HISTORIE

In den 25 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verzehnfachte sich beinahe die Zahl der in- dustriellen Betriebe von 685 auf 6.715. Die Zahl der industriellen Arbeitsplätze stieg von etwa 18.000 auf fast 110.000 an. Al- lein im Schiffbau waren um 1900 rund 11.300 Arbeiter beschäftigt, im Maschi- nen- und Apparatebau waren es etwa 18.300. Die Industrieunternehmen brauch- ten neben Facharbeitern auch Ingenieure und Techniker. Daher entstanden seit den 1890er Jah- ren die schon erwähnten höheren Fach- schulen unter dem Dach der Gewerbe- schule. Der hamburgische Senat, die zu- ständige Gewerbeschulbehörde und die Vertreter der Industrie waren sich einig, dass die hiesige Wirtschaft vor allem Bedarf hatte an Ingenieuren, die praktische Erfah- Dr. Sigrid Schambach rung mitbrachten und auf mittlerem Niveau ausgebildet waren. Die ingenieurwissen- schaftliche Ausbildung, die in anderen deutschen Ländern, vor allem in Preußen 100 Jahre Ingenieurausbildung in Kontinuität und Wandel

m 1. April 1905 begann für die staatliche und den süddeutschen Staaten, bereits exi- Ingenieurausbildung in Hamburg eine neue stierte – man denke an die technischen Zeit: Vier schon bestehende höhere Fach- Hochschulen in -Charlottenburg schulen, die Schule für Maschinenbau (ge- (gegr. 1879), München (gegr. 1868) oder A gründet 1893), die Schule für Schiffbau (gegr. 1825) – kam damals nicht (gegr. 1895), die Schule für Elektrotechnik in Betracht. (gegr. 1896) und die Schule für Schiffsma- Für Hamburg bestimmend war und schinenbau (gegr. 1899) wurden aus dem blieb die enge Anlehnung an die Praxis. Das Gewerbeschulwesen ausgegliedert und zu bewiesen schon die Zugangsvoraussetzun- einer neuen, selbständigen Einrichtung, gen für die Schüler des Technikums. In der dem Staatlichen Technikum, zusammenge- Regel mussten sie eine mittlere, der heuti- fasst. Dem ersten Anschein nach handelte gen Realschule entsprechende Vorbildung es sich lediglich um eine verwaltungs- mitbringen. Doch konnten auch Volks- mäßige Veränderung, doch die neue schulabsolventen nach bestandener Auf- Selbständigkeit des Technikums spiegelte nahmeprüfung die Schule besuchen. Unab- auch die gewachsene Bedeutung der tech- dingbar war für alle eine mindestens zwei- nischen Ausbildung wider. jährige Werkstatttätigkeit. Ebenso waren Hamburg hatte sich in der Zeit vor der die meisten Lehrer am Technikum ausge- Jahrhundertwende sehr verändert: Nicht wiesene Praktiker, die bereits als Ingenieure mehr nur der Handel, sondern auch neue, in der Industrie gearbeitet hatten, bevor sie wachsende Industriezweige rund um den unterrichteten. Enge Anbindung an die Pra- Freihafen prägten die Wirtschaftsstruktur. xis – dieser Grundsatz schloss sogar auf der

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Grundsteinlegung für die Technische Universität Hamburg-Harburg

Ebene der Behördenleitung die Mitsprache und Bürgerschaft 1910 den Neubau der zuletzt die Sorge um die Anerkennung des von Vertretern der Wirtschaft ein; das ent- Schule nach Plänen von Fritz Schumacher. deutschen Ingenieurabschlusses innerhalb sprach dem hamburgischen Verständnis 1914 wurde das neue Hauptgebäude am der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stadtstaatlicher Verwaltung. So war dem Berliner Tor für den Lehrbetrieb eröffnet. – zu einer Neubewertung der Ingenieur- Direktor des Technikums eine fünfköpfige Die gleichfalls geplanten Laborgebäude für schule: Am 1. April 1970 wurde sie Teil der Kommission beigeordnet, die über die Ent- den Schiffbau und den Maschinenbau wur- neu geschaffenen Ham- wicklung der Schule mitentscheiden konn- den erst 1923 bzw. 1931 realisiert. burg. te, und der neben den Fachbeamten auch Die praxisnahe Ausbildung blieb Leit- In der reformfreudigen Zeit der 1970er führende Unternehmer angehörten, z. B. bild für das Technikum und seine Nachfol- Jahre begann die Geschichte der Techni- der Gründer der gleichnamigen Werft, Her- geeinrichtungen, die Technischen Staatslehr- schen Universität Hamburg-Harburg. Sie mann Blohm. anstalten (ab 1912) und die Ingenieurschu- wurde 1978 mit dem Ziel gegründet, die Die Initiative bzw. Mitsprache von en- le (ab 1938). Umso mehr veränderte sich technisch-wissenschaftliche Kompetenz gagierten Bürgern stand in einer langen die Schule im Umfang, in den fachlichen der Region Hamburg Süd zu stärken. War Tradition. Denn schließlich ging das techni- Anforderungen und im fachlichen Ange- das Technikum vor allen Dingen als Lehr- sche Ausbildungswesen auf die Patriotische bot. 1936 wurde das Fach Leichtbau für stätte eingerichtet worden, so glich die Gesellschaft von 1765 zurück: Die Zeichen- den Flugzeug- und Fahrzeugbau, 1954 die TUHH dieses Gewicht nach der anderen und Mathematikkurse dieser privaten, auf- Abteilung Flugzeug- und Fahrzeugbau ein- Seite aus, denn von Beginn an verstand sie klärerisch wirkenden Gesellschaft Hambur- gerichtet. 1956 gründete der Unternehmer sich als Forschungsinstitution. Erste Überle- ger Bürger legten das Fundament für das Kurt A. Körber das Tabak-Technikum Ham- gungen zur Gründung einer technischen 1865 etablierte staatliche Gewerbeschul- burg, ein Vorläufer des Standorts Bergedorf Hochschule stammten übrigens von Max wesen, wie dieses wiederum Fundament der heutigen Hochschule für Angewandte Brauer aus dem Jahr 1928. Brauer, damals des Technikums wurde. Als engagierte Für- Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg). Bürgermeister der preußischen Nachbar- sprecher einer zukunftsweisenden techni- Die Zahl der Schüler bzw. Studenten wuchs stadt Altona, hatte argumentiert, dass eine schen Ausbildung profilierten sich vor allem kontinuierlich: Im Frühjahr 1905 besuchten technische Hochschule im Niederelbege- auch der Gewerbeschulrat Adolf Stuhl- das Technikum 156 Schüler, heute, hundert biet die bestehenden Einrichtungen in mann und die beiden ersten Direktoren des Jahre später, werden die ingenieurtechni- Hamburg ergänzen und dem ganzen nord- Technikums, der früh verstorbene Grün- schen Studiengänge der HAW Hamburg deutschen Raum zugute kommen werde. dungsdirektor Max Behrisch und sein Nach- von rund 6.200 Studierenden belegt. Das Historisch betrachtet holte Hamburg nun folger Johannes Zopke. Mit einer gewissen Studium wurde anspruchsvoller und länger: mit seiner neuen Technischen Universität Zögerlichkeit behandelten dagegen Senat 1905 konnte ein junger Mann noch mit einen Schritt nach, den andere deutsche und Bürgerschaft den Aufbau des techni- gutem Volksschulzeugnis das Technikum Länder, wie erwähnt, rund hundert Jahre schen Schulwesens, wohl aus Scheu vor besuchen, heute wird mindestens die Fach- früher gegangen waren. den damit verbundenen Ausgaben. Ein Bei- hochschulreife vorausgesetzt. Die Schüler Als Ergebnis einer Reformdiskussion spiel dafür ist der Neubau des Technikums des Jahrgangs 1905 verließen das Techni- über die veränderte Stellung der Bundes- am Berliner Tor. Die Unterbringung in der kum bereits nach vier Semestern. Heute wehr in der demokratischen Gesellschaft Gewerbeschule am Steintorplatz war be- dauert das Ingenieurstudium acht Seme- entstand 1973 die Universität der Bundes- engt, und besonders die für die praktische ster. Seit den 1960er Jahren führten meh- wehr Hamburg. Ihre Aufgabe war und ist Ausbildung wichtigen Laborräume fehlten. rere Faktoren – das steigende Niveau des es, den Offiziersanwärtern eine fachlich an- Nach etlichen Anläufen, die bis ins Jahr Studiums, der Anspruch von Dozenten und spruchsvolle Ausbildung zu bieten, damit 1901 zurückgingen, genehmigten Senat Studierenden auf Mitbestimmung, nicht die Attraktivität des Offiziersberufes zu er-

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höhen und ihren Absolventen den späteren Benutzte Quellen und Literatur Schimank, Hans: Die technischen Staatslehranstal- Übergang in einen zivilen Beruf zu erleich- ten zu Hamburg, Hamburg 1931 Stuhlmann, Adolf: Das staatliche Gewerbeschul- tern. Einen gewissen Sonderstatus genießt StA Hamburg 361-8 I Berufsschulbehörde I: wesen zu Hamburg, Hamburg 1902 die seit 2002 in Helmut-Schmidt-Universität B 9 Begründung und Organisation des gewerb- lichen Unterrichtswesens Staatliches Technikum, Jahresberichte 1905-1912 umbenannte Hochschule, da sie vom Bund B 372 Technikum. Organisatorisches Die Technische Hochschule an der Niederelbe. finanziert wird. Sie betreibt Lehre und For- B 374 Maschinenbauschule Denkschrift des Magistrats der Stadt Altona, schung und versteht sich ausdrücklich als B 375 Schiffsmaschinenbauschule Abt. A Altona 1928 TUHH, hg. vom Präsidenten der Technischen Teil des Wissenschaftsstandortes Hamburg. B 377 Schiffbauschule B 385 Denkschrift über Art, Umfang und Bedeu- Universität Hamburg-Harburg, Hamburg 1991 Die drei Hochschulen besitzen auf- tung sowie weitere Ausgestaltung der technischen Universität der Bundeswehr, hg. vom Präsidenten grund ihrer Geschichte gewiss unterschied- Staatslehranstalten der Universität der Bundeswehr, Hamburg 1997 liche Schwerpunkte – gemeinsam entfalten F 90 Neubau des Technikums Wiebe, Erhard: Die Geschichte der Ingenieuraus- sie heute ein breitgefächertes Angebot für Festschrift, hg. zur 50 Jahr-Feier der Ingenieur- bildung und ihre Entwicklung in der Freien und Hansestadt Hamburg – ein Rückblick, in: 75 Jahre die Ingenieurausbildung in Hamburg. schule der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1955 Ingenieurausbildung in Hamburg, Hamburg 1980 Hamburg und seine Bauten, Bd. 1, Hamburg 1914 Wiemer, Rolf: Industrie und Gewerbe in Hamburg, Hampke, Thilo: Die Entwicklung der Hamburger in: Heimatchronik der Freien und Hansestadt Industrie, des Handwerks und Kunstgewerbes, Hamburg, 2. Aufl., Köln 1967, S. 549-596 Hamburg o. J. (1901) www.tu-harburg.de/tuhh/ziele Hochschulführer der HAW Hamburg, Hamburg www.hsu-hh.de/index (Leitbild/Grundlagen/FAQ) 2004 Meinecke, Julius: 25 Jahre TUHH, in: Zartbitter. Zeitung der Hamburger Wirtschaftsingenieure, Oktober 2003

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