und dies nur, um neuen Bundesländern ist es sogar jedes fünfte Kind. Fa- Hartz IV zu entkommen. Im Wissen darum, dass die Kin- milie in Deutschland ist bunt und vielfältig. Dem müssen der derjenigen damit zwar aus der Hartz-IV-Statistik, die Unterstützungsstrukturen in der Familienpolitik nicht aber aus der Armut verschwinden, verzichten Sie Rechnung tragen. auf konkrete Forderungen. Wir fordern die Ministerin Ein Blick in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag auf, die Einkommensgrenzen zu streichen, den Kinderzu- macht einen fast glauben, Union und FDP hätten das schlag auf wenigstens 200 Euro anzuheben und den verstanden. Denn dort heißt es: „Wir wollen die Rah- Mehrbedarf für Alleinerziehende als Erhöhungsbetrag menbedingungen für Alleinerziehende durch ein Maß- auszuzahlen. Damit wäre den Alleinerziehenden spür- nahmenpaket verbessern. Dieses soll insbesondere in bar geholfen. verlässlichen Netzwerkstrukturen für Alleinerziehende Ich komme zu Punkt II.3: Ihre Forderungen klingen lückenlos, flexibel und niedrigschwellig bereitgestellt genauso unverbindlich, wie die Formulierungen im Ko- werden.“ Der Blick auf das Regierungshandeln ist umso alitionsvertrag der Bundesregierung. Ich zitiere aus dem ernüchternder. Was unternimmt die Bundesregierung Koalitionsvertrag: denn tatsächlich für Alleinerziehende? Den Anspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren zu ver- Wir wollen die Rahmenbedingungen für Alleiner- teidigen, reicht nicht. Die Herausforderungen in diesem ziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern. Bereich sind riesig: Nicht nur quantitativ, auch qualita- Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerk- tiv brauchen wir deutliche Verbesserungen. Wo sind die strukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibel Ganztagsplätze, auf die berufstätige Mütter so dringend und niedrigschwellig bereitgestellt werden. angewiesen sind? Was unternimmt die Bundesregierung,

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5413

Katja Dörner (A) um die Einkommenssituation von Alleinerziehenden zu Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18: (C) verbessern? Passiert etwas in Richtung sozialer und ge- Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver sundheitlicher Unterstützung? Nein, passiert ist nichts. Krischer, Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell, weiterer Im Gegenteil: Die Koalition hat sich gerade von der Re- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ form des Kinderzuschlags verabschiedet, von der vor al- DIE GRÜNEN lem Alleinerziehende profitieren sollten. Auch in der Versenkung verschwunden sind Pläne zur Verbesserung Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen des Unterhaltsvorschusses, der gezahlt wird, wenn un- – Drucksache 17/2142 – terhaltspflichtige Väter keinen Unterhalt leisten. Überweisungsvorschlag: Die Koalition macht Politik mit sozialer Schieflage, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss von der Alleinerziehende entweder gar nicht profitieren Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit oder die sie stärker als andere Familien belasten. Dazu Haushaltsausschuss ein Beispiel: Die Kindergelderhöhung auf 184 Euro bringt 38 Prozent der Alleinerziehenden keine Verbesse- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden rung; denn sie bekommen ALG-II-Leistungen und das der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Rolf Kindergeld wird komplett angerechnet. Für diese Kinder Hempelmann, Paul K. Friedhoff, Ulla Lötzer und Oliver und ihre Eltern bedeutet es nicht nur leer auszugehen, Krischer. sondern noch weitere 20 Euro weniger zu haben als an- dere. Ebenso sind Alleinerziehende durch die Streichung des Sockelbetrages beim Elterngeld überproportional Thomas Bareiß (CDU/CSU): betroffen. Und Arbeitsministerin von der Leyen setzt Das Thema Steinkohlesubventionen ist ein schwieri- dem allen die Krone auf. Sie garniert die geltende Geset- ges und emotionales Thema. Dies hat vielerlei Gründe. zeslage zur Arbeitsförderung und Arbeitsvermittlung mit Zum einen entsteht diese Emotionalisierung durch die Allgemeinplätzen und Propaganda und nennt das Ver- große Bedeutung der Steinkohle in unserem derzeitigen Energiemix und die langjährige Tradition in Deutsch- mittlungsoffensive für Alleinerziehende. Die Koalition land, zum anderen aufgrund ihrer Bedeutung als lang- befindet sich seit acht Monaten in permanenten Start- jährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet. schwierigkeiten. Zu Taten wird sie sich wohl schwerlich durchringen. Zu leiden haben darunter gerade die Fa- Erstens. Bedeutung von Steinkohle: Stein- und Braun- milien und Kinder, die sowieso schon mehr schultern kohle sind die einzigen heimischen fossilen Energieroh- müssen als andere. stoffe und haben daher eine besondere Bedeutung für (B) Deutschland. Weltweit ist Deutschland mit circa 24 Millio- (D) Alleinerziehende brauchen gezielte Unterstützung. nen Tonnen geförderter Steinkohle im Jahr hinter bei- Sie brauchen wirksamen Schutz vor Armut und Arbeits- spielsweise China, den USA, Indien, Australien und Russ- losigkeit, und daher eine funktionierende adäquate Ar- land weltweit auf Platz zehn bei der Förderung von beitsvermittlung und eine gerechte Kindergrundsiche- Steinkohle. Innerhalb der EU liegt Deutschland nach rung. Sie brauchen qualitativ hochwertige ganztägige Polen auf Platz zwei. Bei der aktuellen Förderquote liegt Kinderbetreuung, und damit es mit dem Rechtsanspruch die Reichweite der deutschen Kohle bei etwa 400 Jahren. schnell klappt und überhaupt klappt, muss sich die Bun- Insbesondere die Menschen in der Region haben eine desregierung noch mal mit Ländern und Kommunen zu- besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem sammensetzen, realitätstaugliche Zahlen auf den Tisch historische Gründe. Das Ruhrgebiet gilt als eine der be- legen und ein faires, solides Finanzierungssystem verab- deutendsten deutschen und europäischen Industrie- reden. Alleinerziehende brauchen aber auch niedrig- regionen. Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie mög- schwellige Unterstützungsangebote, die ihnen den All- lich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über tag erleichtern und ihre Gesundheit stärken statt Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes Sparmaßnahmen bei Gesundheit und Jugendhilfe. und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war der Stein- Bislang verweigern Sie diesen Familien die notwen- kohlebergbau ein Fundament für den Wiederaufbau. In dige Unterstützung. Angesichts der Aussage im Koali- den 50er-Jahren erreichte der Steinkohlebergbau einen tionsvertrag will ich aber die Hoffnung noch nicht auf- Anteil von über 10 Prozent am Bruttosozialprodukt. geben, dass wir auf der Grundlage der Vorschläge in Heute hat die Steinkohle einen Anteil von 14 Prozent unserem Antrag gemeinsam Maßnahmen in die Wege am Endenergieverbrauch und 18 Prozent am Brutto- leiten, um Alleinerziehende und ihre Kinder besser zu stromverbrauch. Kurz- und mittelfristig wird sie nicht unterstützen. ohne Weiteres substituiert werden können. Dies ist be- sonders daran erkennbar, dass die Absicherung der Mit- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tellast fast ausschließlich von Steinkohlekraftwerken be- reitgestellt wird. Mögliche Alternativen sind zwar Erd- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf und Biogas. Verglichen mit den Herstellungskosten von Drucksache 17/2330 an den Ausschuss für Familie, Se- rund 3 Cent – ohne Subventionen – für die Herstellung nioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie da- einer Kilowattstunde Strom aus Steinkohle, sind trotz der mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über- Erhöhung des Herstellungspreises aufgrund des Weg- weisung so beschlossen. falls der Subventionierung Erdgas oder Biogas eine sehr 5414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Thomas Bareiß (A) unwirtschaftliche Alternative zur Bereitstellung der Mit- tens einen gelungenen Kompromiss zwischen der Not- (C) tellast. Demnach wird mittelfristig die Steinkohle auch wendigkeit des Subventionsabbaus und dem Schutz der weiterhin eine wichtige Rolle in unserem Energiemix Arbeitnehmer in dieser Branche dar. spielen. Drittens. Revisionsklausel: Im Steinkohlefinanzie- Der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in rungsgesetz wurde festgelegt, dass dem Deutschen Bun- Deutschland ermöglicht höhere Minderungsziele für den destag bis spätestens 30. Juni 2012 ein Bericht zugelei- CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber auch – und das tet wird, auf dessen Grundlage nochmals geprüft werden sage ich in aller Deutlichkeit – den Neubau von Kohle- soll, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung der Ge- kraftwerken notwendig. Diese werden zur Ergänzung sichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Ener- des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwankenden gieversorgung und der übrigen politischen Ziele weiter Angebots an erneuerbaren Energien dringend ge- gefördert werden soll. braucht. In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieser Bericht und Zudem ermöglicht der Bau von neuen, hoch effizien- somit die Revision der Steinkohleförderung vorgezogen ten Kraftwerken das Abschalten alter und ineffizienter werden soll. Ein Vorziehen der Revision erachte ich Anlagen aus Klimaschutzgründen. Exemplarisch ist das nicht nur für unnötig, sondern auch für falsch. zurzeit im Bau befindliche Kohlekraftwerk Datteln, das zu den modernsten seiner Art gehört. Mit einem Wir- Die wichtigste Komponente der Wirtschaftspolitik ist kungsgrad von 45 Prozent ist Datteln eines der effizien- es, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich testen Steinkohlekraftwerke weltweit und spart gegen- die Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen über Altkraftwerken 20 Prozent CO2 pro erzeugter können. Es wurde seinerzeit eine gute Regelung getrof- Kilowattstunde Strom. Mithilfe von Kraftwärmekopp- fen, auf die sich die Region und die Menschen dort ver- lung – KWK – kann dabei ein Nutzungsgrad von über lassen. Diesen Vertrauensschutz und die Planungssi- 50 Prozent erreicht werden. cherheit dürfen wir keinesfalls gefährden. Im Sinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik halte ich ein Fest- Andere Länder setzen zunehmend auf Steinkohle. In halten an der derzeitigen Regelung für notwendig. China gehen jede Woche mehrere Kohlekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits der größte Steinkoh- Zudem halte ich es für sinnvoll, den Abschluss der leförderer weltweit sind, importieren sie sogar Stein- Szenarienberechnungen für das Energiekonzept am kohle aus anderen Ländern. Auch die massiven Investi- 27. August und das vollständige Energiekonzept, das tionen der USA in CCS und die Entscheidung der EU für Ende November dieses Jahres fertiggestellt sein wird, CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Steinkohle durch- abzuwarten. Darin werden die Strategien und Ziele für (B) aus Zukunft hat. die Energiepolitik der nächsten Jahre festgelegt; (D) Zweitens. Steinkohleförderung in Deutschland: Was ebenso, wie der künftige Energiemix aussehen wird. die Zukunft der Steinkohleförderung in Deutschland an- Auch die Bedeutung von Steinkohle wird hierin klarge- geht, ist Folgendes zu sagen: Mit dem Steinkohlefinan- stellt werden. Demnach bin ich der Meinung, dass das zierungsgesetz aus 2007 ist eine wichtige ordnungspoli- Energiekonzept zunächst abgewartet werden sollte. tische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte Ferner machen eine erneute Überprüfung und ein Be- Subventionsabbau seit Bestehen der Bundesrepublik be- richt zu dieser Frage durch die Bundesregierung erst auf schlossen worden. Der deutsche Steinkohlebergbau ist Grundlage des Energiekonzepts Sinn, da darin energie- seit vielen Jahren aufgrund seiner ungünstigen geologi- politische Ziele und Aspekte der Energieversorgung zu- schen Bedingungen international nicht wettbewerbsfä- grunde gelegt werden müssen, was erst abschließend mit hig. Milliardenschwere Subventionen, fast zwei Milliar- Verabschiedung des Energiekonzepts erfolgen wird. den Euro pro Jahr in den letzten Jahren waren bisher notwendig, damit der deutsche Steinkohlebergbau wett- In dem Bericht muss ergebnisoffen und sachlich fest- bewerbsfähig bleibt. gestellt werden, ob der Steinkohleabbau in Deutschland wirtschaftlich und wettbewerbsfähig ist und welche Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt be- Rolle Steinkohle im Energiemix der nächsten Jahre und reits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle Jahrzehnte in Deutschland spielen wird. In dem Bericht in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht er- der Bundesregierung müssen alle Belange abgewogen reichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirt- und Veränderungen, die seit Verabschiedung des Be- schaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit schlusses eingetreten sind, mit einbezogen werden. aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies soll nicht heißen, dass die Förderung von Stein- Viertens. Sofortiger Ausstieg: Ferner fordern Sie eine frühere Beendigung des Steinkohlebergbaus, als sie im kohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, Steinkohlefinanzierungsgesetz festgelegt wurde – 2018 –, sondern dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit stehen muss, was übrigens für alle da dies den Haushalt belasten würde. Angesichts der Energieträger gilt. derzeitigen Haushaltslage und der empfindlichen Spar- anstrengungen, die jedes Ressort zu tragen hat, sind alle Folglich teile ich die Meinung der Antragsteller, dass Subventionierungen genauestens auf den Prüfstand zu die Beendigung der Steinkohlesubventionierung drin- stellen. Ich bin grundsätzlich gegen Subventionierun- gend notwendig war. Der Ausstiegsbeschluss von 2007 gen, jedoch muss in jedem Einzelfall genau abgewogen war somit richtig und wichtig und stellt meines Erach- werden, welche sonstigen Auswirkungen das hat.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5415

Thomas Bareiß (A) Richtig ist, dass mit dem Steinkohlefinanzierungsge- haltene Revisionsklausel eröffnet die Möglichkeit, dass (C) setz von 2007 ein historischer Schritt in Richtung Sub- der Steinkohlekompromiss spätestens im Jahr 2012 noch ventionsabbau getan wurde. Was den endgültigen Zeit- einmal im Lichte aktueller energiepolitischer Rahmen- punkt des Auslaufens der Subventionen angeht, ist zu bedingungen überdacht wird. Auf diese Weise hat sich sagen: Ein früherer Ausstieg als 2018 ist grundsätzlich Deutschland die Möglichkeit zur Fortführung der heimi- möglich, jedoch zu dem Preis, dass viele Tausend Be- schen Steinkohleförderung in Form eines Sockelberg- schäftigte in dieser Branche kurzfristig in die Arbeitslo- baus erhalten. sigkeit entlassen werden – und das in einer ohnehin von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Region. Die SPD hat immer deutlich gemacht, dass die Op- tion der Revision spätestens 2012 – möglichst schon Ich denke, zur Zeit des Ausstiegbeschlusses wurde ein früher – gezogen werden muss. Insofern kann meine vernünftiger Konsens mit allen Beteiligten – Beschäftig- Fraktion den Antrag der Grünen allein dem Titel nach ten, Unternehmen und Politik – geschlossen, der seine unterstützen. Inakzeptabel ist jedoch, dass mit dem An- Berechtigung hat. Diese Regelung beendet die Subven- tragstext der Versuch unternommen wird, der geforder- tionierung im deutschen Steinkohlebergbau auf sozial- ten Überprüfung ein Ergebnis vorwegzunehmen. Denn verträgliche Weise. Der vereinbarte Ablaufzeitraum bis mit dem Wunsch nach einem frühzeitigeren Auslaufen 2018 stellt sicher, dass betriebsbedingte Kündigungen des Steinkohlebergbaus fordern die Grünen nichts ande- im Steinkohlebergbau vermieden werden können. res als die Aufkündigung des Steinkohlekompromisses. Ferner dürfen wir die durch langwierige politische Als SPD-Fraktion sind wir ganz klar der Auffassung, Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und dass die Revisionsklausel eine ergebnisoffene Prüfung die damit entstandene Planungssicherheit und das Ver- vorsieht. Beide Pfade – sowohl der Auslaufpfad bis trauen in die getroffene Regelung nicht zerstören. Ange- 2018 als auch die Fortführungsperspektive als Sockel- sichts der Größe der Branche, über die wir reden, brau- bergbau – müssen gleichberechtigt geprüft und im chen wir einen sozialverträglichen Ausstieg aus der Lichte aktueller Entwicklungen bewertet werden. Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen Men- schen eine vernünftige Perspektive bieten will. Bei der Ausarbeitung des Steinkohlekompromisses wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass der notwen- Fünftens. Fazit: Die Revision der Vereinbarung zur dige Anpassungsprozess und Strukturwandel sozialver- Beendigung der subventionierten Förderung der Stein- träglich ausgestaltet wird und ohne betriebsbedingte kohle im Jahr 2012 durch den Bundestag wie auch den Kündigungen ablaufen soll. Das Jahr 2018 steht für die Zeitpunkt des endgültigen Ausstiegs 2018 beizubehalten, Maßgabe der Sozialverträglichkeit. Der im Jahr 2007 halte ich aus den eben genannten Gründen für sinnvoll vereinbarte Fahrplan schaffte lang erwartete Klarheit (B) und richtig. Ich sehe daher keine Veranlassung, an dem für die Betroffenen und stellte die Weichen für einen be- (D) Auslaufen der Steinkohlesubventionen und der angemes- rechenbaren Strukturwandel. Wenn die Grünen jetzt ei- senen Übergangs- und Revisionsfrist zu rütteln. Die nen frühzeitigeren Ausstieg aus dem heimischen Stein- CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird Ihren Antrag aus kohlebergbau einfordern, so tun sie das auf Kosten der diesem Grund ablehnen. hierzulande beschäftigten Bergleute und der mittelbar vom Bergbau abhängigen Arbeitnehmer. In Ihrem Antrag zeigt sich ferner die unsachliche und ideologisch geprägte Einstellung der Grünen im Bereich Neben dem Strukturwandel ist das Thema der heimi- der Energiepolitik. Weder ist der Einsatz moderner Koh- schen Steinkohleförderung aber auch eine Frage der lekraftwerke gewünscht noch der Betrieb von Kernkraft- Energieversorgungssicherheit. Die Wirtschaftlichkeit werken als Brücke in das regenerative Zeitalter. Aber des deutschen Steinkohlebergbaus wird in dem Antrag auch Sie müssen einsehen, dass wir bei der Energiever- der Grünen kategorisch verneint. Die Schlussfolgerung sorgung nicht von heute auf morgen auf Wind und Sonne ist der frühzeitige Ausstieg. Ganz so einfach darf man umschalten können. Sie fordern einen Strukturwandel in sich es nicht machen. Es ist keine Frage, dass der der Energiepolitik, doch wird von Ihnen kein schlüssiges Steinkohlebergbau in Deutschland wegen der schwieri- Konzept vorgelegt, wie ohne fossile Brennstoffe kurz- gen Förderbedingungen heute nicht wettbewerbsfähig und mittelfristig die Grund- und Mittellast im Besonde- ist. Die Versorgung mit Importkohle gilt als zuverlässig ren, die Energieversorgung im Allgemeinen sicher und und sicher. In der Zukunft droht das Marktgleichgewicht bezahlbar abgesichert werden soll. jedoch durcheinander zu geraten, weil die stark wach- sende Nachfrage in Asien nicht gleichgewichtig durch Rolf Hempelmann (SPD): die Erschließung neuer Quellen ausgeglichen wird. Wir Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erinnert im vor- wissen, dass wir in hohem Maße von Energieimporten liegenden Antrag an die Revisionsklausel des Stein- abhängig und damit Preisentwicklungen an den interna- kohlefinanzierungsgesetzes von 2007. Hintergrund ist tionalen Rohstoffmärkten weitgehend ausgeliefert sind. der 2007 nach intensiven Verhandlungen getroffene Der Weltenergierat warnte kürzlich in einer Studie, dass Kompromiss zwischen Bund, Nordrhein-Westfalen, dem Deutschlands Energieversorgungsrisiko wesentlich Saarland, der RAG AG und der IGBCE zur weiteren Zu- höher sei als das in anderen Industriestaaten. Daher kunft des deutschen Steinkohlebergbaus. Der damals muss im Rahmen einer Prüfung zumindest in Erwägung vereinbarte Fahrplan sieht einen sozialverträglichen gezogen werden, uns den Zugang zu hiesigen Förder- Auslaufpfad für die subventionierte heimische Stein- stätten zu erhalten. Denn einmal aufgegebene Förder- kohleförderung bis zum Jahr 2018 vor. Eine darin ent- quellen können nicht wieder reaktiviert werden.

Zu Protokoll gegebene Reden 5416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Rolf Hempelmann (A) Auch die Preisentwicklung zeigt in der Tendenz, dass liarden Euro für die unrentable Steinkohleförderung in (C) eine zunehmende Annäherung der hiesigen Förderkos- Deutschland ausgeben musste. Fast 10 Prozent aller di- ten an den Weltmarktpreis nicht ganz unwahrscheinlich rekten Subventionen gehen in Deutschland noch immer ist. Im Jahr 2008 schraubten sich die Energiepreise in- in dunkle Schächte statt in helle Köpfe. Der Rohstoff Bil- folge steigender Ölpreise drastisch nach oben. Die dung ist unsere Zukunft und nicht die unrentable Stein- Kraftwerkskohle stieg im Preis von 62 Euro pro Tonne kohleförderung. im Jahr 2006 um 64 Prozent auf 112 Euro im Jahr 2008. Im Zuge der Rezession brachen die Kohlepreise wieder Der Ende 2007 errungene Kompromiss im Steinkoh- ein. Aber das dürfte nicht von Dauer sein – der Trend lefinanzierungsgesetz hat zu Recht die Weichen Rich- zeigt inzwischen wieder nach oben. Daher muss die tung Auslaufbergbau gestellt und einen realitätsfernen Überprüfung des Steinkohlekompromisses ergebnisoffen Sockelbergbau abgelehnt. Das Ziel bleibt klar: In enger und im Lichte dieser neuen Entwicklungen durchgeführt Abstimmung mit den Landesregierungen muss weiterhin werden. Das bedeutet auch, dass vorab keine Fakten ge- geprüft werden, ob und wie der Ausstieg aus der subven- schaffen werden dürfen, die den sozialverträglichen Au- tionierten deutschen Steinkohle beschleunigt werden slaufpfad bis 2018 gefährden bzw. eine Fortführung- kann, ohne dass geschlossene Verträge und Zusagen ge- sperspektive als Sockelbergbau über 2018 hinaus von brochen werden. Angesichts des hohen Qualifikations- vornherein ausschließen. niveaus der deutschen Bergleute habe ich jedoch auch keine Bedenken, dass die Beschäftigten sozialverträg- Die SPD-Fraktion plädiert dafür, den allzu einseiti- lich unsubventioniert in anderen Bereichen eingesetzt gen Antrag abzulehnen. Wir sehen die Bundesregierung werden können. Sozialverträglichkeit muss in diesem vielmehr in der Bringschuld, endlich ihr lang angekün- Zusammenhang auch heißen: verträglich für alle Steu- digtes Energiekonzept vorzulegen und konkrete erzahler. Denn sie müssen die Gelder erarbeiten, mit Maßnahmen aufzuzeigen, die den erfolgreichen Ausbau denen der Staat die unrentablen Kohlearbeitsplätze auf- der erneuerbaren Energien fortführen und darüber rechterhält. hinaus erlauben, die enormen Potenziale im Bereich der An höchster Stelle muss bei allem die Sicherheit derer Energieeffizienz und der Energieeinsparung zu heben. stehen, unter deren Wohnstätten noch abgebaut wird. Denn neben den existierenden Optionen wie der heimi- Erdbeben wie im Saarland 2008 oder eine Gefährdung schen Steinkohle sind diese beiden Themen zentrale durch Hochwasser können nicht hingenommen werden. Baustellen auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit von in- Wenn solche Gefahren drohen, ist der Abbau unter den ternationalen Rohstoffmärkten.. gefährdeten Regionen sofort einzustellen.

Paul K. Friedhoff (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion steht mit der Bundesre- (B) (D) Die FDP im Deutschen Bundestag setzt sich bereits gierung für den eingeleiteten Strukturwandel. Auch die seit über 20 Jahren für ein geordnetes Auslaufen des weiteren politischen Akteure sind aufgefordert, diese subventionierten Steinkohlebergbaus in Deutschland Aufgabe tatkräftig zu unterstützen. ein. Zusammen mit der erfolgreichen Koalition von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen wurde eine Eini- Ulla Lötzer (DIE LINKE): gung über das Ende des Steinkohlebergbaus auf den Die Grünen wollen sich offensichtlich in Berlin Weg gebracht. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Schützenhilfe für die Koalitionsverhandlungen in NRW betonen, dass die FDP grundsätzlich nichts gegen den organisieren. Tatsächlich ist die Frage der Kohlepolitik Abbau von Steinkohle in Deutschland hat, zumindest so umstritten zwischen SPD und Grünen. Der hier vorlie- lange nicht, wie dieser ohne Subventionen auskommt gende Antrag macht das sehr deutlich. Die Grünen wol- und keine Gefahren für die Menschen und die Umwelt len offensichtlich den Steinkohlekompromiss aufkündi- schafft. Wenn beim Abbau Schäden verursacht werden, gen. Bereits jetzt und nicht erst 2012 soll über die Frage so müssen die aus der abgebauten Steinkohle gewon- des Sockelbergbaus entschieden werden mit der Absicht, nenen Erträge ausreichen, um für die entstehenden den Sockel jetzt zu den Akten zu legen und ein vorgezo- Schäden dauerhaft aufzukommen. Diese Voraussetzun- genes Ende des Steinkohlebergbaus einzuleiten. Das gen aber sind in Deutschland seit mehr als drei Jahr- lehnen wir ab. Natürlich ist die Verstromung von Kohle zehnten nicht mehr erfüllt. So hat sich beispielsweise der eine der Hauptursachen für Treibhausemissionen bei Preis für eine Tonne Importkohle nach einem kurzen der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Nein zum Hoch im Herbst 2008 schon im Jahr 2009 wieder bei ei- Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Zusammen mit ei- nem Wert eingependelt, der etwa einem Drittel dessen ner Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken blockie- entspricht, was für eine Tonne deutsche Steinkohle aus- ren Kohlekraftwerke den auch in NRW dringend benö- gegeben werden muss. Deshalb hat sich die FDP als ein- tigten Umstieg auf erneuerbare Energien. zige politische Partei bereits in den 80er-Jahren für eine konsequente Beendigung der Steinkohlesubventionen Die Grünen berücksichtigen aber eines nicht: Die eingesetzt. Zu jener Zeit haben die Vorgänger derjeni- Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr gen, die heute hier mit ihrem Antrag einen schnelleren als 15 000 Menschen in NRW. Mit dem Erhalt eines Ausstieg fordern, gegen uns massiv demonstriert. Steinkohlesockels können ein moderner Maschinen- und Anlagenbau und hoch qualifizierte Stellen erhalten wer- Wie nötig aber unser langfristiger Einsatz für den den. Die hierfür benötigten Mittel des Bundes sollten an Ausstieg war und weiter ist, zeigt sich daran, dass der Bedingungen geknüpft und degressiv gestaltet werden. deutsche Steuerzahler seit 1990 bereits über 137 Mil- Deshalb halten wir nach wie vor an einem Steinkohle-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5417

Ulla Lötzer (A) sockel, verbunden mit einem Ausstieg aus der Kohlver- Zweiten Weltkrieg kaum vorstellbar gewesen. Doch (C) stromung, fest. Das gilt in besonderem Maße auch für schon in den 1960er-Jahren zeichnete sich ab, dass die die Ausbildungsplätze. Statt einer Diskussion über die Steinkohle aufgrund der geologischen Gegebenheiten Aufkündigung der Revisionsklausel sollten die Grünen hierzulande auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich ge- in den Koalitionsverhandlungen in NRW endlich einen winnbar sein würde. Importkohle war billiger und au- Dialog mit Gewerkschaften und Handwerkskammern ßerdem sank die Bedeutung der Steinkohle im deutschen über die Zukunft von Jugendlichen in den betroffenen Energiemix. Um den Steinkohlebergbau dennoch zu er- Bergbauregionen aufnehmen. Das wäre ein Stück not- halten, wurden mehr und mehr staatliche Subventionen wendiger Politikwechsel für NRW. Mit den Forderungen eingesetzt. Doch den Niedergang des Bergbaus konnten in ihrem Antrag stellen die Grünen natürlich die Sozial- die staatlichen Mittel nicht aufhalten. Heute sind es ge- verträglichkeit des Abbaus infrage. Das betrifft die früh- rade noch einmal 5 Bergwerke, die übrig geblieben sind. zeitigere Beendigung und vor allem die Prüfung der Die Zahl der Beschäftigten liegt bei unter 5 Prozent, im Kürzung von Subventionen. Sozialverträglichkeit und Vergleich zu den Hochzeiten in den 1950er-Jahren. Politikwechsel gehen anders. Was immer auch die Motive für die Steinkohlesubven- Wir treten dafür ein, die freiwerdenden Mittel so tionen waren, den notwendigen Strukturwandel in den lange für die Bewältigung des Strukturwandels einzuset- Revieren haben sie eher behindert als gefördert. Die zen, bis ausreichend Ersatzarbeitsplätze geschaffen künstliche und dauerhafte Erhaltung nichtwirtschaftli- sind. Für die betroffenen Regionen im Ruhrgebiet und cher Strukturen ist für betroffene Regionen und die im Saarland ist eine Strukturpolitik zu entwickeln. ganze Volkswirtschaft schädlich statt nützlich. Während Schwerpunkt soll eine gezielte Ansiedlungsstrategie für die Förderkosten der deutschen Bergwerke in den letz- Unternehmen im Maschinen- und Anlagebau und im Be- ten Jahren zwischen 122 und 181 Euro je geförderter reich der erneuerbaren Energien werden. Tonne je nach Bergwerk lagen – im Falle des Bergwerks Ost sogar deutlich über 200 Euro je Tonne –, sind die Sie fordern Transparenz in der Verwendung der Sub- Erlöse für die Steinkohle nicht über 70 Euro hinausge- ventionen und der Mittel der RAG-Stiftung. Das reicht kommen. Und selbst 2008, als die Preise für Energieroh- nicht. Wir haben schon 2007 davor gewarnt, dass durch stoffe weltweit explodiert waren, betrug der Erlös deut- die privatrechtliche Steinkohle-Stiftung unter dem Dach scher Bergwerke 116 Euro je Tonne und erreichte damit der RAG auf jegliche Einflussnahme der öffentlichen trotzdem nicht die Förderkosten. Dabei muss man be- Hand beim Ausstieg verzichtet wurde. Das Konzept der denken, dass diese Angaben zu den Förderkosten nicht Bundesregierung, über die private RAG-Stiftung den einmal alle Kosten beinhalten, die der Bergbau verur- Steinkohlebergbau abzuwickeln, ohne die Steuerzahle- sacht. Altlasten und Ewigkosten – wie zum Beispiel die (B) rinnen und Steuerzahler noch mehr zu belasten, ist ge- auf ewig zu zahlenden Kosten der Wasserhaltung und (D) scheitert, bevor es losging. Die öffentliche Stiftung hätte Polderung im Ruhrgebiet und am Niederrhein, die erfor- die strukturpolitischen Aufgaben im Ausbildungsbe- derlich sind, damit die durch den Bergbau um bis zu reich, im öffentlichen Beschäftigungssektor und bei den 25 Meter abgesenkten Gebiete nicht absaufen – sind bei Wohnungsbauunternehmen übernehmen können. Man den Förderkosten gar nicht eingerechnet. hätte so einen Strukturwandel organisieren können, hin zu einer verstärkten Energieeffizienz und zu einer ver- Jeder weitere Bergbau in Zukunft führt zu neuen stärkten Nutzung erneuerbarer Energien. Bergschäden, Altlasten und Ewigkosten, die angesichts der fehlenden wirtschaftlichen Perspektive und der öf- Der DGB und der Naturschutzbund in Nordrhein- fentlichen Milliardensubventionen unverantwortlich Westfalen sind sich der Verantwortung im größten In- sind. Deshalb ist es richtig, den Bergbau so schnell wie dustrie- und Energieerzeugerland bewusst. Sie fordern: möglich auch schon vor dem im Gesetz verankerten Ter- Der sozial-ökologische Umbau dieses Bundeslandes min 2018 sozialverträglich zu beenden. Dazu schlagen braucht gesellschaftlichen Dialog statt Konfrontation. wir vor, die im Steinkohlefinanzierungsgesetz verankerte Sie gehen mit dem Antrag den Weg der Konfrontation. Revisionsklausel von 2012 auf dieses Jahr vorzuziehen Das lehnen wir ab. Wir werden dies auch im Landtag und schnell zu prüfen, welche Perspektiven der Bergbau zum Thema machen. tatsächlich noch hat. Wir wollen für die Belegschaften, für die Kommunen und für die Bergbaubetroffenen Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schnellstmögliche Klarheit, wann die verbliebenen Bergwerke geschlossen werden. Dann können sich alle Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2007 das Gesetz auf die Zeit nach dem Bergbau schon heute einstellen. zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten Und vielleicht gelingt es uns bei diesem Prozess, Mög- Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018 verabschiedet. Die lichkeiten aufzuzeigen, wie die Mittel des Bundes für den Entscheidung, den subventionierten Steinkohlebergbau Steinkohlebergbau reduziert werden können. Jedenfalls zu beenden war richtig und überfällig, auch wenn der ist das ein seriöser Weg, den Bundeshaushalt zu entlas- Ausstieg sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbe- ten. dingte Kündigungen, unserer Meinung nach auch schon deutlich früher möglich gewesen wäre. Der deutsche Nicht seriös ist, wenn wie in den letzten Wochen von Steinkohlebergbau hat mit seinen Revieren im Ruhrge- einer Reihe von Koalitionspolitikern – so auch von biet, im Saarland und in der Aachener Region eine Herrn Wirtschaftsminister Brüderle – die Senkung der große Geschichte. Ohne ihn wäre die Industrialisierung Steinkohlesubventionen gefordert wird, und danach unseres Landes und auch der Wiederaufbau nach dem kommt dann nichts mehr, kein konkreter Vorschlag, wie

Zu Protokoll gegebene Reden 5418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

Oliver Krischer (A) man in der Sache angesichts der von der Großen Koali- bergbau noch Milliarden kosten wird, auch wenn das (C) tion geschaffenen Rechtslage und bis 2013 bereits erteil- letzte Bergwerk längst stillgelegt ist. Es gibt erhebliche ter Bewilligungsbescheide, die Subventionen reduzieren Zweifel, ob die Mittel der RAG-Stiftung für die Altlasten will. Solche substanzlosen Forderungen sind nicht an- und Ewigkosten reichen werden. Deshalb sollten wir ders als Populismus, Effekthascherei für die schnelle handeln, damit neue Bergschäden und damit verbun- Schlagzeile. dene Altlasten und Ewigkosten erst gar nicht mehr ent- stehen. Dazu haben wir einen konkreten Vorschlag Dass die RAG heute schon angesichts gestiegener unterbreitet, den wir gerne mit Ihnen in der Sache disku- Weltmarktpreise für Steinkohle einen Teil der Subventio- tieren würden. nen zurückzahlen muss, ist ein Mechanismus, den die Grünen in der rot-grünen Koalition in Berlin und Düs- seldorf 2004 durchgesetzt haben. Davon profitieren die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Haushalte des Bundes und des Landes NRW heute. Vor- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf her war es nämlich so, dass die RAG Subventionen Drucksache 17/2142 an die in der Tagesordnung aufge- bekam, unabhängig von den Weltmarktpreisen und den führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind, wie ich Erlösen für die deutsche Kohle. So hat die öffentliche sehe, damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so Hand der RAG viele Hundert Millionen Euro, wenn beschlossen. nicht Milliarden geschenkt, die gar nicht für den Betrieb der Bergwerke benötigt wurden. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Wir machen heute den konkreten und umsetzbaren Vorschlag, die Revisionsklausel vorzuziehen. So kann Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- man vielleicht tatsächlich die Subventionen für den destages auf morgen, Freitag, den 2. Juli 2010, 9 Uhr, Bergbau reduzieren und es nicht nur populistisch for- ein. dern. Ein schnellerer, sozialverträglicher Ausstieg ist Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch möglich und sinnvoll, wenn man diese Option im Rah- eine heitere Sommernacht. men der Revisionsklausel ernsthaft prüft. Allen Beteilig- ten muss aber auch klar sein, dass uns der Steinkohle- (Schluss: 22.05 Uhr)

(B) Berichtigung (D) 49. Sitzung, Seite 4992 (C), dritter Absatz, der zweite Satz ist wie folgt zu lesen: „Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.“ Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5419

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 chen 17/1901, 17/2173) (49. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 9 b) Liste der entschuldigten Abgeordneten Mein Name ist in der Liste der Antragsteller nicht aufgeführt. Ich erkläre, dass mein Votum „Ja“ lautet. entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 3 Aigner, Ilse CDU/CSU 01.07.2010 Antwort Beckmeyer, Uwe SPD 01.07.2010 der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Gerd Bollmann (SPD) (Drucksache Buchholz, Christine DIE LINKE 01.07.2010 17/2285, Frage 3): Wie sieht der weitere Zeitplan für die Umsetzung der Ab- Dyckmans, Mechthild FDP 01.07.2010 fallrahmenrichtlinie vor dem Hintergrund aus, dass zum 12. Dezember 2010 die Abfallrahmenrichtlinie der EU in na- Freitag, Dagmar SPD 01.07.2010 tionales Recht umgesetzt werden muss, da bis jetzt nur ein nicht abgestimmter Arbeitsentwurf vorliegt und bei Nichtein- Friedhoff, Paul K. FDP 01.07.2010 haltung der Umsetzungsfrist ein Strafverfahren droht? Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Groth, Annette DIE LINKE 01.07.2010 Reaktorsicherheit stimmt derzeit den Referentenentwurf zur Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes innerhalb Gruß, Miriam FDP 01.07.2010 der Bundesregierung ab und beabsichtigt, diesen mög- lichst noch vor der Sommerpause in die offizielle Anhö- Haibach, Holger CDU/CSU 01.07.2010 rung der Beteiligten Kreise zu geben. Nach Auswertung der Anhörung und endgültiger Abstimmung innerhalb Heil (Peine), Hubertus SPD 01.07.2010 der Bundesregierung ist der Entwurf bei der Europäi- schen Kommission zu notifizieren und soll dann noch in Höger, Inge DIE LINKE 01.07.2010 diesem Jahr vom Bundeskabinett beschlossen werden. (B) Lange, Ulrich CDU/CSU 01.07.2010 Die Befassung des Bundesrates und Bundestages wird (D) 2011 erfolgen. Möller, Kornelia DIE LINKE 01.07.2010 Die Bundesregierung weist darauf hin, dass der Kom- mission der Arbeitsentwurf zur Novelle des Kreislauf- Nietan, Dietmar SPD 01.07.2010 wirtschaftsgesetzes bereits vorliegt. Das Bundesministe- rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Özoğuz, Aydan SPD 01.07.2010 steht im Übrigen mit der Kommission in einem Dialog über die Umsetzung. Wesentliche für die Notifizierung Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 01.07.2010 relevante Fragen, die vor allem mit der Neuregelung der DIE GRÜNEN kommunalen Überlassungspflichten zusammenhängen, Wolff (Wolmirstedt), SPD 01.07.2010 werden von der Kommission im Übrigen im Zusammen- Waltraud hang mit der Beantwortung des Auskunftsersuchen, COMP/B-1/39734 – Deutsche Haushaltsabfälle, vom Zapf, Uta SPD 01.07.2010 9. April 2010 bereits vorab geprüft.

Anlage 4 Anlage 2 Antwort Erklärung der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer (SPD) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen (Drucksache 17/2285, Frage 4): Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Welche Erfahrungen hinsichtlich der regionalen Wert- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der schöpfung und der Akzeptanz von Windenergieanlagen bei Kommunen liegen der Bundesregierung nach der Einführung Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung des besonderen Gewerbesteuersplittings für Windkraftanlagen bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/ nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergesetzes vor, und UN-Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) auf wie bewertet sie diese Regelung hinsichtlich des weiteren Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Si- Ausbaus der Onshore-Windenergie? cherheitsrates der Vereinten Nationen vom Für Gemeinden, in denen Windenergieprojekte ge- 31. Juli 2007 und Folgeresolutionen (Drucksa- plant sind bzw. betrieben werden, hat die Regelung zur 5420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Verteilung des Gewerbesteueraufkommens Rechtssi- rungsraten geringer als in früheren Abschätzungen er- (C) cherheit geschaffen. Gleichzeitig stellt die Regelung ei- wartet; trotzdem werde mit Euro 5 eine Verbesserung nen erheblichen wirtschaftlichen Anreiz für die Neuaus- des NOx-Emissionsverhaltens erreicht. weisung von Windeignungsgebieten dar. Damit trägt die Regelung zu einem erheblichen Teil mit dazu bei, die Die Prüfung der Belastbarkeit der Ergebnisse des vorhandenen Windpotenziale im Konsens zwischen Ge- Vorhabens ist noch nicht abgeschlossen. Die Ergebnisse meinden und Investoren zu erschließen. Dies zeigt sich des Vorhabens wurden jedoch bereits in Brüssel im zu- in einer neuen erkennbaren Dynamik bei der Auswei- ständigen Kommissionsfachgremium, der Motor Vehicle sung neuer Windeignungsgebiete seit 2009, was auf eine Emission Group, unter Leitung der Europäischen Kom- deutlich verbesserte Akzeptanz zurückzuführen ist. mission, erörtert. Die Bundesregierung hat die Europäi- sche Kommission in dieser Sitzung eindringlich gebeten, sich des Sachverhaltes anzunehmen und eine Überprü- Anlage 5 fung und Erörterung durchzuführen. Die Europäische Kommission hat dies zugesagt. Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer (SPD) Anlage 7 (Drucksache 17/2285, Frage 5): Antwort Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die An- reize für Gemeinden zur Ausweisung von Flächen zur Wind- der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage energienutzung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergeset- des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) (Drucksache zes auch nach einer möglichen Abschaffung der Gewerbe- steuer erhalten bleiben, und wie werden die Interessen der Er- 17/2285, Frage 9): neuerbaren-Energien-Branche im Rahmen der Arbeit der Ge- Ist der Bundesregierung die Studie „Distant origins of meindefinanzkommission angemessen berücksichtigt? Arctic black carbon: A Goddard Institute for Space Studies ModelE experiment“ von Dorothy Koch und James Hanson Die unter Leitung des Bundesministers der Finanzen aus dem Jahr 2005 bekannt, die die Klimarelevanz von Die- stehende Gemeindefinanzkommission prüft unter ande- selruß nachweist und die Auswirkungen auf das regionale rem Vorschläge zum Ersatz der Gewerbesteuer durch ei- Klima in der Arktis thematisiert? nen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit Hebesatzrecht für die Kommu- Die angesprochene Studie ist der Bundesregierung nen. Diese Vorschläge befinden sich derzeit in der Dis- bekannt. Die Studie thematisiert die Herkunftsquellen kussion. Aussagen zu Detailfragen sind derzeit noch von Ruß, der eine nachgewiesene Wirkung auf das re- gionale Klima der Arktis hat. Die Klimarelevanz von (B) nicht möglich. Die Bundesregierung ist von der Notwen- (D) digkeit überzeugt, dass die Grundsätze und Ziele des Ruß als solche wird in dieser Studie nicht thematisiert. § 29 Abs. 1 Nr. 2 Gewerbesteuergesetz bei einer Neu- Gemäß der Studie könnte ein großer Teil der Rußparti- ordnung der Gemeindefinanzierung entsprechend zu be- kel, die in der Arktis gemessen werden, aus Verbrennung rücksichtigen sind. von Kohle und Diesel und von Biomasse in Südasien stammen. Europa trägt gemäß dieser Studie zu etwa 10 Der Kommission gehören auch Vertreter der kommu- bis 15 Prozent zu diesen Emissionen bei. nalen Spitzenverbände an. Für den Arbeitsschwerpunkt Kommunalsteuern wurde eine Arbeitsgruppe gebildet. Vertreter von Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerk- Anlage 8 schaften werden in geeigneter Weise in die Arbeit der Kommission eingebunden. Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) (Drucksa- Anlage 6 che 17/2285, Frage 10): Antwort Wenn die Klimarelevanz von Dieselruß und die Auswir- der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage kungen auf das regionale Klima in der Arktis der Bundesre- gierung bekannt sind, wann gedenkt die Bundesregierung ein der Abgeordneten Ute Vogt (SPD) (Drucksache 17/2285, konkretes Minderungsziel für Dieselruß in ihre nationale Kli- Frage 8): maschutzpolitik zu integrieren? Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit Forschungsergebnisse, dass die Der Beitrag von Ruß zur globalen Erwärmung ist Stickstoffoxidemissionen von Euro-5-Lkw im Realbetrieb Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, seine deutlich höher sind als bei der Festlegung der Abgasgrenz- Quantifizierung, etwa durch den IPCC in seinem werte für diese Fahrzeuge erwartet, und besteht die Absicht, 4. Sachstandsbericht, ist mit großen Unsicherheiten be- ein Beschwerdeverfahren gegen die Hersteller einzuleiten? haftet. Wegen der sehr kurzen Lebensdauer von Ruß im Dem BMU sind Ergebnisse eines Forschungsvorha- Vergleich zu den langlebigen Treibhausgasen hat eine bens des niederländischen Forschungsinstituts TNO be- Minderung von Rußemissionen praktisch keine Auswir- kannt. Den Ergebnissen dieses Vorhabens zufolge zeig- kung auf die langfristige globale Temperaturentwick- ten die untersuchten Euro-5-Lkw im außerstädtischen lung. Insofern sind die Aktivitäten der Bundesregierung Betrieb und auf Autobahnen hohe NOx-Minderungsra- zur Vermindung der Rußpartikel Gegenstand der Luft- ten. Im innerstädtischen Betrieb seien die NOx-Minde- reinhaltepolitik und nicht der Klimapolitik. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5421

(A) Anlage 9 aus der Absicht der schleswig-holsteinischen Landesregie- (C) rung, die Wirtschaftsstudiengänge in Flensburg und die Medi- Antwort zinische Fakultät in Lübeck – was zugleich wohl das Aus für die Universität Lübeck insgesamt wäre – zu schließen, und der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage welche Maßnahmen sind vonseiten der Bundesregierung zur der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Sicherung der Hochschulstandorte Lübeck und Flensburg ge- DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 11): plant? Wäre es aus Sicht des Bundesministeriums für Umwelt, Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären Naturschutz und Reaktorsicherheit rein technisch möglich, Strukturen fallen nach dem geltenden föderalistischen die restlichen auf dem Gelände des GKSS-Forschungszen- trum Geesthacht befindlichen abgebrannten Brennstäbe des Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des Forschungsschiffes „Otto Hahn“ in Deutschland, insbeson- Landes Schleswig-Holstein. Die Initiierung konkreter dere auf dem Gelände des dem GKSS-Gelände sehr nahe ge- Maßnahmen ist vonseiten der Bundesregierung daher legenen Atomkraftwerks Krümmel zu verpacken – unabhän- nicht geplant. gig von der aktuellen genehmigungsrechtlichen Situation –, und ist es aus Sicht des BMU sinnvoll, für radioaktive Stoffe möglichst kurze Transportwege – bitte mit Begründung – zu wählen? Anlage 12 Die Grundlagen für den Umgang mit Kernbrennstof- Antwort fen sind die Anforderungen des Atomgesetzes und der zugehörigen Verordnungen. Daher sieht die Bundesre- des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des gierung keine Möglichkeit für eine rein technische Be- Abgeordneten Sönke Rix (SPD) (Drucksache 17/2285, trachtungsweise. Frage 17): Welcher finanzielle Beitrag käme dem Land Schleswig- Die Planungen zur Entsorgung der bestrahlen Kern- Holstein durch die von der Bundesministerin für Bildung und brennstoffe des ehemaligen Forschungsschiffes „Otto Forschung, Dr. Annette Schavan, angeregte Rücknahme der Hahn“ sind durch das Bundesministerium für Forschung mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeführten Sub- und Bildung sorgfältig geprüft und vorbereitet worden, vention für Hoteliers zugute, und könnte damit eine Schlie- ßung der Hochschulstandorte in Flensburg und Lübeck ver- die Möglichkeit einer Einbeziehung des benachbarten hindert werden? Kernkraftwerkes Krümmel hat sich nicht ergeben. Die Umsatzsteuermindereinnahmen durch die im Die bereits zahlreichen erfolgten Stilllegungen von Wachstumsbeschleunigungsgesetz erfolgte Ausdehnung kerntechnischen Einrichtungen in Deutschland erfordern des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf Beherber- in Einzelfällen längere Transportwege. Darüber hinaus gungsdienstleistungen betragen jährlich rund 945 Mil- ist die Streckenlänge für die Transportsicherheit nicht lionen Euro. Davon entfallen auf die Länder rund (B) (D) entscheidend. 422 Millionen Euro. Diese verteilen sich auf die einzel- nen Bundesländer entsprechend § 2 Finanzausgleichsge- setz nach der Einwohnerzahl. Anlage 10 Antwort Anlage 13 des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE Antwort GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 15): des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen Mit welchem Ergebnis hat es zum laut Presseinformatio- der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache nen geplanten Wechsel des Forschungszentrums Borstel von 17/2285, Frage 18): der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz-Gemeinschaft be- reits eine Befassung des Wissenschaftsrates gegeben, bzw. in Gab es Gespräche zwischen der Bundesministerin für Bil- welcher Form ist eine Befassung des Wissenschaftsrates vor- dung und Forschung, Dr. Annette Schavan, und dem schles- gesehen? wig-holsteinischen Ministerpräsidenten mit dem Ziel, einen Weg zur Rücknahme der im Wachstums- Eine Befassung des Wissenschaftsrates ist nicht er- beschleunigungsgesetz eingeführten Mehrwertsteuersubven- folgt und bisher nicht vorgesehen. tion für Hoteliers auszuarbeiten oder abzustimmen? Nein. Anlage 11 Antwort Anlage 14 des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage Antwort des Abgeordneten Sönke Rix (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 16): des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der beim letzten Bil- 17/2285, Frage 19): dungsgipfel zwischen Bund und Ländern bekräftigten bil- Welche Maßnahmen wurden zwischen dem Bund und dem dungspolitischen Ziele gerade im Bereich der Hochschulpoli- Land Schleswig-Holstein besprochen bzw. vereinbart, um der tik, angesichts der jüngst verlängerten Exzellenzinitiative und drohenden Schließung von Spitzenuniversitäten wie der Uni- des Hochschulpaktes und angesichts der von der Bundeskanz- versität Lübeck entgegenzuwirken, und zu welchem Ergebnis lerin Dr. angekündigten „Bildungsrepublik“ – sind die Verhandlungen zwischen dem schleswig-holsteini- 5422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) schen Ministerpräsidenten und dem Bundesministerium für Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- (C) Bildung und Forschung bzw. dem Bundeskanzleramt gelangt? haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig Strukturen fallen nach dem geltenden föderalistischen und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent- Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des scheidungen zur Grundfinanzierung einzelner Hoch- Landes Schleswig-Holstein. Die Initiierung konkreter schulen. Die Initiierung konkreter Maßnahmen ist von- Maßnahmen ist vonseiten der Bundesregierung daher seiten der Bundesregierung daher nicht geplant. nicht geplant. Insgesamt weist die Bundesregierung darauf hin, dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 ver- Anlage 15 einbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, ge- samtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Antwort Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt. des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Florian Pronold (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 20): Anlage 17 Wie will die Bundesregierung der zu beobachtenden Ten- Antwort denz, dass sich die Länder zunehmend aus den Programmen wie beispielsweise dem Hochschulpakt, der Exzellenzinitia- des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen tive oder dem Pakt für Forschung und Innovation, die sie mit der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf) dem Bund vereinbart haben, zurückziehen, entgegenwirken, und wie will sie den daraus resultierenden Defiziten begeg- (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 22 und 23): nen? Welche Auswirkungen hat die Schließung der Hochschul- standorte in Flensburg und Lübeck auf die Erreichung des Die Bundesregierung teilt Ihre Beobachtung nicht, Ziels, bis zum Jahr 2015 mit Mitteln des Bundes 275 000 Stu- dass sich die Länder zunehmend aus mit dem Bund ver- dienplätze schaffen zu wollen, und inwieweit sieht die Bun- einbarten Programmen wie beispielsweise dem Hoch- desregierung hier Handlungsbedarf, insbesondere in Bezug schulpakt, der Exzellenzinitiative oder dem Pakt für For- auf die Umsetzung und Weiterentwicklung des Hochschul- schung und Innovation zurückziehen. Vielmehr gibt es paktes? neue gemeinsame Vereinbarungen, wie zum Beispiel das Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, am 10. Juni 2010 beschlossene Programm zur Verbesse- um – angesichts der Finanzsituation und der Sparzwänge der Länder – in entsprechenden Situationen die Kürzung im Bil- rung der Studienbedingungen und der Qualität der dungs- und Wissenschaftsbereich oder gar die Schließung von (B) Lehre. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefin kompletten Hochschulen zu verhindern, und welche rechtli- (D) und die Regierungschefs der Länder haben im Juni 2009 chen Voraussetzungen sind hierfür notwendig, etwa hinsicht- die Fortführung von Hochschulpakt 2020, Exzellenzini- lich der von der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, angeregten Abschaffung des Koopera- tiative und Pakt für Forschung und Innovation mit erheb- tionsverbotes? lichen zusätzlichen Mitteln für Wissenschaft und For- schung beschlossen. In Umsetzung dieses Beschlusses Zu Frage 22: haben Bund und Länder in der Gemeinsamen Wissen- schaftskonferenz am 21. Juni 2010 den Haushalt der Die Systematik des Hochschulpakts 2020 und die ent- Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For- sprechenden Mittel des Bundes sind an die tatsächliche schungsgemeinschaft für das Jahr 2011 mit einer 5-Pro- bundesweite Aufnahme zusätzlicher Studienanfängerin- zent-Steigerung gegenüber 2010 beschlossen und damit nen und Studienanfänger und nicht an die Existenz ein- ihre gemeinsamen Verpflichtungen aus dem Pakt für zelner Hochschulstandorte geknüpft. Die Bundesregie- Forschung und Innovation erfüllt. rung geht davon aus, dass die Länder, wie im Hochschulpakt 2020 vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebot zur Verfügung stellen. Dies sind verein- Anlage 16 barungsgemäß rund 275 000 zusätzliche Studienanfän- gerinnen und Studienanfänger in den Jahren 2011 bis Antwort 2015. Insofern besteht aus Sicht der Bundesregierung des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage kein Bedarf für eine Anpassung des Hochschulpakts. des Abgeordneten Florian Pronold (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 21): Zu Frage 23: Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- der Einschätzung der Hochschulrektorenkonferenz, dass die Schließung des Medizinstudiengangs an der Universität Lü- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte beck eine Provokation sei (Der Tagesspiegel, „Lübeck als selbstständig und unabhängig vom Bund. Modell?“, 9. Juni 2010) und dass diese Entscheidung einen falschen Schritt mit weitreichenden Konsequenzen, und zwar Unbeschadet davon gilt weiterhin das zwischen Bund nicht nur für die Universität Lübeck und das Land Schleswig- und Ländern im Oktober 2008 in Dresden vereinbarte Holstein, sondern für die Bundesrepublik Deutschland insge- und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaat- samt, darstelle, und wie gedenkt die Bundesregierung im ak- lich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auf- tuellen Fall sowie in denkbaren kommenden Fällen auf die Schließung von exzellenten Studiengängen und Universitäten zuwenden. Zum Erreichen dieses Ziels sind keine Ände- zu reagieren? rungen der rechtlichen Voraussetzungen notwendig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5423

(A) Anlage 18 der Universität zu Lübeck vom 23. Juni 2010) – angesichts (C) der Finanzkrise und der Sparzwänge zunehmend wissen- Antwort schaftliche Exzellenz nicht mehr finanzieren können, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung auch vor des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage dem Hintergrund der jüngst verlängerten Bund-Länder-Initia- des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache tiven Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Pakt für For- 17/2285, Frage 24): schung und Innovation aus den offenkundig massiven Finan- zierungsproblemen der Länder hinsichtlich des Erhalts Hat sich die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel mit der wissenschaftlicher Exzellenz? hochschulpolitischen Situation in Schleswig-Holstein be- fasst, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundeskanzle- rin aus den aktuellen Debatten für die Weiterführung der Zu Frage 26: Pläne zur Schaffung einer „Bildungsrepublik Deutschland“? Angesichts der föderalen Kompetenzverteilung und Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- der Zuständigkeit der Länder für die Hochschulen kann haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte die Bundesregierung die Einrichtung oder Schließung selbstständig und unabhängig vom Bund. von Studiengängen durch einzelne Länder nicht steuern. Der Bund leistet bereits mit dem Hochschulpakt 2020 ei- Unbeschadet davon gilt weiterhin das zwischen Bund nen Beitrag zur Finanzierung der Medizinausbildung in und Ländern im Oktober 2008 in Dresden vereinbarte Deutschland. und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaat- lich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auf- Zu Frage 27: zuwenden. Zum Erreichen dieses Ziels sind keine Ände- rungen der rechtlichen Voraussetzungen notwendig. Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig Anlage 19 und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent- scheidungen zur Grundfinanzierung der Hochschulen Antwort und zu weiteren Maßnahmen, die die Leistungsfähigkeit des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage der einzelnen Hochschulen in Forschung und Lehre un- des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache terstützen. 17/2285, Frage 25): Wichtige Voraussetzungen für Innovationen und ein Hat die Bundesregierung eine Lösung zum Erhalt der Uni- langfristiges Wachstum sind wissenschaftliche Exzel- versität Lübeck nach dem Modell des Karlsruher Instituts für lenz und hochqualifizierter Nachwuchs. Die Bundesre- Technologie, KIT, also des Zusammenschlusses einer Univer- gierung hat diesen Zusammenhang auch im Lichte der (B) sität in Landeshoheit mit Aufgaben in Lehre und Forschung (D) und einer Großforschungseinrichtung der Helmholtz-Gemein- Finanz- und Wirtschaftskrise betont und leistet bereits schaft mit programmorientierter Vorsorgeforschung im Auf- zahlreiche Beiträge zur Stärkung von wissenschaftlicher trag des Staates, geprüft, und zu welchem Ergebnis ist die Exzellenz an Hochschulen. Die Bundesregierung steht Prüfung gekommen? darüber hinaus zu den Verpflichtungen, die sie gemein- Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären sam mit den Ländern beim Hochschulpakt 2020, der Ex- Strukturen in Lübeck fallen nach dem geltenden födera- zellenzinitiative und dem Pakt für Forschung und Inno- listischen Kompetenzgefüge in die originäre Zuständig- vation eingegangen ist. Sie sieht diese gemeinsamen keit des Landes Schleswig-Holstein. Konkrete Aussagen Programme und die darin verfolgten Zielsetzungen auch der Bundesregierung zu Modellbeispielen oder Umset- durch die Länder nicht infrage gestellt. So haben Bund zungsszenarien sind vor dem Hintergrund des geltenden und Länder zum Beispiel in der Gemeinsamen Wissen- föderalistischen Kompetenzgefüges und des aktuellen schaftskonferenz am 21. Juni 2010 in Umsetzung des Verfahrensstandes nicht angezeigt. Pakts für Forschung und Innovation den Haushalt der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For- schungsgemeinschaft für das Jahr 2011 mit einer 5-Pro- Anlage 20 zent-Steigerung gegenüber 2010 beschlossen. Antwort Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 vereinbarte und am des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaatlich des Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und (Drucksache 17/2285, Fragen 26 und 27): Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Äußerungen des Bundesministers für Gesundheit bezüglich des drohenden Ärztemangels – aus der seitens der schleswig-holsteinischen Anlage 21 Landesregierung angekündigten Schließung der in den Hoch- schulrankings immer bestplatzierten Medizinerausbildung in Antwort Lübeck? des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Länder des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD) – der schleswig-holsteinische Wissenschaftsminister bei- spielsweise hat festgestellt, dass sich das Konsolidierungsland (Drucksache 17/2285, Fragen 28 und 29): Schleswig-Holstein „zu viel Exzellenz“ nicht mehr leisten Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Redu- kann (Pressemitteilung des wissenschaftlichen Personalrats zierung der Staatsausgaben zulasten von Bildung und Wissen- 5424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) schaft zwar einen einfachen, aber grundfalschen Weg bei der here Bundesfinanzierung Einsparungen in Millionenhöhe er- (C) Haushaltskonsolidierung darstellt, dass – sollte das Beispiel zielen soll – insbesondere vor dem Hintergrund, dass laut Lübeck Schule machen – die Universität Lübeck bundesweit Bericht der Tageszeitung Neues Deutschland vom 23. Juni vermutlich nur die erste Universität ist, deren Existenz gefähr- 2010 bislang niemand mit der Leibniz-Gemeinschaft auch nur det ist, und dass angesichts der Haushaltssituation zahlreicher das Gespräch gesucht hat und diese die Verschiebung von Zu- Bundesländer weitere Universitätsschließungen in anderen ständigkeiten laut Medienberichten ablehnt –, und welche Konsolidierungsländern folgen dürften? Chancen räumt die Bundesregierung dem zweiten Modell ei- ner Stiftungsuniversität ein? Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass in den Medien die schleswig-holsteinische Welchen Beitrag kann aus Sicht der Bundesregierung das Landesregierung das Aus für die Universität Lübeck insbe- in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK, disku- sondere mit dem Exzellenzwettbewerb begründet, und welche tierte Bund-Länder-Programm zur Medizinerausbildung zum Maßnahmen wären nach Auffassung der Bundesregierung ge- Erhalt der von Schließung bedrohten Hochschulen und zur Si- eignet, um das Gegeneinanderausspielen von Hochschul- cherstellung der Medizinerausbildung leisten, und in welcher standorten – hier Lübeck und Kiel – wirksam – etwa in Bezug Form – organisatorisch und/oder finanziell – ist der Bund be- auf die Ausgestaltung des Exzellenzwettbewerbs – zu verhin- reit, sich hier einzubringen? dern? Zu Frage 30: Zu Frage 28: Maßnahmen zur strukturellen Umgestaltung von uni- Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- versitären Strukturen in Lübeck fallen nach dem gelten- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit den föderalistischen Kompetenzgefüge in die originäre den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig Zuständigkeit des Landes Schleswig-Holstein. Konkrete und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent- Aussagen der Bundesregierung zu Modellbeispielen scheidungen zur Grundfinanzierung einzelner Hoch- oder Umsetzungsszenarien sind vor dem Hintergrund schulen. des geltenden föderalistischen Kompetenzgefüges und Die Bundesregierung geht nicht von einer Schlie- des aktuellen Verfahrensstandes nicht angezeigt. ßungswelle von Hochschulstandorten in den kommen- den Jahren aus. Die Bundesregierung geht vielmehr da- Zu Frage 31: von aus, dass die Länder, wie im Hochschulpakt 2020 vereinbart, in den Jahren 2011 bis 2015 insgesamt rund Der Bund leistet bereits mit dem Hochschulpakt 2020 275 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten in Deutsch- einen Beitrag zur Finanzierung der Medizinausbildung land bereitstellen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, in Deutschland. Die KMK hat auf ihrer Sitzung am dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 27. Mai in München beschlossen, mit dem Bund Gesprä- che über ein mögliches Sonderprogramm für zeitlich be- (B) vereinbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, (D) gesamtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fristete Studienplätze in der Medizin aufzunehmen. Auf für Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt. der GWK-Sitzung am 21. Juni 2010 wurden weitere Ge- spräche zwischen Bund und einigen Ländern in den kommenden Wochen vereinbart. Es liegen hierzu noch Zu Frage 29: keine Ergebnisse vor. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der gemeinsam mit den Ländern vereinbarten Exzellenzinitiative fest, in einem bundesweiten Wettbewerb zwischen Universitä- ten die besten Forschungsprojekte und Konzepte von Anlage 23 Hochschulen zu fördern. Die Entscheidung über die zu Antwort fördernden Universitäten wird entsprechend der Bund- Länder-Vereinbarung in einem wissenschaftsgeleiteten der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Fragen Verfahren nach wissenschaftlichen Exzellenzkriterien des Abgeordneten Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE getroffen. Strategische Entscheidungen zu Hochschul- GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 32 und 33): standorten in einem Land fallen unter die verfassungs- Wie ist sichergestellt, dass die Bundesregierung die auf mäßig garantierte Kulturhoheit der Länder. dem G-8-Gipfel zugesagten Mittel nicht durch Kürzungen in anderen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit auf- bringt? Anlage 22 Welcher Anteil an den deutschen Zusagen für Mütter- und Kindergesundheit wird in Zukunft geleistet werden, und wel- Antwort cher Anteil wurde bereits in der Vergangenheit geleistet?

des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen des Zu Frage 32: Abgeordneten Willi Brase (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 30 und 31): Der Haushalt 2011 befindet sich derzeit im regierungs- Wie bewertet die Bundesregierung die in Medienberichten internen Aufstellungsverfahren. Über Schwerpunktset- zur Rettung der Universität Lübeck („Berlin wartet Konzept zungen und detaillierte Ansätze wird das Parlament durch zur Stiftungsuni ab“, Lübecker Nachrichten vom 24. Juni den vom Kabinett verabschiedeten Regierungsentwurf 2010) zitierten Modelle zur Rettung der Universität Lübeck, unterrichtet. Ob sich durch aktuelle oder künftige G-8- denen zufolge das Leibniz-Institut für Meereswissenschaften in Kiel unter das Dach der Helmholtz-Gemeinschaft verscho- Zusagen Anpassungserfordernisse ergeben, kann derzeit ben werden und das Land Schleswig-Holstein durch die hö- nicht ausgeschlossen werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5425

(A) Zu Frage 33: Die zunehmende Bedrohung von Journalisten mit (C) Menschenrechtsverletzungen, ob im Zusammenhang mit Die bei dem G-8-Gipel 2010 zugesagten Mittel wer- bewaffneten Konflikten, im Umfeld organisierter Krimi- den ausschließlich in der Zukunft geleistet. nalität oder zum Beispiel nach umstrittenen Wahlen, ver- folgt die Bundesregierung mit großer Sorge. Dabei gera- ten immer mehr Menschen in Bedrängnis, die keiner Anlage 24 journalistischen Tätigkeit im klassischen Sinne nachge- Antwort hen, sondern als Blogger oder in Onlineplattformen ge- sellschaftliche Diskussionen anstoßen und auf Men- des Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des schenrechtsverletzungen aufmerksam machen. Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksa- che 17/2285, Frage 34): Die Bundesregierung tritt deutlich gegen Versuche Inwieweit befürwortet die Bundesregierung die Pläne der ein, Presse- und Meinungsfreiheit zu relativieren oder Bundesländer, die Rundfunkgebührenbefreiung zulasten von preiszugeben. Sie wird auch zukünftig gemeinsam mit Menschen mit Behinderung sowie gemeinnützigen Einrichtun- den EU-Partnern Verletzungen der Meinungs- und Pres- gen für Behinderte unter anderem zum 1. Januar 2013 abzu- sefreiheit aufgreifen. Einzelfälle von Angriffen auf Jour- schaffen (siehe Eckpunkte der Ministerpräsidenten der Länder über eine veränderte Rundfunkfinanzierung vom 9./10. Juni nalisten und Morden an Medienschaffenden thematisiert 2010)? die Bundesregierung sowohl bilateral wie auch gemein- sam mit den EU-Partnern. Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes liegen Fragen der Finanzierung des inländischen Rund- Zu den Fragen nach Journalistenmorden in einzelnen funks in der Zuständigkeit der Länder. Die Regierungs- Ländern ist voranzustellen, dass der Bundesregierung chefin und Regierungschefs der Länder haben auf ihrer unterschiedliche Informationen vorliegen. Die nachfol- Konferenz am 10. Juni 2010 in Berlin die im Länder- gend genannten Zahlen für die entsprechenden Länder kreis erarbeiteten Eckpunkte zur Neuordnung der Finan- stammen von verschiedenen Nichtregierungsorganisa- zierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zustim- tionen, zu denen die deutschen Auslandsvertretungen mend zur Kenntnis genommen. Kontakt haben. Sofern Menschen mit Behinderung einen Befreiungs- Irak: Nach Kenntnis der Bundesregierung wurden im grund geltend machen können, sehen die Eckpunkte eine Zeitraum 2007 bis 2009 insgesamt 47 Journalisten in Beitragsbefreiung für diesen Personenkreis vor. Für fi- Irak getötet – 2007: 32, 2008: 11, 2009: 4, 2010: 1; nanziell leistungsfähige Menschen mit Behinderung Quelle: International Commitee to Protect Journalists. (B) wird ein ermäßigter Beitrag in Höhe von einem Drittel (D) des Rundfunkbeitrages angesetzt. Für nichtprivate ge- Philippinen: Es gibt keine einheitlichen Angaben über meinnützige Einrichtungen für Behinderte enthalten die die Anzahl der Todesopfer unter den Journalisten auf Eckpunkte eine Begrenzung des Rundfunkbeitrags auf den Philippinen. Die am meisten zitierte Quelle ist die höchstens einen Beitrag pro Betriebsstätte. National Union of Journalists of the Philippines. Diese nennt folgende Zahlen: 2007: 5, 2008: 7, 2009: 38, da- Die Bundesregierung geht davon aus, dass nunmehr von 32 in dem „Maguindanao Massacre“, 2010 bis der Entwurf eines Rundfunkbeitragsstaatsvertrages heute: drei Journalisten. Diese Zahlen werden auch von durch die Länder erarbeitet werden wird, in den insbe- dem International News Safety Institute verwendet. sondere auch Ergebnisse von Anhörungen fachlicher Kreise einfließen werden. Vor diesem Hintergrund sieht Davon abweichend das Center for Media Freedom & die Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt von einer Responsibility: 2007: 2, 2008: 6, 2009: 36 Journalisten, Stellungnahme zu Einzelfragen möglicher künftiger Be- davon 32 in dem „Maguindanao Massacre“, 2010: keine freiungsregelungen ab. Angaben. Beide Organisationen sind der Deutschen Bot- schaft bekannt und werden von ihr als seriös einge- schätzt.

Anlage 25 Kolumbien: Nach Angaben der unabhängigen Nicht- regierungsorganisation CPJ, Committee to Protect Jour- Antwort nalists, wurden von 2007 bis 2010 zwei Journalisten er- mordet, bei denen es einen klaren Zusammenhang der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der zwischen der Tätigkeit als Journalist und der Ermordung Abgeordneten Erika Steinbach (CDU/CSU) (Drucksa- gab. In beiden Fällen waren wahrscheinlich Paramilitärs che 17/2285, Frage 35): für die Morde verantwortlich. Im gleichen Zeitraum gab Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die Anzahl es drei Morde, bei denen ein Zusammenhang möglich, der Morde an Journalisten in den letzten drei Jahren, insbe- sondere im Irak, auf den Philippinen, in Kolumbien und in der aber nicht nachgewiesen war. Russischen Föderation? Russische Föderation: Die Bundesregierung kann Die Bundesregierung setzt sich nachdrücklich für keine Aussage über die genaue Anzahl von Morden an Meinungs- und Pressefreiheit als unveräußerliche Men- und Angriffen auf Journalisten machen. Bekannt wurden schenrechte und als Grundlage einer funktionierenden in den letzten Jahren Einzelfälle, zu denen folgende Demokratie ein. Morde zählen: 5426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Anna Politkowskaja, Journalistin der Nowaja Gazeta, Zu Frage 37: (C) ermordet am 7. Juni 2006; Magomed Jewlojew, Betrei- ber der Webseite lngushetia.ru, am 31. August 2008 in Die Bundesregierung kommentiert innenpolitische Polizeigewahrsam erschossen; Jaroslaw Jaroschenko, Wahlkampfauseinandersetzungen in europäischen Part- Redakteur der Zeitschrift Corruption and Crime, im nerstaaten nicht. April 2009 von Unbekannten brutal zusammengeschla- gen, erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus im Juni 2009; Malik Achmedilow, dagestanischer Journalist, am Anlage 27 11. August 2009 in Machatschkala/Dagestan erschossen, und Anastasija Baburowa, freie Journalistin, unter ande- Antwort rem für Nowaja Gazeta; am 19. Januar 2009 auf offener der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des Straße zusammen mit dem Menschenrechtsanwalt Abgeordneten Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stanislaw Markelow erschossen. NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 38 und 39): Übergriffe werden von den Justizbehörden oftmals In wie vielen Fällen haben die Auslandsvertretungen der ignoriert oder in Abrede gestellt. Daher ist von einer ge- Bundesrepublik Deutschland in der Türkei beim Ehegatten- wissen Dunkelziffer auszugehen. Außerdem sind Über- nachzug nach Deutschland von Ehegatten, die einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss oder eine entsprechende Quali- griffe nicht in jedem Fall auf die journalistische Tätig- fikation besitzen oder eine Erwerbstätigkeit ausüben, die re- keit der Opfer zurückzuführen, sondern können auch gelmäßig eine solche Qualifikation voraussetzt, vor der Ein- andere Hintergründe haben. Die Abgrenzung und Ursa- reise den Nachweis von Deutschkenntnissen verlangt? chenforschung ist angesichts der unübersichtlichen Si- Wie stellt das Auswärtige Amt sicher, dass die Auslandsver- tuation – vor allem im Nordkaukasus – schwierig. Insge- tretungen der Bundesrepublik Deutschland bei Visumanträgen samt arbeiten kritische russische Journalisten in einer zum Ehegattennachzug bei erkennbar geringem Integrationsbe- Situation, die ihnen mitunter großen persönlichen Mut darf gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes abverlangt. Sprachnachweise nicht verlangen? Zu Frage 38:

Anlage 26 Im Zeitraum 1. Januar 2009 bis 31. März 2010 wurde an den drei visumerteilenden Auslandsvertretungen in Antwort der Türkei, Ankara, Istanbul und Izmir, in 228 Fällen das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes bejaht und auf der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des (B) den Sprachnachweis verzichtet. Eine gesonderte statisti- (D) Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache sche Erfassung nach einzelnen Ausnahmetatbeständen 17/2285, Fragen 36 und 37): findet nicht statt. Auch eine Erfassung des Bildungshin- Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage der Staats- tergrundes der Antragsteller findet nicht statt. ministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, dass der zweite Wahlgang darüber entscheiden werde, ob der Weg Po- Alleine die besondere Qualifikation genügt nach dem lens zurück ins politische Abseits gehe, und wie beurteilt die Gesetz nicht, um den Ausnahmetatbestand des geringen Bundesregierung eine möglicherweise dadurch entstehende Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses? Integrationsbedarfs im Sinne des § 30 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes zu bejahen. Vielmehr In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung sich muss hierzu zusätzlich eine positive Erwerbsprognose zukünftig in Wahlauseinandersetzungen europäischer Partner- staaten einzumischen? und positive Integrationsprognose bescheinigt werden können, § 4 Abs. 2 Integrationskursverordnung. Zu Frage 36: Soweit die Erwerbsprognose positiv ausfällt, kann in Die Entscheidung, wer am 4. Juni 2010 zum nächsten der Regel auch die Integrationsprognose bejaht werden. polnischen Präsidenten gewählt wird, obliegt alleine Bei der Erwerbsprognose kommt der Ausländerbehörde dem polnischen Volk. eine wichtige Rolle zu.

Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Zu Frage 39: Pieper, hat am 23. Juni 2010 beim XIV. Deutsch-Polni- schen Forum in Warschau betont, dass ihr sehr an Die deutschen Auslandsvertretungen sind angewie- freundschaftlichen Beziehungen zu Polen gelegen ist sen, eine Ausnahme aufgrund erkennbar geringen Inte- und sie sich in keiner Weise in den Fortgang der Präsi- grationsbedarfs insbesondere dann anzunehmen, wenn dentschaftswahl einmischen möchte. Antragstellern eine besondere Qualifikation, eine posi- tive Erwerbsprognose und positive Integrationsprognose Der polnische Staatssekretär Władisław Bartoszewski bescheinigt werden kann. hat bei derselben Veranstaltung das bilaterale Verhältnis als hervorragend bezeichnet und dabei auch seine ver- Im Rahmen der Beratung von Antragstellern und Ein- trauensvolle, enge Zusammenarbeit mit Staatsministerin ladern gibt auch die Zentrale des Auswärtigen Amts Pieper als Koordinatorin für die deutsch-polnische zwi- Auskunft über diesen Ausnahmetatbestand. Bei entspre- schengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit chenden Anfragen von Bürgern gibt die Zentrale den hervorgehoben. Auslandsvertretungen Hinweise zu Einzelfällen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5427

(A) Anlage 28 nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitenden Polizei (C) eine zentrale Hilfestellung leisten. Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel (BÜND- Anlage 29 NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 40 und 41): Antwort Wie setzt sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage ein, im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusam- der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) menarbeit in Europa, OSZE, Polizistinnen und Polizisten nach Kirgistan zu schicken, um zur Stabilisierung der politischen (Drucksache 17/2285, Frage 42): Lage beizutragen (siehe auch Reuters-Meldung vom 23. Juni Sind die vielfältigen Bildungsangebote, die zum Aufga- 2010 „OSZE fordert internationale Polizei-Truppe für Süd- bengebiet des Bundesministeriums des Innern gehören, wie Kirgistan“)? zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung oder In welcher Form setzt sich die Bundesregierung dafür ein, die Integrationskurse, auch vom Beschluss der Bundesregie- deutsche Polizistinnen und Polizisten für eine internationale rung betroffen, den Bildungsbereich von künftigen Haushalts- OSZE-geführte Polizeitruppe für Kirgistan bereitzustellen, kürzungen auszunehmen und sogar mit weiteren Finanzmit- und inwiefern beurteilt sie die Entsendung von Polizistinnen teln aufzustocken? und Polizisten in Krisengebiete als eine langfristige struktu- relle Aufgabe der zivilen Konfliktbearbeitung? Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat für konkrete Bildungsmaßnahmen von nachgeordneten Be- Zu Frage 40: hörden zusätzliche Bildungsmittel aus dem 12-Milliar- den-Euro-Programm der Bundesregierung beantragt. Sowohl im Rahmen der Organisation für Sicherheit Diese vom 12-Milliarden-Euro-Programm profitieren- und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, als auch im Rah- den Behörden müssen jedoch gleichermaßen zu den all- men der EU erörtert die Bundesregierung derzeit ge- gemeinen Einsparvorgaben zur Haushaltskonsolidierung meinsam mit ihren Partnern, welche Mittel und Instru- beitragen, wie die anderen Behörden im Geschäftsbe- mente neben der bereits geleisteten humanitären Hilfe reich des BMI. Die für den Einzelplan des BMI von der noch zur Verfügung stehen, um zur Konfliktlösung und Bundesregierung beschlossenen Absenkungen belaufen zur Stabilisierung in Kirgisistan beizutragen. sich im Jahr 2011 auf rund 77,4 Millionen Euro gegen- über dem geltenden Finanzplan; im Jahr 2012 erhöht Um mögliche Handlungsoptionen für die OSZE zu sich der Einsparbetrag sogar auf rund 91,6 Millionen analysieren, hat Kasachstan als derzeitiger OSZE-Vor- Euro, in den Jahren 2013 und 2014 dann auf rund 99,1 sitz am 24. Juni 2010 eine Bedarfsermittlungsmission Millionen Euro. Das BMI ist bei allen Bemühungen um (B) nach Kirgisistan entsandt. Die Mission soll dazu dienen, eine gleichmäßige Verteilung der Einsparungen bei der (D) uns von der komplexen Lage vor Ort sowie den konkre- Aufstellung des Haushaltsentwurfs nicht pauschal vor- ten Unterstützungsmöglichkeiten im Sicherheitsbereich gegangen. Die beschlossenen Einsparungen richten sich ein genaues Bild zu machen. an der finanziellen Leistungsfähigkeit sämtlicher Berei- Im EU-Rahmen hat die Bundesregierung am 23. Juni che des Einzelplans aus. Auch der Grad der Flexibilisie- 2010 zusammen mit Frankreich eine gemeinsame Initia- rung und die unterschiedlichen Möglichkeiten, Projekte tive zur Unterstützung Kirgisistans in der Krise einge- zeitlich zu verschieben und damit auch kurzfristig auf bracht. Darin rufen Frankreich und Deutschland die EU Einsparvorgaben zu reagieren, mussten berücksichtigt dazu auf, gemeinsam mit den Vereinten Nationen die werden. Möglichkeit einer internationalen Erkundungsmission zu prüfen, weitere humanitäre Hilfe zu leisten, bei der Kon- fliktlösung eng mit Russland zusammenzuarbeiten sowie Anlage 30 die von der OSZE noch zu beschließenden Maßnahmen Antwort zu unterstützen. des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage Zu Frage 41: der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 43): Bisher hat die OSZE noch keinen Beschluss gefasst, Wie begründet die Bundesregierung die Auffassung, dass eine „internationale OSZE-geführte Polizeitruppe“ nach sich aus der Rücknahme des Vorbehalts zum Übereinkommen Kirgisistan zu entsenden. Die Bundesregierung wird im über die Rechte des Kindes kein bundesgesetzlicher Ände- Lichte des Berichts der Bedarfsermittlungsmission der rungsbedarf ergebe, im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit OSZE und der aktuellen Sicherheitslage prüfen, an wel- unbegleiteter minderjähriger Asylbewerberinnen und Asylbe- chen Maßnahmen der OSZE sie sich beteiligen wird. werber, die das 16. Lebensjahr vollendet haben? Ich darf zunächst an den Wortlaut des hier einschlägi- Grundsätzlich gewinnt im Rahmen internationaler gen Teils der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland Maßnahmen zur Konfliktbewältigung und Krisennach- erinnern: sorge die zivile Komponente, das heißt also auch der Einsatz von Polizisten und Polizistinnen zunehmende Nichts in dem Übereinkommen kann dahin ausge- Bedeutung. Der Einsatz von Polizeikräften dient kurz- legt werden, dass die widerrechtliche Einreise eines fristig der Stabilisierung der Lage und kann langfristig Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik durch Unterstützung bei Ausbildung und Aufbau einer Deutschland oder dessen widerrechtlicher Aufent- 5428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) halt dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung, (C) dahin ausgelegt werden, dass sie das Recht der in welcher bereits eine Speicherung von möglicherweise weit- aus weniger sensitiven Daten für einen weitaus kürzeren Zeit- Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze raum von sechs Monaten für mit dem Grundgesetz unverein- und Verordnungen über die Einreise von Auslän- bar und nichtig angesehen wird? dern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu er- lassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Deutschland konnte dem Ratsbeschluss über die Un- Ausländern zu machen. terzeichnung des sogenannten SWIFT-Abkommens im schriftlichen Verfahren zustimmen, nachdem das Euro- In dieser Erklärung wird an keiner Stelle auf die Al- päische Parlament Zustimmung signalisiert hat und weil tersgrenze im Asylrecht oder im Ausländerrecht Bezug es insbesondere im Hinblick auf den Rechtsschutz und genommen. Es ist daher auch kein rechtlicher Grund er- auf den Datenschutz deutliche Verbesserungen gegen- sichtlich, warum die von der Bundesregierung am 3. Mai über dem Interimsabkommen enthält. Hervorheben 2010 beschlossene Rücknahme der Erklärung diese Al- möchte ich insbesondere folgende Verbesserungen, die tersgrenze unzulässig machen sollte. auf deutsche Initiative im Abkommen enthalten sind: Es bestand und besteht Konsens innerhalb der Bun- Das Ersuchen muss auch in Bezug auf die Datenarten desregierung, dass die Erklärung eine deklaratorische spezifiziert und eingeschränkt werden. Das Ersuchen Bedeutung hat und ihre Rücknahme demgemäß keine muss so eng wie möglich gefasst sein, um die Menge der unmittelbaren Rechtsfolgen auslöst. angeforderten Daten auf ein Minimum zu beschränken. Drittstaatenübermittlung ist grundsätzlich nur bei Zu- Anlage 31 stimmung des jeweiligen Ursprungsstaats zulässig. Eine Ausnahme besteht nur bei Gefahr im Verzug bei drin- Antwort genden schweren Gefahren. des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage Berichtigungs-, Löschungs- und Sperrungsrechte des Abgeordneten Peter Friedrich (SPD) (Drucksache können künftig jeweils über die Datenschutzbehörde des 17/2285, Frage 44): jeweiligen Mitgliedstaats geltend gemacht werden, die Wie bewertet die Bundesregierung, dass rechtsextreme die Anfrage an die USA weiterleitet. Gruppierungen wie die NPD vermehrt über Google-Anzeigen in den Onlineangeboten von Tageszeitungen und Blogs wer- Darüber hinaus müssen die USA in ihren Ersuchen den ben, so unter anderem mit den Worten „Kostenlos objektiv angeforderten Übermittlungsumfang eingrenzen und zwar über die NPD informieren“, und sind vonseiten der Bundesre- aufgrund eines Risikoprofils, das insbesondere bestimmte gierung rechtliche Schritte geplant, diese Praxis zu unterbin- Nachrichtenarten und geografische Regionen berücksich- (B) den? (D) tigt. Daten, die sich auf den Einheitlichen Euro-Zahlungs- Der Bundesregierung liegen nur vereinzelte Hinweise verkehrsraum beziehen, sogenannte SEPA-Daten, dürfen vor, wonach es der NPD gelungen ist, über den Google- von den USA nicht angefordert werden, Art. 4 Abs. 2 d, Werbedienst in Onlineanzeigen seriöser Zeitungen Wer- und somit auch nicht übermittelt werden. bung zu platzieren. Bewerkstelligt wird dies mittels pro- grammgesteuerter automatisierter Kopplung an bestimmte, Was die von Ihnen angesprochene Höchstspeicher- in Beiträgen enthaltene Schlagworte. Diese Schlagworte dauer der Daten anbelangt: Die Bunderegierung hat sich können auch in kritischer Berichterstattung enthalten mit Nachdruck für eine Verkürzung auf unter fünf Jahre sein. Durch die Verwendung einer entsprechenden Soft- eingesetzt. Die USA waren aber laut Aussage der Ver- ware kann das Aufblenden der Werbung unterbunden handlungsführerin der EU, der Kommission, nicht kom- werden. Diese Filterfunktion kann sowohl vom einzelnen promissbereit und verweisen – was zutrifft – darauf, dass Internetbetreiber als auch vom individuellen Nutzer akti- bereits die Banken weltweit nach globalen Standards zur viert werden. Seitens der von Online-nachrichtendiensten Terrorismusfinanzierungsbekämpfung genau zu dieser betriebenen Internetseiten, wie zum Beispiel Welt Online fünfjährigen Vorsorgespeicherung verpflichtet sind: In ist dies zwischenzeitlich auch erfolgt. der EU ist dies in der Geldwäscherichtlinie genauso ge- regelt, folglich im deutschen Geldwäschegesetz genauso umgesetzt. Neu ist allerdings, dass der Vertrag nun aus- Anlage 32 drücklich Evaluierungsvorgaben vorsieht, die auf eine Fristverkürzung zusteuern. Das Abkommen enthält in Antwort Art. 12 und 13 Regelungen zur Sicherung des Daten- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage schutzes in den USA. Gemäß Art. 12 Abs. 1 wird künf- des Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz (BÜND- tig auch eine von der Europäischen Kommission be- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 45): nannte Person vor Ort im US-Finanzministerium die Verwendung der Daten überprüfen. Art. 13 sieht eine ge- Wie lautet die Rechtfertigung der Bundesregierung für ihre Enthaltung zu dem im Ministerrat befürworteten SWIFT- meinsame EU/US-Evaluierung spätestens nach sechs Abkommen zur Übermittlung intimster Banktransaktionsda- Monaten nach Inkrafttreten des Abkommens dahinge- ten einer nicht näher bestimmbaren, vermutlich in die Millio- hend vor, ob die durch das Abkommen gesetzten Vorga- nen gehenden Anzahl von Bundesbürgern für eine Dauer von ben, insbesondere im Hinblick auf den Datenschutz ein- fünf Jahren in die nach EU-Datenschutzrecht als unsicheres gehalten werden. Dabei werden dieses Mal auch Drittland eingestufte USA angesichts ihres verfassungsrecht- lichen Schutzauftrages für die Bürgerinnen und Bürger dieses europäische Datenschutzbeauftragte einbezogen werden Landes und damit auch für die Beachtung der Entscheidung – eine der Verbesserungen, die das Abkommen gegen- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5429

(A) über den Datenschutzzusicherungen enthält, die die Anlage 34 (C) USA bisher einseitig abgegeben haben und die die EU im Jahr 2007 als angemessenes Datenschutzniveau für Antwort eine Übermittlung in die USA anerkannt hatte – EU- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage ABI. C 166 vom 20. Juli 2007, Seite 26. des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE Der Rat ist zudem übereingekommen, das Abkom- GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 48): men erneut zu bewerten, sobald das künftige EU-USA- Hält die Bundesregierung es angesichts der in dem Rahmenabkommen über den Datenschutz abgeschlossen Rechtsgutachten des Präsidenten des Bundesverfassungsge- worden ist. richtes a. D. Hans-Jürgen Papier genannten Argumente für möglich, eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwer- ken ohne Zustimmung des Bundesrates zu verabschieden und, wenn ja, auf Grundlage welcher juristischen Überlegungen? Anlage 33 Die Bundesregierung berücksichtigt bei ihrer Bewer- Antwort tung der Zustimmungsbedürftigkeit beziehungsweise Zustimmungsfreiheit von Gesetzen insbesondere die des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Fra- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die am gen der Abgeordneten Dr. Eva Högl (SPD) (Drucksa- 11. Juni 2010 verkündete Entscheidung des Bundesver- che 17/2285, Fragen 46 und 47): fassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz enthält ent- Wie wird die Bundesregierung sich bei der Abstimmung sprechende Aussagen, die von der Bundesregierung ge- über das sogenannte SWIFT-Abkommen im Rat der EU ver- genwärtig ausgewertet werden. In das Gutachten von halten? Papier konnten sie erkennbar noch nicht einfließen. Welche Bedeutung hat nach Ansicht der Bundesregierung der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP for- mulierte Ratifizierungsvorbehalt für das Inkrafttreten des Anlage 35 neuen SWIFT-Abkommens? Antwort Zu Frage 46: des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage Die Bundesregierung hat im schriftlichen Verfahren der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) dem Ratsbeschluss über die Unterzeichnung des soge- (Drucksache 17/2285, Frage 49): nannten SWIFT-Abkommens zugestimmt. Die Bundes- Inwieweit spielte nach Kenntnis der Bundesregierung die (B) regierung hat sich darüber hinaus damit einverstanden sogenannte EU-Rechtsstaatsmission EULEX Kosovo eine (D) erklärt, dass der Entwurf des Beschlusses über den Ab- Rolle bei der Abschiebung von über 100 Menschen – über- schluss des Abkommens nach der Unterzeichnung des wiegend Roma – mit einem Flug der Fluggesellschaft Air Abkommens dem Europäischen Parlament zur Zustim- Berlin nach Pristina am 22. Juni 2010 zum Beispiel durch Auswahl der Abzuschiebenden oder Finanzierung der Ab- mung zugeleitet wird. Des Weiteren hat die Bundesre- schiebung, und inwiefern ist die Organisation und Finanzie- gierung ihre Zustimmung dazu erteilt, dass der Rat das rung von Abschiebeflügen nach Kosovo durch das Mandat Europäische Parlament ersucht, die Angelegenheit im dieser sogenannten Rechtsstaatsmission gedeckt? Dringlichkeitsverfahren gemäß Art. 142 seiner Ge- schäftsordnung zu behandeln. Die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo, EULEX Kosovo, hatte nach Kenntnis der Bundesregierung keinen Einfluss auf die Sammel- Zu Frage 47: rückführung nach Pristina am 22. Juni 2010. Weder die Das sogenannte SWIFT-Abkommen wurde nach dem Organisation noch die Finanzierung von Sammelrück- Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezem- führungen erfolgen über die EULEX Kosovo. ber 2009 und nach der Ablehnung des sogenannten Inte- rimsabkommens durch das Europäische Parlament am 11. Februar 2011 neu ausverhandelt. Ich gehe davon aus, Anlage 36 dass Ihre Frage zum Koalitionsvertrag vom September 2009 darauf abzielt, ob in Deutschland ein Vertragsge- Antwort setz für das Zustandekommen des Abkommens erforder- des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage lich ist. Dies ist nicht der Fall. Es handelt sich nicht um der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ein sogenanntes gemischtes Abkommen. Die Europäi- (Drucksache 17/2285, Frage 50): sche Union ist alleinige Vertragspartnerin der USA und nicht daneben auch noch die Mitgliedstaaten. Das Ab- Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung die Be- reitstellung von Dokumenten zum Bosnien-Krieg – 1992 bis kommen fällt in die Vertragsschlusskompetenz der Euro- 1995 – für den Karadzić-Prozess vor dem Internationalen päischen Union. Der Rat der Europäischen Union stützt Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, in Den das Abkommen auf den Vertrag über die Arbeitsweise Haag verweigert, die auf Antrag des angeklagten Radovan der Europäischen Union, AEUV, insbesondere auf die Karadzić, ehemals Präsident der bosnischen Republika Art. 87 Abs. 2 Buchstabe a) und Art. 88 Abs. 2 in Ver- Srpska, angefordert wurden und dessen Antrag durch die ICTY-Richter am 19. Mai 2010 stattgegeben wurde, und sieht bindung mit Art. 218 AEUV. Rein mitgliedstaatliche Kom- die Bundesregierung in ihrer Verweigerungshaltung eine Be- petenzen sind von dem Abkommen nicht betroffen. hinderung der internationalen Strafgerichtsbarkeit? 5430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Die Bundesregierung arbeitet weiterhin eng mit dem grund eines bis Ende 2005 gestellten Bauantrags herge- (C) Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige stellt oder bis Ende 2005 aufgrund eines rechtswirksam Jugoslawien zusammen. abgeschlossenen obligatorischen Vertrages angeschafft worden sind. Die Absetzung ist dabei nach § 7 Abs. 5 Das Gericht hat dem Beweisantrag des Angeklagten EStG mit den gesetzlich vorgeschriebenen Staffelsätzen nur teilweise stattgegeben. Hinsichtlich der verbleiben- vorzunehmen. Die Staffeln legen eine Nutzungsdauer den Beweispunkte war der Bundesregierung und dem von 40 bzw. 50 Jahren zugrunde. Die Anwendung de- Bundestag eine Herausgabe von Dokumenten nicht gressiver Abschreibung für nicht Wohnzwecken die- möglich, weil keine entsprechenden Dokumente vorhan- den sind. nende Gebäude wurde bereits Ende 1994 abgeschafft. Dies hat die Bundesregierung dem Gerichtshof in der Für Herstellungskosten infolge Modernisierungs und vergangenen Woche fristgerecht mitgeteilt. Instandsetzungsarbeiten an Gebäuden in einem Sanie- rungsgebiet oder städtebaulichen Entwicklungsbereich können anstelle der AfA erhöhte Absetzungen nach § 7 h EStG in Höhe von je bis zu 9 Prozent dieser Her- Anlage 37 stellungskosten im Jahr der Herstellung und den folgen- Antwort den sieben Jahren sowie je bis zu 7 Prozent in den darauf folgenden vier Jahren steuermindernd geltend gemacht des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra- werden. gen des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 51): § 7 i EStG fördert Herstellungskosten für Baumaß- nahmen an Baudenkmälern ebenfalls mit erhöhten Ab- Auf welche Höhe schätzt die Bundesregierung in den nächsten fünf Jahren die steuerlichen Mindereinnahmen aus setzungen mit je bis zu 9 Prozent dieser Herstellungskos- der geplanten Aufhebung der Einschränkung der Agrardiesel- ten im Jahr der Herstellung und den folgenden sieben Steuerbegünstigung, und wie sollen diese Einnahmeverluste Jahren sowie je bis zu 7 Prozent in den darauf folgenden kompensiert werden, damit eine zusätzliche Nettoneuver- schuldung vermieden werden kann? vier Jahren. Die Bundesregierung schätzt die Mindereinnahmen Nach § 10 f EStG sind Steuervergünstigungen für zu aus der Aufhebung der Einschränkungen bei der Agrar- eigenen Wohnzwecken genutzte Baudenkmale und Ge- diesel-Steuerbegünstigung auf rund 260 Millionen Euro bäude in Sanierungsgebieten oder städtebaulichen Ent- jährlich. Die Steuermindereinnahmen werden dabei wicklungsgebieten möglich. Über 10 Jahre können je- (B) überwiegend im Haushalt des Bundesministeriums für weils 9 Prozent bestimmter Aufwendungen wie Sonder- (D) Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz kom- ausgaben steuermindernd berücksichtigt werden. Hier pensiert. handelt es sich nicht um Abschreibungen im eigentli- chen Sinne.

Anlage 38 Anlage 39 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra- gen der Abgeordneten Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 52): Abgeordneten Peter Friedrich (SPD) (Drucksache 17/2285, Welche steuerrechtlichen Abschreibungsmöglichkeiten Frage 53): gibt es in den Bereichen Bauen, Wohnen und Stadtentwick- Sieht die Bundesregierung in der Bereitstellung von abge- lung, und wie sind diese ausgestaltet? brannten Brennelementen durch deutsche Kernkraftwerks- Nach § 7 Absatz 4 EStG sind vor dem 1. Januar 1925 betreiber zur Wiederaufarbeitung in Russland und den dabei anfallenden Nebenprodukten, die sich als Brennstoff für fertiggestellte Gebäude, die Wohnzwecken dienen, mit RBMK-Reaktoren eignen, einen Widerspruch zur erklärten einem AfA-Satz von 2,5 Prozent linear abzuschreiben. Absicht der Bundesregierung, sich für eine sofortige Stillle- Für nach dem 31. Dezember 1924 fertiggestellte Ge- gung der RBMK-Reaktoren einzusetzen, und wie bewertet sie bäude, die Wohnzwecken dienen, gilt ein AfA-Satz von diesbezüglich die Äußerungen der EnBW zur Herkunft des 2 Prozent. Dies entspricht einer Nutzungsdauer von 40 von der EnBW verwendeten Wiederaufarbeitungsurans? bzw. 50 Jahren. Für Gebäude, die zu einem Betriebsver- Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennele- mögen gehören und nicht Wohnzwecken dienen, gilt ein mente aus deutschen Kernkraftwerken erfolgte in Frank- AfA-Satz von 3 Prozent. Dies entspricht einer Nutzungs- reich und Großbritannien, nicht jedoch in Russland. Seit dauer von 33 Jahren. dem 1. Juni 2005 ist die Abgabe von bestrahlten Brenn- Für Gebäude, die vom Steuerpflichtigen hergestellt elementen zur Wiederaufarbeitung nach dem Atomge- oder bis zum Ende des Jahres der Fertigstellung ange- setz nicht mehr zulässig. Zu den Äußerungen einzelner schafft worden sind, kann abweichend die Absetzung in Unternehmen, deren Kontext im Übrigen nicht näher er- Staffelsätzen vorgenommen werden. Das gilt aber nur läutert ist, kann die Bundesregierung keine Stellung neh- noch für Gebäude, die Wohnzwecken dienen und auf- men. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5431

(A) Anlage 40 Trifft es zu, dass Gespräche zwischen dem Bundesministe- (C) rium der Finanzen und den Atomkraftwerksbetreibern geplant Antwort sind, um Alternativen zu einer Brennelementesteuer zu disku- tieren, und, wenn ja, wann finden diese Gespräche statt? des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage der Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesmi- Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE nisters für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle, dass GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 54): die Brennelementesteuer der Abschöpfung der Zusatzgewinne für den Fall einer Verlängerung der Laufzeit der deutschen Was waren die wesentlichen inhaltlichen Argumente der Atomkraftwerke dient und dass deshalb ein „eindeutiger poli- Vertreter der vier Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und tischer Zusammenhang“ zwischen Steuer und Laufzeitverlän- EnBW, die diese bei dem Treffen mit der Bundeskanzlerin gerung besteht (vergleiche AP-Meldung vom 23. Juni 2010)? Dr. Angela Merkel am 23. Juni 2010 zu einer Brennelemente- steuer und einer eventuellen Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken vorgebracht haben, und wie beurteilt das Zu Frage 56: Bundeskanzleramt diese Argumente (insbesondere, welchen Argumenten kann es folgen bzw. nicht folgen)? Im Rahmen der Umsetzung der vom Bundeskabinett am 7. Juni 2010 beschlossenen „Eckpunkte für die wei- Das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und den tere Aufstellung des Haushaltentwurfs 2011 und des Fi- Vorstandvorsitzenden der vier Energieversorgungsunter- nanzplans bis 2014“ wird der dort vorgesehene steuerli- nehmen EnBW AG, E.ON AG, RWE AG und Vattenfall che Ausgleich der Kernenergiewirtschaft näher zu Europe AG am 23. Juni 2010 im Bundeskanzleramt beraten sein. Dabei werden auch die von den geplanten diente dem umfassenden Meinungsaustausch über aktu- Regelungen betroffenen Wirtschaftsunternehmen Gele- elle energiepolitische Fragen, insbesondere das Energie- genheit zur Stellungnahme erhalten. konzept der Bundesregierung, die in diesem Kontext ge- plante Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sowie Zu Frage 57: der im Rahmen des Konsolidierungspaketes beschlos- sene steuerliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft. Die Bundesregierung wird, wie sie bereits wiederholt Es handelte sich um ein reines Informationsgespräch. Zu betont hat, alle Fragen, die längere Laufzeiten der Kern- den Details des Gesprächs haben die Teilnehmer Ver- kraftwerke betreffen, im Zusammenhang mit dem Ener- traulichkeit vereinbart. giekonzept entscheiden. Dies bezieht die Frage des Vorteilsausgleichs ein. Das Aufkommen des vom Bun- deskabinett am 7. Juni 2010 beschlossenen steuerlichen Anlage 41 Ausgleichs der Kernenergiewirtschaft wird hierbei zu berücksichtigen sein. Antwort (B) (D) des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE Anlage 43 GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 55): Antwort Trifft es zu, dass die Bundeskanzlerin den vier Energie- konzernen bei dem Treffen im Bundeskanzleramt eingeräumt des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des hat, dass die Bundesregierung offen für Alternativvorschläge Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE zur Brennelementesteuer sei, und, falls ja, ist die Bundesre- GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 58): gierung auch offen für Alternativvorschläge von anderen Be- troffenen der anderen Teile des Sparpaketes der Bundesregie- Plant die Bundesregierung, durch das sich in Erarbeitung rung? befindliche CCS-Gesetz einen allgemeingültigen Rechtsrah- men für CCS-Projekte in ganz Deutschland zu schaffen, Das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und den oder wird sich die Gültigkeit des CCS-Gesetzes auf De- Vorstandvorsitzenden der vier Energieversorgungsunter- monstrationsanlagen beschränken und, wenn ja, auf welche? nehmen EnBW AG, E.ON AG, RWE AG und Vattenfall Im derzeitigen Stadium der Erarbeitung des Referen- Europe AG am 23. Juni 2010 im Bundeskanzleramt tenentwurfs für ein CCS-Gesetz kann sich die Bundesre- diente dem Informationsaustausch zu aktuellen energie- gierung noch nicht abschließend zu der Frage äußern, ob politischen Fragen, insbesondere zum Energiekonzept und in welcher Form sich der Gesetzentwurf auf De- der Bundesregierung, die in diesem Kontext geplante monstrationsanlagen beschränken wird. Die federfüh- Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sowie der im renden Ressorts BMWi und BMU sind sich darin einig, Rahmen des Konsolidierungspaketes beschlossene steu- vorzuschlagen, dass das CCS-Gesetz bei der Regelung erliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft. Zu den De- der dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid auf die tails des Gesprächs haben die Teilnehmer Vertraulichkeit Erprobung und Demonstration dieser Technologie be- vereinbart. grenzt werden soll.

Anlage 42 Anlage 44 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Fragen der des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 56 und 57): (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 59): 5432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Wie schätzt die Bundesregierung den Vorschlag ein, quali- Wie verträgt sich die Aussage des Bundesministers der Fi- (C) fizierte Reha-Berater bei den SGB-II-Trägern – SGB II: Zwei- nanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, in seinem Interview mit der tes Buch Sozialgesetzbuch – zu verankern, die die Aufgaben Bild am Sonntag am 30. Mai 2010, dass Rentenkürzungen nach § 104 SGB IX wahrnehmen, für die bisher allein die ausgeschlossen seien, mit der Abschaffung des Zuschusses an Bundesagentur für Arbeit als Rehabilitationsträger vorgese- die Rentenversicherung beim Arbeitslosengeld II, ALG II, hen ist, und wird der Betreuungsschlüssel für schwerbehin- und dem Wegfall von Erstattungen einigungsbedingter Leis- derte Menschen im SGB II erhöht? tungen an die Rentenversicherung (§ 291 c SGB VI), und kann ausgeschlossen werden, dass durch die Abschaffung der Auch für Rehabilitanden im Bereich der Grund- Zuschüsse für den Einzelnen, zum Beispiel Langzeitarbeits- sicherung nach dem SGB II ist die Bundesagentur für lose, keine Reduzierung der zu erwartenden Rentenzahlungen Arbeit der zuständige Rehabilitationsträger, wenn nicht vorgenommen wird? nach gesetzlichen Regelungen ein anderer Rehabilita- Kann ausgeschlossen werden, dass es durch den beabsich- tionsträger zuständig ist. Für die Belange behinderter tigten Wegfall des Zuschusses an die Rentenversicherung und schwerbehinderter Menschen sind in jeder Agentur beim ALG II und der Erstattungen einigungsbedingter Leis- für Arbeit spezielle Teams bzw. Teilteams eingerichtet, tungen an die Rentenversicherung (§ 291 c SGB VI) nicht zu § 104 Abs. 4 SGB IX. Das ermöglicht eine spezifische, einer Gefährdung der geplanten Rentenversicherungsbeitrags- satzabsenkung im Jahr 2014 auf 19,8 Prozent und im Jahr auf die Personengruppe von Menschen mit Behinderung 2015 auf 19,3 Prozent kommen wird? ausgerichtete Betreuung, von der auch hilfebedürftige Rehabilitanden im Bereich der Grundsicherung profitie- Zu Frage 61: ren können. Bei den Arbeitsgemeinschaften und zugelassenen Die angesproche Äußerung des Bundesministers der kommunalen Trägern besteht keine gesetzliche Ver- Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, in der Bild am Sonn- pflichtung zur Einrichtung besonderer Stellen zur Betreu- tag am 30. Mai 2010 beinhaltet keinen Widerspruch. Be- ung und Vermittlung behinderter und schwerbehinderter reits der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD Menschen. Die Bundesagentur für Arbeit hat den Grund- vom November 2005 enthält zum einen die im Jahr 2006 sicherungsstellen gleichwohl empfohlen, entweder per- umgesetzte Vereinbarung, die Beitragzahlung des Bun- sönliche Ansprechpartner für diesen Personenkreis vor- des für Bezieher von Arbeitslosengeld II von 78 Euro zuhalten oder für größere Geschäftsstellen entsprechende auf 40 Euro monatlich fast zu halbieren und zum ande- Teams zu bilden. Ein besonderer Betreuungsschlüssel ist ren die Zusage, dass es keine Rentenkürzungen geben nicht vorgegeben. dürfe. Auch die derzeit diskutierten, die gesetzliche Renten- Anlage 45 versicherung betreffenden Sparmaßnahmen zur Haus- (B) haltskonsolidierung in Form des Wegfalls der Beitrags- (D) Antwort zahlung des Bundes für Bezieher von Arbeitslosen- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die geld II und des Wegfalls der Erstattung des Bundes für Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) sogenannte einigungsbedingte Leistungen führen nicht (Drucksache 17/2285, Frage 60): dazu, dass Bestandsrenten gekürzt werden. In welchen Fällen werden im Rahmen des Sparpaketes der Die Beitragszahlung des Bundes für Bezieher von Ar- Bundesregierung Arbeitsförderungsleistungen für schwerbe- hinderte Menschen, die durch die Bundesagentur für Arbeit beitslosengeld II fällt vom Jahr 2011 an weg, sodass sich oder von SGB-II-Trägern als Pflichtleistungen erbracht wer- für Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II erst von den, in Ermessensleistungen umgewandelt oder Ermessens- diesem Zeitpunkt an Auswirkungen bei zukünftigen Ren- leistungen gestrichen? tenansprüchen ergeben. Dem Wegfall der jährlichen Bei- Ob und gegebenenfalls welche Pflichtleistungen der tragszahlung für Arbeitslosengeld II (derzeit 489,54 Euro) aktiven Arbeitsförderung in Ermessensleistungen umge- steht im Alter eine monatliche Rentenminderung von ge- wandelt werden, wird im Zusammenhang mit der für das genwärtig rund 2 Euro pro Jahr des Arbeitslosengeld II- Jahr 2011 vorgesehenen Neuausrichtung der arbeits- Bezugs gegenüber. Der Wegfall der Erstattung der eini- marktpolitischen Instrumente geprüft werden. Aussagen gungsbedingten Leistungen durch den Bund betrifft al- zu einzelnen Instrumenten sind daher noch nicht mög- lein die interne Finanzierung. Für die heutigen und künf- lich. Die Bundesregierung hat sich mit den Beschlüssen tigen Rentnerinnen und Rentner, deren Renten solche vom 6./7. Juni 2010 ausdrücklich dazu bekannt, die Zu- Leistungen enthalten, ändert sich nichts. kunftschancen für die Menschen durch Investitionen in Bildung und Forschung, in Wachstumskräfte und in Ar- Zu Frage 62: beitsplätze zu verbessern. Dieser Prämisse wird auch die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente folgen. Bei der angesprochenen Beitragssatzentwicklung handelt es sich um das Ergebnis einer Modellrechnung und nicht um eine geplante Absenkung des Beitragssat- Anlage 46 zes. Unter Berücksichtigung des Wegfalls der Beiträge für Bezieher von Arbeitslosengeld II sowie des Wegfalls Antwort der Erstattung einigungsbedingter Leistungen an die des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- Rentenversicherung ergibt sich nach aktuellem Rechen- gen des Abgeordneten Klaus Brandner (SPD) (Druck- stand auch in den Jahren 2014 und 2015 ein stabiler Bei- sache 17/2285, Fragen 61 und 62): tragssatz von 19,9 Prozent. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5433

(A) Anlage 47 Nach Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit (C) stellen die Regionaldirektionen bei den Nachprüfungen Antwort im Regelfall fest, dass die beanstandeten Verstöße beho- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- ben wurden. In den Fällen, in denen Verstöße wiederholt gen des Abgeordneten Werner Dreibus (DIE LINKE) nicht abgestellt werden, spricht die Bundesagentur für (Drucksache 17/2285, Fragen 63 und 64): Arbeit Sanktionen gegenüber den Zeitarbeitsunterneh- men aus. Dies kann von Geldbußen bis hin zum Entzug Wie hat sich seit 2005 die Zahl der Mitarbeiterinnen und der Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis führen. Mitarbeiter bei der Bundesagentur für Arbeit entwickelt, die örtliche Prüfungen von Verleihunternehmen vornehmen – bitte jährlich und den heutigen Istzustand darstellen –, und wie viele Beschäftigte der Verleihunternehmen waren von Verstößen gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – auch hier bitte Anlage 48 die Jahreszahlen und den Stand des Jahres 2010 nennen und, wenn möglich, nach häufigsten Verstößen aufgliedern – be- Antwort troffen? des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- Wie oft finden Nachkontrollen bei denjenigen Verleihfir- men statt, die durch die Bundesagentur für Arbeit regional ge- gen der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE prüft und beanstandet wurden, und welche Ergebnisse haben LINKE) (Drucksache 17/2285, Fragen 65 und 66): diese Nachprüfungen hinsichtlich der Beseitigung des bean- Welchen politischen Handlungsbedarf sieht die Bundesre- standeten Verstoßes gebracht? gierung angesichts dessen, dass die Zahl der verhängten Buß- gelder aufgrund von Verstößen gegen das Arbeitnehmerüber- Zu Frage 63: lassungsgesetz, AÜG, zunimmt, und wie teilen sich die seit 2005 verhängten Bußgelder bezogen auf ihre Höhe bzw. die Nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit standen Art der Ordnungswidrigkeit in Verbindung mit den entspre- chenden vorgegebenen Bußgeldrahmen – bitte jährlich an- seit Ende 2004 im Fachgebiet Arbeitnehmerüberlassung hand der Klassifizierung des § 16 AÜG darstellen und auch bundesweit jährlich 77 Stellen für Plankräfte zur Durch- für jede Art der Ordnungswidrigkeit bzw. für jeden vorgege- führung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, AÜG, benen Bußgeldrahmen die tatsächlich im Durchschnitt ver- zur Verfügung. Im ersten Quartal 2009 waren es 74 Stel- hängten Bußgeldhöhen beziffern – auf? len. Auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit Wie hoch ist die Summe der jährlich seit 2005 eingetriebe- und Soziales wird die Bundesagentur für Arbeit vom nen Bußgelder, und wie viele der Bußgelder fallen auf die 15. Juli 2010 an – vorerst befristet bis Ende 2011 – 25 zu- vom Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministe- rin für Arbeit und Soziales Hans-Joachim Fuchtel in der Fra- sätzliche Kräfte für Prüfaktivitäten einsetzen. Insgesamt gestunde am 16. Juni 2010 benannten Verstöße – bitte die ab- stehen damit vom 15. Juli 2010 an bundesweit 99,5 Kräfte soluten Zahlen für die jeweiligen Bereiche nennen? (B) zur Durchführung des AÜG zur Verfügung. (D) Zu Frage 65: Zur Frage, wie viele Beschäftigte von Verstößen ge- gen das AÜG betroffen sind, erhebt die Bundesagentur Die Bundesregierung bezieht die vorgelegten Auswer- für Arbeit keine differenzierte Statistik. Der Bundesre- tungen der Bundesagentur für Arbeit, BA, und der Behör- gierung liegen daher keine Erkenntnisse hierzu vor. den der Zollverwaltung zu den Verwarnungsgeldern und Zur Art der Verstöße verweist die Bundesregierung auf Geldbußen in die Überlegungen zu möglichen gesetzli- den 11. AÜG-Bericht – Bundestagsdrucksache 17/464, chen Änderungen im Bereich der Zeitarbeit mit ein. Nach Seite 16. Angaben der BA betrug die Summe der Verwarnungsgel- der und Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten nach § 16 Zu Frage 64: Abs. 1 Nr. 3 bis 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, für die die BA zuständige Verwaltungsbehörde ist, im Werden bei Zeitarbeitsfirmen, die von den Regional- Jahr 2007: 56 103 Euro, 2008: 68 995 Euro, 2009: direktionen geprüft wurden, Rechtsverstöße beanstandet, 81 390 Euro und im ersten Quartal 2010: 19 835 Euro. gibt es verschiedene Formen der Nachkontrolle. Die Art Eine Auswertung der Verfolgung und Ahndung von Buß- der Nachkontrolle richtet sich daher auch nach der Art geldtatbeständen, die von den Behörden der Zollverwal- des Verstoßes. So kann beispielsweise die Beseitigung tung verfolgt werden – § 16 Abs. 1 Nr. 1 bis 2 a AÜG –, eines Verstoßes – zum Beispiel gegen die Vergütungs- ist erst von 2009 an möglich. Im Jahr 2009 wurden insge- pflicht – auch schriftlich von dem Zeitarbeitsunterneh- samt 851 Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen men nachgewiesen werden. das AÜG mit einer Verwarnung mit Verwarnungsgeld, ei- ner Geldbuße oder der Anordnung des Verfalls – § 29 a Nach Aussagen der Bundesagentur für Arbeit werden OWiG – abgeschlossen. Verfall bedeutet, dass dem Täter Zeitarbeitsunternehmen turnusmäßig mindestens vor der ein Geldbetrag entzogen wird, der höchstens dem Wert ersten Verlängerung einer befristeten Erlaubnis und vor des aus der Tat Erlangten entspricht, sofern gegen ihn Erteilung der unbefristeten Erlaubnis von den Regional- nicht eine Geldbuße verhängt wird. Insgesamt wurden direktionen geprüft. Sofern Verstöße festgestellt wurden, 3 716 280,50 Euro an Verwarnungsgeldern und Geldbu- erteilt die Bundesagentur für Arbeit eine Erlaubnis oft ßen festgesetzt bzw. für verfallen erklärt. wiederholt nur befristet. Über den gesetzlichen Befris- tungsturnus hinaus ergibt sich daher eine Reihe von Für eine weitergehende Differenzierung liegen der Möglichkeiten der Nachkontrolle im Rahmen örtlicher Bundesregierung keine statistischen Auswertungen vor. Prüfungen. Ihre Anzahl wird jedoch von der Bundes- Die Ermittlung der durchschnittlichen Höhe der festge- agentur für Arbeit statistisch nicht erfasst. setzten Geldbußen ist seriös nicht möglich. Die den ein- 5434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) zelnen Bußgeldverfahren zugrunde liegenden Sachver- Anlage 50 (C) halte sind hinsichtlich der Zahl der betroffenen Antwort Arbeitnehmer und der Dauer der Zuwiderhandlung so unterschiedlich, dass allein die Zahl der Bußgeldbe- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die scheide und die Summe der festgesetzten Geldbußen Frage des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND- keine verlässliche Aussage zulässt. Die Zahl der in ei- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 68): nem Bußgeldverfahren jeweils betroffenen Arbeitneh- Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass die Anmelde- mer und die Dauer der Zuwiderhandlung – was regelmä- zahlen von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in den Be- rufsbildungswerken zum jetzigen Zeitpunkt gegenüber den ßig Einfluss auf die Höhe der Geldbuße hat – können Vorjahren stark rückläufig sind, und welche Konsequenzen den statistischen Daten nicht entnommen werden. zieht sie daraus? Soweit die Voraussetzungen dafür gegeben sind, sol- Zu Frage 66: len behinderte wie nichtbehinderte Menschen in Betrie- ben und Verwaltungen ausgebildet werden. Wenn Be- Zur Höhe der Bußgelder und Verwarnungsgelder wird trieb und Berufsschule bereit und in der Lage sind, die auf die Antwort zu Frage 65 verwiesen. Ausbildung unter angemessener Berücksichtigung der Für die Ahndung und Verfolgung von Verstößen ge- Behinderung durchzuführen, wird für behinderte Men- gen Mindestlohnbestimmungen, beispielsweise im Ma- schen vorrangig eine solche Ausbildung angestrebt. ler- und Lackiererhandwerk, sind die Behörden der Zoll- Sofern es Art und Schwere der Behinderung oder die verwaltung zuständige Verwaltungsbehörde. Sofern Sicherung des Erfolgs der Teilhabe erfordern, werden Verstöße gegen Mindestlohnbestimmungen bei Prüfun- die beruflichen Bildungsmaßnahmen in besonderen Ein- gen festgestellt werden, erfolgt vonseiten der Bundes- richtungen der beruflichen Rehabilitation zum Beispiel agentur für Arbeit eine Abgabe an das jeweils zuständige in Berufsbildungwerken durchgeführt. Hauptzollamt. In den vergangenen Jahren hat die Bundesagentur für Arbeit ihre Anstrengungen zunehmend verstärkt, für Jugendliche mit Behinderungen nach der Schulzeit Anlage 49 möglichst eine betriebliche Berufsausbildung zu er- möglichen. Diese Entwicklung spiegelt sich in der An- Antwort meldesituation in den Berufsbildungswerken wider, die im Trend der letzten Jahre in Richtung späterer Anmel- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die dung durch die Bundesagentur für Arbeit geht. (B) Frage der Abgeordneten Jutta Krellmann (DIE (D) LINKE) (Drucksache 17/2285, Frage 67): So hat sich auch in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die tatsächliche Anmeldesituation aufgrund des Was sind die zehn Einsatzbranchen – bitte jährliche Anga- Ausbildungsbeginns im Herbst erst im Oktober ersicht- ben seit 2005 machen –, in denen wegen Verstößen gegen das lich war. Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die meisten Bußgelder ver- hängt wurden, und wie viele Beschäftigte waren von den Ver- stößen tangiert? Anlage 51 Die Bundesagentur für Arbeit ist die für die Verfol- Antwort gung und Ahndung der Ordnungswidrigkeiten nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 bis 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die AÜG, zuständige Verwaltungsbehörde. Diese Ordnungs- Frage des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND- widrigkeiten betreffen die Zeitarbeitsbranche und Hand- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 69): lungen des Verleihers. Nur bei wenigen Verstößen ist Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus auch die Branche des Entleihers betroffen. Dies ist in der der vom Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte herausgegebenen Studie vom 22. Dezem- Regel bei Verstößen gegen Mindestlohnbestimmungen ber 2009, in der in den Nrn. 24 und 25 konstatiert wird, dass der Fall. Für die Verfolgung und Ahndung von diesen es für die effektive Umsetzung der UN-Behindertenrechts- Verstößen sind die Behörden der Zollverwaltung zustän- konvention empfehlenswert sei, neben einem übergeordneten dig. Focal Point nach Art. 33 Abs. 1 der Konvention auch in allen relevanten Ministerien und Abteilungen Focal Points einzu- richten, um ein entsprechendes Bewusstsein zu bilden, an der Eine Aussage zur Anzahl der Beschäftigten, die von Erarbeitung eines Aktionsplanes teilzunehmen sowie die Um- den Verstößen tangiert waren, kann nach Angaben der setzung zu begleiten und zu kontrollieren, und in welchen Bundesagentur für Arbeit nicht getroffen werden, da Bundesministerien und deren Abteilungen wurden bislang ne- eine derartige Statistik nicht geführt wird. ben dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Abteilung V Focal Points eingerichtet? Unabhängig von Bußgeldern sind Sanktionen durch Die staatliche Anlaufstelle nach Art. 33 der UN-Be- Auflagen, Nichtverlängerung einer befristeten Erlaubnis, hindertenrechtskonvention, Focal Point, im Bundes- Nichterteilung einer unbefristeten Erlaubnis und Wider- ministerium für Arbeit und Soziales arbeitet bei der Er- rufe möglich. Diese Entscheidungen werden durch die stellung des Nationalen Aktionsplans mit den übrigen Regionaldirektionen im Rahmen des Erlaubnisverfah- Ressorts der Bundesregierung ebenso eng zusammen rens getroffen. wie mit den übrigen Abteilungen des Hauses. Eine for- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5435

(A) melle Benennung von weiteren Focal Points ist bislang Küstenschutzes, GAK, auf effektiv 600 Millionen Euro. (C) nicht erfolgt. Im Rahmen der weiteren Entwicklung und Dies bedeutet einen Rückgang gegenüber 2010 – effek- insbesondere der anschließenden Umsetzung des Ak- tiv 700 Millionen Euro – um 100 Millionen Euro. Drit- tionsplans wird eine noch intensivere Vernetzung der tens Verzicht auf die Fortsetzung des Programms zur Li- Ressorts in diesem Bereich angestrebt. Die Benennung quiditätssicherung der landwirtschaftlichen Betriebe in von weiteren Focal Points wird dabei ausdrücklich nicht 2011 – Minderausgaben in 2011 von 25 Millionen Euro. ausgeschlossen. Viertens Veranschlagung einer Globalen Minderausgabe – 50 Millionen Euro in 2011, die im Zuge der parlamenta- rischen Beratungen des Haushaltsentwurfs und gegebe- Anlage 52 nenfalls im Rahmen der Haushaltsbewirtschaftung 2011 aufzulösen sein wird. Einzelheiten, in welchen Berei- Antwort chen die Globale Minderausgabe erwirtschaftet werden des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage soll, stehen noch nicht fest. des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 70): Anlage 54 Welche Aktivitäten plant die Bundesregierung national und auf europäischer Ebene, um die Einführung einer Tier- Antwort schutzkennzeichnung zu implementieren? des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Fra- Der Ausgangspunkt der aktuellen Überlegungen zur gen der Abgeordneten Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ Einführung einer Tierschutzkennzeichnung ist der Be- DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 72 und 73): richt der Europäischen Kommission vom Oktober 2009. Es handelt sich mithin um ein europäisches und kein na- Welche Faktoren werden über die Dienstpostenzahl hinaus zur Auswahl der zu schließenden kleinen Kasernen herange- tionales Verfahren. Federführend für den weiteren Ver- zogen, und inwieweit werden städtebauliche Belange bei der fahrensablauf sind die jeweiligen Institutionen der EU. Standortauswahl der vom Bundesminister der Verteidigung, Die Bundesregierung wird sich in die Beratungen in den Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, angekündigten Gremien des Rates aktiv einbringen. Schließung eine Rolle spielen? In welcher zeitlichen Frist werden die betroffenen Städte und Gemeinden über die Schließung der Kasernen informiert, und in welcher Form werden sie an dem folgenden Schlie- Anlage 53 ßungs- und Konversionsprozess beteiligt? Antwort Zu Frage 72: (B) des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage (D) des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜND- Die Bundeswehr steht, insbesondere durch die Auslands- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 71): einsätze, großen Herausforderungen und Verantwortungen gegenüber. Daher ist es die Absicht des Bundesministers der Bei welchen Haushaltstiteln im Agraretat will die Bundes- regierung Kürzungen vornehmen, um die Weiterführung der Verteidigung, Anpassungen dort vorzunehmen, wo die Steuerermäßigungen beim Agrardiesel im heutigen Umfang Bundeswehr effizienter und insbesondere einsatzorien- gegenzufinanzieren? tierter ausgerichtet werden kann. Dies alles geschieht nicht vorrangig, aber auch vor dem Hintergrund der Maß- Die Fortführung der Agrardieselregelung verursacht nahmen der Bundesregierung zur Gewährleistung solider nach aktuellen Berechnungen geschätzte Steuerminder- Staatsfinanzen. Eingriffe in viele Bereiche der Bundes- einnahmen von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Von wehr – bis hin zur Stationierung – können vor dem bereits diesem Betrag muss das BMELV durch Einsparungen in seit längerem bekannten Hintergrund erforderlicher seinem Haushalt – Einzelplan 10 – 170 Millionen Euro Strukturreformen notwendig sein. erbringen. Darüber hinaus muss der Einzelplan 10 einen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes leis- Aussagen zu konkreten Veränderungen an einzelnen ten. Standorten werden deshalb erst möglich sein, wenn die erforderlichen Strukturanpassungen der Bundeswehr Die Gegenfinanzierung von Agrardiesel und der all- sorgfältig geprüft und entschieden sind. Das Stationie- gemeine Konsolidierungsbeitrag sollen – vorbehaltlich rungskonzept wird gegebenenfalls in Gänze zu überprü- der Entscheidung der Bundesregierung über den Regie- fen sein. Der dann dabei verwendete Kriterienkatalog zur rungsentwurf des Haushalts 2011 in der Kabinettssitzung Vorbereitung von Stationierungsentscheidungen orien- am 7. Juli 2010 – insbesondere erbracht werden durch: tiert sich einerseits an militärischen/funktionalen Krite- Erstens. Minderausgaben in der Agrarsozialpolitik, die rien wie Übungs- und Ausbildungsmöglichkeiten oder sich aufgrund aktueller Entwicklungen ergeben – insbe- der geschlossenen Stationierung von Verbänden und Ein- sondere durch Änderungen in der Zahl der Leistungs- heiten und andererseits an betriebswirtschaftlichen Krite- empfänger, günstigere Entwicklungen bei den Leis- rien wie bereits getätigte Investitionen oder die Höhe der tungsaufwendungen je Einzelfall und Auswirkungen von Kosten für den Betrieb der Liegenschaften. Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Änderungen in den gesetzlichen Regelungen der land- Dabei ist es alternativlos, dass die militärischen/funk- wirtschaftlichen Sozialpolitik sind damit nicht verbun- tionalen und betriebswirtschaftlichen Kriterien gegen- den. Zweitens Absenkung der Mittel für die Gemein- über regionalpolitischen Gesichtspunkten in den Vorder- schaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des grund treten müssen. Die städtebaulichen Belange der 5436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) betroffenen Kommunen können demgegenüber keine Wie beantwortet die Bundesregierung nunmehr meine (C) vorrangige Bedeutung bei der Bewertung von Standorten mündliche Frage vom 2. Juni 2010 zum weiteren Schicksal der acht Personen, die nach der Antwort der Bundesregierung erlangen. vom 9. Juni 2010 (siehe Plenarprotokoll 17/45, Seite 4576 A) auf der Joint Priority Effects List, JPEL, der sogenannten To- Zu Frage 73: desliste der NATO-Truppen für Nordafghanistan, auf Initia- tive von deutscher Seite seit Juni 2009 gelistet worden waren, Standortentscheidungen fallen ganz am Schluss eines insbesondere ob die Personen inzwischen festgenommen oder zeitaufwendigen Planungsprozesses. So müssen zunächst getötet wurden? die zukünftigen Rahmenbedingungen untersucht und ent- Von den acht Personen, die seit Juni 2009 von deut- schieden werden, dazu zählen auch die Wehrform und die scher Seite zur Nominierung auf der Joint Prioritized Ef- Personalumfänge der Bundeswehr. Darauf aufbauend fects List, JPEL, der ISAF vorgeschlagen wurden, sind muss ein militärisches Gesamtkonzept erarbeitet werden, zwischenzeitlich zwei bei Gefechtshandlungen ohne auf dem dann die Stationierungsplanung aufsetzt. eine Beteiligung deutscher Kräfte zu Tode gekommen. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben im Ge- schäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen ist In einem der beiden Fälle waren ausschließlich afgha- seit dem 1. Januar 2005 für die Verwertung der für Vertei- nische Kräfte an den Gefechten beteiligt. Im anderen digungszwecke nicht mehr benötigten Immobilien des Fall wurde eine Person getötet, als sie sich unter Anwen- Bundes zuständig. Sie wird den Kommunen die relevan- dung von Waffengewalt im Verlauf einer von nichtdeut- ten liegenschaftsbezogenen Informationen zur Verfügung schen Streitkräften unterstützten Operation einer Ergrei- stellen, damit Vorüberlegungen für eine künftige Nutzung fung durch die afghanischen Sicherheitskräfte widersetzt bereits weit vor der Räumung der Standorte durch die hatte. Damit verbleiben sechs der seit Juni 2009, und ei- Bundeswehr einsetzen können. Die betroffenen Kommu- ner aus der Zeit vorher, von deutscher Seite für die No- nen werden zu diesem Zweck so frühzeitig wie möglich minierung auf der ISAF Joint Prioritized Effects List über die Termine der Standorträumung informiert. vorgeschlagenen Personen weiterhin mit dem Ziel der Gleichzeitig werden erste Gespräche mit den Kommunen Festsetzung zur Fahndung durch ISAF und die afghani- und möglichen Investoren zur Anschlussnutzung geführt. schen Sicherheitskräfte ausgeschrieben. Zusätzlich werden im jeweiligen Einzelfall die betroffe- Der Bundesregierung ist bisher unverändert kein Fall nen Landesregierungen unterrichtet. Auch die Bundes- bekannt, bei dem Personen, deren Nominierung auf die wehr informiert im Internet, www.bundeswehr.de, über ISAF Joint Prioritized Effects List von deutscher Seite die Freigabe von Liegenschaften und unterstützt die be- mit dem Ziel der Festsetzung veranlasst wurde, entgegen troffenen Kommunen durch Informationen und Beratung. dieser Wirkungsforderung von Bündnispartnern in Af- Bei den Wehrbereichsverwaltungen und Bundeswehr- (B) ghanistan gezielt getötet wurden. (D) Dienstleistungszentren stehen ebenfalls Ansprechpartner für Konversionsfragen zu Verfügung. Investoren und Ver- treter von Kommunen wird die Möglichkeit eingeräumt, sich vor Ort zu informieren und die freiwerdenden Lie- genschaften zu besichtigen. Die Kommunen sind dadurch Anlage 56 in der Lage, sich auf die anstehenden Veränderungen vor- Antwort zubereiten und alternative Nutzungskonzepte zu entwi- ckeln. des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage des Abgeordneten René Röspel (SPD) (Drucksache 17/2285, Eine schnelle Anschlussnutzung und damit auch die Frage 76): Vermeidung fortlaufender Kosten vormals militärisch ge- nutzter Liegenschaften liegt im wirtschaftlichen Interesse Wird der Plan der Bundesregierung zur Einführung einer Pflicht zur Veröffentlichung der Ergebnisse klinischer Prüfun- des Bundes. Die Bundesministerien der Verteidigung und gen im Rahmen des Referentenentwurfs für das Arzneimittel- der Finanzen haben eine gemeinsame Koordinierungs- neuordnungsgesetz nicht zum „Aufbau eines zusätzlichen na- stelle gegründet. Sie ist zentraler Ansprechpartner für tionalen Registrierungs- und Publikationssystems“ führen, Probleme und Anliegen der von Konversionsfolgen be- welches „nicht im Interesse einer einfacheren Zugänglichkeit von Daten“ ist (wie der Abgeordnete Lars Lindemann am troffenen Länder und Kommunen und wird diese Fälle 25. März 2010 in einer Rede argumentierte), und teilt die koordinieren und – sofern notwendig – unterstützend be- Bundesregierung die Auffassung, dass eine Verpflichtung zur gleiten. Im Rahmen einer vertrauensvollen Zusammenar- Registrierung aller klinischen Studien beim Deutschen Regis- beit wird die Bundesregierung auch zukünftig umfassend ter Klinischer Studien, DRKS, nicht gesetzlich verankerbar ist und zeitgerecht sowohl die Abgeordneten als auch die be- (wie es der Abgeordnete Dr. in einer Rede vom 25. März 2010 dargestellt hat)? troffenen Kommunen über alle für sie wichtigen Ent- scheidungen informieren. Die im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittel- marktes in der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV, vorgesehene Regelung im Arzneimittelgesetz führt nicht Anlage 55 zum Aufbau eines zusätzlichen nationalen Registrie- rungs- und Publikationssystems. Der vorgeschlagene Antwort § 42 b des Arzneimittelgesetzes enthält die grundsätzli- des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage che Verpflichtung für den pharmazeutischen Unterneh- des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND- mer, Ergebnisse der klinischen Prüfungen mit seinem NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 74): zugelassenen oder für das Inverkehrbringen genehmig- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5437

(A) ten Arzneimittel öffentlich zugänglich zu machen. Die Anlage 58 (C) Verpflichtung gilt auch für den Sponsor einer klinischen Prüfung mit einem zugelassenen Arzneimittel. Antwort des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Fragen der Schon jetzt sind die Sponsoren von klinischen Prü- Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fungen nach § 13 Absatz 9 der GCP-Verordnung ver- NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 78 und 79): pflichtet, der zuständigen Bundesoberbehörde und der Wie schätzt die Bundesregierung die wirtschaftliche Situa- zuständigen Ethik-Kommission innerhalb eines Jahres tion von freiberuflichen Hebammen ein, die von Juli 2010 an nach Beendigung der klinischen Prüfung eine Zusam- eine Prämienzahlung ihrer Haftpflichtversicherungen von menfassung des Berichts über die klinische Prüfung zu 3 000 Euro und mehr jährlich zu leisten haben, und welche übermitteln. Diese Zusammenfassung muss alle wesent- Folgen erwartet die Bundesregierung daraus? lichen Ergebnisse der klinischen Prüfung abdecken. Ort Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung bezüglich und Form der Veröffentlichung werden nicht vorgege- eines zukünftigen Engpasses der Versorgung mit Hebammen insbesondere im ländlichen Raum, und was unternimmt die ben, diese kann beispielsweise auch auf dem Internetauf- Bundesregierung, um die Versorgung zu gewährleisten? tritt eines Unternehmens oder eines Sponsors erfolgen oder auf einer gesonderten Internetseite verlinkt werden. Zu Frage 78: Auch die Aufnahme in ein Register wird nicht vorge- Der Bundesregierung liegen Daten zur Entwicklung schrieben. Nach harmonisiertem europäischen Recht be- der Zahl der Hebammen/Geburtshelfer sowie zu den steht bereits jetzt die Verpflichtung, alle klinischen Prü- Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV, fungen in der europäischen Datenbank EudraCT zu für Hebammenhilfe vor. Diese zeigen, dass sowohl die registrieren. Zahl der Hebammen als auch die Ausgaben der GKV in den letzten Jahren spürbar gestiegen sind. Die Europäische Kommission sieht vor, dass Regis- trierungsdaten aus dieser bislang nur für Behörden zu- Die Bundesregierung nimmt das Anliegen der Hebam- gänglichen Datenbank ab September 2010 und Ergeb- men sehr ernst. Es trifft zu, dass die Prämien für Berufs- nisse über klinische Arzneimittelprüfungen ab 2011 öf- haftpflichtversicherungen der in der Geburtshilfe tätigen Hebammen zum 1. Juli 2010 in erheblichem Umfang an- fentlich zugänglich gemacht werden. gehoben werden. Eine weitere gesetzliche Verpflichtung zur Registrie- Die Aufwendungen für Berufshaftpflichtversicherun- rung klinischer Prüfungen wäre eine Doppelverpflich- gen sind nach Auffassung des Bundesministeriums für (B) tung und ist deshalb nicht erforderlich. Davon abgese- Gesundheit, BMG, als Kostenfaktor bei den Vergütungs- (D) hen, könnte sie allenfalls für eine Registrierung bei einer vereinbarungen zwischen den Hebammenverbänden und Behörde und nicht bei einer anderen Institution wie dem dem GKV-Spitzenverband zu berücksichtigen, da § 134 a Deutschen Register Klinischer Studien, DRKS, einge- des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, SGB V, ausdrück- führt werden. Denn nicht alle Informationen zu einer kli- lich vorschreibt, dass die „berechtigten wirtschaftlichen nischen Prüfung können veröffentlicht werden, insbe- Interessen“ der freiberuflichen Hebammen im Rahmen sondere soweit sie schützenswerte Betriebs- und der Vergütungsvereinbarungen zu berücksichtigen sind. Geschäftsgeheimnisse sowie patientenbezogene Daten Nachdem eine Einigung zwischen den Vertragsparteien enthalten. nicht erzielt worden ist, ist es nun Aufgabe der gemeinsa- men Schiedsstelle, die Vergütung festzulegen. Für den 5. Juli 2010 wurde ein Termin für die Schieds- verhandlung festgesetzt. Ich erwarte, dass die Schieds- Anlage 57 stelle bei ihrer Entscheidung auch die Erhöhung der Haft- Antwort pflichtprämien angemessen berücksichtigen wird. Eine Einflussnahme des BMG auf dieses Verfahren scheidet des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage des allerdings aus. Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksa- che 17/2285, Frage 77): Zu Frage 79: Inwieweit wird sich die Bundesregierung bei den Ver- Nach den Angaben des GKV-Spitzenverbandes hat die handlungen um die 2011 anstehende Novellierung des Zahl der Leistungserbringerinnen – sowohl Hebammen Glücksspielstaatsvertrages dafür einsetzen, dass Soziallotte- rien, zum Beispiel „Aktion Mensch“, nicht als ebenso sucht- als auch Geburtshäuser – in den vergangenen Jahren zu- gefährlich eingestuft werden wie kommerzielle Lotterien, so- genommen. Dem BMG sind bestehende Versorgungseng- dass für Erstere Ausnahmeregelungen – zum Beispiel der pässe nicht bekannt, so dass die Versorgungslage mit Losverkauf über das Internet – möglich werden? Leistungen der Hebammenhilfe derzeit als gut bezeichnet werden kann. Die Bundesregierung ist an den Verhandlungen um die Novellierung des Glücksspiel-Staatsvertrages nicht betei- Ausgehend davon, dass der in Kürze zu erwartende ligt. Es handelt sich um einen Staatsvertrag der 16 Bun- Schiedsspruch die steigenden Haftpflichtprämien für ge- desländer, insofern hat die Bundesregierung keine Ein- burtshilflich tätige Hebammen bei der Vergütung ange- flussmöglichkeiten. messen berücksichtigen wird, ist nach Ansicht des BMG 5438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) nicht zu erwarten, dass sich die Versorgungssituation Bauwerken durchgeführt, um die Richtlinie „Vorbeu- (C) kurzfristig ändern wird. gende Maßnahmen gegen schädigende Alkalireaktionen im Beton“, Alkali-Richtlinie, fortzuschreiben. Die Al- kali-Richtlinie wurde seitdem mehrfach aktualisiert. Anlage 59 Gesicherte Zahlen zur Länge der betroffenen Stre- Antwort ckenabschnitte können nicht genannt werden. Der Nach- weis einer schädigenden Reaktion an Betonfahrbahnde- des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die cken durch Alkali-Kieselsäure-Reaktionen, AKR, muss Fragen des Abgeordneten Dirk Becher (SPD) (Drucksa- durch spezielle, zeitaufwändige Untersuchungen er- che 17/2285, Fragen 80 und 81): bracht werden, da das Rissbild auch durch andere Schä- Hält die Bundesregierung die Deckelung von Biogasanla- digungsprozesse verursacht werden kann. Im Ergebnis gen im Außenbereich auf 500 Kilowatt weiterhin für sinnvoll, haben sich in den letzten Jahren die Informationen über auch wenn die Anlagen ohne bauliche Veränderung mehr als 500 Kilowatt leisten könnten? Streckenabschnitte, für die Verdacht auf Schädigung Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung dazu, die durch AKR besteht, für die diese Schadensursache nach- Begrenzung für den Bau von Biogasanlagen nicht mehr an der gewiesen wurde und an denen Erhaltungsmaßnahmen Leistung, gemessen in Kilowatt, sondern an der räumlichen durchgeführt wurden, zum Teil bereits auch an Ver- Größe der Anlagen festzumachen, und welche Argumente dachtsstrecken ohne diesen Nachweis, überschnitten. sprechen für eine Beibehaltung der derzeitig gültigen Mess- größe? Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP Anlage 61 sieht für das Bauplanungsrecht unter anderem vor, das Baugesetzbuch zu ändern. Das Gesetzgebungsverfahren Antwort wird derzeit unter anderem durch eine Reihe von Exper- des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die tengesprächen vorbereitet. In diesem Zusammenhang Frage des Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜND- wird auch möglicher Änderungsbedarf bei der privile- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 83): gierten Zulässigkeit von Biomasseanlagen im Außenbe- Wann wird die Finanzierungsvereinbarung für den zweiten reich, § 35 Abs. 1 Nr. 6 Baugesetzbuch, geprüft; Ergeb- S-Bahn-Tunnel in München zum Abschluss kommen, und bis nisse liegen bislang noch nicht vor. Das Gesetz- zu welcher Grenze wird der Bund mögliche Kostensteigerun- gebungsverfahren soll 2011 förmlich eingeleitet werden. gen beim Bau des zweiten S-Bahn-Tunnels in München mitfi- Das Inkrafttreten der Neuregelungen ist für 2012 vorge- nanzieren? sehen. Notwendig für die Entscheidung über eine anteils- (B) mäßige Finanzierung des zweiten Münchener S-Bahn- (D) tunnels mit Mitteln aus dem Bundesprogramm gemäß Anlage 60 § 6 Abs. 1 des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes ist die Vorlage eines Förderantrages, in dem die Vo- Antwort raussetzungen dafür belegt sind. Dies ist bisher noch des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die nicht geschehen. Insofern können keine Aussagen über Frage des Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜND- die Entscheidung oder die Finanzierung etwaiger Kos- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 82): tensteigerungen gemacht werden. Wie ist es zu erklären, dass das geeignete Prüfungsverfah- ren der Materialforschungs- und -prüfanstalt an der Bauhaus- Universität Weimar, MFPA – Sachverständiger Dr. Gerhard Anlage 62 Hempel –, vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bereits am 27. Oktober 1992 mit dem Antwort Schreiben StB 25/38.55.50/21 H 92 der Deutschen Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, DEGES, zur Nutzung des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die empfohlen worden war – „Um alle im Hinblick auf Alkalikie- Frage des Abgeordneten Michael Groß (SPD) (Druck- selsäurereaktionen bestehenden Verdachtsmomente von vorn- sache 17/2285, Frage 84): herein auszuräumen … Sein Prüfverfahren ist über die An- wendung im Brückenbau hinaus auch im Fahrbahndeckenbau Welche Wirkung auf die kommunalen Finanzen und wel- anzuwenden und geeignet, Schäden abzuwenden“ –, ohne che Art der Kompensation dieser Wirkung wird es aus Sicht dass die DEGES über Jahre hinweg darauf eingegangen wäre der Bundesregierung durch die geplante Streichung des Heiz- und dadurch eindeutig vermeidbarer Schaden verursacht kostenzuschusses geben? wurde, und welche konkreten Autobahnabschnitte – bitte in Kilometerangaben – sind nach aktuellem Kenntnisstand Ver- Die Einführung der Heizkostenkomponente im Wohn- dachtsfälle für die Schädigung durch die Alkalikieselsäurere- geld war Teil der Wohngeldreform 2009, deren Auswir- aktion? kungen auch auf nachgelagerte soziale Sicherungssysteme insgesamt und nicht isoliert für einzelne Komponenten Das angesprochene Prüfungsverfahren wurde in dem berechnet wurden. Die finanziellen Auswirkungen des Institut für Baustoffe Weimar schon ab circa 1985 zur Wegfalls der Heizkostenkomponente werden gegenwär- Begutachtung von potenziell alkaliempfindlichen Ge- tig im Zusammenhang mit dem anstehenden Gesetzge- steinskörnungen angewandt. bungsverfahren zum Haushaltsbegleitgesetz 2011 unter Unter Beteiligung des damaligen Instituts für Bau- anderem für Leistungen der Grundsicherung für Arbeit- stoffe Weimar, heute MFPA-Weimar, Herrn Dr. Hempel, suchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und wurden seit etwa 1991 Untersuchungen an geschädigten der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5439

(A) buch abgeschätzt. Welche zusätzlichen Kosten sich gege- Zu Frage 87: (C) benenfalls zukünftig für diese Systeme ergeben, ist der- zeit noch nicht absehbar. Die Bundesregierung hat auf ihrer Klausurtagung An- fang Juni Eckpunkte für die weitere Aufstellung des Haushaltsentwurfs 2011 und des Finanzplans bis 2014 beschlossen. Zur Umsetzung werden alle Ressorts einen Anlage 63 Beitrag leisten. Antwort Die Frage nach einzelnen Einsparbeiträgen zielt daher des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die auf das Verfahren zur Aufstellung des Regierungsent- Fragen des Abgeordneten Uwe Beckmeyer (SPD) wurfs des Bundeshaushalts 2011 ab und richtet sich auf (Drucksache 17/2285, Fragen 85 und 86): eine Phase der Vorbereitung der Etatplanung, die rein re- gierungsintern verläuft. Es entspricht der gängigen Staats- Wie groß ist nach Kenntnis der Bundesregierung das Ver- kehrsaufkommen von Lkw mit einem Gewicht von über praxis, dass die Erörterung und die Erstellung des Regie- 12 Tonnen auf allen vier- und mehrspurigen Bundesstraßen in rungsentwurfs des Bundeshaushalts in den Kernbereich Deutschland, und wie wird sich auf der Grundlage vorliegen- exekutiver Eigenverantwortlichkeit fällt und dass über der Verkehrsprognosen das Verkehrsaufkommen in den Einzelheiten dieses Verfahrens – so lange es andauert – nächsten Jahren auf allen vier- und mehrspurigen Bundesstra- keine Auskünfte gegeben werden. Hierzu zählen gege- ßen entwickeln? benenfalls auch unterschiedliche Auffassungen zu be- Wie hoch schätzt die Bundesregierung die zu erwartenden stimmten Details während der Haushaltsaufstellung. Mehreinnahmen aus der Lkw-Maut auf vier- und mehrspuri- gen Bundesstraßen ein, und wie hoch werden voraussichtlich die Systemkosten einer Lkw-Maut auf vier- und mehrspurigen Zu Frage 88: Bundesstraßen sein? Gegenwärtig finden die Ressortgespräche zur Auf- Zu Frage 85: stellung des Bundeshaushalts 2011 statt. Dabei spielt die Haushaltskonsolidierung eine gewichtige Rolle. Bevor Dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt- aber zu den Auswirkungen Stellung bezogen werden entwicklung sind die Schwerverkehrsbelastungen einzel- kann, sind die Verhandlungen erst einmal abzuschließen. ner Bundesstraßen bekannt, sowie der Durchschnittswert Dies erfolgt mit der Beschlussfassung des Kabinetts zum aller zwei- und mehrstreifigen Bundesstraßen. Haushaltsentwurf 2011.

Zu Frage 86: Anlage 65 (B) Die Bundesregierung erwartet bei einer Bemautung (D) von vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen Mautein- Zu Protokoll gegebene Reden nahmen im unteren dreistelligen Millionenbereich. Da zur Beratung des Entwurfs eines Jahressteuer- die Ausweitung der Lkw-Maut auf vier- und mehrstrei- gesetzes 2010 (JStG 2010) (Tagesordnungs- fige Bundesstraßen zurzeit rechtlich, technisch und orga- punkt 10) nisatorisch geprüft wird, können allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch keine exakten Angaben gemacht werden. Olav Gutting (CDU/CSU): Es entspricht ja fast Entscheidend wird letztlich der Umfang der Fahrleis- schon einer gewissen Tradition, dass wir einmal im Jahr tungen auf den betreffenden Straßenabschnitten sein. unser jeweiliges Jahressteuergesetz beraten. Auch in die- Zur Höhe der Systemkosten kann zum jetzigen Zeit- sem Jahr werden überwiegend steuertechnische Anpas- punkt ebenfalls noch keine Aussage getroffen werden. sungen vorgenommen, welche sich im Laufe eines Jah- res aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben oder aus Anregungen der Verwaltung ergaben. Die bloße Anlage 64 Menge dieser notwendigen Anpassungen hat es aller- dings in sich. Schließlich gab es letztes Jahr kein Jahres- Antwort steuergesetz, sodass wir über einen Gesetzentwurf von des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die einem Umfang von 175 Seiten mit rund 180 Maßnahmen Fragen des Abgeordneten Christian Lange (Backnang) zu beraten haben. Die in Fachkreisen häufig verwandte (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 87 und 88): Bezeichnung als Omnibusgesetz – manche bezeichnen es nachvollziehbar als klassisches Besenwagengesetz – Stimmen die Angaben des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. , dass bei der ist deshalb dieses Jahr zutreffender denn je. Gleichwohl sogenannten Sparklausur der Bundesregierung für die Jahre enthält auch der uns zur Lesung vorliegende Entwurf ei- 2011 bis 2014 bei den Infrastrukturinvestitionen Einsparun- nes Jahressteuergesetzes 2010 eine Reihe von bedeutsa- gen von viermal 200 Millionen Euro vereinbart wurden, oder men Maßnahmen, die eine besondere Erwähnung ver- stimmen die Angaben des Bundesministers der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, nach denen die Einsparungen in den dienen. nächsten Jahren ansteigen sollen? Mit dem Jahressteuergesetz werden wir – wie im Ko- Welche Folgen werden die Einsparungen für die bereits alitionsvertrag vorgesehen – die gleichheitswidrigen Be- geplanten und zugesicherten Verkehrsprojekte haben, und nachteiligungen von eingetragenen Lebenspartnern ge- welche finanziellen Auswirkungen werden diese Einsparun- gen auf die Bundesländer haben, insbesondere auf Baden- genüber Ehegatten im Bereich der Erbschafts- und Württemberg? Schenkungsteuer und im Bereich der Grunderwerbsteuer 5440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) abbauen. Zur Vermeidung einer Doppelförderung bei der Vereinfachung benötigt auch unser gesamtes Einkom- (C) steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen mensteuerrecht. Ungeachtet des Jahressteuergesetzes sind bereits mit öffentlichen Mitteln geförderte Maßnah- 2010 wird sich die Union in dieser Legislaturperiode für men vereinzelt nicht absetzbar. Dies weiten wir nun kon- durchgreifende Steuervereinfachungen im Rahmen eines sequent auf weitere Förderprogramme aus. Gesamtkonzeptes einsetzen. Mit dem Jahressteuergesetz 2010 wird auch der Um- Ich freue mich auf gute Beratungen. satzsteuerbetrug weiter eingedämmt werden. Mit der Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungs- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Heute morgen empfängers bei der Umsatzsteuer – sogenanntes Re- haben wir die Regierungserklärung von Bundeswirt- verse-Charge-Verfahren – auf Lieferungen von schaftsminister Rainer Brüderle gehört. Das lautstarke Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstof- und zudem unangebrachte Übermaß an Eigenlob ist si- fen sowie Leistungen von Gebäudereinigern kann der cherlich nicht nur mir unangenehm aufgefallen. Ich sogenannte Karussellbetrug in diesem Bereich wirksam frage mich, wer denn nun recht hat: Bundeswirtschafts- verhindert oder erschwert werden. Bedauerlich ist die minister Brüderle, der sich die konjunkturelle Entwick- notwendige Verlängerung der Übergangsregelung bei lung schönredet und tatsächlich zu glauben scheint, das den elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmalen. Der sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz habe ir- aktuelle Entwicklungsstand des Verfahrens lässt die ur- gendetwas damit zu tun, oder seine Parteifreunde von sprünglich für 2011 geplante Einführung noch nicht zu. der FDP, die sich mittlerweile gar nicht mehr gerne an Als Abgeordneter des Spargelwahlkreises Bruchsal- ihre eigene Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernach- Schwetzingen will ich noch eine, wie ich finde, sehr po- tungen erinnern möchten und stattdessen neuerdings für sitive Maßnahme besonders hervorheben. Mit dem Jah- „Steuervereinfachungen“ plädieren. Und wo sind eigent- ressteuergesetz 2010 werden wir die zu Recht vielfach lich der Parteivorsitzende Westerwelle und sein Steuer- kritisierte Steuererklärungspflicht für viele Saisonar- papst Hermann Otto Solms, die wohl ihr eigenes neoli- beitskräfte abschaffen. Bislang zwang diese Regelung berales Mantra zu Steuersenkungen und Stufenmodellen 300 000 Saisonarbeitskräfte – davon alleine 200 000 in mittlerweile selbst nicht mehr hören können? der Landwirtschaft – eine Steuererklärung abzugeben, obwohl absehbar war, dass keine Steuerlast entsteht. Seit Die FDP verkauft uns ihre Einsicht, dass derzeit keine 2009 mussten landwirtschaftliche Arbeitgeber – meist Steuersenkungen möglich sind, dreist als bahnbrechen- Spargelanbauer – ihre Saisonarbeitskräfte zunehmend den Erkenntnisgewinn. Das ist etwa so, als behaupte bei Erstellung der Steuererklärung unterstützen. Es ist man jahrhundertelang, die Erde sei eine Scheibe, um nicht verwunderlich, dass ausländische Saisonarbeits- sich dann selber dafür auf die Schulter zu klopfen, dass (B) (D) kräfte – meist aus Polen, Kroatien, Rumänien oder Bul- man die Kugelform der Erde für sich entdeckt hat – aber garien – nicht in der Lage waren, die amtlichen Vordru- manche sind ja offensichtlich auch mit kleinen Fort- cke ohne Hilfestellung auszufüllen. Da tut man sich schritten auf dem Weg der Erkenntnis zufrieden. schon als Muttersprachler schwer – mit rudimentären Schließlich konnte man ja auch überhaupt nicht wis- deutschen Sprachkenntnissen geht aber rein gar nichts. sen, dass wir uns mitten in einer schlimmen Wirtschafts- Also musste der Bauer oder gleich der Steuerberater hel- und Finanzkrise befinden, dass die Einnahmen von fend einspringen. Die damit einhergehenden beträchtli- Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungssys- chen Bürokratiekosten blieben bei dem jeweiligen temen deutlich zurückgehen werden und dass die Ausga- Arbeitgeber hängen, obwohl die Steuerbescheide regel- ben der staatlichen Solidargemeinschaft zur Krisenbe- mäßig nur eine Steuerlast von null Euro auswiesen. Wir wältigung stark ansteigen werden. wollen mit dieser Entlastung nicht nur etwas für die sai- sonalen Beschäftigten tun, sondern auch für deren Ar- Statt Steuersenkungen stehen bei der FDP ab sofort beitgeber und für die Finanzverwaltung gleichermaßen. also Steuervereinfachungen auf dem Programm. Wieder einmal ein neoliberaler Kurswechsel – kein Wunder, Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf einen Punkt dass bei diesen permanenten „strategischen Neuausrich- hinweisen, der mir besonders am Herzen liegt. Noch tungen“ – oder soll ich Zick-Zack-Kurs sagen? – auch sind Ergänzungen möglich und aus meiner Sicht auch letzte Spurenelemente politischer Führung verloren ge- notwendig. So brauchen wir eine sinnvolle Gesamtlö- hen, die die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie kleine sung für die Pauschalbesteuerung nach § 37 b EStG. und mittelständische Unternehmen von der Bundesregie- Konkret geht es um die Pauschalierung der Sozialversi- rung in Krisenzeiten erwarten. Aber wahrscheinlich ist cherungsbeiträge bei pauschal besteuerten Entgeltbe- das auch wirklich zu viel verlangt, wenn CDU/CSU und standteilen. Es ist wenig verständlich, dass beispiels- FDP schon größte Mühe damit haben, das eigene ver- weise bei einer Einladung von eigenen Mitarbeitern zu rutschte politische Koordinatensystem andauernd an die kulturellen Veranstaltungen zwar die darauf zu entrich- Realität anzupassen. tende Steuer vom Arbeitgeber pauschaliert abgeführt werden kann, dieser aber dann wieder die Sozialversi- Deshalb verwundert es nicht, dass auch dem vorlie- cherungsbeiträge auf dieses Geschenk individuell be- genden Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb die übergeord- rechnen muss. Ziel einer Pauschalierung ist es nicht, nete politische Richtung, der Wille zur versprochenen keine oder nur geringe Sozialversicherungsbeiträge ab- Steuervereinfachung fehlt. Wäre das Jahressteuergesetz zuführen, sondern Vereinfachungen bei der Berechnung 2010 nicht eine gute Gelegenheit gewesen, die zu Oppo- herbeizuführen. Hier sollten wir nochmals nachbessern. sitionszeiten bis zur totalen Ermüdung Einzelner vorge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5441

(A) tragenen Forderungen nach Steuervereinfachungen nun Gemeinschaftsrecht beschränkt. Die Fachbeamtinnen (C) endlich wenigstens teilweise einzulösen? und -beamten aus dem Bundesfinanzministerium haben in gewohnt gewissenhafter und sachkundiger Art und Ich erinnere mich an die Vorwürfe des Kollegen Weise gearbeitet, sodass wir heute über einen Gesetzent- Volker Wissing, die er bei der abschließenden Lesung wurf mit einer Fülle einzelner Regelungsbereiche spre- des letzten Jahressteuergesetzes 2009 am 28. November chen. Politische Brisanz findet sich nur dort, wo Themen 2008 erhoben hat – ich zitiere –: mit politisch motivierter Klientelpolitik fortgesetzt wer- Sie verweigern Deutschland ein vereinfachtes Steu- den. errecht, mit dem man die Probleme lösen könnte. Die große Bandbreite des Jahressteuergesetzes spie- Aus dem Problem eines zu komplizierten Steuer- gelt sich unter anderem in folgenden Regelungen: rechts machen Sie einfach ein Zeitproblem. … Die Einführung einer Steuerbefreiungsvorschrift für ehren- Menschen in Deutschland fühlen sich nicht wohl, amtliche rechtliche Betreuer, Vormunde und Pfleger; vor allen Dingen nicht angesichts des Steuerrechts, Steuerbarkeit von Transferentschädigungen für den weil Sie die Menschen systematisch abkassieren und Wechsel eines Sportlers von einem nicht im Inland zu ei- weil Sie sie mit einem viel zu komplizierten Steuer- nem im Inland ansässigen Verein, §§ 49, 50 a, 52 EStG; recht drangsalieren und Wirtschaftsunternehmen Aufhebung der zeitlichen Befristung der Regelung zur lähmen. degressiven Abschreibung für Abnutzung, degressive Wahrscheinlich wird sich insbesondere die FDP im AfA; Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspart- Rückblick wirklich darüber ärgern, mit der Ausrichtung nerschaften im Bereich der Erbschaft- und Schenkung- des Jahressteuergesetzes 2010 nicht einen Schritt in steuer und der Grunderwerbsteuer; Anpassungen des Richtung eines „vereinfachten Steuerrechts“ getan zu Umsatzsteuergesetzes an EU-Recht und aktuelle haben. Aber wahrscheinlich war sie einfach noch nicht Entwicklungen, zum Beispiel Bekämpfung des Umsatz- so weit; die letzte Spitzkehre auf dem steuerpolitischen steuerbetrugs bei der Einfuhr, § 5 UStG, und durch Er- Zick-Zack-Kurs liegt ja auch gerade erst kurze Zeit zu- weiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsemp- rück. fängers bei der Umsatzsteuer auf Lieferungen von Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstof- „Einfach“ klingt zunächst einmal nicht schlecht. Wer fen sowie Leistungen von Gebäudereinigern, § 13 b allerdings genauer hinsieht, wird wieder einmal ent- UStG. täuscht; denn die vollmundige Ankündigung einer Steu- ervereinfachung hinterlässt leider keine erkennbaren Bei diesen zahlreichen gesetzlichen Änderungen ent- Spuren im vorliegenden Entwurf des Jahressteuergeset- stehen auch viele Fragen. Ich möchte mich in diesem (B) zes 2010. Aber vielleicht ist das auch besser so, wenn ersten Durchgang des Gesetzes darauf konzentrieren, (D) man sich den Schaden anschaut, den die schwarz-gelbe einige dieser Fragen aufzuwerfen und unsere Überlegun- Lobbypolitik mit ihrem sogenannten Wachstumsbe- gen anzudeuten. Ich hoffe, dass die folgenden Beratun- schleunigungsgesetz – besser Wachstumsverhinderungs- gen des zuständigen Finanzausschusses und die Erläute- gesetz oder Schuldenaufbaugesetz oder Investitionsver- rungen der Fachbeamtinnen und Fachbeamten aus dem hinderungsgesetz oder Einnahmeverzichtsgesetz oder Bundesfinanzministerium zur Klärung dieser Fragen einfach: Mövenpick-Gesetz – angerichtet hat. beitragen können, sodass zumindest am Ende der parla- mentarischen Beratungen ein Gesetz steht, das unser Daher nochmals kurz zur Erinnerung und als Vorge- Steuerrecht ein kleines bisschen einfacher und vielleicht schmack darauf, was wir uns unter „neoliberaler Steu- sogar gerechter macht. ervereinfachung“ vorstellen können: Die FDP, die selbsternannte „Partei des Mittelstandes und der Leis- Zum Regelungsbereich Gleichstellung von eingetra- tungsträger“, hat in ihren langen Jahren der Oppositions- genen Lebenspartnern mit Ehegatten im Erbschaft- und arbeit mit leichter Hand Steuervereinfachungen und Bü- Schenkungsteuerrecht sowie bei der Grunderwerb- rokratieabbau versprochen und führte quasi als erste steuer. Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 2010 sieht Amtshandlung neue, unbefristete und kostspielige Aus- die Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern nahmen ein, die Bürgern, Unternehmen und dem Finanz- mit Ehegatten vor, § 15 Abs. 1 ErbStG-E. Eingetragene amt erheblichen Verwaltungsaufwand auferlegen. Diese Lebenspartner sollen künftig auch in Steuerklasse I auf- neoliberale Klientelpolitik mit ihren Steuergeschenken genommen werden; ehemalige Lebenspartner werden an einen sehr kleinen Kreis von Begünstigten unter dem wie geschiedene Ehegatten in Steuerklasse II erfasst. Die Deckmantel der Konjunktursteuerung wirkt auf mich ge- Gleichstellung bezieht sich auch auf die Freibetragsrege- radezu zynisch, wenn man sich die mittel- und langfris- lung, § 16 Abs. 1 ErbStG-E. Künftig soll auch bei tige Wirkung der Beschlüsse und die Konsequenzen der Grundstücksübertragungen zwischen Lebenspartnern Einnahmeausfälle für Bund, Länder und Gemeinden vor keine Grunderwerbsteuer mehr anfallen, § 3 Nr. 4 Augen führt. GrEStG-E. Man muss deshalb ja fast schon erleichtert sein, wenn Die Arbeitsgruppe Finanzen der SPD-Bundestags- die schwarz-gelbe Bundesregierung beim Jahressteuer- fraktion hatte für die Gleichbehandlung von Ehegatten gesetz 2010 auf substanzielle Steuerung verzichtet. Ich und eingetragenen Lebenspartnern schon bei den Bera- bin daher froh, dass sich der Gesetzentwurf auf die erfor- tungen zur Reform der Erbschaftsteuer geworben. Lei- derlichen gesetzlichen Änderungen und Anpassungen im der war die CDU/CSU damals noch nicht zu einer ent- Steuerrecht an Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und sprechenden sinnvollen Lösung bereit. Das führte zu 5442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) drei Steuerklassen, die nicht logisch definiert sind und Mit der Übertragung von Verwaltungsvermögen auf (C) deren Tarifstufen unerklärliche Sprünge aufweisen – er- extra gegründete Untergesellschaften wurde nun diese klärbar nur durch Klientelpolitik für eine kleine Gruppe Idee unterlaufen, Steuerberater sind erfinderisch. Auf von Erben mit einer Erbschaft zwischen 4 und 6 Millio- diese Weise ließ sich bei der Obergesellschaft totale nen Euro. Die Zeche zahlen nun die Erben in der Steuer- Steuerfreiheit für große Vermögen erreichen, auch wenn klasse II, also zum Beispiel Geschwister, Nichten, Nef- der Anteil des Verwaltungsvermögens deutlich höher fen. Alle für einen – den am Starnberger See. war als ursprünglich geplant. Zum Regelungsbereich Verschonungsvoraussetzun- Ich bin froh, dass dieses „Schlupfloch“ durch das Jah- gen für Betriebsvermögen im Bereich der sogenannten ressteuergesetz geschlossen werden soll. Dass solche Optionsverschonung. Das Jahressteuergesetz 2010 sieht engmaschigen Regelungen immer wieder notwendig auch eine Neuregelung des §13 a Abs. 8 Nr. 3 ErbStG sind, verdanken wir dem fantasievollen Steuervermei- vor. Das in den Jahren 2008/2009 geschaffene Erb- dungsdrang der Bürgerinnen und Bürger, die sich an- schaftsteuerrecht zielte bei der Vererbung von Unterneh- schließend über die Kompliziertheit der Gesetzgebung men darauf, die Arbeitsplätze zu erhalten. Wir haben bei echauffieren. der Reform der Erbschaftsbesteuerung ein zweiteiliges Optionsmodell für die Besteuerung von Betriebsvermö- Zum Regelungsbereich Steuerbarkeit von Transfer- gen eingeführt, das dem Erben eines Betriebs viel Flexi- entschädigungen für den Wechsel eines Sportlers. Jah- bilität bietet und Planungssicherheit bei der Betriebsfort- ressteuergesetze haben sich mit vielen Detailregelungen führung ermöglicht. Zu den Grundvoraussetzungen für für Steuerpraxis und -verwaltung den wenig schmeichel- die Verschonung von Betriebsvermögen, das heißt die haften Ruf eines häufig überaus „trockenen“ Gesetzge- Steuerbefreiung des Erben, gehören, dass der Erbe den bungsverfahrens erworben, dem sich wohl nur über- Betrieb über einen bestimmten Zeitraum hinweg fort- zeugte Steuerrechtler mit Genuss widmen. Um diesen führt und die Arbeitsplätze – gemessen an der Lohn- Eindruck – zumindest andeutungsweise – zu korrigieren, summe – im Wesentlichen erhält. greife ich abschließend die Regelungen zur steuerlichen Behandlung von Transferentschädigungen für den Die Wahlmöglichkeit in der Option 2, „Betriebsfort- Wechsel eines Sportlers auf, etwa eines Fußballspielers. führung 10 Jahre“, sieht eine vollständige Befreiung des Das ist eine fast „brandaktuelle“ Regelung; denn viele Betriebserben von der Erbschaftsteuer vor, der Verscho- Profis nutzen die Fußballweltmeisterschaft als Bühne nungsabschlag beträgt also 100 Prozent. Dafür muss der und wechseln während oder nach dem Turnier ins Aus- Erbe strenge Kriterien erfüllen: Erstens. Der Betrieb land und umgekehrt. Was macht also das Finanzamt, muss zehn Jahre lang weitergeführt werden. Zweitens. wenn ein verdienter Nationalspieler gegen eine Transfer- (B) (D) Die Gesamtlohnsumme nach Ablauf dieser Zehn-Jahres- entschädigung seine Karriere bei einem Verein in der Frist muss in der Summe 1 000 Prozent der Ausgangs- Bundesliga fortsetzen möchte? lohnsumme erreichen. Diese Regelung ermöglicht dem Betriebserben einen flexiblen Ausgleich zwischen Jah- Der Bundesfinanzgerichtshof hat entschieden, dass ren, in denen die Beschäftigung und damit die Lohn- Transferentschädigungen für den Wechsel von einem summe ansteigen, und Jahren, in denen die Lohnsumme ausländischen zu einem inländischen Verein nicht steu- sinkt. Drittens. Der Anteil des Verwaltungsvermögens erbar sind. Diese Rechtsauffassung weicht allerdings darf nicht mehr als 10 Prozent des gesamten Betriebsver- von der Verwaltungspraxis ab, die vor dem Urteil des mögens betragen. Gerichts Anwendung fand. Der Entwurf des Jahressteu- ergesetzes sieht daher vor, zu diesem Status zurückzu- Steuererleichterung und Arbeitsplätze wurden durch kehren und solche Vergütungen an den früheren Verein die Optionsverschonung eng miteinander verkoppelt. im Ausland zu besteuern, § 49 Abs. 1 Nr. 2 g. Unsere Idee war also, das Unternehmensvermögen mit Blick auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Unter- Ich hoffe, dass uns die Beratungen im Finanzaus- nehmensfortführung steuerlich zu entlasten, wenn im schuss Klarheit darüber verschaffen, wie Bundesregie- Zeitpunkt des Betriebsübergangs das Verwaltungsver- rung und Koalitionsfraktionen die widerstreitenden mögen kleiner gleich 10 Prozent des Betriebsvermögens Rechtsauffassungen von Finanzverwaltung und Finanz- beträgt, weil die Verwaltung eines großen Vermögens gerichtsbarkeit auflösen sowie die offene Frage des nur eine kleine Bedeutung für die Arbeitsplätze hat. Rückwirkungsverbots der Regelung beantworten möch- ten. Bei der vorgeschlagenen Neuregelung im Jahressteu- ergesetz geht es um diesen letztgenannten Aspekt, ge- Auf einem Feld allerdings, der Lobbyarbeit für Groß- nauer um die Anwendung dieser 10-Prozent-Grenze unternehmen, beweist die neoliberale Bundesregierung auch bei Beteiligungen an Personengesellschaften und hingegen leider eine ebenso ärgerliche wie bemerkens- Anteilen an Kapitalgesellschaften im Sinne des § 13 b werte Ausdauer. Auch das Jahressteuergesetz 2010 dreht Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 ErbStG. Sicherlich bietet das parla- die Uhren bei der Unternehmensbesteuerung zurück, um mentarische Beratungsverfahren im Finanzausschuss die Großkonzernen erneut Steuergestaltungsmöglichkeiten Gelegenheit, die Einnahmewirkungen dieser Regelung zu erschließen und das Steuersubstrat in Deutschland für die betroffenen Unternehmen und die Länderhaus- auszudünnen. halte zu verdeutlichen und zu bewerten, denen die Ein- nahmen aus der Erbschaftsteuer zustehen. Wir sind auf die Beratungen gespannt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5443

(A) Dr. Daniel Volk (FDP): Das Jahressteuergesetz 2010, Teilbereichen – liegt auf der Hand. Forderungen nach (C) welches wir heute beraten, enthält eine Reihe von Punk- Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus, ten, die für mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland sor- dass dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit gen. Folgende Punkte sind dabei hervorzuheben: stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierun- gen würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und ga- Lebenspartner werden im Erbschaftsteuer- und Schen- rantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das kungsteuergesetz – siehe §§ 15 bis 17, 37 Abs. 4 – und im Ziel der Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das Grunderwerbsteuerrecht – siehe §§ 3, 23 – mit Ehegatten bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse an- gleichgestellt; keine Rückwirkung bei der Beschränkung gepasst werden. Leider geht das nur mit einem so kom- des Vorsteuerabzugs infolge des Seeling-Urteils, § 15 plexen Gesetz; das sollte sich aber ändern. Abs. 1 b UStG-E. Konkretisierungen im Bereich der haus- haltsnahen Dienstleistungen, § 35 a EStG zur Vermei- Gesunde Staatsfinanzen sind das A und O einer verant- dung von Doppelförderung führen zu einem Ausschluss wortungsbewussten Regierungsarbeit. Da dürfte in die- von bestimmten öffentlich geförderten Maßnahmen aus sem Haus zwischen allen Fraktionen Einigkeit bestehen. der Steuerermäßigung; Befreiung von der Pflicht zur Ab- Aber jede Partei in diesem Haus sollte sich auch selbst- gabe einer Einkommensteuererklärung (§ 46 EStG) für un- kritisch fragen, ob unter ihrer Regierungsverantwortung beschränkt und beschränkt steuerpflichtige Arbeitnehmer – sei es im Bund, sei es in den Ländern oder sei es in den bei Arbeitslöhnen unterhalb der Steuerbelastungsgrenze, Kommunen – das auch in der Praxis eingehalten wird. zum Beispiel für Saisonarbeiter, schon für 2009. Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und Dies ist ein deutlicher Beitrag zur Vereinfachung des nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die Fa- Steuerrechts, gerade für Geringverdiener und wird die milien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet. Finanzämter entlasten, damit diese sich auf andere Auf- Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden Gesund- gaben konzentrieren können. heit wieder bezahlbar machen. Wir stehen für Investitio- nen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen für Es wird im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens da- alle Menschen in diesem Land verbessern; denn dies be- rüber nachzudenken sein, kreditwirtschaftliche Vorleis- deutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und tungsprodukte, die innerhalb von Verbundstrukturen damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land. erbracht werden, von der Umsatzsteuerpflicht auszuneh- men. Der notwendige Strukturwandel in der deutschen Kreditwirtschaft hin zu effizienteren und leistungsfähi- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Üblicherweise wird geren Prozessen darf nicht an umsatzsteuerlichen Hür- das Jahressteuergesetz im Vorjahr, bevor es in Kraft tritt, den scheitern. Für die dezentral organisierte Kreditwirt- verabschiedet. Dieses hier wird frühestens im Septem- (B) schaft bedeutet eine solche Anpassung die Schaffung ber 2010 verabschiedet werden können. Das ist Kon- (D) vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen im Vergleich zeptionslosigkeit und höchstproblematisch, da Änderun- zu Großbanken. Letztlich profitieren die Verbraucher gen teilweise rückwirkend sind und zu erhöhter vom Wegfall der faktischen Schattenmehrwertsteuer. Rechtsunsicherheit führen. Die Leidtragenden Ihrer Politik sind dann wieder einmal die Bürgerinnen und Ein Punkt liegt mir bei dieser Debatte noch am Herzen. Bürger. Es sollte doch möglich sein, im Rahmen des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zum Jahressteuergesetz 2010 Das Gesetz beinhaltet eine Vielzahl kleinerer Ände- eine Umformulierung des § 17 Satz 2 Nr. 2 KStG mit rungen im Steuerrecht; es ist sozusagen ein Feinschliff Wirkung für alle verfahrensrechtlich noch offenen Fälle des Steuerrechts mit geringen finanziellen Auswirkun- vorzunehmen, die auf die tatsächliche Durchführung von gen. Da wird mal hier, mal da etwas herumgedoktert. Gewinnabführungen und Verlustübernahmen bzw. auf Aber grundlegende Änderungen – Fehlanzeige. Dabei das tatsächliche Bestehen solcher Verpflichtungen und wären diese jetzt dringend vonnöten, um auch endlich nicht auf das Vorliegen ohnehin deklaratorischer formel- hohe Einkommen und Vermögen zur Finanzierung he- ler Vereinbarungen abstellt. Diese klarstellende Gesetzes- ranzuziehen. Selbst in Ihren Reihen werden Stimmen änderung würde zur Rechts- und Planungssicherheit für laut, die zum Beispiel den Spitzensteuersatz erhöhen die Unternehmen in Deutschland beitragen und das Ver- wollen. Und auch von Vermögenden hört man, dass sie trauen in die Steuergerechtigkeit nachhaltig stärken. Dies mehr zur Finanzierung beitragen würden. Nur die Bun- mit dem Verweis auf den Koalitionsvertrag und die ohne- desregierung denkt nicht daran. Statt die Chance zu er- hin geplante Neuregelung der Gruppenbesteuerung, in greifen, zum Beispiel die Abgeltungsteuer abzuschaffen die Zukunft aufzuschieben, stellt dabei nicht die beste Lö- und damit Kapitaleinkommen wieder nach der wirt- sung dar. schaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern, doktern Sie wieder nur an dieser Regelung herum. Die Unge- Die Masse an Änderungen zeigt aber eines deutlich: rechtigkeit bleibt erhalten, denn Kapitaleinkommen wer- Unser Steuerrecht ist zu kompliziert. Da haben wir drin- den immer noch bevorzugt behandelt, weil sehr hohe genden Handlungsbedarf. Es kann nicht sein, dass wir Kapitaleinkommen im Vergleich zu Arbeitseinkommen jedes Jahr ein so umfangreiches Gesetzespaket auf den geringer besteuert werden. Weg bringen müssen, um Fehler und Unklarheiten zu be- seitigen. Das Gesetz zeigt, dass das Steuerrecht sehr Die Folge des Herumdokterns: Es wird noch kompli- komplex ist und damit der Lebenswirklichkeit einer ent- zierter statt einfacher. Sage und schreibe 105 Seiten Leit- wickelten Industrienation entspricht. Dass nur noch Ex- linien hat das Bundesfinanzministerium veröffentlicht, perten den Durchblick haben – und das auch nur noch in um den Umgang mit der Abgeltungsteuer zu erleichtern. 5444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Steuervereinfachung ist das nicht. Daher fordern wir: ohne Inhalt ein? In dieser Eile ohne abschließende Bera- (C) Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab und sorgen sie da- tung im Bundesrat und obwohl doch noch große Geset- für, dass Kapitaleinkommen endlich wieder zum persön- zesvorhaben geplant sind? Diese Hektik ist nicht nach- lichen Einkommensteuersatz versteuert werden. vollziehbar und lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Es wird wohl doch nicht trotz anderer Ankündigungen zu Positiv in diesem Jahressteuergesetzentwurf möchten weiteren Gesetzesvorhaben kommen. Die Buchungen in wir hervorheben, dass eine Angleichung der eingetrage- Ihrem Sparhaushalt sind heute schon, was die Einnah- nen Lebenspartnerschaft an die Ehe geplant ist. Das ist meseite angeht, Luftbuchungen. aber nur ein Minischritt; denn die Gleichstellung im Be- reich der Einkommensteuer fehlt weiterhin. Also ma- Obwohl Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung chen wir es uns einfacher. Öffnen wir die Ehe. Damit laut Ihrer eigenen Aussage zentrale Politikfelder für die wären unzählige Veränderungen von Gesetzen sowie Bundesregierung sind, kommen Sie selbst hier nicht vo- Verordnungen auf Bundes- und Landesebene nicht mehr ran, sondern schaffen mit diesem Gesetz im Gegenteil nötig. noch mehr bürokratische Hürden. Statt verstärkte An- strengungen zu unternehmen, um die elektronische Ebenfalls finden wir es gut, dass Lebensversicherun- Steuer-ID zum Laufen zu bringen, perpetuieren Sie mit gen krisenfester werden sollen. Allerdings kritisieren wir zahlreichen Fristverlängerungen in diesem Gesetz diesen den Weg, wie Sie das bewerkstelligen wollen. Durch die nervigen Doppelzustand mit mehr Bürokratie. Das zeigt: geplante Fristverlängerung von drei auf fünf Jahre, in Gar nix ist mit einfach, niedrig und gerecht. Weder bei denen die Rückstellungen steuerfrei sind, verringert sich der rechtlichen Ausgestaltung Ihrer Vorschläge für ein der Anreiz für Versicherer, die Risikogewinne zeitnah besseres Steuersystem noch beim praktischen Vollzug auszuzahlen. Damit geht die Regelung, wie sie geplant der Steuergesetzgebung haben Sie bisher punkten kön- ist, zulasten der Versicherten. Statt die Eigentümer und nen. Von einer Koalition, deren zentrales Themenfeld Aktionäre heranzuziehen, zum Beispiel über ein Divi- Bürokratieabbau und Steuervereinfachung ist, hätte ich dendenausschüttungsverbot, wählen Sie den einfachen wirklich mehr erwartet. Weg, indem sie die Versicherten belasten. Auch weitere Versprechen aus dem Koalitionsvertrag Ich möchte zum Schluss noch den Punkt Nichtanwen- halten Sie nicht ein. Zwar bewegen Sie sich ein wenig in dungserlasse durch das Bundesministerium der Finanzen Sachen Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner- ansprechen. Was heißt das? Jemand fühlt sich steuerlich schaft im Erbschaft- und Grunderwerbsteuerrecht. Aber ungerecht behandelt und klagt deswegen – und bekommt in der Einkommensteuer tun Sie weiterhin so, als ob ein- Recht. Nun folgt ein Nichtanwendungserlass des BMF, getragene Lebenspartner Fremde wären. Dabei hat das welcher dazu führt, dass von diesem zumeist steuerzah- Bundesverfassungsgericht bereits vor einem Jahr klarge- (B) (D) lerfreundlichen Urteil nur der oder die Klagende profi- stellt, dass wegen des Gleichheitsgrundsatzes des tiert. Für alle anderen Steuerzahler gilt das Urteil nicht. Grundgesetzes eine vollständige Gleichstellung der ein- Das ist doch eine Frechheit. Wenn ein gültiges Urteil getragenen Lebenspartnerschaft geboten ist. Wir hatten vorliegt, müsste es doch auch für alle anderen gelten. bereits im November des vergangenen Jahres Anpassun- Das Ignorieren der BFH-Urteile stellt auch die Frage gen für eine echte Gleichstellung im Erbschaftsteuer- nach der Respektierung der Gewaltenteilung. Besser wä- recht beantragt – Sie von Schwarz-Gelb haben dies ren gleich vernünftige Gesetzesänderungen, welche Sie damals abgelehnt. Wir geben Ihnen eine zweite Chance. hiermit ja zum Teil vornehmen wollen. Wir werden nun einen umfassenden Gesetzentwurf vor- legen, der alle Bereiche des Steuerrechts berücksichtigt. Das waren nur ein paar Kritikpunkte. Kurzum: Über- Ergreifen Sie diese Chance, stimmen Sie zu. arbeiten Sie das Jahressteuergesetz noch mal. Zeit dafür ist ja in den nächsten Wochen vorhanden. Spannend finde ich, dass endlich auch in Ihren Reihen eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht mehr tabu ist. Zumindest bei einigen scheint es angekommen zu Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fast kein sein, dass ein Sparpaket, das zum Beispiel das Elterngeld Tag verging in den vergangenen acht Monaten ohne ei- für Hartz-IV-Empfangende streicht, es der nicht arbei- nen steuerpolitischen Furz aus den Reihen der Regie- tenden Millionärsgattin aber lässt, eben nicht fair und rungskoalition. Etwas konkreter wurde es in Ihrem Spar- gerecht ist, wie es Herr Westerwelle formulierte, sondern paket. Da kündigten Sie steuerpolitische Änderungen eine Unverschämtheit. Damit die Lastenverteilung auch wie die Einführung einer Brennelementesteuer, einer wirklich gerechter wird und die Erhöhungsdebatte nicht Finanzmarktsteuer und einer Flugticket-Tax an. Heute zu einer Placebodebatte verkommt, reicht es aber nicht nun sollen wir das Jahressteuergesetz 2010 beraten. aus, den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Wenn wir den Aber nichts von alldem findet sich auf den 182 Seiten Spitzensteuersatz erhöhen, belasten wir zwar die stärker, dieses Gesetzes. Schlimmer noch: Inzwischen gibt es zu die mit ihrer Arbeit viel verdienen. Wer aber wirklich diesem inhaltlich auf 180 von 182 Seiten nichtssagen- reich ist, lässt sein Geld für sich arbeiten. Dieses Geld den, aber handwerklich miserablen Gesetz bereits Emp- wird aber gar nicht mit dem Spitzensteuersatz versteuert, fehlungen der Bundesratsausschüsse, die sich auf 100 Sei- sondern lediglich mit 25 Prozent. Wenn Herr Ackermann ten erstrecken. So ein Missverhältnis zwischen Inhalt also knapp 10 Millionen Euro im Jahr verdient und da- und Form habe ich noch nicht erlebt. Das Ganze kann von genug auf die hohe Kante legt, zahlt er nur in diesem man mit Fug und Recht als Bürokratiemonster bezeich- Jahr den Spitzensteuersatz. Für die Zinserträge der kom- nen. Warum bringen Sie dieses Jahressteuergesetz fast menden Jahre werden nur die 25 Prozent fällig, egal wie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5445

(A) hoch die Zinserträge sind. Das müssen Sie ändern, und Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C) damit würden Sie nebenbei über 1,2 Milliarden Euro desminister der Finanzen: Das Jahressteuergesetz 2010 Steuermehreinnahmen verbuchen. ist wie üblich ein überwiegend „technisches“ Gesetz. Im Verlauf des Jahres 2009 hat sich in vielen Bereichen des Die Zeit dafür ist überfällig. Auch wenn Sie es noch deutschen Steuerrechts ein fachlich notwendiger Ände- nicht begriffen haben: In der Wirtschaft hat inzwischen rungsbedarf ergeben, der nun in über 200 Einzelmaßnah- ein Umdenken eingesetzt. Das Angebot sollten Sie an- men umgesetzt wird. nehmen. Neben den überwiegend technischen Änderungen Ich möchte Ihnen dazu eine Umfrage des Manager- enthält das Gesetz aber einige Maßnahmen, die steuer- magazins nahelegen, wonach 54 Prozent der Führungs- politisch wichtig sind. Im Bereich der Einkommensteuer kräfte in der deutschen Wirtschaft am ehesten bei den handelt es sich insbesondere um folgende Regelungen: Reichen mehr Steuern erheben würden. Gerhard So wird die Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuer- Cromme, der Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssen- erklärung für sogenannte Saisonarbeitskräfte, also im Krupp und Siemens, spricht sich dafür aus; Uwe Hück wesentlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei von Porsche und Trigema-Chef Wolfgang Grupp sind Arbeitslöhnen unterhalb der Steuerbelastungsgrenze, dabei, um nur ein paar Namen zu nennen. Sie haben die aufgehoben. Betroffenen an Ihrer Seite. Also zögern Sie nicht, son- dern legen Sie endlich los. Statt Hartz-IV-Empfängern Danach soll in den Fällen, in denen der Jahresarbeits- das Elterngeld wegzunehmen, würden Sie damit einen lohn unterhalb der Steuerbelastungsgrenze liegt, keine Beitrag von dem Teil der Gesellschaft verlangen, der es Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung sich durchaus leisten kann, mehr zu schultern. Ich zitiere mehr bestehen, obwohl ein Freibetrag zum Beispiel für hierzu den Chef von Liqui-Moly, Ernst Probst: „Mir ist erhöhte Werbungskosten auf der Lohnsteuerkarte bzw. es ein Rätsel, warum die Politik Leute vor einer höheren Lohnsteuerbescheinigung eingetragen wurde. Die Rege- Belastung verschonen will, die gar nicht verschont wer- lung soll für unbeschränkt und beschränkt Steuerpflich- den wollen.“ Ich fordere Sie auf: Lösen Sie dieses Rät- tige bereits ab dem Kalenderjahr 2009 gelten. sel, hören Sie auf mit sozialem Kahlschlag und schaffen Die Jahresarbeitslohngrenze wurde anhand der einem Sie mehr Steuergerechtigkeit. Arbeitnehmer zustehenden gesetzlichen Freibeträge er- Auch der Bundesrat hat Ihnen bereits Nachhilfe er- mittelt. Da bei Arbeitslöhnen innerhalb dieser Grenze teilt. Ich nenne nur ein Beispiel: Nächste Woche beraten grundsätzlich keine Einkommensteuerschuld entsteht, wir in einer Anhörung des Finanzausschusses Vor- wird diese Regelung das Besteuerungsverfahren für alle schläge zur Änderung der strafbefreienden Selbstan- betroffenen Personen vereinfachen. Zum einen werden (B) zeige. Wir Grüne haben hier klare Forderungen gestellt – die Steuerpflichtigen in diesen niedrigen Einkommens- (D) von der dringend erforderlichen Verbesserung der perso- bereichen von der Abgabe einer Steuererklärung befreit. nellen Ausstattung der Finanzbehörden über die Einfüh- Zum anderen werden die Finanzämter von dem Arbeits- rung einer Bundessteuerverwaltung, die Bildung von so- aufwand und den Verwaltungskosten entlastet, die durch genannte Large Taxpayers Units für Wohlhabende und den Erlass eines Steuerbescheids entstehen, in dem keine Großunternehmen bis hin zu der eigentlichen Selbstver- Steuer festzusetzen ist. Das vorgesehene Verfahren ist ständlichkeit, dass endlich gelten muss, dass Wiederho- insoweit bürgerfreundlich und bürokratieabbauend. lungstäter nicht straffrei bleiben sollten und jemand, der Des Weiteren wird bei der Steuerbarkeit der Transferent- jahrelang systematisch Steuern hinterzieht und das ir- schädigungen im Profisport im Rahmen der beschränkten gendwann dem Finanzamt offenbart, nicht besser daste- Steuerpflicht der in der Vergangenheit praktizierte hen darf als einer, der einfach nur zu spät zahlt. Die Rechtszustand wiederhergestellt. Damit unterliegen Ver- schwarz-gelben Vorstellungen dazu sind vage und un- gütungen für Sportlertransfers von ausländischen Verei- konkret – der Umsetzungszeitpunkt unklar. Der Bundes- nen ins Inland nunmehr ab 2011 wieder der Besteuerung rat dagegen hat schon jetzt ausformuliert, wie wir eine nach dem Einkommensteuergesetz. Eine rückwirkende Verschärfung der Selbstanzeige im Jahressteuergesetz Regelung ist nicht vorgesehen. Damit wird auch ein An- vornehmen können. Das zeigt: Ein Jahressteuergesetz liegen des Koalitionsvertrages umgesetzt, gesetzgeberi- muss keine langweilige Auflistung redaktioneller Kor- sche Maßnahmen mit Rückwirkung grundsätzlich zu ver- rekturen sein. meiden. Die Steuerpolitik ist der Zankapfel von Schwarz- Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Aufhebung Gelb. Mal sollen die Steuern runter, dann soll nichts pas- der Befristung für die Übertragung stiller Reserven bei sieren, dann sollen sie rauf. Die Uneinigkeit in diesem der Veräußerung von Binnenschiffen. Nach bisheriger zentralen Politikfeld untergräbt die Handlungsfähigkeit Rechtslage können stille Reserven bei der Veräußerung der gesamten Bundesregierung. Nur so kann ich mir er- von Binnenschiffen lediglich bis einschließlich 2010 klären, dass auch in diesem 100 Seiten langen Jahres- übertragen werden. Diese Befristung wird aufgehoben; steuergesetz im Grunde überhaupt nichts drinsteht. Aber denn auch an der Investitionsförderung nach dem Ein- das muss nicht so bleiben. Ich erwarte von Ihnen, dass kommensteuergesetz wird weiter festgehalten. Mit der Sie in den kommenden Beratungen substanzielle Vor- Weitergeltung dieses steuerlichen Anreizes zur – drin- schläge auf den Tisch legen, die über die Anregungen gend erforderlichen – Verjüngung der deutschen Binnen- aus dem Nachhilfeunterricht des Bundesrates in Sachen schifffahrtsflotte soll deren Konkurrenzfähigkeit im euro- Gesetzeschreiben hinausgehen. päischen Vergleich gewährleistet werden. Damit setzen 5446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) wir einen weiteren Punkt unserer Koalitionsvereinbarung klang mit dem Ziel der Haushaltskonsolidierung und der (C) um. gesamtstaatlich zu tragenden Finanzierungsverantwor- tung. Ebenfalls hervorzuheben ist die enthaltene Regelung zur Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte. Durch eine Ergänzung im Einkommensteuergesetz soll gesetz- Anlage 66 lich klargestellt werden, dass private Veräußerungsge- schäfte mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zum Zu Protokoll gegebene Reden Beispiel Gebrauchtfahrzeuge, innerhalb der Haltefrist zur Beratung der Beschlussempfehlung und des von einem Jahr nicht steuerbar sind. Berichts zu den Anträgen: Im Bereich der elektronischen Lohnsteuerabzugs- – Brücken bauen – Grundlagenforschung durch merkmale sollen Aktualisierungen und Anpassungen er- Validierungsförderung der Wirtschaft nahe- folgen, da die ursprünglich vorgesehene Einführung der bringen elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM, im Kalenderjahr 2011 noch nicht erfolgen kann. – Innovationslücke schließen – Zügig ein trag- fähiges Konzept zur Stärkung der Innova- Daher sind Übergangsregelungen erforderlich, die es tions- und Validierungsforschung vorlegen erlauben, dass der Lohnsteuerabzug in der Übergangszeit ohne neue Lohnsteuerkarte erfolgen kann. Gleichzeitig (Tagesordnungspunkt 12) werden die Rechte des Arbeitnehmers hinsichtlich seiner Datenhoheit gestärkt; denn der Arbeitnehmer kann in Zu- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Arbeitgeber- und Un- kunft durch Mitteilung gegenüber dem Finanzamt be- ternehmensverbände stellen gern Forderungen an die stimmen, wer Zugriff auf seine ELStAM-Daten hat. Politik – auch im Bereich von Wissenschaft und For- Auch im Bereich der Umsatzsteuer sind steuerpoli- schung. Die Forschungsprämie Eins etwa geht auf eine tisch wichtige Regelungen hervorzuheben: Anregung aus diesen Kreisen zurück und kann aufgrund ihrer geringen Akzeptanz als gescheitert gelten. Eine Zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs wird die weitere Forderung von BDI und BDA ist die derzeit dis- Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bei der kutierte steuerliche Förderung von privaten Forschungs- Umsatzsteuer auf Lieferungen von Industrieschrott, Alt- und Entwicklungsaufwendungen. Auch die hier verhan- metallen und sonstigen Abfallstoffen sowie auf Leistun- delte Validierungsförderung wurde von der Industrie ins gen von Gebäudereinigern, § 13 b UStG, erweitert. Gespräch gebracht. Sie wird allerdings ebenso von Wis- Durch die Rechtsänderungen sollen Umsatzsteueraus- senschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa der Max- (B) (D) fälle auch durch betrügerische Geschäfte verhindert wer- Planck-Gesellschaft unterstützt. Was also ist anders an den. dieser Art der Innovationsförderung? Des Weiteren führen wir zur Vermeidung erheblicher Mit diesem Instrument soll die sogenannte Validie- finanzieller Belastungen für den Kultursektor eine Ver- rungslücke geschlossen werden. Sie entsteht, weil die jährungsregelung für die Ausstellung der für die Umsatz- Wissenschaft auf der einen und die private Wirtschaft steuerbefreiung privater Kulturunternehmer erforderli- auf der anderen Seite unterschiedlich vorgehen. Wäh- chen Bescheinigung ein. Künftig beträgt die Frist für die rend die Grundlagenforschung neues Wissen erarbeitet, Erteilung oder Änderung derartiger Bescheinigungen ohne sich durch einen bestimmten Zweck einengen zu grundsätzlich nur noch vier Jahre. Damit wird die erfor- lassen, erwarten private Unternehmen einen möglichst derliche Rechtssicherheit für die Kulturveranstalter ge- hohen Gewinn, erzielbar etwa durch technologische schaffen, die künftig nicht mehr befürchten muss, durch Alleinstellungsmerkmale auf dem Markt. Ergebnisse nachträgliche Bescheidung rückwirkend die Vorsteuerab- aus der Forschung sind daher für Unternehmen nur dann zugsberechtigung zu verlieren. interessant, wenn sie bei ihrer Umsetzung möglichst we- nig riskieren und einen schnellen Return on Investment Ebenfalls hervorzuheben ist, dass im Erbschaft- und erzielen können. im Grunderwerbsteuerrecht Lebenspartner künftig mit Ehegatten steuerlich gleichgestellt werden. Im Erb- Von vielen Akteuren aus Wissenschaft und Wirtschaft schaftsteuerrecht gilt nunmehr für sie: gleiche Steuer- ist die Einschätzung zu hören, dass in den Universitäten klasse und gleicher Steuersatz wie bei Ehegatten. Auch und Forschungsinstituten ein großes Potenzial an Erfin- diese Maßnahme setzt ein Ziel des Koalitionsvertrages dungen und Innovationen brachliege. Dieses Potenzial um. für kommerzielle Nutzung müsse gesichtet und so um betriebswirtschaftliche Informationen angereichert wer- Fazit: Nach dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den, dass es für Investoren attraktiv wird. Diese Aufbe- bringt die Bundesregierung mit dem heute beratenen Ge- reitung soll die Validierungsforschung übernehmen und setzesvorhaben ein weiteres großes Steuergesetz auf den damit eine Scharnierfunktion zwischen dem wissen- Weg. Auch mit diesem Vorhaben werden steuerpolitisch schaftlichen und dem privatwirtschaftlichen Interesse er- wichtige Vorhaben umgesetzt. Daneben wird mit den füllen. vorgenommenen Rechtsänderungen ein möglichst rei- bungsloses Funktionieren des Besteuerungsverfahrens Die Koalition verfolgt in ihrem Antrag nun die Ab- gewährleistet. Das JStG 2010 dient damit auch der Si- sicht, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern cherung des Steueraufkommens und steht daher im Ein- selbst das Geld für die Weiterentwicklung ihrer For- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5447

(A) schungsergebnisse in die Hand zu geben. Dann soll ih- Grundlagenforschung für den Transfer in Richtung An- (C) nen noch ein Innovationsmentor an die Seite gestellt wendung und Innovation. Die Zielsetzung ist richtig und werden, der kraft seiner Erfahrung diese Weiterentwick- die Entwicklung eines entsprechenden Förderkonzepts lung in die richtige Richtung lenkt. Dieses Konzept er- überfällig. Mehrfach haben Innovationsexperten in den kennt jedoch gerade nicht die von mir benannten unter- letzten Jahren bei der Validierungsforschung politischen schiedlichen Vorgehensweisen in Wissenschaft und in Handlungsbedarf identifiziert. Zuletzt mahnte 2009 die Wirtschaft an. Eine Validierung von Forschungsergeb- Expertenkommission für Forschung und Innovation ein- nissen scheitert in der Regel nicht an finanziellen Res- dringlich die Schließung dieser Förderlücke an. Im Bun- sourcen. Vielmehr verfügen Wissenschaftler und Wis- deshaushalt sind schon seit zweieinhalb Jahren entspre- senschaftlerinnen oft nicht über das notwendige chende Mittel veranschlagt. Aber was immer gefehlt hat, betriebswirtschaftliche Know-how und die Kenntnis des war ein Konzept für diesen Forschungsansatz. Marktes. Das gehört nicht zu ihrem Berufsbild und steht häufig im Widerspruch dazu. Daher fehlt es oft auch Wer nun gehofft hat, was lange währt, wird endlich schlicht am Eigeninteresse. Gebraucht wird also eine gut, sieht sich allerdings enttäuscht. Das, was CDU/CSU echte Scharnierfunktion zwischen Forschung und Markt. und FDP vorgelegt haben, schrammt zielgenau am ei- Die Verlängerung der Forschung bis in den Markt ist gentlichen Sinn der Validierungsforschung vorbei. Eine nicht erfolgversprechend, wie die Forschungsprämie Förderlücke besteht vor allem bei der Validierung von Eins bereits signalisiert hat. Daher unterstützt meine High-Risk-Projekten, also bei Ergebnissen aus der Fraktion das Konzept der SPD, das eine externe Agen- Grundlagenforschung, bei denen das Transfer- und Ver- tur, besetzt mit wirtschaftserfahrenen Profis, vorsieht. marktungspotenzial tatsächlich unklar ist, die Erfolgs- Diese sollen für die Wirtschaft interessante Forschungs- chancen ungewiss sind und die eigene Bewertung durch ergebnisse aufbereiten. Wichtig ist dabei, dass jedoch die Grundlagenforscher selbst kaum zu leisten ist. Für das Recht an Erfindungen nicht in deren Besitz überge- die nötige Validierungsprüfung haben die Grundlagen- hen soll. forscherinnen und -forscher in den Hochschulen und öf- fentlichen Forschungseinrichtungen weder die Mittel Ich möchte jedoch auch zum sozialdemokratischen noch das Wissen über Märkte und Marktchancen. Weil Konzept kritische Hinweise geben: Solch einen Flop wie der Ausgang der Bewertung aber so ungewiss ist, kön- die Forschungsprämie können wir uns nicht noch einmal nen und wollen auch private Kapitalgeber und Unterneh- leisten. Wir haben keine Sicherheit, dass ein neues För- men nicht oder noch nicht einspringen. Im Endeffekt derprogramm die sogenannte Validierungslücke tatsäch- bleiben gerade die Chancen und Möglichkeiten aus sol- lich schließt. Probieren wir die Validierungsförderung chen High-Risk-Projekten sehr oft ungenutzt, auch wenn also erst einmal auf einem begrenzten Technologiefeld sie den Weg für vielversprechende Innovationssprünge (B) aus – zum Beispiel im Bereich der Biotechnologie, wo öffnen könnten. Genau diese vielversprechenden, hoch- (D) das Programm GO-Bio bereits Gründungen unterstützt –, gradig ungewissen Projekte wird die neue Fördermaß- und werten wir nach einer Einführungsphase umfassend nahme des BMBF kaum erreichen. die Erfahrungen mit dem neuen Instrument aus, bevor wir über dessen weitere Ausdehnung entscheiden. Das schwerfällige Antragsverfahren, die Suche nach einem Innovationsmentor, der ehrenamtlich tätig sein Und der zweite Hinweis: natürlich haben auch wir soll, und die Durchführung der Prüfung werden echte Linke ein Interesse daran, dass die Ergebnisse aus der Grundlagenforscher eher abschrecken. Ihr VIP-Pro- Wissenschaft bei den Menschen ankommen – man gramm könnte seinen eigentlichen Sinn genauso leicht denke nur an Impfstoffe oder neue medizintechnische verfehlen wie zuvor schon die Forschungsprämie des Verfahren. Wissenstransfer ist gut und sinnvoll. Jedoch BMBF. Statt der raschen und effizienten Validierungs- darf es nicht sein, dass die Unternehmen ihre Gewinn- prüfung, damit potenzielle Kapitalgeber ihre Investitions- erwartung auf Kosten des Steuerzahlers abschätzen las- entscheidung treffen können, steht bei ihrem Konzept sen – durch die öffentlich geförderte externe Agentur – die möglichst umfangreiche Weiterentwicklung der In- und anschließend nur noch diese Gewinne einstreichen. vention im Fokus. Im günstigsten Fall nehmen die Wir erkennen an, dass die einzelnen Unternehmen vor Grundlagenforscher aus den öffentlichen Forschungsein- einem zu großen Risiko bei der Umsetzung neuen Wis- richtungen und Hochschulen den Aufwand auf sich, weil sens zurückschrecken. In der Gesamtheit muss die In- sie sowieso mit der Marktgängigkeit und technischen dustrie jedoch an den Kosten für die Validierungsförde- Machbarkeit rechnen. VIP wäre dann nichts anderes als rung beteiligt werden – zum Beispiel über eine ein weiteres Innovationsförderprogramm, wie es sie für öffentlich-private Finanzierung des einzurichtenden Start-ups, Ausgründungen und den Anwendungstransfer Fonds. Der Hightechgründerfonds hat gezeigt, dass ein bereits gibt. Diese Gefahr ist dem BMBF durchaus be- solches Konzept funktionieren kann. Wirtschaft und Ar- wusst. Sonst würden Sie nicht darauf hinweisen, dass die beitgeber sollten auf diese Weise zeigen, dass mit der Antragsteller doch zuerst prüfen sollen, ob es nicht Forderung an die Gesellschaft auch die Übernahme von schon andere, europäische, nationale oder bundesländer- Verantwortung verbunden ist. spezifische Förderprogramme gibt. Die neue Maßnahme fördert also nicht vorrangig echte Validierungsfor- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die schung, sondern bestenfalls die Weiterentwicklung be- Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Validie- reits vorvalidierter Vorhaben. Statt Brücken zu bauen rungsforschung vorgelegt, zur verbesserten Bewertung – wie der Antrag der Koalitionsfraktionen irreführender- des Potenzials von Ergebnissen aus der öffentlichen weise heißt –, finanziert die Regierung die Weiterfahrt 5448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) auf bereits durch normale Transferprogramme gut be- tragstellern darin im Wesentlichen um die Bedürfnisse (C) gleiteten Wegen. und Interessen der potenziellen „Eltern“ geht. Es wird von Diskriminierung Homosexueller und bestimmter Wir lehnen daher den Antrag der Koalitionsfraktionen Lebensformen gesprochen und Gleichberechtigung durch ab. Ihr Konzept geht am Problem vorbei. Der Antrag der den Gesetzgeber eingefordert. Und wo bleiben die Kin- SPD-Fraktion erscheint uns besser geeignet, die Validie- der? Wo bleibt das Kindeswohl? rung hoch ungewisser Ergebnisse aus der Grundlagen- forschung zu fördern. Wir befürworten daher, das Kon- Ganz offensichtlich sind die Rechte und Interessen zept der SPD auszuprobieren. der Kinder in dieser ganzen Diskussion allenfalls zweit- rangig. Das ist höchst problematisch; denn es sind die Kinder, die durch eine Adoption am stärksten betroffen Anlage 67 sind. Mir scheint es, dass sich diejenigen, die sich zu die- sem Thema äußern, der Tragweite einer Adoption gar Zu Protokoll gegebene Reden nicht bewusst sind. zur Beratung: Eine Adoption ist der wohl einschneidendste Rechts- – Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des akt, den unsere Rechtsordnung kennt. Dieser Umstand Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer erfordert von uns eine besondere Sensibilität, Vorsicht Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts und Zurückhaltung. Das vermisse ich hier leider. Ihnen geht es offensichtlich immer nur um die Bedürfnisse und – Antrag: Die revidierte Fassung des Europäi- Lebensverwirklichung der betroffenen Erwachsenen. schen Übereinkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnen Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal in Er- (Tagesordnungspunkt 14 a und b) innerung rufen: Bei Fragen der Adoption geht es um die Kinder. Die Diskussion, die wir führen, darf sich daher nicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Erwachse- Ute Granold (CDU/CSU): Nachdem wir uns bereits nen reduzieren. Einziger Maßstab für uns als Gesetzge- in der vergangenen Sitzungswoche mit verschiedenen ber muss vielmehr das Kindeswohl sein. Dies betrifft Aspekten der Gleichstellung von Ehe und eingetragener übrigens nicht nur das Recht eingetragener Lebenspart- Lebenspartnerschaft befasst haben, beraten wir heute nerschaften, sondern alle Bereiche des Familienrechts. speziell über das Adoptionsrecht eingetragener Lebens- Ich hatte bereits die Reform des Unterhaltsrechts in der partnerschaften. Hierzu liegt ein Gesetzentwurf der Grü- vergangenen Legislaturperiode oder die jetzt anstehende nen vor. Auch zu der Frage der gemeinsamen Adoption gesetzliche Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts (B) habe ich mich schon in der vergangenen Debatte geäu- nichtverheirateter Eltern erwähnt. Ich würde mich (D) ßert. Deshalb will ich mich an dieser Stelle nicht im Ein- freuen, wenn Sie – liebe Kolleginnen und Kollegen von zelnen wiederholen. Erlauben Sie mir dennoch eine An- der Opposition, aber auch der FDP – das einmal aner- merkung: kennen würden. Ich habe die rechtlichen Verbesserungen für eingetra- Die entscheidende Frage lautet also: Dient eine ge- gene Lebenspartnerschaften der vergangenen zehn Jahre setzliche Regelung, die den Weg für eine gemeinsame nicht als Verdienst der Union reklamiert. Mir war es le- Adoption durch eingetragene Lebenspartnerschaften ge- diglich wichtig festzustellen, dass die in diesem Bereich nerell ermöglicht, dem Kindeswohl oder nicht? Ich vorgenommenen zahlreichen Veränderungen auch ein- meine, nein. mal zur Kenntnis genommen und von den Betroffenen entsprechend gewürdigt werden. Es entspricht unserer festen Überzeugung, dass Kin- der für eine gedeihliche Entwicklung Vater und Mutter Unsere Ablehnung des Volladoptionsrechts ist keines- brauchen. Keineswegs möchte ich damit in Abrede stel- wegs Ausdruck eines nicht mehr zeitgemäßen Gesell- len, dass sich nicht auch Homosexuelle rührend, aufop- schaftsbildes. Wir nehmen gesellschaftliche Veränderun- ferungsvoll und voller Liebe um Kinder kümmern wol- gen sehr wohl zur Kenntnis und reagieren hierauf auch len und können. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, im erforderlichen Maß. Dies geschah zuletzt zum Bei- dass die unterschiedliche Geschlechtlichkeit der elterli- spiel bei der Reform des Unterhaltsrechts, und das wer- chen Bezugspersonen für die Persönlichkeitsentwick- den wir auch bei der jetzt anstehenden Reform des ge- lung der Kinder nun einmal äußerst wichtig ist. Das meinsamen Sorgerechts nichtehelicher Eltern tun. sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Es be- Anders als bei der rechtlichen Ausgestaltung der einge- steht auch in anderen Bereichen – ich denke etwa an das tragenen Lebenspartnerschaften stehen beim Adoptions- Umgangsrecht bei alleinerziehenden Müttern oder Vä- recht ausschließlich die Interessen der Kinder und nicht tern – nicht nur in diesem Haus Konsens, dass es für die die der betroffenen Erwachsenen im Vordergrund. Ge- Entwicklung des Kindes wichtig ist, auch eine Bindung rade das ist für mich Ausdruck einer modernen Gesell- zu seinem Vater bzw. seiner Mutter aufzubauen. schaftspolitik. Deshalb lehnen wir das hier geforderte Die Antragsteller verweisen vor diesem Hintergrund gemeinsame Adoptionsrecht ab. nun auf eine in der vergangenen Legislaturperiode vom Wenn ich mir die Diskussion der letzten Jahre – aber Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Studie, auch den heute zur Beratung anstehenden Gesetzent- die belegen soll, dass das Aufwachsen in gleichge- wurf – anschaue, muss ich feststellen, dass es den An- schlechtlichen Lebenspartnerschaften nicht dem Kindes- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5449

(A) wohl zuwiderlaufe. Diese Interpretation ist allerdings nach §§ 1754 ff. Bürgerliches Gesetzbuch.“ Ich denke, (C) einseitig, selektiv und ignoriert im Übrigen wesentliche angesichts dieses offensichtlichen Widerspruchs hilft Erkenntnisse der Studie. uns der Wissenschaftliche Dienst hier kaum weiter. Wie ich bereits in der vergangenen Debatte ausge- Aber es lohnt sich, einen Blick auf die Grundsatzent- führt habe, erfahren Kinder von gleichgeschlechtlichen scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr Eltern häufig Stigmatisierungen. Das mag vielleicht be- 2002 zu werfen. Da heißt es ganz eindeutig: dauerlich sein, ist aber eine Tatsache. Auch die zitierte Studie „Die Lebenssituation von Kindern in gleichge- „Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz (…) gebietet als ver- schlechtlichen Lebenspartnerschaften“ hat diesbezüglich bindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich bestätigt: Jedes zweite der betroffenen Kinder und Ju- des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentli- gendlichen gab an, dass es aufgrund seiner Lebenssitua- chen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatli- tion Benachteiligungen erfahren habe. Wir dürfen insbe- che Ordnung.“ Und weiter: „Nur für sie besteht ein ver- sondere sensible Kinder und Jugendliche, die in der fassungsrechtlicher Auftrag zur Förderung.“ Darüber Pubertät sind, einer solchen Belastung nicht aussetzen. hinaus stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass es Der Staat hat hier eine Schutzpflicht und muss daher im dem Gesetzgeber zwar freistehe, anderen Einstandsge- Zweifel von entsprechenden Gesetzesänderungen abse- meinschaften als der Ehe neue Möglichkeiten zu eröff- hen. nen, ihre Beziehung in eine Rechtsform zu bringen, wenn er dabei eine Austauschbarkeit der jeweiligen Außerdem sind die Ergebnisse der Studie gerade in Bezug auf die jetzt diskutierte Frage der Volladoption rechtlichen Gestalt mit der Ehe vermeidet. Zugleich auch insofern nicht aussagekräftig, als Kinder, die im stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch ganz klar Wege der Fremdkindadoption angenommen worden fest: „Ein verfassungsrechtliches Gebot, solche Mög- sind, in der Gesamtstichprobe der Untersuchung seltene lichkeiten zu schaffen, besteht jedoch nicht.“ Ausnahmefälle bilden. So haben gerade einmal 13 von Die einfache Lektüre der Gerichtsentscheidung zeigt 693 Familien, also weniger als zwei Prozent, ihr Kind im also, dass es keinesfalls verfassungsrechtlich geboten ist, Wege der Fremdkindadoption angenommen. Entspre- eingetragene Lebenspartnerschaften auch im Bereich des chend bewertet die Studie selbst die Aussagekraft ihrer Adoptionsrechts mit der Ehe gleichzustellen. Ergebnisse für diese spezielle Familienform infolge der geringen Datenbasis als eingeschränkt. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den heute Die Antragsteller argumentieren zudem, dass ein ebenfalls zur Beratung stehenden Antrag zum Europäi- Recht auf Adoption auch verfassungsrechtlich geboten schen Übereinkommen vom 24. April 1967 über die (B) sei. Dabei verweisen sie insbesondere auf einen Be- Adoption von Kindern eingehen. Die Antragsteller ge- (D) schluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsge- hen zu Recht davon aus, dass ein Adoptionsrecht für richts vom Juli 2009. gleichgeschlechtliche Paare im Widerspruch zum besag- ten Übereinkommen stünde. Nach geltendem Recht Besagte Entscheidung befasst sich aber konkret nur wäre es also dem deutschen Gesetzgeber völkerrechtlich mit der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Ar- verwehrt, eine entsprechende Gesetzesänderung zu be- beitnehmer des öffentlichen Dienstes. Des Weiteren be- schließen. Die jetzt vom Europäischen Ausschuss für schränkt das Bundesverfassungsgericht die Feststellung rechtliche Zusammenarbeit ausgehandelte Vertragsände- der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung rung würde es aber den Mitgliedstaaten ermöglichen, auf das Feld der Ehe und trennt hiervon den Schutzbe- auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit der reich der Familie gerade ausdrücklich ab, der dann eröff- gemeinsamen Adoption einzuräumen. net sei, wenn Kinder hinzukämen. Der Prüfungsmaßstab bei Fragen des Adoptionsrechts ist damit von vornherein Die Bundesregierung hat diese Vertragsänderung je- ein anderer. Hinzu tritt hier als maßgeblicher Aspekt das doch aus guten Gründen bisher weder gezeichnet noch Kindeswohl im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Grundgeset- ratifiziert. Für die Union kann ich sagen: Wir lehnen auf zes. Ein gesetzgeberischer Bedarf im Bereich des Adop- nationaler Ebene eine Gesetzesänderung ab. Aus diesem tionsrechts ist damit durch die besagte Entscheidung in Grund besteht für uns auch kein Anlass, die Vertragsän- keiner Weise zu begründen. derung in absehbarer Zeit zu zeichnen. Soweit die Antragssteller sich nunmehr auf ein Gut- achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundesta- Johannes Kahrs (SPD): Wir debattieren hier und ges beziehen, das die Auffassung vertritt, die Entschei- heute die Frage der Angleichung des Adoptionsrechtes dung gebiete eine Gleichstellung auch im Bereich des im Hinblick auf Ehe und eingetragene Lebenspartner- Adoptionsrechts, weise ich darauf hin, dass derselbe Au- schaft. Bereits heute leben in jeder achten eingetragenen tor nur einige Monate zuvor in einem Infobrief des Wis- Lebenspartnerschaft Kinder. Neben den leiblichen Kin- senschaftlichen Dienstes, den er zugleich im eigenen dern eines der Partner, für die es die Möglichkeit der Namen in einer Fachzeitschrift veröffentlich hat, genau Stiefkindadoption gibt, handelt es sich dabei auch um das Gegenteil feststellt. Dort kommt er nämlich – ich zi- Adoptiv- oder Pflegekinder eines der beiden Partner. tiere – zu folgendem Ergebnis: „Es ist nur ein Rege- Diesen Kindern der letztgenannten Gruppe verwehren lungsbereich ersichtlich, auf den die Entscheidung des CDU und CSU wesentliche Rechte. Sie sollen weder Bundesverfassungsgerichts keine unmittelbare Auswir- Unterhaltsansprüche gegenüber beiden Elternteilen ha- kung hat: Das Recht der gemeinschaftlichen Adoption ben noch von beiden Eltern erben dürfen. Diese Kinder 5450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) sollen also, geht es nach der Union, schlechter behandelt gleichgeschlechtlichen Eltern. Im Gegenteil: Gerade die (C) werden als andere. adoptierten Kinder sind einer aktuellen Studie aus den USA zufolge überdurchschnittlich gut materiell abgesi- Absurderweise wird dies mit dem Wohl der Kinder chert, weil es sich immer um Wunschkinder handelt und begründet. In der Sitzung vom 17. Juni wurde hier der die Entscheidung zur Adoption vorher gut abgewogen Antrag über die Gleichstellung eingetragener Lebens- wird. Frau Granold selbst hat darauf hingewiesen, dass partnerschaften der SPD-Fraktion beraten. Dabei agi- gleichgeschlechtliche Eltern häufig einen überdurch- tierte die Kollegin Granold von der CDU vehement ge- schnittlich hohen sozialen Status haben. gen jede rechtliche Angleichung im Adoptionsrecht. Ich zitiere: „Vieles spricht dafür, dass Kinder von gleichge- Sie sehen: Keines der Argumente von CDU und CSU schlechtlichen Ehen“ – und ja, Frau Granold verwendete ist stichhaltig. Sie, liebe Kollegen von der Union, lehnen tatsächlich das Wort „Ehe“ – „dass Kinder von gleichge- den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne nur aus ei- schlechtlichen Ehen häufiger Stigmatisierungen erfahren nem Grund ab: Sie bringen es einfach nicht fertig, ihre als andere.“ Liebe Frau Granold, liebe Kollegen von Vorurteile rational zu beleuchten und über Bord zu wer- CDU und CSU, woran liegt es wohl, dass es solche Dis- fen. Vier von fünf Fraktionen, darunter Ihr Koalitions- kriminierungen gibt? Nicht zuletzt natürlich daran, dass partner, sind in dieser Sache einer Meinung. Für alle au- ihre Partei es immer entschieden abgelehnt hat, Schwu- ßer für die Union gilt die Gleichstellung als selbst- len und Lesben die gleichen Rechte zuzugestehen wie verständlich und lange überfällig. Sehen Sie endlich ein, anderen Bürgern dieses Landes. Frau Granold hat in ih- dass Sie in dieser Frage in der Minderheit sind. Sehen rer damaligen Rede die vielen Verbesserungen, die es im Sie ein, dass auch die Rechtsprechung, auch auf europäi- Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung von Schwulen scher Ebene, sich in der Vergangenheit nicht Ihrer, son- und Lesben und der eingetragenen Lebenspartnerschaf- dern stets unserer Position angenähert hat. Sehen Sie ein, ten in den letzten Jahren gegeben hat, aufgezählt. Sie hat dass die Zeit gegen Sie arbeitet. Ich bin zuversichtlich, dabei vergessen hinzuzufügen, dass jede einzelne Ver- dass dieser leidige Streit in einigen Jahren Geschichte besserung dabei gegen den zähen Widerstand ihrer eige- nen Partei erkämpft werden musste. Über die Jahre ist. Irgendwann wird man über die jetzige Haltung der kamen die schlimmsten und abfälligsten öffentlichen Union nur noch lachen. Bevor Sie sich also völlig der Äußerungen von Politikern über Schwule und Lesben Lächerlichkeit preisgeben: Geben Sie sich einen Ruck, zuverlässig aus den Reihen der Union. Jedes Mal goss handeln Sie im Interesse der Kinder und setzen Sie die man damit Öl ins Feuer der Vorurteile. Die etwaige Stig- Gleichstellung der Lebenspartnerschaften in allen matisierung von Kindern geht somit auch auf ihr Konto, Rechtsbereichen durch. liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. (B) (D) Kinder können nicht nur wegen des Geschlechtes ih- Stephan Thomae (FDP): Ihnen allen ist bekannt, rer Eltern gehänselt werden. Infrage kommen leider auch dass die FDP immer beharrlich und unbeirrbar dafür ein- Herkunft, Religion, soziale Stellung und Besitzstand. getreten ist, dass jeder Mensch seinen Lebensentwurf Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, den verwirklichen kann. Dies galt immer und gilt auch wei- betreffenden Eltern eine gemeinsame Adoption zu ver- terhin im Hinblick auf unterschiedliche sexuelle Orien- bieten. Die Erklärung der Kollegin Granold trägt der tierungen. Tatsache nicht Rechnung, dass es in zahlreichen gleich- Die FDP hat dabei ihr Augenmerk immer auf das geschlechtlichen Partnerschaften schon lange Kinder Machbare gelegt. Es war und ist uns immer wichtig, zu gibt. Wie kann es für das Wohl des Kindes förderlich fragen, was politisch umsetzbar ist. Mit Schaufensteran- sein, wenn im Fall des Falles ein Elternteil nicht unter- trägen kann man manchmal Teile der Öffentlichkeit be- haltspflichtig ist? Wie können Sie, liebe Unionskollegen, eindrucken. Aber entscheidend ist, sein Ziel im Auge zu rechtfertigen, dass diese Kinder erbrechtlich nicht als behalten, und, wenn man es nicht sofort erreichen kann, Kinder zählen dürfen? Wie können Sie rechtfertigen, dass Sie Waisen lieber weiter im Heim sehen als bei El- sich ihm Schritt für Schritt zu nähern. Dies tut die FDP. tern, die zufällig dasselbe Geschlecht haben? Wie kön- Wir haben in unserem Koalitionsvertrag mit der CDU nen Sie hier eigentlich mit dem Wort „Kindeswohl“ und der CSU vereinbart, den nächsten Schritt zu unter- argumentieren? Ihre Argumente sind nicht fundiert, nehmen, um die Schlechterstellung gleichgeschlechtli- nicht durchdacht und ganz einfach zu widerlegen. cher Paare im Beamtenrecht zu korrigieren: Neben der Gleichstellung von Lebenspartnern im Rahmen des Die Kollegin Granold erwähnte noch, dass Sie die Er- BAföG haben wir im Jahressteuergesetz 2010 sowohl gebnisse der in der vergangenen Legislaturperiode von die Gleichstellung von Lebenspartnern bei den Steuer- Bundesjustizministerin Zypries in Auftrag gegebenen sätzen im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer Studie ablehnen. Die Studie hat keine gravierenden als auch die Befreiung des Lebenspartners in der Grund- Nachteile für Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen El- erwerbsteuer vorgesehen. tern aufwachsen, feststellen können. Sicherlich mag es bei dieser Studie gewisse Einschränkungen aufgrund der Das ist pragmatische Politik, die den Betroffenen zur Verfügung stehenden Datenbasis gegeben haben. mehr nützt als zur Schau getragene Maximalforderun- Dabei blenden Sie aber aus, dass aus anderen Ländern gen, wie zum Beispiel im Antrag der Linken, der viel- ebenfalls zahlreiche Studien vorliegen, die alle zum sel- leicht viel Beifall finden mag und hohe Erwartungen ben Ergebnis kommen: Es gibt keine psychologischen weckt, aber dann in der gesellschaftlichen und politi- oder signifikanten sozialen Nachteile für Kinder mit schen Diskussion Widerstand hervorruft. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5451

(A) Und auch der SPD vermag ich heute kein viel besse- Hirschfeld-Stiftung wird Realität. In der Entwicklungs- (C) res Zeugnis auszustellen. Heute beglückt uns die SPD politik werden neue Akzente für die Menschenrechte mit ihren guten Ideen. Das Lebenspartnerschaftsgesetz Homosexueller gesetzt. ist 2001 zu rot-grüner Regierungszeit in Kraft getreten. Und es fällt uns Liberalen auch gar kein Zacken aus der Lediglich bei den Regenbogen-Familien sind wir an Krone, das anzuerkennen. der starren Haltung unseres Koalitionspartners geschei- tert. Wir werden deshalb den Dialog mit den Kollegin- Die FDP hat damals dem Gesetz nicht zugestimmt, nen und Kollegen der Union fortführen. CDU und CSU weil sie selbst schon 1999 einen eigenen Vorschlag in haben sich in anderen Fragen der Familienpolitik bereits den Bundestag eingebracht hatte. Es ist allerdings, in bewegt. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass manchen Teilen, unvollständig geblieben. Ich nenne hier das auch hier der Fall sein wird. Lücken in den Bereichen des Adoptionsrechts, des Be- amtenrechts, des Einkommensteuerrechts, des Erb- Alle erziehungswissenschaftlichen Studien zeigen: schaftsteuerrechts. Kinder in schwulen oder lesbischen Beziehungen wach- sen genauso gut und selbstbewusst auf wie in heterosexu- 2004 hat die FDP dem Lebenspartnerschaftsergän- ellen. Zudem wachsen seit mehr als zehn Jahren Kinder zungsgesetz zugestimmt. Umstrittenster Punkt darin war in gleichgeschlechtlichen Pflegefamilien auf – ebenfalls die Stiefkindadoption. Der Freistaat Bayern hatte des- ohne irgendwelche Probleme. halb damals auch gegen dieses Ergänzungsgesetz einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht Die FDP steht weiterhin zum vollen Adoptionsrecht erhoben. Nachdem sich nunmehr die FDP in der Bayeri- für eingetragene Lebenspartner. Auch wenn es nicht ge- schen Staatsregierung befindet, hat der Freistaat Bayern lungen ist, diese Forderung im Koalitionsvertrag zu ver- diesen Normenkontrollantrag zurückgezogen. ankern, ist und bleibt sie Ziel der Liberalen. Wir können dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zum Und daran, dass die Union mit uns nun in dieser Le- Adoptionsrecht allerdings nicht zustimmen; denn wech- gislatur die nächsten Schritte tun wird, kann man erken- selndes Abstimmungsverhalten wäre ein Bruch des Ko- nen: CDU, CSU und FDP tun gemeinsam weitere alitionsvertrages. Die Ablehnung erfolgt aber ausdrück- Schritte. lich nicht aus inhaltlichen Gründen. Summa summarum kann ich Ihnen versichern, dass diese Regierung einen klaren rechts- und innenpoliti- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Seit Anfang 2000 schen Kompass besitzt und eine Justizministerin, die mit verfolgen Millionen Menschen nahezu jeden Sonntag diesem Kompass umzugehen versteht. Ein Kompass ist das Heranwachsen von Felix. Felix ist kein leichtes Kind. Er ist HIV-Positiv, mal introvertiert, mal rebel- (B) kein Zauberstab, der den Wanderer gleich ans Ziel zau- (D) bert. Aber wer seinem Kompass vertraut und unbeirrt lisch, mal hat er eine Freundin, mal keine. Zeitweise Schritt für Schritt macht, der nähert sich unweigerlich hing er dem Okkultismus an, und er treibt auch sonst viel seinem Ziel. Seien Sie gewiss: Die Regierungskoalition Unfug. Er wächst innerhalb einer Familie auf, die ihn befindet sich auf dem richtigen Weg. liebevoll durch die Wirren der Pubertät geleitet. Seine Eltern heißen Carsten und Käthe. Käthe ist ein Spitz- name für Georg. Carsten und Georg haben Felix im Michael Kauch (FDP): Die FDP hat bereits im Jahr Jahre 2003 gemeinsam adoptiert, nachdem sie sich zuvor 2004 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag das Jawort gaben. Etwa 3 bis 5 Millionen Menschen in eingebracht, mit dem eingetragene Lebenspartner das Deutschland sehen dies Woche für Woche in der Serie volle Adoptionsrecht erhalten sollten. Wir haben die „Lindentraße“. Felix ist in einer gesicherten Position. Er Forderung erneut erhoben, als die damalige rot-grüne hat Unterhalts- und Erbansprüche gegenüber beiden El- Bundesregierung das Lebenspartnerschaftsergänzungs- ternteilen. Diese Position hat Felix in der Fernsehwelt. gesetz eingebracht hatte. In der realen Welt hätte Felix dies nur, wenn Georg Damals hatte es die ehemalige Bundesjustizministerin oder Carsten sein leiblicher Vater wäre; denn dann von der SPD abgelehnt, das volle Adop- hätte der andere Lebenspartner die Möglichkeit der tionsrecht zu beschließen. Auch die damalige bündnis- Stiefkindadoption. Ansonsten bleibt ihm dies verwehrt. grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, , hielt eine flammende Rede gegen das Es geht um das Wohl des Kindes, und dies betrifft in Adoptionsrecht für Lesben und Schwule. Heraus kam Deutschland schon jedes achte Kind. Deshalb halte ich dann ein Kompromiss: die Stiefkindadoption als Mög- es nicht nur für unverständlich, sondern für unverant- lichkeit im Lebenspartnerschaftsgesetz – getragen von wortlich, wenn die CDU/CSU sich nicht nur einer Rege- allen Fraktionen mit Ausnahme der Union. lung, sondern sogar einer Diskussion einer realen Pro- blemlage verschließt. So wie es die Kollegin Ute In den zurückliegenden Monaten hat die FDP in der Granold von der CDU am 17. Juni zu Protokoll gab, zu Gleichstellungspolitik für Lesben und Schwule mehr unserem Antrag „Öffnung der Ehe“ für Lesben und durchgesetzt als die SPD in den vier Jahren Regierung Schwule. Wie kann es sein, dass sich die CDU/CSU- zuvor. Für das Beamtenrecht haben wir im Koalitions- Fraktion sogar jeglicher Diskussion verweigert? Das ist vertrag die volle Gleichstellung von Lebenspartnern mit doch ein Unding. Damit bedienen Sie sich Ressenti- Ehegatten vereinbart, im Steuerrecht einen Abbau der ments gegen Lesben und Schwule und zeigen, dass Ih- Benachteiligungen. Die lange versprochene und von nen das Wohl und die Rechtssicherheit von Kindern egal Rot-Grün und Schwarz-Rot niemals realisierte Magnus- sind. 5452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010

(A) Die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gege- nungsforschungsinstitut respondi über 1 000 Menschen (C) bene Studie zur Lebenssituation von Kindern in gleichge- in Deutschland gefragt, ob nach ihrer Auffassung homo- schlechtlichen Lebensgemeinschaften kam 2009 zu dem sexuellen Paaren ermöglicht werden sollte, Kinder zu absehbaren Ergebnis, dass lesbische Mütter und schwule adoptieren. 61 Prozent der Befragten, die repräsentativ Väter in ihrer elterlichen Kompetenz heterosexuellen El- für alle Deutschen sind, haben dies bejaht – und die Zu- tern in nichts nachstehen. Die feststellbaren Unter- stimmung geht über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. schiede im Erziehungsverhalten und Familienklima för- Männer wie Frauen, ob selbst Kinder im Haushalt oder dern ausnahmslos das Wohl des Kindes. Art und Umfang nicht, geringe Einkommen oder hohe, hoher formaler dieser umfangreichen Studie lassen keine Zweifel auf- Bildungsgrad oder geringer – in allen Bevölkerungs- kommen; wir benötigen schnellstmöglich ein gemeinsa- gruppen hat sich eine deutliche Mehrheit dafür ausge- mes Adoptionsrecht für Lesben und Schwule – im Inte- sprochen, hier zu einer Gleichstellung zu kommen. Dies resse der Kinder. Meine Damen und Herren von der sollte auch den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ FDP, wenn Sie eine Bürgerrechtspartei nicht nur der CSU-Fraktion zu denken geben. Worte, sondern auch der Taten sein wollen, dann werden Sie endlich aktiv. Sie können nicht bloß in Interviews Meine Fraktion stellt heute zwei Anträge zur Debatte, das gemeinsame Adoptionsrecht fordern und dann im die der Lebenswirklichkeit in Deutschland und den Parlament wieder einmal den Konservativen nachgeben. Wünschen der Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger Bei der Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers konnten Rechnung tragen. Unser vorgeschlagener Gesetzentwurf und wollten Sie sich durchsetzen, wenn es um das Wohl ermöglicht die Adoption durch Menschen, die eine ein- der Kinder geht, kneifen sie. Das ist feige. getragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind. Zu Recht verweisen alle Fraktionen und Parteien darauf, Die Linke fordert, dass die Bundesrepublik auch die dass beim Adoptionsrecht das Wohl des Kindes im Vor- revidierte Fassung des Europäischen Übereinkommens dergrund steht. Bei den in Lebenspartnerschaften leben- über die Adoption von Kindern unterzeichnet, welches den Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aber auch allen Kindern zugute kommt. Deutschland würde ein um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkinder einer Zeichen setzen, dass es mit der Zeit geht. Dieses überar- Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erziehungs- beitete Abkommen ermöglicht unter anderem den Unter- personen für das Kind sorgen, werden die Kinder durch zeichnern die Möglichkeit auch gleichgeschlechtlichen fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen Eltern Partnern ein Adoptionsrecht zuzubilligen. Lassen sie uns nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht benach- zum Wohle der Kinder handeln. Es bedarf einer Lösung, teiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptierten Kin- ob mit diesem Gesetzentwurf oder durch die Zustim- dern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Sicher- mung unseres Antrags „Öffnung der Ehe“. Was für Mil- heit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen (B) lionen Fernsehzuschauer normal ist, sollte endlich auch Familien Nachteile durch die fehlende rechtliche Aner- (D) Lebensrealität werden. kennung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsicht- lich des Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der Familie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absi- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cherung dieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen ge- „Es hat nicht sollen sein.“ – Das war die Antwort des bieten. Bundesaußenministers im Bravo-In- terview auf die Frage, ob er sich nicht Kinder gewünscht Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder haben hätte. Was er nicht gesagt hat: Es ist der Gesetzgeber in vielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksam- Deutschland, der ihm und seinem Partner diesen Wunsch keit und Geborgenheit. All dies können sie bei gleichge- verweigert, und das, obwohl ohne Zweifel ein Kind im schlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise Haushalt Westerwelle sehr behütet wäre und einen guten erfahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren. Start in sein Leben bekommen hätte. Aber homosexuelle Lesben und Schwule sind genauso verantwortliche El- Paare dürfen in Deutschland keine Kinder adoptieren, tern wie andere Menschen. Ein genereller Ausschluss obwohl längst klar ist, dass Kinder in gleichgeschlechtli- vom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit chen Partnerschaften genauso liebevoll erzogen werden von Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus wie in der klassischen Ehe. Das zeigt ein Blick in die Le- ideologischen Gründen pauschal infrage. Diese willkür- benswirklichkeit der Menschen: In vielen gleichge- liche Diskriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt schlechtlichen Partnerschaften wachsen schon heute und schadet dem Kindeswohl, indem sie die Stigmatisie- Kinder auf. Der Mikrozensus des statistischen Bundes- rung bereits bestehender Familien mit gleichgeschlecht- amtes geht davon aus, dass in knapp jeder achten schwu- lichen Eltern fördert und den Kreis der am besten geeig- len oder lesbischen Partnerschaft Kinder leben. Das neten Adoptiveltern künstlich verknappt. Ob eine Bundesjustizministerium hat untersuchen lassen, wie Adoption im konkreten Fall dem Wohl des Kindes dient, diese Familien zurechtkommen. Und siehe da: Es gibt muss bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften keinen Hinweis darauf, dass Kinder aus Regenbogenfa- genauso wie bei Ehepaaren jeweils im Einzelfall der milien irgendwelche Nachteile hätten. Die repräsentative sachkundigen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts Studie zeigt, dass Lesben und Schwule gute Eltern sein überlassen bleiben. können und genauso Verantwortung für Kinder überneh- men. In Europa isoliert sich die Bundesregierung mit ihrer Verweigerungshaltung immer mehr. In acht Staaten ist es Diese Auffassung teilt die Mehrheit der Deutschen. gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt, gemeinschaftlich Am Dienstag dieser Woche hat das renommierte Mei- zu adoptieren. Neun weitere Staaten haben das revidierte Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5453

(A) europäische Übereinkommen zur Adoption bereits ge- wenn sie in der Adoptionsfrage keinen Schritt weiter ge- (C) zeichnet, das es den Mitgliedstaaten ermöglicht, die hen will – obwohl die Einstellung in der Bevölkerung Adoption durch Schwule und Lesben zu gestatten. Die heute sehr viel aufgeschlossener ist? Die FDP lässt sich Bundesregierung verweigert bis heute die Ratifizierung, vollständig von der CDU/CSU-Fraktion über den Tisch obwohl es gerade die ehemalige Bundesjustizministerin ziehen. Als Anwalt für Bürgerrechte fällt sie deswegen Zypries war, die die Neuauflage vorangebracht hatte. komplett aus. Der Antrag, den wir Grünen heute vorlegen, fordert die Bundesregierung auf, ihre Blockadehaltung zu beenden. Die Union dagegen betreibt aktive Verhinderungs- politik. Sie bleibt verhaftet in einem vormodernen Fami- Im Hohen Haus des Bundestages teilt die Mehrheit lienbild, welches den Menschen vorschreiben will, wie der Abgeordneten unsere Auffassung – zumindest in der sie zu leben haben. In der vergangenen Sitzungswoche Theorie. Gerade die FDP hat im Bundestagswahlkampf war sich die Abgeordnete Ute Granold nicht zu schade, offensiv die Änderung des Adoptionsrechtes zugunsten uralte und längst widerlegte Thesen aufzustellen: Kinder von Lesben und Schwulen vertreten. Nun hat die Bun- seien in verschiedengeschlechtlichen Familien grund- desjustizministerin angekündigt, das Adoptionsrecht ei- sätzlich besser aufgehoben. Gerade weil Kindern und Ju- ner umfassenden Reform zu unterziehen. Die Alters- gendlichen Diskriminierung begegne, müsse der Staat grenzen für potenzielle Eltern sollen gesenkt werden. sie schützen. Hier macht sich die Union selbst vom Bock Nicht geplant ist dagegen, auch lesbischen oder schwu- zum Gärtner. Erst sorgt sie mit ihrer permanenten Ver- len Paaren die Adoption zu ermöglichen. Der FDP-Ab- weigerungshaltung dafür, dass Regenbogenfamilien stig- geordnete Kauch hat in vergangenen Debatten der dama- matisiert und diskriminiert werden, um dann diesen Tat- ligen rot-grünen Bundesregierung vorgeworfen, aus – bestand gegen die betroffenen Kinder zu verwenden. ich zitiere – „Angst vor Gegnern des Adoptionsrechtes“ Frau Granold, umgekehrt wird ein Schuh draus. Helfen im Jahr 2005 „nur“ die Stiefkindadoption zu ermögli- Sie endlich mit, Vorurteile abzubauen und Diskriminie- chen. Ich frage ihn: Vor wem hat die FDP jetzt Angst, rung zu beenden. Stimmen Sie unserem Antrag zu.

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