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„La Mannschaft“

Eloge eines Schweizer Bewunderers

DOMINIQUE EIGENMANN Geboren 1967 in Sankt Gallen (Schweiz), der deutschen „Elf“. Es folgten an Titeln Deutschland-Korrespondent des recht erfolgreiche, fußballerisch gesehen Zürcher „Tages-Anzeiger“ in Berlin. aber dürftige Jahre und Jahrzehnte. Mein Held war , der Revoluzzer und geniale Antreiber im Mittelfeld. Aber Ich bin in den 1970er-Jahren auf der die Wahrheit des deutschen Spiels jener Schweizer Seite des Bodensees aufge- Zeit hieß eher , Hans-Peter wachsen. Schon als Junge fieberte ich mit Briegel, Manfred Kaltz, der deutschen Fußballnationalelf mit, oder . Grimmige, von Ehr- eine für die damalige Zeit ungewöhnliche, geiz verzerrte Gesichter, stämmige Un- ja zweifelhafte Wahl. Der große Nachbar geheuer – Krieger wie aus dem Ring des war, ein Vierteljahrhundert nach dem Nibelungen. Krieg, noch immer eher gefürchtet als Für sie wurde das Wort „Rumpelfuß- beliebt. ball“ erfunden, und niemand konnte ih- Für die gloriosen Beckenbauer-Jahre nen darin das Wasser reichen. Die Deut- zwischen 1970 und 1976 war ich zu jung, schen wurschtelten sich durch die Tur- aber pünktlich zur WM 1978 in Argenti- niere, am Ende lag der Ball irgendwie im nien wurde ich ein unbedingter Anhänger Tor. 1 : 0 war ja auch ein Sieg. Brasilianer

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mochten für ihre Spiellust bewundert und wöhnten Wochen des Jahrs 2006, geriet geliebt werden, Holländer für ihre welt- zum Rausch. Die deutsche Elf gewann gewandte, fröhliche Kreativität, die Fran- zwar nicht den Titel (den holten die abge- zosen für ihr artistisches Flair, die Italie- zockten Italiener), aber sie war mit ihrem ner für ihre bessere Art, zu leben (wenn zuversichtlichen, offensiven, spektakulä- schon nicht für das bessere Fußballspiel). ren Spiel als Dritte die Entdeckung des Die Deutschen hingegen beeindruckten Turniers. Auf einmal strahlten deutsche nur durch ihre preußischen Sekundär- Fußballer Freude aus statt Ehrgeiz, waren tugenden: Kampfkraft, Fleiß, eiserner fröhlich statt verkrampft, verspielt statt Wille, Disziplin, unbedingter Glaube an zynisch. den Sieg. Im Ausland nannte man sie Wie aus dem Nichts avancierte die Panzer. Es war nicht nett gemeint. deutsche Elf zum Champion der Herzen, weit über den Kreis ihrer deutschen An- hänger hinaus. Auch in Schweizer Knei- ENDE DER PREUSSISCHEN pen tauchten von da an immer häufiger TUGENDEN Fans mit deutschen Trikots auf: auffallend oft junge Frauen, die Schweinsteiger, Po- dolski oder Boateng hip und sexy fanden. Ich blieb ihr Fan, trotz allem. Die Siege bescherten mir Freude, wenn auch das Spiel meist schwer zu wünschen übrig FEIERN, ALS OB ES ließ. Als sich in den 1990er-Jahren, nach KEIN MORGEN GÄBE jahrzehntelanger Abwesenheit, die Schwei- zer Fußballer wieder einmal für große Turniere qualifizierten, war ich emotional Noch wunderlicher als jene sommerliche nicht mehr auf Gedeih und Verderb von Metamorphose des deutschen Fußballs den Deutschen abhängig. Anfang der war, dass diese auch die deutschen Gast- 1990er-Jahre studierte ich zudem in Paris, geber wie durch Zauberkraft verwandelte. verliebte mich in Les Bleus und machte sie – Verblüfft konstatierte die Welt, dass fanmäßig – zu meiner Mätresse. Das traf Deutschland sich kollektiv entkrampfte. sich gut, denn die Elf von Zinédine Zidane Auf einmal begeisterte auf Rängen und prägte die Jahre um das Millennium mit Straßen nicht mehr nur die Leidenschaft gleichermaßen hinreißendem wie trophä- der Iren und Niederländer, sondern auch enreichem Spiel. die der Deutschen, die unversehens feier- So überbrückte ich die letzten Jahre, ten, als ob es kein Morgen gäbe. In dem während derer die deutsche Nationalelf Land, in dem Patriotismus jahrzehnte- noch dem Bild entsprach, das die Welt von lang verfemt oder zum abstrakten Verfas- Deutschland hatte. Die Wende kam mit sungsbewusstsein gefroren gewesen war, einem blonden Sonnyboy, in einem Som- brach sich auf einmal unverkrampfter mermärchen. Jürgen Klinsmann schoss Nationalstolz Bahn. Hymnen wurden ab 2004 den deutschen Fußball mit Verve gesungen, schwarz-rot-goldene Fahnen in die Zukunft. Die Weltmeisterschaft im geschwenkt, so unschuldig wie selbstver- eigenen Land, in vier vom Sommer ver- ständlich. Die Welt rieb sich die Augen –

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und freute sich mit. Der Fußball erwies, Im Unterschied zu den meisten großen dass Deutschland aus der wirtschaftlichen Mannschaften steht bei den Deutschen und mentalen Depression, in der Helmut nicht ein Star im Zentrum, sondern das Kohls Ära geendet hatte, herausgefunden Team. Müsste ich gleichwohl eine Person hatte. Es erfreute sich einer neuen Stärke, herausheben, wäre es kein Spieler, son- die nicht durch Wille und Disziplin, son- dern der Trainer. dern durch Leichtigkeit und Entspannt- heit bestach. Dieser Moment hätte folgenlos ver- FLUIDUM VON ELEGANZ glühen können – stattdessen bildete er UND RAFFINESSE den Beginn einer Ära. Dafür sorgte nicht Klinsmann, sondern sein einstiger Assis- tent Joachim Löw, der diesen nach dem Stellt man Joachim Löw in die Reihe der Sommermärchen als Trainer ablöste. Nie deutschen Nationaltrainer, wirkt er wie spielte die deutsche Elf erfolgreicher als das blanke Gegenteil von Helmut Schön, unter ihm, fünfmal hintereinander er- oder Rudi Völler. Statt in aus- reichte sie bei Welt- oder Europameister- gebeultem Trainingsanzug steht er stets schaften wenigstens das Halbfinale. Im elegant und lässig an der Seitenlinie, in eng Unterschied zu den meisten seiner Vor- geschnittenen Hemden oder Roll kragen- gänger begeisterte die Elf nun jedoch pullovern, ein charmanter, intellektuel ler, nicht nur mit Resultaten, sondern mit mo- moderner Mann mit entschieden metro- dernem, einfallsreichem, mutigem Stil. sexueller Ausstrahlung. Er macht Wer- Hatte sie früher aus keiner Chance ein Tor bung für Hautcreme, schlürft hingebungs- erzielt, kreierte sie nun so viele Chancen, voll Espresso und geht im Kanzleramt wie dass es nicht weiter ins Gewicht fiel, wenn selbstverständlich ein und aus. Dieser nicht jeder Schuss im Tor landete. Selbst Mann macht, was ihm Spaß macht, ganz gelegentliche Niederlagen, etwa gegen die ungeniert. Die Aura, die ihn umgibt, mirakulöse Generation der Spanier, fühl- prägt auch seinen Fußball: als Fluidum ten sich weniger schmerzhaft und enttäu- von Eleganz, Schönheit, Coolness und schend an als früher. Denn wie hatten uns Raffinesse. „Jogis Jungs“ doch unterhalten! Müsste ich einen von Löws Fußbal- Der Weltmeistertitel von 2014 vollzog lern nennen, der den Kontrast zu den al- in diesem Sinne nicht nur die Apotheose ten deutschen Tugenden am dramatischs- einer begabten Generation, sondern die ei- ten verkörpert, wäre es Mesut Özil, Kind nes Stils. Im Mutterland der Fußballkunst, türkischer Einwanderer aus dem Ruhr- Brasilien, siegte das modernste und zu- pott. Der schüchterne, schmächtige Mit- gleich brasilianischste Team seiner Zeit: telfeldspieler blickt immer etwas verschla- Deutschland 7 : 1 gegen Brasilien, so hieß fen, verträumt oder traurig daher und das Wunder im Halbfinale, 1 : 0 gegen Lio- wirkt eher wie ein melancholischer Künst- nel Messis Argentinien im Finale. Mit dem ler als ein Sieger. Auf dem Rasen aber Titel war auch das historische Versäumnis schüttelt er die genialen Pässe aus dem behoben, dass das schönste Spiel nicht zu- Fußgelenk, dass Gegnern und Zuschauern gleich das erfolgreichste gewesen war. die Kiefer herunterklappen.

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Oder Jérôme Boateng, in Berlin aufge- den Kern: Der wahre Star ist „La Mann- wachsener Sohn eines Afrikaners, Innen- schaft“, wie sich die Elf vor der Europa- verteidiger mit dem Körper eines Preis- meisterschaft 2016 in Frankreich gleich boxers und einem Faible für Mode, Brillen, selbst titulierte. Das deutsche Kollektiv ist Ohrschmuck und Design. Er ist nicht nur unter Löw erheblich leistungsfähiger als ein Abwehrbollwerk, sondern eine Stil- die Summe seiner Teile, das Ensemble ikone. Als ein Politiker der „Alternative nicht nur eine Tatsache, sondern eine Phi- für Deutschland“ pöbelte, einen Schwar- losophie: Teamwork ohne Eifersüchte- zen wie Boateng fänden die Deutschen leien, Konsens ohne Einheitsdenken, vielleicht auf dem Fußballfeld okay, als Fairplay ohne Aufhebens, Selbstbewusst- Nachbarn aber eher weniger, solidarisier- sein ohne Überheblichkeit, Zuversicht te sich über Nacht fast das ganze Land ohne Naivität, lauten ihre Tugenden. Ein- mit ihm. wanderersöhne spielen in dieser Elf als Gelsenkirchener und Berliner ganz selbstverständlich neben Stuttgartern DER STAR IST und Greifswaldern, sie ergänzen deren DIE MANNSCHAFT Instinkte und Talente. Die deutsche Nationalelf wurde in der Ära von Angela Merkel, die vielleicht Stilbildend sind auch die Bayern- Profis nicht ganz zufällig mit jener von Joachim Philipp Lahm, Manuel Neuer und Tho- Löw zusammenfällt, zum Symbol eines mas Müller: Lahm als langjähriger Kapi- Deutschland, das zu einer selbstbewuss- tän, dessen Spielintelligenz selbst Trai- ten, aber entspannten Macht gereift ist. nergenie Pep Guardiola verblüffte. Seine Kraft liegt in der Mitte, dem Ge- Müller als unergründlicher Raumdeuter meinsinn und dem Maß, zugleich brilliert im Sturm, der nach dem Spiel als fröh- es mit Beweglichkeit, Kreativität und licher Fußballphilosoph amüsiert. Neuer weltoffener Neugier. Während Deutsch- als geschmeidiger Riese im Tor, der zur lands Volkswirtschaft zum Exportwelt- Not auch Libero kann, wenn ihn seine meister aufstieg, wurde sein Fußball stürmenden Hinterleute im Stich lassen. selbst zu einem imageträchtigen Ausfuhr- Schließlich Toni Kroos: ein herausragend schlager. „La Mannschaft“ hat dabei und präzises fußballerisches Uhrwerk, das en passant auch die Vorstellung verwan- Spiele strukturiert wie kaum ein anderes. delt, was überhaupt als deutsch gelten Andere Namen ließen sich nennen, kann. Die Metamorphose ist noch nicht aber die Aufzählung verfehlte, wie gesagt, beendet.

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