Damberger, Thomas sind auch nur Menschen

2015, 19 S.

Empfohlene Zitierung/ Suggested Citation: Damberger, Thomas: Cyborgs sind auch nur Menschen. 2015, 19 S. - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-109111

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Kontakt / Contact: peDOCS Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) Informationszentrum (IZ) Bildung E-Mail: [email protected] Internet: www.pedocs.de rerseits Ausdruck einer Identität (vgl. Während er in England am Dartington ebd.). College of Arts experimentelle Kompo- sition und Klavier studierte, lernte er Wenn das tatsächlich der Fall ist, wenn den Kybernetiker Adam Montandon wir also dadurch, dass wir unseren Kör- kennen. Mit ihm zusammen entwickelte per formen und unseren Geist bilden er den Eyborg, ein Gerät, das ähnlich daran arbeiten, transhumane Wesen zu wie eine kleine Kamera auf dem Kopf werden, stellt sich die Frage, wann ge- getragen wird, über einen Sensor Far- nau wir die Schwelle vom Homo Sapi- ben aufzeichnet, diese in Schallwellen ens zum Transhumanen überschreiten umwandelt und an einen Chip sendet, werden? Julian Savulescu, Philosophie- der sich an Harbissons Kopf befindet. Professor am St. Cross College in Mit anderen Worten: Der farbenblinde Oxford, betont, dass Transhumane Harbisson ist mit Hilfe des Eyeborgs in Menschen sind, die in besonderer Weise der Lage, Farben als Töne wahrzuneh- verändert und verbessert wurden, und men. Mittlerweile ist das Gerät Teil sei- zwar so, dass sie über signifikante, nes Körpers – und das übrigens ganz nicht-menschliche Eigenschaften verfü- offiziell. Als Harbisson 2004 seinen gen. Transhumane sind aus Savulescus Pass erneuern wollte, lies er sich mit Sicht beispielsweise Mischwesen, soge- Eyeborg fotografieren und konnte nach nannte Chimären, oder Cyborgs (vgl. einigem Hin und Her die britischen Be- Savulescu 2009, 214). hörden davon überzeugen, die techni- Auf normalem Wege, also dadurch, sche Vorrichtung als Teil seines Kör- dass wir fleißig Gewichte stemmen oder pers zu akzeptieren. Harbisson gilt da- (Weiter-)Bildungsangebote wahrneh- her als der erste behördlich anerkannter men, werden wir wohl kaum zu Cy- . borgs werden. Dazu bedarf es techni- Ab wann ein Mensch unabhängig von scher Mittel. Der britisch-irische Künst- einer behördlichen Anerkennung als ler Neil Harbisson greift in eindrückli- Cyborg gilt, ist ausgesprochen unklar. cher Weise auf solche technischen Mit- Man könnte behaupten, dass wir es be- tel zurück, indem er am Kopf eine Vor- reits dann mit einem Cyborg zu tun ha- richtung trägt, die er als Eyeborg be- ben, wenn technische Mittel genutzt zeichnet. Was hat es mit diesem Eye- werden, um die naturgegebenen Fähig- borg auf sich? Nun, Harbisson leidet keiten zu verbessern. Nehmen wir einen seit seiner Geburt an einer speziellen Brillenträger. Seine natürliche Fähigkeit Form der Farbenblindheit, der soge- zu sehen ist offenkundig nicht sonder- nannten Achromatopsie. Menschen, die lich gut ausgeprägt. Mithilfe der Brille von dieser Störung betroffen sind, kön- kann er diesen Mangel kompensieren nen lediglich Hell-Dunkel-Kontraste und seine Sehkraft verbessern. Damit ist wahrnehmen. Man kann lernen, diesen der Brillenträger das, was der französi- Mangel zu akzeptieren, mit ihm zu le- sche Wissenschaftsforscher Bruno La- ben. Harbisson hingehen hat sich für tour ein Hybridwesen nennt (vgl. Latour einen anderen Weg entschieden. 1998, 29ff.). Wenn man es genau nimmt, war der Mensch schon immer

2 ein solches Hybridwesen. Denken wir lea) und regen dort den Hörnerv des nur an die Sphinx, die danach fragt, Ohres an. Menschen, die auf ein Coch- welches Wesen am morgen auf vier, am leaimplantat angewiesen sind, wären Mittag auf zwei und am Abend auf drei ohne die Hörprothese nicht in der Lage, Beinen läuft. Es handelt sich natürlich überhaupt irgendetwas zu hören. Mithil- um den Menschen, der im fortgeschrit- fe der Prothese können sie das Hören tenen Alter den Stock als Gehhilfe gewissermaßen (neu) erlernen. Sie hö- nutzt. Der Stock gilt – zumindest im ren anders als gesunde, nicht-taube Rahmen dieser Frage – als Teil des Menschen, aber sie hören. Menschen (vgl. Hubig 2008, 11). Nun Unklar ist, wie viel Technik es bedarf, ist aber ein Hybridwesen noch nicht um vom normalen Menschen zum Cy- zwingend ein Cyborg. borg zu werden. Oliver Müller, der sich Der Begriff Cyborg ist ein Kunstwort, u.a. mit den Grundlagen biomedizini- zusammengesetzt aus cybernetic und scher Ethik befasst, stellt fest, um was organism. Wenn jemand technische es bei der Cyborgisierung tatsächlich Mittel an oder in seinem Körper trägt, geht. Es geht darum, dass die Prothesen um seine naturgegebenen Fähigkeiten mit dem Menschen derart verwachsen, zu verbessern, könnte er nach Aussagen dass etwas Neues, Drittes entsteht, et- mancher Menschen als Cyborg be- was, das weder Mensch noch Maschine zeichnet werden. Arne Larsson wäre ist. Von diesem Etwas kann man dann demnach ein Cyborg. Dem Schweden auch nicht mehr behaupten, es sei ein wurde am 08. Oktober 1958 im Rahmen Mensch mit dieser oder jenen techni- einer Notoperation zum ersten Mal in schen Applikation. Im Gegenteil: eine der Medizingeschichte ein Herzschritt- Trennung zwischen Mensch und Tech- macher eingesetzt. Larsson war damals nik ist bei einem Cyborg so nicht mehr 43 Jahre alt, hat den Eingriff gut über- möglich (vgl. Müller 2010, 185f.). standen und verbrauchte im Laufe sei- nes langen Lebens – er wurde 86 Jahre alt – insgesamt nicht weniger als 25 II. Wie man ein Cyborg wird weitere Herzschrittmacher. Von Natur Neil Harbisson, der sich selbst als Cy- aus, also ohne die Unterstützung des borg bezeichnet und im Jahre 2010 zu- technischen Geräts, wäre Larsson ver- sammen mit die Cyborg mutlich viele Jahrzehnte früher verstor- Foundation gegründet hat, nennt drei ben. Auch Menschen mit einem soge- Bedingungen, die aus seiner Sicht ent- nannten Cochleaimplantat könnten als scheidend sind, um als Cyborg zu gel- Cyborgs bezeichnet werden. Ein Coch- ten. Die erste Bedingung besteht darin, leaimplantat ist eine Hörprothese, die dass ein Cyborg die Technik als Teil aus einem externen und einem internen seines Körpers betrachten muss. Teil besteht. Der externe Teil wird in Mensch und Technik müssen also mit- der Regel hinter dem Ohr getragen, der einander verschmelzen. Zum anderen andere Teil wird dem Träger implan- muss die Technik die Fähigkeiten des tiert. Vom implantierten Teil reichen Menschen steigern. Und als dritte Be- Elektroden in die Hörschnecke (Coch-

3 dingungen nennt Harbisson die Kom- nur derjenige sagen, der die Technik für munikation, genauer: die Technik muss sich nutzt. mit dem Körper und dem Gehirn kom- Harbissons zweite Bedingungen betrifft munizieren (vgl. Beuth 2012, 2). die Steigerung der natürlichen Fähigkei- Schauen wir uns diese drei Bedingun- ten. Technik muss diese Fähigkeiten gen etwas genauer an. Technik muss als verbessern. Der Philosoph Friedrich Teil des eigenen Körpers verstanden Nietzsche ist für großartige Werke wie werden. Im Zusammenhang mit dem Also sprach Zarathustra oder Jenseits Rätsel der Sphinx wurde die Gehhilfe von Gut und Böse bekannt, aber er war des alten Menschen genannt. Zweifellos auch erschreckend kurzsichtig, und dies ist für eine Seniorin, die nicht mehr si- keinesfalls im metaphorischen Sinn. Er cher zu Fuß ist, ein Gehstock eine hilf- trug Augengläser zwischen -10 und -20 reiche Angelegenheit. Spätestens seit Dioptrien. Mit deren Hilfe war Nietz- den 1990er Jahren sind fahrbare Gehhil- sche in der Lage zu lesen und zu schrei- fen, sogenannte Rollatoren, in Mode ben. Es ist also die Brille als techni- gekommen. Diese Rollatoren sind häu- sches Artefakt, die Nietzsches natürli- fig mit Zubehör ausgestatten, beispiels- che Sehfähigkeit verbessert. Nun könnte weise mit Tragekörben, was beim Ein- man den Einwand erheben, dass die kaufen überaus praktisch ist. Würde mangelnde Sehkraft eine Störung dar- man nun einem gehbehinderten Men- stellt, ähnlich wie das nicht-vorhandene schen den Rollator wegnehmen, hätte er Hörvermögen eines Tauben. Brille und vermutlich ein ernsthaftes Problem. Hörprothese gleichen lediglich diesen Aber ist der Rollator (oder wahlweise Mangel aus, und weil das so ist, handelt der Gehstock) deshalb schon Teil des es sich dabei weniger um eine Leis- Körpers? Hat man der Seniorin, indem tungssteigerung, sondern um die Kom- man ihr den Stock wegnimmt, einen pensation eines Mangels. Dieser Ein- Körperteil amputiert? Nehmen wir ein wand ist gerechtfertigt. Im Zusammen- anderes Beispiel: Der Herzschnittma- hang mit Human Enhancement wird cher ermöglicht es, sofern er richtig genau dieser Aspekt heiß diskutiert. eingestellt ist, Herzrhythmusstörungen Human Enhancement meint die Verbes- in den Griff zu bekommen. Etwas poin- serung des Menschen. In der Regel wird tierter formuliert: Das Gerät kann Leben Human Enhancement von therapeuti- retten. Und dennoch ist es möglich, den schen Maßnahmen abgegrenzt. Eine Herzschrittmacher als Fremdkörper zu Therapie zielt darauf ab, eine Krankheit, empfinden, als ein Ding, das tief unter eine Störung bzw. einen Mangel entwe- der Haut in der Brust steckt, seinen Job der zu lindern oder zu beseitigen. Im erledigt und dennoch nicht Teil des ei- Gegensatz dazu hat Human Enhance- genen Körper ist. Gehstock, Rollator ment zum Ziel, die Fähigkeiten von ge- und Herzschrittmacher sind objektiv sunden Menschen über das normale betrachtet Fremdkörper, ganz gleich, ob Maß hinaus zu steigern (vgl. Juengst sie in der Hand liegen oder in der Brust 1998, 29). Eine solche Unterscheidung stecken. Ob sie aber als Teil des eige- von Therapie einerseits und Enhance- nen Körpers verstanden werden, kann ment andererseits ist allerdings proble-

4 matisch, da in vielen Fällen unklar ist, Markt. Altersbedingte Impotenz gilt was als krank bzw. gesund gilt. seitdem in vielen Fällen als gut behan- Der Brite Aubrey de Grey ist Bioinfor- delbar. Egal ob normal (üblich) oder unnormal (unüblich) stellt sich die Fra- matiker und theoretischer Biogeronto- ge, ob altersbedingte Impotenz eine loge, er befasst sich also u.a. mit dem Krankheit darstellt oder nicht. Wenn es menschlichen Alterungsprozess. De sich um eine Krankheit handelt, dann ist Grey versteht das Altern, genauer: das, die Einnahme von Viagra eine Form der was mit dem Altern einhergeht, im Therapie. Genauso gut kann die Po- Grunde genommen als Krankheit, die tenzpille von einem nicht-impotenten unweigerlich zum Tode führt, wenn (gesunden) Mann eingenommen wer- man sie nicht behandelt. Aus seiner den, um die sexuelle Leistungsfähigkeit Sicht gibt es sieben Schäden, die die über das normale, naturgegebene Maß menschlichen (und übrigens auch die hinaus zu steigern. Das wäre dann eine tierischen) Zellen natürlicherweise er- Form von Enhancement. Was aber ist leiden und die prinzipiell behandelbar eigentlich das normale, naturgegebene sind, wenngleich die wissenschaftliche Maß? An was bemisst es sich? Bemisst Forschung heute dazu noch nicht in der 2 es sich an der durchschnittlichen sexuel- Lage ist. Altern könnte also als eine len Leistungsfähigkeit desjenigen, der Krankheit zum Tode bezeichnet wer- die Pille schluckt oder an der durch- den. Eine andere Krankheit, die als sol- schnittlichen Leistungsfähigkeit der che zwar nicht zum Tode führt, aber Männer überhaupt? dennoch für viele Betroffene ausge- sprochen unangenehm ist, wird unter Im Jahre 2001 wurde Gauvin dem Begriff erektile Dysfunktion ge- McCullough geboren. Der Junge ist von fasst. Gemeint ist damit die männliche Geburt an taub, eine Eigenschaft, die er Impotenz. Bis vor wenigen Jahrzehnten mit seinen beiden Müttern, Sharon Du- galt es als hinzunehmendes Übel, dass chesneau und Candy McCullough teilt. bei nicht wenigen Männern im fortge- Das Besondere an Gauvin besteht darin, schrittenen Alter die Erektionsfähigkeit dass seine Eltern gezielt an seiner deutlich nachlässt. Dieser Prozess Taubheit gearbeitet haben. Sie haben scheint normal, ähnlich wie es normal sich für einen Samenspender entschie- ist, dass das Haupthaar ergraut, dünner den, der eine genetische Voraussetzung wird und die Falten im Gesicht zuneh- für Taubheit mitbrachte. Der kleine men. Im Jahr 1998 kam dann eine klei- Gauvin sollte also – wenn irgendwie ne blaue Pille namens Viagra auf den möglich – taub zur Welt kommen. Man könnte das als einen grausamen Akt be-

2 zeichnen. Der Junge wird möglicher- Es handelt sich bei den von de Grey herausgearbeite- ten sieben für den Alterungsprozess verantwortlichen weise nie in der Lage sein, Beethoven Schäden um: 1. Zellschwund, der Verfall oder Verlust oder Metallica zu hören (es sei denn, von Zellen, 2. Anhäufung von unerwünschten Zellen, 3. Mutationen in Chromosomen, 4. Mutationen in den der technische Fortschritt ermöglicht es, Mitochondrien, 5. Ansammlung von "Abfall” im Zell- taube Menschen hörend zu machen). inneren, 6. Ansammlung von "Abfall” außerhalb der Der Gesang der Vögel, das Donnern Zellen und 7. Vernetzungsreaktionen in Eiweißstoffen außerhalb der Zellen (vgl. Grey 2007, 43). eines Sommergewitters oder das Ge-

5 flüster einer geliebten Person wird der schnittstauben) mag es möglicherweise Junge niemals vernehmen, weil seine eine Verbesserung sein, durch ein tech- Eltern ihm von vornherein diese Chance nisches Gerät hören zu können. Für verwehrten. Duchesneau und Sharon Duchesneau und Candy McCullough empfinden das bewusste McCullough gilt das nicht. John Harris Zeugen eines tauben Kindes hingegen teilt diese Auffassung. Er schreibt, dass keineswegs als grausam. Wie die meis- Enhancement Eingriffe in die Funkti- ten Eltern wollen auch sie nur das Beste onsweise des Menschen sind, die eine für ihr Kind. Und da sie Taubheit nicht Veränderung zum Besseren bewirken. als eine Behinderung, sondern als einen Was eine Verbesserung ist, weiß der besonderen Wert und eine besondere jeweils Einzelne am Besten (vgl. Harris, Weise, die Welt zu erfahren, verstehen, 2007, S. 36). wollen sie genau das ihrem Nachwuchs Kommen wir zur dritten Bedingungen, mitgeben. die ausschlaggebend dafür ist, ein Cy- Duchesneau und McCullough eröffnen borg zu sein. Die Technik muss, so uns eine interessante Perspektive auf Harbisson, mit dem Körper und dem Krankheit bzw. Behinderung. Für die Gehirn kommunizieren. 2012 beschreibt beiden Frauen ist Taubsein schlichtweg Harbisson in einem seiner Vorträge fol- keine Behinderung. Würde man ihnen gende Situation: „Zusätzlich hatte ich eine Hörprothese anbieten, die sie tat- auf einmal diesen Nebeneffekt, dass sächlich zu Hörenden machen könnte, normale Geräusche plötzlich zu Farben würden sie dieses Angebot vermutlich wurden. Ich hörte ein Telefonklingeln ablehnen, weil sie das Nicht-hören- und es fühlte sich grün an, denn es können nicht als Mangel empfinden. klang genau wie die Farbe Grün. Der Bei Neil Harbisson, der sehr wohl hö- Piepton von BBC, er klingt türkis und ren, nur eben keine Farben sehen kann, Mozart zu lauschen war eine gelbe Er- verhält es sich anders. Die Unfähigkeit, fahrung“ 3 . Was Harbisson hier be- Farben sehen zu können, empfindet er schreibt, ist ein bemerkenswerter Vor- als Mangel. Farben mithilfe des Eye- gang. Das Gehirn des farbenblinden borgs hören zu können, ist für ihn eine Künstlers, der Farben mithilfe des Eye- wunderbare Erfahrung, die weit über borgs ausschließlich als Geräusche eine bloße Kompensation hinausgeht. wahrnimmt, entwickelt beim Hören von Erinnern wir uns an Harbissons zweite Tönen bestimmte Gefühle. Diese Ge- Bedingungen, die für einen Cyborg ent- fühle beschreibt Harbisson als grün, scheidend ist: die Technik muss die Fä- türkis oder gelb. Mittlerweile verbindet higkeiten des Menschen steigern. Er sein Gehirn immer dann, wenn es be- fügt dieser Bedingung noch einen klei- stimmte Töne hört, dieses oder jenes nen, aber doch sehr bedeutsamen As- Farbgefühl. Die Verbindung zwischen pekt hinzu, indem er betont, dass der Ausgangspunkt das Individuum ist, nicht der Durchschnittsmensch (vgl. 3 Neil Harbisson: I listen to color. In: TED - Ideas worth Beuth 2012, 2). Für den Durchschnitts- spreading. URL: https://www.ted.com/talks/neil_harbisson_i_listen_to_c menschen (in diesem Falle: dem Durch- olor [2015-03-06]

6 Ton und Farbgefühl ist für Harbisson Physiker Hermann Schmidt mit der Ob- die Folge eines Kommunikationsakts jektivierung des Menschen und seiner zwischen Eyeborg und Gehirn. Funktion befasst (vgl. Schmidt [1941] 1961 u. Heyder 1965, 33ff.). Schmidt Ein Kommunikationsakt zwischen arbeitet insgesamt drei Stufen der Technik und Körper bzw. Gehirn findet Verobjektivierung heraus und beginnt eigentlich immer statt, wenn der ganz klassisch mit der Stufe 1: dem Mensch Technik nutzt. Wenn ein Autor Werkzeug. Der Mensch hat – wenn man ein Buch schreibt und seine Finger über so will – von Natur aus fest installierte die Tastatur fliegen, kommunizieren Werkzeuge mitbekommen. Er hat Beine Hirn und Körper mit der Technik. Wenn und Füße, mit denen er umherlaufen ein Mittvierziger sich Freitag Abends kann, verfügt über Arme und Hände, vor dem Fernseher die Fußnägel um Bücher zu schreiben oder sich am schneidet, findet ebenfalls eine Kom- Kopf zu kratzen, er hat Ohren zum Hö- munikation zwischen Mensch und der ren, Augen zum Sehen und Zähne zum Nagelschere als technischem Artefakt Kauen. Diese Werkzeuge verbessert statt. Für Harbisson handelt es sich je- oder ersetzt der Mensch durch Dinge, doch bei dem Mittvierziger deshalb die er in seiner Umwelt vorfindet und noch nicht um einen Cyborg, egal ob entsprechend anpasst. Mit dem Faust- mit langen oder kurzen Fußnägel. Auch keil kann er Dinge einfacher zerteilen, der Brillenträger ist für ihn nur ein mit dem Knüppel besser zuhauen, mit Mensch mit Augengläser. Entscheidend dem Fernrohr weiter sehen. bei der Kommunikation zwischen Ge- hirn und Technik ist die Tatsache, dass Die zweite Stufe der Verobjektivierung, es sich bei der Technik um etwas Ky- die Schmidt anführt, ist die Arbeitsma- bernetisches handelt. Das führt uns zu schine. Jeder Mensch, ob Gewichtheber der Frage: Was ist Kybernetik? oder Bürohengst, Floristin oder Profi- boxerin, verfügt über ein gewisses Maß

an Kraft. Im Laufe der Geschichte ist es III. Kybernetik, Information, Inter- dem Menschen mehr und mehr gelun- pretation gen, die körperliche Kraft zu verobjek- Der Begriff Kybernetik bedeutet soviel tivieren und z.B. an Tiere oder an Ma- wie Steuermann, und um Steuerung schinen abzugeben. Der Mensch läuft geht es in der Tat. Aber der Reihe nach. seitdem nicht mehr ausschließlich auf 1948 veröffentlichte der US- seinen Füßen durch die Weltgeschichte, Amerikaner Nobert Wiener ein Buch sondern er nutzt die Kraft der Pferde mit dem Titel Cybernetics or Control oder die Pferdestärke seines VW- and Communication in the Animal and Kombi. the Machine. Es geht also um Kontrolle Die dritte Form der Verobjektivierung und Kommunikation und zwar sowohl betrifft jeglichen Aufwand des Men- bezogen auf das Tier als auch auf die schen. Das mag übertrieben erscheinen. Maschine. Wenige Jahre vor Wieners Was Hermann Schmidt hier meint, ist Veröffentlichung hat sich der deutsche nichts Geringeres als die nach außen

7 getragene geistige Leistung. Das Regu- Energie besteht. Die wichtigste Grund- lieren der Raumtemperatur ist bereits annahme der Kybernetik liegt nun da- eine verobjektivierte geistige Leistung. rin, dass in einem System gerade nicht Was hier stattfindet, ist im Kern ein Zu- Materie und Energie, sondern die In- sammenspiel aus Steuerung und Kon- formation die wichtigste Komponente trolle, beides wird im Falle der Heizung ist. Es ist nämlich gerade die Informati- vom Thermostat übernommen. Als User on, welche die Grundelemente (also stellen sie die Heizung auf die ge- auch Materie und Energie) im System wünschte Temperatur ein und legen ordnet, organisiert kurzum: steuert (vgl. damit fest, wie warm es im Raum wer- Kurzweil 1993, 191). den soll. Sie bestimmen also den Soll- Eine Zelle teilt sich beispielsweise nicht Wert. Das Thermostat überprüft die ausschließlich dadurch, dass sie vor- Raumtemperatur, vergleicht sie mit dem handen ist und über ein bestimmtes Soll-Wert, den Sie bestimmt haben, und Maß an Energie verfügt, sondern bringt die Heizung – wenn nötig – ent- dadurch, dass sie die Information erhält, sprechend auf Touren. Im Grunde ge- sich zu teilen. Es geht also in der Ky- nommen ist das bereits nichts anderes bernetik ganz wesentlich um die Infor- als ein kybernetisches Regelungssys- mation und um die Weiterleitung der tem. Dieses System kommt, einmal Information, also um die Kommunikati- konstruiert und in Gang gebracht, ganz on. Oder einfacher formuliert: Es geht ohne den Menschen aus. Es braucht le- neben der Information darum, dass mit diglich die Information, nach der es sich der Information etwas passiert. Neil zu richten und mit der es fortan zu ar- Harbisson spricht genau diesen Punkt beiten hat. an, wenn er behauptet, dass die Technik Als Nobert Wiener um 1947 den Be- mit dem Gehirn und dem Körper kom- griff Kybernetik erfand, hatte er eine munizieren muss. Harbissons künstli- besondere, vielleicht sogar revolutionä- ches Auge, der Eyeborg, nimmt eine re Idee im Sinn. In der Zeit vor der Ky- Farbe wahr, empfängt also ein Signal. bernetik ging man davon aus, dass die Das visuelle Signal wird in ein akusti- Wirklichkeit aus zwei wesentlichen sches Signal umgewandelt und an das Bausteinen besteht, nämlich Materie Ohr weitergeleitet. Die Information, die bzw. Teilchen einerseits und Energie zur Umwandlung der wahrgenommenen andererseits. Sie erinnern sich vielleicht Farbe in einen Ton führt, ist eine In- an das Atommodell aus Ihrer Schulzeit. struktion, also eine Anleitung. Der Eye- Bei diesem Atommodell handelt es sich borg führt das aus, wozu er gemacht ist in der Regel um das sogenannte Scha- bzw. angeleitet wurde. In ihm gibt es lenmodell. In der Mitte ist der Atom- keine Instanz, die nach dem Sinn der kern, und um diesen Atomkern schwe- Information fragt oder überhaupt fragen ben in unterschiedlicher Entfernung die könnte. Vielmehr ist es so, dass der Elektronen. Es hängt von der Bindungs- Sinn bereits in der Information enthal- energie ab, in welcher Schale sich ein ten ist. Elektron bewegt. Sie sehen also, dass auch das Atommodell aus Materie und

8 Nun ist aber der Eyeborg als kyberneti- übersetzen, dass der Normal-Sterbliche sche Vorrichtung Teil eines Organis- sie auch verstehen konnte. Das Wort mus. Wenn die Farbe als Ton umge- Hermeneutik beschreibt also die Lehre wandelt beim Empfänger angekommen des Verstehens. Der deutsche Theologe ist, kann die Frage nach dem Sinn der und Philosoph Wilhelm Dilthey (1833- erhaltenen Information erfolgen. Wir 1911) hat im Jahr 1900 ein Buch mit haben es also mit einer Information und dem Titel Die Entstehung der Herme- einer Kommunikation zwischen dem neutik veröffentlicht. In diesem Buch kybernetischen Gerät und dem Orga- arbeitet er die Hermeneutik als geistes- nismus zu tun. Der Organismus – zu- wissenschaftliche Methode heraus und mindest dann, wenn es sich um einen grenzt damit die geisteswissenschaftli- menschlichen handelt – zeichnet sich im che von der naturwissenschaftlichen Gegensatz zum kybernetisches Gerät Methode ab. Naturwissenschaftler ver- (ohne organische Einheit) durch eine suchen, so Dilthey in seinen Ideen über besondere Eigenschaft aus. Er kann die eine beschreibende und zergliedernde an ihn weitergeleitete Information nicht Psychologie, die Natur zu erklären, nur als Instruktion (also als Anleitung), während es den Geisteswissenschaftlern sondern auch als Ein-Bildung (In- in erster Linie um das Verstehen geht formatio) verstehen (vgl. Sesink 2004, (vgl. Dilthey 1990 [1894], 144). Um 149f.). Das ist weitaus mehr, als das nun zurück zu Harbissons Gefühl für bloße Befolgen von etwas. Harbisson Farben zu kommen: Dass Harbisson bei nimmt ja die Töne keineswegs lediglich Tönen, die er im Alltag auf klassische wahr, sondern sie lösen etwas in ihm Weise hört oder die ihm sein Eyeborg aus – ein Gefühl. Und dieses Gefühl vermittelt, bestimmte Farbgefühle ent- bedeutet ihm etwas. Wir haben es bei wickelt, verweist darauf, dass ihm die einem Cyborg, einem kybernetischen Töne etwas bedeuten. Solche Bedeu- Organismus, im Gegensatz zum bloßen tungen sind einerseits mit den wahrge- kybernetischen Gerät (z.B. dem Eye- nommenen Tönen, also den tatsächli- borg) mit der Möglichkeit der herme- chen Sachverhalten, verknüpft. Aber neutischen Interpretation der Informati- den Tönen selbst wohnen diese Bedeu- on zu tun. tungen nicht inne, sondern sie werden ihnen zugesprochen (vgl. Koller 2008, Der Begriff Hermeneutik erinnert an 203). Hermes, den Götterboten aus der grie- chischen Mythologie. Hermes, der den Halten wir fest, dass für Neil Harbisson Job von der Göttin Iris übernommen ein Cyborg ein Wesen ist, dass die hat, kam die Aufgabe zu, Botschaften Technik als Teil seines Körpers ver- der Götter an die Menschen zu über- steht, sein Körper durch die Technik in bringen. Unglücklicherweise hatten die seiner Leistungsfähigkeit verbessert griechischen Götter die Unart, sich in wurde und die Technik mit dem Körper einer Weise auszudrücken, die für den (und dem Gehirn als Teil des Körpers) Menschen unverständlich war. Also lag kommuniziert. Kommuniziert werden es an Hermes, die Nachrichten nicht nur Informationen, wobei das Informieren zu überbringen, sondern auch so zu zum einen als ein Instruieren, also ein

9 Anweisen verstanden werden kann. Das als auch Harbisson selbst Seiende sind, ist bei kybernetischen Geräten ohne or- sind sie beide. Wir haben es also so- ganische Einheit bzw. bei kyberneti- wohl beim seienden Eyeborg als auch schen Organismen ohne die Fähigkeit beim seienden Harbisson mit dem Sein zu einem reflexiven Bewusstsein aus- zu tun. Warum unterscheidet Heidegger schließlich der Fall. Zum anderen kön- in seiner Seinslehre (Ontologie) nun nen diese Informationen aber auch als zwischen Sein und Seiendem? Ganz Ein-Bildungen wirken. Das setzt aller- einfach deshalb, weil das Sein etwas ist, dings eine bestimmte Fähigkeit – und das im Seienden nicht aufgeht. Es ist zwar die des hermeneutischen Verste- mehr als das bloße Seiende, es ist das, hens – voraus. Wir können daher – ganz was alles Seiende umfasst und dieses grundsätzlich – zwei Arten von Cyborgs Seiende ermöglicht. Das Sein ist gewis- unterscheiden. Die erste Variante ist ein sermaßen die Quelle des Seienden. organisch-kybernetisches bzw. orga- Der dänische Religionsphilosoph Søren nisch-technisches Mischwesen. Es han- Kierkegaard (1756 – 1838), der als ein delt sich um einen modifizierten, tech- Wegbereiter der Existenzphilosophie nisch aufgerüsteten Organismus. Die gilt und mit dem sich sowohl Heidegger zweite Variante ist der Cyborg als tech- als auch Sartre intensiv befasst haben, nisch verbesserter Mensch. Ein solcher gibt uns ein Beispiel, wie wir das Sein Cyborg verfügt nach wie vor über die vom Seienden unterscheiden können. Es ontologische Eigenart, reflexiv denken war das Jahr 1844, als Kierkegaard sein zu können. Was aber hat es mit dieser Buch Der Begriff Angst veröffentlicht ontologischen Eigenart auf sich, und hat. Er vergleicht darin die Angst mit verfügt tatsächlich nur der Mensch über einem Schwindel, der den Menschen diese Eigenart? überkommt, wenn er vor sich eine schi- er endlose Vielzahl von Möglichkeiten erblickt, von denen er eine ergreifen IV. Ontologische Differenz muss (vgl. Kierkegaard [1844] 2007, Der Begriff Ontologie bedeutet soviel 512). Natürlich könnte man die Frage wie die Lehre vom Sein. In der ersten einwerfen, warum einem dabei bitte- Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich schön schwindelig werden sollte. Man insbesondere der deutsche Philosoph wählt eine Möglichkeit – und damit hat Martin Heidegger und sein französi- es sich. Geht man allerdings so vor, ist scher Kollege Jean-Paul Sartre mit der man sich nach Kierkegaard nicht wirk- Ontologie befasst. Heidegger hat unter lich bewusst, was es bedeutet, frei wäh- anderem in seinem Hauptwerk Sein und len zu können. Das Wählen-können Zeit aus dem Jahr 1927 das Sein vom verweist auf die Freiheit des Menschen. Seienden unterschieden. Das Seiende ist Er kann wählen, er muss nicht dieses das, was offensichtlich vorhanden ist. oder jenes tun. Wenn er eine Wahl trifft, Neil Harbissons Eyeborg ist beispiels- dann leitet sich diese Wahl nicht von weise seiend – was übrigens auch für den Informationen ab, die er über die zu Harbisson selbst gilt. Neben der Tatsa- ergreifende Möglichkeit eingeholt hat. che, dass sowohl Harbissons Eyeborg Zwischen den eingeholten Informatio-

10 nen und der Wahl liegt die Freiheit des meint ist, ist die Eigenart, dass sich das Menschen. Die Möglichkeiten selbst Dasein zu sich selbst verhalten kann. Es sind gleichermaßen gültig, erst die verhält sich also in seinem Sein zu sei- Wahl hebt die eine, gewählte Möglich- nem Sein. Es kann sein Sein befragen, keit hervor, verwirklicht sie und macht kann daran verzweifeln, kann es verfeh- sie damit zugleich unmöglich. Was aber len. Der Eyeborg hingegen kann besten- bleibt als Orientierung, wenn man sich falls (oder besser: schlimmstenfalls) der Tatsache bewusst wird, dass alle nicht mehr funktionieren. An der Tatsa- Möglichkeiten gleichermaßen gültig che, dass er nicht mehr funktioniert, sind, wenn also sowohl dieses als auch wird der Eyeborg aber mit Sicherheit jenes mit der gleichen Berechtigung nicht verzweifeln. Einfach formuliert gewählt werden könnte? Der Mensch, und auf den Punkt gebracht zeichnet der hier vor der Wahl steht, ist frei in sich die ontologische Unterscheidung, seiner Wahl, aber zugleich muss er wäh- die Heidegger vorschlägt, dadurch aus, len, muss sich entscheiden und trägt für dass das menschliche Sein (Dasein) in diese Entscheidung die Verantwortung. einem reflexiven Verhältnis zu seinem Seine Wahl ist also die Antwort – und Sein steht, wohingegen das Sein der zwar seine Antwort – auf die Frage, vor Dinge (Vorhandensein) sich nicht zu die er gestellt ist. Was aber hat das mit seinem Sein verhalten kann. dem Unterschied zwischen Sein und Im Grunde genommen knüpft Jean-Paul Seiendem zu tun? Nun, das Mögliche ist Sartre an Heideggers ontologischer Un- das Sein. Es ist unbestimmt, aber vor- terscheidung an. Sartre spricht nicht von handen. Es ist die besagte Quelle, aus Dasein und Vorhandensein, sondern der das Seiende entspringt, um erfasst arbeitet 1943 in seinem Hauptwerk Das zu werden. Das Wirkliche hingegen ist Sein und das Nichts. Versuch einer das Seiende. Wenn der Mensch also phänomenologischen Ontologie das An- wählt, dann vollbringt er aus ontologi- sich-sein (être-en-soi) und das Für-sich- scher Sicht etwas Großartiges: er hebt sein (être-pour-soi) heraus. Die beiden etwas, das (nur) möglich ist in die Begriffe erinnern an Kant und Hegel. Wirklichkeit empor. Anders formuliert: Für Immanuel Kant (1724 – 1804) ist er macht etwas seiend. Damit ist die das An-sich der Dinge etwas, das unab- Wahl Ausdruck menschlicher Macht. hängig von unserer Erkenntnis existiert. Heidegger unterscheidet nun mehrere Ich kann eine Sache nur so wahrneh- Arten von Seiendem. Harbissons Eye- men, wie es mir meine Sinne erlauben. borg ist dieser Unterscheidung gemäß Die Rezeptoren der Netzhaut empfan- etwas Vorhandenes, also Vorhanden- gen beispielsweise Reize, die dann über sein. Nicht mehr und nicht weniger. die Axone weitergeleitet und vom Ge- Harbisson selbst ist hingegen nicht nur hirn entsprechend interpretiert werden. vorhanden, sondern da. Heidegger Ob das, was der Mensch dann für sich spricht hier vom Dasein (vgl. Heidegger wahrnimmt, tatsächlich identisch mit [1927] 2001, 7). Bezeichnend für das dem Wahrgenommenen ist, bleibt offen. Dasein, womit das menschliche Sein in Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – Abgrenzung zum Sein der Dinge ge- 1831) hat nun das An-sich-sein als Sta-

11 dium der Identität und das Für-sich-sein an Sein. Diese Trennung von sich als Stadium der Nicht-Identität bezeich- selbst, dieses Nichts an Sein, ist die Be- net, und eben dieser Gedanke findet dingung dafür, dass der Mensch bei den sich bei Sartre wieder. Dingen und bei den Menschen, die ihn umgeben, sein kann, dass also die Welt Wenn wir uns einen beliebigen Gegen- um ihn herum zum Gegenstand seines stand vorstellen, beispielsweise das Bewusstseins werden kann. Wäre der Holzbein eines Kriegsveteranen, dann Mensch nicht im Seinsmodus des Für- ist dieses Holzbein voll und ganz das, sich-seins, wäre er also ganz und gar was es ist – nämlich ein Holzbein. Das- das, was er ist (d.h. An-sich-sein), dann selbe könnte man nun auch von einem gäbe es kein Getrenntsein, kein Nichts Menschen behaupten. Frau Müller ist, an Sein und damit auch kein Bewusst- was sie ist – nämlich Frau Müller. Und sein – weder von sich selbst, noch von doch gibt es zwischen dem Holzbein den Dingen, die ihn umgeben. Sartre und Frau Müller einen nicht ganz unwe- formuliert das so: „Die Anwesenheit bei sentlichen Unterschied. Frau Müller sich setzt dagegen voraus, daß ein nicht kann über sich selbst nachdenken. Sie spürbarer Riß in das Sein gekommen kann zu dem Entschluss kommen, dass ist. Wenn es bei sich anwesend ist, so sie nicht mehr Frau Müller sein will und weil es nicht völlig Sich ist. Die Anwe- beschließt, Herrn Meier zu heiraten, um senheit ist eine unmittelbare Verminde- fortan Frau Meier zu sein. Es ist auch rung der Koinzidenz, denn sie setzt vorstellbar, dass Frau Müller für sich Trennung voraus. Wenn wir aber jetzt feststellt, keine Frau mehr sein zu wol- fragen: was trennt das Subjekt von ihm len und sich für eine operative Ge- selbst, so müssen wir gestehen, daß es schlechtsumwandlung entscheidet. Im nichts ist.“ (Sartre [1943] 2007, 170; Extremfall kommt Frau Müller zu dem Hervorh. im Original). Ergebnis, gar nicht mehr sein zu wollen und nimmt sich das Leben. Zu all die- sen Entscheidungen ist das Holzbein V. Bewusstsein und Selbstidenti- nicht in der Lage. Weder kann es das fikation Glasauge des Veteranen ehelichen, noch kann es sich dafür entscheiden, künftig Nun könnte man fragen, ob nicht auch ein Stuhlbein oder eben gar nicht mehr Tiere, beispielsweise höhere Säugetiere zu sein. Die Möglichkeit, Entscheidun- wie Hunde, Katzen, Pferde, Schweine gen treffen zu können, und zwar so, wie oder Affen ein Bewusstsein von sich es der Mensch im Gegensatz zu den und der Welt haben. Der sogenannte Dingen, die ihn umgeben, kann, setzt Spiegeltest soll Aufschluss über das eine besondere Seinsart voraus. Sartre Vorhandensein eines Selbstbewusst- bezeichnet diese Seinsart als Für-sich- seins geben. In der Regel wird dem Tier sein. Charakteristisch für diese Seinsart ein Fleck aufgemalt, den es nur mithilfe ist ein Riss, der das Sein als solches eines Spiegels erkennen kann. An- durchzieht. Dieser Riss im Sein sorgt schließend wird beobachtet, ob das Tier dafür, dass das Sein von sich selbst ge- den Fleck erkennt und zu entfernen ver- trennt ist – und zwar durch ein Nichts sucht. Findet das statt, kann das als ein

12 Hinweis interpretiert werden, dass das Selbstbild zu befragen. Es können hier Tier sich selbst im Spiegel erkennt und also nur Vermutungen und Interpretati- somit über ein Bewusstsein seiner selbst onen angestellt werden. Die Entwick- verfügt. Das Vorhandensein eines lungspsychologen L. Joseph Stone u. Selbstbewusstseins ist ein deutlicher Joseph Church gehen davon aus, dass Indikator dafür, dass wir es mit einem das Baby etwa im Alter von 6 Monaten Riss im Sein, also einem Für-sich-sein „wahrscheinlich seine Füße entdecken zu tun haben. Wir hätten es in diesem [wird.] [...] Zunächst erkennt das Baby Falle, gemäß Sartres ontologischer Un- die Füße nicht als Teile seines Körpers, terscheidung von An-sich-sein und Für- sondern sieht sie als sonderbare Gegen- sich-sein, sowohl beim Menschen als stände an, die gelegentlich über den Ho- auch beim sich seiner selbst bewussten rizont seines Bäuchleins hinweg in sein Tier mit ein und derselben ontologi- Gesichtsfeld treten.“ (Stone; Church schen Kategorie zu tun. Der Unter- 1978, 87). Was Stone und Church hier schied zwischen dem tierischen und ansprechen, wird von Lacan noch deut- dem menschlichen ontologischen Status lich radikaler gefasst: Das Kind emp- wäre dann nur noch ein gradueller. findet sich selbst, d. h. seinen eigenen Körper, nicht als Ganzheit. Die vor dem Der graduelle Unterschied ist aus mei- Gesichtsfeld auftauchenden Körperteile ner Sicht paradoxerweise entscheidend müssen erst noch zu einem Ganzen zu- für das spezifisch menschliche Sein. Im sammengefügt und damit als Teile des Folgenden soll darauf genauer einge- eigenen Körpers interpretiert werden. gangen werden: Der französische Philo- Christoph Braun, der sich in seiner Ar- soph und Psychoanalytiker Jacques beit über die Stellung des Subjekts mit Lacan hat sich u.a. mit der kindlichen Lacans psychoanalytischen Überlegun- Entwicklung befasst. Das Spiegelstadi- gen auseinandersetzt, stellt fest, dass um ist seiner Auffassung nach ein ent- sich das Kind anfangs in einer präima- scheidendes Moment, denn es bezeich- ginativen Phase befindet. Es muss sich net eine besondere Eigenart der die Einheit seiner Körperteile und damit menschlichen Entwicklung zur Identi- die Einheit seiner selbst erst noch ima- tät. Lacan schreibt: „Man kann das ginieren, also einbilden (vgl. Braun Spiegelstadium als eine Identifikation 2007, 32). Wir haben es hier mit nichts verstehen im vollen Sinne, den die Psy- Geringerem als einem (Ein- choanalyse diesem Terminus gibt: als )Bildungsakt zu tun. Und eben dieser eine beim Subjekt durch die Aufnahme (Ein-)Bildungsakt scheint für das eines Bildes ausgelöste Verwandlung.“ menschliche Sein, das ein Identifikati- (Lacan 1986, 66). Wenn das Kind sich onsmoment, genauer: ein Sich-mit-sich- im Spiegel erblickt, so Lacan, findet selbst-identifizieren meint, charakteris- eine Verwandlung statt. Was sich da tisch. verwandelt ist das Bild, dass das Kind von sich selbst besitzt. Nun ist es nicht Damit nun das Kind sich mit sich selbst möglich, ein sehr kleines Kind, das identifiziert, sich als ein Ganzes erlebt, kaum oder gar nicht über die Möglich- bedarf es eines ganz besonderen Spie- keit des Sprechens verfügt, nach seinem gels. Wenn die Entwicklung des Kindes

13 weit genug fortgeschritten ist, um sich VI. Der Zweifel und die Aufgabe im Spiegel erkennen zu können, blickt Der Begriff Bildung ist im Zusammen- es nicht lediglich ins Spiegelglas und hang mit der Einbildung bereits gefal- sieht sich darin. Damit es sein Bild von len. Unser heutiges, modernes Ver- sich, das ein fragmentarisches ist (erin- ständnis von Bildung geht maßgeblich nern wir uns an die Füße, die plötzlich auf Wilhelm von Humboldt zurück. auftauchen und wieder verschwinden), Humboldt vergleicht den Menschen mit mit dem Bild im Spiegel verbinden einer Kraft, die nach außen (also hin zur kann, damit es also in der Lage ist, sich Welt) strebt, an die Gegenständlichkeit mit dem Spiegelbild zu identifizieren, und Widerständigkeit der Welt stößt braucht es den bestätigenden Blick ei- und sich daher über die Welt reflexiv nes anderen Menschen. Dieser andere einholt (vgl. Humboldt 1793/ 2006, Mensch ist in der Regel die Mutter. Das 214). Einfach formuliert: Der Mensch in den Spiegel blickende Kind verge- erfährt sich selbst nur über die Welt. wissert sich mithilfe der Mutter, dass Werner Sesink hat diesen Gedanken das, was es da im Spiegel sieht, tatsäch- weiterentwickelt – auch wenn er sich lich es selbst ist. Das Kind bedarf also selbst dabei nicht auf Humboldt bezieht, offensichtlich der Bestätigung eines an- sondern auf den britischen Psychoana- deren Menschen (vgl. Widmer 1990, lytiker und Kinderarzt Donald W. Win- 30). Fragwürdig bleibt allerdings, ob ein nicott. Winnicott stellt fest, dass Eltern, Mensch sich auch ohne die Bestätigung die ihre Kinder ansehen, mehr in ihren eines anderen Menschen früher oder Kindern sehen, als faktisch gegeben ist später im Spiegel erkennen würde. Die (vgl. Winnicott 1990, 81). Stellen Sie Tatsache, dass ein Kind, das vor einen sich eine Mutter vor, die ihr Kind lie- Spiegel gesetzt wird, fragend den Blick bend in den Armen hält. Was sieht sie? zur Mutter wendet, verweist auf die Mit Sicherheit sieht sie einen kleinen menschliche Eigenart des Suchens nach Menschen, mit kleinen Händen, kleinen Anerkennung. Es scheint sich der Füßen, einem verhältnismäßig großen Mensch als das, was er ist (bzw. als der, Kopf. Vielleicht schreit dieses Kind in der er ist) nur mit Hilfe anderer Men- diesem Moment, vielleicht riecht es un- schen erkennen zu können. Der angenehm, vielleicht zieht es Grimas- Mensch, der nicht ganz und gar ist, was sen. Das ist gewissermaßen der kühle, es ist, der also von sich selbst getrennt objektive Blick auf das Kind. Nun ist ist und damit zu sich und zu anderen in aber der Blick der Mutter, zumindest in Beziehung treten kann, ist sich selbst den meisten Fällen, nicht (nur) kühl und fragwürdig. Dieses Fragwürdigsein – objektiv. Er zeichnet sich vielmehr und die damit einhergehende Antwort dadurch aus, dass mit dem Blick Hoff- auf die Frage: Wer bin ich? – deutet auf nungen und Erwartungen mitschwin- die seinsmäßige Notwendigkeit der An- gen. Dabei kann es sich auch – wie erkennung durch andere Menschen (vgl. Sesink anmerkt – um Vorsehungen Damberger 2011, 39ff.). handeln, eben dann, wenn das Kind für diesen oder jenen Beruf, für diese oder jene Aufgabe in der Familie vorgesehen

14 ist (vgl. Sesink 2002, 94). Der Blick der nung verweigert, ist unbrauchbar, weil Mutter auf das Kind sieht mehr, als nur der Herr schlicht und ergreifend nur das faktisch Gegebene, sondern darüber dann Herr sein kann, wenn sein Knecht hinaus auch das Mögliche, das, was das zulässt (vgl. Hegel [1807] 1986, wirklich werden kann. Damit weist der 145ff.). Mutterblick über das Hier und Jetzt hin- Wenn nun aber sowohl das Tier als aus auf eine Zukunft, und eben diese auch der Mensch im Gegensatz zu ei- Zukunft, dieses Mehr kann das Kind nem bloßen Ding einem gemeinsamen wiederum in der Art und Weise, wie die ontologischen Modus, nämlich dem Mutter das Kind ansieht und wie es mit Modus des Für-sich-seins, zugeordnet ihm umgeht, wahrnehmen. Wenn etwas werden müssen, bleibt die Frage, wa- über das, was ist, hinausweist und das rum der Mensch der Anerkennung an- Mögliche aufscheinen lässt, nennen wir derer bedarf, das Tier aber nicht. Wa- es transzendental. Der Blick der Mutter rum stellt der Mensch die Frage nach auf das Kind ist also ein transzendenta- sich selbst und das Tier nicht? ler. Das An-sich-sein der Dinge ist dadurch Für das Kind ist die Art und Weise, wie charakterisiert, dass das Ding vollstän- die Mutter das Kind anblickt, entschei- dig ist, was es ist. Ein solches Sein ist dend. Denken wir zurück an das Spie- ein geschlossenes Sein, von außen gelstadium. Die Art und Weise, wie das dringt nichts in dieses Sein ein, von in- Kind sich mit dem, was es da im Spie- nen bricht nichts nach außen. Anders gel sieht, identifiziert, wie es sich also verhält es sich beim Für-sich-sein. Es ist vom fragmentarischen zum ganzen nicht identisch mit sich, sondern von Menschen verwandelt, hängt mit der sich selbst getrennt. Dadurch ist das Antwort zusammen, die das Kind im Für-sich in sich, d.h. in seinem Sein be- Blick der Mutter sucht. Der heranwach- reits geöffnet – und zwar sowohl nach sende und auch der erwachsene Mensch innen als auch nach außen. Von einem wird immer wieder die Bestätigung z.B. geöffneten Sein geht eine Kraft aus, ein der Eltern, der Freunde, des Partners, Drang nach außen. Das Sein will zu der Kollegen usw. suchen. Für die An- sich selbst kommen, es will voll und erkennung ist das Selbstbild entschei- ganz sein, was es ist. Was unterscheidet dend. Hegel hat die Bedeutung der An- nun aber das Für-sich-sein eines Tieres erkennung am Beispiel des Verhältnis- von dem eines Menschen? ses von Herr und Knecht eindrucksvoll nachgezeichnet. Der Herr ist nur Herr, Wir haben bereits weiter oben festge- weil er vom Knecht als Herr anerkannt stellt, dass der Unterschied kein spezifi- wird. Verweigert aber der Knecht die scher, wesenhafter sein kann, soll hei- Anerkennung, hat der Herr ein Problem. ßen: der Unterschied betrifft nicht die Vielleicht verfügt der Herr über die Seinsart als solche. Beide, Mensch und Mittel, den Knecht zu töten, aber auch Tier, sind Für-sich-sein. Wir haben es das verweist auf die Notwendigkeit des also mit einer graduellen Differenz zu Herrn, die Anerkennung des Knechts zu tun. Jean-Jacques Rousseau unterstellt erhalten. Der Knecht, der die Anerken- in seiner Abhandlung über den Ur-

15 sprung und die Grundlagen der Un- Rousseau beschreibt, ist der Übergang gleichheit des Menschen aus dem Jahr von Selbstgefühl zum Selbstbewusst- 1755 einen (fiktiven) Naturzustand des sein (vgl. Damberger 2012, 210f.). Das Menschen. Der Mensch, der sich in die- Selbstgefühl ist ein „bloße[s] Gefühl sem ursprünglichen Zustand befindet, [...] gegenwärtigen Daseins“ (Rousseau erlebt ein permanentes Bei-sich-sein in 1755/ 2008, 48, im Original kursiv). einem Zustand durchgängiger Gelas- Das Selbstbewusstsein setzt die Frag- senheit. Damit meint Rousseau, dass würdigkeit voraus. Gemeint ist die Fra- Bedürfnisse, die der Mensch hat, nahe- ge nach der eigenen Zukunft, die Frage zu unmittelbar befriedigt werden, dass nach dem eigenen Leben, die Frage alles, was der Mensch zum Leben nach dem Selbst. Das Selbstbewusstsein braucht, leicht zur Hand ist „und er ist setzt demnach nicht nur das Selbster- so weit von dem Grad an Kenntnissen kennen im Spiegel voraus, wie es bei- entfernt, der nötig wäre, um größere spielsweise bei Schimpansen möglich Bedürfnisse erwerben zu wollen, daß er ist, sondern auch ein Zweifel ob das, weder Voraussicht noch Neugier besit- was da im Spiegel ist, wirklich man zen kann. Das Schauspiel der Natur selbst ist. Oder anders formuliert: Das wird ihm gleichgültig, weil es ihm so Selbstbewusstsein geht mit der Mög- sehr vertraut wird. Es ist immer dieselbe lichkeit einher, dass es sich bei dem, Ordnung, es sind immer dieselben was da im Spiegel erblickt wird, auch Kreisläufe; er besitzt nicht den Geist, nicht um das eigene Spiegelbild handelt um über die größten Wunder zu erstau- könnte. Oder – von der anderen Per- nen“ (Rousseau 1755/ 2008, 48). Im spektive aus betrachtet: Könnte es sein, Grunde handelt es sich bei dem, was dass das, von dem ich bisher meinte, Rousseau hier beschreibt, um einen tie- dass ich es sei, möglicherweise gar rischen Zustand. Natürlich hat auch ein nicht ich bin? Tier bis zu einem gewissen Grad so- Damit ist das menschliche Selbstbe- wohl Voraussicht als auch Neugier, wusstsein – in Abgrenzung zum Selbst- aber beides weist kaum über den jeweils bewusstsein eines Tieres, das eher dem gegenwärtigen Zustand hinaus, sondern Selbstgefühl entspricht, nicht nur Aus- betrifft stets das unmittelbare Leben und druck des Zweifels, sondern zugleich Erleben. Beim Menschen, der nach Ausdruck einer Suche nach dem „Wer Rousseau in diesem ursprünglichen Zu- bin ich?“. Der Mensch ist in einer spezi- stand war, kam es zu einer Erschütte- fischen ontologischen Verfassung, die rung, einem Bruch, der ihn aus diesem ihn sowohl von der reinen Dinghaf- Zustand hinauskatapultierte. Wie genau tigkeit als auch vom den Tieren unter- es dazu kam, lässt er offen. Infolge die- scheidet. Er ist von sich selbst getrennt ses Bruchs wurden Bedürfnisse nicht und muss sich selbst zugleich sein, d.h. mehr einfach so befriedigt, das Leben er muss sich in seinem Getrenntsein- wurde plötzlich kompliziert, anstren- von-sich-selbst aushalten – das unter- gend, fragwürdig. Und mit der Frag- scheidet ihn von den Dingen in der würdigkeit des Lebens wurde der Welt. Zum anderen ist er weit genug Mensch sich selbst fragwürdig. Was von getrennt, dass eine Reflexionsbe-

16 wegung möglich ist – das ist der Unter- wird, die ihm Fähigkeiten verleiht, die schied zum Tier. Selbst das hochentwi- womöglich weit über das normale Maß ckelte Tier, das sich selbst im Spiegel hinausgehen, ändert nichts an dieser zu erkennen vermag, ist nahe genug bei Frage. Vielleicht ist sie im Kern selbst sich, um nicht an sich selbst zu zwei- wiederum Ausdruck dieser Frage. Wenn feln. Mit dem Wort „Zweifel“ ist hier der menschliche Cyborg über Fähigkei- nicht nur eine kurze Irritation gemeint, ten verfügt, die der normale Mensch sondern eine aufscheinende existenziel- nicht besitzt, kann er durchaus als le Unsicherheit. Humboldt, der davon transhumanes Wesen bezeichnet wer- ausgeht, das der Mensch sich an der den. Aber die technische Verbesserung Welt erfahren muss (und im Übrigen einzelner bzw. mehrerer Fähigkeiten nur in er Konfrontation mit der Welt oder gar die Ausstattung mit neuen, erfahren kann), hat vor der Gefahr ge- nicht-menschlichen Applikationen ent- warnt, sich von sich selbst zu entfrem- bindet den Menschen nicht von seinem den und sich damit in der Welt und an ontologischen Status und der damit ein- die Welt zu verlieren. Eine solche Ent- hergehenden Aufgabe. Diese Aufgabe fremdung kann stattfinden, wenn sich besteht darin, sich bewusst zu werden, der Mensch der Reflexion verweigert, wer man ist, sich mit aller Unsicherheit, indem er sich in der Beschäftigung mit mit aller Unklarheit und mit allem Fra- der Welt zu sehr den Dingen in der gen zum Ausdruck zu bringen und nach Welt zuwendet. Eine solche exzessive einer je eigenen Antwort auf die Frage Beschäftigung mit den Dingen kann als nach dem eigenen Menschsein zu su- Ausdruck dafür verstanden werden, chen. dem existenziellen Zweifel zu entflie- Literatur hen, sich diesem Zweifel gar nicht erst auszusetzen. Für Karl Jaspers wäre eine Beuth, Patrick (2012): Wie aus Menschen Cy- solche Vielbeschäftigung gleichzuset- borgs werden. In: Zeit Online, URL: http://www.zeit.de/digital/internet/2012- zen mit einem Dasein ohne zu Existie- 08/cyborg-neil-harbisson-biohacking-campus- ren und für Heidegger ein uneigentli- party (Stand: 2015-03-09). ches Leben in der Durchschnittlichkeit des Man (vgl. Jaspers 1956, 223 u. Hei- Braun , Christoph (2007): Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse. Berlin: Paro- degger [1927] 2001, 129). dos. Was heißt das nun alles für den mensch- Damberger, Thomas (2012): Menschen ver- lichen Cyborg? Es bedeutet, das der bessern! Zur Symptomatik einer Pädagogik menschliche Cyborg (im Gegensatz zu der ontologischen Heimatlosigkeit (zugl. einem nicht-menschlichen kyberneti- Darmstadt, Technische Universität, Diss., schen Organismus) sich durch die Su- 2012). Darmstadt: URL: https://damberger.files.wordpress.com/2014/0 che nach einer Antwort auf die Frage 7/damberger_menschen_verbessern.pdf nach dem „Wer bin ich?“ auszeichnet. (Stand: 2015-03-09). Diese Frage ist zugleich Ausdruck der Frage nach dem Sein und damit nach Damberger, Thomas (2011): Macht – Grenze – Bruch … und seine Überwindung. In: Alpsan- dem Sinn des Seins. Jede technische car, Suzana; Denker, Kai (Hg.): Tagungsband Verbesserung, die Teil des Menschen

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