www.apb-tutzing.de | ISSN 1864-5488 | Ausgabe 03-2016

AKADEMIE-REPORT

AKADEMIE FÜR POLITISCHE BILDUNG TUTZING

Schwerpunktthema: Europa Brexit –­ was nun? Europäische Perspektiven nach dem Referendum ab Seite 3

Fliehkräfte Demografischer Lernstatt in den Medien Wandel Demokratie Flüchtlinge waren seit dem Konstruktiver Wettstreit der Die Kölner Oberbürgermeis- Sommer 2015 das beherr- Ideen beim „Parlament der terin Henriette Reker hat den schende Thema. Haben Jour- Generationen“ im Bayerischen „Hildegard Hamm-Brücher- nalisten zu einseitig berichtet? Landtag. Förderpreis“ erhalten. Seite 9 Seite 18 ab Seite 21 INHALT

Blick über den See

Inhalt Wirkt sich der demografische Wandel auch auf politische Ent- SCHWERPUNKT EUROPA scheidungsprozesse und darauf 3 Ursachen und Folgen des Brexit aus, welche Entscheidungen ge- troffen werden? Sowohl der Aus- 5 Ein unterschätzter Akteur gang des britischen Referen- 8 Brennpunkte europäischer Politik dums als auch das „Parlament der Generationen“, das die Aka- JAHRESSCHWERPUNKT demie gemeinsam mit dem Bay- FLIEHKRÄFTE erischen Landtag durchgeführt 9 Spagat zwischen Helfen und Berichten hat, legen es nahe, sich mit die- ser brisanten Frage zu befassen. MEDIEN Für das „Parlament der Generationen“ konnten wir feststel- 11 Dialog mit dem Dagegenbürger? len, dass die junge Generation lediglich zahlenmäßig ins Hin- 14 „Old school statt digitaler Dünkel“ tertreffen geraten wird. In unserer Politiksimulation zeigte sich nämlich auch, dass es „den Jungen“ gelingen kann, der ver- 17 Mündig in der smarten Welt meintlichen Vorherrschaft der Älteren etwas entgegenzuset- POLITISCHE BILDUNG zen: eigene Sachkunde und strategisches Vorgehen. 18 Konstruktiver Wettstreit der Generationen Die jungen Briten scheinen sich damit schwerer getan zu haben. Dennoch trifft die nach dem Referendum gegebene 21 Hildegard Hamm-Brücher-Förderpreis Interpretation, hier hätten „die Alten“ allein durch ihre zahlen- 23 Ausgezeichnetes Engagement mäßige Dominanz über die Zukunft „der Jungen“ entschie- den, so pauschal nicht zu. Die jungen Britinnen und Briten INNENPOLITIK mögen zwar überwiegend pro-europäisch eingestellt sein, 24 Lust auf neue Radikalität aber sie haben es versäumt, dies dort geltend zu machen, 25 Abgeschlossenes politisches Biotop wo es zählt: bei der Abstimmung. Die wenigen verfügbaren Erhebungen zum Abstimmungsverhalten der verschiedenen WIRTSCHAFT Bevölkerungsgruppen verweisen darauf, dass von den unter 27 Globaler Wettbewerb als Motor der Moral? 24-Jährigen wenig mehr als ein Drittel an der Abstimmung teilgenommen hat, bei den über 55-Jährigen lag die Beteili- 29 Innovationen gungsrate dagegen bei mehr als 80 Prozent. Die unterdurch- schnittliche Wahlbeteiligung der jungen Wählerinnen und Wäh- INTERNATIONALE POLITIK ler ist in allen Demokratien ein Thema. Bei Parlamentswahlen 31 Bekämpfung der Fluchtursachen können die Jungen noch darauf hoffen, dass mangelndes poli- 32 Globale Migration tisches Interesse nicht unmittelbar „bestraft“ wird; schließlich 33 Interview mit Ali Fathollah-Nejad liegt einer der vielen Vorteile eines repräsentativen Systems ja gerade darin, dass die Abgeordneten Vertreter des ganzen Vol- 35 Akademiegespräch am See kes sind.

ZEITGESCHICHTE Dennoch erscheinen die Lehren sowohl aus der Brexit- Abstimmung als auch aus unserem „Parlament der Gene- 36 Ein Blick durchs Schlüsselloch rationen“ eindeutig: Gerade in Zeiten des demografischen 38 Komplexe Verhältnisse Wandels kommt es darauf an, dass die kleiner werdende jun- ge Generation sich ihrer Anliegen und Interessen – die aber PERSONALIA natürlich nicht immer generationenspezifisch definiert sind – 40 Pionier der "Kritischen Akademie" bewusst wird und außerdem bereit und fähig ist, diese Inte- ressen auch jenseits von Wahlen und Abstimmungen zu arti- AKADEMIE INTERN kulieren. Politische Bildung befähigt zu beidem. 8 Impressum Mit herzlichen Grüßen 30 Gartenfest der Akademie Ihre 39 20 künstlerische Positionen 41 Medienspiegel 43 Publikationen Prof. Dr. Ursula Münch 44 Namen – Nachrichten Direktorin der Akademie für Politische Bildung

Titelfoto: Am Hamburger Rathaus weht die Europa-Flagge mit einem Trauerflor für den am 3. Juli verstorbenen Ehrenbürger der Freien und Hansestadt Helmut Greve. © SCHRÖDER

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Ursachen und Folgen des Brexit Eine Mehrheit der Briten stimmte beim Referendum für den EU-Austritt.

VERGEBLICH haben die akademische © SUCCO / PIXABAY und die Wirtschaftselite des Vereinigten Königreiches gewarnt und erklärt: Die über tausend- einer Situation hoher Wählergunst, um Auflösung des jährige gemeinsame Geschichte, der Austausch von Parlaments bitten. Seit 2011 gibt es feste Legislatur- Personen, Ideen, Waren; die gefährdeten Arbeits- perioden von fünf Jahren. plätze, die ausbleibenden Investitionen. Trotzdem ha- ben die britischen Wähler mit knapp 52 Prozent im Globale Bedrohungen Referendum vom Juni für den Austritt aus der EU gestimmt. Das ist keine Überraschung, das ist ein Guy Owen von der NATO School beschrieb die Si- Schock. London hat jetzt seinen „schwarzen Frei- cherheitspolitik Großbritanniens. Ihr Ziel sei es, die tag“, als am 24. Juni das Britische Pfund um ein Drit- Bevölkerung, die Werte, den globalen Einfluss, den tel einbrach. Rechtlich bindend ist dieses Votum für Wohlstand und die Wirtschaft zu schützen und glo- das Parlament in London nicht. Etwa 80 Prozent der bale Machtprojektion durchzusetzen. Die nationalen Abgeordneten sind für einen Verbleib in der EU. Doch und globalen internationalen Herausforderungen sei- politisch durchsetzbar ist eine Aushebelung des Refe- en: Terrorismus und Extremismus, Instabilität in Sy- rendums wohl nicht. rien und Irak, Migration, Organisierte Kriminalität, Cyber War und biologische oder chemische Angriffe Verfassungswandel und globale Seuchengefahren. Großbritannien defi- niert Russland als die größte staatliche Bedrohung. Im Vorfeld der Abstimmung befasste sich eine Akade- Die Truppenstärke beträgt nach zahlreichen Reduzie- mietagung mit aktuellen Entwicklungen im Vereinig- rungen knapp 200.000. In Deutschland sind nur noch ten Königreich. Roland Sturm von der Universität Er- etwa 5.000 Soldaten stationiert. Die Verteidigungs- langen-Nürnberg setzte politische Institutionen und ausgaben haben einen hohen Anteil von 2,2 Prozent Ansätze des Verfassungswandels im Vereinigten Kö- des BIP und betragen etwa 62 Mrd. Pfund. nigreich auseinander. Koali- tionsregierungen, wie zwi- Schmutzkampagne schen 2010 und 2015, pass- ten eigentlich nicht in die Daniel Gossel von der Uni- politische Landschaft Groß- versität Erlangen-Nürnberg britanniens. Die Briten em- erläuterte die komplexen pfinden unklare Mehrheits- Beziehungen zwischen verhältnisse als ungerecht. dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent: Schon Die Gewaltenverschrän- die Forderung Churchills kung im Justizwesen, in nach einem starken, verei- dem der oberste Law Lord nigten Europa zielte nicht gleichzeitig Lord Chancel- darauf ab, Großbritanni- lor (Justizminister) und Vor- en einzubinden, sondern sitzender des Obersten Deutschland und Frank- Gerichtshofes war, wurde Guy Owen (rechts) im Gespräch mit Paul Heardman, dem Ge- reich miteinander beschäf- mit Reformen 2006 und neralkonsul von Großbritannien und Nordirland tigt zu halten. In britischer 2009 ausgeräumt. Ohne Wahrnehmung haben staatliche Finanzierung und Parteiengesetze sind die Deutschland und der Zweite Weltkrieg das Empire politischen Parteien staatsfern. Als erfolgreiche Re- zerstört. Nur 15 Prozent der Briten sähen sich auch als form gilt der Freedom of Information Act von 2005, Europäer. Margaret Thatcher war berühmt-berüchtigt der die Tradition der Geheimhaltung durchbrach. Ein für ihre Europakritik, verhandelte die Bedingungen der neues Phänomen sind Referenden. Schließlich kann britischen Mitgliedschaft neu und stellte sich gegen der Premierminister auch nicht mehr jederzeit, d.h. in weitere politische Integration und den Machttransfer

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nach Brüssel. Premier Cameron gilt als Europa-freund- ternationalität britischer Firmen, Liberalisierung des lich, drängt dennoch auf Reformen in Bezug auf Migra- Welthandels, fallender Zölle, Handel mit Common- tion und das Sozialsystem. wealth- und BRICS-Staaten geht fast die Hälfte der britischen Exporte in die EU. Der Brexit EU trifft den Wirtschaftsführer, Li- Wirtschaftsraum London mit seinen Banken, Versi- beraldemokraten und cherungen, Investmentfirmen und Reedern beson- die oppositionelle La- ders hart. bour Party seien mehr- heitlich für einen Ver- Unsicherheit sei ökonomisches Gift. Negative Effek- bleib in der EU – aus te durch die Wiedereinführung von Zöllen und dem unterschiedlichen Grün- Wegfall der Niederlassungsfreiheit und der gegensei- den: Marktzugang ist für tigen Marktzulassung sind in allen Bereichen zu er- Unternehmen wichtig, warten: Einkommen werden sinken, die Preise stei- der Schutz durch das Eu- gen. Da an einer Störung der Handelsbeziehungen ropäische Arbeitsrecht kein Interesse bestehe, wird eine neue Regierung auf für Labour. Allerdings schnelle Ersatzabkommen drängen. glaubten über die Hälfte Daniel Gossel: „Nur 15 Prozent der Briten sehen sich auch als der Bürger, das Problem Europäer.“ Neue Signale von „Englishness“ Immigration übersteige © Meyer die wirtschaftlichen Vor- Marlene Herrschaft von der Universität Passau be- teile der EU. Qualitätszeitungen empfahlen den Ver- schäftigte sich mit britischen Identitäten. Nicht nur in bleib, die Boulevardpresse votierte deutlich für den der Bevölkerung, sondern auch in der Politik herrsche Austritt. Gossel sprach von einer „ugly campaign“. die Haltung vor, Großbritannien und Europa gehörten nicht zu einer Einheit. Die verbreitete Europa-Skep- Gabriel Felbermayr vom ifo Institut beleuchtete die sis reicht von vorsichtiger Kritik an einzelnen Regulari- wirtschaftspolitische Dimension der britisch-europäi- en bis zu einer fundamentalen Opposition, die einen schen Beziehungen und ökonomische Konsequenzen Angriff der EU auf zentrale britische Werte befürch- eines „Brexit“. Großbritannien wäre von allen EU-Frei- tet. Neue Signale von „Englishness“ tauchen auf: Die heiten (z.B. Personenfreizügigkeit), der Zollunion und St.-Georgs-Fahne, Diskussionen über eine englische EU-Förderprogrammen (z.B. Agrarbereich, Wissen- Nationalhymne, eine englische Gesetzgebung und schaft) ausgeschlossen. Abkommen, die die EU im ein englisches Parlament. Schottland und Nordirland Auftrag ihrer Mitglieder verhandelt hat, werden un- wollten unbedingt in der EU bleiben. Der Brexit rollt gültig. Das Vereinigte Königreich könnte sogar die die schottische Unabhängigkeitsfrage neu auf. WTO-Mitgliedschaft verlieren. Trotz traditioneller In- Saskia Hieber © STUTTMANN

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Ein unterschätzter Akteur Die Außenhandelspolitik der EU steht auf dem Prüfstand der Wissenschaft.

DIE EUROPÄISCHE UNION ist ein bedeutender Akteur auf der weltpolitischen Bühne. Debatten über die Außenpolitik der EU fokus- sieren häufig das Feld der Gemeinsa- men Außen- und Sicherheitspolitik, die Nachbarschafts- und Erweite- rungspolitik, auch die Entwicklungs- zusammenarbeit oder die Klima- politik. Die europäische Außenhandels- politik wurde hingegen allzu oft vernach- © STUTTMANN lässigt – obwohl gerade diese den Bereich darstellt, in dem die europäische Integration am wei- Der Ökonom Wilhelm Kohler (Universität Tübingen) testen vorangeschritten ist. In den Blickpunkt einer verdeutlichte die Anreize regionaler Handelsabkom- breiten Öffentlichkeit rückten außenhandelspolitische men für die beteiligten Volkswirtschaften, die vom Aspekte erst durch die Diskussion über das Transatlan- Abbau von Handelshemmnissen, über die Verringe- tische Freihandelsabkommen, kurz TTIP (Transatlantic rung der Preisdifferenz zwischen Weltmarkt- und In- Trade and Investment Partnership). Auch am Anfang landspreis bis hin zu einer höheren Zeitkonsistenz des Ukraine-Konflikts standen außenhandelspolitische und Verlässlichkeit im Außenhandel lägen. Kohler pro- Fragen im Beziehungsdreieck EU-Russland-Ukraine. gnostizierte, dass die Zukunft des Welthandels nicht in multilateralen Institutionen wie der Welthandelsor- Welche Rolle spielt die Außenhandelspolitik also ganisation WTO liegen wird. für die EU? An welchen Prinzipien orientiert sie sich? Wie bewältigt sie das Spannungsfeld zwischen Re- Krise regionaler Organisationen gionalismus und Multilateralismus? Wie wird die „friedliche Handelsmacht EU“ tatsächlich von außen Für den Politikwissenschaftler Bernhard Stahl (Univer- wahrgenommen? Welche entwicklungspolitischen sität Passau) spiegelt die Hinwendung zu regionalen Potenziale hat sie? Lösungen die aktuelle Dysfunktionalität multilateraler Handelsregime wider. Die EU sei hier ein Akteur, der Aushöhlung durch Sonderregelungen politisch stark von der zunehmenden (Inter-)Regionali- sierung des Welthandels profitiere und in diesem Pro- Das für die EU konstitutive Spannungsfeld zwischen zess gleichzeitig auch eine Vorbildfunktion für andere Multilateralismus und Regionalismus analysierte aus Wirtschaftsräume wahrnehme. Dies sollte allerdings der Perspektive des Wirtschaftsvölkerrechts Chris- nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich gegenwär- toph Hermann von der Universität Passau. Seit dem tig regionale Organisationen global gesehen – von Ende des Kalten Krieges ließe sich eine „quantitative der ASEAN über die EU bis hin zum Mercosur – in ei- Ausweitung und qualitative Vertiefung“ von bilatera- ner Krise befänden, die vor allem aus einer mangeln- len bzw. regionalen Handelsabkommen beobachten, den regionalen Identität erwachse. wobei wir im Augenblick die Zeit der „Mega-Regio- nals“ erlebten: Handelsrechtliche Grundprinzipien der Der Gegensatz zwischen multilateralen und regio- Welthandelsorganisation (WTO) wie etwa das Meist- nalen Außenhandelskonzepten lässt sich vorrangig an begünstigungsprinzip würden zunehmend durch re- der Ausgestaltung der sogenannten Ursprungsregeln gionale Sonderregelungen und eine Vielzahl von Han- festmachen: So lässt sich der Regionalisierungstrend delsabkommen ausgehöhlt. gerade an der Zunahme präferentieller Ursprungsre-

* Die Tagung „Europa handelt. Die Außenhandelsbeziehungen der Europäischen Union“ fand drei Monate vor dem Referendum über den Brexit statt und wurde durch die Europäische Union mitfinanziert. Partner waren das ifo Zentrum für Außenwirtschaft in München, die Universität Passau und der Arbeitskreis Europäische In- tegration (AEI).

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geln messen, die immer öfter Teil regionaler Handels- Gerade für die EU besteht eine starke Wechselwir- abkommen sind und in diesen von Vertrag zu Vertrag kung zwischen der gemeinsamen Handelspolitik unterschiedlich gestaltet werden. Dadurch würde laut (GHP) einerseits und der Entwicklungszusammenar- Till Müller-Ibold von der internationalen Wirtschafts- beit andererseits. Der Jurist Wolfgang Weiß (Univer- kanzlei Cleary Gottlieb Steen & Hamilton nicht nur die sität für Verwaltungswissenschaften Speyer) vertritt Abwicklung von Geschäften im globalen Rahmen ver- hier gar die These der entwicklungspolitischen Instru- kompliziert; vielmehr seien diese oft auch WTO-recht- mentalisierung der GHP, die die Sozialwissenschaftle- lich unzulässig, wenn sie rin Clara Brandi vom Deutschen Institut für Entwick- versteckte Handelsbar- lungspolitik mit wirtschaftlichen Daten untermauerte. rieren darstellen. Doch Beide stimmten überein, dass die Entwicklungszu- auch aus ökonomischer sammenarbeit der Union weltweit vorbildlich ist, zu- Sicht brächten nach mal sie den offensten Markt für Entwicklungsländer – Gabriel Felbermayr vom insbesondere für die am schlechtesten entwickelten ifo Institut Ursprungs- Länder – schaffe. regeln fast ausschließ- lich negative Effekte Altruismus und Eigeninteresse mit sich und stellten ein ernsthaftes Handels- Dabei sei die Entwicklungspolitik ebenso vom Altru- hemmnis dar – insbe- ismus wie vom Eigeninteresse geprägt. Diese Kom- sondere für kleine und Gabriel Felbermayr: „Ursprungs- bination wirke durchaus: So hätten EU-Freihandels- regeln sind ein ernsthaftes Han- mittelständische Unter- delshemmnis.“ abkommen mit Entwicklungsländern als Partner und nehmen. © Haas als Drittländer zumeist positive Wirkungen. Der Han- del diene nicht nur beiden Seiten, sondern schaffe zu- Unterschiedliche technische Standards gleich verlässliche Rahmenbedingungen und trage – normativ wie empirisch – zur Überwindung genu- Ein weiteres Hemmnis für den Außenhandel und da- in politischer Entwicklungsprobleme bei (Korruption, mit auch eine zentrale rechtliche Herausforderung für Menschenrechtsverletzungen, nicht funktionierender zukünftige Handelsabkommen stellen unterschied- Rechtsstaat). liche Standards in der technischen Normung dar, die global rund 30 Prozent aller Produkte betreffen. Unterschätzte Rolle Jörg Terhechte von der Universität Lüneburg zeigte, dass Bemühungen zur Angleichung häufig durch po- Am Beispiel des euro- litische Befindlichkeiten behindert würden, wie etwa päischen Engagements durch die Sorge vor dem Verlust kultureller Identität. in der Doha-Runde der Standardisierungen seien daher auf regionaler – ge- WTO zeigte Eva Schmitt schweige denn auf multilateraler – Ebene nur schwer von der Universität Gie- durchsetzbar und würden bislang höchstens in bilate- ßen die Verhandlungs- ralen Abkommen vereinbart. Benjamin Jung (Univer- potenziale der EU auf: sität Hohenheim) mahnte in diesem Zusammenhang, Ihre Stärke offenbare dass gerade zu hoch gesetzte Standards – wie etwa sich dann, wenn das dy- in der EU – für viele Produkte aus Entwicklungslän- namische interne Rin- dern eine Behinderung des Marktzugangs darstellten. gen um ein klares Man- dat gemeistert ist. Die Eva Schmitt: „EU ist kein gelähm- Struktur der Union er- ter Akteur.“ kläre, warum sie zu- weilen fälschlicherweise als gelähmter Akteur wahr- genommen werde. Unterschätzt werde vielfach das hohe prozessuale Engagement der EU als auch de- ren relativ bewegliche Linie in internationalen Ver- handlungen, welche die Kompromissbereitschaft auf allen Seiten steigere. Insgesamt reüssiere die EU bei der Förderung der Liberalisierung und Transpa- renz der Wirtschaftskreisläufe, vor allem in Bezug auf Dienstleistungen, Industrie- und neuestens auch Ag- rargüter. So sei sie auch überzeugt, dass obwohl die Doha-Runde im Augenblick zwar stocke, sie sich den- Der größte Teil des EU-Außenhandels wird mit Containerschiffen umgeschlagen. noch insgesamt in Richtung eines positiven Abschlus- © PeterKraayvanger / pixabay ses bewege.

6 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 EUROPA

Kontrovers wurden die Ausmaßes der Agen- Handelsbeziehungen da sowie ihrer Details zwischen der EU und den beantwortet sei, kön- USA debattiert. Wäh- ne auch eine tragfähige rend Michael Pflüger Analyse vorgenommen (Universität Würzburg) werden. die EU als Juniorpart- ner der USA bezeich- Am TTIP lasse sich laut net, sieht Knut Brünjes Brünjes das grundsätzli- (früher im Bundeswirt- che Verhältnis von Han- schaftsministerium) viel- delspolitik und Außen- mehr zwei gleichberech- politik illustrieren: Denn tigte Handelspartner. Michael Pflüger: EU nur Junior- Knut Brünjes unterstrich die Be- dass die Annäherungs- Laut Pflüger gebe es nur partner der USA deutung bilateraler Abkommen. prozesse und die Ver- zwei Handelspartner auf handlungsrunden kom- Augenhöhe, die das bipolare Weltwirtschaftssystem plex und langwierig verliefen, sei eben Teil des Spiels des 21. Jahrhundert dominieren: die USA und China. der Handelspolitik. Handelspolitik sei stets langfris- Essenziell sei somit für die EU, sich in die multilatera- tig und auf eine größtmögliche Nutzenmaximierung len Strukturen einzuordnen. ausgelegt, mit dem Ziel, die Vertragspartner dauer- haft zu binden. Folglich könne die Handelspolitik nur Handelspartner auf Augenhöhe? bedingt ein Element der Außenpolitik sein, da diese auch kurzfristig agieren müsse. Es sei hierbei jedoch Brünjes hingegen unterstrich die Bedeutung bilatera- unzweifelhaft, dass die Handelspolitik durchaus die ler Abkommen: Insofern sei das zu verhandelnde TTIP Außenpolitik stütze: im Falle der Europäischen Union auch durch und durch sinnvoll. Gleichwohl sei es nicht deutlich stärker als bei Nationalstaaten. möglich, die konkreten Effekte des Abkommens be- Andreas Kalina lastbar zu prognostizieren. Erst wenn die Frage des Anne Harrer

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 7 SCHWERPUNKT | EUROPA

Brennpunkte europäischer Politik Die Problemlösungsfähigkeit der EU Der Datenschutz, das „wichtigste Entwick- wird nicht nur wegen des Brexit auf lungsfeld der Grund- rechtskompetenz der eine harte Probe gestellt. Eine Tagung EU“ (Michl), stand im widmete sich Fragen von Kompeten- Mittelpunkt eines Work- shops über „Big Data“. zen, Migration und Grundrechten. Die Juristin Marie-The- res Tinnefeld, Björn ARNE NIEMANN, Inhaber des Jean Monnet Lehr- Friedrich vom Haus stuhls für Europäische Integration an der Universi- der Medienbildung in tät Mainz, unterschied zwischen den Zugkräften der München sowie Walter Integration (zum Beispiel Spillover-Effekte von Inte- Walther Michl: „Datenschutz ist Staufer von der Bun- grationsmaßnahmen) und Gegenkräften (etwa di- das wichtigste Entwicklungs- deszentrale vertieften feld der Grundrechtskompetenz vergierende staatliche Zwänge und nationales Souve- der EU.“ einschlägige rechtliche, ränitätsbewusstsein). © Haas gesellschaftliche und medienpädagogische Über den aktuellen Stand der europäischen Flücht- Aspekte. Ein weiterer Workshop befasste sich unter lingspolitik sprachen Dietrich Thränhardt von der Uni- der Leitung von Bettina Schmitt und Christian Gohl- versität Münster und Constantin Hruschka von der ke von der Hochschule München mit Planspielen zum Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Thränhardt plädierte Thema „Flucht, Asyl, Migration“. dabei für legale Möglichkeiten zur Arbeitsmigration und Integration durch soziale Kontakte. Hruschka stellte die Ein weiterer „Brennpunkt“ der Tagung war das der- aktuellen Leitlinien der Europäischen Kommission zur zeit verhandelte transatlantische Freihandelsabkom- Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems men TTIP. Gabriel Felbermayr, Leiter des ifo Zent- vor, welche unter anderem darauf abzielt, eine stärkere rum für Außenwirtschaft, diskutierte darüber mit Linn Konvergenz im EU-Asylsystem zu erreichen. Selle vom Verbraucherzentrale Bundesverband in Berlin. Der Soziologe Georg Vobruba von der Universi- tät Leipzig analysierte den Verlauf der Eurokrise. Er „Das letzte Mal wurden vor mehr als 20 Jahren die machte dabei einen gespaltenen Krisenverlauf aus. Regeln des Welthandels modernisiert. Dieses Regel- Auch wenn sich ökonomische Probleme in den Griff system passt nicht mehr für die Weltwirtschaft des bekommen lassen: Die sozialen Probleme sind ge- 21. Jahrhunderts“, sagte Felbermayr. Ein ambitionier- blieben, insbesondere eine hohe Jugendarbeitslosig- tes transatlantisches Freihandelsabkommen könn- keit in vielen EU-Staaten. te beträchtliche volkswirtschaftliche Vorteile mit sich bringen, so der Ökonom. Linn Selle befürchtet da- Der Europarechtler Walther Michl von der Univer- gegen, dass das Niveau des Verbraucherschutzes sität München sprach über Rolle und Funktion des aufgeweicht werden könnte: „Moderne Handelsab- Rechtes bei der Gestaltung der Europäischen Integra- kommen bergen das Risiko, handelspolitischen Inter- tion. Am Beispiel der aktuellen Diskussionen über die essen Vorrang vor anderen Gemeinwohlinteressen zu Maut und die Richtlinie über „Schockbilder auf Ziga- geben“, sagte sie. rettenschachteln“ zeigte er Rechtsetzungs- und Über- Gero Kellermann prüfungskompetenzen der EU auf.

* In Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung

Akademie-Report Herausgeber: Akademie für Politische Bildung Buchensee 1 82327 Tutzing Tel. 08158 / 256-0 Fax 08158 / 256-14 Internet: https://www.apb-tutzing.de E-Mail: [email protected] Redaktion: Prof. Dr. Ursula Münch (verantw.), Dr. Michael Schröder (Redaktion und Gestaltung), Antonia Kreitner (Redaktionsassistenz) Layout-Konzept: Michael Berwanger Agentur Tausendblauwerk www.tausendblauwerk.de Druck: Peter Molnar Blumenstr. 26 82407 Wielenbach Der Akademie-Report wird kostenlos abgegeben

8 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 FLIEHKRÄFTE | JAHRESSCHWERPUNKT

Medien Spagat zwischen Helfen und Berichten

Flüchtlinge und Asyl waren seit dem Sommer 2015 das beherrschende Thema der Medien. Journalisten mussten sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht einseitig und zu positiv berichtet hatten.*

ALS BUNDESKANZLERIN Mer- kel die Grenzen für die am Budapes- Flüchtlinge am Grenzübergang Gevgelija in Mazedonien im August 2015 ter Ostbahnhof gestrandeten Flücht- © Dragan Tatic / Österr. Außenministerium / wikimedia commons linge öffnete, war Susanne Glass Studioleiterin der ARD in Wien und damit zustän- scher zur Verfügung oder kommt man mit Englisch dig für die Berichte aus 12 Ländern in Südosteuro- weiter? Zu groß ist die Versuchung, nur englischspre- pa. Über ein halbes Jahr später sagt sie: „Das Thema chende, akademisch gebildete Flüchtlinge herauszu- hat uns damals überrollt. Ständig haben wir uns über- greifen und damit ein schiefes Bild der Wirklichkeit zu legt: Wie gehen wir mit diesem schwierigen Thema zeichnen. um? Welche Bilder senden wir? Und was zeigen wir nicht?“ Im Zeitalter des Internets erhöhe sich die Geschwin- digkeit der Berichterstattung rasant. Dazu kommt der Ihre journalistische Grundhaltung beschreibt sie so: Wunsch nach mehr Emotionalität. Diese Mischung „Ich möchte nicht Teil einer Geschichte – part of the könne einen Verlust an Qualität zur Folge haben. game – werden. Ich will Beobachterin und möglichst neutrale Berichterstat- Worte auf der Goldwaage terin bleiben.“ Aber wie will man das durchhal- Verzerrte Wirklichkeit – das Problem sieht auch Hu- ten, wenn eine Flücht- bert Denk, freier Journalist („Bürgerblick“) in Passau. lingsfamilie verzweifelt Er hat die Flüchtlingsströme im Sommer und Herbst in einer fremden Stadt 2015 vor Ort im Grenzgebiet zu Österreich beobach- nach einer Unterkunft tet. Er mahnt: „Wir müssen in dieser Situation unsere sucht? Nur filmen oder Worte auf die Goldwaage legen.“ Grelle Scheinwerfer eingreifen und helfen? auf ein Thema und eine polarisierende Sprache sei- „In dem Moment hat en Probleme, die sich durch das Internet verschärft sich die Geschichte ver- hätten. ändert“, sagt Glass, die seit Jahresbeginn das Einen Spagat zwischen „Helfen“ und „Berichten“ Susanne Glass will Beobachterin und möglichst neutrale Berichter- ARD-Studio in Tel Aviv sieht auch er. Eines Abends saß vor seinem Haus statterin sein. leitet. Man könne im- eine zwölfköpfige irakische Familie, die ein Schleu- mer nur Einzelschicksa- ser dort ausgeladen hatte. „Ich war in der Zwick- le darstellen, nie die ganze Geschichte erzählen. Und mühle: Hole ich die Kamera oder helfe ich?“ Denk die Auswahl der Protagonisten habe etwas Subjek- ging den Mittelweg: Zuerst die Fotos, danach küm- tives: Wen kann man ansprechen? Stehen Dolmet- merte er sich um die Menschen. Er sagt: „Wir ha-

* Veranstaltung in Bayreuth in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Medien

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 9 FLIEHKRÄFTE

ben die Chance, dorthin zu gehen, wo unser Publi- kum nicht hinkommt. Dieses Privileg dürfen wir nicht missbrauchen.“

Harsche Kritik („Meinungsabsolutismus“) müssen sich manche Journalisten von Julius Heinrichs gefal- len lassen, der selbst als freier Journalist in Leipzig arbeitet. Er sagt: „Einen ‚Willkommensjournalismus‘ darf es nicht geben.“ Damit meint er einen Journa- lismus, der sich Fragen verschließt, um ja nicht an- zuecken. So könnte nämlich das ohnehin schon an- geschlagene Vertrauen der Deutschen in die Medien noch weiter sinken, Stichwort Lügenpresse. Heinrichs beobachtet Formen von Selbstzensur, aus Angst, mit kritischen Berichten über Flüchtlinge den Rechtsext- remen in die Hände zu spielen. Er befürwortet statt- © TOMASCHOFF / TOONPOOL.COM dessen einen Journalismus, der unvoreingenommen hinschaut und keine Aspekte ausblendet. Er appelliert gesucht, Hilfe bei Behördengängen angeboten und an seine journalistischen Kollegen: „Lasst uns Zweif- Möbel beschafft. Rund 17 000 Mitglieder hatte die ler nicht sofort als Nazis abstempeln. Lasst uns auch Gruppe in ihrer aktivsten Zeit und konnte so ein brei- unangenehme Fragen stellen.“ tes Netzwerk der Hilfe aufbauen.

Fragmentierte Das Fazit der Tagung: Tabuisierungen darf es Diskussion beim Flüchtlingsthema nicht geben. Sonst wird Eine Verschärfung des aus freiem Journalis- Diskurses über die The- mus Agitation und Pro- men Flucht und Asyl in paganda. Stattdessen sozialen Netzwerken be- sollten die immer kru- obachtet Caja Thimm. der werdenden Posts in Digitalen Hass habe es den einschlägigen Face- seit der Erfindung des book-Gruppen öffentlich Internets gegeben, jetzt gemacht werden. Ihre sei es nur viel leichter, Urheber radikalisieren Caja Thimm beobachtet einen Lena Odell: Flüchtlingshilfe über ihn zu teilen, sagt die verschärften Diskurs über Flucht Facebook sich ja auch und werden Medienprofessorin aus und Asyl in sozialen Netzwerken. © Meyer mehr, weil oft Gegenöf- Bonn. Man fühle sich fentlichkeit fehlt. Ange- zwar anonym, sei es im Netz aber eben nicht. Es sichts des wachsenden Misstrauens des Publikums gebe eine „Filterblase“, in der eine fragmentierte und steht die Glaubwürdigkeit der Medien allgemein auf nur noch auf die eigene Gruppe bezogene Diskussion dem Spiel. Gegensteuern ist angesagt. So kann aus stattfinde. Von anderen bekomme eine solche „Exklu- der Krise eine große Chance für Qualitätsjournalis- sionsgruppe“ nichts mehr mit. Die Öffentlichkeit wer- mus werden. de zum Feind erklärt („Lügenpresse“), was wiederum Michael Schröder den Zusammenhalt der eigenen Gruppe stärke. Eine (siehe Presseschau Seite 42) Gegenstrategie sei die Schaltung von bezahlten, nicht Linktipps: wegklickbaren Anzeigen vor rechtsextremistischen http://www.buergerblick.de/ Youtube-Clips, in denen Flüchtlinge ihre Geschichte https://juliusheinrichs.wordpress.com/ erzählen und so eine „Counter Speech“ zu den rassis- http://www.tagesschau.de/videoblog/videoblog-dossier-nah- tischen Hasstiraden von Pegida-Funktionären halten. ost-ganz-nah-101.html (siehe qr-code) https://twitter.com/sprachnerd Dass soziale Netzwerke auch Positives bewirken http://caja-thimm.de können, hat Lena Odell bewiesen. Als im Septem- ber 2015 Tausende von Flüchtlingen am Münchner Buchtipp: Hauptbahnhof ankamen, hat sie spontan eine Face- Susanne Glass: Grenzerfahrung. Vom Balkankrieg bis zur Flüchtlings- book-Gruppe gegründet. So wurde unkompliziert krise. München (Herbig) 2016. und effektiv ehrenamtliche Hilfe organisiert und Hel- fer mobilisiert: Übersetzer und Unterkünfte wurden

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Dialog mit dem Dagegenbürger? Herausforderungen und Strategien der politischen Kommunikation Ist politische Kommunikation zur nanz ist Relevanz“. Eine Ursache hierfür sieht Leif auch in einer Qualitätskrise der Medien: Der Faktenjournalis- Sisyphosarbeit des 21. Jahrhunderts mus werde immer stärker vom Meinungsjournalismus geworden? Egal, welches Thema: abgelöst, zugleich verliere er seine Orientierungsauto- rität und verkomme letztendlich in einer „Kombination Mehr denn je dominieren Emotionen von Convenience-Journalismus und Content-Marke- ting“. Als Katalysatoren dienten die Sozialen Medien, statt Argumente die Debatten. die die „Eskalation der Formulierung“ befeuerten und die „Überschüttung des öffentlichen Raums mit struk- POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSTRÄGER glau- turlosen Informationen“ beförderten. ben zunehmend rückwärtsorientierten „Dagegenbür- gern“ gegenüber zustehen. Doch auch umgekehrt: Eventmarketing Bürger fühlen sich in ihren Belangen von den Füh- rungseliten in Politik und Wirtschaft nicht ernst genom- Schließlich trüge hierzu die Einstellung und Erwar- men oder gar ignoriert. Sie sind oft überzeugt, gegen tungshaltung des Bürgers bei, für den die Politik zu eine Wand anzureden. Mehr noch: Neue Medien und mühsam, zu langsam, zu kompliziert ist. Inszenierung Plattformen potenzieren diese Entwicklung und ver- räume all diesen Ballast weg und mache die Politik ändern nochmals den Charakter und die Qualität der empörungsfähig. Kommunikation: Sie wird kurzlebiger, oft verkürzt, Hauptsache pointiert. Differenzierte Informationsver- Insgesamt entstünde eine Inszenierungssymbiose, mittlung scheint immer weniger zu verfangen, umso die den Wesenskern der Politik grundlegend heraus- mehr hingegen Inhalte mit Potenzial zur Aufwiegelung fordert und verändert. Mehr noch: Da Inszenierung und Entrüstung. Weniger der Dialog denn vielmehr das mehr den Regeln des Eventmarketing folgt denn der einseitige, plakative Statement avanciert zum Grund- Logik und den Fakten pfeiler der (post)modernen „Kommunikation“. des politischen Alltags, droht sie gar zum Politik- Kommunizieren Politiker und Bürger tatsächlich an- ersatz zu verkommen. einander vorbei? Überfordert der Druck zur ständigen Kommunikation die politischen Systeme? Oder um- Einen Hoffnungsschim- gekehrt: Welche Chancen birgt die neue Kommunika- mer für den Ausstieg tionskultur fürs demokratische Regieren? Das waren aus der Inszenierungs- Themen einer Fachtagung in Kooperation mit der Ver- spirale sieht Leif den- tretung der Europäischen Kommission. noch: Denn die Inszenie- rung hätte heute bereits Das Beziehungsdreieck von Politik, Medien und Pu- den Bogen so weit über- blikum ist für Thomas Leif (Chefreporter des SWR spannt, dass sie sich Thomas Leif sieht eine Qualitäts- Fernsehens Mainz) in einer Inszenierungsspirale ver- krise der Medien. zunehmend selbst dis- fangen. Dafür macht er mehrere Gründe aus: © Kölmel / Petrus kreditiere: Für viele – in der Politik, in den Medi- Für so manchen Politiker scheine angesichts der en und in der Öffentlichkeit – wirke sie übertrieben, Komplexität der heutigen Herausforderungen und überdramatisiert und ermangele an Authentizität. So Problemlagen Inszenierung ein Handlungsersatz ge- kommt es nicht von ungefähr, dass zunehmend auch worden zu sein. Dabei diene sie auch als eine Art Re- die „Inszenierung der Nicht-Inszenierung“ greife – aktion auf die entsprechende „Nachfrage“ seitens egal ob in der Landes-, Bundes- oder Europapolitik. der Bürger und als Reaktion auf die Eigenlogik und Fehlentwicklungen der Medienlandschaft. Für Leif Fragmentierung des Diskurses ist „Inszenierung auch eine Antwort auf die Inkom- petenz der Medien, denn mit einem kurzen Wording Diese Entwicklung macht auch der Politikberater und kommen die Politiker einfach mehr durch.“ Staatssekretär a.D. Klaus-Peter Schmidt-Deguelle fest, demzufolge durch die Omnipräsenz in den me- Die Medien verlangten ihrerseits zusehends nach in- dialen – vor allem: digitalen – Kanälen schleichend die szenierten Botschaften, gleichsam als „Schuhlöffel“ für Glaubwürdigkeit und Akzeptanz schwinden. Zurück- die Berichterstattung, da nüchterne Nachrichten meist haltung erscheine Politikern immer mehr als die klü- resonanzlos bleiben. Das Motto heiße vielmehr „Reso- gere Strategie. Sein Fazit fällt jedoch verhaltener aus:

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Infolge der Fragmentierung des politischen Diskurses Streiters Handlungsempfehlungen für die Politik sind: einerseits und Mediatisierung der Gesellschaft ande- Alle Menschen und Positionen, die sich im Rahmen rerseits, kann die notwendige politische Übersicht- der freiheitlichen demokratischen Grundordnung be- lichkeit nicht wiederhergestellt werden. Umso mehr wegen, ernst zu nehmen, Verständnis für komplexe seien die politischen Eliten gefordert, in den Dialog Sachverhalte zu schaffen, Handlungsfähigkeit und Lö- mit den Bürgern zu treten und dabei alle Meinungs- sungskonzepte aufzuzeigen und Freiraum zur Reflexi- gruppen einzubeziehen. on zu fördern. Allerdings ist auch unabdingbar, dass es ein öffentliches Verständnis dafür gibt, dass nicht Verhärtung und Radikalisierung alles zu jedem Zeitpunkt kommuniziert werden kön- ne: „Politik braucht auch einen geschützten Raum, ei- Karl-Rudolf Korte, Direktor der NRW School of Go- nen Bereich der Vertraulichkeit, um frei reflektieren zu vernance, sieht hier allerdings eine anhaltende „Ge- können und mögliche Lösungen auszuloten“. sprächsstörung“ als Hindernis: Infolge der von den Medien vorgegebenen Darstellungslogiken schaffen Frühzeitig und transparent es politische Eliten immer weniger, „Legitimation durch Kommunikation“ herzustellen. Dazu trägt auch Die Unternehmenskommunikation steht vor ähnli- bei, dass der Adressat der Kommunikation ihren Cha- chen Herausforderungen: Auch hier sehen sich die rakter verändert: Befördert durch die Sozialen Medien Verantwortlichen verstärkt mit Gegenparts konfron- wird die Öffentlichkeit zunehmend fragmentiert, es tiert, die vor allem an der „Null-Variante“ interessiert etablieren sich vielmehr so genannte „Mini Publics“– sind, so die Einschätzung von Hans-Joachim Bues, also kleine, konsonante Foren und Öffentlichkeiten, dem Leiter des Konzernbereichs Unternehmenskom- die nebeneinander existieren, miteinander aber kaum munikation der Flughafen München GmbH. Als Ma- interagieren und sich stattdessen in ihren Positionen xime gilt auch hier die frühzeitige und transparente verhärten und zum Teil radikalisieren. Die klassische Kommunikation und Einbindung aller Betroffenen, Öffentlichkeit verstummt eher und wird zur schwei- wobei den Befürwortern und den Gegnern Raum und genden Mehrheit. Dies erschwert die politische An- Gehör geschenkt werden müsse. Dennoch müsse – sprache: Sie muss heterogener werden, zielgrup- genauso wie in der Politik – zu einem gewissen Zeit- penspezifisch sein und sich trotz der Digitalisierung punkt eine Entscheidung herbeigeführt werden, die auch der klassischen Retroelemente und interperso- zwangsläufig jeweils ein „Gewinner- und ein Verlierer- neller Kommunikation bedienen: Nur dann könne die lager“ zur Folge habe. Entscheidend ist es auch hier, Politik wieder ihre Sprachfähigkeit zurückerlangen. die Argumente, die zu einer Entscheidung geführt ha- ben, offen zu legen. Dies sei Voraussetzung für die Wie schafft man es unter den Ungewissheiten und Legitimität jeder Entscheidung. Herausforderungen am Anfang des 21. Jahrhunderts einen Dialog zwischen Politik und Bürgern zu begrün- Richard Kühnel, Leiter der Vertretung der Europäi- den und aufrechtzuhalten? Was sind Voraussetzun- schen Kommission in Deutschland, verdeutlichte die gen für politische Führung und Resonanz? zusätzlichen Herausforderungen der politischen Kom- munikation von EU-Entscheidungen, zumal zu den „Politik braucht Vertraulichkeit“ grundsätzlichen Erschwernissen der politischen Kom- munikation noch die besondere Struktur der EU hin- Nach Einschätzung von Georg Streiter, einem der zukäme: als komplexes Mehr-Ebenensystem von Uni- stellvertretenden Sprecher der Bundesregierung, on, Mitgliedsstaaten und deren Regionen, als eine wachse bei Menschen, die sich heutzutage zu poli- Gemeinschaft von 28 Staaten mit 28 nationalen Öf- tischen Entscheidungen äußern, der Anteil derjeni- fentlichkeiten und 24 Amtssprachen, als ein politi- gen mit einer pauscha- sches System ohne genuine, gewachsene Bürger- len Ablehnungshaltung: schaft. Sein Fazit: Ebenso wie die europäische Politik Sie äußern einen diffu- kann auch die europäische Kommunikation nur in ei- sen Unmut, benennen nem Verantwortungsverbund funktionieren. in der Regel keine Al- ternativen und verwei- Weniger zuversichtlich ist hier der ehemalige öster- gern oft den konstrukti- reichische EU-Kommissar Franz Fischler, der in den ven Diskurs. Doch auch Kommunikationsmängeln die Symptome einer syste- gerade mit diesen „La- mischen Krankheit der EU sieht: Zum einen wollen gern“ und „Mini Pub- die Mitgliedsstaaten nicht, dass EU-Institutionen die lics“ müsse die Politik Hoheit in der Kommunikation haben. Zum anderen in Dialog treten und ei- sei die EU nicht besonders talentiert, um zu kommu- Georg Streiter: „Nicht alles kann nen offenen und fairen zu jedem Zeitpunkt kommuni- nizieren. Denn neben den strukturellen Merkmalen Umgang pflegen. ziert werden.“ würde in Brüssel regelmäßig Kommunikation mit In-

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formation verwechselt, weshalb es kaum zum Dialog Paul F. Nemitz, Direktor für Grundrechte und Bürger- komme. Dennoch macht Fischler deutlich: „Die defi- schaft in der Generaldirektion Justiz der EU-Kommis- zitäre Kommunikation ist nur eine Verstärkung der ak- sion, beschäftigte sich mit der Frage, ob und wie sich tuellen Sinn- und Vertrauenskrise der EU, sie ist nicht Hetze im Internet besser kontrollieren lasse und wel- deren Ursache.“ che Möglichkeiten es gibt, diese zu unterbinden. Ein Hauptproblem sei vor allem der schmale Grat zwi- Auch für Werner Weidenfeld, den Direktor des Cen- schen Zensur und dem Recht auf freie Meinungsäu- trums für angewandte Politikforschung, liegt die größ- ßerung. Anhand aktueller Absprachen, Richtersprü- te Herausforderung im „Fehlen eines Orientierungs- che und Gesetzesakte verdeutlichte Nemitz, dass punktes in der heutigen Zeit der Ungewissheiten“. erfolgversprechende Auflagen an die großen Internet- Man sähe überall situatives Krisenmanagement, nir- konzerne nur dann zu realisieren sind, wenn sie von- gendwo aber eine strategische Problemlösung: Erfor- seiten der Europäischen Union insgesamt kommen. derlich wären vielmehr „mehr Aufwand für Deutung Nur so könne man genügend Gewicht in die Waag- und Erklärung“, „ein strategischer Kopf“ und „ein neu- schale werfen – zudem würden dadurch europaweit es, zeitgemäßes Narrativ“. Politische Kommunikation, verbindliche Rahmenbedingungen geschaffen. die auch verfängt und für Legitimation sorgt, gehe einher mit einer klugen politischen Führung. Exklusive Meinungsführerschaft

Auch wenn die Wurzeln für die heutigen politischen Die digitalen Plattformen stellen aber nicht nur einen Krisen tiefer angesiedelt sind als in der Kommunika- Kommunikationskanal dar, sondern auch ein Partizi- tion, enthebt es die Akteure nicht, sich mit den Mög- pationsinstrument, das idealerweise eine neue Are- lichkeiten und Chancen durch die neuen Medien aus- na des Politischen begründen solle. Für Gary Schaal einanderzusetzen. Die von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg gehen Tagung verdeutlichte al- hier die Hoffnungen und Realität weit auseinander: lerdings, dass die digi- Die oft geäußerte Hoffnung ist, dass das Internet de- talen Kommunikations- mokratische Deliberation als zusätzliches Instrument kanäle mehr Fluch als der politischen Entscheidungsfindung ermöglichen Segen sind. könne, d. h. eine anspruchsvolle Diskussion zwischen allen (relevanten) Teilnehmern, die sich als gleich be- Eine vorläufige Bilanz trachten. Empirische Befunde aus dem kommunalen zum Einsatz von sozia- Bereich zeigen hingegen, dass vielmehr Inklusions-, len Plattformen in der Beteiligungs- und Erwartungsasymmetrien entste- EU zog aus Sicht der hen. Aufgrund der fragmentierten Öffentlichkeit wird Praxis Dana Manescu, die Diskussion durch Gruppendenken beherrscht, es Abteilungsleiterin für So- Dana Manescu: Gefahr des Aus- entstehen neue Formen von exklusiver Meinungs- schlusses bestimmter Bevölke- ziale Medien in der Ge- rungsgruppen aus der digitalen führerschaft und anstelle von rationaler Deliberation neraldirektion Kommuni- Kommunikation beobachtet man vermehrt eruptive Emotionsäuße- kation der Europäischen rungen. Insofern unterstrich auch Schaal die Beobach- Kommission. Insbesondere bemängelte sie die Gefahr tungen und Analysen der Vorredner: In die sozialen des Ausschlusses bestimmter Bevölkerungsgruppen Medien und in das Internet werden oft Erwartungen und die mangelnde Rückbindung zu den Nutzern: Die herangetragen, denen sie nicht standhalten können. Kommunikation verliefe vorwiegend in eine Richtung, Sie werden vorrangig zur Missstandskommunikation es sei kaum möglich einen breiten Dialog zu initiieren; genutzt, wobei erwartet wird, dass die Politik darauf vielmehr etablierten sich kleine, ähnlich zusammenge- nicht reagiert. setzte „Gesprächskreise“. Daher sollte auch die politische Kommunikation in Verrohung des Diskurses den neuen Medien keine Allheilmittel sehen, sondern nur unterstützende Formate, die bedacht eingesetzt Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive werden können. Trotz aller Krisen galt das einhellige zeigte Christoph Neuberger von der Universität Mün- Plädoyer für die repräsentative Demokratie und damit chen auf, dass die digitale Spaltung kein theoretisches für die politische Führung. Der Erfolg der politischen Konstrukt oder ein Schreckgespenst ist, sondern eine Kommunikation liegt an der Verantwortlichkeit und am ernstzunehmende Gefahr: Die virale Kommunikation strategischen Denken und Handeln der politischen bietet zwar mehr und zusätzliche Zugangs- und Betei- Eliten, nicht an den Instrumenten. Nur dann lässt sich ligungschancen, allerdings lasse sich dabei sehr wohl eine legitime Ordnung aufrechterhalten – auf kommu- eine digitale Spaltung erkennen. Auch der Zerfall der naler, nationaler und europäischer Ebene. Öffentlichkeit und vor allem eine Verrohung des Dis- Andreas Kalina kurses lassen sich durch aktuelle Studien belegen. Sibylle Kölmel

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Journalismus „Old school statt digitaler Dünkel“ Die Rückbesinnung auf klassisches Handwerk gepaart mit der Anwendung neuer digitaler Technik und Verbreitungskanäle sichert Qualität im Journalismus und trägt zur Stabilisierung Journalismus anno 1942: die Nachrichtenredaktion der New York Times der Demokratie bei. © Marjory Collins / United States Library of Congress

JOURNALISTEN werden im Zeitalter der Digitali- sellschaft zunehmen und dass sie auseinanderdrif- sierung und des „Jedermann“-Journalismus immer tet. Die Indizien: zunehmender Populismus, Radikali- weniger als Schleusenwärter im Nachrichtenstrom sierung, Gewalt und Terror. Das Geschäftsmodell des benötigt. Die digitale Revolution in Staat und Gesell- Journalismus erodiert und es setzt sich eine Abwärts- schaft krempelt auch die Medienlandschaft um. Sie spirale in Gang: Immer weniger Menschen sind be- stellt journalistische Arbeitsweisen und das journalis- reit, für Medien zu zahlen. Ausgedünnte oder gar ge- tische Selbstverständnis in Frage. Immer mehr und schlossene Redaktionen mindern die Qualität. Und komplexere Themen müssen in immer kürzerer Zeit von minderer Qualität wendet sich das Publikum ab. bearbeitet werden. Gleichzeitig werden mehrere Aus- „Der Markt für Qualitätsjournalismus wird sich inner- spielwege bedient: Print-, Audio-, Foto- und Videofor- halb einer Generation drastisch verkleinern“, meint mate. Die Reaktionen des Publikums sollen auf Rück- Hohlfeld. Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sollten kanälen beantwortet und die sozialen Netzwerke als ein großes Interesse daran haben, dass es weiterhin Quelle für Recherchen benutzt werden. journalistisch-professionelle Institutionen gibt, durch die sich die Bürger gut informieren und so zu qualifi- Erosion des Geschäftsmodells zierten Einschätzungen gelangen können. Der Passauer Medienwissenschaftler Ralf Hohlfeld Konforme Berichterstattung sagt: „Journalismus hat ein Qualitätsproblem und ein Qualitätssicherungsproblem. Die Lösung ist eine Auf- Immer mehr Menschen befinden sich nach den gabe der gesamten Gesellschaft, nicht nur eine der Worten des Passauer Journalistikforschers in einer Journalisten. Denn sie sind ein Teil des Problems.“ „Filter-Bubble“. Sie würden nur noch von personali- Hohlfeld beobachtet, dass die Fliehkräfte in der Ge- sierten Informationen erreicht, die das eigene Mei- nungs- und Weltbild verstärken. Die Konfrontation mit Unerwartetem, Neuem und Überraschendem bleibe aus. Hohlfeld sieht eine konforme und oft- mals hysterische Berichterstattung mit dem gleich- zeitigen Hang zum vorauseilenden Gehorsam. Er forderte eine multimediale Ausbildung und dialog- orientiertes, transparentes Arbeiten bei autonomer Themensetzung.

Der Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse, Joachim Braun, teilt die Sicht des Wissenschaftlers aus der Perspektive des Praktikers: „Wenn der Journalis- mus kein Qualitätsproblem hätte, wäre das wirtschaft- liche Problem kleiner. Die Menschen zahlen doch für Diskutierten über die Zukunft des Qualitätsjournalismus: Joachim Geschichten, die sie berühren und die sie weiterbrin- Braun, Petra Sorge und Ralf Hohlfeld (v.l.). gen – sie erkennen journalistische Leistung an.“

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lautet: „Digitale Ausbildung funktio- niert nur in Medienhäusern mit digita- lem Gesamtkonzept“ – und sie müsse im Berufsalltag stattfinden. Schröpf be- nennt ein Problem: „Die Ausbildungs- dauer bleibt gleich, aber die Fülle der Inhalte wächst. Gutes journalistisches Handwerk bleibt die Basis und muss vermittelt werden. Das wird gebraucht – egal ob online oder Print.“ Rückbesinnung auf klassisches Handwerk

Clemens Finzer leitet die Ausbildungs- redaktion des Bayerischen Rundfunks Die Bildredaktion der „Welt“ in Berlin im Jahr 2012. und weiß: „Die Anforderungen und © Ralf Roletschek / wikimedia commons Erwartungen an die Volontäre werden größer. Aber die Ausbildungszeit will er Bezahlschranken im Internet könnten als Modell zur dennoch nicht verlängern: „Nach einem Hochschul- Qualitätssicherung dienen. Nutzern werde klar ge- studium noch eine dreijährige Ausbildung anzuhän- macht, dass journalistische Inhalte mit exklusiven In- gen – statt der gewohnten zwei Jahre – ist eine Zu- halten auch im Netz Geld kosten. Und den Redakti- mutung.“ Finzer bemerkt, dass die Volontäre selten onen werde deutlich, dass sie für diese Geld auch an den Herausforderungen des Digitalen scheitern, Qualität liefern müssen. Stiftungsmodelle, die Hohl- sondern an journalistischen Grundfertigkeiten wie: feld vorschlug, wurden von der Medienjournalistin gründliche Recherche, Zeitmanagement und der Prio- Petra Sorge vom Cicero abgelehnt: „Journalismus ist ritätensetzung beim Erzählen einer Geschichte. nicht gemeinnützig.“ Rückbesinnung auf alte Kernwerte des Journalis- Multichannel-Publisher mus („old school statt digitaler Dünkel“) fordert auch Andreas Wolfers, Leiter der Henri-Nannen-Journalis- Einer, der digitalen Journalismus täglich lebt, ist Hol- tenschule in Hamburg: „Wir sind eine Text-Schule.“ ger Schellkopf, stellvertretender Chefredakteur der Klassisches Handwerk – Recherche, Verifikation, Aus- Mittelbayerischen Zeitung in Regensburg und ver- wahl, Gewichtung, Einordnung – steht bei ihm wei- antwortlich für den online-Auftritt dieser Regional- ter im Zentrum der Ausbildung, ohne das Digitale zu zeitung. Er sagt: „Die Gleichung jung = digital stimmt vernachlässigen. Entscheidend für journalistisches genauso wenig wie alt = analog.“ Der Autor alter Prä- Handeln bleiben Schnelligkeit, Genauigkeit und Origi- gung wird für ihn zum nalität. „Die Technologie- „Multichannel-Publis- debatte überlagert völlig, her“, zum „kompetenten worum es wirklich geht: Reichweiten- und Bezie- Wir brauchen Leute mit hungsmanager zum Pu- Wissen. Journalismus blikum“. Für ihn ist die hat etwas mit Intelligenz Zukunft des Printjour- zu tun“, meint Wolfers. nalismus online. Beim „Nur weil wir digitale Umbau der Redaktio- Tools nutzen, ist es noch nen brauche es mehr kein neuer Journalis- Mut zum Risiko, zum mus. Am meisten findet Ausprobieren und auch man immer noch her- mal zum Scheitern: „Es aus, wenn man im ent- Holger Schellkopf: „Die Zukunft Andreas Wolfers: „Die Technolo- ist kein Problem, wenn des Printjournalismus ist online.“ giedebatte überlagert völlig, wo- scheidenden Moment mal was schiefgeht.“ © Haas / Schröder / Petrus rum es wirklich geht.“ zum Telefon greift.“

Zukünftige Qualität wird auch durch eine gute Aus- Vanessa Wormer weiß, was Recherche bedeutet. bildung gesichert. Christine Schröpf ist Leitende Re- Sie ist im Team der Süddeutschen Zeitung Expertin für dakteurin für Landespolitik und zuständig für die Vo- Datenjournalismus. Im Investigativressort der Zeitung lontäre der Mittelbayerischen Zeitung. Ihr Credo war sie an den Recherchen rund um die „Panama-

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Papers“ beteiligt. Sie beschäftigt sich mit „Strukturen statt Anekdoten“. Sie setzt auf interdisziplinäre Teams, um die Algorithmen zu entschlüsseln: „Wenn sich der Journalist nicht damit auskennt, muss er Experten hin- zuziehen.“ Die Vernetzung sei sinnvoll und nötig.

Daniel Moßbrucker hat mit einer Story über die Un- mengen von Datenspuren, die er im Zuge einer Re- cherche produziert hat, für Aufsehen gesorgt. Er beklagt, dass der Informantenschutz im digitalen Zeitalter nicht mehr gewährleistet werden kann und so das Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten ausgehöhlt wird. Datenverschlüsselung oder – wenn möglich – der Verzicht auf digitale Recherche müsse Gudrun Riedl (Bayerischer Rundfunk) und Michael Wegener Standard im investigativen Journalismus werden. (ARD-aktuell): Qualitätssicherung durch Verifikation digitaler Quellen

Verifikation digitaler Quellen aufwand und mit welchen Methoden und Strategien sie mit ihren Teams die Verifikation digitaler Quellen Die Zahl der echten oder vermeintlichen Informations- bewältigen. „Gewissheit geht vor Schnelligkeit“, sagt quellen nimmt durch die rasante Vermehrung digitaler Wegener. Damit wird die journalistische Qualität gesi- Verbreitungskanäle immens zu. Hier die Spreu vom chert, Glaubwürdigkeit gesteigert und die Arbeit der Weizen zu trennen, ist eine zentrale Aufgabe, um Redaktionen transparenter. Zentrale Voraussetzungen dem Märchen von der „Lügenpresse“ entgegen zu für den Qualitätsjournalismus der Zukunft – egal auf treten und die angekratzte Glaubwürdigkeit der Medi- welchen Kanälen, egal ob auf Papier oder im Netz. en wiederherzustellen. Denn die ungeprüfte Übernah- Sebastian Haas me von Quellen für die Berichterstattung kann große Michael Schröder Probleme bereiten – wenn sich die Fotos oder Videos als gefälscht, sinnentstellt oder in falsche Zusammen- Ausführliche Berichte über die Tagung im Netz: hänge eingebettet herausstellen. Gudrun Riedl, stell- vertretende Leiterin von BR24 (Bayerischer Rund- https://www.apb-tutzing.de/news/2016/journalismus- digital.php funk), und der Leiter des ARD-aktuell Content Centers https://storify.com/apbtutzing/apbdigital- Michael Wegener, erläuterten, mit welch großem Zeit- tweets-blogs-und-dann-journalismus-im-d

Fast 60 Prozent der Deutschen wollen nicht für Online-Nachrich- tenangebote zahlen. Jüngere Personen sind eher bereit, für On- line-Journalismus in die Tasche zu greifen: Von den 20- bis 29-Jährigen würden 47 Prozent zu- mindest kleine Beträge bezahlen. Im Schnitt würden die zahlungs- willigen Deutschen 5,45 Euro pro Monat für eine Seite wie Spie- gel.de, Bild.de oder Zeit.de zahlen (2014). © Andreas Grieß / statista

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Informationstechnologien Mündig in der smarten Welt Technische, juristische oder moralphi- losophische Kenntnisse allein reichen für einen angemessenen Umgang mit Informationstechnologien nicht mehr aus. Informatiker diskutierten mit Constanze Kurz: Politik muss : Europäische Initiati- Nichtinformatikern über die Selbstbe- Sorgen ernst nehmen. ven notwendig. stimmung im Informationszeitalter*. © Haas

PETER LIGGESMEYER, Präsident der Gesell- welche das gesellschaftliche Leben digitalisiert und schaft für Informatik, sowie deren Münchner Spre- in weiten Teilen auch kommerzialisiert. Constanze cher Wolfgang Glock erinnerten an die eigene ge- Kurz hofft darauf, dass die politisch Handelnden auch sellschaftliche Verantwortung. Glock bezeichnete die weiterhin die Sorgen derer ernst nehmen, die sich Informationstechnologie als branchenübergreifende kritisch und wertgebunden gegenüber der Digitali- „Querschnittstechnologie“ und betonte: „Informati- sierung positionieren. Ilse Aigner betonte die Bedürf- onssysteme, mobile Systeme, Embedded Systems nisse der Wirtschaft und setzt darauf, dass die (bay- oder Smart Ecosystems, alle sind auf Daten ange- erischen) Unternehmen in einer weltweit vernetzten wiesen.“ Hannes Schwaderer, Präsident der Initiati- Welt Herr ihrer eigenen Geschäftsmodelle bleiben – ve D21 und Intel-Geschäftsführer, stellte sich der Fra- dafür sorgten als erster Schritt unter anderem europä- ge: Benötigt die Gesellschaft Informatikkompetenz? ische Gesetzesinitiativen zur Datensicherheit wie die Schließlich habe die Informationstechnologie mittler- Datenschutzgrundverordnung. weile in fast jedem Geschäftsbereich Einzug gehal- ten, ist ein weiter wachsender Wirtschaftsfaktor und Das Abschlusspodium widmete sich der Frage, treibe die Entwicklung neuer Berufsbilder voran. welche Bildungsangebote für einen verantwortungs- vollen Umgang mit Informatik benötigt werden. Da- Klaus Mainzer, Inhaber des Lehrstuhls für Philoso- rüber diskutierten Bildungsstaatssekretär Georg Ei- phie und Wissenschaftstheorie an der TU München, senreich, die Geschäftsführerin der Initiative D21 sprach über die Entwicklung von Informations- und Lena-Sophie Müller, der IT-Trainer Tobias Schrödel so- Kommunikationsnetzen zu intelligenten Infrastruktu- wie der Sprecher des Fachbereichs „Informatik und ren, sowie von Fahrerassistenzsystemen bis zur intel- Gesellschaft“ der Gesellschaft für Informatik Jens ligenten Mobilitätsinfrastruktur. Dabei beschwichtigte Martin Loebel. er: „Industrie 4.0 bedeutet keine menschenleere Fab- rik.“ Nichtsdestotrotz müsse man sich fragen, wie Big Ist die Gesellschaft auf die Digitalisierung vorbe- Data in intelligenten Infrastrukturen zu meistern sei – reitet? Nicht wirklich, auch wenn die ersten Schritte denn „Amazon weiß heute bereits, was wir morgen gemacht sind – so kann das gemeinsame Fazit lau- einkaufen werden.“ ten. Nach Einschätzung Eisenreichs sei die Digitali- sierung „nicht zu verhindern, sie wird die Welt verän- Digitalisierung wertgebunden dern, also bedarf es des mündigen Bürgers“. Daher sei auch die Einführung eines Medienführerscheins begegnen an bayerischen Schulen wichtig, um Medienkompe- tenz zu erlernen. Jens Martin Loebel bemerkte, dass Beim Akademie-Sommergespräch diskutierte die bay- der Umgang mit einem Tablet nicht automatisch zu In- erische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner mit der Pub- formatikkenntnissen führe, genauso wie der Taschen- lizistin und Informatikerin Constanze Kurz, die unter rechner allein nicht Mathematik unterrichte. anderem Sprecherin des Chaos Computer Clubs ist. Sebastian Haas Die Diskussion war geprägt von einer Vertrauenskri- Die Aufzeichnung des Akademiegesprächs wird am 6. August se in die Gestaltungsmacht der Politik gegenüber der um 22.30 Uhr auf ARD-alpha ausgestrahlt und ist in der Media- scheinbar übermächtigen Informationstechnologie, thek abrufbar.

* Kooperationstagung mit der Gesellschaft für Informatik

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 17 THEMA | POLITISCHE BILDUNG

Konstruktiver Wettstreit der Generationen Rund 140 Mitglieder des „Parlaments der Generationen“ diskutierten und verabschie- deten im Bayerischen Landtag Maßnahmen zur Gestaltung des demografischen Wandels.

HAND AUFS HERZ: Die meisten von uns neigen dazu, anstehende Veränderungen so Adäquater Rahmen für den Wettstreit der Ideen: der Plenarsaal des Bayeri- lange zu ignorieren, wie deren Auswirkun- schen Landtags gen noch nicht zu spüren sind – und bei un- © Bayerischer Landtag / Rolf Poss liebsamen Veränderungen ist unsere Verdrän- gungsbereitschaft vermutlich am größten. Dieser Regeln folgen, das Ergebnis aber von den Entschei- Mechanismus lässt sich am demografischen Wandel dungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer abhängt sehr gut beobachten: Er ist in der öffentlichen Debat- und nicht vorhersehbar ist. Mit diesem Experiment te mit Stichworten wie Überalterung und Fachkräfte- kann untersucht werden, wie sich die skizzierten de- mangel vorwiegend negativ besetzt, und wenn über mografischen Veränderungen auf den politischen Wil- ihn berichtet wird, dann oft mit Bezug auf das Jahr lensbildungs- und Entscheidungsprozess auswirken. 2030 oder später. Kein Wunder also, dass der demo- Wie beeinflusst beispielsweise die Alterung unserer grafische Wandel im Bewusstsein vieler Menschen Gesellschaft die politischen Diskussionen, die Mehr- nur eine Nebenrolle spielt. Auch Politik und Wirtschaft heitsfindung und damit auch die Abstimmungsergeb- tun sich jenseits aller abstrakten Strategien schwer, nisse bei künftigen Gesetzgebungsverfahren? Führt konkrete Antworten auf diese Veränderungen zu fin- sie etwa dazu, dass sich die vielen Senioren nur noch den. Dabei birgt die Tatsache, dass unsere Gesell- für Rentenpolitik einsetzen, während Fragen der Aus- schaft langfristig älter, vielfältiger und auch kleiner und Fortbildung junger Menschen oder der Kinderbe- wird, durchaus positive Effekte. Und wer den demo- treuung in den Hintergrund gedrängt werden? Oder grafischen Wandel nicht nur verwalten, sondern ge- wird es der Bevölkerung und ihren gewählten Reprä- stalten will, der sollte heute damit anfangen. sentanten gelingen, wichtige Zukunftsprojekte auch unter den Bedingungen einer veränderten Zusam- Hier setzt das Parlament der Generationen an. Es mensetzung der Wählerschaft anzupacken? ist eine Politiksimulation, die die Akademie bereits 2013 im Rahmen des damaligen Wissenschaftsjahres Neben der Beantwortung dieser Fragen führt das „Die demografische Chance“ entwickelt und in Ko- Parlament der Generationen bei den Mitwirkenden operation mit dem Bundesministerium für Bildung zu einem nachhaltigen Lerneffekt, der durch die Ver- und Forschung erstmalig durchgeführt hat. Die jetzige bindung von Handlungs- und Reflexionsphasen weit Neuauflage fand erneut unter Leitung der Akademie- über die Effekte reiner Vortrags- und Diskussionsver- direktorin Ursula Münch statt, der mit Jörg Siegmund, anstaltungen hinausgeht. Dabei erfahren die Teilneh- Robert Lohmann und Sebastian Schäffer wiederum mer natürlich nicht nur etwas über den demografi- erfahrene Simulationsexperten zur Seite standen. Als schen Wandel, sondern auch viel über die Verfahren Kooperationspartner konnte der Bayerische Landtag und Schwierigkeiten der parlamentarischen Entschei- gewonnen werden, der mit dem Maximilianeum ei- dungsfindung. Übrigens nahmen auch Landtagsabge- nen würdigen Rahmen für diese Veranstaltung zur ordnete und Parlamentspräsidentin Barbara Stamm Verfügung stellte und die Akademie bei der Vorberei- regen Anteil an der Veranstaltung, so dass die Ergeb- tung und Durchführung unterstützte. nisse sicherlich in die Arbeit des Landtags einfließen werden. Und schließlich kann und soll das Parlament Soziales Experiment der Generationen das Thema Demografischer Wandel in die breite Öffentlichkeit tragen und zahlreiche Men- Beim Parlament der Generationen handelt es sich um schen und Institutionen ermuntern, sich ebenfalls mit ein soziales Experiment, da die Verhandlungen und Ab- diesen gesellschaftlichen Veränderungen auseinan- stimmungen in diesem Parlament zwar bestimmten derzusetzen.

18 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 POLITISCHE BILDUNG

Um all diese Veränderungen im wahrsten Sinne sicht- bar zu machen, haben wir die Mitwirkenden nach ihrem tatsächlichen Alter, Geschlecht und Migrati- onshintergrund entsprechend der angestrebten Zu- sammensetzung der beiden Parlamente ausgewählt. Im Szenario 2050 dominierte somit wirklich die Haar- farbe grau. Die authentische Zusammensetzung des Parlaments der Generationen war darüber hinaus auch deshalb wichtig, weil nur so realistisch über die Interessen der einzelnen Bevölkerungsgruppen disku- tiert werden konnte und klischeehafte Positionierun- gen vermieden wurden. Der Krieg der Generationen fand nicht statt – sachliche Debatten im Plenum und in den Ausschüssen. © Bayerischer Landtag / Rolf Poss Lebensqualität in

Um zu untersuchen, wie sich die veränderte Zusam- schrumpfenden Regionen mensetzung der Bevölkerung auf den politischen Ent- scheidungsprozess auswirken wird, hat das Parlament Der demografische Wandel bestimmte neben der Zu- der Generationen als Zwillingsparlament gearbeitet. sammensetzung auch die Themen, über die bei die- Während die eine Hälfte der 140 Teilnehmerinnen ser Politiksimulation verhandelt wurde. So stand die und Teilnehmer hinsichtlich ihres Alters, Geschlechts Zukunft der Daseinsvorsorge in schrumpfenden Re- und Migrationshintergrunds die heutige Bevölkerung gionen ebenso auf der Agenda wie eine „Qualitäts- Deutschlands repräsentierte, war die andere Hälfte offensive Bildung“, die unterschiedliche Angebote für ein Spiegelbild der zu erwartenden deutschen Gesell- die verschiedenen Altersgruppen beinhalten sollte. schaft des Jahres 2050. Beide Teilnehmergruppen bil- Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten zu beiden deten jeweils ein eigenständiges Parlament. Diese Themen bereits im Vorfeld umfangreiche Informatio- Parlamente arbeiteten strikt getrennt voneinander, nen erhalten. behandelten aber die gleichen Themen und glichen sich auch in ihrem Aufbau und ihrer Arbeitsweise. So Fünf Beobachtungen und Erkenntnisse sind be- verfügte jedes Parlament über zwei Fachausschüsse, sonders erwähnenswert: in denen die Beschlussvorlagen erarbeitet wurden, An erster Stelle sind das große Engagement und die sowie über vier Generationenräte, in denen sich je- Ernsthaftigkeit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer weils die Mitglieder einer Altersgruppe über die ge- hervorzuheben. Immerhin erfordert es ja eine gewis- meinsamen Interessen und Verhandlungsstrategien se Überwindung, wenn man sich mit fremden Men- verständigen sollten. Und natürlich gab es in jedem schen in einem Sitzungssaal des Landtags wieder- dieser Parlamente auch ein Plenum, in dem am Ende findet und nach einer nur kurzen Einführung darüber über die Beschlussvorlagen abgestimmt wurde. Demografischer Wandel sichtbar

Beide Parlamente unterschieden sich nur in ihrer Zu- sammensetzung, weil dadurch die Diskussionsverläu- fe und Beschlüsse am Ende verglichen und daraufhin untersucht werden konnten, wie die veränderten de- mografischen Merkmale den politischen Prozess und dessen Resultate beeinflusst haben. Allerdings wa- ren die Unterschiede in der Zusammensetzung schon für sich genommen so beeindruckend, dass sie den Teilnehmern und Beobachtern gleich zu Beginn einen Eine bunte Mischung nach Alter, Geschlecht und Migrationshinter- nachhaltigen Eindruck von den Dimensionen des de- grund versammelte sich im Parlament der Generationen. mografischen Wandels vermitteln konnten. Besonders © Bayerischer Landtag / Rolf Poss gravierend waren die Veränderungen bei der ältesten Generation der über 66-Jährigen: Ihr gehörten ledig- diskutieren soll, ob in schrumpfenden Regionen eher lich 23 Prozent der Mitwirkenden des Szenarios 2016 die Gesundheitsversorgung oder der öffentliche Per- an, aber gut 36 Prozent des Szenarios 2050. Ebenfalls sonennahverkehr gefördert werden muss. Dabei war auffällig war der zunehmende Anteil von Menschen es sicherlich von Vorteil, dass etwa zwei Drittel aller mit Migrationshintergrund: von einem Fünftel im Sze- Mitwirkenden von Landtagsabgeordneten auf diese nario 2016 auf etwa ein Drittel im Szenario 2050. Simulationsveranstaltung aufmerksam gemacht wor-

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 19 POLITISCHE BILDUNG

den waren. Viele Teilnehmer hatten damit zumindest richtet sein. Dies wurde zum Beispiel bei den Dis- kommunalpolitische Erfahrungen oder sind in Verei- kussionen um die Versorgung pflegebedürftiger Men- nen und Verbänden aktiv, so dass sie mit den Mecha- schen als Teil der Daseinsvorsorge deutlich, die von nismen der Interessenartikulation und der Kompro- den Älteren mit Blick auf die eigene potentielle Pfle- missfindung vertraut waren. Trotzdem waren es eben gebedürftigkeit gefordert wurde, während die Jünge- keine Berufspolitiker, die am Parlament der Genera- ren eine entsprechende Förderung als Entlastung von tionen teilgenommen haben, sondern eine Kranken- ihren Pflichten begrüßten. Hier zeigte sich, dass ei- schwester oder ein Fotograf, der 83-jährige Bäcker- gennützige Motive der Generationen und ein gene- meister oder die 17-jährige Schülerin, die äußerst rationsübergreifendes Miteinander Hand in Hand ge- sachlich, offen und professionell miteinander disku- hen können. tiert und um Kompromisse gerungen haben. Viertens ist die Größe einer Gruppierung nicht allein Kein Kampf zwischen ausschlaggebend für deren Durchsetzungsfähigkeit. Gerade die zahlenmäßig kleine Generation der unter Jungen und Alten 31-Jährigen hat sich in beiden Szenarien als sehr ge- schlossen und Peergroup-orientiert gezeigt und ver- Zweitens deuten die Verhandlungsverläufe beim Par- sucht, ihre numerische Unterlegenheit durch eine lament der Generationen darauf hin, dass auch künf- strategische Verhandlungsführung und gezielte Kom- tig Interessengegensätze nicht zwingend entlang promissangebote an die anderen Generationen aus- von Generationsgrenzen entstehen werden, sondern zugleichen.

Fünftens unterstreicht das Parlament der Ge- nerationen aber auch, dass es gefährlich sein kann, die Interessen und Bedenken einer Generation gänzlich zu übergehen. Denn für die Teilnehmer wie Be- obachter erhielten völ- lig überraschend zwei der vier Beschlussvor- lagen bei der Abstim- mung im jeweiligen Par- lamentsplenum nicht die absolute Mehrheit und wurden somit ver- worfen, obwohl sie ebenso innerhalb von Generationen hervortreten. Ge- zuvor in den zuständigen Fachausschüssen mehr- rade der großen Gruppe der über 66-Jährigen im Sze- heitlich verabschiedet worden waren. Wie die Aus- nario 2050 fiel es mitunter erkennbar schwer, einen wertung des Abstimmungsverhaltens zeigt, waren gemeinsamen Standpunkt zu den Ausschussthemen es wohl vor allem die 31- bis 50-Jährigen, die mit zu erarbeiten und diesen geschlossen zu vertreten. diesen beiden Mehrheitsvorlagen unzufrieden wa- Die sozialen und auch die politischen Unterschiede ren und erfolgreich Widerstand auch in anderen Ge- sind in solchen großen Gruppen stark ausgeprägt, so nerationen mobilisieren konnten, der die Entwürfe dass eine altersspezifische Interessenlage kaum er- letztlich zu Fall brachte. kennbar wird. Umgekehrt zeigten sich Gemeinsam- keiten bei den beiden „mittleren“ Generationen, also Am Ende der zweitägigen Simulation waren alle – den 31- bis 50- und den 51- bis 66-Jährigen. Da beide die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ebenso wie die Kohorten in der Regel mitten im Berufsleben stehen, Veranstalter – zwar erschöpft, aber auch spürbar be- decken sich ihre Interessen partiell und treten dabei geistert. Das Konzept des Parlaments der Genera- in den Gegensatz zu den Bedürfnissen der jüngsten tionen hat sich erneut bewährt, so dass eine Wie- bzw. ältesten Generation. derholung von der Akademie sicherlich in Angriff genommen wird. Drittens sind auch ausgeprägte (alters-)gruppenspe- Jörg Siegmund zifische Interessen nicht immer gegensätzlicher Natur, (Siehe Presseschau Seite 41) vielmehr können sie ebenso komplementär ausge-

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Hildegard Hamm-Brücher-Förderpreis Ehrung für demokratisches Engagement und kommunale Flüchtlingspolitik Die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, Henriette Reker, hat den „Hildegard Hamm-Brücher-Förderpreis für Demokratie lernen und erfahren“ erhalten.

BEI DER FESTVERANSTALTUNG in der Aka- demie betonte die Preisträgerin im Beisein von Hil- degard Hamm-Brücher (95): „Wir müssen noch viel mehr unternehmen, um die freiheitlich-demokra- tische Grundordnung in den Köpfen aller zu veran- kern.“ Auszeichnung für vorbildliches Engagement: Kölns Oberbürger- meisterin Henriette Reker Die Preisverleihung fand im Rahmen der Lernstatt © Grit Hiersemann / Demokratisch handeln Demokratie 2016 statt (siehe Bericht auf Seite 23). Akademiedirektorin Ursula Münch freute sich beson- verschlossenen Türen, sondern in ständigem Zusam- ders über die Anwesenheit der Stifterin des Förder- menwirken der Bürgerinnen und Bürger statt. Die preises. Münch wies auf die besondere Beziehung diesjährige Preisträgerin, die Kölner Oberbürgermeis- zwischen der Akademie und Hildegard Hamm-Brü- terin Henriette Reker, war seit 2010 Beigeordnete der cher hin. Stadt Köln für Soziales, Integration und Umwelt.

Hamm-Brücher, stets In dieser Zeit habe sie von der Sorge um die sich bereits vorbild- Demokratie bewegt, lich um Integration von habe sich während der Migranten bemüht und Viererkoalition Mitte der sich durch ihr Engage- 1950er Jahre maßgeb- ment profiliert. Reker lich für die Gründung habe keinen Halt vor Re- der Akademie stark ge- formen gemacht, Mut macht. Damals wie heu- bewiesen und durch ihr te sei es die Aufgabe der vorbildliches demokra- Akademie, Menschen tisches Handeln über- egal welchen Alters zu zeugt. Sie warb für eine motivieren, zu mobilisie- aktive statt für eine Hildegard Hamm-Brücher ist Sabine Leutheusser-Schnarren- ren und zu befähigen, Stifterin des Demokratie-Förder- berger würdigte die mutigen und ängstliche Haltung, für an der Politik aktiv teil- preises. integrativen Konzepte der Preis- eine schnelle Integrati- zuhaben. Wichtig dabei © Grit Hiersemann / Demokratisch handeln trägerin Henriette Reker. on der Flüchtlinge. Sie © Benjamin Janecke / wikimedia commons sei das Angebot für jun- setzte sich – zum Teil ge Menschen, um die oft defizitäre politische Bildung gegen heftige öffent- an den Schulen auszubauen und zu fördern. liche Empörung – für die Unterbringung von Flücht- lingen in Hotels, auf Wohnschiffen oder in denkmal- Aktiver Einsatz für Demokratie geschützten Gebäuden ein. Reker sieht die Chancen der Globalisierung und der Migration, sie verteidigt Die Laudatio für die Preisträgerin Henriette Reker integrative Konzepte der politischen Gestaltung die- hielt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemali- ser Herausforderung in Kommune und Zivilgesell- ge Bundesjustizministerin und stellvertretende Vor- schaft. Sie leiste damit einen grundlegenden Beitrag sitzende der Theodor-Heuss-Stiftung. Ziel des Preises zur politischen Integration angesichts zunehmen- ist es Persönlichkeiten zu ehren, die sich aktiv für die der Fremdenfeindlichkeit und einem erstarkenden Demokratie einsetzen. Demokratie finde nicht hinter Rechtspopulismus.

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 21 POLITISCHE BILDUNG

des Gymnasiums ist es, die Erlebnisse und Erfahrungen der geflüchteten Kinder an- zusprechen sowie zwischen ihnen und den Grundschü- lern zu vermitteln.

Das Projekt „Weltoffen und bunt“ der Städtischen Real- schule in Waltrop setzt sich mit aktuellen antidemokrati- schen Strömungen ausein- ander.

Ein halbes Jahr lang arbeitete jede Jahrgangsstufe fächer- Einige der Preisträgerinnen der Städtischen Realschule in Waltrop übergreifend zu Themen wie © Grit Hiersemann / Demokratisch handeln „Pegida“, „Flucht und Flucht- gründe“, „Flüchtlingspolitik Am Tag vor ihrer Wahl im Oktober 2015 wurde sie an in Europa und Kritik an dieser“, „Terrorismus“, „Mei- einem Informationsstand auf einem Kölner Wochen- nungsfreiheit“, „Rechtsextremismus“, „Vorurteile“ und markt bei einem politisch motivierten Attentat mit „Diskriminierung“. Sie gestalteten künstlerisch-kreativ mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund schwer Flaggen und Litfaßsäulen, die die Themen aufgreifen. verletzt. Der Täter wurde am 1. Juli 2016 zu einer Haft- In der Waltroper In- strafe von 14 Jahren verurteilt. nenstadt präsen- tierten die Schüle- Reker nahm den Preis mit großer Freude an und be- rinnen und Schüler dankte sich herzlich auch bei den Menschen, die sie ihre Arbeit öffent- stets in ihren Aufgaben unterstützten. Sie warb für lich, kamen mit Pas- eine aktive Haltung und rasche Integration der Flücht- santen ins Ge- linge: „Eine große und schwierige Aufgabe – aber spräch und ließen wir müssen Verantwortung übernehmen. Integrati- so Kunst im städ- on ist wie ein Teppich, auch dieser lässt sich nicht im tischen Raum Wir- Schnellverfahren weben.“ kung entfalten. Christine Petrus Auszeichnung für Schulen

Ebenfalls ausgezeichnet wur- den zwei Schulen für vorbild- liches Engagement. Die AG „LHG für Toleranz“ des Lou- ise-Henriette-Gymnasiums in Oranienburg initiierte aufgrund neuer Grundschülerinnen und Grundschüler aus ge- flüchteten Familien in Zusammenarbeit mit der Waldgrundschule Oranien- burg das Projekt „Karlinchen“ in den zweiten und drit- ten Klassen der Grundschu- le. Basierend auf dem Buch entstand schließlich auch ein Theaterprojekt, in dem Flucht, Freundschaft und In- tegration szenisch dargestellt werden. Ziel der Schülerinnen Die Preisträger des Louise-Henriette-Gymnasiums in Oranienburg und Schüler der elften Klasse © Grit Hiersemann / Demokratisch handeln

22 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 POLITISCHE BILDUNG | THEMA

Lernstatt Demokratie Ausgezeichnetes Engagement Der Grundstein für demokratisches Handeln wird in der Schule gelegt – die Lernstatt Demokratie war im Juni zum dritten Mal zu Gast in der Akademie. Mit Demokratieförderung kann gar nicht früh genug begonnen werden: Auch von sehr jungen Schülern waren Projekte in der 200 SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER präsen- Ausstellung zu sehen. tierten Projekte zur Demokratieförderung, die sich © Grit Hiersemann / Demokratisch handeln durch besonderes Engagement und Lernqualität aus- zeichnen. Beim Tutzinger Sommercamp haben sie und ihre Wirkung“ sowie „Schule im Spannungsfeld die Möglichkeit, ihre Erfahrungen auszutauschen und gesellschaftlicher Gegensätze“. Eine Gruppe von 16 neue Ideen für gelebtes bürgerschaftliches Engage- Schülern wagte sich mit einem selbstgebauten Floß ment zu diskutieren und zu entwickeln. auf den noch recht kühlen Starnberger See. Anfangs noch zögerlich und an der Stabilität und Tragfähig- keit des selbstkreierten Holzfloßes zweifelnd, strahl- ten die Floßbauer am Ende voller Freude und Zufrie- denheit. Ebenfalls gut gelaunt ging es im Workshop „Mut zum Scheitern“ zu. Hier versuchten sich die Teilnehmer im Theaterspielen und waren am Ende in der Lage, ihre Künste in einem Improvisationstheater vorzuführen.

Der Workshop „Meine Figur“ widmete sich auf kre- ative Art den Themen Kinderrechte, Demokratie und Migration. Beim Comedy-Programm regte Öczan Co- Viel Spaß und Kreativität gab es beim Filmworkshop mit Hilmar Liebsch (rechts) sar die Schülerinnen und Schüler sehr amüsant und © Petrus manchmal derb dazu an, aktuelle Entwicklungen in Po- litik und Gesellschaft auch kritisch zu betrachten. Zum Die Projektarbeiten wurden in der Akademie zu ei- Abschluss der Lernstatt Demokratie präsentierten ner Ausstellung zusammengestellt. Bei der Eröffnung die Teilnehmer der Workshops ihre Ergebnisse. konnten die Jugendlichen den Erfahrungsaustausch Christine Petrus beginnen und von den Arbeiten erzählen, die sie zusammen mit ih- ren Lehrkräften an ihren Heimatorten entwickelt und umgesetzt hatten.

Neben einem Kultur- programm, Stadtspa- ziergängen und Ge- sprächen mit Politikern wurden bei der Lern- statt Demokratie insge- samt neun Workshops angeboten, unter an- derem zu den Themen „Demokratie in sozia- Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lernstatt Demokratie 2016 in Tutzing len Netzwerken“, „Filme © Grit Hiersemann / Demokratisch handeln

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 23 THEMA | INNENPOLITIK

19. Passauer Tetralog Lust auf neue Radikalität Die Substanz des politischen Stils schwindet und der öffentliche Diskurs verroht.

DIE POLITISCHEN DEBATTEN in der Bundesrepublik liefen über Jahrzehnte re- lativ gesittet ab. Wo anderswo Tätlichkeiten im Parlament nicht außergewöhnlich waren, galt hierzulande stets das – wenn auch streit- bare – Wort. Streit um das Bessere macht © TOMASCHOFF / TOONPOOL.COM die Politik aus. Inzwischen aber hat sich, über den politischen Streit weit hinausgehend, die po- im Verhalten der Kirchen, die seiner Meinung nach litische Kommunikation grenzüberschreitend radikali- in der aktuellen Migrationsdiskussion viel zu passiv siert. Oft offenbart sie intolerantes und verächtliches agierten. Jeder fordere Toleranz ein, „aber nur für die Denken. Dieses Denken drückt sich in einem beson- eigene Meinung“. ders gehetzten und hetzenden Kommunikations- und Verhaltensstil aus, der öffentliche Diskurs verroht. Werner Patzelt entdeckt eine Lust auf Radikalität: einen rhetorischen Überbietungswettbewerb und Ob wir uns daran gewöhnen müssen und wie Poli- die Pflege von Feindbildern vor allem im Umfeld von tik und Gesellschaft diesem widerstehen können, war PEGIDA und AfD, aber auch bei deren politischen Thema des 19. Passauer Tetralogs der Akademie im Gegnern. „Nur der schlimme Gegner ist ein guter Rahmen der Festspiele Europäische Wochen. An der Gegner“, so beschreibt es der Politikwissenschaftler. Universität Passau diskutierte der frühere Akademie- Verstärkt werde diese Tendenz durch Herdentriebe, direktor Heinrich Oberreuter mit folgenden Gästen: vor allem in der Onlinekommunikation, bei der immer Alois Glück, ehemaliger Landtagspräsident; Sigmund weniger neutrale Beobachter bzw. Vermittler übrig Gottlieb, Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens; bleiben. So entwickelt sich auf allen Seiten ein Kampf Michael Lerchenberg, Schauspieler, Regisseur und gegen Abweichler, der nach Ansicht Patzelts einem Intendant der Luisenburg-Festspiele Wunsiedel; Wer- Glaubenskrieg gleicht. Streitlust wird durch das Aus- ner J. Patzelt, Politikprofessor an der TU Dresden. schließen der Andersdenkenden ersetzt. Bildung, Stil und Esprit – die unabdingbar für den politischen Dass auch die Mitarbeiter und Studierenden einer Diskurs sind – kommen in dieser Art der Diskussion Universität nicht vor politisch radikalen Positionen ge- nicht mehr vor. feit sind, musste auch Universitätspräsidentin Carola Jungwirth zugeben – und versprach, solche Radikali- Journalismus im Dilemma sierungen transparent zu machen und in einen offe- nen Diskurs einzubinden. Natürlich fiel im Laufe der Diskussion auch das Schlag- wort der „Lügenpresse“. Dieser Vorwurf geht nach Passive Kirchen Ansicht Sigmund Gottliebs „völlig am Thema vorbei“. Mit Absicht sage kein Journalist die Unwahrheit, be- Alois Glück betonte, dass die Politik der vergange- tonte der BR-Chefredakteur – doch fehle in der zu- nen Jahrzehnte diesen offenen Diskurs immer gut nehmend komplexen Welt vielen Medienschaffenden gepflegt habe – durch leidenschaftliche und konst- der Durchblick. Journalisten aber müssen produzie- ruktive Diskussion über Sachverhalte. Heute aber do- ren, und das immer schneller, und die Folge ist eine minierten Stimmungen und kaum fassbare Zukunft- oftmals banalisierte, personalisierte und dramatisier- sängste. Glück betonte, wie irritiert er darüber ist: „Es te Berichterstattung. Was kann da helfen? Gewissen- ist schick geworden, über Politik und Politiker abwer- haft und transparent arbeiten; Widerspruch zulassen, tend zu reden, nur deren Defizite zu betonen.“ Ähnlich annehmen und verarbeiten; sich gleichzeitig radika- sieht das Michael Lerchenberg, der zudem eine vor- len bis menschenverachtenden Reaktionen des Publi- auseilende political correctness bemerkt – nicht nur in kums entschieden entgegenstellen. der medialen und politischen Debatte, sondern auch Sebastian Haas

24 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 INNENPOLITIK | THEMA

Pegida Abgeschlossenes politisches Biotop Hans Vorländer über Ur- sachen des Extremismus und Gegenstrategien von Politik und Zivilgesellschaft

MIT EINEM TEAM aus wissen- schaftlichen Mitarbeitern und Stu- dierenden hat der Dresdner Politik- PEGIDA-Demonstration in Dresden im Januar 2015 wissenschaftler Hans Vorländer ab © Kalispera Dell / wikimedia commons Ende 2014 erstmalig empirisch un- tersucht, wer aus welchen Gründen an den PEGIDA- Der zweite Grund liegt darin, dass in Dresden und Demonstrationen in Dresden teilnimmt. Sachsen eine konservative Grundstimmung anzutref- fen ist, die Empfänglichkeit für die Anliegen von PEGI- Im Interview äußert er sich gewohnt deutlich zum DA erkennen lässt. „politischen Biotop“ in und um Dresden, zur Aggres- sion in der Migrationsdebatte sowie zu den deutsch- Das Dritte ist, dass Dresden eine gute Bühne und landweiten Vorbehalten gegenüber Flüchtenden und Kulisse abgibt, die medienwirksam ist. Und dann le- Asylbewerbern. Außerdem macht er Vorschläge für ben viele Dresdner in einer Art politischem Biotop, eine konstruktive Diskussion über Flucht, Migration welches schon zu DDR-Zeiten sich durch Abschlie- und Integration. ßung nach außen konstituierte. Das führt zu einer Selbstbezüglichkeit, die wenig Offenheit nach außen Akademie-Report: Sie haben als einer der ersten mit sich führt. Der Mythos Dresdens, Barockstadt, Wissenschaftler überhaupt das Phänomen PEGIDA Zerstörung, Wiederaufbau, lassen den Eindruck ent- detailliert untersucht. Warum ist die Bewegung in stehen, dass Dresden etwas ganz Besonderes ist. Sachsen entstanden? Da wird schnell die eigene Gruppe, die Alteinge- sessenen, überhöht und das Andere, Fremde, Un- bekannte, abgelehnt oder abgewertet. Und schließ- lich kann man auch sagen, dass in Ostdeutschland, auch in Dresden, traditionell wenig Kontakt zu Frem- den, Ausländern und Flüchtlingen bestanden hat, so dass hier die Sorgen und Ängste vor dem Un- bekannten, dem Flüchtling und Migranten besonders ausgeprägt sind.

Viele Menschen sind erschrocken über den enor- men Hass, der sich dort zeigt. Wie erklären Sie die- sen Hass?

Hass hat immer etwas zu tun mit Angst, Verunsiche- rung und auch Ratlosigkeit darüber, wie man mit et- was Fremdem umgeht. Insofern ist der Hass Aus- Hans Vorländer setzt auf Dialog und Kommunikation mit PEGIDA- Anhängern. druck einer tiefen eigenen Unsicherheit. Womöglich © Haas hat das auch mit den großen Veränderungen der letz- ten 25 Jahre zu tun, wo in Ostdeutschland kein Stein Hans Vorländer: Der erste Grund ist darin zu suchen, auf demselben geblieben ist, wo in Ostsachsen der dass die Organisatoren auf ein Netz von Freunden soziale, ökonomische und demographische Wandel und Bekannten zurückgreifen konnten, welches sich besonders spürbar ist. Unsicherheit und Angst, viel- schon früher etabliert hatte, im Umfeld des Fußballs, leicht auch individuelle Demütigung, wird in Formen auch der Fluthilfe und dann im Bereich der kleinge- des Hasses ‚überkompensiert‘, eine Art Entladung werblichen Dienstleistung. von zuvor sublimierter Aggression. Immer bedarf es

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aber auch derjenigen, die Hass predigen, die Sorgen volksverhetzende Reden schwingen, muss indes und Ängste zu instrumentalisieren versuchen. Sie ge- der Weg über die Strafverfolgung gegangen wer- ben den Takt vor. A la longue wird dann die Hassrede, den. Der Rechtsstaat ist nicht wehrlos. Ansonsten die Aggression salonfähig. muss der Dialog gesucht werden. Das ist Demokra- tie. Und natürlich müssen Möglichkeiten für die Be- Wenn die Stimmung so aufgeheizt wird, wenn die gegnung zwischen Zugewanderten und Einheimi- Menschen sich empören und sich der Zorn nicht nur schen geschaffen werden. Dadurch – da gibt es viele gegen die Politik und die Medien, sondern auch ge- Beispiele – können sich Einstellungen sehr schnell gen Fremde, Flüchtlinge oder Muslime richtet, dann verändern. spaltet sich auch eine Stadtgesellschaft wie die Dres- dens und polarisiert sich eine politische Landschaft. Wie soll eine ehrliche Diskussion über die Integrati- „Ausländerhasser“ stehen gegen „Gutmenschen“. on aussehen? Welche Regeln sollten wir uns dafür Der Graben scheint unüberbrückbar. Und doch muss geben? man in Dialogforen versuchen, ihn zu überbrücken. Das gelingt manchmal, oft aber auch nicht. Ich glaube erstens, dass man ehrlich und offen mitei- nander umgehen sollte. Zweitens: Man sollte auf die moralische Stigmatisierung von Menschen verzich- ten, die anderer Meinung sind, so dass man aus der Polarisierung von Gutmenschen und Ausländerhas- sern herauskommt. Polarisierung hilft nicht weiter, sie spaltet die Gesellschaft. Drittens muss man die Pro- bleme, die mit Migration zusammenhängen, also vor allem die der Integration, offen benennen, man darf da keine Tabus errichten.

Und vor allem muss die Politik zeigen, dass sie für die Integration gute Konzepte hat. Sie muss auch die entsprechenden Mittel bereitstellen, damit jeder eine solche Chance hat, die Sprache zu erlernen, das Land und sein Recht, seine Regeln und Werte kennenzuler- Lutz Bachmann, PEGIDA-Vorsitzender, ist mittlerweile wegen Volksverhetzung verurteilt. nen und möglichst schnell in Arbeit zu kommen. Und © wikimedia commons dann geht es nur, wenn Politik und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Die Zivilgesellschaft hat Heraus- Warum reagieren Menschen im Osten extremer auf die Flüchtlinge?

Da bin ich mir nicht sicher, ob das so ist. Wir haben ja auch in Westdeutschland große Vorbehalte, wie das ja jetzt bei den Wahlen zu den Landtagen zum Ausdruck gekommen ist. Außerdem gibt es auch in Westdeutschland Anschläge auf Asylbewerberheime – insofern ist das kein ostdeutsches Phänomen. Was man dennoch über die spezifisch ostdeutsche Lage sagen könnte, ist zweierlei: Erstens ist in Ostdeutsch- land die allgemeine Verunsicherung größer, durch den Wandel der letzten drei Jahrzehnte. Und zum Zwei- ten: In Ostdeutschland hat man eben nicht gelernt, mit Fremden, mit anderen Kulturen umzugehen, weil man von diesen „inneren“ Globalisierungsprozessen hermetisch abgeriegelt war. © TOMASCHOFF / TOONPOOL.COM

Miteinander in ein konstruktives Gespräch zu kom- ragendes geleistet in den letzten Monaten. Und des- men, gemeinsam Kompromisse zu finden, erscheint halb können nur beide, nämlich Politik und Zivilgesell- fast aussichtslos. Wie könnte das doch gelingen? schaft, die Probleme zu lösen versuchen.

Es gibt keinen anderen Weg als zu versuchen, mit- Das Interview führten Sibylle Kölmel und einander ins Gespräch zu kommen. In solchen Si- Raphael Gritschmeier tuationen, wo Menschen Gewalt ausüben oder

26 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 WIRTSCHAFT | THEMA

Wirtschaftsethik Globaler Wettbewerb als Motor der Moral? Kann der vielfach verteufelte Wettbewerb etwas zur Verbesserung der Moral in der Wirtschaft beitragen? Das war Thema der zehnten Folge der

Akademiereihe „Menschen- Überseetransporte mit dem Containerschiff sind unter Umständen klimafreund- licher als regionale Kleintransporte. würdige Wirtschaftsordnung“.* © pixabay

IM GEGENSATZ zum „Kampf aller gegen alle“ – so Eine „Systemethik“, die die ethischen Qualitäten des Christoph Lütge in seiner Einführung – sei der Wett- Wettbewerbs auch hinsichtlich seiner Kreativität und bewerb nicht ohne Regeln denkbar. Dies gelte für den Innovationsfähigkeit für eine ganze Gesellschaft be- Sport genauso wie für die Wirtschaft. Ziel eines re- rücksichtige, stehe jedoch erst in den Anfängen. Doch gelbasierten Wettbewerbssystems sei nicht die Ver- wie behandelt man Verlierer? Zudem erfordere die nichtung des anderen, sondern allenfalls der „loss Regelsetzung eine moralische Haltung der Akteure. of glory“. Ruinöse Konkurrenz führe in der Wirtschaft Hier sei der politische Prozess entscheidend, so Lüt- letztlich zur Ausschaltung des Wettbewerbs. Wirt- ge, und der produziere dann die besten Ergebnisse, schaftliche Stagnation sei die Folge. Die Ökonomen wenn wie in der Demokratie Wettbewerb zwischen Hayek und Schumpeter hätten dem Wettbewerb als politischen Parteien herrsche. Grundsätzlich gelte der „Entdeckungsverfahren“ und als Methode der „krea- Spruch des Industriellen, Schriftstellers und Politikers tiven Zerstörung“ eine zentrale Rolle für den dynami- Walther Rathenau aus dem Jahre 1918: „Eine Klage schen Kapitalismus zugewiesen. Dieses Denken sei über die Schärfe des Wettbewerbs ist in Wirklichkeit letztlich in unsere Kartellgesetzgebung eingeflossen. nur eine Klage über den Mangel an Einfällen.“ Individual- oder Systemethik? Moral und Marktwirtschaft

Doch sind in einem Wettbewerbssystem menschlich Karl Homann, der in „anständige“ Lösungen garantiert, oder ist zusätz- München den ersten lich eine entsprechende Individualethik notwendig? Lehrstuhl für Wirt- So wünschenswert ein moralisch gutes Verhalten schaftsethik in Deutsch- des Einzelnen sei, so land innehatte, stellte skeptisch blieb Lütge einige Grundzüge sei- bezüglich der Durch- ner von ihm entwickel- setzungskraft einer In- ten Ordnungsethik vor. dividualethik: Denn was Am Anfang ständen – so für den Einzelnen gut Homann – immer wie- sei, müsse nicht für alle der grundlegende Fra- gut sein und könne un- gen: Widerspricht nicht gewollte Nebenwirkun- die Funktionsweise der gen haben. Dies gelte (Welt-)Wirtschaft dem Karl Homann: „Moral gehört in insbesondere für hoch- allgemeinen Moralemp- die Regeln.“ komplexe soziale Sys- finden? Ganz aktuell: © Haas teme der globalisier- die Enthüllungen rund ten Welt, die sich nicht um die „Panama Papers“: Wie kann man Moral in der mehr durch Moral steu- Christoph Lütge: „Wettbewerb Marktwirtschaft unterbringen? Kann Wettbewerb so- ern ließen. ist nicht ohne Regeln denkbar“ lidarischer sein als zu teilen?

* Kooperationspartner war Christoph Lütge von der TU München (Lehrstuhl für Wirtschaftsethik).

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 27 WIRTSCHAFT

Schon Marx und Kant hätten ausgehend von diesen schen Leistungserbringer, Patient und Versicherung. Fragen große Teile ihrer Denkgebäude aufgebaut: So stelle sich die Frage, ob Patienten überhaupt die Der eine wollte den Wettbewerb verbieten, der an- Leistung der Ärzte beurteilen könnten. Sauerland er- dere hoffte darauf, dass ein tugendhafter, ehrbarer läuterte die Struktur des Gesundheitswesens und Kaufmann die Ausbeutung der Schwachen selbst ver- dessen Kostenexplosion. Zudem skizzierte er die Vor- hindere. Die realistischste Lösung hatte wohl Adam aussetzungen eines funktionierenden „Wettbewerbs Smith entwickelt: Er empfahl, individuelles morali- der Krankenkassen“, der sich stärker von einem Preis- sches Handeln durch Anreize zu befördern und staat- zu einem Qualitätswettbewerb entwickeln solle. liche – und stattliche – Sanktionen für die Egoisten anzudrohen. Also: Moral gehört in die Regeln. „Im Sein Fazit lautete: Wirtschaftliche Entscheidungsträ- Grunde funktioniert das noch heute so“, meint Ho- ger sollten die Rahmenbedingungen für einen funkti- mann. „Das ist trivial. Mich ärgert, dass diese Regel onsfähigen Wettbewerb so gestalten, dass das me- von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik so wenig be- dizinische Personal Patienten angemessen versorgen achtet wird. Im Sport funktioniert das doch auch.“ Zu- kann – und gleichzeitig von möglichen Gewissenskon- mindest meistens. flikten entlastet wird. „Das Leistungsniveau und die finanziellen Ressourcen, die wir hier in Deutschland haben, sollten es möglich machen, dass wir mit der an- „Eine Klage über die Schärfe des Wett- gespannten Situation angemessen umgehen können.“

bewerbs ist in Wirklichkeit nur eine Das Problem einer „dynamischen Regulierung als Klage über den Mangel an Einfällen.“ Ethik des Wettbewerbes“ behandelte Wulf Kaal von der University of St. Thomas in Minneapolis. Seine Walther Rathenau, 1918 zentrale These: Wegen des rapiden technischen Fort- schritts hinkt die Regulierung hoffnungslos zum Scha- den der Märkte und der Verbraucher hinterher. Was Dass selbst ein Stück Rindfleisch, ein Glas Wein oder heute als optimal reguliert erscheine, müsse es mor- ein Apfel moralische Fragen aufwerfen können, erläu- gen schon nicht mehr sein. terte Elmar Schlich von der Universität Gießen. Denn entgegen der landläufigen Meinung seien Lebensmit- tel aus der Region nicht zwingend klimafreundlicher als die aus Übersee. Manchmal fielen die CO2-Emis- sionen pro Einheit sogar geringer aus, denn Con- tainerschiffe und intensive Weidenutzung bräuchten vergleichsweise weniger Energie als Kleintransporte und Extensivmast. Eine differenzierte Betrachtung sei deshalb nötig und müsste stärker ins öffentliche Be- wusstsein dringen. Wettbewerb im Gesundheitssystem Fehlende Transparenz verhindert Wettbewerb im Gesundheits- Dirk Sauerland von der Universität Witten/Herdecke wesen. formulierte drei Thesen zum Wettbewerb im Gesund- © pixabay heitssystem. „Je höher die Innovationsrate, desto weniger Ver- •• Wettbewerb könne zum verantwortungsvollen ständnis bzw. Vorhersehbarkeit ist für daraus resul- Umgang mit den knappen Mitteln motivieren. Er tierende regulatorische Problematiken und ethische vermeide Verschwendung und verbessere die Qua- Notwendigkeiten möglich.“ In den USA löse man dies lität. vielfach dadurch, dass bei Verdachtsfällen die Staats- •• Wettbewerb könne insbesondere im Kontext anwaltschaft aktiv werde und entsprechende Vereinba- pauschaler Entlohnungsformen unerwünschte Wir- rungen mit dem Unternehmen träfen. Unter fachlicher kungen entfalten (siehe zu frühe Entlassungen aus und demokratietheoretischer Sicht sei dies nicht opti- dem Krankenhaus). mal, da dem oft keine ausreichende Prüfung und kein ordentlicher Gesetzgebungs- oder auch Gerichtspro- •• Wettbewerb benötige gute und verantwortungs- zess vorgeschaltet sei. Die Frage laute deshalb: Wer volle Spielregeln. kontrolliert die Staatsanwaltschaft? Ein Grundproblem einer marktwirtschaftlichen Regu- Sebastian Haas lierung im Gesundheitssystem liege auf der schwer Sibylle Kölmel durchschaubaren Verteilung von Informationen zwi- Wolfgang Quaisser

28 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 WIRTSCHAFT | THEMA

Innovationen Das „Nie-Dagewesene“ als Herausforderung Was macht eine Innovation zur Inno- vation? Gibt es Patentrezepte, gezielt etwas zu erneuern, um Besseres zu erreichen? Technische und gesell- schaftliche Neuerungen standen im Mittelpunkt unserer Tagung.

„ALS INNOVATION gilt das, was zuvor für unmög- Harald Lesch: „Innovationen brauchen Zeit.“ lich gehalten wurde, aber offensichtlich möglich war“, © Haas so der Soziologe Armin Nassehi von der Universität München. Innovation setze einen gewissen Komple- Aber wer regiert heute die Welt? Diejenigen, die frü- xitätsgrad voraus, denn her im Silicon Valley „gesponnen“ haben, so Lesch. Komplexität sei die For- Der Physiker betonte: „Wer lernen will, braucht Zeit. mel für Überschuss- Wenn der Erwartungshorizont zeitlich zu eng ist, wird möglichkeiten. „In frü- es nichts mit Innovationen“. heren Gesellschaften wurde Energie einge- Auch Vielfalt ist eine Rahmenbedingung, die Inno- setzt, dass sich nichts vation begünstigt, so die Unternehmensberaterin Ka- ändert. Heute ist das an- thrin S. Trump vom Institut für Diversity Management ders“, so Nassehi. Wie in Schwabach. Sie zeigte auf, dass heterogene Teams die industrielle Revoluti- ein höheres Leistungspotenzial als homogene Teams on zeigt, kann durch In- haben – allerdings müssen sie gut geführt werden. novationen unfassbarer Wohlstand entstehen, Armin Nassehi: „Innovationen Fächerübergreifendes Arbeiten allerdings auch große bringen Wohlstand, aber auch soziale Konflikte. Konflikte.“ Der Präsident der Hochschule Coburg Michael Pötzl und Gerhard Müller, Vizepräsident der TU München, „In der öffentlichen Diskussion ist Innovation zu ei- berichteten von Initiativen, den Studierenden ein Um- nem durchweg positiv konnotierten Begriff geworden“, feld zu bieten, „bisherige Herangehensweisen auf sagte Dietmar Harhoff, Direktor am Max-Planck-Insti- den Kopf zu stellen“. Es ginge darum, fächerübergrei- tut für Innovation und Wettbewerb in München. Sie fendes und gemeinsames Denken und Arbeiten zu gilt als Schlüssel für Produktivität, Wohlstand, Ar- fördern und einen „Kommunikationsring zur Befruch- beitsplätze, Lebensqualität, Nachhaltigkeit, so der tung des Denkprozesses“ zu errichten. Ökonom. In drei Workshops hatten die Teilnehmer Gelegen- Neue Pfade heit, verschiedene Aspekte zu vertiefen: Werner Lang von der TU München widmete sich innovativem Bau- Ausgehend von einer historischen Betrachtungswei- en im Klimawandel, Michael Bucher vom Fraunho- se machte Harhoff als einen neuen Innovationspfad fer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in den Übergang von internen, hierarchisch organisier- Stuttgart sprach über „Sharing Economy als gesell- ten Aktivitäten hin zu marktbasierten, verteilten Tätig- schaftliche Herausforderung“ und Andreas König von keiten aus. der Universität Passau befasste sich mit der Frage „Wie können Innovationen entstehen?“. Der Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Ha- rald Lesch stand vor der Frage „Wer kann Innovati- Wie soll die Politik mit dem Thema Innovation um- on?“. Eine der Voraussetzungen sei Pioniergeist. Die- gehen? In der Abschlussdiskussion sagte der Vorsit- ser erscheine allerdings dem Umfeld oftmals suspekt. zende des DGB Bayern Matthias Jena, dass fehlende

* In Kooperation mit der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau

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Innovationen Arbeits- hochqualifiziertes, teamfähiges Personal. Er plädierte platzverluste bedeuten für einfache technische und rechtliche Rahmenbedin- würden. Andererseits gungen für Innovationen. gäbe es bei Innovatio- Gero Kellermann nen wie der Digitalisie- rung auch immer mög- liche Verlierer. Wie man Völlig überraschend, mit diesen umgeht, weniger als zwei Mo- spielt für die Akzep- nate nach seinem Vor- tanz von Innovationen trag, verstarb Prof. Dr. eine wichtige Rolle, so Michael Pötzl, Präsi- Jena. Der Vorsitzende dent der Hochschule Matthias Jena: „Fehlende Inno- vationen bedeuten Arbeitsplatz- der CSU-Grundsatzkom- Coburg, beim Sport. verluste.“ mission und Landtags- Nicht zum ersten Mal abgeordnete Markus hatte er an der Akade- Blume sprach vom Eintritt in ein neues Zeitalter mit mie kompetent und hohen Veränderungsraten. Viele stünden diesen Ent- leidenschaftlich über wicklungen skeptisch gegenüber und würden sagen Innovationen im Bil- „Es geht uns doch ziemlich gut, da brauchen wir kei- dungs- und Wissen- ne Veränderung.“ Die Chancen von Innovationen wür- schaftsbereich gesprochen. Wir trauern mit sei- den aber in der Regel die Risiken übersteigen. Politik ner Familie und seinen Freunden. Er wird auch uns müsse „Lust auf Zukunft machen statt Angst“. Oliver sehr fehlen. Seine Ideen werden der Akademie Fischer, Ordinarius am Lehrstuhl für Massivbau an weiterhin Anregung sein. der TU München, sagte, Treiber von Innovation sei ein

Delikatessen unter dunklen Wolken

TROTZ WECHSELHAFTEN und kühlen Wetters und Gesellschaft begrüßen (siehe Foto). Sie fand feierten rund 350 Gäste bei unserem Gartenfest. deutliche und kritische Worte in Bezug auf die po- Während die Mutigen es sich draußen gemütlich litische Debattenkultur, gerade in Sachen Europa. machten, knüpften Andere entspannt im Trocke- nen neue Kontakte. Und alle genossen die Delikat- Denn sowohl die Debatten um die Zukunft der Eu- essen des Büffets. Direktorin Ursula Münch konn- ropäischen Union – und ebenso die über die soge- te zahlreiche Ehrengäste aus Politik, Wissenschaft nannte Flüchtlingskrise – hätten mit Enttäuschung und falschen Erwartungen zu tun. Politik, Medien, politische Bildner müssen ehrlich vermit- teln: Supranationale Organi- sationen und gemeinschaftli- ches Vorgehen bedeuten den Verzicht auf einen Teil natio- naler Souveränität. „Warum melden sich diejenigen, die das Grundprinzip einer supra- nationalen Ordnung angeblich verstehen, eigentlich nicht zu Wort, wenn in Parlamenten, in Stammtischen, in den Kom- mentarzeilen der Online-Ma- gazine über die Brüsseler Re- gelungswut, die allein auf Prominente Gäste beim Sommerfest 2015 (v.l.): Peter Maffay, die ehemalige Bundesjustizminis- dem Mist der EU-Kommission terin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der langjährige Kuratoriumsvorsitzende Hans Maier, gewachsen sei, unreflektiert Akademiedirektorin Ursula Münch, der frühere bayerische Wirtschaftsminister , der geschrieben wird?“, fragte die Generalsekretär der Freien Wähler Michael Piazolo, die Landtagsabgeordneten Otmar Bernhard (CSU) und Andreas Lotte (SPD) sowie Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer. Akademiedirektorin. © Haas Sebastian Haas

30 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 INTERNATIONALE POLITIK | THEMA

Entwicklungspolitik Bekämpfung der Fluchtursachen Der Jahresempfang der Akademie mit verschiedenen Partnern* im Tagungssaal der Deutschen Durch neue Technologien bei Saatgut und Dünger könne die Welt- Bundesbank stand ganz im Zeichen ernährung optimiert werden, sagte BayWa-Chef Klaus Josef Lutz (hier Bauern in Somalia). der Flüchtlingsproblematik. © Robinson / wikimedia commons

AKADEMIEDIREKTORIN Ursula Münch und der Staaten“) und Jobs („Keine Kinderarbeit, keine Hun- Vorsitzende der Griechischen Akademie sowie der gerlöhne, sondern fairer Welthandel mit ökologischen Europa Union München Stavros Kostantinidis skizzier- und sozialen internationalen Mindeststandards“). ten die Faktoren für die weltweit steigenden Flücht- lingszahlen, wie Kriege, religiöse Konflikte, Klimawan- Müller berichtete von einzelnen Projektanstrengun- del und falsche Bilder vom Leben in Europa sowie die gen, um zum Beispiel kostengünstigen Wohnraum im steigende Weltbevölkerung. Der scheidende Präsi- Nordirak zu schaffen, ertragreiche Reissorten in Hunger- dent der Hauptverwaltung der Bundesbank in Bayern regionen anzubauen und Bildungspartnerschaften zwi- Alois Müller sagte, dass darin auch eine Herausforde- schen Europa und den betroffenen Staaten zu gründen. rung für die europäische Geldpolitik liege. Man dür- fe aber auch hier nicht den Anschein erwecken, mit Weitere Eindrücke aus der konkreten Projektarbeit Geldpolitik alle Probleme lösen zu können. Struktur- eröffnete auch die anschließende Diskussion. Doris probleme ließen sich nur mit Strukturreformen bewäl- Thurau, Landesdirektorin der Deutschen Gesellschaft tigen, betonte er. für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), berichtete etwa von Programmen mit der Afrika Union zur Be- „Antworten auf die Flüchtlingsproblematik können rufsbildung und betonte die Bedeutung, gerade in nur europäische Antworten“ sein, sagte Gerd Müller, Ländern mit fragilen Strukturen die kommunale Ebene Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken. Der Vorstandsvorsitzende der BayWa AG und Entwicklung. Projekte in den befriedeten Hei- Klaus Josef Lutz sieht es als einen Schlüssel zur Ver- matregionen seien ein Schlüssel. „Wenn die EU und besserung der Situation, durch neue Technologien die Weltgemeinschaft vor Ort investieren, können wir die Welternährung zu optimieren, etwa mit Blick auf Stabilität schaffen“, betonte der Minister. Saatgut und Dünger.

Aber Europa und die Einzelne Projekte seien nur Tropfen auf den heißen Welt müssten schnell Stein, so Lutz. Vielmehr seien konzertierte Aktionen, handeln, um Bleibe- wie bei den Bankenrettungen, notwendig. Der Präsi- perspektiven in den dent des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Herkunftsländern zu hält einen „großen Marshallplan schaffen. Diese Her- für Afrika“ dagegen nicht für realistisch, sondern plä- ausforderungen sieht dierte für die Stärkung der „Politik der kleinen Schritte“. Müller zurzeit: Wasser Dazu gehöre es, stabile regionale Strukturen zu schaf- und Essen („Wir haben fen. Außerdem müsse man – zum Beispiel in großen Wissen für eine grüne Flüchtlingslagern – den Spargedanken fördern: „Jeder Revolution in Afrika“), legt ein, zwei Dollar zurück und kann sich irgendwann Energie („Deutschland zum Beispiel eine Nähmaschine kaufen und sich so Bundesminister Gerd Müller: Fairer Welthandel notwendig verbraucht so viel Ener- eine kleine Existenz aufbauen“, sagte er. © Haas gie wie 54 afrikanische Gero Kellermann

* Der Jahresempfang der Akademie für Politische Bildung in der Hauptverwaltung in Bayern der Deutschen Bundesbank war eine Kooperation mit der Griechischen Akademie, der Europäischen Akademie Bayern, der Europa Union München, den Jungen Europäischen Föderalisten und der Deutsch-Hellenischen Wirtschaftsver- einigung. Akademiedirektorin Ursula Münch dankte dem scheidenden Präsidenten der Hauptverwaltung Alois Müller für die langjährige Zusammenarbeit und sein Engagement für die politische Bildung.

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 31 THEMA | INTERNATIONALE POLITIK

Globale Migration Gravierende Veränderungen und unzureichende Antworten Walter J. Lindner, Botschafter in Südafrika, beim Akademie- gespräch am See über die viel- fältigen Ursachen von Flucht.

„WER HIER LEBT, dem geht’s verdammt gut.“ Botschafter Walter J. Lindner steht am Rednerpult der Akademie und blickt auf den Starnberger See. Wer ihn kennt, weiß: Er ist der Mann für unkonventionelle Auf- tritte. Der leidenschaftliche Musiker verbin- det seine diplomatische Arbeit stets mit Kreativität und Offenheit. Lindner ist einer, der ganz bewusst Kontakt zur Bevölkerung sucht. Dabei haben sich die Bilder vieler hoffnungsloser Gesichter aus den letzten Jahren, vor allem aus der Zeit als Ebola-Be- auftragter der Bundesregierung 2014 und Botschafter Walter J. Lindner: „Die Schere zwischen arm und reich wird größer.“ 2015, in sein Gedächtnis gebrannt. © Haas

So nimmt der Botschafter sein Publikum mit auf chen Versorgungsquellen schreite weiter voran, mit Fol- eine Zeitreise: Im Jahr 2066 werde sich in Tutzing und gen für die globale Erderwärmung. Zudem: Mehr Men- dem oberbayerischen Fünf-Seen-Land nicht viel ver- schen, die künftig in Megastädten leben werden, mehr ändert haben, prognostiziert Lindner. Ganz im Gegen- Abfall. Doch ein Recycling-System, wie wir es in Euro- satz zum Rest der Welt, in dem Schätzungen der Ver- pa kennen, gibt es in vielen Entwicklungsländern nicht. einten Nationen zufolge künftig etwa 10 Milliarden Der Abfall landet in Flüssen und in den Ozeanen, die Menschen leben werden. zu gigantischen Müllhalden werden. Die nigerianische Stadt Lagos, die größte Stadt Afrikas, sei ein erschre- Lindner zeichnet das Bild einer globalen Krise, die ckendes Beispiel für das Chaos aus Menschenmassen, sich wie ein Sturm auf uns zu bewege. Der nähre sich Verkehr und Müll. Weitere Städte würden folgen. neben dem zunehmenden Bevölkerungswachstum aus zwei weiteren Komponenten: der Abnahme welt- Von diesen Entwicklungen bekomme man hier in weiter Rohstoffreserven und der globalen Erderwär- Oberbayern freilich kaum etwas mit: „Unser Geburts- mung. Dieser Sturm bedeute für die Weltbevölkerung ort ist ein biologischer Zufall. Wir in Deutschland sind existentielle Veränderungen und werfe Fragen auf, in einem Land geboren, in dem es fast an nichts fehlt. für die es heute nur unzureichende Antworten gibt: Das ist ein Privileg, das 90 Prozent der Menschen Wie kann die Ernährungs-, Trinkwasser- und Energie- weltweit nicht teilen.“ Global gesehen aber wird die versorgung einer wachsenden Bevölkerung sicherge- Schere zwischen arm und reich größer. Korruption stellt werden? Wo wird der Atommüll gelagert? Ist oder organisierte Kriminalität sind Phänomene mit die Umstellung auf erneuerbare Energien global über- Wachstumspotenzial. Die Perspektivlosigkeit ange- haupt sinnvoll und realisierbar? sichts dieser Entwicklungen sei also ein nachvollzieh- barer Motor für Migration. Nachhaltigkeit und Klimawandel Walter J. Lindner ist Optimist. Er glaubt fest dar- Die Diskussion über nachhaltige Energieversorgung ist an: In jedem Menschen stecke der Wille, die Welt zu in vielen Entwicklungsländern eine gänzlich andere als einem besseren Ort zu machen. Und so ermuntert in Deutschland. In Südafrika, so Lindner, werden etwa er, weitsichtig und nachhaltig zu denken und mutig zu 80 Prozent der Energieversorgung aus Kohlekraftwer- handeln. Und er appelliert an globale Entscheidungs- ken gewonnen. Eine Umstellung nach deutschem Vor- träger, sich zu reformieren, die Entwicklungspolitik bild sei für viele Entwicklungsländer keine realistische auf den Prüfstand zu stellen und die „Workshoperi- Option. Denn es fehle an Geld, an Technologie und vor tis“ ohne Konsequenzen zu beenden. allem an Bewusstsein. Der Ausbau dieser klimaschädli- Anja Opitz

32 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 INTERNATIONALE POLITIK | THEMA

Interview mit Ali Fathollah-Nejad „Die nächste Eskalation ist nur eine Frage der Zeit“ Ein Gespräch mit einem Experten für Sicherheitspolitik über Iran als mögliche neue Führungsmacht im Nahen Osten.

Akademie-Report: Das Atomabkommen mit Iran wird als Triumph der Diplomatie gefeiert. Wo steht das Land nach der Öffnung der Sanktionen?

Fathollah-Nejad: Seit 2002 schwelte der Atomkon- flikt, auf den der Westen mit einer Art Zwangsdiplo- matie reagierte. Sie umfasste zwei Elemente: eine permanente Kriegsdrohung und ökonomische Sankti- onen. Die Sanktionen haben den Machtvorsprung des © STUTTMANN autoritären Regimes gegenüber der Zivilgesellschaft vergrößert und insbesondere die Jugend getroffen. Welche regionalpolitische Rolle spielt Iran als schiiti- Das Resultat war die Vertiefung der wirtschaftlichen sche Führungsmacht und welche Auswirkungen hat Krise des Landes. Der Wegfall der nuklearbezogenen der Konflikt mit Saudi-Arabien auf die Stabilität in der Sanktionen im Zuge des Atomdeals ist also ein positi- Region? ves Zeichen. Nur hat sich zuletzt herausgestellt, dass Iran doch keinen Zugang zum US-Dollar-System er- Hier sind zwei Aspekte wichtig: Zum einen die geo- hielt, was jedoch für größere Geschäfte, auch seitens politischen Konsequenzen des Atomdeals. Man ist ja europäischer Firmen und Banken, unabdingbar ist. immer davon ausgegangen, dass der Atomdeal innen- und regionalpolitisch zu einer Entspannung führt. Das Wird Staatspräsident Hassan Rohani am Kurs der ist nicht passiert. Innenpolitisch stehen ihr der oben Normalisierung der internationalen Beziehungen sei- angesprochene Konflikt der Eliten sowie die Men- nes Landes weiter festhalten? schenrechtslage im Land im Weg. Regionalpolitisch existiert ein Konflikt Man muss beachten, zwischen Saudi-Arabien dass sich ein politisch- und Iran. In Saudi-Ara- ökonomischer Kampf bien herrscht große Pa- zwischen zwei Flügeln nik vor einer strategi- der politischen Elite ab- schen Neuausrichtung spielt. Die Revolutions- der westlichen Politik garden und Revolutions- zugunsten Irans und zu führer Chamene’i stehen Ungunsten Saudi-Ara- für einen monopolisti- biens. Die Saudis wa- schen, autoritären Kapi- ren stets der wichtigs- talismus. Sie profitieren te Partner des Westens von den Sanktionen und in der Region, bis zum der Isolation. Auf der an- Irakkrieg 2003. Mit Hil- Ali Fathollah-Nejad ist Associate Der iranische Staatspräsident deren Seite gibt es den fe Washingtons und Te- Fellow bei der Deutschen Gesell- Hassan Rohani schaft für Auswärtige Politik © Mojtaba Salimi / wikimedia commons Flügel um den Staats- herans wurde nach dem (DGAP) in Berlin. präsidenten Rohani und Krieg eine Post-Sad- © privat den ehemaligen Präsidenten Haschemi-Rafsandschaˉ - dam-Regierung aufge- ni, die für eine neoliberale Wirtschaftspolitik stehen. baut, zugunsten der Schiiten. Saudi-Arabien konnte Für diesen Flügel gilt aber auch das Primat der Si- hier keinen politischen Einfluss nehmen und beob- cherheit, weshalb der ohnehin stark ausgebaute Mili- achtete sehr kritisch, wie Iran zum wichtigsten Akteur tär- und Sicherheitsapparat weiterhin alimentiert wird. der Region aufstieg. Für Saudi-Arabien ist der Atom- Das kann auch als Zugeständnis an „die andere Seite“ deal die letzte einer ganzen Reihe von westlichen Ent- interpretiert werden. Zugleich befürwortet der Flügel scheidungen, die Iran eine Vormachtstellung in der eine weitere Öffnung nach Westen. Region sichern.

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 33 INTERNATIONALE POLITIK

Der zweite Aspekt bezieht sich auf die zwei Denk- schulen iranischer Außenpolitik: Auf der einen Seite verfolgt die Regierung das außenpolitische Ziel einer Annäherung an den Westen. Diese Ausrichtung war bereits während der Khatami-Regierung der Fall, als Iran zur Etablierung einer Post-Taliban-Ordnung in Af- ghanistan mit den USA kooperierte. Auch die gegen- wärtige Regierung hatte ursprünglich ebenso eine An- näherung an Saudi-Arabien angestrebt, was jedoch angesichts des neuen Tiefpunktes in den bilateralen Beziehungen ad acta gelegt werden musste . Den- noch: Auf dieser Ausrichtung außenpolitischen Han- delns könnte man zukünftig aufbauen.

Eine andere außenpolitische Denkschule, verkör- pert durch die Politik des Revolutionsführers und der Iranische Schulmädchen in Uniform Revolutionsgarden, ist auf Hegemonie und Machter- © pixabairis / pixabay halt ausgerichtet. Sie bestimmt die iranische Politik in Irak und Syrien. Die ira- fen. Das Problem ist seit langem bekannt, wurde aber nische Sicherheitspoli- nicht bearbeitet. Jetzt haben sich Saudi-Arabien und tik muss im Zusammen- Iran in ihrem regionalen Kampf um Vorherrschaft ein- hang gesehen werden: gerichtet. Ohne Druck von außen wird sich daran auch Das Land war nach der nichts ändern. Dabei müssen Europa und die USA un- Revolution 1979 stra- bedingt auf eine Ausgewogenheit in ihrer Politik zu tegisch isoliert und im beiden Ländern achten – Stichwort „Äquidistanz“. Zuge der neokonservati- ven US-Außenpolitik von Ein weiterer Aspekt ist die soziale und ökonomi- amerikanischen Militär- sche Misere in der gesamten Region, die auch den basen umzingelt. Unter Antrieb darstellte für den revolutionären Prozesses diesen Vorzeichen ent- in der arabischen Welt, der nicht jahre-, sondern jahr- stand die Strategie der zehntelang andauern wird. Ohne eine Verbesserung asymmetrischen Kriegs- der sozio-ökonomischen Situation der Bevölkerungen führung, die sich in einer wird es somit auf lange Sicht in Europas Nachbarre- Irans Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamene’i pro-schiitischen, sek- gion keine Stabilität geben. Deshalb darf der Westen © Akkasemosalman / wikimedia commons tiererischen Politik, der nicht länger die Eliten in Diktaturen fördern, sondern Ausstattung von Milizen muss eine nachhaltige, verlässliche Politik für die Zi- in Syrien und Irak oder der Unterstützung Assads zeigt. vilgesellschaften anbieten. Hierfür ist entscheidend, Diese iranische Politik hat das Gefühl vieler Sunniten dass Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu- noch verstärkt, dass der sogenannte Islamische Staat sammengedacht werden! ihre einzige Schutzmacht gegenüber der schiitischen Das Gespräch führten Anja Opitz Dominanz sei. Dieses Element der konfliktverschär- und Barbara Weishaupt fenden iranischen Politik muss die westliche Politik aus meiner Sicht stärker in den Blick nehmen. Gleichzeitig darf sie aber die zum Teil problematischere Politik ande- rer Aktuere in der Region, in erster Linie sogar westli- che Verbündete, außer Acht lassen.

Welche langfristigen Lösungsansätze sehen Sie für die schwierige Situation in der Region?

Die gesamte Region krankt an einer nicht existierenden Sicherheitsarchitektur. Diesem Kernproblem könnte man durch eine Konferenz für Sicherheit und Zusam- menarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) begegnen. Ohne eine inklusive regionale Sicher- heitsstruktur sind Konflikte vorprogrammiert und die nächste Eskalation ist nur eine Frage der Zeit. Dem Ansicht der iranischen Hauptstadt Teheran Westen kann man hier durchaus Passivität vorwer- © frank497 / pixabay

34 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 INTERNATIONALE POLITIK | THEMA

Akademiegespräch am See Imperiale Machtpolitik: 100 Jahre Sykes-Picot-Abkommen Im Mai 1916 ordneten ein britischer Offizier und ein französischer Diplomat den Nahen Osten neu.

AM MORGEN des 16. Dezember 1915 eilt der am- bitionierte Jungpolitiker Mark Sykes in die Downing Street 10. Der britische Premierminister hatte den 36-Jährigen geladen, um ihn und sein Kriegskabinett zu beraten, wie die fragile Allianz mit Frankreich zu kit- ten sei. Diese drohte über die Zukunft des Osmani- schen Reiches zu zerbrechen. So beschreibt es James Diskutierten die Folgen eines 100 Jahre alten Abkommens für den Nahen und Mittleren Osten bis heute: Michael Wolffsohn, Mode- Barr in seinem Buch A Line In The Sand und zitiert ratorin Anja Opitz, Gudrun Krämer und Gülistan Gürbey (v.l.). Mark Sykes mit den Worten: „Durch ein außerordent- © Haas liches Glück wurde es mir ermöglicht, vor dem Kriegs- rat zu sprechen.“ Was Sykes dort sagte, sollte später ren auf und die Balfour-Deklaration 1916 sicherte den den modernen Nahen und Mittleren Osten formen. Zionisten die Unterstützung bei der Umsetzung eines Judenstaates zu. Durch sie wurden Erwartungen und Vor 100 Jahren, am 16. Mai 1916, schlossen dieser Hoffnung auf nationale Selbstbestimmung geschürt, britische Offizier Mark Sykes und der französische Di- die später der machtpolitischen Realität zum Opfer plomat François Georges-Picot ein zunächst geheim fielen. Insbesondere das Sykes-Picot-Abkommen gilt gehaltenes Abkommen. Dessen Erbe prägt die Pha- als Ausdruck imperialer Machtpolitik, welche den Be- se zwischen den beiden Weltkriegen sowie die Geo- langen der Völker der Region kaum bis gar keine Be- graphie des Nahen und Mittleren Ostens bis zur Ge- achtung schenkte. Und auch die Nachkriegsdiploma- genwart. Gegenwärtige Zerfallsprozesse staatlicher tie vermochte es nicht, die entstandene Enttäuschung Strukturen wie beispielsweise im Irak oder in Syrien, zu mindern. Letztere bleibt eine Grunderfahrung der die derzeit zu beobachten sind, werden daher zuwei- Region bis heute. len als Zusammenbruch einer „Ordnung à la Sykes-Pi- cot“ beschrieben. Zugleich wird mit dem Abkommen Künstliche Staaten – neue Grenzen eine als willkürlich wahrgenommene Grenzziehung durch westliche Großmächte verbunden, die im kol- Aus eigenem Antrieb gewachsene Staaten sind die lektiven Gedächtnis der Region ebenfalls bis heute des Nahen und Mittleren Ostens kaum. Besonders ihre Wirkung entfaltet. zu spüren bekamen dies die Kurden, deren Siedlungs- gebiete in der Phase nach Sykes-Picot durch neue Diese Zusammenhänge und Folgen diskutierten im Grenzziehungen mehrmals durchtrennt wurden. Im Rahmen des Akademiegespräches am See die Islam- Zuge dieser „historischen Ungerechtigkeit“ – so for- wissenschaftlerin Gudrun Krämer, die Politologin Gü- mulierte es Gülistan Gürbey – mussten sie in den ent- listan Gürbey (beide Freie Universität Berlin) und der stehenden Nationalstaaten eine regelrechte Zwangs- Politologe, Historiker und Publizist Michael Wolffsohn assimilierung durchleben. von der Universität der Bundeswehr in München. Sie ordneten das Sykes-Picot-Abkommen in seinen histo- Die gegenwärtige Krise des Nahen und Mittleren rischen Kontext ein und diskutierten sein Erbe und die Ostens, die sich tragisch durch Kriege, Terror und Ge- Folgen bis zur Gegenwart. walt äußert, wirft verständlicherweise die Frage nach Lösungskonzepten auf. Eine neue Grenzziehung in Sy- Schnell wurde deutlich, dass das Abkommen nicht kes-Picot-Manier oder ein Modell des Westfälischen isoliert betrachtet und diskutiert werden sollte. Viel- Friedens für die Region, wie es Henry Kissinger 2014 mehr reiht es sich ein in eine Abfolge von wider- forderte, können diese Lösung wohl aber nicht herbei- sprüchlichen und zum Teil miteinander unvereinbaren führen. Es wären erneut die Menschen in den Län- Versprechungen. Allein in den Jahren 1915 bis 1917 dern, die als Verlierer aus derartigen staatlichen und unterzeichneten die Briten drei separate Vereinbarun- politischen Umbauprozessen hervorgehen würden. gen: Die McMahon-Hussein Korrespondenz bekräf- Anja Opitz tigte 1915 das Unabhängigkeitsbestreben der Araber, das Sykes-Picot-Abkommen 1916 teilte das Osmani- Das Akademiegespräch am See wurde am 2. Juli 2016 auf ARD-alpha ausgestrahlt und ist in der Mediathek abrufbar. sche Reich in britische und französische Einflusssphä-

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 35 THEMA | ZEITGESCHICHTE

Ein Blick durchs Schlüsselloch Politik und Gesellschaft der DDR wurden im Spiegel der Krimiserie „Polizeiruf 110“ betrachtet.

UNTER DEN WENIGEN INSTITUTI- ONEN der DDR, die den Untergang die- ses Staates überdauert haben, nimmt der „Polizeiruf 110“ eine herausgehobene Stel- Hauptdarsteller Peter Borgelt (Mitte) in einer Folge aus dem Jahr 1977 lung ein. Die Krimiserie wird seit vielen Jah- © Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv / Rolf Sohre ren nicht nur neben dem „Tatort“ zur besten sonntäglichen Sendezeit im Ersten Programm der oder konnten. Neben zustimmenden Rückmeldun- ARD ausgestrahlt, inzwischen haben die Kommissa- gen zum Tagungsthema erreichten die Akademie re ihr angestammtes Einsatzgebiet auch deutlich er- auch besorgte Nachfragen, die jedoch in ganz unter- weitert und etwa in München, Offenbach oder Bad schiedliche Richtungen zielten. So befürchteten die Homburg Verbrecher zur Strecke gebracht. Unvermin- einen eine unreflektierte Glorifizierung der DDR, weil derter Beliebtheit erfreuen sich darüber hinaus auch politisches Unrecht und staatliche Repressionen of- die von 1971 bis 1991 in der DDR gedrehten „Polizei- fenkundig nicht Gegenstand der „Polizeiruf“-Krimis ruf“-Folgen, die nach Meinung vieler Zuschauer ein waren. Andere wiederum hegten den Verdacht, die recht authentisches Bild der damaligen Verhältnisse DDR oder zumindest der „Polizeiruf“ solle, salopp zeichnen. Im Mittelpunkt der Akademietagung stand ausgedrückt, durch den Dreck gezogen werden, war die Frage, inwiefern diese erste Polizeiruf-Staffel An- doch im Ankündigungstext der Tagung von Arbeits- knüpfungspunkte für die historische Auseinander- bummelei und Alkoholismus, Wohnungsnot und setzung mit der DDR und für die politische Bildung Mangelwirtschaft die Rede. Immerhin belegen diese enthält. unterschiedlichen Reaktionen, dass es die erste „Po- lizeiruf“-Staffel wert ist, näher untersucht und kritisch Glorifizierung der DDR? hinterfragt zu werden.

Überraschenderweise hat die Veranstaltung bereits Die Referenten der Tagung – zwei Medienwissen- im Vorfeld zu teils heftigen Reaktionen vor allem aus schaftler, ein Jurist, ein Historiker und eine Ärztin so- den neuen Ländern geführt – ganz überwiegend von wie der langjährige „Polizeiruf“-Dramaturg und Dreh- Menschen, die an ihr gar nicht teilnehmen wollten buchautor Eberhard Görner und sein Autoren- und Regiekollege Thomas Jacob – sorg- ten aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungshori- zonte für kontroverse Diskussionen. Schon die Produktionsbedingun- gen der Serie wurden recht unter- schiedlich bewertet und zwischen staatlicher Gängelung und künstleri- schen Freiräumen verortet. Während die einen die Funktionen des Fern- sehens in der DDR als Herrschafts- mittel und Integrationsinstrument betonten und die Lenkung der Fern- sehmacher durch Partei- und Staats- gremien in den Mittelpunkt stellten, hoben andere die beratende Funkti- Setzten sich mit der DDR-Krimiserie „Polizeiruf 110“ auseinander: von links Philipp on des Innenministeriums als „ge- Wille, Eberhard Görner, Leonor Heinz, Torsten F. Barthel, Jörg Siegmund (Tagungslei- ter), Reinhold Viehoff und Claudia Dittmar (es fehlt Thomas Jacob). sellschaftlicher Partner“ im Entste- © APB-Archiv hungsprozess dieser Krimis positiv

36 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 ZEITGESCHICHTE

hervor, weil die Fälle so widerspiegelte. Auch die realitätsnäher angelegt zunehmende gesellschaft- werden konnten. Da ein liche Ausdifferenzierung Krimi zudem immer ein seit den 1970er-Jahren Verbrechen und damit ei- wurde in der Serie aufge- nen Verstoß gegen ge- griffen, etwa wenn unver- sellschaftliche Normen hohlen konsumorientierte voraussetzt – einen Ver- und damit „bürgerlichen“ stoß, der oft auf gesell- Werten verhaftete Cha- schaftliche Ursachen zu- raktere vermehrt in die rückzuführen ist –, habe Handlung eingebunden der Polizeiruf auch eine wurden. begrenzte Gegenöffent- lichkeit herstellen und do- Blinde Flecken sierte Kritik an den herr- schenden Verhältnissen So begann in der DDR die Krimiserie „Polizeiruf 110“. Wie sich in den Diskussi- üben können. © MDR / DRA onen zeigte, sollten mit diesen Kriminalfilmen je- Einigkeit bestand zwischen den Referenten darin, doch schon deshalb keine überhöhten Erwartungen dass bestimmte Themen im „Polizeiruf“ nicht auf- an gesellschaftliche oder politische Offenbarungen gegriffen werden konnten, etwa politisch motivier- verbunden werden, weil im dramaturgischen Selbst- te oder Umweltdelikte. Auch die Darstellung psy- verständnis ihrer Schöpfer das Individuum im Fokus chisch kranker Menschen enthielt viele Schieflagen. stand, der Verbrecher statt des Verbrechens. Und Während der Alkoholismus in mehreren Folgen eine doch ermöglicht die erste „Polizeiruf“-Staffel einen zentrale Rolle spielte, womit ein reales Problem der Blick ins Innere der DDR, der mit der Spiegel-Meta- DDR-Gesellschaft in den Blick genommen wurde, ka- pher aus dem Tagungstitel recht gut umschrieben ist: men affektive Störungen wie Depressionen nur am Die Filme bieten kein authentisches Abbild der da- Rande vor – möglicherweise, weil Depressionen und maligen Verhältnisse – wie so mancher Spiegel ver- Sozialismus zumindest aus Sicht der Programmver- zerren sie vieles und enthalten sicherlich auch blin- antwortlichen nicht recht zusammengepasst haben. de Flecken. Und doch gewähren sie Einblicke, lassen Tabuthemen

Trotzdem hat der „Polizeiruf“ beileibe kein rosiges Bild der DDR gezeichnet. Wie die eingangs genann- ten Probleme von der Arbeitsbummelei bis zum Woh- nungsmangel, die vielen Folgen zugrunde lagen, ver- deutlichen, wurden in der Serie gesellschaftliche Missstände aufgegriffen und verarbeitet. Das lag auch in ihrer programmatischen Zielsetzung begrün- det: Die Kriminalfilme sollten nicht nur das Bedürfnis der Zuschauer nach Spannung und Unterhaltung be- friedigen, sondern ebenso der Aufklärung über Ver- brechensbekämpfung und -verhütung dienen. Und dabei konnte man die gesellschaftlichen Ursachen von Kriminalität schwerlich ausblenden.

Erstaunliche Einblicke in die damaligen Verhältnisse gewährt der „Polizeiruf“ auch, wenn man auf die Verän- derungen achtet, die sich während der 20-jährigen Pro- Die Folge „Schwarze Ladung“ aus dem Jahr 1976 duktionsphase der ersten Staffel vollzogen. So rückte © Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv / Herbert Thomas das familiäre Umfeld der handelnden Personen in den 1980er-Jahren verstärkt in den Mittelpunkt. Die Fami- Konturen, Proportionen und über die Zeit auch Ver- lie ergänzte und ersetzte damit andere Sozialisations- änderungen erkennen. Sie sind sicherlich als Ergän- instanzen wie das Arbeitskollektiv oder die Freie Deut- zung zu anderen Medien geeignet, vor allem jüngeren sche Jugend, womit der „Polizeiruf“ die nachlassende Menschen Eindrücke vom Leben in der DDR zu ver- Bedeutung dieser Institutionen und den Rückzug vie- mitteln und Diskussionen hierüber anzuregen. ler Menschen ins Private in der Endphase der DDR Jörg Siegmund

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 37 THEMA | ZEITGESCHICHTE

Akademiegespräch im Landtag Komplexe Verhältnisse Dan Diner* nahm die deutsch- israelischen Beziehungen in den Blick.

DAS VERHÄLTNIS zwischen Deutschland und Isra- el ist vielschichtig und ambivalent. Einerseits pflegen beide Staaten einen regen partnerschaftlichen Aus- tausch, der von Schulprojekten über eine enge kul- turelle Zusammenarbeit bis hin zu gemeinsamen Re- gierungskonsultationen reicht. Und doch nehmen die gegenseitigen Beziehungen auf dem internationalen Dan Diner: Deutsch-israelische Annäherung als Wechselspiel aus Parkett eine Sonderstellung ein, die vom Zivilisations- Öffnung und Zurückweisung bruch der Shoa geprägt ist und eine „rituelle Distanz“ © Bayerischer Landtag / Rolf Poss (Dan Diner) beinhaltet, die auch nach mehr als fünf- zig Jahren diplomatischer Beziehungen keiner Nor- senes Stück Mitteleuropa“ handelt – herausgerissen malität gewichen ist. Hinzu kommen politische Diffe- zwar, aber doch unverkennbar mit diesem Kulturraum renzen, etwa zur israelischen Siedlungspolitik, sowie verbunden. Herausforderungen durch die zunehmende Migration aus muslimischen Ländern nach Deutschland, die das Auf dem Bild wird zugleich überdeutlich, in welch wechselseitige Verhältnis auf die Probe stellen. frostiger Atmosphäre – versteinerte Minen, kein Blickkontakt, keine Reden – die Vertragsunterzeich- Wer vor diesem Hintergrund einen Vortrag erwar- nung trotz der verbindenden Gemeinsamkeiten der tet hatte, der sich all dieser Facetten systematisch Delegationsteilnehmer stattfand. Durch diese „Cho- annehmen würde, wurde zunächst überrascht. Denn reographie des Schweigens“ (Diner) sollte unüber- Dan Diner wählte ein einziges Bild als Ausgangs- sehbar die Ächtung Deutschlands zum Ausdruck punkt für seine Überlegungen – ein Bild, das als An- gebracht werden. Das interessante und auch für ge- ker für das Verständnis der gesamten deutsch-isra- genwärtige Konfliktsituationen bemerkenswerte dar- elischen Beziehungen dienen kann. Es handelt sich an ist jedoch, dass und wie es beiden Seiten gelang, um ein Foto von der Unterzeichnung des Luxembur- eine Übereinkunft in der Sache trotz fortbestehender ger Abkommens, mit dem die junge Bundesrepublik Differenzen in grundsätzlichen Fragen zu erzielen. Di- dem nicht minder jungen Staat Israel und der Jewish ner verwendete in diesem Kontext mehrfach den Be- Claims Conference im September 1952 Wiedergut- griff der „Staatsraison“, die es vor allem Israel ermög- machungsleistungen in Höhe von 3,5 Milliarden DM licht habe, das rational Notwendige trotz schwerster sowie die Rückerstattung von Vermögenswerten zu- moralischer Bedenken zu tun. Wobei die Verhandlun- sicherte. gen und der Vertragsschluss in beiden Staaten zu hef- tigen innenpolitischen Verwerfungen führten – in Is- Verordnete Distanzierung rael vor allem zwischen Regierung und Opposition, in Deutschland auch innerhalb der Regierungskoalition, Anhand der auf dem Foto abgebildeten Protago- so dass der Vertrag im nur mit Unterstüt- nisten konnte Diner darlegen, wie eng verbunden zung der oppositionellen Sozialdemokraten ratifiziert Deutschland und Israel durch jahrhundertealte Tra- werden konnte. ditionsbestände sind. So war Deutsch die Mutter- sprache der meisten Teilnehmer an den Vertragsver- Vorsichtiges Tasten handlungen, und die von israelischer Seite verfügte Bannung des Deutschen als Verhandlungssprache Auch die weitere Entwicklung der deutsch-israeli- ließ sich nicht lange aufrechterhalten. Gemeinsame schen Beziehungen lässt sich ausgehend von diesem Bildungserfahrungen und der gleiche kulturelle Habi- Foto, seinen Protagonisten und der Umsetzung des tus erschwerten die verordnete Distanzierung zusätz- Wiedergutmachungsabkommens erschließen. Diner lich. Anhand dieser und weiterer Details wies Diner schilderte die Annäherung als vorsichtiges Tasten, als nach, warum es sich bei Israel um ein „herausgeris- Wechselspiel aus Öffnung und Zurückweisung, das

* Professor für Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ehemaliger Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig

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schließlich 1965 zur Aufnahme diplomatischer Bezie- Wunsch vieler Menschen, sich von der Vergangenheit hungen geführt hat. Dass die 1952 im Luxemburger zu lösen. Welchen Einfluss die Geschichte noch im- Abkommen vereinbarten Leistungen überwiegend mer auf politische Entscheidungen hat, zeigt sich für in Sachgütern und nicht als Geldzahlungen erbracht Diner auch in der Flüchtlingskrise, denn die deutsche wurden, hat sehr schnell die wirtschaftlichen Kontak- Willkommenskultur kann seines Erachtens als Reak- te beider Länder beflügelt. Die breite gesellschaftliche tion auf historische Erfahrungen gedeutet werden. Hinwendung der Deutschen zu Israel setzte hingegen In Israel hat die Entwicklung Deutschlands seit dem erst in den folgenden Jahrzehnten ein, verbunden mit Ende des Zweiten Weltkriegs viel Bewunderung her- einem großen Interesse am Holocaust und an dessen vorgerufen, die deutsche Kritik an einigen israelischen Aufarbeitung. Positionen im Nahostkonflikt oder gegenüber dem Iran stößt jedoch auf Unverständnis. Laut Diner ver- Trotz der intensiven und partnerschaftlichen Bezie- bindet Deutsche und Israelis in jedem Fall eine sehr hungen bleibt das gegenseitige Verhältnis auch heu- emotionale Beziehung – nicht untypisch für wahrhaft te ambivalent. So tritt in Deutschland neben das Ver- komplexe Verhältnisse. antwortungsgefühl gegenüber Israel zunehmend der Jörg Siegmund

20 künstlerische Positionen BEREITS ZUM 27. MAL präsentiert die Künst- lerinnen-Vereinigung GEDOK München e.V. ihre Werke in der Akademie. Die aktuelle Ausstellung kann bis Juni 2017 zu den normalen Öffnungszei- ten besucht werden.

Wieder sind die Künstlerinnen mit 20 sehr un- terschiedlichen Positionen vertreten: Collagen, Fotografie, Malerei, Textilarbeiten, Zeichnung und Skulptur. Gezeigt wird Abstraktes und Figurati- ves, Scherenschnitte, Arbeiten auf Alu und Me- tall. Auch das Themenspektrum ist breit. Aka- demiedirektorin Ursula Münch gratulierte zum Einige der ausstellenden Künstlerinnen bei der Vernissage 90-jährigen Bestehen der GEDOK und dankte al- © Petrus len Mitwirkenden für die beständige und ange- Die Jahresausstellung der GEDOK nehme Kooperation. hängt bis zum Juni 2017. SH / CP

Akademiedirektorin: Prof. Dr. Ursula Münch Dr. Wolfgang Quaisser Wirtschafts- und Sozialpolitik Vorsitzender des Kuratoriums: Dr. Michael Schröder Dr. Friedrich Wilhelm Rothenpieler Medien, Kommunikationspolitik, Öffentlichkeitsarbeit Vorsitzender des Beirats: Dr. Manfred Schwarzmeier Prof. Dr. Klaus Meisel Organisationsreferent Kollegium: Parlamentarismus- und Parteienforschung Dr. Saskia Hieber Jörg Siegmund M.A. Internationale Politik Persönlicher Referent der Direktorin Dr. Andreas Kalina Demokratie- und Wahlforschung, Politikevaluation Gesellschaftlicher und politischer Wandel Dr. Michael Spieker Dr. Gero Kellermann Ethische und theoretische Grundlagen der Politik Staats- und Verfassungsrecht, Rechtspolitik StRin Barbara Weishaupt Dr. Michael Mayer Schulbezogene Projekte und Bildungspolitik Zeitgeschichte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Dr. Anja Opitz Sebastian Haas M.A. Internationale Politik

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 39 PERSONALIA

Pionier der „Kritischen Akademie“

Unserer früherer Dozent Eckard Colberg konnte am 23. Juli seinen 75. Geburtstag feiern.

1941 WURDE COLBERG ALS SOHN des Phy- sikers Dr. Rolf Colberg und dessen Ehefrau Lisa in Berlin geboren. Die letzten Kriegsjahre verbrachte er allerdings in Mecklenburg, bevor er 1945 nach Ham- burg kam, wo er 1961 Abitur machte. Danach nahm er an der Universität Hamburg das Germanistik-Stu- dium auf.

Schon bald verlagerte sich sein Interesse auf die Eckard Colberg Politische Wissenschaft. An der Universität Mün- auf dem Tutzinger chen schrieb er sich im Sommersemester 1962 für Bewerbungsfoto (1969) © privat Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte ein. Seinen Studienschwerpunkt bildete die Beschäfti- gung mit den unterschiedlichen Ideologien. Konse- nen Colloquium das Kollegium überzeugen. Colberg quenterweise promovierte er 1969 bei Eric Voegelin wurde dann 1971 Dozent und blieb bis 1976 in Tut- über „Die Erlösung der Welt durch Ferdinand Las- zing. In diesem Jahr wechselte er nach Inzell als Lei- salle“ (List-Verlag München 1969). Sein Interesse an ter der neu gegründeten „Kritischen Akademie“ der der Politik und ihrer Vermittlung veranlassten ihn zum Gewerkschaft Textil-Bekleidung. An deren Konzeption Eintritt in die SPD und zum Engagement in der poli- hatte nicht zuletzt das Akademiekollegium, und damit tischen Bildungsarbeit. Erste Erfahrungen in diesem auch er selbst, gewissen Anteil gehabt. Bereich konnte Colberg bei Vorträgen in Schulen und Zusammenarbeit mit Knoeringen

Am 5. März 1971 – nur wenige Wochen vor seinem plötzlichen Tod am 2. Juli (siehe auch Akademie-Re- Veröffentlichung port 2/2016) – war Waldemar von Knoeringen zuletzt (zus. mit Ursula Männle): in der Akademie zu Gast gewesen, um sich mit dem Zur Geschäftsordnung. Tutzinger Kollegium über das Modell einer „Kritischen Die Praxis der Willens- Akademie“ zu beraten. Bereits im Jahr 1970 hatte bildung. sich unter Regie der Georg-von-Vollmar-Akademie Bayerische Landes- eine Studiengruppe aus Erwachsenenbildnern, Päda- zentrale für Politische Bildungsarbeit gogen, Gewerkschaftern und Architekten mit dem 1. Aufl. München 1973 Konzept einer „Kritischen Akademie“ beschäftigt. Der Studiengruppe ging es vor allem darum, den Gedan- ken der kritischen Bewusstseinsbildung theoretisch zu erfassen und mit Blick auf die (Anforderungen der) Erwachsenenbildung und ihre Möglichkeiten zu kon- kretisieren. in der Georg-von-Vollmar-Akademie sammeln, deren Direktor er später werden sollte. Die Hauptaufgabe 1978 wechselte Colberg von Inzell ins „Dessau- der politischen Bildung sah Colberg „nicht so sehr in er Schlößchen“ auf dem Aspenstein in Kochel am der Vermittlung quantitativen Wissens“, sondern viel- See als Direktor der Georg-von-Vollmar-Akademie. mehr „in der Schulung eines kritischen politischen Dort blieb er bis 1995 und arbeitete danach als frei- Bewusstseins, das offen ist für die reformerischen beruflicher Dozent und Autor für die Friedrich-Ebert- Forderungen unserer Zeit“. Es waren ohne Frage poli- Stiftung. tisch höchst bewegte Zeiten. Am 23. Juli beging Eckard Colberg seinen 75. Ge- 1969 bewarb er sich auf eine Assistentenstelle an burtstag. Wir gratulieren unserem ehemaligen Mit- der Akademie für Politische Bildung. Mit seinem Vor- arbeiter und Kollegen von ganzem Herzen und wün- trag zum Thema „Möglichkeiten einer Demokratisie- schen alles Gute: Ad multos annos! rung unserer Gesellschaft“ konnte er bei einem inter- Steffen H. Elsner

40 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 MEDIENSPIEGEL

Akademie-Veranstaltungen im Spiegel der Medien

© ANDREAS HERMSDORF / PIXELIO.DE

Süddeutsche Zeitung, 27. Mai 2016 aus ganz Bayern beworben. Die 150 verfügbaren Ab- geordnetensitze wurden nach Auskunft der Veranstal- Außergewöhnliches ter anhand demografischer Merkmale der Bewerber besetzt: mit jungen und alten Menschen, mit Frauen Experiment und Männern, mit Bewohnern von Städten und des ländlichen Raumes, mit und ohne Migrationshinter- Die Akademie für Politische Bildung grund ... macht mit dem „Parlament der ... Mitglieder des Landesparlaments stehen den Generationen“ den demografischen Mitwirkenden zum Erfahrungsaustausch zur Verfü- gung. Ursula Münch verweist auf das Besondere Wandel erlebbar. der Simulation: „Während die eine Hälfte der Teilneh- mer die gegenwärtige Bevölkerungsstruktur Deutsch- … ETWA EIN FÜNFTEL aller Bundesbürger sind lands widerspiegelt, repräsentiert die andere Hälfte derzeit über 67 Jahre alt – im Jahr 2050 wird ihr An- hinsichtlich Alter, Geschlecht und Migrationshinter- teil nahezu verdoppelt haben – auf mehr als ein Drit- grund die Gesellschaft des Jahres 2050.“ Beide Grup- tel der Bevölkerung. „Die Deutschen werden aber pen bildeten jeweils ein eigenständiges Parlament nicht nur älter, sondern auch weniger. Und die Viel- und berieten unabhängig voneinander. So lasse sich falt von Kulturen und Lebensformen nimmt spürbar am Ende die Frage beantworten, ob und inwiefern zu“, beobachtet Akademie-Direktorin Ursula Münch. die veränderten demografischen Bedingungen das Die großen Fragen seien dann: Nehmen die Inter- jeweilige Diskussions- und Entscheidungsverhalten essenkonflikte zwischen den Generationen zwangs- beeinflussen. läufig zu oder werden die gemeinsamen Interes- sen und die Solidarität zwischen den Altersgruppen So werde für die Teilnehmer der demografische überwiegen? Wandel zu einer konkret erlebbaren Größe. Sie könn- ten erfahren, wie er sich auf das tägliche Miteinander Um sich diesen Fragen zu nähern, laden der Bayeri- am Wohnort, an ihrer Arbeitsstätte oder in anderen sche Landtag und die Akademie für Politische Bildung Lebensbereichen auswirke und wie die Politik dar- gemeinsam zum Parlament der Generationen ein. auf reagieren könne. „Das Parlament der Generati- Diese wissenschaftlich begleitete, zweitägige Politik- onen ist ein einzigartiges Experiment, das Einblicke simulation ist ein innovatives Forum, bei dem die Teil- in unsere Zukunft gewährt“, ist Münch überzeugt. Po- nehmer in die Rolle von Parlamentariern schlüpfen. litik und Wissenschaft könnten die Erfahrungen und Sie diskutieren über Fragen der Bildungs- und Sozial- Ergebnisse aus den Diskussionen im Parlament der politik, ringen gemeinsam um Lösungen und müssen Generationen beim künftigen Umgang mit dem de- auch Entscheidungen treffen. mografischen Wandel nutzen … Manuela Warkocz Für die von der Akademie für Politische Bildung kon- (Siehe Seite 18) zipierte Veranstaltung haben sich 250 Interessenten

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 41 MEDIENSPIEGEL

Mittelbayerische Zeitung, 3. Juni 2016 einen wohltuenden Kontrapunkt zu denen, die auf die Politik und die Politiker schimpfen, obwohl sie selbst Denkanstöße nur 0815-Lösungen im Köcher haben. DAS EXPERIMENT der Politischen Akademie ist Das Politik-Experiment zeigt, dass Jung und Alt zu- aus vielerlei Gründen beachtlich. Es lenkt den Blick sammenpasst, selbst wenn die Interessen auf den nicht allein auf Folgen des demografischen Wandels. ersten Blick konträr erscheinen. Von finanziell gut aus- In Zeiten großer Politikverdrossenheit wird auch ge- gestatteten Bildungspaketen profitiert beispielsweise zeigt, dass Lösungen nicht so einfach sind, wie es an zuerst die junge Generation. Mit guten, dauerhaften Stammtischen und in sozialen Netzwerken suggeriert Einkommen verkleinern sie aber im späteren Leben wird. Demokratie ist mühsam, verlangt den Ausgleich zumindest zu einem Teil das Rentenproblem. der Interessen und die Suche nach Mehrheiten. Das Christine Schröpf ist so – und das ist gut so. Alles andere wäre Diktatur. Mehr Presseausschnitte zum Thema: Ermutigend sind die 138 Bürger, die sich auf dieses https://www.dropbox.com/sh/wj6vu0nqo36woyo/AABObh_ arbeitsreiche Projekt eingelassen haben. Sie setzen mVgZtzSX1gGllOr9ea?dl=0

Main Post, 2. Juni 2016 Frankenpost, 4. Mai 2016 Beim „Parlament der Gefangen in der Zwickmühle Generationen“ den … Die Debatte um die Flüchtlingsströ- eigenen Horizont erweitern me in Europa beherrscht die Schlagzei- ZWEI MÄNNER und zwei Frauen aus der Region len aller Medien und die gesellschafts- Würzburg sind beim Projekt im Bayerischen Landtag dabei. Welche Auswirkungen wird der demographi- politische Diskussion … sche Wandel für unser gesellschaftliches Miteinander haben? Das ist eine der spannenden Fragen, die am ... „WIR MACHEN uns ganz genau Gedanken: Was 2. und 3. Juni beim „Parlament der Generationen“ im berichten wir? Welche Bilder nehmen wir?“, verdeut- Bayerischen Landtag beantwortet werden sollen. licht die Leiterin des ARD-Studios Tel Aviv, Dr. Sus- anne Glass, die zuvor lange Zeit Leiterin des Wiener Aus Würzburg und Umgebung sind mit dabei Phi- Studios war. In dieser Funktion hat sie auch von der lipp Schnapp (22 Jahre, Student) aus Würzburg, Stefa- mazedonisch-griechischen Grenze über die Flüchtlin- nie Zwicker aus Würzburg-Heidingsfeld, Andrea Liebig ge berichtet. „Was ich da erlebt habe, das hatte ich so (53, Krankenschwester) aus Waldbüttelbrunn und Oli- nicht erwartet und habe es auch noch nicht verdaut. ver Voll (42, Inhaber Computergeschäft) aus Rimpar. Die Menschenmassen reichten bis zum Horizont.“ Dass sie und ihr Team von dem Geschehen ein wenig Die vier sind gespannt, wie die Debatten verlaufen überrollt wurden, gesteht sie ein. werden, heißt es in einer Pressemitteilung aus dem Regionalbüro der grünen Landtagsabgeordneten Ker- Sie habe, so wie sie es gelernt habe, nicht in das stin Celina. Auf ihre Einladung hatten sie sich für das Geschehen eingreifen wollen. Trotzdem hat sie einer „Parlament der Generationen“ beworben … Familie, die sie eine Zeit lang mit der Kamera beglei- tet hatte, geholfen, den Weg ins Hotel zu finden. Ge- ... Der Bezug zu seinem politikwissenschaftlichem nauso bekam eine Frau Hilfe, die einen Herzinfarkt er- Studium ist Philipp Schnapp wichtig: „Ich empfinde litten hatte. „Natürlich sind wir Menschen und keine die Teilnahme als eine tolle Chance. Einerseits für Berichterstattungsmaschinen.“ mich persönlich, um mein Wissen zu parlamentari- schen Prozessen zu vertiefen, andererseits für jeden, Ihre Geschichten sieht Glass als Puzzleteile des Ge- der sich mit Politik beschäftigt, da ein gesellschaftli- schehens. Sie bemühe sich immer, komplex zu be- cher Wandel unmittelbar bevorsteht.“ Schnapp glaubt, richten. Doch etliche Zuschauer würden aus den nicht nur die Altersstruktur der Gesellschaft werde Bildern herauslesen, was sie herauslesen wollten: ge- sich verschieben, auch Herausforderungen, die bei- nau das, was ihre Meinung bestätige. „Dann geht die spielsweise durch Migration entstehen, könnten viel- Emotionalität hoch." ... leicht durch diese Simulation zu Tage treten ... Andrea Herdegen (Siehe Seite 9)

42 AKADEMIE-REPORT | 03-2016 PUBLIKATIONEN

Rechtspolitik Freiheit und Sicherheit Verfassungspolitik, Grundrechtsschutz, Sicherheitsgesetze DIE BALANCE von Freiheit und Sicherheit betrifft das Selbstverständ- nis und die Grundordnung des Gemeinwesens. Vor dem Hintergrund qualitativ neuer Bedrohungen stellen Vertreter aus Theorie und Praxis ihre Sichtweisen dar und diskutieren moderne Sicherheitsgesetze und den Schutz der Privatsphäre. Der Band vereint die Beiträge der Premiere der Tagungsreihe „Forum Verfassungspolitik“ an der Akademie für Politi- sche Bildung in Tutzing.

Hans-Jürgen Papier, Die Herausgeber: Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier ist emeritier- Ursula Münch, ter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentliches Sozi- Gero Kellermann (Hrsg.) alrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident Freiheit und Sicherheit des Bundesverfassungsgerichts a. D. Verfassungspolitik, Grundrechtsschutz, Prof. Dr. Ursula Münch ist Direktorin an der Akademie für Politische Bil- Sicherheitsgesetze dung in Tutzing und Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Tutzinger Studien zur der Bundeswehr München. Politik, Band 8 Dr. Gero Kellermann ist Dozent für Staats- und Verfassungsrecht und Nomos, Baden-Baden 2016 Rechtspolitik an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. ISBN: 978-3-8487-2136-8, 158 Seiten

Europa Innenansichten einer geprüften Nation Politik und Gesellschaft in Griechenland DR. EVRIPIDIS STYLIANIDIS (Jahrgang 1966) studierte Rechtswis- senschaften an den Universitäten Thrakien und Hamburg, wo er 1995 promoviert wurde. Er war bis 2000 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am European Public Law Center in Athen und ist seit 1991 als Rechts- anwalt mit tätig. Für die konservative Partei Nea Dimokratia zog er 2000 erstmals als Abgeordneter in das griechische Parlament. Bei der Wahl im September 2015 verfehlte er nur knapp den Wiedereinzug ins Parlament. Zwischen 2004 und 2013 gehörte er mehreren Regierungen an (als Vize- Außen-, als Bildungs- und Religionsminister, als Verkehrs- und Telekom- Innenansichten einer munikations- sowie Innenminister. geprüften Nation Politik und Gesellschaft TASOS TELLOGLOU (Jahrgang 1961) ist ein führender investiga- in Griechenland tiver Journalist Griechenlands. Nach dem Studium der Rechtswissen- Akademiegespräche im schaften und Literatur an den Universitäten Athen und Berlin begann er Landtag [51.] 1986 seine journalistische Karriere. Zwischen 1990 und 1997 arbeitete er Herausgegeben von der als Deutschland-Korrespondent der Tageszeitung Kathimerini und berich- Akademie für Politische tete in gleicher Funktion von 1993 bis 2000 auch für den privaten Fern- Bildung und dem Bayeri- sehsender Mega Channel. Danach war er für die Nachrichtenredaktio- schen Landtag nen verschiedener Zeitungen und Fernsehkanäle tätig, bevor er 2007 die Tutzing | München 2016 Co-Moderation des wöchentlichen Politikformats „Die neuen Dossiers“ 42 Seiten bei Skai TV übernahm. 2008 wurde er für seine Recherchen zum Beste- chungsskandal des Siemens-Konzerns in Griechenland mit dem angese- henen Prosopa-Preis für die beste Reportage des Jahres ausgezeichnet. Der Vortrag, die Reden und die Diskussion sind in dieser Broschüre, die kostenlos über die Akademie erhältlich ist, dokumentiert.

03-2016 | AKADEMIE-REPORT 43 AKADEMIE INTERN

Namen und Nachrichten aus der Akademie

Direktorin Kollegium Prof. Dr. Ursula Münch hielt den Festvortrag anläss- Dr. Michael Mayer sprach an der University lich der Amtseinführung der neu gewählten Präsiden- of Sussex in Brighton im Rahmen der Konfe- tin der Universität Passau, Prof. Dr. Carola Jungwirth. renz „The Holocaust and the Struggle for Ci- Thematisch passend nahm sie an einer Diskussions- vil Rights“ zum Thema „Civil Rights and the veranstaltung in der Reihe „BergPerspektiven“ über Holocaust in the United States: Anti-Semitism die Ursachen und Hintergründe für das Fehlen von and Homophobia after Auschwitz“. Frauen in Führungspositionen teil. Beim Kleinen Par- teitag von Bündnis 90/Die Grünen Bayern referierte Dr. Andreas Kalina sprach und debattierte in sie über „Politische Bildung: Demokratie lernen – eine Passau zum Selbstverständnis und zur Inter- Aufgabe der Schule“. An der Universität der Bundes- essenpolitik des Weimarer Dreiecks und der wehr München hielt Professor Münch im Frühjahrs- Visegrád-Staaten anlässlich deren 25-jähri- trimester 2016 gemeinsam mit der Historikerin Prof. gen Jubiläen. In München nahm er am Exper- Schraut ein interdisziplinäres Seminar im Masterstudi- ten-Roundtable der Akademie für Politik und engang zum Thema „Rechtsextremer Antipluralismus Zeitgeschehen zur „Europäischen Grenzsi- in Geschichte und Gegenwart“ und beteiligte sich au- cherung“ teil. Im Maximilianeum leitete und ßerdem mit einem Vortrag „Warum suchen so viele moderierte Kalina eine Diskussionsveranstal- Menschen Asyl in Deutschland?“ an der Kinderuni der tung zum Thema „Das ‚Wir‘ entscheidet. Wie Bundeswehruniversität. funktioniert kollektive Identitätsbildung in un- serer Gesellschaft?“.

Kuratorium Dr. Michael Spieker nimmt im Sommerse- Josef Deimer konnte am 29. Mai seinen 80. Geburts- mester Lehraufträge in Philosophie an der tag feiern. Wir gratulieren unserem Kurator, der 35 Jah- Universität Freiburg und in Sozialpolitik an der re Oberbürgermeister von Landshut war, nachträglich Katholischen Stiftungsfachhochschule Bene- ganz herzlich und wünschen beste Gesundheit. Wir diktbeuern wahr. In Dillingen hielt er ein Semi- würdigen ihn im nächsten Heft mit einem Interview. nar über „Freiheit, Recht und Würde bei Kant“ und auf der Statustagung des Bundesfor- Sekretariat schungsministeriums in Berlin stellte er das BMBF-Diskursprojekt „Pränataldiagnostik im Sabine Wohlhaupter hat die Stelle der Sekretärin der Diskurs“ vor. In Obermarchtal trug er zur „Ge- Direktorin nach nur zweijähriger Dienstzeit auf eige- schichte und Gegenwart der Selbstsorge“ vor nen Wunsch und aus privaten Gründen verlassen. Wir und in Freiburg sprach er über „Die Werte der bedauern ihren Weggang sehr, da wir eine engagier- Neuzeit“. In Nürnberg und in Benediktbeuern te und kompetente Kollegin verlieren. Sie konnte trotz moderierte er zudem Diskussionen über „Re- der kurzen Zeit in ihrem Arbeitsbereich Akzente set- ligion und Behinderung“ sowie zum geplan- zen. Ihre freundliche und umgängliche Art werden wir ten Bundesteilhabegesetz. vermissen. Wir respektieren aber ihren Wunsch, eine neue berufliche Herausforderung in der Nähe ihrer Fa- Dr. Saskia Hieber übernimmt im Winterse- milie anzunehmen. Für den weiteren beruflichen und mester einen Lehrauftrag an der Universität privaten Lebensweg wünschen wir ihr alles Gute. Regensburg im Bereich Internationale Politik.

44 AKADEMIE-REPORT | 03-2016