Freiheit und Recht

Vierteljahresschrift für streitbare Demokratie und Widerstand gegen Diktatur

Herausgeber: Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern) April 2011/1+2 8. Mai 1945

Die Gruppe UlbrichtWolfgang und der LeonhardBeginn wird 90 des HerrschaftssystemsEin unbeirrbarer der Zeuge DDR

Von PrinzenalleeVon Martin 80 (heuteRooney Einbecker- straße 41) verlegt. Damit erweiterte Barbara Szkibik Wolfgang Leonhard sich unser Aufgabenbereich: die Bil- dungWolfgang eines Gesamt-Berliner (eigentlich Wolodja) Magis- Roland Jahn – Am 30. April 1945 morgens – mehr als tratsLeon und­hard, die einer Organisierung der ganz des wenigen Rund- eine Woche vor Kriegsende – flog aus funkshoch bedeutenden standen zunächst in Deutschland im Vorder- der neue Chef Moskau ein Flugzeug mit den Mitglie- grund.wohnhaften Seit dem Kommunismusfor 10. Mai erweiterte- dern der „Gruppe Ulbricht“ ab. Neben sichscher, die wurde „Gruppe am Ulbricht“ 16. April durch 1921 kom- in Gauck-Behörde (BStU) dem Leiter gehörten munistischeWien geboren. Funktionäre, Aufgrund die illegal seines in unter neuer Leitung dieser Gruppe acht Funktionäre an: DeutschlandGeburtsortes tätig ist gewesen er österreichischer waren – da- Seite 7 Fritz Erpenbeck, Gustav Gundelach, runterStaatsbürger. vor allem Seine Ottomar Mutter Geschke, war die Richard Gyptner, Walter Köppe, Wolf- SeppPublizistin Hahn, Susanne Waldemar Leonhard Schmidt, (1895- Willy gang Leonhard, Hans Mahle, Karl Sägebrecht1984), eine und enge Hans Freundin Jenretzky. von Schon Karl Maron und Otto Winzer – also insge- baldLiebknecht bildete sich und ein Rosa Stamm Luxemburg. von 60 bis Wolfgang Buschfort samt neun Personen. Hinzu kam ein 80 kommunistischen Aktivisten Ber- technischer Sekretär, der damals kei- Ihr erster Ehemann, der Dramatiker linsRudolf heraus. Leonhard, Wir trafen erkannte uns zu sonntäg-offiziell nem seinen Namen nannte und von lichen Beratungen am 13., 20. und 27. Das Ostbüro dem ich erst viele Jahre später erfuhr, die Vaterschaft an. Als Wolfgang MaiLeonhard sowie zuram 3. Welt und kam,10. Juni lebte im dasge- der SPD dass es Otto Fischer war. Wolfgang Leonhard, geb. 1921, Aus- Wolfgang Leonhard, geb. genüberliegendenEhepaar Leonhard Lokal jedoch „Rose“ getrennt. (in- bildung zum kommunistischen Spit- zwischen „Gaststätte Liebezeit“) an Zum 100. Geburtstag von Das Flugzeug mit den Mitgliedern der 1921, Ausbildung zum kom- Susanne Leonhard, eine glühende „Gruppe Ulbricht“ landete – nach zenkadermunistischen in der Sowjetunion. Spitzenkader Anfang in der Ecke Prinzenallee/Waldersee- Stephan G. Thomas Mai 1945 Rückkehr nach als straßeKommunistin, (heute Ecke war zu Einbeckerstraße/ diesem Zeit- Seite 9 einer Zwischenlandung in Minsk – auf der Sowjetunion. Anfang Mai punkt mit Mieczyslaw Bronski, dem einem improvisierten Flugplatz in jüngstes1945 Rückkehr Mitglied der nach „Gruppe Berlin Ulb- als Archenholdstraße). Die Funktionäre richt“, Dozent an der SED-Partei- aussowjetischen den Bezirken Botschafter gaben ihre inBerichte Wien Calau, dem heute polnischen Kalawa, jüngstes Mitglied der „Gruppe und engen Vertrauten Lenins, liiert. im Kreis Meseritz (Miedzyrzecz), hochschule Kleinmachnow. März und nahmen ihrerseits Informationen Ulbricht“, Dozent an der SED- Seit 1925 KPD-Mitglied, arbeitete etwa 60 Kilometer östlich von Frank- 1949Parteihochschule Bruch mit dem Stalinismus Kleinmach und- und Direktiven von Walter Ulbricht Waldemar Ritter furt/Oder. Dort von einem sowjeti- Flucht ins titoistische Jugoslawien, entgegen.sie als freie Obwohl Publizistin Erich Honeckerund zeitwei be-- now. März 1949 Bruch mit dem se als Pressesprecherin der sowje- schen Offizier abgeholt, erreichten wir 1950Stalinismus Westdeutschland. und Flucht ins 1955 titois er-- reits am 10. Mai zu uns gestoßen war, Leugnung der nahmtischen er Handelsvertretung an diesen Beratungen in Berlin. nicht nach zweistündiger Fahrt den kleinen schientische Jugoslawien, sein heute wie 1950 vor fünfzigWest- teil;Wolfgang er wurde Leonhard erst im Herbst beschreibt 1945 inin Ort Schwerin (jetzt Skwerzina); wir Jahrendeutschland. lesenswerter 1955 Klassiker: erschien Die Verbrechen des unsereeinem Tätigkeit Hörfunkinterview einbezogen. aus dem wurden in eine sowjetischen Kom- Revolutionsein heute entlässt wie vor ihre fünfzig Kinder. Jah- Jahr 2009 seine Mutter als „eine Kommunismus mandatur höflich begrüßt, nahmen Seitherren lesenswerter als Publizist, Klassiker:Sowjetforscher Die Nach der Reise Ulbrichts, Ackermanns kämpferische Natur, die eindeutig unser Abendessen ein und übernachte- undRevolution Hochschullehrer entlässt ihre in Kinder. England, und Sobotkas nach Moskau vom 4.– Seite 11 politische Zielsetzungen wichtiger ten. Am nächsten Morgen – es war der USASeither und als Deutschland Publizist, tätig, Sowjetfor in der- 10. Juni 1945 und den dort stattfinden- nahm als die eigene Familie, eine 1. Mai 1945 – fuhren wir weiter. Nie- Zeitscher des und Kalten Hochschullehrer Krieges vom Hass in den Gesprächen mit Dimitroff und mand teilte uns mit, wohin die Reise Frau, die eigentlich keinen Fami- vorEngland, allem der USA deutschen und Deutsch und der- dem sowjetischen Politbüro (ein- geht. Erst Jahre später konnte ich un- liensinn hatte“. Das ging so weit, sowjetischenland tätig, inKommunisten der Zeit des verfolgt. Kal- schließlich Stalins!) folgte die Haupt- Lutz Rathenow sere damalige Route rekonstruieren. fügte Wolfgang hinzu, dass er von ten Krieges vomFoto: Hass Reiner vor allemMnich aufgabe: Die Neugründung der Kom- Von Schwerin fuhren wir über Alt- munistischenseiner Mutter Partei kaum Deutschlands Zärtlichkeit am der deutschen und der sowje- Limritz (Lemierzyce), Sonnenburg 11. Juni 1945, die Herausgabe der Par- IM, a.D. tive“: für die Bezirksverwaltungen in erfuhr. Mit monomanischer Beses- (Slonsk), Küstrin (Kostrzyn) und tischen Kommunisten verfolgt. teizeitung „Deutsche Volkszeitung“ Seite 16 den 20 Berliner Bezirken die entspre-  (Fortsetzung Seite 3) Strausberg, bis wir schließlich in Foto: Reiner Mnich und die Organisierung von Grün- chenden Antifaschisten zu suchen und Bruchmühle, etwa 35 Kilometer öst- dungsversammlungen der KPD in den zu ernennen. So schnell wie möglich lich von Berlin, ankamen. einzelnen Berliner Bezirken. Parallel sollten von uns funktionierende antifa- dazu erfolgte die Bildung des Organi- schistisch-demokratische Bezirksver- sationsausschusses zur Gründung ein- Ulbricht: „Es muss demokra- waltungen gebildet werden, in denen heitlicher Gewerkschaften (des späte- tisch aussehen, aber wir müs- die Schlüsselpositionen in den Händen ren FDGB), die Bildung des Aktions- sen alles in der Hand haben“ der Kommunisten liegen sollten, ande- ausschusses von SPD und KPD und rerseits aber Sozialdemokraten, „Bür- Unsere Wagen fuhren zu einem damals der Beginn der antifaschistischen Ju- gerliche“ und parteilose Spezialisten recht schmucken „Säulenhaus“ in der gendausschüsse (aus denen Pfingsten einzubauen seien. Zur Erklärung gab Buchholzer Straße 8. Der Ort war nicht 1946 die FDJ hervorging). Ulbricht die Direktive: „Es muss de- zufällig gewählt, denn hier befand sich mokratisch aussehen, aber wir müssen die Politische Hauptverwaltung der alles in der Hand haben.“ Propaganda, Geschichts- Ersten Belorussischen Front, d.h. der klitterung Armeen Marschall Shukows. Am Nach einer Woche, am 8. Mai 1945, Abend des 1. Mai 1945 erhielten wir wurden wir, die „Gruppe Ulbricht“, Über die Tätigkeit der „Gruppe Ulb- von Walter Ulbricht die erste „Direk- nach Berlin-Friedrichsfelde in die richt“ habe ich in meinem im Septem- 11 Bautzenforum

Inhaltsverzeichnis 22. Bautzen-Forum 5. – 6. Mai 2011 Martin Rooney Wolfgang Leonhard wird 90 50 Jahre Mauerbau Seite 1 Vom Leben mit dem „antifaschistischen Schutzwall“ 22. Bautzen-Forum Seite 2

Impressum Seite 2 Mit Vorträgen und Podiumsbeiträgen u.a. von Prof. Dr. Rainer Eckert Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Barbara Szkibik Roland Jahn – Dr. Hans-Jürgen Grasemann Oberstaatsanwalt, ehem. stellv. Leiter der der neue Chef Seite 7 Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter Roland Jahn Wolfgang Buschfort Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR Das Ostbüro der SPD Zum 100. Geburtstag von Prof. Dr. Christoph Kleßmann Stephan G. Thomas Seite 9 Historiker, Wolfgang Tiefensee, MdB Bundesminister a.D. Waldemar Ritter Leipziger Oberbürgermeister 1998-2005 Leugnung der Verbrechen Beginn: Donnerstag, 5. Mai 2011, 9.30 Uhr des Kommunismus Seite 11 Ende: Freitag, 6. Mai 2011, 13.00 Uhr Bautzener Bräuhaus, Thomas-Mann-Str. 7

Lutz Rathenow Programmanforderung und Anmeldung bis 26.04.2011 bei: Friedrich-Ebert-Stiftung IM, a.D. Seite 16 Büro Leipzig Burgstr. 25, 04109 Leipzig Tel.: 0341 – 9602431; Fax: 0341 – 9605091 Martin Rooney E-Mail:[email protected] Man(n) ist ja keine achtzig mehr Regimekritiker Erich Loest Seite 17 FREIHEIT UND RECHT

Armin Pfahl-Traughber Vierteljahresschrift für streitbare Demokratie „Demokratischer und Widerstand gegen Diktatur Sozialismus“ Seite 20 ISSN 05326605 Herausgeber: Dr. h.c. Annemarie Renger † Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern), www.bwv-bayern.org Jürgen V. Holdefleiß Redaktion: Jürgen Maruhn, Tel. 089/1576813, E-Mail: [email protected] Heimliche Rache aus der Druck: Verlag Nürnberger Presse Druckhaus Nürnberg. DDR-Vergangenheit ? Seite 21 Das Bezugsgeld ist bei den Mitgliedern des BWV-Bayern durch den Mitgliedsbei- trag abgegolten. Mit dem Bezug unserer Vierteljahresschrift ist aber keine Mitglied- schaft im BWV-Bayern verbunden. Alle Nachrichten werden nach bestem Wissen, aber ohne Gewähr veröffentlicht. Neuerscheinungen Seite 24 Mit dem Namen des Verfassers gezeichnete Artikel stellen nicht unbedingt die Mei- nung der Redaktion dar. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion.

2 Ein herzliches Dankeschön allen Spenderinnen und Spendern 2010 ! Liebe Leserinnen und Leser, der Bund Widerstand und Verfolgung als Heraus- bitten weiterhin um (kleine und kleinste und gern geber der ausdrücklich antiextremistischen Viertel- auch größere) Spenden. jahresschrift FREIHEIT UND RECHT dankt Ihnen für alle im Jahre 2010 geleisteten Spenden. Viele Die Konto-Angaben lauten: Leser ermuntern uns, nicht nachzulassen und das FREIHEIT UND RECHT, Blatt nicht einzustellen. Dem folgen wir gern, so Konto-Nr. 0107982496, BLZ 701 900 00, weit die „Puste“ reicht. Deshalb warten die Heraus- Münchner Bank. geber nicht nur auf „Staatsknete“, sondern setzen auch auf zivilgesellschaftliches Engagement und Mit freundlichen Grüßen Der Herausgeber

(Fortsetzung von Seite 1) Erfahrungen durch, die der Hoch- Deutschland: zehn Revolutionäre, senheit widmete sich Susanne Leon- stalinismus für kommunistische Wolfgang war der jüngste mit 24 hard der Sache des Proletariats und Emigranten bereithielt. Susanne Jahren, die anderen waren zwi- der Weltrevolution. Der kleine Wolf- Leonhard wurde im Herbst 1936 schen 42 und 50 Jahre alt, die ein gang störte sie offensichtlich dabei, anlässlich der stalinistischen Säube- halbes Land neu erfinden durften. wurde daher oft zu anderen Leuten rungen verhaftet und für zwölf Jahre Leonhard ist übrigens heute der ein- gegeben oder ins Landschulheim in ein GULag bei Workuta depor- zige Überlebende der „Gruppe Ul- geschickt. tiert. Der junge Wolfgang verbrachte bricht“. Nach der Stille im Flugzeug diese Zeit im „Kinderheim Nr. 6“ („unter Stalin hat man nicht viel 1931 zog Susanne Leonhard mit und besuchte die deutschsprachige geredet“, erinnert sich Leonhard, ihrem Sohn in die linke Künstler- „Karl-Liebknecht-Schule“ in Mos- der von nun an – auf Weisung Ul- kolonie am Laubenheimer Platz in kau. Anschließend wechselt er auf brichts – einen deutschen statt eines Berlin-Wilmersdorf. Viele promi- eine russische Schule in Moskau. russischen Vornamens trug) dann nente kommunistische Kulturschaf- Mit 19 Jahren begann Wolfgang die Ankunft in Bruchmühle bei Ber- fende wohnten dort: Johannes R. Leonhard ein Studium an der „Mos- lin. In Bruchmühle wurde ein impo- Becher, Ernst Bloch, der „Barrika- kauer Pädagogischen Hochschule santes, dreistöckiges Gebäude mit den-Tauber“ Ernst Busch und der für Fremdsprachen“. Nach dem großen Fenstern bezogen und zum Agitprop-Dichter Erich Weinert, Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sitz der Gruppe Ulbricht umfunk- Publizisten wie Axel Eggebrecht, Sowjetunion wurde er als Deutscher tioniert. Es folgten tägliche Fahrten Alfred Kantorowicz, Gustav Regler, in den Norden Kasachstans zwangs- im Auto nach Berlin. Überall gab es Arthur Koestler und Manès Sper- umgesiedelt, wo er bis Sommer Feuer, Rauch, Bombentrichter, Ru- ber. Seine Mutter schickte ihn auf 1942 ein Lehrerinstitut in Karagan- inen stürzten ein. Leonhard sollte die Neuköllner „Karl-Marx-Schule“ da besuchte. die Bezirksverwaltung Wilmers- und zu den „Jungen Pionieren“, der dorf aufbauen, er suchte mögliche Kinderorganisation der KPD. So Anschließend wurde Leonhard an Verbündete, Bürgerliche, sprach geriet er früh in den Bannkreis des die Schule der Komintern in Ku- einen Mann mit Krawatte an. Zu Marxismus und des Leninismus. Da schnarenko (Baschkirische ASSR) dieser Zeit fiel Ulbrichts berühmter hieß es dann: „Du bist ein großer versetzt und erhielt dort, unter dem Satz: „Es muss demokratisch aus- Junge.“ Das bedeutete, dass er von Tarnnamen „Wolfgang Linden“, sehen, aber wir müssen alles in der nun an wie ein Erwachsener be- eine Ausbildung zum kommuni- Hand haben.“ Leonhard war Zeuge handelt wurde. Direktiven, die man stischen Politkommissar. Dort be- der von den Kommunisten propa- für den illegalen Kampf gegen die gegnete er alten Freunden aus der gandistisch geschickt inszenierten Nazis brauchte, erhielt er schon als Karl-Liebknecht-Schule wieder, die „Zwangs- und Betrugsvereinigung“ Elfjähriger. Nach der Machtergrei- sich alle zur strikten Einhaltung der () von SPD und fung der Nationalsozialisten wurde Regeln der Konspiration verpflich- KPD zur SED am 21. und 22. April er im Herbst 1933 nach Viggbyholm tet hatten, z.B. Jan Vogeler („Da- 1946 im Berliner Admiralspalast. bei Stockholm in ein Internat in Si- nilow“), Stefan Doernberg („Ad- Leonhard saß in der zweiten Reihe cherheit gebracht. Bis Frühsommer ler“), und Markus Wolf („Förster“). rechts. In seinem Kopf nisteten erste 1935 blieb seine Mutter im natio- Nachdem Stalin am 10. Juni 1943 Zweifel an der Linie seiner neuen nalsozialistischen Deutschland und die Kommunistische Internationale Partei. Bis September 1947 war er leistete illegale Widerstandsarbeit. aufgelöst hatte, wurde die Schule Mitarbeiter der Abteilung Agitati- Im Frühjahr 1935 besuchte Susan- geschlossen. Dann arbeitete Leon- on und Propaganda und setzte an- ne Leonhard ihren Sohn in Schwe- hard als Sprecher am Sender „Freies schließend zwei Jahre lang als Do- den und kehrte nach zwei eindring- Deutschland“ des Nationalkomitees zent an der SED-Parteihochschule lichen Warnungen nicht mehr nach Freies Deutschland in Moskau. Karl Marx in Kleinmachnow seine Deutschland zurück. Da in Schwe- Ende April 1945 gehörte er zu den Karriere fort. Er verstand es, wie den keine Aufenthaltsgenehmigung zehn kommunistischen Funktio- kaum ein anderer, ideologische Fra- zu bekommen war, emigrierte sie nären, die unter Führung Walter gen verständlich in Broschürenform mit ihrem Sohn, der damals die so- Ulbrichts von Stalin nach Berlin aufzubereiten und mit Witz und wjetische Staatsbürgerschaft besaß, geschickt wurden, um die kommu- Elan die Nachwuchskader zu un- über Leningrad nach Moskau. Dort nistische Partei aufzubauen, den terrichten. Im Mai 1949 – Tito hatte machten Mutter und Sohn fast alle antifaschistischen Staat, das neue sich bereits 1948 dem Vormachtsan-

3 Wolfgang Leonhard

spruch Moskaus widersetzt und mit Geschicke von achtzehn Millionen Sozialdemokratie, die Leonhards Stalin gebrochen – floh er auf der Menschen bestimmt.“ Buch zu einer unentbehrlichen Suche nach einem besseren Sozia- Im Staat Sowjetunion und den in Quelle für die Geschichtsschrei- lismus nach Jugoslawien und kam ihrem Machtbereich nach 1945 ent- bung über die frühen Jahre der DDR 1950 in die Bundesrepublik. Ein stehenden Satellitenstaaten war der macht. Mit einer Gesamtauflage von Jahr später war Leonhard führend strikt abgeschottete Bereich der Po- über eine Million Exemplaren ist es an der Gründung der Unabhän- litik der kritischen Öffentlichkeit des auch bis heute ein Standardwerk ge- gigen Arbeiterpartei Deutschlands eigenen Landes wie des Auslandes blieben. (UAPD) beteiligt und brachte dabei entzogen. Entsprechend groß war Leonhard beschränkt sich in sei- die wohlwollende Unterstützung der daher das Interesse an fundierten nem Buch nicht auf die eigenen jugoslawischen Genossen mit ein. Informationen über diese Länder. Erinnerungen an seine Zeit auf der Die UAPD war eine Gründung von Besonders krass musste diese In- deutschen Schule in Moskau, auf ehemaligen KP-Mitgliedern, von formationslücke über die nun kom- der Parteischule und im Apparat Trotzkisten und „heimatlosen Lin- munistisch kontrollierte SBZ/DDR der kommunistischen Partei. Er ken“, die unter der Losung „Nicht im westlichen Teil Deutschlands vervollständigt und ergänzt seine Ost, nicht West, unabhängig und empfunden werden, war doch hier persönliche Erinnerung vielmehr sozialistisch“ einen „dritten Weg“ plötzlich ein Teil des Landes her- mit Dokumenten, Angaben, die er propagierte; sie fiel schon 1952 aus- metisch abgeriegelt, und war doch aus anderen Quellen gewonnen hat. einander. Danach veröffentlichte die politische Konfrontation hier Solche über die eigene unmittelbare der Westberliner DGB eine Ausei- besonders hart. Systematische und Erinnerung hinausgehenden und nandersetzung mit Geschichte und zusammenhängende Darstellungen nachgearbeiteten Teile sind etwa die Gesellschaft der Sowjetunion aus konnten dabei nur die Überläufer Artikel der „Prawda“ während der der Feder Leonhards. In „Schein liefern, weil nur sie über ausrei- Säuberungen, die Rede Molotows und Sein in der Sowjetunion“(1952) chende Kenntnisse von den Ereig- beim Überfall Nazi-Deutschlands analysierte er die Sowjetunion als nissen im inneren, nichtöffentlichen auf die Sowjetunion, die offiziellen Staatskapitalismus sowie die ver- Machtbereich verfügten. Frühe Bei- Begründungen über die Komintern- hängnisvolle Rolle Stalins, unter spiele solcher Darstellungen sind Auflösung, Auszüge aus dem- Ar dessen Herrschaft „die Abkehr vom das Buch von Fritz Löwenthal „Der tikel Anton Ackermanns über den Roten Oktober“ begonnen habe. neue Geist von Potsdam“(1948) mit besonderen deutschen Weg zum 1955 veröffentlichte Leonhard sein seiner Schilderung des Justizwesens Sozialismus und anderes. Leonhard berühmtes Buch „Die Revolution in der DDR und Fakten, die er nur ergänzt diese Details durch Berichte entlässt ihre Kinder“. Es ist sein aufgrund seiner Position als Leiter über die subjektiven Reaktionen auf Lebensbericht, der nach eigenen der Justizaufsicht hatte sammeln politische Ereignisse. Sie dienten Worten zum ersten Mal Einblick in können. Einblick in die Arbeit des dem besseren Verständnis der ob- die Bildung und Erziehung der Par- „Nationalkomitees Freies Deutsch- jektiven Entwicklung, aber auch der teielite in der Sowjetunion und in land“ unter den kriegsgefangenen Entlarvung von KP-Mitgliedern, die sowjetische Nachkriegspolitik deutschen Soldaten und Offizieren wie nach dem Hitler-Stalin-Pakt. in Deutschland gibt. Im Vorwort zu in der Sowjetunion vermittelte Hein- Eine Grenze findet solches unmit- seinem Buch schreibt er: rich Graf von Einsiedels „Tagebuch telbar personenbezogenes Berichten „Dieses Buch berichtet von meinen der Versuchung“(1950). für Leonhard immer dort, wo noch Erlebnissen während meines zehn- Aus dem „Innersten der Macht“ im Machtbereich der Sowjetunion jährigen Aufenthaltes in der Sowjet- des Sowjetsystems berichtete aber lebende Menschen gefährdet wer- union (1935-1945) und meiner vier- erst Wolfgang Leonhards 1955 er- den könnten. So kann er über op- jährigen Tätigkeit als Funktionär schienenes Buch „Die Revolution positionelle Tendenzen im sowje- im zentralen Apparat der SED-Füh- entlässt ihre Kinder“, das in der tischen Komsomol nicht detailliert rung (1945-1949), von sowjetischen Forschungsliteratur zum Thema berichten. Schulen und Universitäten, von Stu- Bruch mit dem Kommunismus als Das „Nacharbeiten“ und Überprüfen denten und Komsomolzen, von den „das wichtigste und am weitesten der eigenen Erinnerung zumindest Tagen des Kriegsausbruchs in Mos- verbreitete Buch dieser Art“ (Her- im Faktischen ist zweifellos ein üb- kau und vom Leben in der Kriegs- mann Kuhn) bezeichnet wird. In licher Arbeitsgang beim Verfassen zeit in Karaganda, von der Ausbil- der politischen und wissenschaft- einer autobiographischen Schrift, dung ausländischer Funktionäre lichen Diskussion in der Bundes- erst recht dort, wo es um einen ex- auf der Kominternschule und vom republik der fünfziger Jahre waren poniert politischen Lebenslauf geht: Nationalkomitee Freies Deutsch- es vor allem die Enthüllungen über zur Überprüfung der eigenen Erin- land, von der Gruppe Ulbricht im die Kominternschule, die Arbeit des nerung wie auch zur nachholenden Mai 1945, von den ersten Schritten Nationalkomitees in Moskau, über Selbstverständigung über die gesell- der sowjetischen Politik im Nach- den Einsatz der „Gruppe Ulbricht“ schaftlichen Hintergründe und Zu- kriegsdeutschland, vom Aufbau des im Nachkriegs-Berlin, über die sammenhänge, die man im unmit- sowjetzonalen Staatssystems und zielstrebige, manipulative Taktik telbaren Erleben nicht vollständig von der Partei, die heute als die der kommunistischen Nomenklatur- wahrnehmen konnte. Dass solche Staatspartei in der Sowjetzone die kader bei der Ausschaltung der Dokumente bei Leonhard nicht nur

4 Wolfgang Leonhard

in die Erinnerungen indirekt einge- zunächst mehr untergründig. Der nismus wie gegen Schönfärberei. Er hen, sondern auch im Original mit- konkrete Anlass für den Bruch mit habe, fügte er abschließend hinzu, geteilt werden, soll den Charakter der Partei ist die Behandlung der ju- nie die Hoffnung auf eine Transfor- des Berichtes als historisches Quel- goslawischen Frage durch die SED- mation der bürokratischen Diktatur lenbuch beglaubigen. Führung. Bruch mit der Partei aber zu einem Sozialismus mit mensch- Leonhards Buch ist in seiner Struktur bedeutet auch, die Frage der Flucht lichem Antlitz aufgegeben. Es wa- einerseits durch seine außergewöhn- stellen zu müssen. Denn aus der ren wohl stets seine Fairness und liche und hervorgehobene Stellung kommunistischen Partei kann man sein von Eifer freier Grundton, die im kommunistischen Machtappa- nicht einfach austreten. Leonards Leonhard von nun an seine besonde- rat bestimmt, die ihn zu sonst nicht Buch endet mit der Schilderung re Glaubwürdigkeit als Schriftsteller möglichen Berichten ermächtigt. dieser Flucht nach Jugoslawien. Im und Publizist verliehen. Aber sofern sie auch eine Lebensge- Schlussbild noch einmal die Quint- Von 1956 bis 1958 absolvierte Le- schichte ist, deren vorläufiges Ende – essenz des Lebensabschnittes zu- onhard Post Graduate Studies un- der Bruch mit der kommunistischen sammengefasst, wie ihn Leonard ter dem renommierten Ostexperten Partei – gerade Voraussetzung für als Gegenstand seines Berichtes ge- R.N. Carew-Hunt am St. Anthony’s dieses Erzählen ist, ist eine andere staltet hat: der Stalinismus hat sich College an der Universität Oxford. innere Struktur für das Buch maß- nach zunächst widersprüchlichen In England lernte er, seinen bishe- geblich, die letztlich die Ebene der Erfahrungen als Irrweg gezeigt, der rigen Glauben an die Klassiker des Enthüllungen nur mittransportiert: verhängnisvolle Folgen zeitigt. Aber Marxismus in Frage zu stellen, und die Darstellung des Bruchs mit dem wenn man ihn verlässt, so Leonhards er orientierte sich anschließend neu. Stalinismus. Leonhard schreibt: „Di- Überzeugung damals, dann bleiben 1963 bis 1964 arbeitete er als Seni- ese Entscheidung ist das Ergebnis Marx, Engels, Lenin, es bleibt der or Research Fellow am Institut für eines jahrelangen, qualvollen Pro- jugoslawische Versuch mit der Ar- Russlandforschung der Columbia zesses des Zweifelns und der Recht- beiterselbstverwaltung. Die Revo- Universität in New York. In den Jah- fertigung, der Gewissensqualen und lution entlässt ihre Kinder heißt das ren 1966 bis 1987 lehrte er jeweils der konstruierten Theorien zu ihrer Fazit, sie frisst sie nicht mehr. im Sommersemester an der Histo- Beruhigung“. Hierin aber, in diesem Wolfgang Leonhard hat seinen au- rischen Fakultät der Yale University Prozess, ist sein Leben gerade nicht tobiographischen Bericht im Alter mit den Schwerpunkten „Geschich- herausragend und einmalig, sondern von 34 Jahren veröffentlicht. Er um- te der UdSSR“ und „Geschichte der eher repräsentativ, ein Schlüssel fasst die in hohem Maße politisierte kommunistischen Weltbewegung“. zum Verständnis des Fühlens und Lebensphase als Parteikader, des- Aufgrund dieser äußerst günstigen Denkens „der neuen Generation der sen Leben sich innerhalb der Partei Arbeitsbedingungen an der ameri- geschulten Parteifunktionäre des abgespielt und sich auch freiwillig kanischen Elite-Universität konnte Ostblocks“. Man müsse es kennen, so definiert hat. Über persönliche, er also immer für ein halbes Jahr sei- wenn man auf diese Generation, die private Dinge wird kaum etwas mit- ner Forschungsarbeit nachgehen und jetzt in die Machtposition einrücke, geteilt. Politische Entscheidungen, in der Bundesrepublik seine Bücher einwirken wolle. Dieser „operative“ politische Diskussionen bilden die schreiben. Immer ging es Leonhard Gesichtspunkt ist bei Leonhard sehr Punkte der Entwicklung, an denen um das, was seit den Kindheitstagen stark. Begeisterung, Engagement, sie sich verwirrt, verknotet durch sein Leben bestimmt hatte, um den dann auch negative Erfahrungen; irritierende, störende Erfahrungen, Kommunismus und die Sowjetuni- Kritik, aber Unterordnung der Kri- oder aber sich löst und beschleunigt on. Kontinuitäten und Diskontinu- tik unter die positive Gesamthaltung – durch neue Hoffnungen, Hoff- itäten, Krisen und Wandlungen in gegenüber der Sowjetunion und der nungswünsche und schließlich den der Sowjetunion beobachtete und kommunistischen Partei: das ist das Bruch mit der SED. Dieses Überge- beschrieb er unablässig, nicht nur mit tiefer Sachkenntnis, sondern Grundmuster, in dem Leonhard in wicht des Politischen ist nicht allein auch mit Phantasie und Tempera- immer neuen Wellenbewegungen durch die Gattung und den Zweck ment. Zu seinen wichtigsten Veröf- auf den Bruch mit der Partei hin er- des Buches bestimmt. Die politische fentlichungen aus jener Zeit zählen zählt. Entwicklung ist für Leonhard in „Kreml ohne Stalin“ (1963), „Nikita hohem Maße unmittelbar von da- Ähnlich wirken die Rückschauen, in Sergejewitsch Chruschtschow. Auf- maligen politischen Vorgängen und denen sichtbar wird, dass die Kritik- stieg und Fall eines Sowjetführers“ Entscheidungen abhängig gewesen. punkte früherer Jahre zwar theore- (1965), „Die Dreispaltung des Mar- tisch irgendwie bewältigt, doch kei- Wolfgang Leonhard selbst sagte in xismus. Ursprung und Entwicklung neswegs völlig erledigt waren. Das einem Rückblick aus dem Jahr 1981 des Sowjetmarxismus, Maoismus zentrale Kapitel „Mein Bruch mit auf die Entstehungsgeschichte des und Reformkommunismus“ (1975), dem Stalinismus“ beginnt mit einer Buches, dass er schon in seinem „Am Vorabend einer neuen Revolu- solchen Rückschau, auf der aufbau- autobiographischen Bericht den Be- tion. Die Zukunft des Sowjetkom- end dann die unmittelbare Entwick- ginn seiner späteren wissenschaft- munismus“(1975) sowie „Eurokom- lung, die zum Bruch mit der SED lichen Kommunismusforschung munismus. Herausforderung für Ost führt, geschildert wird. Leonards sehe, dass er hier wie später ange- und West“ (1980). 1987 durfte er als Bericht ist auf den Endpunkt, den schrieben habe sowohl gegen Hass- offizielles Mitglied der Delegation Bruch, hin strukturiert, aber dies gefühle von blindem Antikommu- des Bundespräsidenten Richard von

5 Wolfgang Leonhard

Weizsäcker zum ersten Mal seit 42 Seit Ende der 80er Jahre besucht Le- Jahren die Sowjetunion besuchen. onhard regelmäßig die Sowjetunion, Sein Interesse am zweiten deut- dann Russland und einige andere schen Staat indes erlosch nie. Fas- GUS-Staaten. Seit 1993 war er sie- ziniert beobachtete und kommen- benmal als OSZE-Wahlbeobachter tierte Wolfgang Leonhard dessen bei den Wahlen in Russland, Weiß- Entwicklung, warb für die Unter- russland und zuletzt in der Ukraine. stützung der Menschen „drüben“ Als Ertrag dieser Reisen sind zwei und warnte immer wieder davor, Bücher entstanden, welche die Ent- das diktatorische Regime von Ul- wicklungen im vorangegangenen bricht bis Honecker allzu sehr auf- Jahrzehnt nuanciert schildern. In zuwerten. Das trug ihm nicht selten „Die Reform entlässt ihre Väter“ den Ruf eines Entspannungsgegners (1994) analysiert er den gewaltigen ein. Den Konservativen war er als Transformationsprozess, der 1985 Exkommunist nicht ganz geheuer, Der Autor mit der Ernennung Gorbatschows die orthodoxen Linken, etwa der Dr. Martin Rooney, geb. 1948 begann und über den August-Putsch Marburger Schule, störte seine De- in Manchester. Studium Ger- 1991 zum Zusammenbruch der So- tailkenntnis bei ihrer unreflektierten manistik, Philosophie und So- wjetunion und nach den blutigen kremlphilitischen Option. Doch seit ziologie an den Universitäten Oktoberkämpfen 1993 in Moskau den Ereignissen des Herbstes 1989 Birmingham, Mainz, FU Ber- zum unerwarteten Wahlerfolg des hat die historische Entwicklung sei- lin und Bremen. B.A. (Hons.) Rechtsextremisten Shirinowski ne Position eindrucksvoll bestätigt. und Dr. phil. Lehrbeauftrag- führte, der wiederum eine Kursän- 1990 erschienen unter dem Titel ter an der Hochschule Bre- derung der russischen Politik auslö- „Das kurze Leben der DDR“ Le- men. 1. Vorsitzender der Ar- ste. Im Gegensatz zu den fast täglich onhards Berichte, Kommentare und min T. Wegner-Gesellschaft veröffentlichten Hiobsmeldungen in Porträts aus vier Jahrzehnten über 1986 - 1999. Seit 1990 freier den westlichen Medien über Russ- den ostdeutschen Staat. Sie beru- Autor, Übersetzer und Erwachse- land skizziert Leonhard realistische hen auf vielen persönlichen Erinne- nenbildner in Bremen. Zukunftsperspektiven für das Land rungen. Er beherrscht die Quellen und unterbreitet Vorschläge, wie der und arbeitet sie zielsicher in seine Westen den labilen Reformprozess Analysen ein. Der Antifaschismus schlagung der sozialdemokratischen wirksam unterstützen kann. Wie in der DDR, erläutert Leonhard, Arbeiterbewegung, der unabhän- weit ist Russland auf dem Weg zur war von oben verordnet und blind gigen Gewerkschaften und der frei- Marktwirtschaft? Dieser Frage geht gegenüber massiven Unterdrü- gewählten Betriebsräte. Ulbrichts Leonhard in „Spiel mit dem Feuer“ ckungstendenzen und Rechtsbrü- Direktive von Mai 1945, die Leon- (1996) nach. Die Entwicklung zeigt, chen im eigenen politischen Lager, hard überliefert, lautete unmissver- so Leonhard, dass westliche Model- da er keine positive Begründung ständlich: „Es muss demokratisch le nicht einfach übertragbar sind: in Liberalität, Freiheits- und Men- aussehen, aber wir müssen alles in Privatisierung, Produktionsrück- schenrechten hatte. Weitgehend der Hand haben.“ Entsprechend ri- gang, Rüstungskomplex, Mafia, Alt- vergessen und verdrängt wurde da- goros verfuhr dann auch die kom- kommunisten und Umweltprobleme durch die Existenz eines manifesten munistische Nomenklatura gegen haben eine schwer zu durchschauen- Antisemitismus. So waren die Opfer die Sozialdemokraten. Die alten bür- de Dynamik entwickelt. Präzis und der von Stalin befohlenen Schaupro- gerlichen Eliten wurden in die Bun- übersichtlich beleuchtet der Autor zesse vor allem Juden, und auch die desrepublik vertrieben und durch die verschiedenen Wechselwir- Diskriminierung und Ausbootung eine in Abhängigkeit von der SED kungen und Folgen dieser komple- der sogenannten „Westemigranten“ neu entstehende Oberschicht ersetzt. xen Prozesse. Ende der vierziger, Anfang der fünf- Mit der Verteufelung der These An- ziger Jahre in der DDR, war antise- ton Ackermanns vom „besonderen In seiner neuesten Buchveröffent- mitisch gefärbt. Die Durchführung deutschen Weg zum Sozialismus“ lichung „Anmerkungen zu Stalin“ eines Schauprozesses gegen den jü- und der Verkündigung der neuen (2009) äußert sich Leonhard mit dischen Kommunisten Heinz Brandt Parteidoktrin, dass es nur den sowje- großer Bestürzung über den neu- - wie so viele andere - verhinderte tischen Weg zum Sozialismus gebe, erlichen Stalin-Kult in Russland. keineswegs die SED-Führung unter wurden die Weichen für die Stalini- Mehr als ein halbes Jahrhundert Walter Ulbricht, sondern der Tod sierung der SBZ gestellt. Entspre- nach Stalins Tod ist, so Leonhard, Stalins am 5.März 1953 mit den chend desolat waren dann auch die in Russland deutlich zu spüren, dass darauffolgenden Veränderungen in Ergebnisse dieses „Kasernen-Sozi- eine historische Figur ein makabres der UdSSR in Richtung auf eine alismus“. Anschaulich beschreibt Comeback feiert. Die Russen ha- zaghafte Entstalinisierung, die ab Leonhard, wie eine aufgeblähte und ben den blutrünstigen Diktator zur 1957 zum Stillstand kam. Die lang- unfähige Staats- und Wirtschaftsbü- bedeutendsten Persönlichkeit ihrer fristigen historischen Ursachen des rokratie die DDR überanstrengte. Geschichte gewählt, eine gründliche Zusammenbruchs der SED-Diktatur In den siebziger Jahren begann die Aufarbeitung seiner Gewaltherr- sieht Leonhard vor allem in der Zer- wirtschaftliche Talfahrt. schaft findet nicht statt. Vielmehr

6 Roland Jahn

fördert Wladimir Putin die Renais- senkampf“ in der Periode des sozia- Fazit: Der einstige Komintern-Schü- sance Stalins. In einem 2007 von listischen Aufbaus und gaukelte der ler Wolfgang Leonhard ist seit mehr Putin herausgegebenen Leitfaden Bevölkerung 1945 vor, nach dem als 60 Jahren Zeitzeuge und Histori- für den Geschichtsunterricht heißt Krieg werde sich das Regime libe- ker zugleich - und genau deswegen es: „Stalin verlangte das Unmög- ralisieren - das Gegenteil war der sind Leonhards Werke so ausgespro- liche von den Menschen, um das Fall. Nur der Tod Stalins verhinder- chen lesenswert. Sein Leben steht für Maximum zu erreichen.“ Ähnlich te eine neue Säuberungswelle, die die Kontinuitäten wie für die Brüche den „Anmerkungen zu Hitler“ von im Januar 1953 offiziell eingeleitet des 20. Jahrhunderts. Anlässlich sei- Sebastian Haffner, konzentriert sich wurde. Der neuerliche Stalin-Kult nes 90. Geburtstags haben wir eine Leonhard auf das Wesentliche zu lässt einen erschaudern. Bleibt zu ebenso unverwechselbare wie impo- Person und Politik Stalins. Er fragt hoffen, dass Leonhards eindrucks- nierende Lebensleistung zu ehren. nach den Ursachen von Stalins Auf- volle Beschreibung Stalins intensiv Deswegen schicken wir einen herz- stieg, analysiert seine Politik und gelesen wird – in Deutschland wie lichen Geburtstagsgruß in die Eifel Ideologie. Er sieht in Stalin nicht nur in Russland. nach Manderscheid. den reinen Machtpolitiker, sondern er untersucht auch die Ideologie des Stalinismus. Insbesondere habe Stalin ein Gespür für die Stimmung der „Masse“ gehabt. Sein Sieg über Roland Jahn – Trotzki verdanke er im wesentlichen der Tatsache, dass er dem Ruhebe- dürfnis des Volkes durch „realis- der neue Chef tische Ziele“ - etwa „die Revoluti- on in einem Lande“ gegenüber der Zum Amtsantritt des neuen Bundesbeauf- „Permanenten Revolution“ Trotzkis - scheinbar entgegenkam. Dass seine tragten für die -Unterlagen Herrschaft dem jungen Sowjetstaat Auch mehr als 20 Jahre nach der Errichtung der Stasi-Unterlagenbe- keine Ruhe brachte, sondern totalen hörde sind persönliche und behördliche Nachfragen nach Aktenaus- Terror, zeigte sich nach 1924 beim künften, ist das Interesse von Medien und Öffentlichkeit sowie von Aufstieg des georgischen Schu- Wissenschaft und Forschung ungeschmälert. Das riesige „Rohstoffla- stersohnes zum kommunistischen ger“ für die notwendige Aufarbeitung des kommunistischen Regimes in Diktator. Wie raffiniert Stalin bei Deutschland (1945 – 1989) wird sicher noch zwei weitere Jahrzehnte seiner Machtübernahme vorging, gebraucht. Nach jeweils zwei Amtszeiten von Joachim Gauck und Ma- zeigt Leonhard bei seiner Analyse rianne Birthler hat nun Roland Jahn das Amt des Bundesbeauftragten der Rede Stalins anlässlich der Bei- für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR setzung Lenins. Leonhard: „Genau übernommen. Wer ist der neue „Herr der Akten“, der am 14. März 2011 in dem Moment, als die Parteispitze sein Amt angetreten hat? ein Bild der Auflösung bot, stiftete er inneren Zusammenhalt und gab den verunsicherten Genossen neuen Von Barbara Szkibik Mut.“ Schon wieder so ein West-Jour- eine Protestwelle sondergleichen Die Kapitel über den Aufstieg Sta- nalist, dachte ich, als Roland Jahn in Ost und West aus. Nicht nur be- lins und die „Ideologie“ des Stali- vom Sender Freies Berlin im Januar kannte Künstler und Intellektuelle nismus sind die interessantesten im 1990 beim Bürgerkomitee in der be- solidarisierten sich mit Biermann, Buch. Leonhard konstatiert frap- setzten Staatssicherheitszentrale in auch für die kritische Jugendoppo- pierende Widersprüche zu grund- der Berliner Normannenstraße auf- legenden marxistischen Theorien. siton der DDR, zu der Jahn bereits tauchte. Doch er war mehr als das, seit seiner Schulzeit gehörte, wur- Stalin blähte, zum Beispiel, die wie ich dann von einigen Mitstrei- Bürokratie auf, wo doch Marx und de die Biermann-Ausbürgerung zu tern erfuhr, die mit dem Namen Ro- einem Kristallisationspunkt viel- Engels „das Absterben des Staates“ land Jahn etwas verbinden konnten. gefordert hatten. Die Edition ihrer fältiger Protestaktionen. Solche Gesamtwerke stellte er ein. Stalin Roland Jahn aus Jena, Jahrgang kosteten dann auch ihn seinen Stu- ließ kollektivieren, liquidieren und 1953, studierte seit einem Jahr dienplatz, er wurde aus politischen terrorisieren. Und er verbündete sich Wirtschaftswissenschaften an sei- Gründen exmatrikuliert und landete mit Hitler: „Ich weiß, wie sehr das ner heimischen Friedrich-Schiller- „zur Bewährung in der Produktion“ deutsche Volk seinen Führer liebt.“ Universität, als 1976 der kritische als Transportarbeiter bei Carl Zeiss Interessant auch, warum Stalin nicht Liedermacher und Lyriker Wolf Jena, freilich ohne seine politische auf Widerstand in der leidgeprüften Biermann von den DDR-„Organen“ Gesinnung aufzugeben. Er machte Bevölkerung stieß, als sein Terrorre- ausgebürgert wurde – eines der weiter, unter anderem mit „staats- gime immer offensichtlicher wurde. größten Eigentore der Machthaber, feindlichen“ Traueranzeigen für So rechtfertigte er den Terror mit wie im Nachhinein festzustellen seinen unter bis heute ungeklärten dem angeblich „verschärften Klas- war. Denn diese Maßnahme löste Umständen 1981 in der Stasi-Haft

7 Roland Jahn

ums Leben gekommenen Freund Während der DDR-Revolution be- Matthias Domaschk. Auf eine Sym- richtete Jahn über Demonstrati- pathiebekundung mit der polnischen onen, Stasi-Fälle und den Machter- Solidarnosc folgte 1982 eine mehr- haltungskampf der SED; bis heute monatige Haftstrafe, die aufgrund widmet er sich dem Thema Aufar- von Protesten aus der Bundesrepu- beitung der SED-Diktatur. Seit 1991 blik verkürzt wurde. Während der arbeitet der Journalist fest beim Ber- Haft hatte man ihn mit der Lüge, liner TV-Politikmagazin Kontraste. seine Lebensgefährtin und sein Kind Seit 1996 sitzt der Bürgerrechtler im befänden sich bereits im Westen, zur Beirat der Robert-Havemann-Ge- Unterschrift unter einen Ausreisean- sellschaft, seit 1999 ist er im Fach- trag genötigt, den er jedoch nach seiner vorzeitigen Haftentlassung beirat der Stiftung zur Aufarbeitung zum Entsetzen der Staatsmacht um- der SED-Diktatur tätig. 1998 wird gehend zurückzog. Roland Jahn das Bundesverdienst- kreuz, 2005 der Bürgerpreis zur Unbeeindruckt von der Haft setzte deutschen Einheit verliehen. 2010 er seinen Widerstand fort, insbeson- erhält er die Dankbarkeitsmedaille dere mit anderen Oppositionellen im der Solidarnosc, wegen der er 1983 Rahmen der Friedensgemeinschaft Roland Jahn. ins Gefängnis gehen musste. Jena, einer Gruppierung, die das Foto: Robert-Havemann- Nun ist also Roland Jahn zum Nach- schützende Dach der Kirche ver- Gesellschaft / RBB Kontraste. lassen hatte und Auftritte in der Öf- lassverwalter ausgerechnet des „Or- fentlichkeit organisierte und die sich gans“ geworden, das ihm einst so nicht im Sinne der scheinheiligen wieder heraus. Ihre „Kuriere“ waren übel mitgespielt hat. An das Amt DDR-Propaganda für einseitige Ab- Abgeordnete und Diplomaten. Un- des Bundesbeauftragten werden rüstung der NATO aussprach, son- ter anderem entstanden so die spek- hohe Anforderungen gestellt, man- dern sich auch gegen die allgemeine takulären Aufnahmen von den Leip- che Kritiker haben ihm fehlende Militarisierung in der DDR und ge- ziger „Montagsdemos“1989, die auf Verwaltungserfahrung vorgehalten. gen die sowjetischen Atomraketen allen westdeutschen TV-Kanälen in Er konterte mit dem Argument, dass richtete. die DDR zurück gesendet wurden die Bundeskanzlerin diese als Phy- und dazu beitrugen, die Revolution sikerin auch nicht hätte. Aber das ist Das war für die Staatsmacht end- unumkehrbar zu machen. nicht die Kernfrage, zum Verwalten gültig zu viel. Sie holte aus zur Der Bürgerrechtler war zum Jour- gibt es gut ausgebildetes, erfah- „Operation Gegenschlag“, mehr als renes Personal. Das Amt des Bun- 40 Oppositionelle wurden im Mai nalisten geworden. Er produzierte unter Pseudonym für das Magazin desbeauftragten für die Stasi-Akten 1983 in den Westen abgeschoben. ist ein über alle Maßen politisches Auf persönliche Anweisung von „Kontraste“ des Senders Freies Ber- Amt, und zwar nicht im parteipoli- Stasi-Chef wird Jahn, lin zahlreiche Fernsehbeiträge über tischen, sondern im Sinne der ste- der sich nicht mit der Ausweisung Opposition, Menschenrechtsver- letzungen, Umweltverschmutzung tigen Beschäftigung mit dem Thema aus seinem eigenen Land abfinden und den grauen, tristen Alltag in der Demokratie und ihrer Verteidigung. will, mit brutaler Gewalt festgenom- DDR. Auch die Ost-Berlin-Seite Aufgabe des Bundesbeauftragten ist men und regelrecht „entsorgt“. Ein der TAZ wurde von ihm beliefert. es, dem Amt neue Impulse zu geben bundesdeutscher Grenzer entdeckt Ab 1987 strahlte ein alternativer einen jungen Mann in zerrissener und auf seine jeweils ganz persön- Westberliner Radiosender unter Kleidung, eingesperrt in ein Abteil liche Art und Weise stetig in der Öf- der Mitwirkung von Jahn regelmä- im letzten Wagen eines Interzonen- fentlichkeit mit dem Thema Dikta- ßig die Sendung „Radio Glasnost“ zuges, der eben die Grenze von Ost turaufarbeitung präsent zu sein. Und aus, in der auf Tonbandkassetten nach West passiert hatte. Es ist der darin hat Roland Jahn ganz gewiss von Ost nach West geschmuggelte spektakulärste Fall von Ausbürge- Erfahrung. Statements von Regimegegnern und rung in den 80er Jahren. Berichte zu oppositionellen Veran- Unfreiwillig in der Bundesrepublik staltungen veröffentlicht sowie Titel Die Autorin angekommen, stellte Jahn innerhalb von unerwünschten Musikgruppen kurzer Zeit von Westberlin aus sei- gespielt wurden und die hauptsäch- Barbara Szkibik war 1990 im nen eigenen „Nachrichtendienst“ lich dadurch einem größeren Publi- Bürgerkomitee für das Zen- auf die Beine. Er und andere abge- kum in der DDR bekannt wurde, tralarchiv des MfS zuständig schobene Oppositionelle, unter ih- dass in der SED-Zeitung „Neues und baute später die Gauck- nen der Schriftsteller Jürgen Fuchs, Deutschland“ ein diffamierender Behörde mit auf. Sie arbeitete organisierten den Schmuggel von Bericht darüber erschienen war. dann als Referentin im Innen- Geld, Druckmaschinen, Papier, Keine Frage, dass die Staatssicher- ministerium des Landes Bran- Videokameras, Computern, Flug- heit Roland Jahn auch in Westberlin denburg, lebt heute bei Mün- blättern, verbotenen Büchern und weiterhin beobachtete – säuberlich chen und ist Mitglied im Bund Zeitschriften in die DDR hinein und dokumentiert im Operativvorgang Widerstand und Verfolgung von brisantem Informationsmaterial „Weinberg“. (BWV-Bayern).

8 Ostbüro der SPD Das Ostbüro der SPD 100. Geburtstag von Stephan G. Thomas

„Ich gehe zu Schumacher, und du gehst zu Ulbricht, der braucht solche Typen“, mit diesen Worten verabschiedete sich Stephan Thomas bei der Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft von seinem Mitgefan- genen Karl Eduard von Schnitzler, dem später führenden Fernsehpro- pagandisten der DDR. Nach zwei Jahrzehnten Leitung des Ostbüros der SPD war Thomas Chefredakteur des Deutschlandfunks, danach begehrter Gastdozent bei Institutionen der politischen Bildung. Für die kommunistische Seite war er so etwas wie der Teufel in Menschenge- stalt. Der leidenschaftliche Verfechter der deutschen Einheit verstarb drei Jahre bevor sie eintrat.

Von Wolfgang Buschfort

I. Gründung des Ostbüros treuung wurde schon während des Das SPD-Ostbüro stellt eine Beson- Vereinigungsprozesses zu einer der zentralen Aufgaben des SPD-Ostbü- derheit in der Parteiengeschichte, Stephan G. Thomas. aber auch in der deutsch-deutschen ros. Zu den ersten SPD-Flüchtlingen aus der SBZ gehörte auch Rudi Dux, Foto: FES/AdsD Archiv der Geschichte dar. Es wurde gegrün- sozialen Demokratie det als Reaktion auf den kommuni- ein sozialdemokratischer Journalist, stischen Machtanspruch im Osten der als NS-Widerstandskämpfer Deutschlands. Die Tätigkeit kann zwei Jahre inhaftiert war und nach ensleuten, eigentlich verkappte Spi- Kriegsende in Magdeburg die SPD nur verstanden werden aus der spe- one gewesen zu sein, trifft nicht zu. mit aufgebaut hatte. Er wurde der ziellen Unterdrückungssituation in „Verrat ist Vertrauensbruch“, diese erste Leiter dieser Stelle. der SBZ heraus. anerkannte Kurzformel von Margret Dux schickte Kuriere in die SBZ, Boveri erläutert am ehesten die Un- Ausschlaggebend für den Start- um alte Verbindungen zu Genos- sinnigkeit dieser Vorwürfe. „Die schuss zum Aufbau war das Ge- sen aufzunehmen und so heraus- Vertrauenswürdigkeit des anderen“, spräch zwischen Abgesandten der zufinden, ob es sich bei den einge- auf der „alles Zusammenleben der SPD in der SBZ mit Kurt Schuma- troffenen Flüchtlingen tatsächlich Menschen“ beruht, war in der SBZ/ cher und Herbert Kriedemann von um verfolgte Sozialdemokraten der West-SPD am 8. Februar 1946 in DDR nicht vorhanden. handelte. Gleichzeitig nahm man 1948 und 1949 waren für die SPD Braunschweig. Hier wurde deutlich, Flugschriften, meist Reden von dass sich eine Vereinigung von SPD Schumacher, mit. Schon im Juli geprägt von Massenverhaftungen. und KPD in der Ostzone nicht mehr 1947 wechselte die Führung. Der Mehr als 1.000 Verbindungsleute verhindern ließ. Zurück in Hanno- Ex-Kommunist Sigi Neumann wur- des Ostbüros kamen in Haft oder ver plante Schumacher nun, eine de Ostbürochef. Der Parteivorstand wurden in die Sowjetunion depor- Widerstandsorganisation in der SBZ stellte ihm den langjährigen Sozi- tiert. Grund waren mangelnde Kon- aufzubauen, die von der West-SPD aldemokraten Stephan Thomas, mit spiration und in einigen Fällen auch angeleitet dort den Boden bereiten bürgerlichem Namen Grzeskowiak, Verrat. Vor allem aber wurden die sollte für eine Wiederzulassung der zur Seite, sicherlich auch ein wenig Kuriere, die das SPD-Ostbüro in SPD nach dem Abzug der Sowjets. als Aufpasser. den Osten schickte, vielfach ab der Vorbild war der Widerstand in der Grenze beschattet. So erfuhr der so- Bismarck- und der Hitlerzeit, nur II. Aufbau und erste Rückschläge wjetische Geheimdienst, wen diese dass man sich diesmal in einer er- Die Vertrauensleute im Osten sollten Personen besuchten. Im Schnee- heblich besseren Situation wähnte: den Widerstand hochhalten und wa- ballsystem konnten dann auch viele Immerhin konnte man im Westteil ren gleichzeitig eine Personalreser- andere Gruppenmitglieder verhaftet Deutschlands einigermaßen legal ve für den Tag der Wiedervereini- werden, denn teilweise hielten die il- arbeiten. gung. Dazu sollten sie jedoch vor legal arbeitenden Sozialdemokraten Erste Aufgabe waren Hilfestel- allem Informationen über die Zu- regelrechte Ortsvereinssitzungen ab lungen für geflüchtete Sozialdemo- stände in der SBZ/DDR beisteuern. und führten sogar Protokoll und An- kraten. Vor allem die Flüchtlingsbe- Der Vorwurf gegenüber den Vertrau- wesenheitslisten.

9 Ostbüro der SPD

Nach diesen katastrophalen Misser- oder gegen Unkostenentschädigung das lässt sich aus den Akten des MfS folgen ging Neumann. Stephan Tho- für die verschiedenen Zweigstellen belegen, war immens. mas wurde Leiter des Ostbüros. Er des SPD-Ostbüros arbeiteten, war es Das Ostbüro der SPD hat hier si- stellte die Kontakte auf streng kon- für die östliche Seite relativ leicht, cherlich eine erfolgreiche Arbeit spirative Basis um. Das Konzept, Agenten einzuschleusen. Bis weit in geleistet. Zitate der Staatssicherheit überall in der SBZ sozialdemo- die 60er Jahre arbeitete auch in der hierzu: „Das wesentlichste Moment kratische Widerstandsgruppen als Bonner Zentrale ein Stasiagent, der in der gesamten Tätigkeit des Ost- Keimzellen einer künftigen SPD zu sich nach außen als kompromiss- büros der SPD ist die ausgeklügelte bilden, ließ man fallen. Statt dessen loser Antikommunist tarnte. sollten sich die Genossen in der SBZ Demagogie, mit der auf die werk- nur noch individuell an das Ostbüro Das Ende des Ostbüros tätigen Menschen einzuwirken ver- sucht wird. Dadurch übertrifft das wenden und seine Zweigstellen oder Das Ende des Ostbüros erklärt sich verabredete Treffpunkte aufsuchen, Ostbüro der SPD an Gefährlichkeit zum Teil aus der Zersetzungsarbeit alle anderen in W[est]D[eutschland] um Informationen weiterzugeben des MfS, zum Teil sind aber auch oder Material in Empfang zu neh- und W[est-] B[erlin] bestehenden parteiinterne Faktoren ausschlagge- 3 men. Der Kurierverkehr in der bis- Agentenzentralen.“ Die Publikati- bend. Vor allem auf Herbert Wehner onen des SPD-Ostbüros seien „des- herigen Form wurde eingestellt. In war es zurückzuführen, dass die Ar- den darauf folgenden Jahren sind halb gefährlich, weil sie einmal in beit des SPD-Ostbüros eingestellt der Sprache der Arbeiter abgefasst dann etwa zehn bis fünfzehn Ge- werden musste. Mitte 1966 verließ nossen pro Jahr verhaftet worden, sind und in bestimmten Fällen Pro- Stephan Thomas das Ostbüro. Auch gnosen über die zukünftige Entwick- die mit dem Ostbüro in Verbindung hier ist eine deutliche zeitliche standen. lung in der DDR enthalten“, stellte Übereinstimmung der Aufgabe der das MfS fest. Diese Prognosen kön- Mit der Gründung der Staatssicher- eigenen Tätigkeit mit einem ge- ne das Ostbüro „aufstellen, weil sie heit 1950 ergab sich noch kein ver- planten Redneraustausch festzustel- sehr aufmerksam die Beschlüsse schärfter Kampf gegen das Ostbüro. len, nämlich jenem auch nie zustan- und Verordnungen unserer Partei Als Ausgangspunkt einer groß ange- de gekommenen Austausch mit der und Regierung auswerten und so- legten Verfolgung politischer Wider- SED. mit unsere zukünftige Entwicklung standskämpfer kann hingegen der und evtl. Schwierigkeiten die dabei 17. Juni 1953 angesehen werden, der Die Arbeit des 1967 in „Referat auftreten, einschätzen können.“4 die Notwendigkeit einer stärkeren für gesamtdeutsche Fragen“ um- Im Gegensatz zu den staatlichen Durchdringung systemfeindlicher benannten Ostbüros wurde Zug um Organen und der Parteiführung der Organisationen aufzeigte. Erstes Zug eingestellt. Das Ende erfolgte DDR, wie eine Analyse der Staats- Ergebnis war der Diebstahl eines 1971, ein Jahr später meldeten Zei- internen Verzeichnisses der Gebäu- tungen unwidersprochen, der letzte sicherheit 1957 belegt: „Zu welchen de des SPD-Ostbüros, in dem wahr- Leiter Bärwald habe jahrelang In- Ergebnissen eine derartige Tätigkeit scheinlich auch die Treffwohnungen terna aus dem Parteivorstand an den von SPD-Mitgliedern führt, beweist aufgeführt waren. Und doch: Die Auslandsnachrichtendienst BND die Tatsache, dass das Ostbüro der Staatssicherheit begann ihre zielge- geliefert, der es wiederum der CSU SPD (...) in der Lage war, eine aus- richtete Arbeit gegen die SPD-Wi- zugänglich gemacht habe. führliche Analyse der pol[itisch]- derstandszentrale mit Fehlinformati- oek[onomischen] Situation des VEB onen. So wurde zur konzentrierteren Erfolg oder Misserfolg? TRO, eines der größten Berliner Be- Arbeit gegen die SPD 1954 eine Das Ostbüro ist in Erwartung einer triebe, zu treffen. In dieser Analyse „Lektion“ für die Mitarbeiter des baldigen Wiedervereinigung ge- waren Dinge enthalten im Bezug MfS erarbeitet,1 die sich scheinbar gründet worden; diese kam nicht, auf die betrieblichen Zustände, die und so passte es irgendwann, spä- selbst der dortigen Werk- resp. Par- auf alte Propagandaschriften aus 5 den 40er Jahren stützte. So bezeich- testens 1961, nicht mehr in die po- teileitung nicht bekannt waren.“ net das Stasi-Lehrbuch noch 1954 litische Landschaft. Dies ändert Fritz Heine als Leiter des Ostbüros jedoch nichts daran, dass es das 1 BStU, MfS JHS Tgb. Nr. 78/54. Weitere Angaben in Hannover, Erich Ollenhauer und Denken und Hoffen der Menschen ebenda. 2. BStU, MfS JHS Tgb. Nr. 78/54, Bl. 5. Herbert Kriedemann als wichtige in der SBZ/DDR vehement beein- 3. BStU, MfS, AS 1007/67, Entstehung und Ent- Mitarbeiter und „Brandt, Willy lei- flusst hat. Ab Anfang der 50er Jah- wicklung des Ostbüros der SPD, 10.10.58, Bl. 9. tet die Zweigstelle des ,Ostbüros‘ in re konnte jeder DDR-Bürger durch 4. BStU, MfS JHS Tgb Nr. 317/58, Bl. 45. 2 5. BStU, MfS JHS Z Tgb. Nr. 201/57, Lektion: Die Berlin“ , dies zu einem Zeitpunkt, einen kurzen Spaziergang im Wald Rolle der legalen SPD im demokratischen Sektor als der Parteivorstand mit besagten oder auf Feldern Flugblätter und von Berlin nach 1945 und der Aufbau und die Tä- tigkeit der Jugendorganisationen der SPD, Bl. 18. erstgenannten Vorstandsmitgliedern Broschüren finden, die monatlich in sich seit vier Jahren nicht mehr in Millionenauflage mit Ballons - ver Hannover, sondern in Bonn befand, breitet wurden. Allein das SPD-Ost- Der Autor und lange schon nichts büro bestritt monatlich mindestens Dr. Wolfgang Buschfort, Bo- mehr mit dem Ostbüro zu tun hatte. vier Sendungen des RIAS. Jeder chum, ist Sozialwissenschaftler Aufgrund der Tatsache, dass allein kleine und mittlere Funktionär be- und Fernsehjournalist. Eines sei- in Berlin zeitweise mehr als 100 kam mehrfach im Jahr Broschüren ner zahlreichen Bücher: Das Ost­- Personen fest, auf Honorarbasis zugeschickt; die Verunsicherung, büro der SPD, München 1990.

10 Kommunismus

Leugnung der Verbrechen des Kommunismus

Die reaktionäre Partei „Die Linke“ hat ihre Zukunft bereits hinter sich

Von Waldemar Ritter

Die Maske ist ab. Die Angst geht um nistischen Massenmorde, der kom- bei der Linksaußenpartei. Es ist die munistischen Greuel, der totalitären Angst vor der Wahrheit, woher diese kommunistischen Diktatur hat sie Partei kommt, wer sie ist und wohin nach der öffentlichen Empörung, sie geht. Es ist die Angst, jetzt auch zum Teil aus der eigenen Partei, auf von jenen erkannt zu werden, die die die Nach-Stalin-Zeit beschränkt. Verpackung für den Inhalt hielten. Als ob es da nicht die mit Panzern Morgendämmerung: Auf Dauer ist nieder gewalzten Aufstände 1956 Politik eben doch kein Maskenball. in Ungarn und 1968 in Prag (Sozi- Die Bundesvorsitzende der Partei alismus mit menschlichem Antlitz) „Die Linke“ hat mit ihren Kom- oder 1980 die brutale Gewalt gegen das polnische Volk und Solidarnosc munismus-Thesen Entsetzen und gegeben hätte. Als ob Staaten und Empörung ausgelöst. In der Zeit- Völker in der ehemaligen Sowjetu- schrift „Junge Welt“ schrieb Gesine nion und Mittelosteuropa bis 1989 Lötzsch: „Die Wege zum Kommu- nicht von Kommunisten unterdrü- nismus können wir nur finden, wenn ckt wurden. Als ob es das Pekinger wir uns auf den Weg machen und sie Massaker auf dem Platz des himm- ausprobieren, ob in der Opposition lischen Friedens 1989 nicht gab. oder in der Regierung“. Als ob es die Mauertoten und die Folterkeller bis zur Revolution in Kommunismus: Realität der der DDR nicht gegeben hat. Als ob Ausbeutung und Unterdrückung es nach Stalin nicht weitere kommu- Der Autor Auf den Weg machen dorthin, wo nistische Massenmörder, wie Mao Dr. rer. pol. Waldemar Ritter, sieben Jahrzehnte Unfreiheit, Un- Zedong oder Pol Pot, gegeben hat. Bonn, Politologe und Historiker. recht und Misswirtschaft durch Als ob der Kommunismus nicht Foto: Veronika Holzbach systemimmanente Ausbeutung re- eine reale, das heißt, eine brutale, gierten, wo Völkermord und Un- unmenschliche, blutige Geschichte terdrückung, wo Verbrechen gegen Wege zum Kommunismus, die zum hat. Die sowjetischen Archive wur- die Menschlichkeit, gegen Minder- Albtraum der Menschheit geworden den in den 90er Jahren geöffnet, und heiten, gegen soziale, ökonomische sind. der Wissenschaft und Forschung ist und politische Gruppen stattfanden. Gesine Lötzsch hatte einen Ent- es gelungen, die Logik des lange als Wege des Kommunismus, auf de- wurf, eine Textvorlage, aus der irrational geltenden Vernichtungs- nen mit Menschen experimentiert deutlich wurde, dass der Ideologie- feldzuges Stalins gegen die eigene wurde, die millionenfach deportiert, begriff „Kommunismus“ ohne ge- Bevölkerung nachzuvollziehen. vertrieben und organisiert dem Hun- schichtliche Einordnung, das heißt Die Frage von Ernst Bloch ist be- gertod ausgesetzt wurden. Wege, ohne Hinweis auf die Verbrechen, antwortet: Stalin hat den Kommu- die in Umerziehungslagern, in die seinen Weg gepflastert haben, nismus zur Kenntlichkeit gebracht. Zuchthäusern, im kommunistischen die in seinem Namen begangen „Die Ideologie!“ hat Solschenizyn Genozid, dem Holodomor, in Kon- wurden, nicht verwendbar ist. Die unterstrichen, „Sie ist es, die der bö- zentrationslagern, in Zwangsarbeit, Vorsitzende der „Linkspartei“ hat sen Tat die gesuchte Rechtfertigung in Folterzellen, im GULag und in den von Michael Brie benannten und dem Bösewicht die nötige zähe Massengräbern endeten. Wege, auf bolschewistischen Terror heraus Härte gibt. Jene gesellschaftliche denen die hinterlassene Blutspur gestrichen und dessen Opfer mit Theorie, die ihm hilft, seine Taten von 94 Millionen umgebrachter keinem Wort erwähnt. Die damit vor sich und den anderen rein zu Menschen nicht getrocknet ist. verbundene Leugnung der kommu- waschen, nicht Vorwürfe zu hören,

11 Kommunismus

nicht Verwünschungen, sondern an den Produktionsmitteln (Kapi- keine Glühbirne baut“. Hat diese Huldigungen und Lob.“ tal) war tatsächlich in den Händen Parteivorsitzende der „Linken“ den Wie es dazu in der Linksaußenpar- der zuständigen Kader in Partei, Unterschied zwischen einer zer- tei aussieht, zeigt die Warnung des Staat und „volkseigener“ bzw. „so- störten Glühbirne und einem Men- letzten SED-Ministerpräsidenten zialistischer“ Wirtschaft, die vom schenleben nicht verstanden, nicht der DDR, Hans Modrow, unmit- Politbüro der herrschenden Partei verstehen wollen? Und hat sie des- telbar nach den Äußerungen der eingesetzt waren und sich zu einer halb die Analyse des Michael Brie, Gesine Lötzsch: „Die Linkspartei neuen, nicht Eigentümer-, sondern eines der wenigen Nachdenker in sollte nicht hinter den 20. Parteitag Besitzerklasse mauserten. Nach Dji- der „Linkspartei“, nicht begriffen? der KPdSU zurückfallen, auf dem las besteht der Kommunismus aus Brie schrieb schon vor fünf Jahren Stalins Verbrechen mit deutlichen drei Hauptfaktoren der totalitären in einem Aufsatz mit dem Titel: Worten verurteilt wurden.“ Auf dem Kontrolle über das Volk: Macht (mit „Was hätte Rosa gesagt?“ seiner Moskauer Parteikonvent im Früh- all ihren „Organen“), Besitz (Mana- Partei ins Stammbuch: „Es gab in jahr 1956 hatte Nikita Chruscht- germacht), Ideologie. Sie sind das der Linken immer eine Strömung, schow die Delegierten in einer Monopol der Partei oder eben der die um der Erreichung sozialer fünfstündigen Geheimrede über die „neuen Klasse“. Mit vielen weiteren Ziele (...... ) willen bereit war, die Verbrechen und Gräueltaten seines Jahren Gefängnis vor Augen und nur politische Freiheit einzuschränken Vorgängers Stalin aufgeklärt. Die wenige Monate oder Wochen nach oder ganz zu unterdrücken. Dies ist Konsequenzen haben nach über 30 der sowjetischen Niederschlagung die Tendenz zu einem sozial orien- Jahren erst die größte Revolution der ungarischen Revolution schließt tierten Autoritarismus, die in eine seit 1789 und Gorbatschow gezo- Milovan Djilas das Hauptkapitel sich sozial legitimierende Dikta- gen. seines Buches – mehr als drei Jahr- tur übergehen kann und historisch zehnte (!) vor 1989 – mit einer zur auch übergegangen ist. Und diese Nein, Stalin war kein „Ausrut- damaligen Zeit erstaunlichen, aber Diktatur ist dann wiederum unter scher“ auf einem „an sich guten doch logisch nachvollziehbaren bestimmten Bedingungen in eine Weg“. So ähnlich mögen viele un- Zuversicht: „Wenn die neue Klasse totalitäre Herrschaft umgeschla- ter Schock stehende Kommunisten von der Bühne der Geschichte ab- gen, die die Menschheitsvernich- in der ganzen Welt nach dem XX. tritt – das muss einmal geschehen –, tung im Namen des Sozialismus Parteitag gedacht haben, aber die dann wird weniger Trauer über ih- einschloss.“ große Zahl der Abtrünnigen („Dis- ren Abgang herrschen als über den sidenten“) – Jahrzehnt um Jahrzehnt jeder anderen Klasse zuvor: Indem Zur Zeit gibt es noch drei „Expe- kamen neue hinzu – ging viel weiter. sie alles unterdrückte, was ihrem rimente“ auf unserer Erde: China, So auch Milovan Djilas aus dem en- Egoismus nicht förderlich war, hat Kuba und Nordkorea. In Nordko- geren Führungkreis der jugoslawi- sie sich selbst zur Niederlage und rea ist der Kommunismus auf dem schen Kommunisten. Bereits in den zu schmachvollem Untergang ver- Weg in die Steinzeit. Das letzte 1950er Jahren unterzog der sprach- urteilt.“ „Dschungelcamp“ wurde von RTL gewaltige Schriftsteller das kommu- als „Nordkorea-Wochen“ angekün- nistische System einer Fundamen- Kommunismus als Experiment? digt: Misstrauen, Isolation, Hun- talkritik. Tito musste seinen Freund Der Frau Lötzsch und ihrer Partei gerreis und Mehlwürmer. In Kuba fallen lassen, wenn die privilegier- sei gesagt: Wir Menschen leben sind die Armut und das Elend der te herrschende Schicht, die Djilas nicht auf Probe. Die Opfer der Menschen so weit fortgeschritten, als „neue Klasse“ zu demontieren verschiedenen Kommunismus- dass selbst Fidel Castro seinen begann, die bisher unumstrittene wege wurden nicht virtuell, sie 50-jährigen Weg für einen Irrtum Führungsrolle des hoch verdienten wurden wirklich umgebracht, fast gehalten hat. Und in China wur- Marschall Tito nicht in Frage stellen drei Generationen, die durch die den zuerst 6o Millionen Menschen sollte. Djilas erhielt Schreibverbot Machtausübung auf der Grundlage umgebracht und nach dem darauf und wanderte ins Gefängnis. Doch kommunistischer Irrlehren leiden folgenden Massaker in Peking ein er setzte noch eins drauf: 1957 war und bezahlen mussten. Sie wurden Weg begangen, der direkt in einen das serbische Manuskript der „Nova um ihr Leben gebracht. Sie hatten staatsmonopolistischen Frühkapita- Klasa“ fertiggestellt. Es erreichte wie alle Menschen kein zweites lismus führte. In der Gegenwart ist den Verleger in New York „zusam- Leben im Kofferraum. Und die kein Land bekannt, das in Methode, men mit der Botschaft des Autors, es Vorsitzende der „Linkspartei“ will Form und Inhalt kapitalistischer ist so rasch wie möglich zu veröffent- zwanzig Jahre nach der Revolution als China. Nicht nur wegen der Ak- lichen, ohne Rücksicht auf die Fol- in der DDR und in Mittelosteuropa kumulation des Kapitals, nicht nur gen, die eine Veröffentlichung nach und 65 Jahre nach dem Ende der weil dort die 70-Stunden-Woche sich ziehen würde“ (so berichtet der Nazidiktatur zurück, um wieder nichts besonderes ist oder weil es kurz zuvor aus der DDR geflüchtete Wege zum Kommunismus auszu- ein Land mit den meisten Millio- Ex-Kommunist Alfred Kantoro­wicz probieren. Sie will sich an Edisons nären und 160 Millionen ausge- in der Einführung zur deutschen Methode des „trial and error“ ein beuteten „Wanderarbeitern“ ist, die Ausgabe des damaligen Bestsellers Beispiel nehmen. Das Beispiel nichts zu verlieren haben als ihre von Milovan Djilas: Die neue Klas- heißt „Ich bin nicht gescheitert. Ich Ketten und ihren Schlafsack. Es se). Das angebliche Volkseigentum kenne jetzt 10.000 Wege, wie man ist auch ein Land, das – als zweites

12 Kommunismus

nach Nazideutschland 1936 mit ment seines Terrors – Vergasung als Lötzsch über den Haufen geworfen. dem inhaftierten Carl von Ossietz- Mittel der Massenhinrichtung ein: Auch Karl Liebknecht würde ihr ky – einen Friedensnobelpreisträ- Lastwagen mit Werbeplakaten für vorhalten: „Aufrichtigkeit ist die ger, Liu Xiaobo, im Zuchthaus ge- ‚Brot’ fuhren kreuz und quer durch höchste Form der Dummheit“. Das fangen hält. Moskau und pumpten unterdessen Desaster und die Angst der Links- Aber die Vorsitzende der Linksau- die Auspuffgase in den Laderaum, außenpartei sind unüberhörbar und ßenpartei will wieder Wege zum wo nackte Häftlinge bündelweise unübersehbar, in der Mitgliedschaft Kommunismus ausprobieren. Ex- zusammengebunden lagen, bis die und an der Spitze. Das bisherige emplarisch: Lenin hatte dazu un- Ladung bereit für die Leichengrube Papageiengeplapper der Mitläufer ter der bezeichnenden Überschrift war.“ ist kaum noch zu hören. Und: Es „Wie soll man den Wettbewerb or- Lenin und Stalin zeigen mehre- gab bisher noch nie so viele Ei- ganisieren?“ ganz konkrete Wege re Wege zum Kommunismus und ertänze wie die des Gregor Gysi, in den Kommunismus benannt und Hitler scheint von ihnen gelernt den Klaus Peymann politisch sehr ausprobiert: „Tausenderlei Formen zu haben. Jüdische Pässe mussten nachsichtig einen „abgewrackten und Methoden der Rechnungsfüh- in der Nazidiktatur mit dem Buch- Fernsehmoderator“ nennt oder des Klaus Ernst, dem nur noch seine rung und Kontrolle in der Praxis staben „J“ abgestempelt werden extrovertierte Sprücheklopferei über die Reichen, über die Gauner und alle Juden ab sechs Jahren verbleibt, und Lafontaines, der jetzt und Müßiggänger müssen von den mussten den gelben Stern tragen. nicht einmal mehr seiner Charak- Kommunen selbst, von den kleinen „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ terisierung durch Willy Brandt als Zellen in Stadt und Land ausge- kamen bei den Nationalsozialisten Mussolini-Napoleon-Verschnitt arbeitet und in der Praxis erprobt ins Gefängnis oder in Konzentra- gerecht werden kann. Nur noch werden. Mannigfaltigkeit ist hier tionslager. Wer „ohne Berufs- und einige Stasileute denunzieren sich eine Bürgschaft für Lebensfähig- Gewohnheitsverbrecher zu sein, offen mit Äußerungen wütender keit, eine Gewähr für den Erfolg bei durch sein asoziales Verhalten die Tobsucht. der Erreichung des gemeinsamen, Allgemeinheit gefährdet“, konnte einheitlichen Ziels: der Säube- nach dem nationalsozialistischen Ein alter Witz geht so: Als ein ah- rung der russischen Erde von allen Grunderlass „Vorbeugende Ver- nungloser Mensch vernahm, dass schädlichen Insekten, von den Flö- brechensbekämpfung“ vom 14. der Kommunimus ein Experiment hen, den Gaunern, von den Wanzen, Dezember 1937 in ein Konzentra- sei, fragte er verwundert: „Aber den Reichen usw. usf.. An einem Ort tionslager eingeliefert werden. Al- warum hat man ihn denn nicht wie wird man zehn Reiche, ein Dutzend lein im Rahmen der im Juni 1938 jedes Experiment erst an Tieren Gauner, ein halbes Dutzend Arbei- folgenden Aktion „Arbeitsscheu ausprobiert?“ ter, die sich vor der Arbeit drücken Reich“ und einem Heydrichbefehl (....) ins Gefängnis stecken. An wurden über 10.000 Menschen zur Was könnten die Wähler einem anderen Ort wird man sie die Zwangsarbeit in Konzentrationsla- erwarten? Klosetts reinigen lassen. An einem ger gebracht, die der Disziplinie- Ein wenig ironisch gesagt: Wir dritten Ort wird man ihnen nach rung „subproletarischer Gruppen“ können Frau Lötzsch für ihre unbe- Abbüßung der Freiheitsstrafe gelbe und der Arbeitskräftebeschaffung dachte Offenheit dankbar sein. Bis- Pässe aushändigen, damit das gan- dienen sollten. Dazu gehörten her haben viele Wähler die Linksau- ze Volk sie bis zu ihrer Besserung Landstreicher, Widerstandsleister, ßenpartei als Zeichen ihres Protestes als schädliche Elemente überwa- Bettler, Zigeuner, Prostituierte, Zu- gewählt oder allenfalls, weil sie ei- che. An einem vierten Ort wird man hälter, Körperverletzer, Hausfrie- nige ihrer punktuellen Forderungen einen von zehn, die sich des Mü- densbrecher, Trunksüchtige, Per- gut hießen. Jetzt wissen sie, wie ßiggangs schuldig machen, auf der sonen mit Geschlechtskrankheiten das volle Programm aussieht. Auch Stelle erschießen. An einem fünften und alle vorbestraften männlichen praktisch krankt die neokommuni- Ort wird man eine Kombination Juden. In der SED-Diktatur wurde stische „Strategie“ an vielem, auch verschiedener Mittel ersinnen und derjenige, „der das gesellschaft- daran, dass sie die wachsenden in- z.B. durch eine bedingte Freilas- liche Zusammenleben der Bürger ternationalen Zusammenhänge ein- sung eine rasche Besserung jener oder die öffentliche Sicherheit ge- fach ausblendet. Oder will sie zu- Elemente unter den Reichen, den fährdet, indem er sich aus Arbeits- rück zu Stalins Motto: „Sozialismus bürgerlichen Intellektuellen, den scheu einer geregelten Arbeit ent- in einem Land“? Ob das wohl ohne Gaunern und Rowdys erzielen, die zieht“, mit einer Freiheitsstrafe bis eine erneute Mauer gehen könnte? der Besserung fähig sind“ (Prawda zu zwei Jahren, im Wiederholungs- Die Kernfrage ist jedoch, ob die 20.1.1929 und Lenin, Ausgewähl- fall bis zu fünf Jahren belegt. Bis Wähler das wollen, ob sie dem de- te Werke, Band II, Moskau 1947). ins Detail, bis 1989/90, galt dieser mokratischen Versprechen trauen „Stalin und seine Henker“ haben Weg des § 249 im Strafgesetzbuch möchten. Die hypothetische Frage das nicht nur auf diesen Wegen der DDR. ist auch, ob die demokratischen Par- fortgesetzt. Der britische Historiker Zwanzig Jahre Anstrengung der teien still hielten? Dennoch sollte Donald Rayfield schreibt: „Im Jahr Protagonisten der „Linkspartei“, man die Szenarien des beabsichti- 1937, etliche Jahre vor Hitler, setzte vom SED-Image weg zu kommen, gten Experiments prüfen, quasi als Stalins NKWD – das Polizeiinstru- sind durch die Offenheit der Gesine Planspiel zu Ende denken.

13 Kommunismus

Frau Lötzsch will mehrere Wege Rosa Luxemburg wollte. Irgendein und abgewählt werden können, ohne zum Kommunismus ausprobieren. Thema würde sich schon finden, um Gewaltenteilung und Gleichheit vor Das könnte sie aber nur, wenn sie Bündnisgenossen zu gewinnen und dem Gesetz gibt es nicht. Es gibt eine Mehrheit haben sollte. Somit Nichtkommunisten einzuschüch- keinen Mittelweg zwischen Demo- hofft sie mit den Betonköpfen, dass tern. kratie und Diktatur, keinen Mit- Krisen sich verstärken und die EU telweg zwischen Demokratie und daran zerbräche. Aber was wäre, Kommunismus ist Kommunismus oder Nationalsozia- wenn der erste Versuch ihres Re- Antidemokratie lismus, keinen Mittelweg zwischen zepts scheitert? Würden sie und ihre Das Gedächtnis der Gesine Lötzsch Demokratie und „fascismo rosso“, Partei das dann selbst korrigieren? sollte ausreichen für eine Erinne- wie Ignazio Silone schon 1936 den Wer trüge dann die Kosten? Oder rung daran, was Ulbricht den kom- Kommunismus bezeichnete. Silo- würde die Linksaußenpartei, was munistischen Genossen einst emp- ne: „Wenn der Faschismus einmal wahrscheinlicher ist, das Scheitern fohlen hat: „Es muss demokratisch wiederkehrt, wird er nicht so dumm gar nicht erst eingestehen wollen aussehen, aber wir müssen alles in sein zu sagen, er wäre der Faschis- und stur auf dem falschen Weg wei- der Hand haben.“ Im Schulungsma- mus. Er wird sagen, er sei der Anti- ter gehen? Klaus von Dohnanyi hat terial der SED klingen die Anwei- faschismus“. In einem offenen Brief am 13. Januar 2011 bei Maybritt sungen für die „Agitprop“-Arbeit an die in Moskau erscheinende, von Illner zu Recht auf diese Eigendy- verschraubter. So heißt es beispiels- Bert Brecht und Lion Feuchtwanger namik eines einmal begonnenen weise unter dem Titel „,Demokra- herausgegebene Exilzeitschrift „Das Prozesses hingewiesen. Konkret: tischer Sozialismus’ – Schein und Wort“ schreibt er 1936: „Was wir Welcher Politiker wird sich schon Wirklichkeit“ in einem selbstver- vor allem brauchen, ist eine andere selbst bezichtigen, einen zentralen ständlich vom ZK der SED abge- Art, das Leben und die Menschen Fehler gemacht zu haben! Würde segneten Büchlein von 1975: „... zu betrachten. Ohne diese andere dann die „Linkspartei“ nicht ver- dass die rechten sozialdemokra- Art ...würden wir selber Fascisten sucht sein, mit aller Macht Recht tischen Ideologen und Politiker ih- werden, meine lieben Freunde, näm- zu behalten? Und wird man das ren demokratischen Sozialismus der lich: rote Fascisten! Nun, was ich „mit aller Macht“ nicht auch ganz strategischen Defensivposition des Ihnen ausdrücklich erklären mußte, wörtlich zu verstehen haben? Sie Imperialismus im Kampf zwischen ist, daß ich mich weigere, ein Fas- beruft sich ja ausdrücklich auf Rosa Imperialismus und Sozialismus an- cist zu werden, und wenn es auch Luxemburgs Forderung, eine einmal passen. Ein Blick in die Geschichte ein roter Fascist wäre.“ Ähnlich erreichte Position im Staat mit Zäh- des ‚demokratischen Sozialismus’ der erste Vorsitzende der SPD nach nen und Nägeln zu verteidigen! Wie zeigt, dass seine objektive Funkti- 1945, Kurt Schumacher, der zehn würde sie also bei der folgenden on schon immer darin bestand, als Jahre in Konzentrationslagern der Wahl ein neues Mandat für ein ideologische Waffe der Bourgeoi- Nazis saß - er hat die Kommunisten neues Experiment zu erringen hof- sie in deren Kampf gegen die Ar- „rot lackierte Nazis“ genannt. In der fen? Würde die Wahl noch demo- beiterklasse und den Sozialismus Weimarer Republik hat das Zusam- kratisch sein können? Die Bewun- zu dienen“. Gilt diese erbärmliche menwirken zwischen „Nazis und derung der Linksaußenpartei für den Skizzierung durch eine Partei, auf Kozis“ nicht nur zum Untergang venezolanischen Machthaber Hugo deren Weg des Kommunismus die der ersten deutschen Demokra- Chavez spricht ebenso dagegen, Arbeiter systembedingt ausgebeutet tie beigetragen, von den negativen wie ihre Einäugigkeit in der Extre- wurden, was schon am 17. Juni 1953 Mehrheiten der Nationalsozialisten mismus-Auseinandersetzung und zum Arbeiter- und Volksaufstand in und Kommunisten in Reichstag bis ihr Beschönigen, Bagatellisieren, der DDR führte, noch heute? Oder zum gemeinsamen Berliner Ver- Verschweigen und sogar Bestreiten heute wieder? Oder was sonst? Da- kehrsstreik von 1932 mit dem NS- schwerer Menschenrechtsverlet- rüber haben die Verantwortlichen Gauleiter Joseph Goebels, der 1933 zungen durch „linke“ Diktaturen. der „Linkspartei“ offenbar noch der Reichspropagandaminister Hit- Frau Lötzsch, die gute Kontakte nicht nachgedacht, auch nicht da- lers wurde, und dem Berliner KPD- ins Lager der Ex-Stasi-Leute hat, rüber, was demokratischer Sozia- Chef Walter Ulbricht, dem späteren könnte versucht sein, sich dort Rat lismus, was Volkssouveränität, was Gründer der DDR an der Spitze. Der und Hilfe zu holen. Mit „Zähnen Aufklärung, Fortschritt und Gerech- kommunistische Abgeordnete Kurt und Nägeln“. tigkeit als ständige Aufgabe wirk- Sindermann erklärte im sächsischen Was hätten wir zu erwarten, wenn lich bedeuten. Landtag sogar ganz offen: „Bol- diese Partei - nicht nur im Bund, Einen demokratischen Sozialismus schewismus und Faschismus haben sondern wohl auch in mehreren ohne Freiheit und Demokratie, ohne ein gemeinsames Ziel: die Zertrüm- Bundesländern die Ressorts Inneres freie Öffentlichkeit, ohne Grund- merung des Kapitalismus und der und Bildung mit allen ihren Macht- und Menschenrechte, die der Staat Sozialdemokratischen Partei“. Wir und Einflussmöglichkeiten hem- nicht zu gewähren, sondern zu sehen: Die Wege in den Kommunis- mungslos nutzen könnte? Und wenn schützen hat, ohne freie Wahlen, mus können überall hin führen, aber sie auf der außerparlamentarischen ohne freie Abstimmungen des nicht in sein Gegenteil, die Demo- Schiene die „Massen“ zielgerecht Volkes, ohne frei gewählte Parla- kratie einschließlich der Strömung mobilisierte? Das war es ja, was mente und Regierungen, die gewählt des demokratischen Sozialismus.

14 Kommunismus

Lehren aus der Jahrhundertkon- und in einer Koalition mit dem (ka- Die Linksaußenpartei kommt mit frontation von Demokratie und tholischen) Zentrum und den (libe- ihrer Suche nach Wegen zum Kom- Kommunismus ralen) Demokraten eine anfänglich munismus hundert Jahre zu spät. Heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. durchaus stabile parlamentarische Die Wege sind gegangen worden, Jahrhunderts, leben wir in der Epo- Demokratie, die „Weimarer Repu- die Wege sind ausgetreten, an den che, in der der Kommunismus, d.h. blik“. geschaffen. An der Zerstörung Wegrändern liegen die Gräber von die totalitäre Herrschaft der mit Len- der Demokratie von Weimar wirkten 94 Millionen ermordeter Menschen, ins Lehre ausgestatteten „Parteien die deutschen Kommunisten (KPD) liegen die unzähligen Unterdrü- neuen Typs“, in Europa vor­über ist. ebenso eifrig mit wie die NSDAP. ckten, Gequälten, die Erniedrigten Das Volk selbst entmachtete das hin- Auf Weisung Stalins ernannten sie und Beleidigten. Wege grausamer reichend durchgerostete alte Herr- die SPD zum „Hauptfeind“. Der Verbrechen im Namen eines ideo- schaftssystem und ersetzte es durch „Sozialfaschismus“ der SPD sei logisch angekündigten Paradieses freiheitliche demokratische Verfas- gefährlicher als der eigentliche Fa- auf Erden. Wenn Gesine Lötzsch sungen. Diese gewaltige Errungen- schismus, bzw. Nationalsozialismus. und ihre weniger gesprächigen Ge- schaft lassen sich die Völker der ge- Jetzt komme zwar Hitler, aber der nossen diese Wege noch einmal ge- lungenen demokratischen Revolution werde sich nicht lange halten und hen wollen, so sind das reaktionäre nicht mehr nehmen, schon gar nicht „danach kommen wir“, behauptete Rückwege in ihre Zeit, die nicht un- durch konterrevolutionäre Fantasien die KPD. Auch während des Hitler- sere Zeit, nicht die Zeit der Demo- der deutschen „Linkspartei“. Stalin-Pakts (1939 – 1941) verhielt kraten war. sich die im Moskauer Exil weilende Auf ihrer Suche nach „Wegen zum KPD-Führung völlig Kreml-kon- Mobilisierung der Demokratie Kommunismus durch Ausprobie- form. Vor diesem Hintergrund ist der ren“ ignoriert die Partei mit den „Antifaschismus“ der KPD-Führung Am letzten Tag der DDR, dem 2. Ok- häufig wechselnden Namen die Ge- wenig glaubwürdig. Dennoch war tober 1990, hatte ich ein langes Ge- schichte des 20. Jahrhunderts, des es der Antifaschismus-Mythos der spräch mit dem Dramatiker Heiner „Jahrhundert der Diktaturen“. Die SED, durch den das in Sachen Ge- Müller über die erste erfolgreiche Vorsitzende der Linksaußenpartei schichtsklitterung begabte DDR-Re- Revolution in Deutschland. Eine hat den kommunistischen Terror in gime ein paar Punkte bei der eigenen Revolution für Freiheit und Demo- ihrer Rede nicht einmal erwähnt. Bevölkerung sammeln konnte. Wenn kratie, für die Einheit Deutschlands Dies geschah nicht aus Vergesslich- die heutige „Die Linke“ ein paar und für Europa. Eine Revolution ge- keit, sondern in der zielgerichteten Pluspunkte riecht, und seien diese gen die SED und ihre totalitäre Dik- Absicht, die fundamentalistischen auch nur erschwindelt, dann ordnet tatur in der DDR. Wir haben uns an Gruppen und Sekten einschließlich sie sich ganz gern in diese Tradition Bert Brecht und den Volksaufstand DKP innerhalb und außerhalb der ein. Die „Linkspartei“ jongliert mit in der DDR am 17. Juni 1953 erin- „Linkspartei“ nicht zu verschrecken, Begriffen, so auch mit dem Begriff, nert. Brecht, der damals der SED als sondern im Gegenteil an „Die Lin- um den es hier hauptsächlich geht: Lösung vorgeschlagen hatte, „die ke“ irgendwie zu binden. Um einer Kommunismus. Regierung löste das Volk auf und taktischen Frage willen tat die Vor- wählte ein anderes“. Und wir haben sitzende Lötzsch so, als befände Ein Streit um die „richtige Defini- über Karl Marx und seine Kritik sich die Menschheit nicht im Jahre tion“ politisch-historischer Begriffe der Hegelschen Rechtsphilosophie 2011, sondern vor 1903, dem „Ur- führt in der Regel zu keinem brauch- gesprochen: „Die Theorie wird zur knall“ der nicht nur philosophischen, baren Ergebnis – besonders dann materiellen Gewalt, sobald sie die sondern auch blutigen Langzeit- nicht, wenn so unterschiedliche In- Massen ergreift“, wenn es darum auseinandersetzung zwischen totali- teressen und politische Grundein- geht, „alle Verhältnisse umzuwer- tärem Leninismus-Stalinismus und stellungen im Spiel sind wie in die- fen, in denen der Mensch ein ernied- freiheitlicher Demokratiebewegung, sem Falle. Sinnvoll ist es aber, dass rigtes, ein geknechtetes, ein verlas- damals dargestellt durch das Schis- Autoren sagen, was sie unter einem senes, ein verächtliches Wesen ist“. ma von Bolschewiki (später KPdSU) in Rede stehenden Begriff verstehen Genauer, zutreffender hätten die und Menschewiki (russische Sozial- und ihn dann wenigstens im glei- Zustände der „real existierenden demokraten). Die Sozialdemokraten chen Artikel auch durchgehend im sozialistischen“ Wege der SED zum ließ bereits Lenin politisch und phy- gleich bleibenden Verständnis ver- Kommunismus und der diese Zu- sisch buchstäblich ausrotten, soweit wenden. Wie am Anfang dieses Ab- stände und Wege beendende Schrei sie nicht ins Exil entkommen konn- schnitts schon angedeutet, wird hier des Volkes, das seinen Namen rief, unter Kommunismus verstanden: ten. Der kommunistische Vernich- nach Freiheit und Demokratie als sowohl die totalitäre Herrschaft der tungskampf gegen die Sozialdemo- die entscheidenden Gründe für die mit Lenins politischen Lehren aus- kratie machte an den sowjetischen Revolution in der DDR und in Mit- Grenzen nicht halt. Besonders auf gestatteten „Parteien neuen Typs“ telosteuropa, nicht beschrieben wer- die deutschen und österreichischen als auch die entsprechenden Be- den können. Sozialdemokraten hatte es Lenin strebungen, Bewegungen, Parteien, abgesehen. Die SPD hatte ihm die Ideologien und ideologischen Rest- Was gegenwärtig aus der SED- erstrebte kommunistische Machter- bestände innerhalb von demokra- Nachfolge-Partei „Die Linke“ zu greifung in Deutschland vermasselt tischen Verfassungsstaaten. sehen ist, ist die Realität einer sub-

15 IM, a.D.

stanziell verfassungsfeindlichen Partei, die immerhin im Deutschen Bundestag und in zwei Landesre- gierungen sitzt. Es ist eine Partei, IM, a.D. die Wege zurück in das System vor der friedlichen Revolution 1989/90 sucht. So sieht eine reaktionäre, aber Von Lutz Rathenow keine linke Partei aus. „Die Linke“ ist nur ein weiterer Etikettenschwin- Die schönsten Berichte schreibt er jetzt,  del der KPD-SED-Fortsetzungspar- frei, von der Verpflichtung zu schreiben,  tei, was sich sogar aus ihrem Pro- von der Angst, nicht alles zu schreiben,  grammentwurf ablesen lässt. Auch beim Notieren entdeckt zu werden. Frei  juristisch gilt, was die „Linkspartei“ von der Arbeit und den Arbeitern, über die  2009 vor Gericht selbst eingestehen er Texte verfasste - endlich befreit:  musste: „,Die Linke’ ist rechtsiden- tisch mit der ,Linkspartei.PDS’, die von Mitarbeitern, die kamen und lasen.  es seit 2005 gab, und der PDS, die Und ließen zurück keinen Durchschlag.  es vorher gab, und der SED, die es Ein wenig Konfekt, Weinbrand, viel Lob  vorher gab.“ und neue Fragen: ihm zur Antwort aufgetragen.  Die aktiven Demokraten in unserer Auf Arbeit hielt ihn diese Arbeit.  Republik müssen sich aufraffen, Träge und grob die Tage, ein wenig Streit  dieser Partei ihren eigenen Spiegel belebte ein wenig - heute erst kennt er  öffentlich vorzuhalten. An den Weg- das Wort Zersetzungsmaßnahme. Ich bin  weisern ins Morgen, an den Kreu- ein Spitzel, schreibt er auf Blätter,  zungen der Zukunft lehren die Toten die er immer zerreißt. Und die Schnipsel  die Lebenden: Wehret den Anfän- gen! Nie wieder Wege in den Natio- in den Abfall, damit sie in Gesellschaft sind.  nalsozialismus! Nie wieder Wege in Einmal hätten sie ihn fast - heute stoppt jeder,  den Kommunismus! „Du bist nichts, humpelt er auf die Fahrbahn zu.  die Nation ist alles“, lautete die Sprüht auf die Straße: Warum überfährt mich  Grundideologie des Nationalsozia- keiner! Die einen wollen die alte Führung  lismus; „Du bist nichts, das Kollek- hängen, andere wünschen der neuen den Strick.  tiv ist alles“ die des Kommunismus. Keiner beginnt bei sich, um mit einem Beispiel  Bis auf herausragende Ausnahmen voranzubaumeln. Er sitzt wieder da, notiert  sind in deutscher Wissenschaft, po- Einzelheiten seines Versagens: Ich sitze da  litischer Bildung und Publizistik und zersetze mich fort. Kritzelt mit der Hand  die Wege des Kommunismus nicht aufgearbeitet. Ständige Aufgabe ist auf das Papier. Ja keine Disketten oder  es nicht nur, mehr Demokratie zu Speicher, abzapfbar und höchst unsicher.  wagen, wir müssen mehr Demokra- Wenn alles wieder mal ganz anders kommt,  tie praktizieren und nicht weniger. dürfte er einer der ersten gewesen sein,  Achtundachzig Prozent unserer Be- der ahnte, dass alles wieder mal anders  völkerung wollen die „Linkspartei“ kommt. Und wenn alles mögliche kommt,  nicht. Das ist aber nur die Moment- nur nichts gänzlich anderes, bleiben ihm  aufnahme der letzten Bundestags- die Zeilen, in denen er herumstreicht,  wahl 2009, in Wirklichkeit sind es mehr. In einem Land der Aufklärung korrigiert, neu zu formulieren beginnt...  müssen wir vor allem den Nichtwäh- Jetzt erst bekommt er den Blick für alles,  lern überzeugend darstellen, warum Einzelheiten erzeugen Einzelheiten:  es gut und wichtig ist für unser Land, die Bewegungen der Vögel im Wind,  unsere Republik, zur Wahl zu gehen welches Licht gestaltet Wolken wie –  und die Etikettenschwindelpartei er beschreibt, wie er den Riss in der Mauer  friedlich aus dem Parlament hinaus am Haus gegenüber beschreibt. Geräusche  zu wählen. Damit würdigen wir zu- der Tiere und Blätter, alles schwindet  gleich die Revolution in der DDR sowie in Mittelosteuropa 1989/90, und taucht neu empor, jedes Zittern  und wir ehren die Opfer der kom- ein kleines Erdbeben, Mensch wird  munistischen Gewaltherrschaft – so geboren oder löst sich auf.  steht es seit 1990 auf dem Denkmal Und ein Rätsel lebt sich  in Bautzen – auch durch die demo- immerzu fort. kratische Aktion.

16 Erich Loest

Man(n) ist ja keine achtzig mehr Erich Loest zum 85. Geburtstag

Von Martin Rooney

Im Leben des am 24. Februar 1926 arbeitete Loest als freischaffender als Sohn eines Eisenwarenhändlers Autor. Hatte er als Vorsitzender des in Mittweida/Sachsen geborenen Schriftstellerverbandes Leipzig und Autors spiegelt sich exemplarisch als SED-Mitglied zunächst die DDR- die jüngere deutsche Geschichte. Politik unterstützt, nahm Loest im Erich Loest. Foto: Gerhard Steidl Gleich zwei totalitäre Regime hin- Anschluss an die Ereignisse um den terließen ihre Spuren. In seinem Arbeiteraufstand vom 17.Juni 1953 umfangreichen Werk ist in singu- und dessen Niederschlagung eine fen verhängt. Einigen der Hoch- lärer Weise die deutsch-deutsche Li- zunehmend kritischere Haltung ge- gefährdeten wie z.B. dem Ernst- teratur- und Gesellschaftsgeschichte genüber der SED-Führung ein. Als Bloch-Schüler Gerhard Zwerenz von 1950 bis in die Gegenwart in er unter dem Titel „Elfenbeinturm gelang die Flucht in die Bundesre- ihren Konflikten und Brüchen wie und rote Fahne“ im Börsenblatt eine publik. Auch Loest musste einen ho- auch in ihren Kontinuitäten präsent. bittere Analyse der Fehler und Lü- hen Preis bezahlen. Seine Oppositi- Er gehörte zu jener Generation, die gen der SED veröffentlichte, wur- on führte 1957 zur Anklage wegen noch vor dem Ende des Zweiten den für ihn die Weichen ins Abseits angeblicher „konterrevolutionärer Weltkrieges von der Oberschule der angeblichen Arbeiterrepublik Gruppenbildung“ und zur Verurtei- weg einberufen wurde. Auch füllte gestellt. Sein umfassender Bericht lung zu siebeneinhalb Jahren Haft er damals ein Formular aus, in die über die damalige Zeit „Prozessko- im Zuchthaus Bautzen II. Verhöre, NSDAP eintreten zu wollen. In der sten“ (2007) geht weit zurück in die Haftbedingungen und die Zeit nach anlässlich seines 85. Geburtstags eigene Geschichte und die der DDR. der Entlassung beschreibt der Autor erschienen Festschrift „Geschich- Seine faktenreiche Darstellung prä- in seinem Erfahrungsbericht („Pro- te, die noch qualmt. Erich Loest sentiert Innenansichten aus der ent- zesskosten“, 2007) mit erstaunlicher und sein Werk“(2011) teilt Loest scheidenden Phase der frühen DDR, Sachlichkeit, fast dokumentarisch, im Gespräch mit dem Herausgeber in der es eine Zeit lang ihm damals sich selbst ganz zurücknehmend. In Carsten Gansel mit, dass er vor ei- so schien, als seien Reformen mög- seinem Tagebuch „Mann ist ja keine nigen Monaten einen kurzen Brief lich und der Stalinismus Geschich- achtzig mehr“(2011) kommentiert von einem Bundesamt in Berlin be- te. Loest wandelte sich damals vom Loest diese Vorgänge folgender- kommen habe, der ihn darüber in- überzeugten Kommunisten zum maßen: „Es dauerte Jahre, bis ich formiert habe, dass man auf Anfra- Sympathisanten der Reformer in begriff: So war der Ulbrichtsozialis- ge eines Journalisten in dieser Frage Ungarn und Polen. In Warschau und mus – wer anders dachte, landete im recherchiert hätte. Fazit: „Sie haben Prag, Berlin und Leipzig wurde nach Knast. Eispickel und Eismeer hatten am 13. Februar 1944 einen Antrag dem XX. Parteitag der Kommuni- ausgedient, die gängigen Mittel lau- auf Mitgliedschaft gestellt und sind stischen Partei der Sowjetunion über teten Waldheim, Hohenschönhausen am 20. April in die NSDAP aufge- Chruschtschows neue Sicht auf Sta- und Bautzen. Die Kommunisten er- nommen worden, mit der Nummer lin diskutiert – für Loest bedeutete klärten mich zum Feind, also blieb x...“ die Lektüre der Chruschtschow-Re- mir nichts anderes übrig, als Feind Nach der Rückkehr aus amerika- de „eine Erschütterung, die bis auf zu sein.“ nischer Kriegsgefangenschaft holte den Grund des politischen Bewusst- Nach der Haftentlassung 1964 be- Loest das nach und war von seins und der Seele ging“. gann Loest als Autor von vorn. Er 1947 bis 1950 als Journalist bei der Ähnlich ging es vielen anderen ost- wurde von Buch zu Buch, von lite- „Leipziger Volkszeitung“ tätig. In deutschen Reformkommunisten wie rarischer Person zu literarischer Per- der Autobiographie „Durch die Erde Wolfgang Harich, Walter Janka, son stärker, so etwas wie ein Hans ein Riss“(1981) wird geschildert, Gustav Just, Heinz Zöger, Manfred Fallada für die DDR-Wirklichkeit. wie der im Zweiten Weltkrieg fast Hertwig und Richard Wolf, die tief- Seine kleinen Leute taugen nicht zu verheizte Jugendliche nach der greifende Konsequenzen auch für Helden, sie sind geübter darin, sich Hoffnungschance einer antifa- die DDR forderten – den Rücktritt durch alle Widrigkeiten durchzumo- schistischen DDR greift. Seit dem Walter Ulbrichts etwa. Die Par- geln als zu rebellieren. Und sie kom- Erscheinen seines ersten Romans tei- und Staatsführung der DDR men gut weg mit ihren Mogeleien, „Jungen, die übrig blieben“(1950), reagierte mit brutaler Härte auf di- aber da ist keine Idylle und keine der ihn schlagartig bekannt machte ese als „revisionistisch“ verteufelten Verklärung in diesem Bild. Doch und bis heute zu den bedeutendsten Reformbestrebungen, es wurden in bereits ab Anfang der 1970er Jahre deutschen Kriegsromanen zählt, Schauprozessen hohe Freiheitsstra- geriet er erneut in Konflikt mit dem

17 Erich Loest

SED-Apparat. Nachdem die zweite Koffer. Leipzig, die Stadt, der er Dietmar Keller, seinerzeit Kulturse- Auflage seines Romans „Es geht zahlreiche Stoffe gewidmet hatte, kretär bei der SED-Bezirksleitung seinen Gang oder Mühen in unserer hatte ihren populärsten Chronisten Leipzig und nach dem Umsturz Kul- Ebene“(1978) eingezogen worden wieder. Sein Domizil in der Bun- turminister der Regierung Modrow. war, trat Loest aus Protest gegen desrepublik behielt er aber zunächst Loest deckt die Allianz zwischen diese Zensurmaßnahmen aus dem bei. Er wurde vom Obersten Gericht SED, Staatsorganen, Verlagen, Zei- Schriftstellerverband der DDR aus der DDR sofort rehabilitiert. Kaum tungen, Rundfunkstationen, DEFA (vgl. „Der vierte Zensor. Vom Ent- wieder angekommen, gelangte der und Schriftstellerverband auf. Und stehen und Sterben eines Romans in Schriftsteller Anfang 1990 in den er weist schlüssig nach: Alle die- der DDR“, 1984). Das Buch stellt Besitz mehrerer Fotokopien aus sei- se Einrichtungen hatten Hand in das Schicksal eines DDR-Durch- nen Stasi-Akten. Seine minutiösen Hand gearbeitet, und die Spinne im schnittsmenschen dar, eines brauch- Nachforschungen in der Leipziger Netz war die Stasi gewesen. Loests baren Ingenieurs ohne Ehrgeiz, der Filiale des Ministeriums für Staats- Buch gibt nicht nur Auskunft über sich weigert, Karriere zu machen, sicherheit ergaben, dass die Stasi die selbsternannten „Sieger der Ge- Verantwortung zu übernehmen, weil zwischen 1975 und 1983 einund- schichte“ in der DDR, sondern lie- er, nach eigenen bösen Erfahrungen dreißig Aktenbände mit rund 9000 fert auch Anschauungsmaterial, wie mit der Macht, selber keine Macht Blatt über den „feindlich-negativen sie durch lang anhaltende Unterdrü- ausüben will. In diesem von der Schriftsteller“ Erich Loest angelegt ckung ihre unaufhebbare historische SED-Kulturbürokratie kritisierten hatte. Aus diesen Unterlagen ging Niederlage selbst programmiert ha- und heftig bekämpften Loest-Ro- ferner hervor, dass Loests Telefon ben. Sein Fazit ist unmissverständ- man konnte sich jener Teil der DDR- jahrelang abgehört worden war. lich: Die vierzigjährige politische Bevölkerung wiederfinden, den die Auch sein gesamter Briefwechsel Diktatur der SED hat nicht bloß ein sozialutopischen Verstiegenheiten war in acht Bänden aktenkundig. ökonomisches System kaputtgewirt- eines Volker Braun und die intel- Rund dreißig Spitzel und Zuträger schaftet, sondern den humanen An- lektuell ornamentierte Sozialismus- waren auf den Schriftsteller ange- satz des Sozialismus verraten und sehnsucht einer Christa Wolf schon setzt worden. Über alle privaten und für immer vernichtet. nicht mehr erreichte. Loests Spiegel beruflichen Angelegenheiten Loests Seit den neunziger Jahren engagier- alltäglicher DDR-Existenz war kein bestens informiert, wollte die Stasi te sich der Schriftsteller in vielfäl- umbarmherziger, aber erst recht zunächst die Veröffentlichung sei- tiger Weise für den demokratischen kein billig entlastender. Zu dieser ner Bücher im Westen unterbinden. Erneuerungsprozess in seiner säch- Zeit war allerdings gegen Erich Schon bald aber hieß die „Zielstel- sischen Heimat. Sein vieldiskutier- Loest längst eine flächendeckende lung“, Loest unter Druck zu setzen, ter Roman „Nikolaikirche“ (1995), Überwachung durch das Ministeri- damit er aus eigenem Antrieb die sorgte für Furore, weil das Buch um für Staatssicherheit (MfS) der „ständige Ausreise“ aus der DDR sich positiv aus der Fülle der mit- DDR eingeleitet worden, die darauf beantrage und der Skandal seiner telmäßigen Belletristik und Sachbü- abzielte, den Autor zu „zersetzen“. Ausweisung verhindert werden kön- cher über die Zeit vor, während und Die 1981 erfolgte Übersiedlung in ne. unmittelbar nach 1989 hervorhebt. die Bundesrepublik war für den Au- In seiner autobiographischen Doku- Dieses Gruppenbild mit Stasi er- tor schließlich die einzige Chance, mentation mit dem Titel „Der Zorn zählt souverän die widersprüchliche sich weiteren Repressalien zu ent- des Schafes“(1990) bettet Loest Geschichte einer Leipziger Familie ziehen. Sie bedeutete aber auch den die Stasi-Berichte in einen autobi- namens Bacher in den unruhigen wiederholten Neuanfang, denn als ographischen Abriss ein. Bis in die Jahren 1987 bis 1989. Und Loests Autor musste sich Erich Loest im intimste Privatsphäre zeigt Loest Roman verdeutlicht auf exempla- westdeutschen Literaturbetrieb erst auf, wie der staatlich organisierte rische Weise: Auf alles war die durchsetzen. Zunächst war er mit In- Terror den DDR-Alltag vergiftete. Staatsmacht der DDR im Revolu- differenz und Gleichgültigkeit kon- Die Bespitzelung Loests und die tionsherbst vorbereitet - nur nicht frontiert, wie viele andere ausgewie- von der Stasi eingeleiteten „Zerset- auf Widerstand mit Gebeten und sene, in den Westen getriebene oder zungsmaßnahmen“ betrafen die Fa- Kerzen. Von den Friedensgebeten geflohene DDR-Kulturschaffende. milienmitglieder ebenso wie seinen in der Leipziger Nikolaikirche aus Doch mit einer Reihe von Romanen, damaligen Freundeskreis, dem der wuchs der Wille zur Freiheit. Frauen die sich mit der deutschen Teilung Schriftsteller Werner Heiduczek und und Männer der Kirchengruppen, auseinandersetzen wie etwa „Völ- der Maler Wolfgang Mattheuer an- Pfarrer und Geheimdienstleute sind kerschlachtdenkmal“(1984) oder gehörten. Man setzte sogar Spitzel die Schlüsselfiguren dieses Romans. „Zwiebelmuster“(1985), machte er im DDR-Schriftstellerverband auf Weit in die Vorgeschichte greift die sich einen Namen. Loests Porträtier- Loest an und ließ ihn bei allen Le- Handlung, denn was an diesem 9. kraft machte auch vor bundesdeut- sungen überwachen. Das Aufgebot Oktober 1989 geschah, hat seine scher Provinzidylle nicht halt, und an DDR-Prominenz im Kampf ge- Wurzeln in den vergangenen Jahr- in seinem Roman „Froschkonzert“ gen einen Schriftsteller, war kaum zu zehnten, es geht auch zurück zum (1987) zeigt er deutsch-deutsche überbieten. Immer wieder fügt Loest Mai 1968, als die Leipziger Univer- Gemeinsamkeiten von ihrer fatalen mitten in seinen Text die Protokolle sitätskirche gesprengt wurde. Doch Seite. und Berichte aus dem Stasi-Archiv, als sich damals der Staub über ihren Nach 1989 wollte es Loest noch welche die Namen der hochrangigen Trümmern verzog, wurde der Turm einmal wissen. Er ließ sich von der Helfer nennen: Hermann Kant, einst von St. Nikolai sichtbar... Der Ro- Abwehrhaltung vieler DDR-Bewoh- Präsident des DDR-Schriftsteller- man wurde 1995 von Frank Beyer ner gegenüber Rückkehrern nicht verbandes; Klaus Höpcke, einst als WDR-Zweiteiler verfilmt und verschrecken und packte erneut die stellvertretender Kulturminister; am 25. und 27. Oktober 1995 zur

18 Erich Loest

besten Sendezeit - mit großer Pu- Sympathisant, beklagte sich wie- finden, das ist gehört. Und bis aufs blikumsresonanz - ausgestrahlt. Der derholt über die stiefmütterliche letzte Komma wiedergegeben.“ Film ist - wie schon vorher der Ro- Behandlung der Kultur durch die Auch auf die jüngsten Werke des Au- man - eine Hommage an Leipzig, Sozialdemokratie: „Mit Kultur war tors trifft diese Feststellung uneinge- die Leipziger und ihre Rolle bei der in der SPD nie Karriere möglich“, schränkt zu. So auch auf seinen 2009 friedlichen Revolution von 1989, so sein ernüchterter Kommentar in erschienenen, mit Sicherheit letz- zugleich aber auch eine szenisch seinem Tagebuch im August 2008. ten Roman „Löwenstadt“, mit dem gestaltete Erinnerung an das Han- Von 1994 bis 1997 war Loest Vor- Loest der Stadt Leipzig ein weiteres deln von Partei und Stasi in dieser sitzender des Verbandes deutscher literarisches Denkmal gesetzt hat. Zeit. Frank Beyer hat eine kongeni- Schriftsteller (VS). In dieser Zeit Das Völkerschlachtdenkmal, das so ale filmische Umsetzung von Loests setzte er sich besonders für einen vieles erlebt hat, wird von Loest und Vorlage geschaffen. Seine über wei- kulturellen Dialog mit Polen ein und seinem Ich-Erzähler mit einer die te Strecken behutsamer, dann aber für die Aufarbeitung der Geschichte Historie überragenden Symbolkraft auch wieder - vor allem Dingen an der beiden Schriftstellerverbände in und Suggestion ausgestattet, dass dramatischen Stellen - plakativer In- Ost und West. Auf der VS-Tagung Fredi Linden in immer neue Ko- szenierungsstil, seine immer seman- in Chemnitz gab Loest Ende 1997 stüme und Zeitabschnitte schlüpft. tisch motivierte Kameraführung, den VS-Vorsitz an den Krimiautor Mal ist er der Bauernbursche Carl seine aussagekräftigen Montagen, Fred Breinersdorf ab. Die eigene Friedrich im sächsischen Linienre- seine zurückhaltende, aber die Se- Zeit nach dem Wechsel in den We- giment, das bei der Völkerschlacht mantik der Bilder stützende Musik- sten dokumentiert in Artikeln, Re- von Leipzig 1813 natürlich auf der kommentierung sowie die sparsame, den oder Radiobeiträgen sein 1997 falschen Seite, also auf der Napole- aber signifikante Integration von erschienener Sammelband „Als wir ons, kämpft – und verliert. Dann tritt dokumentarischem Material in die in den Westen kamen“. Pünktlich zu er uns als Gutsherr Fürchtegott von Filmwirklichkeit formen ein Bild seinem 75. Geburtstag vollendete Lindenau entgegen, der nach der der Ereignisse in Leipzig 1989, das Loest 2001den Roman „Reichsge- Schlacht für die Gefallenen eine Art einen Beitrag zum kollektiven Ge- richt“. Er beleuchtet darin die Pro- Golgatha errichten will, obwohl nie- dächtnis der Deutschen in Ost und zesse am Reichsgericht von den mand daran Interesse hat. Schließ- West über dieses unerhörte Ereignis 20er Jahren bis zum Ende des Zwei- lich kommt dazu, hundert Jahre leistet. ten Weltkriegs. So wird der Prozess später, aus Oberschlesien ein anar- gegen den „Weltbühnen“-Herausge- chistisch angehauchter Vojcich Ma- Als um die Jahreswende 1992/1993 ber Carl von Osssietzky 1931 und Stasi-Vorwürfe gegen Christa Wolf chulski, der mit dem Großvaters des der Reichstagsbrandprozess 1933 Erzählers in der Löwenstadt Leip- und Heiner Müller in der öffent- aus heutiger Sicht verhandelt. Einer zig die Löwen aus dem Zoo befreit, lichen Diskussion hoch kochten, der Romanfiguren gelingt es auf un- um die Herrschenden schwören zu warnte Loest eindringlich vor vor- erfindliche Weise, via Internet mit lassen: „Nie wieder Krieg!“ Loests schnellen Urteilen. Sein Versuch, Carl von Ossietzky und dem mut- Sicht auf die jüngere Zeitgeschich- auf dem entscheidenden Unter- maßlichen Reichstagsbrandstifter te ist nicht altersmüde, sondern von schied zwischen individueller Aus- Marinus van der Lubbe zu chatten! einer radikalen Deutung besetzt, die lieferung und überlebensnotwen- Erich Loest ist Mitglied des deut- keine Heldenverehrung zulässt. Das digen opportunistischen Anteilen schen PEN-Zentrums und der gilt auch für die „Feierabendrevolu- in DDR-Lebensgeschichten zu be- Sächsischen Akademie der Künste. tionäre“, wie er die Montagsdemon- stehen, passte nicht in den damals Die eigene bewegte Vita und seine stranten des Leipziger Pastors Füh- gängigen Täter-Opfer-Dualismus. Bodenständigkeit hat der Schrift- rer nennt. „Alles sortiert sich neu“ Für die DDR-Nostalgiker wiederum steller, der 1999 mit dem Großen nach dem Fall der Mauer. Wirklich? musste Loest ein Gräuel sein und Bundesverdienstkreuz und 2009 mit Vor der Leipziger Sporthochschule bleiben, weil er der Schrebergarten- dem deutschen Nationalpreis ausge- wird wieder Karl Marx aufgestellt. Idylle die Gemütlichkeit nahm. Die zeichnet wurde, stets als Eckpfeiler Im Universitätsneubau grüßt wieder Souveränität, mit der er sein Leben für die schriftstellerische Arbeit ge- Werner Tübkes sozialistischer Ko- mit der Wanze beschrieb und in nutzt. Dementsprechend groß war lossalschinken „Arbeiterklasse und der Tradition Wolf Biermanns den Loests Freude, als ihm anlässlich Intelligenz“ von der Wand. Was hat Eckermann-Part der DDR- Staatsi- seines 70. Geburtstags die Ehren- sich verändert? Loest zweifelt und cherheit beleuchtete, war in Ost und bürgerwürde der Stadt Leipzig ver- sieht mit seinem im Altersheim da- West nicht jedermanns Sache. Als liehen wurde: „Diese Auszeichnung hin dämmernden Fredi Linden ein „politisches Temperament“ und „ge- ist das größte, was ich mir vorstel- Auf und Ab der Geschichte, deren nauen Erzähler“ würdigte Günter len kann.“ Mit detektivischer Akri- Verirrungen von Mal zu Mal in Ver- Grass den Autor 1996 zu dessen 70. bie hat sich Loest immer wieder in gessenheit geraten. Nun gelte es, Geburtstag und schrieb es seiner seinen Romanen und Erzählungen heißt es im Buch, „im Großwahljahr „Größe“ zu, nach der Revolution zum Chronisten des Alltags aufge- alle Kraft zu mobilisieren“. Aber der nahe gelegenen Versuchung wi- schwungen. Als Hans Mayer An- darüber sinnieren in Loests Roman derstanden zu haben, als ehemaliges fang der 80er Jahre den Hans-Falla- ehemalige Stasi-Führungskader Opfer wie ein Richter aufzutreten. da-Preisträger der Stadt Neumünster am konsequentesten. Erich Loests Heute nennt sich Loest übrigens Erich Loest feierte, tat er dies mit „Löwenstadt“ ist ein Roman über einen „rechten Sozialdemokraten“ den an Fallada gerichteten Worten Geschichtsverleugnung und -ver- (SZ vom 08.03.2011). Der Autor, von Kurt Tucholsky. „Was uns vor gessenheit, rasant geschrieben, oft der kein Mitglied der SPD ist, aber allem auffällt, ist die Echtheit des patzig und knorzig, aber immer seit langer Zeit ein überzeugter Jargons. Das kann man nicht er- spannend.

19 „Demokratischer Sozialismus“

„Demokratischer Sozialismus“ oder „Demokratischer Sozialismus“?

Von Armin Pfahl-Traughber

In ihrem Entwurf für ein Parteipro- sich verbuchen. Unter Beibehaltung sich die sozialdemokratischen gramm bezeichnet die Partei „Die des Ziels Sozialismus plädierte Parteien zu politischen Stützen, Linke“ mehrfach den „demokra- Bernstein daher in mehrfacher Hin- teilweise sogar zu Vorkämpfern, tischen Sozialismus“ als politisches sicht für eine Revision des Marxis- des demokratischen Verfassungs- Ziel. Bereits die Vorläuferpartei PDS mus: Statt durch den einmaligen staates. Die damit einhergehende hatte sich namentlich als „Partei Akt einer gewalttätigen Revolution Reformorientierung führte auch des Demokratischen Sozialismus“ sollte man längerfristig auf schritt- zu einer Abkehr vom dogmatisch in einem solchen Sinne verortet. weise Reformen als friedlichen Weg ausgerichteten Marxismus- und Insbesondere konservative Kriti- setzen. Mit diesem Verständnis ging der Hinwendung zu einem ethisch ker wandten demgegenüber ein, es auch die Akzeptanz des Parlamenta- begründeten Sozialismus-Modell, bestehe ein grundsätzlicher Unter- rismus und des Rechtsstaates einher. verstanden als „dauernde Aufgabe“ schied zwischen „Demokratie“ und Über die Einschätzung dieser Posi- und nicht als Ziel der Geschichte. „Sozialismus“ und demnach könne tionen kam es dann vor rund hun- Später kam noch im wirtschaftspo- es keinen „demokratischen Sozia- dert Jahren zu einer Spaltung der litischen Bereich die Akzeptanz der lismus“ geben. Diese Auffassung Arbeiterparteien in eine kommu- Marktwirtschaft hinzu, wobei die- ist allerdings sowohl ideen- wie re- nistische und in eine sozialdemo- se mit einer stark keynesianischen algeschichtlich falsch: Es gab und kratische Richtung: Während die und sozialstaatlichen Ausrichtung gibt eine Konzeption von „demo- Erstgenannte auf die Errichtung ei- verbunden war. Etwa ab den 1950er kratischem Sozialismus“, die sehr ner kommunistischen Diktatur nach Jahren prägte diese Auffassung von wohl mit der Akzeptanz der Normen zuvor erfolgter Revolution wie in „demokratischem Sozialismus“ die und Regeln eines modernen demo- Sowjetrussland setzte, entwickelten Politik der sozialdemokratischen kratischen Verfassungsstaates ein- Parteien in Europa, wofür vor allem her geht. Demgegenüber stellt sich deren Protagonisten in den skandi- gleichwohl umgekehrt die Frage, navischen Wohlfahrtsstaaten, aber ob die Partei „Die Linke“ mit ihrer auch die SPD mit dem Godesberger Auffassung von „demokratischem Programm von 1959 standen. Sozialismus“ auch eben diese Kon- In den Ländern des „real existie- zeption von „demokratischem So- renden Sozialismus“, allen voran zialismus“ meint. Eine genaue Be- in der DDR und in der Sowjetuni- trachtung zeigt, dass es ihr hier mehr on, lehnte man diese Sozialismus- um eine Umdeutung und Vereinnah- Konzeption rigoros ab. Das von mung eines anders, nämlich gegen- Politikern wie dem damaligen teilig besetzten Begriffes geht. schwedischen Premierminister Olof Um die damit einhergehende In- Palme (1927-1986) vertretene Mo- strumentalisierung des Verständ- dell einer „Gleichheit freier Men- nisses von „demokratischem So- schen“ als „demokratischem Sozia- zialismus“ aufzuzeigen, bedarf es lismus Schwedens“ (1970) galt im zunächst eines ideengeschichtlichen offiziellen Gebrauch als „Ideologie Rückblicks auf die Herausbildung des Sozialreformismus“. In einer Der Autor des damit Gemeinten. Als eine Art einschlägigen Publikation, die von „geistiger Vater“ kann der langjäh- Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, sowjetischen Autoren mit diesem rige SPD-Reichstagsabgeordnete Jg. 1963, Politikwissenschaft- Titel veröffentlicht wurde, findet Eduard Bernstein (1850-1932) gel- ler und Soziologe, arbeitet man ein Sammelsurium einschlä- ten. Er hatte in den 1890er Jahren als hauptamtlich Lehrender giger Vorwürfe wie „Ablenkung der festgestellt, dass entscheidende An- an der Fachhochschule des Arbeiterklasse vom Sozialismus“, nahmen der Marx’schen Ökonomie- Bundes in Brühl mit den Ar- „Apologetik des Kapitalismus“, Analyse nicht eingetroffen waren: beitsschwerpunkten „Poli- „Spielart des Antikommunismus“ Einerseits erholte sich der Kapitalis- tischer Extremismus“ und „Po- oder „Unbestimmtheit der Konzep- mus von seinen Krisen, andererseits litische Ideengeschichte“. Er tion“. Um so verwunderlicher war verbesserte sich die Lage der Arbei- gibt seit 2008 das „Jahrbuch es da schon, dass sich die SED 1989 ter. Gleichzeitig konnten die Arbei- für Extremismus- und Terroris- in „Sozialistische Einheitspartei terparteien bei Wahlen eine konti- musforschung ebendort he- Deutschlands – Partei des demokra- nuierlich steigende Zustimmung für raus. tischen Sozialismus“ (SED-PDS)

20 „Demokratischer Sozialismus“

und dann 1990 ganz in PDS umben- wendigkeit der Revolution. Ebenso nicht nur gegen den demokratischen annte. Handelt es sich dabei aber wenig steht übrigens auch ihr be- Verfassungsstaat, sondern zwischen um eine Berufung auf das skizzierte rühmtes Wort „Freiheit ist immer 1926 und 1956 auch strikt stalini- Verständnis von „demokratischem die Freiheit des Andersdenkenden“ stisch ausgerichtet. Die Bezeichnung Sozialismus“? für ein Bekenntnis zum Interessen- der KPD als „linksdemokratisch“ darf kritische Rückfragen nach dem Noch im PDS-Parteiprogramm von und Meinungspluralismus, war die- Demokratieverständnis der Partei 1990 tauchte der Name Eduard ser doch laut ihrem Text über die russische Revolution nur auf andere „Die Linke“ erlauben. Gleiches gilt Bernstein als ideengeschichtlicher daher für den bekundeten Bruch mit Bezug auf – allerdings neben Wla- sozialistische Auffassungen und Or- ganisationen beschränkt. dem Stalinismus, der aber bereits dimir I. Lenin und Rosa Luxemburg, nach 1956 ebenso von der KPdSU was aufgrund deren grundsätzlichen Ansonsten findet man im aktuellen und der SED erklärt wurde, ohne Differenzen nicht zusammenpasst. Entwurf zum Parteiprogramm von sich in Richtung eines „demokra- Spätere programmatische Texte „Die Linke“ auch keine Ausfüh- tischen Sozialismus“ hin zu entwi- nannten neben Karl Marx und Fried- rungen, die sich auf die Tradition des ckeln. Im Gegenteil: Tendenzen in rich Engels nur noch Luxemburg erwähnten Modells von „demokra- Richtung eines demokratischen So- als ideologisches und politisches tischem Sozialismus“ beziehen. Im zialismus wurden als „Ideologie des Vorbild. Entgegen einer weit ver- Kapitel „Woher wir kommen, wer Klassenfeindes“ massiv bekämpft. breiteten Auffassung handelte es wir sind“ heißt es sogar: Man knüpfe Demokratischer Sozialismus war sich bei ihr aber gerade nicht um „an linksdemokratische Positionen aus der Sicht der SED eine „ideolo- eine „demokratische Sozialistin“ im und Traditionen aus der ... kom- gische Waffe der Bourgeoisie in de- oben definierten Sinne. In der De- munistischen Arbeiterbewegung“ ren Kampf gegen die Arbeiterklasse batte um Bernsteins Auffassungen an. Damit kann für die deutsche Ge- und den Sozialismus ...“ (vgl. Wal- zur Revision des Marxismus vertrat schichte aber nur die KPD und ihr demar Ritter: Leugnung der Verbre- Rosa Luxemburg die dogmatische Umfeld im Zeitraum zwischen 1918 chen des Kommunimus, Abschnitt Interpretation des Marxismus als und 1956 gemeint sein. Diese Par- „Kommunismus ist Antidemokra- Lehre von der unbedingten Not- tei war aber während ihrer Existenz tie“, in diesem Heft).

Heimliche Rache aus der DDR-Vergangenheit?

Wie die deutsch-deutsche Flüchtlingsgeneration in die Altersarmut geschickt wurde Von Jürgen V. Holdefleiß

Das Raunen im Kreis der Abgeord- DDR-Flüchtlinge“, abweichend neten war deutlich, empörte Zwi- vom vorgegebenen Thema, über- Der Autor schenrufe. Die Abgeordnete Marti- haupt debattiert wurde? Gegenstand Dr.-Ing. Jürgen V. Holdefleiß, na Bunge (Die Linke) hatte in ihrem dieser Bundestagsdebatte, die am Vorsitzender des bundesweit tä- Redebeitrag die Flucht von DDR- 02.12.2010 stattfand, war eigentlich tigen gemeinnützigen Vereins Bürgern in die Bundesrepublik ein Antragspaket der Linken zu 19 „Interessengemeinschaft ehe- als einen „freiwilligen“ Weggang verschiedenen Fallgruppen. Ein An- maliger DDR-Flüchtlinge“ (IEDF). bezeichnet. Sebastian Blumenthal trag, „ehemalige DDR-Flüchtlinge“ Der Verein kämpft gegen eine (FDP) legte sein Blatt beiseite und betreffend, war nicht darunter. Wie- rückwirkende Enteignung der reagierte erregt: „Meine Familie ge- so geisterte der „DDR-Flüchtling“ DDR-Übersiedler, die vor dem hört zu denen, die damals ‚freiwillig dennoch durch die Debatte? Fall der Mauer in der Bundes- die DDR verlassen’ haben, wie Sie Mit dem 2. Einigungsvertrag vom republik sesshaft wurden, s.a. es hier so süffisant dargestellt ha- 31.08.1990 war der gesamtdeutsche www.iedf.de. ben. Es war eine große Herausfor- Gesetzgeber beauftragt worden, ein derung, Ihrem Beitrag zuzuhören, Gesetz zu schaffen, das die Renten ohne die Fassung zu verlieren.“ und Rentenanwartschaften der aktu- beitretenden DDR musste mit Bun- Wie kam es zu der flapsigen Be- ellen Bürger der DDR bundesrechts- desrecht versorgt werden. merkung der Abgeordneten Bun- verträglich regeln sollte. Schließlich Kaum war das Rentenüberleitungs- ge? Und wie kam es dazu, dass stand der formelle Beitritt der DDR gesetz (RÜG) in Kraft, hagelte es über die Fallgruppe „ehemalige ins Haus, und der Rechtsraum der Beschwerden, Proteste und Schuld-

21 Heimliche Rache...

zuweisungen aus den neuen Bundes- einige Personengruppen sich prägt ist (es ist weder ein Datum ländern. Besonders ausgezeichnet „Die Linke“ mit ihren Anträgen noch eine Unterschrift noch der hatten sich dabei die Funktionäre beschwert, betrifft diese 19 Fall- Wortlaut bekannt, es gibt offen- der ehemaligen DDR aus Partei, gruppen planmäßig und bestim- sichtlich kein Protokoll über ein Regierung, bewaffneten Organen mungsgemäß. Alle waren sie zu entsprechendes Vorhaben), wird den etc. Sie konnten durch Klagen beim jener Zeit aktuelle Angehörige Gesetzesanwendern eine von den BVerfG zwar einige erstaunliche der DDR-Sozialversicherung und Vertragspartnern des Einigungs- Nachbesserungen für sich erreichen, gehörten damit zu den ausgewie- vertrages nicht vereinbarte Inter- blieben aber konsequent bei ihrer senen Adressaten der Rentenü- pretation des Rentenüberleitungs- Auffassung, von einer „Siegerju- berleitung. Auch die „Personen gesetzes vorgeschrieben. Lange stiz“ mit einem „Rentenstrafrecht“ mit bestimmten Funktionen in nach dem Inkrafttreten des RÜG, belegt worden zu sein. der DDR …“. Auch diese wis- vermutlich erst in den späten neun- Unter den 19 Anträgen war einer mit sen, dass sie rechtmäßig zu den ziger Jahren, von den Medien und dem schönen Titel „Wertneutralität Adressaten dieses Gesetzes ge- der Öffentlichkeit unbemerkt, von im Rentenrecht auch für Personen hören, und sie beschweren sich der Politik geduldet, kam der Inhalt mit bestimmten Funktionen in der lediglich über dessen Inhalt. des Trojanischen Pferdes zutage. DDR“. „Bestimmte Funktionen (?) Die ehemaligen DDR-Flücht- Die Rentenversicherer waren ange- …“: Wer mag wohl gemeint sein? linge hingegen waren, als die wiesen, in die Rentenkonten aller Natürlich: die Hauptverantwort- Herstellung der deutschen Ein- DDR-Flüchtlinge rückwirkend ein- lichen innerhalb der Nomenklatura heit verabredet wurde, bereits zugreifen und die Ergebnisse der mit besonderer Staats- und Parteinä- Angehörige des Staates „Bundes- jeweiligen individuellen Eingliede- he. Sicherlich war es gerade diesem republik Deutschland“. Allesamt rung rückabzuwickeln. Ersatzweise Antrag geschuldet, dass der Typus hatten sie ihren Status als Staats- sollten neue Rentenkonten errichtet „DDR-Flüchtling“ dann doch Ein- bürger der DDR verloren bzw. ab- werden, wobei die Betroffenen zyni- zug in den parlamentarischen Dis- erkannt bekommen. Der Beitritt scherweise den Folgen ihrer in der kurs nahm. der DDR war ein Ereignis, bei DDR geübten Widerständigkeit und dem ihre Angelegenheiten nicht ihrer Zivilcourage ausgeliefert wer- Bietet er doch eine interessante Tä- zur Disposition standen, waren den. Die Rentenversicherer wurden ter- / Opfer- Konstellation: sie doch durch ihre individuelle angewiesen, die Betroffenen über Auf der einen Seite diejenigen, Eingliederung Staatsangehörige die Löschung und Neubewertung die verantwortlich für den Staat der Bundesrepublik Deutschland ihrer Rentenkonten nicht zu infor- DDR standen und auf der ande- geworden. Zu den Bürgern des mieren, offensichtlich um ihnen da- ren Seite die, die dieses System beitretenden Staates DDR ge- mit den direkten Weg zum BVerfG nicht ausgehalten und der DDR hörten sie nicht. An keiner Stelle abzuschneiden. Eine Prüfung der den Rücken gekehrt haben. Die des Gesetzeswerkes, in keinem Verfassungsmäßigkeit ist zu keiner einen haben die DDR als den Artikel des 2. Staatsvertrages und Zeit veranlasst worden. „Hort des Friedens“ und der „so- in keinem der einschlägigen Pro- Die Griechen hatten Troja durch zialistischen Errungenschaften“ tokolle des Bundestages, in kei- eine Kriegslist erobert, indem sie ih- verherrlicht und den „imperia- ner der einschlägigen Fachver- nen ein Geschenk darreichten, des- listischen Staat BRD“ gehasst öffentlichungen zum Sozialrecht sen verheerenden Inhalt die Adres- und bekämpft. Die anderen ha- steht geschrieben, dass die in der saten nicht erkannt haben, wohl ben den Staat DDR als ideolo- alten Bundesrepublik eingeglie- auch nicht erkennen konnten. Der gisches Gefängnis empfunden derten DDR-Flüchtlinge in den 12. Bundestag hat mit dem Text des und sind unter Gefahren und un- Prozess der Rentenüberleitung RÜG ein Gesetz vorgelegt bekom- ter Inkaufnahme von Verlusten hineingezogen werden sollen. men, das den Anschein erweckte, in den demokratischen und frei- Und doch sollten sie erleben, dass als ob es bestimmungsgemäß für heitlichen Staat Bundesrepublik der Beitritt der DDR tief in ihre die Anwendung auf die damals ak- Deutschland geflohen. Die einen politische und soziale Situation tuellen Angehörigen der DDR-So- haben alles getan, den maroden eingreifen würde. Aus bisher un- zialversicherung gemünzt sei. Die und schon längst delegitimierten geklärten Gründen und unter einer Abgeordneten konnten nicht erken- Staat DDR zu zementieren. Die bisher ungeklärten Urheberschaft nen, dass mit den Texten ein übler anderen haben durch ihre Flucht hat man dem 12. Bundestag als zu- Nebenzweck verfolgt werden sollte. einen Beitrag zur moralischen ständigem Gesetzgeber das RÜG in Mit einer nach dem Muster des Tro- und politischen Diskreditie- Gestalt eines Trojanischen Pferdes janischen Pferdes konzipierten List rung des Staatswesens DDR und vorgeführt. Die textliche Gestaltung wurden die „Republikflüchtigen“, in schließlich zu dessen Zusammen- war unauffällig. Keiner der Abge- der damaligen DDR generell unge- bruch geleistet, was letztlich die ordneten konnte es den Paragrafen liebt, nachträglich bestraft. Herstellung der deutschen Ein- ansehen, dass das RÜG auch zur Die List war gründlich durchdacht: heit erst möglich machte. Enteignung der in der alten Bun- Die Betroffenen wurden bewusst im Und noch eine Konstellation ist in- desrepublik eingegliederten DDR- Unklaren darüber gelassen, dass sie teressant: Flüchtlinge herhalten sollte. für eine Bestrafung vorgesehen wa- Das Rentenüberleitungsgesetz, Mit einem Verwaltungsakt, der von ren. Damit waren sie der Möglich- über dessen Auswirkungen auf einer absurden Rätselhaftigkeit ge- keit beraubt, sich zeitnah gegen die

22 Heimliche Rache...

grundgesetzwidrige Einbeziehung erreicht: Aufmerksamkeit in der Öf- wenn diese sich auf ihre originäre in den Prozess der Rentenüberlei- fentlichkeit, bei den Medien, bei den Aufgabe besinnen, nämlich das Re- tung zu wehren und für den Fall des Handlungsträgern der Politik. Und gierungshandeln auf Basis unseres Scheiterns rechtzeitig Vorkehrungen die Ehre, dass man sich mit ihnen Grundgesetzes kritisch zu kontrol- zu treffen. angemessen und weitgehend sach- lieren. Es ist jedoch ein offenes Ge- Dass die Betroffenen (unabhängig lich auseinandersetzt. Und manche heimnis, dass die jeweilige Regie- von ihren ausgeübten Berufen und ökonomisch wirksamen Erfolge. rungsmehrheit des Bundestages von ihrer Qualifikation) durch diesen Die Opferseite hingegen drängt seit der Regierung zunehmend als Erfül- Eingriff auf das Niveau eines Hilfs- Jahren auf eine sachliche Auseinan- lungsgehilfe angesehen und in die- arbeiters herabgestuft werden, damit dersetzung. Eingaben an die Organe sem Sinne auch so behandelt wird. Einbußen von bis zu mehreren Hun- der Exekutive werden ignoriert und Welches ist die Aufgabe der Legis- dert Euro hinzunehmen haben und mit leicht widerlegbaren Phrasen lative? Der Bundestag gibt eine Bro- in manchen Fällen einer eindeutigen abgetan. schüre heraus, in der man es lesen Altersarmut ausgesetzt werden, Der Vorstand der IEDF hat den Pe- kann (Parlamentsdeutsch – Erläu- wird durch die Initiatoren des Ver- titionsausschuss des deutschen Bun- terungen zu parlamentarischen Be- waltungsaktes billigend in Kauf ge- destages mehrfach und eindringlich griffen): nommen. Ebenso durch die Politik, um persönliche Anhörung gebeten. „Wichtigste Aufgabe …Beratung die ungerührt zuschaut. Eine poli- Vergeblich bislang. Der Vorstand und Verabschiedung von Gesetzen tische und soziale Diskriminierung, ISOR (Initiativgemeinschaft zum im inhaltlichen und formellen Sinn für die es im nachkriegsdeutschen Schutz der sozialen Rechte ehe- und die Kontrolle der Exekutive“. Rentenrecht kein Beispiel gibt. maliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der Unseren Kindern wird es noch Ein bitteres Fazit: Das Rentenüber- DDR), also ein Verein, der sich vor- einleuchtender erklärt (www.kup- leitungsgesetz ist förmlich beschlos- rangig um die Altersversorgung der pelkucker.de): „Der Bundestag sen und damit für die Judikative DDR-Nomenklatura kümmert, hatte kontrolliert die Arbeit der Bundes- verbindlich. Dass die abseits des bereits am 08.11.2010 die Gelegen- regierung. Die Regierung muss dem Gesetzgebungsverfahrens zu Lasten heit einer öffentlichen Anhörung vor Bundestag genau erklären, was sie der ehemaligen DDR-Flüchtlinge dem Petitionsausschuss erhalten. tut. Das ist so geregelt, damit die eingebauten interpretatorischen Der Vorsitzende von ISOR konnte Bundesregierung nicht einfach ma- Kunststücke den Abgeordneten in einem geschlossenen Vortrag von chen kann, was sie will.“ des damaligen beschlussfassenden „Rentenstrafrecht“ sprechen und Kontrolle der Exekutive! Damit die Bundestages nicht ersichtlich sein von der „Missachtung der Lebens- Regierung nicht einfach machen konnten, ist dabei unerheblich. Von leistung“ der von ihm vertretenen kann, was sie will! Das ist eigentlich dieser grotesken Situation ist jedes „Personen mit bestimmten Funkti- deutlich genug. individuelle Klageverfahren vor onen…“. Im vorliegenden Falle ist das Re- dem Sozialgericht gezeichnet: Die gierungshandeln durch das geprägt, Klage auf Wiederherstellung des Auch wenn die rechtlichen Mög- was die Nomenklatura der unter- Rechts wird abgewiesen, auch in lichkeiten derer, die sich um ISOR gegangenen DDR sich gewünscht der 2. Instanz. Dort wird zusätzlich scharen, im wesentlichen ausge- hat. Die Vermutung ist nicht weit noch das Verbot der Revision ver- schöpft seien mögen, auch wenn die hergeholt. Die ersten gesamtdeut- hängt und damit verhindert, dass Politik versucht deutlich zu machen, dass sie weitere Zugeständnisse schen Wahlen und die Bildung der sich das Bundessozialgericht damit nicht zu machen bereit ist, immer- ersten gesamtdeutschen Regierung auseinandersetzt. hin hatte ISOR die Genugtuung, haben den Ministerien frisches Blut Eine Lösung des Konfliktes ist nur ein Podium gehabt und die Politiker aus den neuen Bundesländern zu- auf politischem Wege möglich. In gezwungen zu haben, ihnen münd- geführt. Die Deutsche Rentenversi- diesem Sinne fordert die deutsch- lich auf ihre Argumente zu antwor- cherung hatte aus der Konkursmasse deutsche Flüchtlingsgeneration, ver- ten. Der Referent ließ durchblicken, der DDR Spezialisten der DDR- treten durch die „Interessengemein- dass man durchaus bereit sei, den Rentenversicherung übernommen. schaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge Europäischen Gerichtshof für Men- Es liegt nahe, dass die Bestrafung e.V.“ (IEDF), von der Politik die schenrechte anzurufen und die Bun- der ehemaligen DDR-Flüchtlinge Wiederherstellung des Rechts. desrepublik Deutschland dort wegen auf Veranlassung, zumindest unter In jener Plenarsitzung sah sich die der Verletzung der Menschenrechte Duldung der ostdeutschen Seite auf Politik erstmalig konfrontiert mit zu verklagen, falls die Politik den die Agenda gekommen ist. Proteste 2 Fallgruppen, wie sie entgegenge- erhobenen Forderungen nicht nach- gegen eine derartige Maßnahme setzter nicht sein können: auf der ei- kommt. Die Netzwerke, die der ehe- werden jedenfalls von dort nicht ge- nen Seite die Nomenklaturkader der maligen DDR-Nomenklatura zur kommen sein. DDR („Täter“) und auf der anderen Verfügung stehen, lassen die Pro- Die IEDF fordert im Namen der Seite die DDR-Flüchtlinge („Op- gnose zu, dass ihnen das gelingt und deutsch-deutschen Flüchtlingsge- fer“). Die Täterseite verfügt über dass sie dort Gehör finden. neration die Regierung auf, das gut funktionierende Netzwerke, und Was die Opfer betrifft, die verfügen verletzte Recht wieder herzustellen sie hat es bislang eindrucksvoll ver- über keine Netzwerke. Sie haben und die Enteignung der ehemaligen standen, diese für sich zu nutzen. keine Lobby. Allenfalls wären das DDR-Flüchtlinge rückgängig zu Damit hat sie außerordentlich viel die Abgeordneten des Bundestages, machen.

23 Neuerscheinungen

Neuerscheinungen

Drehbuch angesichts der permanent drohenden Inhaf- Lutz Rathenow: tierung. Originell liest sich in diesem Zusammenhang Klick zum Glück Rathenows metaphorische Erinnerung an „Die Außento- ilette“: „Einmal saß ich unten, als an meine Wohnungs- Wartburg Verlag, Weimar 2010 tür zwei Mitarbeiter der Staatssicherheit klopften, die 2 96 S., 11,00 mich zur Klärung eines Sachverhaltes ein paar Stunden mitnehmen wollten.“ Da niemand öffnete, mutierte die Außentoilette zum temporären Exil, und die Stasi zog Lutz Rathenow irritiert mit lakonischen „unverrichteter Dinge wieder ab“. Prosaminiaturen­ Wie schon in seinem Gedichtband „Gelächter, sortiert“ Der Schriftsteller Lutz Rathenow war zu Zeiten der rekurriert Rathenow auch diesmal auf den Alexander- SED-Diktatur nach seinem in West-Berlin veröffentli- platz – eine Anziehungskraft, die der Fotograf Harald chten Prosa-Debut verhaftet worden. Immerhin hatte Hauswald teilt, mit dem zusammen er einst den legen- dieses einen vielversprechenden Titel getragen: „Mit dären Text-Bild-Band „Ost-Berlin“ veröffentlichte. In dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“. Dass die der autobiographisch grundierten Reflexion „Ein Platz Untersuchungshaft des MfS in Hohenschönhausen nur als Fluss“ gelingt es Rathenow abermals, der urbanen zehn Tage dauerte, war dem namhaften Protest aus West- Obdachlosigkeit eine metaphysische Dimension anzu- deutschland, etwa von Günter Grass, zu verdanken. In dichten. So deutet er den Alex als einen „geplatzten“ seiner Renitenz lehnte der junge Autor ein Ausreisean- Platz, der „seine Gestalt in der Unübersichtlichkeit gebot der DDR-Behörden ab. So „avancierte“ er in der eines Raumes“ für immer verloren habe. Entsprechend Folge zu dem am stärksten überwachten Schriftsteller erscheint „der Platz als Fluss (...) in ständiger Verän- des „Arbeiter- und Bauernstaates“, zumindest in Hin- derung, hier galt: Niemand kann zweimal den gleichen sicht auf die hierdurch produzierte Aktenlage. Dass Platz betreten.“ Christian Dorn diese Prägung den vielseitigen Autor bis heute nicht los- lässt, beweist auch seine neueste Prosa-Veröffentlichung „Klick zum Glück“, die verstreut erschienene sowie bisher unveröffentlichte Texte versammelt – und einen Claude Lanzmann: kaleidoskopartigen Blick über das Schaffen der letzten Jahre vermittelt. Der patagonische Hase. Erinnerungen Das genaueste Bild aber liefert immer noch die Über- Deutsch von Barbara Heber-Schärer, wachungskamera. Dies suggeriert zum Beispiel „Ein Erich Wolfgang Skwara und Claudia Steinitz. 2 Bewerbungsschreiben. August 2009“. Hierbei handelt Reinbek 2010 (Rowohlt), 675 Seiten, 24, 95 es sich um das fiktive Bewerbungsschreiben eines ehe- maligen Stasi-Mannes, das auf die jüngsten Überwa- Autobiographie des Regisseurs von „Shoah“ chungsmechanismen von Discount-Märkten anspielt. Die für Rathenow kennzeichnende Lakonie stellt sich Am 25. Oktober 2009 ging eine bestürzende Meldung in der Conclusio der Figur „Markus-Erich Zuverläs- durch die Medien: Die für diesen Sonntag vorgesehene sig“ wie folgt dar: „Jeder Mensch hat ein Recht darauf, Filmaufführung von Claude Lanzmanns „Warum Israel“ überwacht zu werden. So nimmt man ihn ernst.“ Nach im Hamburger Kino B-Movie konnte nicht stattfinden. der jüngsten Ankündigung des neuen Bundesbeauftrag- „Antiimperialisten“ und Antisemiten aus dem Umfeld ten Roland Jahn zum Umgang mit den Stasi-belasteten des „internationalistischen Zentrums B5“ in St Pauli Mitarbeitern eröffnen sich hier für die Betroffenen ganz sowie Anhänger der Sozialistischen Linken (Sol.) und „neue“ Perspektiven. der Tierrechtsaktion Nord hatten den Zugang zum Hof Tatsächlich ernst genommen werden von Rathenow verbarrikadiert und die am Film Interessierten bedroht indes Träume, sowohl die eigenen wie auch die der Fi- und als „Judenschweine“ beschimpft. Das Hoftor war guren. Letzteres wird in der Causa „Grell und Grass“ mit Fahrradschlössern versperrt worden. So sollte eine deutlich, die zugleich auf Kafka (Gregor Samsa) und auf israelische Kontrollstation simuliert werden. Auf einem Grass´ verdrängte SS-Vergangenheit anspielt. Die jün- Plakat wurde die Grenzmauer zwischen Israel und den gere, eigene Vergangenheit spiegelt sich in „Drei Träu- palästinensischen Gebieten mit dem einstigen südafri- me Anfang Dezember 1980“. Vor dem Hintergrund des kanischen Apartheidregime in Verbindung gebracht. So albtraumartigen Charakters entfaltet die dichte Sprache sollte die „Vernichtungspolitik“ Israels gegenüber den dieser Text-Miniaturen eine besondere Qualität. Sind sie Palästinensern angeprangert werden. doch die Wiedergabe einer zwischen Traum und Reali- Eine groteske, diesem nachdenklichen und so wenig tät schwebenden Wirklichkeit, oder genauer: Eine Art propagandistischen Film „Warum Israel“ kaum ange-

24 Neuerscheinungen

messene Agitprop-Aktion. Lanzmann, der später um Der mitreißende Stil - man merkt dem Text an, dass eine Stellungnahme gebeten wurde, kommentierte: Lanzmann ihn größtenteils diktiert hat - zeugt von inten- „Es ist noch nie irgendwo auf der Welt die Vorführung siver Freunde am Erzählen. Insgesamt geht Lanzmann meiner Filme verhindert worden.“ Jetzt ist es passiert, nicht chronologisch, sondern assoziativ vor. Manche ausgerechnet in Deutschland. Und er fügte hinzu: „Die Lebensabschnitte beschreibt er ausführlich und detail- Deutschen dürfen nie wieder als Herren auftreten.“ verliebt, manche Episoden und Menschen kommen da- Lanzmann spielte auf die Nationalsozialisten an. Zu gegen kaum vor. Dieser Stil macht es nicht immer leicht, ihrem Kampfrepertoire in den Endjahren der Weimarer beim Lesen den Überblick zu behalten, aber er passt Republik gehörten auch Blockadeaktionen gegen „ver- umso besser zu Lanzmanns ganz eigener, sehr persön- judete“ Filme. Für Lanzmann war die Tatsache, dass es lichen Art des Erzählens. Erst auf S. 539 kommt er auf nicht Nazis, sondern Linke waren, von denen dieser in seinen Film „Shoah“ zu sprechen und beschreibt die äu- der bundesdeutschen Geschichte wohl einmalige Über- ßerst mühsamen Dreharbeiten zu „Shoah“. Unter Bedin- griff ausgegangen war, Ausdruck einer unguten Nähe gungen von materieller Armut und großer psychischer gewisser links- und rechtsextremer Denkmuster: „Sie Belastung arbeitete er zwölf Jahre an dem Film. Er rei- nennen es Antizionismus, aber es ist Antisemitismus“, ste durch Europa, die USA und Israel, um Opfer und sagte er bestimmt. Täter des Holocaust vor der Kamera zu befragen. Zum entscheidenden Moment der Arbeit an „Shoah“ gerieten die Besuche in Polen. Lanzmann schreibt, dass er diesen Wer aber ist dieser Claude Lanzmann, der solchen Film nur so drehen konnte, wie er gedreht wurde. Weil Protest auslöst ? er selbst vom deutschen Terror betroffen war und sich In seiner Autobiographie, die in Frankreich zum Buch dennoch weit genug zurücknehmen konnte, um seinen des Jahres 2009 gewählt wurde, blickt der französische Protagonisten zuzuhören, weil er den Schrecken ertra- Publizist und Regisseur auf ein bewegtes Leben zurück. gen konnte. Lanzmanns Lebensthema ist die Beschäf- Er hat viel erlebt und entsprechend viel zu erzählen: tigung mit der jüdischen Tragödie und der Existenz des „Hundert Leben, das weiß ich nur zu gut, würden mich Staates Israel. Die Filmtrilogie „Warum Israel“ (1972), nicht müde machen“, schreibt er. Und beim Lesen hat „Shoah“(1985) und „Tsahal“ (1994) gilt als epochales man tatsächlich den Eindruck, dass der 1925 geborene Dokument. Autor diese hundert Leben tatsächlich gelebt hätte. Er Vor diesem Hintergrund bekommt der Titel des Buches breitet subjektive Erinnerungen einer bewegten Existenz eine ganz besondere Bedeutung.. Denn der Hase ist für mit zahlreichen amourösen Abenteuern aus. Lanzmann ein Sinnbild für seinen eigenen Lebens- und Reportagen und historische Forschungsreisen führen ihn Freiheitsdrang. In „Shoah“ sieht man eine Szene, wie rund um den Globus. Lanzmann ist ein Besessener, an- zwei Hasen in Auschwitz-Birkenau unter einem Stachel- getrieben von Wissensdrang und Abenteuerlust. In einer draht hindurch in die Freiheit hoppeln. Und während atheistischen jüdischen Familie 1925 in Paris geboren, eines Aufenthalts in Patagonien war er eines Tages im erlebte er schon als kleiner Junge den aufkeimenden Auto unterwegs, als plötzlich ein Hase auf der Straße Antisemitismus am eigenen Leib, als seine Schulkame- auftauchte. Dank Lanzmanns Bremsmanöver konnte raden anfingen, auf jüdische Mitschüler einzuschlagen. sich das Tier auf die Wiese retten. Martin Rooney Als 18-jähriger schloss er sich der Jugendorganisation der kommunistischen Partei und der Résistance an. Er hat früh gelernt, dass man Gewalt anwenden muss, um Eckhard Jesse: den eigenen Untergang zu verhindern. Nach dem Krieg setzt er sein Philosophiestudium fort und geht 1947 nach Systemwechsel in Deutschland Tübingen, dann an die neu gegründete Freie Universität 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90 in Berlin. Lange Jahre arbeitete er als Journalist für fran- Köln 2010 (Böhlau-Verlag), 280 S., 24,90 2 zösische Zeitungen und Magazine, schloss Freundschaft mit Jean-Paul Sartre und Gilles Deleuze und lebte lange Jahre mit Simone de Beauvoir zusammen, mit der ihn Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert eine lebenslange intellektuelle Freundschaft verband. Er Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ist von vier bereiste die Welt und wurde zum Augenzeugen histo- bzw. fünf politischen Systemwechseln geprägt: vom Wil- rischer Ereignisse. Den Pariser Mai 1968 erlebte ebenso helminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik, von hautnah mit wie den Algerienkrieg, die Kulturrevolution der Weimarer Republik zum Dritten Reich, vom Dritten in China ebenso wie die unterschiedlichen kriegerischen Reich zur Bundesrepublik Deutschland bzw. Deutschen Versuche, den Staat Israel auszulöschen. Lanzmanns Demokratischen Republik, von der Deutschen Demo- Solidarität mit Israel, das er 1952 erstmals bereiste, ist kratischen Republik zur erweiterten Bundesrepublik. prinzipiell und unerschütterlich. Er brach den Kontakt „Systemwechsel meint“, so der Chemnitzer Politikwis- zur algerischen Unabhängigkeitsbewegung ab, als deren senschaftler Eckhard Jesse, „den (friedlichen, weniger Vertreter erklären, Soldaten zur Befreiung Palästinas friedlichen oder gewaltsamen) Übergang von einem entsenden zu wollen. Auch kam es zu Meinungsver- Systemtypus zu einem anderen, abgesehen von etwaigen schiedenheiten zwischen Lanzmann und seinem Mentor Modifikationen (monarchisch-konstitutionelle Verfas- Jean-Paul Sartre, der in seinen Schriften den Terrorismus sungstypen etc.) entweder von der Diktatur zur Demo- der palästinensischen Nationalbewegung verteidigte. kratie oder von der Demokratie zur Diktatur“ (S. 7). So

25 Neuerscheinungen

lautet die Definition in seinem Buch „Systemwechsel in noch etwas stärker betonen können. Der besonders klare Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90“, das Aufbau und die gut verständliche Darstellung machen diese Veränderungen unter der Fragestellung „Was sind aus dem Band darüber hinaus eine gute Einführung und die zentralen Gründe für die Umbrüche – den Sturz des ein nützliches Nachschlagewerk. Alten wie den Sieg des Neuen?“ (S. 11f.) erörtern will.  Armin Pfahl-Traughber Der Band gliedert sich in acht Hauptkapitel, die hi- storisch beschreibend wie analytisch vergleichend an- gelegt sind: Zunächst gibt Jesse einen Überblick zur Michael Ludwig Müller: Systemwechselforschung und benennt die drei Krite- rien Ende des alten Systems, Institutionalisierung und Die DDR war immer dabei Konsolidierung des neuen als Instrumente für die Un- SED, Stasi & Co. und ihr tersuchung und den Vergleich. Danach präsentiert das Einfluss auf die Bundesrepublik, Buch eine Darstellung der verschiedenen Ereignisse München 2010 (Olzog Verlag), 300 S. 1918/19, 1933, 1945/49, 1989/90 jeweils bezogen auf die Gesichtspunkte Rahmenbedingungen und Ursachen, Verlauf und Phasen, Ergebnisse und Folgen. Nach der Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein Ausbreitung des historischen Stoffs stehen die systema- tischen Vergleiche zunächst bezogen auf Aspekte wie „20 Jahre nach dem Ende dieses Spuks darf das, was Charakterisierung, Determiniertheit oder Intensität der die diktatorischen Regimes von Walter Ulbricht und Systemwechsel im Zentrum des Interesses. Schließlich auch in der Bundesrepublik anrichte- geht es um den Vergleich der Diktaturen (NS und DDR) ten“, schreibt der gebürtige Oberfranke Michael Ludwig Müller klar und unmissverständlich, „nicht verdrängt und Demokratien (Bundesrepublik und Weimar) so- und vertuscht werden. Nur wenn sich die nachwach- wie der Demokratie und Diktatur (Bundesrepublik und sende Generation damit beschäftigt und die notwen- DDR) und dann noch hinsichtlich des „neuen“ System- digen Schlüsse zieht, wird sie künftigen Auseinander- vergleichs („alte“/„neue“ Bundesrepublik). setzungen mit extremistischen Gruppen gewachsen Bilanzierend bemerkt Jesse: „Die vier Schlüssel-, Zä- sein.“ Das ist das Programm des Buches von Michael suren- und Umbruchjahre 1918, 1933, 1945 und 1989 Ludwig Müller, der damit einen „Beitrag zu dem bisher symbolisieren fundamentale, in vielerlei Hinsicht für das nur langsam und zäh vorankommenden Aufarbeitungs- 20. Jahrhundert charakteristische Systembrüche. Dem prozess“ leistet. Dazu ist er prädestiniert, denn seit bald autoritären Kaiserreich, das allerdings ein Rechtsstaat fünfzig Jahren beobachtet er die Zeitgeschichte in West- war, folgte 1918 die ungefestigte Weimarer Demokratie, Berlin – anfangs als Student, dann für den Verlag Axel ihrerseits nach nur 14 Jahren vom NS-Regime abgelöst. C. Springer als Journalist der „Berliner Morgenpost“. Er Mit dessen blutigem Ende schlugen der Osten und der untersucht die „feindselige, auf Irreführung, Verleum- Westen Deutschlands unterschiedliche Wege ein. 1945 dung und Zersetzung der westdeutschen Gesellschaft fungierte als ein Scharnierjahr: Zwar war der Bruch mit gerichtete Haltung der SED und ihrer ‚Krake‘ Staats- der deutschen Vergangenheit bei allen Elementen der sicherheit“. Müller spannt somit einen großen Bogen Kontinuität fundamental, doch wies die Entwicklung in von der ersten Friedensbewegung in den fünfziger bis den beiden Hälften Deutschlands, aus denen vier Jahre zum NATO-Doppelbeschluss in den achtziger Jahren, später zwei Staaten – nicht freiwillig – entstanden, eine wobei er sich keinesfalls – wie andere – allein auf die vollkommen andere Qualität auf – einerseits eine mehr Staatssicherheit beschränkt, sondern Gewinn bringend schlecht als recht funktionierende Diktatur, andererseits das Ensemble politischer Instrumente der DDR und der eine mehr recht als schlecht funktionierende Demokra- sowjetischen Führungsmacht in konzertierter Aktion tie. Das westdeutsche ‚Provisorium’ war lebenskräftiger vorstellt. Nicht das Detail, sondern die Generallinie ist als das ostdeutsche Gebilde, das ein ‚Definitum’ sein sein Anliegen, um in eineinhalb Dutzend Kapiteln ge- wollte“ (S. 213). gen „Unwissenheit und Gleichgültigkeit“ (S. 10) und ein „verklärtes Bild der DDR“ (S. 15) anzugehen. Er Die bilanzierende und vergleichende Betrachtung zu beginnt mit der Remilitarisierung in der Bundesrepublik den „Systemwechsel in Deutschland“ beeindruckt allein und dem Anknüpfen der DDR an eine verbreitete „Be- schon durch ihre systematische Anlage und Strukturie- völkerungsmehrheit gegen die Bundeswehr“ (S. 21), die rung. Jesse benennt immer wieder für die unterschied- sich Ost-Berlin mit Hilfe der Kommunistischen Partei lichen Aspekte Kriterien, die ihm als Untersuchungsra- Deutschlands (KPD) zunutze zu machen versucht. Trotz ster dienen. Das so entstandene Analyseprogramm setzt allem letzthin vergeblich, wie der NATO-Beitritt belegt er dann auch konsequent um, wodurch sich der hohe (S. 43). Andere Angriffsziele beschreibt Müller am Bei- Erkenntnis- und Informationsgehalt des Buchs erklärt. spiel der Vertriebenen (S. 46) oder der Verleumdung von Seine inhaltlich komprimierten historischen Darstel- Bundespolitikern (S. 54). Mit der „zweiten Friedensbe- lungen können darüber hinaus noch als historische Be- wegung“ (S. 61) unternahm Ost-Berlin den Versuch, mit schreibungen der jeweiligen Umbrüche gelesen werden. dem „Kampf dem Atomtod“ (S. 72) und der Infiltration Der Autor setzt sich jeweils auch mit Einwänden ausei- des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), nander, etwa hinsichtlich der Frage nach einer Angemes- von dem sich die SPD darauf hin 1960 trennte, für die senheit eines Vergleichs von „Drittem Reich“ und DDR. bislang erfolglose, wegen des KPD-Verbotes erschwerte Gegen Ende hätte er vielleicht den analytischen Nutzen Politik Studenten als „trojanische Esel“ (S. 91) für sich dieser vergleichenden Betrachtung von Systemwechseln einzunehmen. Ausführlich skizziert er bedeutende, weit-

26 Neuerscheinungen

hin bekannte inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit punkt seiner Untersuchung. Zwei V-Personen dieses (S. 137–244) in West-Berlin wie den Journalisten Walter Netzes – die Schweizer Journalistin Carmen Mory über Barthel („Kurt“) vom „Spandauer Volksblatt“, den Stu- die SPD in der Schweiz (S. 202–226) und Gustav Regitz dienleiter der Evangelischen Akademie, Peter Heilmann über die SPD im Saarland (S. 246–253) mit den Deckbe- („Adrian Pepperkorn“), den Journalisten Dietrich Sta- zeichnungen „S 11“ und „S 19“ (VM „Albert“) – sind in ritz („Erich“) oder den SPD-Referenten Heinrich Bur- der Literatur bereits bekannt,1 wie auch Sattler („Dr. We- ger („Eisenstein“). Für Inoffizielle in der Bundesrepu- ber“) selbst, der als 36-Jähriger mit der Führung betraut blik nimmt er den NATO-Wissenschaftler Rainer Rupp wird.2 („Topas“), den Referenten im Bundesministerium für Für den Führungsoffizier Sattler arbeitet „S 1“ operativ innerdeutsche Beziehungen, Knut Gröndahl („Töpfer“), unter den sozialdemokratischen Emigranten in Frank- oder die Regierungsdirektorin beim BND, Gabriele Gast reich, „S 2“ in der Berliner Szene, darunter gegen den („Gisela“), stellvertretend aufs Korn. Doch auch jene, späteren SED-Funktionär Otto Buchwitz, und „S 3“ die im Herzen der Demokratie in Bonn wirkten wie die alias „Rosenthal“ reist nach Kopenhagen, Luxemburg, SPD-Vorzimmersekretärin Ursula Vollert („Udo“), der Prag und Schweden, um Sozialdemokraten auszu- Kanzleramtsreferent Günter Guillaume („Hansen“), der forschen. Diesem ist das größte Kapitel in dem Buch FDP-Politiker („Olaf“), der SPD-Funk- Grundmanns gewidmet, zurecht, da mithilfe seines In- tionär Rudolf Maerker („Max“) oder die Verfassungs- formationsaufkommens umfangreiche Netzwerke zer- schützer Hansjoachim Tiedge und Klaus Kuron („Stern“) stört wurden. In Prag wirken „S 4“ alias „Kruse“ als werden porträtiert. Dem West-Berliner Polizisten Karl- Mitarbeiter im SPD-Parteivorstand, „S 5“ gegen die Heinz Kurras („Otto Bohl“), der den Studenten Benno Sozialistische Arbeiterpartei und „S 6“ alias „Moritz“ Ohnesorg erschoss (S. 195–208), und dem „Nicht-IM“ über die SPD. „S 7“ alias „Heinz“ ist Angestellter der Günter Wallraff (S. 209–234) widmet er großzügig Auf- II. Internationale in Brüssel, „S 8“ alias „Fritz“ Redak- merksamkeit. Die Bemühungen um Einfluss auf die teur in Holland und „S 9“ ist Mitglied des Kleinen Par- Bundesrepublik skizziert Müller bis zum Untergang des teivorstandes der SPD. „S 10“ wirkt unter den Sozial- Staates, dem das dienen sollte. Im Detail nicht immer demokraten in Dänemark, der Journalist „S 12“ in der valide – Kopenhagen liegt nicht in Schweden (S. 230) Schweiz, der Redakteur „S 13“ in Schweden, der Mon- – hat Michael Ludwig Müller ein spannendes Panora- teur „S 14“ in Schlesien und der Journalist „S 15“ im ma entworfen, das immer dann, wenn er die Akteure aus Saargebiet. Die Liste der weiteren VM Sattlers erstreckt nächster Nähe erleben konnte wie den Journalisten Karl- sich auch auf Österreich und die Slowakei. Ranghöchster Heinz Maier, von der Staatsicherheit auch als „Komet“ VM ist das ehemalige Mitglied des Reichtstages Paul bezeichnet (S. 137), besonders anschaulich ist. Röhle, der als „S 18“ firmiert. Eine jede dieser Quel- Und wozu das alles? „SED, Stasi & Co.“ waren zwar len stellt Grundmann umfassend vor, auch für die Zeit in der Bundesrepublik immer dabei, resümiert Micha- nach dem II. Weltkrieg, sofern sie diese erlebt haben. el Ludwig Müller, aber: „Die Kosten des mit direkter Sattler wird in der DDR zu lebenslänglich verurteilt. Aggression, klammheimlicher Infiltration und verschla- Interessant ist vor allem Grundmanns Analyse dieses gener Gehässigkeit geführten Kampfes um die Destabi- VM-Netzes, das er in seiner Schlussbilanz ausbreitet (S. lisierung des westlichen Nachbarn waren gewaltig. Sie 269–280). Nahezu die Hälfte der VM gehört vor der Re- … trugen in den Achtzigerjahren zusammen mit dem krutierung durch das GeStapa der SPD an (S. 269), hat Aufwand für Unterhalt und Sicherung der als ‚Anti- somit einen leichten Zugang zu sozialdemokratischen faschistischen Schutzwall‘ bezeichneten Mauer ganz Emigrantenkreisen. Erwartungsgemäß ist der Frauenan- wesentlich zum Niedergang des Arbeiter- und Bauern- teil gering – 3 von 27, was im üblichen Schnitt liegt. staates bei“ (S. 13 f). Demnach war das System, das ei- Auffallend ist mit fünf VM die hohe Quote der Selbstan- gentlich nach einem langen Überleben gestrebt hat, sein bieter beim GeStapa (S. 27), gleichfalls fünf sind wäh- eigener Totengräber. Helmut Müller-Enbergs rend ihrer Haft rekrutiert worden. Neun VM wirbt das Dezernat II 1 A 2 des GeStapa selbst, ebenso viele kom- men über andere Dezernate hinzu. Weitere VM gehen Siegfried Grundmann: auf Tipps aktiver VM zurück. In Auswertung der Motive gelangt Siegfried Grundmann zu dem Ergebnis, das nicht Die V-Leute des -Kommissars einer der VM aus politischer Überzeugung kooperiert (S. Sattler 271). Die meisten dienen aus „Eigennutz und Gewinn- Berlin (Hentrich & Hentrich) 2010, 344 S. sucht“ (S. 272), eine Mischform zwischen „Wiedergut- machung“ bei vorangegangener Straftat und materiellem Vorteil. Personen (4), deren Loyalität während der opera- Die Handschrift des Führungsoffiziers Sattler tiven Arbeit fraglich ist, werden fallengelassen, mitunter Kriminalrat Bruno Sattler ist Führungsoffizier beim Ge- verhaftet (S. 273 f.); hingegen VM (3), die erfolgreich heimen Staatspolizeiamt (GeStapa) und dort von 1934 sind und unfreiwillig dekonspiriert wurden, können auf bis 1939 Leiter des Dezernats II 1 A 2 und zuständig für die Unterstützung des GeStapa zählen. Der Verschleiß Sozialdemokraten, allen anderen voran die SPD selbst, der VM ist ohnehin groß (6), teils werden sie im Aus- die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), das Reichsban- land verurteilt, in zwei Fällen zum Tod (S. 274). Drei der ner Schwarz-Rot-Gold und die Gewerkschaften (S. 18). VM arbeiten bis zum Untergang des NS-Staates aktiv, Sein inoffizielles Netz mit mehr als zwei Dutzend VM wobei nach Grundmann dafür maßgebend deren intel- (V-Personen) rückt der 72-jährige Siegfried Grundmann, lektuelle Qualität, die Intensität der Verbindung in sozi- früher Soziologieprofessor in Ostberlin, in den Mittel- aldemokratische Milieus und schließlich unzureichende

27 Neuerscheinungen

lam und Terror vollzieht sich nicht nur in den Köpfen Ewiggestriger, sondern in den Äußerungen ihrer poli- tischen, ökonomischen kulturellen Elite. Islamhass ist hier zu einer akzeptablen Haltung geworden“ (S. 10). Der Autor gliedert seine Arbeit in sechs unterschiedlich lange Kapitel: Zunächst geht es um die historischen Ur- sprünge der Islamfeindlichkeit, die in den Kreuzzügen gesehen werden, in der Angst vor der „Türkengefahr“ ihre Fortsetzung fanden und auch im „christlich-kolo- nialistischen Islambild“ des Romanautors Karl May Vorsicht der emigrierten Sozialdemokraten ist (S. 275). nachweisbar seien. Danach geht Bühl auf den vielfach Angesichts des Informationsaufkommens wird deutlich, ignorierten arabischen bzw. islamischen Beitrag zur eu- dass es dem GeStapa gelungen ist, mit dem doch eher ropäischen Kultur ein. Dem folgt das längste Kapitel überschaubaren VM-Netz einen beachtlichen Einblick zur modernen Islamfeindlichkeit mit Ausführungen zur in die sozialdemokratische Emigration zu gewinnen. Sarrazin-Debatte, der Kopftuch-Kontroverse, dem Mo- Siegfried Grundmann hat mit der Untersuchung zu den scheebau-Streit, der Islamfeindlichkeit der Kirchen und „V-Leuten des Gestapo-Kommissars Sattler“ eine Bre- dem Islam-Bild der Medien. Anschließend widmet sich sche für die Forschung über die nachrichtendienstliche Bühl dem Kontext von Islamfeindlichkeit und Migration Arbeit während der NS-Zeit geschlagen und dabei einen und fragt nach der Angemessenheit eines Vergleichs von Zugang gewählt, der deutlich den Zusammenhang zwi- Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Und schließlich schen VM-Führung und VM-Führer, Aufwand, Wirkung erörtert er noch die Angemessenheit der begrifflichen und Folgen erkennen lässt. Als störend wirken allerdings Erfassung des Gemeinten, wobei gegen den Begriff „Is- handelsübliche Etiketten wie „Judaslohn“ und derglei- lamphobie“ und für die Kategorie „Islamfeindlichkeit“ chen, und gelegentlich schwer zu deutende Aussagen plädiert wird. wie: „Ein Ersatz von Terror freilich war das nicht, viel- Immer wieder hebt Bühl die formalen Gemeinsamkeiten mehr Bestandteil desselben.“ (S. 279) alter und neuer Islamfeindlichkeit hervor: „Die Analyse  Helmut Müller-Enbergs der Muster islamfeindlichen Denkens im aktuellen Dis- 1 Vgl. Joachim von Kürenberg: Bella Donna – Das gefährliche Leben der Car- kurs ergibt somit, dass es sich um eine Stereotypie han- men Morell. Hamburg 1950; Carmen Abbati: Ich, Carmen Mory. Das Leben delt, die über ausgeprägte historische Quellen verfügt, einer Berner Arzttochter und Gestapo-Agentin (1906 – 1947). Zürich 1999; wobei sich drei Hauptgruppen voneinander unterschei- Lukas Hartmann: Die Frau im Pelz. Leben und Tod der Carmen Mory. Frank- furt 2001; Regula Ludi: Von Verführung und Verführten. Repräsentationen der den lassen und zwar erstens: Türken- und Islambilder schweizerischen Kriegsverbrecherin Carmen Mory, in: Ulrike Weckel, Edgar des Mittelalters sowie der Neuzeit, deren argumentative Wolfrum (Hrsg): „Bestien“ und „Befehlsempfänger“. Frauen und Männer in Raster adaptiert werden, zweitens antisemitische Stere- NS-Prozessen nach 1945. Göttingen 2003, S. 139–171; Tanya Lieske: Spion wider Willen. Düsseldorf 2009. otype, die auf eine andere Opfergruppe in Gestalt der 2 Vgl. Stefan Appelius: Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht. Essen Muslime transferiert werden sowie drittens einige weni- 1999, S. 90, 104 und 476; Beate Niemann: Mein guter Vater. Mein Leben mit ge genuin postmoderne Stereotype, die über keine histo- seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie. Teetz 2005; Henry Leide: NS- Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. rischen Vorbilder verfügen. Bei den in der Islamfeind- Göttingen 2005, S. 412 und 447. lichkeit zum Einsatz gelangenden stereotypen Mustern handelt es sich somit in der Regel um Bilder, die sich kollektiv ins Bewusstsein eingegraben haben und nun- Achim Bühl: mehr eine Reaktivierung erfahren“ (S. 300). Die islam- feindlichen Muster, die über Jahrhunderte in der Kultur Islamfeindlichkeit in Deutschland verankert gewesen seien, ermöglichten heute ein nahezu Ursprünge, Akteure, Stereotype müheloses Andocken. Hamburg 2010 (VSA-Verlag), 319 S. Bühls Arbeit kommt das Verdienst zu, eine informative Gesamtdarstellung zum Thema „Islamfeindlichkeit“ vorgelegt zu haben. An vielen Beispielen wie etwa der Keine klare Trennlinie von Islamfeindschaft Juden- und Muslimenfeindschaft Martin Luthers kann er und menschenrechtlicher Islamkritik die historische Kontinuität einschlägiger Einstellungen Eine Reihe von empirischen Studien, die nach dem gut belegen. Mitunter ist seine Literaturgrundlage etwas Ausmaß der Verbreitung von Vorurteilen gegenüber dünn, oder er verweist etwas unkritisch auf Internet- Minderheitengruppen fragen, belegen einen Anstieg der Einstellungen auf Wikipedia. Gleichwohl vermag Bühl Ablehnung und Feindschaft gegenüber Muslimen. Gera- die Muster des islamfeindlichen Diskurses immer wie- de im Kontext der Sarrazin-Debatte ist dieser Sachver- der anschaulich herauszuarbeiten. Die auf dem Klap- halt noch einmal öffentlich deutlich geworden. Bei den pentext vom Verlag angebrachte Frage „Wo liegt die hier angesprochenen islam- und muslimenfeindlichen Grenze zwischen Islamkritik und Islamfeindlichkeit?“ Diskursen handelt es sich inhaltlich aber um keine neu- beantwortet er aber gerade nicht. Zwar verweist Bühl bei en Phänomene. Vielmehr knüpfen die entsprechenden den Ausführungen zum Kopftuch- und Moscheenstreit Inhalte an eine jahrhundertlange Tradition an. Darauf darauf, es könnte hier kritische Auffassungen auch aus macht der Soziologe Achim Bühl in seinem Buch „Is- einer nicht-islamfeindlichen Position heraus geben (vgl. lamfeindschaft in Deutschland. Ursprünge, Akteure, 170, 175). Diese Einsicht durchzieht aber als grundsätz- Stereotype“ aufmerksam. Darin konstatiert er bereits zu liche Auffassung nicht den Text des Buches, das dadurch Beginn: „Islam-Bashing ist in Deutschland keineswegs eine etwas apologetische und einseitige Dimension an- geächtet, sondern salonfähig, die Gleichsetzung von Is- nimmt. Armin Pfahl-Traughber

28