Plenarprotokoll 12/143

Deutscher

Stenographischer Bericht

143. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Inhalt:

Glückwünsche zu den Geburtstagen der Tagesordnungspunkt 4: Abgeordneten Günter Schluckebier, Julius a) Erste Beratung des von den Fraktionen Louven und 12275A der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bestimmung des Abgeordneten Michael Änderung- asylverfahrens-, ausländer Glos als stellvertretendes Mitglied des und staatsangehörigkeitsrechtlicher Gemeinsamen Ausschusses an Stelle des Vorschriften (Drucksache 12/4450) ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Wolf- b) Erste Beratung des von den Fraktionen gang Bötsch 12275A der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- Ausscheiden der Abgeordneten Heribert lung der Leistungen an Asylbewerber Scharrenbroich, Dr. Christoph Zöpel und (Drucksache 12/4451) Reinhard Weis (Stendal) als stellvertre- tende Mitglieder aus der Gemeinsamen CDU/CSU 12283A Verfassungskommission ...... 12275 B Dieter Wiefelspütz SPD 12285D, 12303B, 12310D

Bestimmung der Abgeordneten Renate Dr. F.D.P. 12286 A Hellwig, Dorle Marx und Dr. BÜNDNIS 90/ als stellvertretende Mitglieder der Gemein- DIE GRÜNEN ...... 12286 A samen Verfassungskommission . . . . . 12275 B Gerd Wartenberg (Berlin) SPD . . . 12286 C Erweiterung der Tagesordnung . . . . . 12275 B Jörg van Essen F.D.P...... 12289D

Zur Geschäftsordnung: PDS/Linke Liste 12291 C Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 12275D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 12293 C, Dr. Friedrich-Adolf Jahn (Münster) CDU/ 12307 A CSU 12277A Dr. , Bundesminister BMI . 12295B Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. . 12278D, 12282C Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU . . . . 12298 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . . 12279B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12299C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12280A Dieter Wiefelspütz SPD ...... 12300 A Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 12280D Cornelia Schmalz-Jacobsen F D P 12302 A Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 12281 C Jochen Welt SPD 12303 D Dr. Peter Struck SPD 12282 A CDU/CSU 12304 D

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . . 12307B d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE Gesetzes zur Aufhebung der Ta rife im GRÜNEN 12308B Güterverkehr (Tarifaufhebungsgesetz) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- (Drucksache 12/4231) desministerin BMJ 12309B e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Erwin Marschewski CDU/CSU . . . 12309D gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesse- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 12311B rung des Mietrechts und zur Begren- zung des Mietanstiegs sowie zur Rege- Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 12312C lung von Ingenieur- und Architekten- Ursula Männle CDU/CSU 12314A leistungen, des Wohnungsbindungsge- setzes und des Belegungsrechtsgeset- Christel Hanewinckel SPD 12315 C zes (Drucksache 12/4276) Hans A. Engelhard F.D.P 12317D f) Beratung des Antrags der Abgeordne- Joachim Graf von Schönburg-Glauchau ten Dr. R. Werner Schuster, Dr. Ingomar CDU/CSU 12318C Hauchler, B rigitte Adler, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Hannelore Rönsch, Bundesministerin Dauerhafte Zielerreichung (Nachhal- BMFuS 12318D tigkeit) in der Entwicklungszusammen- arbeit (Drucksache 12/4269) Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 12320A g) Beratung des Antrags der Abgeordne- Uta Würfel F.D.P. 12320D ten , Hans Martin Bury, Elke Ferner, weiterer Abgeordne- Zusatztagesordnungspunkt 2: ter und der Fraktion der SPD: Umstruk- Beratung der Beschlußempfehlung des turierung des Fahrdienstes des Deut- Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- schen Bundestages nach Kriterien gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu der Umweltverträglichkeit (Drucksa- dem Gesetz über die Anpassung von che 12/4266) Dienst- und Versorgungsbezügen in h) Beratung des Antrags des Abgeordne- Bund und Ländern 1992 (Bundesbesol- ten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) dungs- und -versorgungsanpassungs- und der Gruppe der PDS/Linke Liste: gesetz 1992 — BBVAnpG 92) (Druck- Erarbeiten einer DM-Eröffnungsbilanz sachen 12/3629, 12/4165, 12/4387, des Vermögens der DDR (Drucksache 12/4447) 12322A 12/4205) . 12322B

Tagesordnungspunkt 2: Überweisungen im vereinfachten Ver- Tagesordnungspunkt 3: fahren Abschließende Beratungen ohne Aus- a) Erste Beratung des von der Bundesre- sprache gierung eingebrachten Entwurfs eines a) Zweite und dritte Beratung des von der Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. April Bundesregierung eingebrachten Ent- 1992 zwischen der Bundesrepublik wurfs eines Gesetzes zur Bereinigung Deutschland und Rumänien über von in der ehemaligen Deutschen freundschaftliche Zusammenarbeit und Demokratischen Republik zwischen Partnerschaft in Europa (Drucksache den öffentlichen Haushalten und volks- 12/4273) eigenen Unternehmen, Genossen- b) Erste Beratung des von der Bundesre- schaften sowie Gewerbetreibenden be- gierung eingebrachten Entwurfs eines gründeten Finanzbeziehungen (Finanz-- Gesetzes zu dem Europa-Abkommen bereinigungsgesetz - DDR) (Drucksa vom 16. Dezember 1991 zur Gründung chen 12/3345, 12/4173) einer Assoziation zwischen den Euro- päischen Gemeinschaften sowie ihren b) Beratung der Beschlußempfehlung und Mitgliedstaaten und der Republik Un- des Berichts des Ausschusses für Um- garn (Drucksache 12/4274) welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesre- zu der Verordnung der Bundesregie- rung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen Zustimmungsbedürftige Zweiundzwan- vom 16. Dezember 1991 zur Gründung zigste Verordnung zur Durchführung einer Assoziation zwischen den Euro- des Bundes-Immissionsschutzgesetzes päischen Gemeinschaften sowie ihren (Verordnung über Immissionswerte — Mitgliedstaaten und der Republik Po- 22. BImSchV) (Drucksachen 12/4204, len (Drucksache 12/4275) 12/4365) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 III c) Beratung der Beschlußempfehlung und Titel 686 30 — Beitrag an die Vereinten

des Berichts des Ausschusses für Ernäh- Nationen — (Drucksachen 12/4061, rung, Landwirtschaft und Forsten zu der 12/4292) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Vorschlag für eine Richtlinie des j) Beratung der Beschlußempfehlung des Rates zur Änderung der Richtlinie Haushaltsausschusses zu der Unterrich- 79/112/EWG zur Angleichung der tung durch die Bundesregierung: Über- Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten planmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr über die Etikettierung und Aufma- 1992 bei Kapitel 10 02 Titel 656 58 chung von Lebensmitteln sowie die — Zuschüsse zur Förderung der Ein- Werbung hierfür (Drucksachen 12/3240 stellung der landwirtschaftlichen Er- Nr. 3.18, 12/4278) werbstätigkeit (Produktionsaufgabe- rente) (Drucksachen 12/3556, 12/4300) d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- k) Beratung der Beschlußempfehlung tung durch die Bundesregierung: Über- des Petitionsausschusses: Sammelüber- planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 02 sicht 89 zu Petitionen (Drucksache Titel 682 01— Erstattung von Fahrgeld- 12/4322) ausfällen — (Drucksachen 12/3712, l) Beratung der Beschlußempfehlung 12/4287) des Petitionsausschusses: Sammelüber- sicht 90 zu Petitionen (Drucksache e) Beratung der Beschlußempfehlung des 12/4323) ...... 12323A Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Au- Tagesordnungspunkt 1: ßerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 02 — Allgemeine Bewilligungen — Fragestunde (Fortsetzung) (apl.) Titel 684 15 — Einmalige Zuwen- — Drucksache 12/4433 vom 26. Februar dung an eine zentrale Organisation zur 1993 — Unterstützung von Staatsangehörigen des ehemaligen Jugoslawien, die die Kürzung der Mittel für AB-Maßnahmen Bundesrepublik Deutschland vorüber- und für die berufliche Qualifizierung von gehend aus humanitären Gründen auf- Arbeitslosen im Bereich Herne genommen hat (Drucksachen 12/4060, 12/4288) MdlAnfr 19, 20 Dieter Maaß (Herne) SPD f) Beratung der Beschlußempfehlung des Antw PStSekr Horst Günther BMA . 12325A, D Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Über- ZusFr Dieter Maaß (Herne) SPD 12325C, 12326 A planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 ZusFr Adolf Ostertag SPD 12326 B Titel 681 01 — Arbeitslosenhilfe — (Drucksachen 12/4070, 12/4289) ZusFr Antje-Marie Steen SPD 12326 C g) Beratung der Beschlußempfehlung des Schleppende Rentenberechnungen für den Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Altersjahrgang 1932 in den neuen Bundes- tung durch die Bundesregierung: Über- ländern planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 681 02 — Aufwendungen des MdlAnfr 21 Bundes für die gesetzliche Unfallversi- Dr. Hans - Hinrich Knaape SPD

cherung — (Drucksachen 12/4029, 12/4290) Antw PStSekr Horst Günther BMA . . . 12326 D ZusFr Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD . . 12327 B h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Verhinderung des professionell betriebe- tung durch die Bundesregierung: Über- nen Mißbrauchs der durch die Bundesan- planmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02 stalt für Arbeit gewährten Leistungen durch Titel 683 91 — Zahlungen aus der bessere personelle Ausstattung der Arbeits- Wechselkurssicherung beim Airbus- ämter; Summe der Einsparungen abzüglich programm — (Drucksachen 12/4030, der Personalkosten 12/4291) MdlAnfr 22 i) Beratung der Beschlußempfehlung des Adolf Ostertag SPD Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Antw PStSekr Horst Günther BMA . . . 12327 D tung durch die Bundesregierung: Über- planmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 ZusFr Adolf Ostertag SPD ...... 12328 A IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Bereitstellung von Kindergartenplätzen in Einsatz des Bundesgrenzschutzes auf poli- den einzelnen Bundesländern gemäß Art. 5 tischen Aschermittwochsveranstaltungen; des Schwangeren- und Familienhilfegeset- Festnahme von Demonstranten auf der zes CSU-Veranstaltung in Passau MdlAnfr 23 MdlAnfr 46, 47 Rudolf Meinl CDU/CSU Horst Kubatschka SPD Antw PStSekr'in BMFJ . 12328D Antw PStSekr Eduard Lintner BMI . . 12333 A ZusFr Rudolf Meinl CDU/CSU 12328D ZusFr Horst Kubatschka SPD 12333A ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 12329A ZusFr Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . 12333 C Angebot an Ganztagsplätzen für Kinder in den einzelnen Bundesländern gemäß Art. 5 Einsatz des Bundesgrenzschutzes bei Par- des Schwangeren- und Familienhilfegeset- teiveranstaltungen zes MdlAnfr 25 MdlAnfr 48, 49 Erika Simm SPD Joachim Graf von Schönburg - Glauchau CDU/CSU Antw PStSekr Eduard Lintner BMI . . . 12333 C Antw PStSekr'in Cornelia Yzer BMFJ . . 12329B ZusFr Joachim Graf von Schönburg Überprüfung der PDS durch den Verfas- Glauchau CDU/CSU 12329 D sungsschutz ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 12330A MdlAnfr 52 ZusFr Rudolf Meinl CDU/CSU 12330 B Dr. Günther Müller CDU/CSU Anhebung des Einkommens der Hebam- Antw PStSekr Eduard Lintner BMI . . . 12333 D men in Ostdeutschland ZusFr Dr. Günther Müller CDU/CSU . . 12333 D MdlAnfr 26 Antje - Marie Steen SPD Tagesordnungspunkt 5: Antw PStSekr'in Dr. Sabine Bergmann- a) Beratung der Beschlußempfehlung und Pohl BMG 12330C- des Berichts des Ausschusses für For- ZusFr Antje-Marie Steen SPD 12330C schung, Technologie und Technikfol- genabschätzung zu dem Antrag der Rücknahme-Aktion für Lampenölbehälter Fraktionen der CDU/CSU, SPD und ohne kindersicheren Verschluß; Vorschrei- F.D.P.: Beratungskapazität ,,Technik- bung solcher Verschlüsse auch für andere folgenabschätzung" beim Deutschen gesundheitsgefährliche Produkte Bundestag (Drucksachen 12/3499, 12/4193) MdlAnfr 27

Antje - Marie Steen SPD b) Beratung der Beschlußempfehlung und Antw PStSekr'in Dr. Sabine Bergmann- des Berichts des Ausschusses für For- Pohl BMG 12330D schung, Technologie und Technikfol- genabschätzung gemäß § 56a der ZusFr Antje-Marie Steen SPD . . . . . 12331 B Geschäftsordnung des Deutschen Bun- destages zur Technikfolgenabschät- Bevorzugung schwangerer Frauen bei der zung (TA) Vergabe von Sozialwohnungen in den ein- hier: Raumtransportsystem SÄNGER zelnen Bundesländern gemäß Art. 9 bis 11 (Drucksache 12/4277) des Schwangeren- und Familienhilfegeset- zes Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim) CDU/ MdlAnfr 40 CSU 12334 C Claus Jäger CDU/CSU SPD 12335 A Antw PStSekr Joachim Günther BMBau 12331D Dr.-Ing. Karl-H ans Laermann F.D.P. . . 12337 B ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 12332A Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/ Bewilligung einer durchschnittlichen mo- CSU 12338B natlichen Miete von 6 DM/qm für öffentlich geförderte Neubauwohnungen in den Ingeborg Philipp PDS/Linke Liste . . . 12339B neuen Bundesländern ab 1. März 1993 Trudi Schmidt (Spiesen) CDU/CSU . . 12340A MdlAnfr 41 Lothar Fischer (Homburg) SPD 12341 B Dr. Hans - Hinrich Knaape SPD Antw PStSekr Joachim Günther BMBau . 12332 B Jürgen Timm F.D.P. 12343 B ZusFr Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD . . 12332C Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 12343 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 V

Tagesordnungspunkt 6: in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- Zusatztagesordnungspunkt 3: nes Gesetzes über das Inverkehrbrin- Beratung des Antrags der Abgeordne- gen und die Anwendung von Pflanzen- ten Susanne Kastner, Dr. Uwe Küster, schutzmitteln in dem in Artikel 3 des Dr. Helga Otto, weiterer Abgeordneter Einigungsvertrages genannten Gebiet und der Fraktion der SPD: Bericht an die (Drucksachen 12/4124, 12/4367) EG-Kommission über Sanierungspläne für Oberflächenwasser, Grundwasser Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/CSU 12344 D und Trinkwasser in den neuen Bundes- Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ ländern (Drucksache 12/4404) DIE GRÜNEN 12346A, 12351A Susanne Kastner SPD 12355 D Gudrun Weyel SPD 12346D Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 12357 C Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/ Josef Grünbeck F.D.P. 12358 D CSU 12347 C Dr. , Parl. Staatssekretär BMU 12360A F.D.P. 12347 D

Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE Nächste Sitzung 12360 D GRÜNEN 12348C

Gudrun Weyel SPD 12349B Anlage 1

Georg Gallus F.D.P...... 12349 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . 12361* A CDU/CSU 12350C Anlage 2

Tagesordnungspunkt 7: Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Beratung der Beschlußempfehlung und nungspunkt 6 (Entwurf eines Gesetzes über des Berichts des Ausschusses für Wirt- das Inverkehrbringen und die Anwendung schaft zu dem Antrag der Abgeordneten von Pflanzenschutzmitteln in dem in Arti- Petra Bläss, Dr. F ritz Schumann (Krop- kel 3 des Einigungsvertrages genannten penstedt), Dr. Ilja Seifert, Gebiet) und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Sicherung des Weiterbetriebs der Ze- Ulrike Mehl SPD 12361* C che SOPHIA-JACOBA durch finan- zielle Sonderhilfen des Bundes — per- spektivisch eine volkswirtschaftlich Anlage 3 und energiepolitisch sinnvolle Maß- Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- nahme für die Zukunft (Drucksachen nungspunkt 7 (Antrag zur Sicherung des 12/1623, 12/4147) Weiterbetriebs der Zeche SOPHIA-JA- Dr. PDS/Linke Liste 12352A COBA durch finanzielle Sonderhilfen des Bundes — perspektivisch eine volkswirt- Dr. Karl H. Fell CDU/CSU ...... 12353 A schaftlich und energiepolitisch sinnvolle Maßnahme für die Zukunft) Dr. Christoph Zöpel SPD 12353 C Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann F.D.P. 12354 C BMJ 12362* C

Tagesordnungspunkt 8: Anlage 4 Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter nungspunkt 8 (Antrag be tr. EG-Fernseh- und der Fraktion der SPD: EG-Fernseh- richtlinie — Schutz von Minderjährigen) richtlinie — Schutz von Minderjährigen Dr. Edith Niehuis SPD 12363* A (Drucksache 12/4325) 12355B CDU/CSU 12364* D Tagesordnungspunkt 9: Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink F.D.P. 12365* D Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Petra Bläss PDS/Linke Liste 12366* D gebrachten Entwurfs eines . .. Gesetzes zur Änderung des Abwasserabgaben- Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE gesetzes (Drucksache 12/4272) GRÜNEN 12367* C VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Anlage 5 vorliegenden Brandschutzgutachten zum Ausbau des Betreuungsangebots für Kinder Kernkraftwerk Tschernobyl

im Alter von unter drei Jahren und Kinder MdlAnfr 36, 37 — Drs 12/4433 — im schulpflichtigen Alter in den einzelnen Dr. Klaus Kübler SPD Bundesländern gemäß Art. 5 des Schwan- geren- und Familienhilfegesetzes SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU 12371* A

MdlAnfr 24 — Drs 12/4433 — Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU Anlage 10 SchrAntw PStSekr'in Co rnelia Yzer BMFJ 12368* C Ablehnung der Verabschiedung des Ent- wurfs zur Novellierung der Wärmeschutz- verordnung durch BM Carl-Dieter Spran- Anlage 6 ger (BMZ) Einsatz „physikalischer Wasserbehand- MdlAnfr 38 — Drs 12/4433 — lungsgeräte" gegen die Bildung von Kalk Josef Grünbeck F.D.P. und Rost; Gesundheitsgefährdung SchrAntw PStSekr Joachim Günther

MdlAnfr 28, 29 — Drs 12/4433 — BMBau 12371* C Lieselott Blunck (Uetersen) SPD SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- Anlage 11 mann-Pohl BMG 12369* C Verabschiedung des Entwurfs der Novelle zur Wärmeschutzverordnung im Bundeska- binett Anlage 7 MdlAnfr 39 — Drs 12/4433 — Gesundheitsschäden durch das Passiv-Rau- Gerhart Rudolf Baum F.D.P. chen SchrAntw PStSekr Joachim Günther MdlAnfr 30 — Drs 12/4433 — BMBau ...... 12371* D Jürgen Augustinowitz CDU/CSU SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- Anlage 12 mann-Pohl BMG 12370* A Anerkennung von Asylanträgen von Flüchtlingen aus Bulgarien, Ghana, Indien, Rumänien und der Türkei durch Länder der Anlage 8 EG Einführung einer Gefährdungshaftung zu MdlAnfr 50 — Drs 12/4433 — Lasten der Klärschlammabgeber und Kom- Horst Peter (Kassel) SPD posthersteller; Erhalt der Alleen an Landes- und Bundesstraßen in den neuen Ländern SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . 12371* D

MdlAnfr 34, 35 — Drs 12/4433 — Klaus Harries CDU/CSU Anlage 13 Ausstellung eines Reisepasses an Erich SchrAntw PStSekr Dr. Be rtram Wieczorek Honecker durch den Berliner Innensenator BMU 12370* B nach Rückversicherung beim Bundeskanz- leramt, Auswärtigen Amt, Bundesministe- rium des Innern und Bundesministerium Anlage 9 der Justiz Versenkung von zwei nukleargetriebenen Schiffen der ehemaligen Sowjetunion in der MdlAnfr 51 — Drs 12/4433 — Ostsee; Gefahren für Mensch und Umwelt; Norbert Gansel SPD Befassung der EG-Kommission mit dem SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . 12372* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12275

143. Sitzung

Bonn, den 4. März 1993

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin : Guten Morgen, 1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zum liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Die Sitzung ist Genehmigungsstopp bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eröffnet. (ABM) (In der 142. Sitzung bereits erledigt.) 2. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Zuerst möchte ich einigen Kollegen nachträglich Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu zum Geburtstag gratulieren. Der Kollege Günter dem Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Versor- Schluckebier feierte am 15. Februar, der Kollege gungsbezügen in Bund und Ländern 1992 (Bundesbesol- dungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1992 — Julius Louven am 18. Februar, der Kollege Christian BBVAnpG 92) — Drucksachen 12/3629, 12/4165, 12/4387, Lenzer am 19. Februar jeweils den 60. Geburtstag. Ich 12/4447 spreche Ihnen im Namen aller Kollegen und Kollegin- 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, nen die herzlichsten Glückwünsche aus. Dr. Uwe Küster, Dr. Helga Otto, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht an die EG-Kommission über (Beifall) Sanierungspläne für Oberflächenwasser, Grundwasser und Trinkwasser in den neuen Bundesländern — Drucksa- Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des che 12/4404 Grundgesetzes scheidet Dr. Wolfgang Bötsch aus. Die 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Roth, Fraktion der CDU/CSU schlägt als neues ordentliches Hans Berger, Dr. Ul rich Böhme, weiterer Abgeordneter und Mitglied den Abgeordneten vor. Sind der Fraktion der SPD: Eine sich selbst verstärkende Rezes- Sie damit einverstanden? sion durch kompetente Wirtschaftspolitik abwenden — Drucksache 12/4453 — (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Vorstel- Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, lung!) soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung — Nein, es gibt keine Vorstellung. Das ist nicht erforderlich ist, abgewichen werden. Sind Sie auch vorgesehen. — Damit ist der Kollege Michael Glos als damit einverstanden? — Auch hiergegen gibt es ordentliches Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. bestimmt. Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern, und zwar um die Der Abgeordnete Kollege Heribert Scharrenbroich Beratung ihres Antrags auf Drucksache 12/4452 mit scheidet als stellvertretendes Mitglied aus der dem Titel „Zur Nötigung von Abgeordneten und Gemeinsamen Verfassungskommission aus. Die Frak-- Blockade der Verfassungsdiskussion" . tion der CDU/CSU schlägt als Nachfolgerin die Kolle- gin Dr. Renate Hellwig vor. Besteht damit Einver- Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort ständnis? — Auch dies ist der Fall. gewünscht? — Dies ist der Fall. Das Wort hat der Kollege Dr. Vogel. Ebenfalls aus der Gemeinsamen Verfassungskom- (Unruhe bei der CDU/CSU) mission scheiden die stellvertretenden Mitglieder Dr. Christoph Zöpel und Reinhard Weis (Stendal) aus. Als Nachfolger wurden auf Vorschlag der Fraktion der SPD die Abgeordneten Dorle Marx und Angelika Dr. Hans-Joachim Vogel (SPD): Barbe bestimmt. Sind Sie mit diesen Vorschlägen (Mit Beifall von der SPD und dem BÜND einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann sind, wie NIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt) vorgeschlagen, die Kolleginnen Dr. Renate Hellwig, Dorle Marx und Angelika Barbe als stellvertretende Es gibt offenbar eine gedämpfte Erwartung in Erinne- Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommis- rung an frühere Zeiten. sion bestimmt. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schon lange Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die her! — Dr. Joseph- [CDU/ verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die CSU]: Das waren noch Zeiten!) Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkte- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und liste aufgeführt: Herren! Gewisse Vorgänge und eine Reihe von 12276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Hans-Joachim Vogel Stellungnahmen vor, in und nach der Sitzung der siver Weise in Frage gestellt werden darf, wie das im Gemeinsamen Verfassungskommission vom 11. Fe- konkreten Fall geschehen ist. bruar 1993 haben erhebliche Aufmerksamkeit hervor- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ gerufen und eine öffentliche Debatte über die Verfas- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang sungsreform im allgemeinen und darüber ausgelöst, Weng [Gerlingen] [F.D.P.]) ob die Geschäftsführung einer Fraktion ein bestimm- tes Abstimmungsverhalten von Mitgliedern ihrer Beide Themen sind aktuell und gehen das Parla- Fraktion, von vom Bundestag gewählten Mitgliedern ment unmittelbar an. Dennoch haben Sie die von uns der Verfassungskommission, auch mit der Drohung geforderte Behandlung in der heutigen Sitzung abge- erzwingen darf, anderenfalls werde man die wider- lehnt. strebenden Mitglieder aus der Kommission entfer- (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Pfui!) nen. Namens meiner Fraktion beantrage ich, diese Fehl- (Unruhe bei der CDU/CSU — Zuruf von der entscheidung zu korrigieren und unseren Antrag auf SPD: Unerhört!) die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu neh- men. Wie ernst dieser Vorgang auch in Ihren eigenen Reihen genommen wurde, ergibt sich schon aus der (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Tatsache, daß eines der betroffenen Mitglieder, näm- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich der wegen seiner sachlichen Verhandlungsfüh- Meine Damen und Herren, dem Ansehen des Par- rung auch von uns geschätzte Mitvorsitzende der laments würde es gerade in einer Zeit, in der die Kommission, Herr Kollege Scholz, daraufhin erklärte, allgemeine Politikverdrossenheit auch das Parlament er werde wegen dieses Eingriffs seine Funktion ruhen erfaßt, lassen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie reden Auch der Umstand, daß die unter maßgebender sie doch herbei!) Mitwirkung vom Kollegen Scholz in monatelangen guttun, wenn sich das Parlament fähig zeigen würde, Bemühungen gemeinsam erarbeitete Staatszielfor- aus der Routine auszubrechen und aus aktuellem mulierung „Die natürlichen Lebensgrundlagen ste- Anlaß eine lebendige Diskussion zu führen. hen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und unter dem Schutz des Staates" die Zweidrittelmehr- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit auf Grund dieser Drohungen um zwei Stimmen verfehlte, ist zu Recht auf Unverständnis, ja auf Dann brauchten Sie das nicht mit akustisch schwer Befremden und Bestürzung gestoßen. verständlichen Zurufen zu machen, sondern könnten in Rede und Gegenrede die Themen erörtern. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb einen Außerdem — das ist Ihnen offenbar völlig entgan- Antrag eingebracht, der sich mit diesem Problem gen — entspricht dieses Verlangen dem, was die beschäftigt. Sie will dem Bundestag dadurch Gele- Geschäftsführung der Union schon vor zehn Tagen genheit geben, sich in öffentlicher Sitzung und öffent- öffentlich gefordert hat. Da heißt es nämlich in der licher Debatte über den Sinn und die Tragweite des in Ausgabe des CDU/CSU-Pressedienstes vom 24. Fe- Art. 5 des Einigungsvertrages erteilten Auftrags und bruar — ausnahmsweise empfehle ich Ihnen die darüber auseinanderzusetzen, ob es im Interesse der Lektüre — schon in der Überschrift: „Verfassungsde- deutschen Einigung nicht geradezu geboten ist, in die batte gehört ins Parlament." erneuerte Bundesverfassung die verfassungspoliti- schen Impulse aufzunehmen, die aus den neuen- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Bundesländern kommen DIE GRÜNEN) Weiter heißt es im Text: „Die Verfassungsdebatte muß (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und jetzt baldmöglichst dorthin verlagert werden, wo sie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des hingehört: in das Parlament." Da kann ich nur sagen: Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] Sehr wahr und sehr richtig! [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ und die dort mit breiter Mehrheit aller Parteien in den DIE GRÜNEN) Verfassungen der neuen Bundesländer ihren Nieder- Genau das, was Ihre Geschäftsführung fordert, näm- schlag gefunden haben, etwa die Aufnahme von lich Debatte im Parlament, kann sofort geschehen. Sie Staatszielbestimmungen, die Einführung einer unmit- müssen nur dem Aufsetzungsantrag zustimmen. telbaren Bürgerbeteiligung und vor allem auch die Zulässigkeit von Frauenförderungsmaßnahmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Tun Sie das nicht, dann werden Sie sich einmal mehr beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß Reden und Meine Fraktion will dadurch auch erreichen, daß Handeln bei Ihnen weit auseinanderklaffen. sich der Bundestag damit befaßt, ob die Entschei- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dungsfreiheit des einzelnen Abgeordneten in so mas beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12277

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat darauf den größten Wert gelegt, und das gilt auch der Kollege Dr. Friedrich-Adolf Jahn das Wort. heute noch. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans Jochen Vogel [SPD]: Unsinn! Doch nicht mit (Münster) (CDU/CSU): Dr. Friedrich-Adolf Jahn Drohung!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, Parlamentsdebatte fiber Deshalb verwahren wir uns dagegen, Grundgesetzänderungen ja, aber zur rechten Zeit. (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Sie wol (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der len ihn nur vom Ziel ablenken!) SPD) unseren Parlamentarischen Geschäftsführer Rüttgers An einem Tag, an dem zum Asylrecht Stellung in die Nähe der Nötigung zu rücken, wie das mit Ihrem genommen werden soll, wollen Sie von diesem wich- Antrag offensichtlich verfolgt wird. tigen Thema ablenken (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans SPD) Jochen Vogel [SPD]: Was sagt Herr Eyl mann? Scholz!) und wollen im Grunde nicht zulassen, daß wir hier die nötige Zeit bekommen. Herr Vogel, ebenso wie Sie nicht der Oberlehrer der Nation genannt werden möchten, Was Sie heute morgen machen, ist ein Stück aus dem Tollhaus. (Beifall bei der CDU/CSU — Heiterkeit bei (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der der SPD) SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Aus dem verwahren wir uns dagegen, daß Sie Herrn Rüttgers Schauspielhaus) als Oberkommandierenden der Verfassungskommis- Ist es schon Tollheit, Herr Vogel, so hat es doch sion bezeichnen. Methode. Sie stellen einen Antrag unter der Über- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — schrift „Nötigung von Abgeordneten" Lachen bei der SPD — Dr. Hans-Jochen (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: „Gegen"! — Vogel [SPD]: Ist er doch!) Heiterkeit bei der SPD und beim BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Natürlich kann man über manche Wortwahl auch unterschiedlicher Meinung sein. Wir sind eine offene — Ja, „gegen Nötigung von Abgeordneten und Blok- Fraktion. kade der Verfassungsdiskussion". Das ist Ihre Per- spektive, die Vogel-Perspektive. (Lachen bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans- Jochen Vogel [SPD]: Besser als die Frosch- — Ja, vielleicht im Gegensatz zu Ihnen. Da darf jeder perspektive!) seine Meinung sagen. Da darf man kontrovers disku- Die Vogel-Perspektive ist immer aus weiter Distanz. tieren. Da bekommt keiner den Maulkorb umge- Und alles, was Sie hier kritisiert haben, haben Sie hängt. nicht durch eigene Augenscheinnahme, sondern nur (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das ist doch vom Hörensagen. Ich war einer, der an diesen Dingen ein aufgelegter Schwindel! Die dürfen nicht teilhatte. einmal zur Sitzung gehen!) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: War der Wenn man unterschiedlicher Meinung ist, Scholz nicht dabei?) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wird man Deshalb möchte ich hier Dichtung und Wahrheit - unterschieden wissen. ausgeschlossen!) Ihr Vorwurf „gegen Nötigung" und Ihr Vorwurf dann geht man am Schluß wieder aufeinander zu. „Blockade" sind offensichtlich unbegründet. Wenn ich das so ausdrücken darf: Man versöhnt sich wieder. (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Lachen bei der SPD) Deshalb fehlt die Geschäftsgrundlage, hierüber zu Das unterscheidet Sie von der Haltung in unserer sprechen. Daher — das sage ich vorweg — werden wir Fraktion. Ihren Antrag ablehnen. Herr Vogel, wer zu spät kommt, den bestraft das (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wie ängst- Leben. lich!) Herr Vogel, Aufgabe aller Parlamentarischen (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ja, Sie!) Geschäftsführer ist es, für die Einheit der Fraktion Sie wissen, daß Herr Scholz bereits in dieser Woche Sorge zu tragen. erklärt hat, daß er hochmotiviert weiter in unserer (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Durch Dro- Kommission arbeitet. Ich möchte sagen, daß wir das hung?!) ausdrücklich begrüßen. Das ist in Ihren Reihen der Fall wie bei uns. Als Sie (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Vorsitzender Ihrer eigenen Fraktion waren, haben Sie neten der F.D.P.) 12278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Friedrich-Adolf Jahn (Münster) Herr Vogel, wir brauchen keine Belehrungen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Er hat 14 Sekun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — den weniger gehabt als Sie im Moment. Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Doch!) (Münster) (CDU/CSU): über die Unabhängigkeit und Freiheit des Abgeord- Dr. Friedrich-Adolf Jahn Danke schön. netenmandats. Die SPD ist ein schlechter Verlierer, (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Dringend brauchen Sie das!) (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD) Sie haben in Ihren Reihen genug zu tun. Ich zitiere nur von heute morgen: „Die SPD kämpft an vielen Fronten wenn sie heute das Abstimmungsergebnis in der — meist gegeneinander. Und jetzt drohen die Jusos Gemeinsamen Verfassungskommission hier zur Rede den Befürwortern des Asylkompromisses mit Gegen- stellen will. In dem Gedanken der Bewahrung der kandidaten in den Wahlkreisen." Das ist eine Auf- Schöpfung, Herr Vogel, sind wir einer Meinung. Wir gabe, die Sie zu erledigen haben. können dies in der Präambel berücksichtigen. Abschließend möchte ich sagen: Die Bevölkerung (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Das ist interessiert nicht der Druck auf Abgeordnete, den es Nötigung! — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Und Ihnen droht keiner!) nie gab, (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Auch der Vorwurf der Blockade in der Verfassungs- DIE GRÜNEN — Dr. Hans-Jochen Vogel diskussion, Herr Vogel, geht fehl. Wir lassen uns nicht [SPD]: Dann hat ein Mann gelogen!) in die Ecke der Verweigerer stellen, wenn Sie von Umweltschutz sprechen. sondern — schauen Sie heute in die Zeitungen — der Druck auf Engholm. Das ist der Punkt, der die Öffent- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Da steht lichkeit beschäftigt. ihr!) (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Es ist doch eigenartig: Wenn wir Ihren Antrag ableh- der SPD) nen, dann sind wir die Verweigerer, und Sie sind die Empörten. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Sie waren Jahn, jetzt ist aber wirklich Schluß. doch dafür!) Wenn wir Anträge stellen, und Sie lehnen sie ab, dann Dr. Friedrich-Adolf Jahn (Münster) (CDU/CSU): dürfen diese Kriterien in keiner Weise gelten. Hier Deshalb bitte ich darum, heute unvoreingenommen wird mit verschiedener Münze gehandelt. über das Asylrecht zu sprechen und über die anderen (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Was haben Fragen zu einem späteren Zeitpunkt. wir denn abgelehnt? Sie stellen ja gar kei- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU) nen!) Herr Vogel, wir haben in der 11. Wahlperiode einen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der Antrag zum Umweltschutz gestellt, mit dem anthro- Kollege Manfred Richter. pozentrischen Ansatz und mit dem Gesetzesvorbe- halt. Dann haben Sie als Fraktionsvorsitzender uns Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.): Frau Prä- geschrieben: Mit dem anthropozentrischen Ansatz sidentin! Meine Damen und Herren! Gerade Verfas- kann die SPD-Fraktion leben. Das gilt für Sie heute sungsänderungen brauchen ausreichend Gelegen- nicht mehr. Wir fragen: Warum nicht? heit zur gründlichen Beratung, um zu einem tragbaren Wir haben einen Kompromißvorschlag zur Abstim- Ergebnis zu kommen. Das schließt eine öffentliche mung gestellt. Den haben Sie abgelehnt. Dann spre- Diskussion durchaus ein. Ich möchte aber vor der chen Sie uns ab, daß wir empört sind, daß Sie unsere- Einseitigkeit dieser Diskussion warnen. Gerade bei Anträge ablehnen. Fragen der Verfassung muß es doch möglich sein, (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Sie wollten diese Fragen nicht auch noch in parteipolitisches selber zustimmen!) Sperrfeuer zu bringen. Mit anderen Worten: Nicht die Union, sondern Sie (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann haben die Entscheidungen blockiert. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] — Dr. Uwe Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Das haben wir (Lachen bei der SPD — Dr. Hans-Jochen ja versucht!) Vogel [SPD]: Sie wollten am Abend noch zustimmen!) Ich frage mich: Welche Qualität hätte wohl unser Grundgesetz gehabt, wenn die Beratungen im Parla- mentarischen Rat genauso von parteipolitischem Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Sperrfeuer begleitet gewesen wären? Das hätte der Jahn, wir haben Redebeiträge von fünf Minuten zur Verfassung nicht genutzt. Geschäftsordnung. Sie haben jetzt um eine halbe (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der Minute überzogen. Kommen Sie zum Ende. CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Friedrich-Adolf Jahn (Münster) (CDU/CSU): Das hätte ihr geschadet. Je mehr wir nach außen den Frau Präsidentin, darf ich wie mein Vorred- Eindruck erwecken, parteipolitische Kontroversen ner — — hier in die Verfassungsdebatte einführen zu wollen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12279

Manfred Richter (Bremerhaven) desto mehr schwindet die Akzeptanz der Bevölkerung erlangte 30 gegen 20 Stimmen. Das heißt, diese für das, was wir hier tun. Kommission hatte Positionen eingenommen, die sich (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der den Interessen der Menschen in Ost und West nähern CDU/CSU und der SPD) — leider nicht mit der erforderlichen Zweidrittelmehr- heit. Ihr Antrag, meine Damen und Herren, dient eben dem und nichts anderem. Er dient der parteipoliti- Beim Umweltschutz war die Sache dann am span- schen Sperrfeuerbegleitung einer Verfassungsdiskus- nendsten. Es wurden 41 Stimmen erreicht. Hier ist sion. heute schon dazu gesprochen worden, wie dieses (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Ergebnis erlangt wurde. Ein Hauptargument der Kri- Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Lächerlich!) tiker war, daß damit die Judikative gestärkt würde. Das Interessante war nun, daß, als es um den Zugang Er lenkt von den eigentlich kontroversen Fragen ab, zu Daten der vollziehenden Gewalt ging und es die ich in einer sachlichen Diskussion in der dafür 29 Stimmen dafür und 22 Stimmen dagegen gab, hier zuständigen Kommission geklärt haben möchte. das Argument kam, das Bundesverfassungsgericht Meine Damen und Herren, die dort angewendete habe das alles schon entschieden, warum solle dann Zweidrittelmehrheit ist ein Schutz für Minderheiten. noch der Verfassungsgesetzgeber tätig werden? Also: Das ist doch ein Mechanismus, der dazu dient, daß Je nachdem, wie man es braucht, werden Staatsziele niemand untergepflügt wird. abgelehnt. Es gibt auch noch ein technisches Argument gegen Ich darf die dahinterstehende Position an einem die Aufsetzung. Die SPD-Fraktion hat uns den endgül- Satz des bekannten Justizministers Sachsens, Heit tigen Antragstext nach Ablauf der Fraktionssitzungen mann, deutlich machen. Er hat gesagt, Verfassungen am Dienstag abend zugeleitet, so daß es überhaupt werden nicht gemacht, um die Rechtsentwicklung nicht mehr möglich war, darüber zu beraten. voranzutreiben — Sächsisches Verordnungsblatt (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das macht ihr 1/1993, Seite 2. Das ist eine direkte Ablehnung mit dem Solidarpakt alle Tage!) jeglicher verfassungsschöpferischen Tätigkeit. Dann Das ist ein Ablehnungsgrund, wenn auch nicht der brauchen wir überhaupt keine Debatte um eine neue einzige. Verfassung. Das gewichtigste Argument ist, daß wir verhindern Herr Geis hat am 1. März erklärt, daß es eine sollten, die Diskussion über die Verfassung, von der Schwächung des Parlaments sei, wenn wir jetzt noch eine Generation oder mehr in unserem Land Staatsziele festlegten. Er hat weiterhin erklärt — das leben sollen, in ein parteipolitisches Gezänk abgleiten ist eines seiner Lieblingsargumente —, in Österreich zu lassen. hätten an dem Volksbegehren nur 7,5 % teilgenom- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) men, das zeige das geringe Interesse. Diese geringe Teilnahme an dem Volksbegehren war ja ein Sieg der Kräfte gegen die Partei von Herrn Haider. Es ist also Aus diesem Grund wird die F.D.P.-Fraktion dem überhaupt kein Argument gegen die Wirksamkeit von Aufsetzungsantrag der SPD nicht zustimmen. Volksentscheiden. — Auch hier ist also alles abge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lehnt worden. Wie ist heute die Lage? Von den progressiven Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster grundsätzlichen Ansätzen ist nur noch die Formulie- spricht der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer. rung über die Gleichstellung der Frauen offen. Hier hatten wir einen Höhepunkt in der Verfassungskom- mission. Es gab eine sehr erfreuliche Anhörung, 25mal Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- wurde Beifall geklatscht. Aber auch hier habe ich die dentin! Meine Damen und Herren! Herr Richter hat- große Befürchtung, es wird nicht zugestimmt. uns eben darauf aufmerksam gemacht, wie schön es doch im Parlamentarischen Rat gewesen sei. Wie Sie Wir werden jetzt folgende Situation haben: Wir wissen, war der Parlamentarische Rat tatsächlich der werden in der neuen Verfassung einige grundsätzli- faktische Gesetzgeber. Damit hatte er eine prinzipiell che Änderungen zur Außenpolitik haben, die ich zu andere Stellung. Es rächt sich jetzt, daß wir keine einem wesentlichen Teil mißbilligen muß — es han- verfassungsgebende Versammlung beschlossen ha- delt sich um die Aushöhlung des Asyls und um die ben, sondern nur eine Verfassungskommission. Zwar Erweiterung der Truppeneinsatzmöglichkeiten —; hat sich die Verfassungskommission bemüht, ein wir werden einige zum Teil sicher sinnvolle Verbes- eigenes Klima zu schaffen. Aber dieses Klima ist serungen am parlamentarischen System haben; aber offensichtlich am 11. Februar gestört worden. Die in den grundsätzlichen Fragen der weiteren Demo- Absicht der Verfassungskommission eigenständig an kratisierung wird sich nichts tun. einem positiven Ergebnis zu arbeiten, konnte nicht Es wird in diesem Hause sehr viel über Parteiver- durchgesetzt werden. drossenheit, über Politikverdrossenheit gesprochen, Am 11. Februar ist nicht nur der Umweltschutz aber es gibt auf der rechten Seite dieses Hauses nicht abgelehnt worden. Dort war auch der Antrag gestellt einmal ein Nachdenken darüber, ob hier etwas worden, daß der Staat zur Schaffung und Erhaltung geschehen müßte. Als Herr Ullmann fragte, ob nicht von Arbeitsplätzen beitragen soll. Dieser Antrag die Rolle des Volkes am Ende der DDR mehr Ver- erhielt 32 gegen 21 Stimmen. Es ist ein System der trauen zum Volk heute bedeuten könnte, wurde ihm sozialen Sicherheit gefordert worden. Dieser Antrag bedeutet: Das galt dort, aber nicht hier. Herr Heit- 12280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Uwe-Jens Heuer mann hat erklärt, wir haben eine stabile Verfassung der die Aufgaben festlegt. Ich will für die Sitzung und einen stabilen Staat, die es nicht nötig haben, um heute abend wissen: Auf welcher Geschäftsgrundlage Akzeptanz bei der Bevölkerung zu werben. — „Die verhandelt die CDU/CSU-Fraktion eigentlich? Zukunft des Grundgesetzes", CDU/CSU-Fraktion im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundestag, Seite 28. Ich meine, daß die Sieger der Ansicht sind, sie hätten es nicht nötig zu lernen. Sieger Die nächste Frage. Sie haben gesagt, die Kommis- sind oft nicht lernfähig. Meine Sorge besteht darin, sion habe lediglich eine „Materialsammlung" zusam- daß wir zwar eine neue Außenpolitik, ein mächtiges menzustellen. Was soll denn das in aller Welt heißen? Deutschland, aber keine Veränderung des Verständ- Wozu sitzen wir stundenlang in Berichterstatterge- nisses der Beziehung von Volk und Staat haben sprächen, wenn es im Einsetzungsbeschluß heißt, werden. diese Kommission habe Grundlagen — Grundlagen, Herr Rüttgers! — für Beschlüsse zu schaffen, die wir Meine Damen und Herren, gerade meine Damen — natürlich mit Ihnen zusammen — in diesem Hause und Herren auf der reichbesetzten rechten Seite des zu fassen haben. Hauses, denken Sie in historischen Dimensionen, seien Sie zu einer wirklichen Weiterentwicklung des Ich denke, schließlich und endlich muß es im Grundgesetzes bereit, die Konsens neu schafft! Herr Interesse der CDU/CSU-Fraktion sein, daß sie der Jahn hat eben gesagt, die SPD sei der Verlierer. Wenn deutschen Öffentlichkeit eine Antwort darauf gibt, ob Sie so entscheiden, wenn diese Verfassung so wenig sie überhaupt ehrlichen Herzens an der Verfassungs- Positives enthält, ist der Verlierer nicht die SPD, debatte beteiligt ist sondern das deutsche Volk. (Beifall des Abg. [Wies Ich danke. loch] [SPD]) ober ob sie nur zu demonst (Beifall bei der PDS/Linke Liste) rieren gedenkt: Wenn wir die Verfassungsdebatte schon nicht verhindern konn- ten, dann wollen wir sie doch so lahm wie möglich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat legen, der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder, was mir in jener schlimmen Sitzung am 11. Fe- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! bruar ein Kollege der CDU/CSU-Fraktion triumphie- Ich unterstützte den Aufsetzungsantrag der SPD, nicht rend zugerufen hat: Wir wollten ja immer, daß hierbei weil ich, Herr Kollege Jahn, im mindesten die Absicht nichts herauskommt. — Kann das die Absicht sein? Ich hätte, Sie zu belehren — wie sollte ich das? —, sondern denke doch nicht. Ich hoffe, die CDU/CSU-Fraktion weil ich Fragen stellen muß, Fragen, deren Beantwor- stellt das baldmöglichst klar. tung meines Erachtens auch im Interesse Ihrer Frak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion liegt. und der SPD) (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- loch] [SPD]) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir kommen nun Der Verlauf der Sitzung am 11. Februar war so zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsan- skandalös, daß man sich als Teilnehmer dieser Veran- trag der Fraktion der SPD? — Gegenstimmen? — staltung nur schämen konnte. Stimmenthaltungen? — Damit ist der Aufsetzungsan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trag mit knapper Mehrheit abgelehnt. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat angekündigt, daß Darum frage ich die CDU/CSU-Fraktion: Was hat sie sie die Absetzung der Gesetzentwürfe zum Asylrecht sich dabei gedacht, als sie in dieser wichtigen Abstim- von der heutigen Tagesordnung beantragen will. mungssitzung als Sperrminorität alle Abstimmungen - Wird dazu das Wort gewünscht? — Das Wort zur blockiert hat? Es ging nicht nur um den Ökologie Geschäftsordnung hat die Kollegin Frau Andrea Lede- Artikel, Herr Jahn. Die deutsche Öffentlichkeit will rer. wissen, ob die CDU/CSU willens ist, den Auftrag, die Frage der Staatsziele zu überlegen, zu verhindern. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nur zur Geschäftsordnung!) Nachdem das passiert war, hat Fraktionsgeschäfts- führer Rüttgers den Vorgang so kommentiert, daß sich abermals Fragen stellen. Er hat gesagt, die Kommis- Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- sion habe eine „Eigendynamik entwickelt." Was soll tin! Meine Damen und Herren! Namens der Gruppe denn das heißen, Herr Rüttgers? PDS/Linke Liste beantrage ich die Absetzung des (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Unerhört! Tagesordnungspunktes 4 der sogenannten Asylfolge- Dynamik entwickeln, das paßt dem Kom- gesetze. mandanten nicht!) Zwei Argumente zur Begründung. Wir haben Sie muß das ja. gestern ca. 150 Seiten auf den Tisch des Hauses bekommen. Nach § 78 Abs. 5 der Geschäftsordnung (Beifall bei der SPD) kann eine Beratung frühestens drei Tage nach Vertei- Es gibt einen Einsetzungsbeschluß vom 28. und lung der Drucksachen stattfinden. Erneut — den 29. November 1991, der festlegt, daß diese Kommis- letzten Fall gab es in der letzten Sitzungswoche — sion aus Mitgliedern des Bundesrates und des Bun- wurde gegen diese Regelung verstoßen. Es gibt nur destages — nicht nur des Bundestages — besteht, und eine einzige Möglichkeit für eine Ausnahme von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12281

Andrea Lederer dieser Frist, und das ist der sogenannte Gesetzge- Nach wie vor gilt Art. 16 Abs. 2 Satz 2: Politisch bungsnotstand und dringliche Gesetzentwürfe der Verfolgte genießen Asylrecht. Bundesregierung. Jetzt könnte man annehmen, daß Dieses Individualrecht soll ausgehöhlt werden. Sie, meine Damen und Herren, hier eine analoge Aber es ist nach wie vor gültig. Es kann nicht angehen, Anwendung vorschlagen, erstens die Dringlichkeit daß die Bundesregierung, daß die Koalitionsparteien einfach behaupten und zweitens entsprechend dem und mit ihnen leider auch die SPD den Bundestag und schon verkündeten Staatsnotstand einen Gesetzge- die Ausschüsse über Wochen mit offenkundig verfas- bungsnotstand ausrufen wollen. Wir wissen genau, sungswidrigen Gesetzentwürfen beschäftigen. daß dies mit zu den Methoden in dieser Debatte (Unruhe) gehört. Wir wissen aber auch genau, daß dies natür- lich nicht zutrifft. Zunächst muß die Diskussion um die Frage des Art. 16 geführt und zu Ende geführt werden. Nach wie Der Kontext ist nämlich ein anderer. Seit Wochen vor ist die Entscheidung darüber, ob es zu einer werden diese Gesetzentwürfe zwischen den großen solchen Änderung kommt, offen. Bevor diese Fragen Fraktionen beraten. nicht ausreichend diskutiert, ausreichend beraten und (Unruhe) vor allem die Betroffenen und Fachleute angehört Sie werden all denjenigen schlicht vorenthalten, die sind, können nicht einfache Gesetze eingebracht mit einer anderen Auffassung in diese Debatte hinein- werden, die offenkundig im Widerspruch zum gelten- gehen, vorenthalten deshalb, um im Vorfeld sozusa- den Grundgesetz stehen. gen die Zustimmung abzusichern. Das ist ein Vorge- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie haben hen, das nicht nur — — aber viel Ahnung vom Parlament!) Deshalb stellen wir den Antrag auf Absetzung dieser beiden Punkte von der heutigen Tagesord- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin, nung. einen Moment! — Meine Damen und Herren, ich darf (Beifall bei der PDS/Linke Liste) darum bitten, daß hier ein bißchen mehr Ruhe herrscht. Wir haben heute auch in diesem Raum, glaube ich, ein paar akustische Probleme. Es scheint Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der etwas schwer zu verstehen zu sein. Vielleicht kann Kollege Dr. Jürgen Rüttgers. man versuchen, den Regler etwas höher zu stellen. Sie, meine Damen und Herren, bitte ich, ein bißchen Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ruhiger zu sein und Platz zu nehmen oder Ihre Werte Kolleginnen und Kollegen! Was wir gerade Unterhaltungen vor dem Saal zu führen. — Herzlichen erlebt haben, ist ein weiterer Schritt in einer langen Dank. Reihe von Verhinderungs- und Verzögerungsversu- Frau Kollegin, Sie haben wieder das Wort. chen gegenüber dem Ziel, zu einer sachgerechten Regelung der Zuwanderung von Asylanten zu kom- men. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Ich danke Ihnen, Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird diesen An- Frau Präsidentin. — Es liegt vor allem an dem Desin- trag ablehnen. Die Neuordnung des Asylrechts, meine teresse in diesem Raum an diesen Fragen, glaube ich, Damen und Herren, ist überfällig. aber das ist nun leider sozusagen charakteristisch für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge das Herangehen an diese Probleme. ordneten der F.D.P.) Ich komme auf meine letzten Ausführungen zurück. Die Entscheidung ist überreif. Weitere Verzögerun- Es geht darum, daß die Abgeordneten, die mit einer gen darf es nicht geben. Der Handlungsdruck ist anderen Auffassung in diese Debatte hineingehen, ungebrochen groß, und nach wie vor steigen die schlichtweg in ihren Rechten als Abgeordnete ausge-- Asylbewerberzahlen: fast 32 000 im Dezember ver- schaltet werden sollen. Wir werden prüfen — das gangenen Jahres, mehr als 36 000 im Januar, mehr als kündige ich hiermit bereits an —, inwieweit das 38 000 im Februar. Meine Damen und Herren, dieses überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist. Parlament hat die Pflicht, den gefundenen Asylkom- Diesem unhaltbaren Zustand, daß wir Gesetzent- promiß jetzt in Gesetzesform zu gießen. würfe, die in diesem Land gravierende Veränderun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gen herbeiführen werden, einen Tag vorher auf den ordneten der F.D.P.) Tisch bekommen, muß endgültig ein Ende bereitet Ich finde es schon sehr bemerkenswert, daß kein werden, insbesondere angesichts der Tatsache, daß Argument zu dumm ist, hier vorgetragen zu werden, wir hier wirklich eine absolut dramatische Verände- um eine Verhinderung zu versuchen. Frau Kollegin rung der Rechtspolitik in diesem Lande vor uns Lederer, es war wirklich dümmlich, hier vorzutragen, sehen. daß diese Gesetzentwürfe nicht in erster Lesung Ich komme damit zu unserem zweiten Argument. — man höre: in erster Lesung — beraten werden Die Absetzung muß auch deshalb erfolgen, weil die könnten, bloß weil wir gleichzeitig bereits die Grund- Regierungskoalition einen Gesetzentwurf vorgelegt gesetzänderung in den Ausschüssen gemeinsam zu hat, der offenkundig im Widerspruch zur geltenden vereinbaren versuchen. Verfassungslage steht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ich Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die hat denke, Sie kennen ihn nicht!) keine Ahnung vom Parlament!) 12282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Jürgen Rüttgers Wir lehnen den Antrag ab. Wir halten es für erfor- Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. derlich, dieses Gesetzgebungsverfahren jetzt schnell (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu Ende zu bringen. der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Was sagen Sie denn zur Geschäftsordnung?) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Wir glauben, daß wir in der folgenden dreistündigen das Wort der Kollege Manfred Richter. Debatte Gelegenheit haben, noch einmal alle Argu- mente auszutauschen, um dann in den Ausschüssen Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.): Frau Prä- die endgültigen Gesetzestexte zu erarbeiten und noch sidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin vor der Sommerpause sowohl die Grundgesetzände- Lederer sprach von offenkundig verfassungswidrigen rung als auch die Asylbegleitgesetze sowie auch Texten, die in die Ausschüsse gelangen würden. Ich gleichzeitig die Veränderung des Bundessozialhilfe- will hier ganz klar sagen: Es ist nicht an Debattenred- gesetzes hier zu beschließen. nern im Deutschen Bundestag, schon gar nicht an Frau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Lederer (PDS), festzustellen, was verfassungskonform ordneten der F.D.P.) und was verfassungswidrig ist. Das wird durch Gerichte festgestellt, durch das Bundesverfassungs- gericht. Was wir hier an Gesetzgebung machen, stellt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der sich der Überprüfung durch Gerichte. Wir stellen uns Kollege Dr. Peter Struck. dieser Überprüfung; denn die Gesetzgebungsarbeit ist ordentlich. Was hier vorgeführt wird, ist ein Spiel auf Zeitge- Dr. Peter Struck (SPD): Frau Präsidentin! Meine winn. Diejenigen, die dieses Spiel auf Zeitgewinn Damen und Herren! Jedermann in unserem Lande betreiben, müssen wissen, daß sie sich auch an den konnte nachvollziehen Menschen versündigen, die auf Rechtssicherheit war- (Zurufe von der F.D.P.: Frau! — Jede ten. Frau!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — auch jede Frau, natürlich —, sowie des Abg. Dr. Hans de With [SPD]) Die Diskussion über dieses Thema ist über viele (Zuruf von der F.D.P.: Jeder Mensch!) Monate kontrovers geführt worden. Die Argumente wie schwer sich die Sozialdemokraten mit diesem sind ausgetauscht, die Positionen bekannt. Diese Asylpaket tun. Das wird ja auch in den Debatten im Vorlage ist wahrhaftig reif für die erste Lesung. In Deutschen Bundestag nach wie vor deutlich, weil wir einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren wird im Gegensatz zur Fraktion der CDU/CSU auch denje- mit der gebührenden Sorgfalt dann die Detailarbeit zu nigen, die mit aus ihrer Sicht vernünftigen Gründen leisten sein, damit endlich ein drängendes Problem diesem Asylkompromiß nicht folgen wollen, Gelegen- gelöst werden kann. Unsere Bürger haben einen heit geben, hier zu reden. Anspruch darauf. Ich muß sagen, Herr Kollege Rüttgers: Ihre Qualifi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zierung des Beitrags der Kollegin Lederer ist unange- messen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir kommen zur (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Abstimmung. Wer stimmt für den Absetzungsantrag Liste) der Gruppe PDS/Linke Liste? — Gegenstimmen? — Man redet über eine Kollegin und deren Argumente Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Absetzungs- nicht mit dem Adjektiv „dümmlich". antrag abgelehnt. (Zuruf von der CDU/CSU: Also halten Sie es Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: mit der PDS?) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Trotzdem muß ich für meine Fraktion erklären, daß CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Ent- auch wir diesem Antrag nicht zustimmen werden. Es wurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfah- ist in der Tat wichtig, daß wir heute in erster Lesung rens-, ausländer- und staatsangehörigkeits- die Asylbegleitgesetze beraten können. Denn was soll rechtlicher Vorschriften eigentlich Grundlage für die Beratungen im Innen- ausschuß und vor allem für die Beratungen in der — Drucksache 12/4450 Gemeinsamen Verfassungskommission sowie auch —Überweisungsvorschlag: für die Anhörung der Experten sein, wenn wir nicht Innenausschuß (federführend) hier einen Text verabschieden? Rechtsausschuß Insofern ist der Antrag der PDS/Linke Liste in der b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Tat nur ein taktischer Antrag. Wer diesen Asylkom- CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs promiß nicht mittragen will — es gibt j a eine Reihe von eines Gesetzes zur Neuregelung der Leistun- Abgeordneten, von denen wir wissen, daß sie ihn nicht gen an Asylbewerber mittragen wollen —, der soll ihn nicht über Geschäfts- — Drucksache 12/4451 ordnungsmaßnahmen zu verhindern versuchen; der —Überweisungsvorschlag: soll das in der Debatte hier erklären und dann auch in Ausschuß für Familie und Senioren (federführend) der zweiten und dritten Lesung entsprechend seinen Innenausschuß Überzeugungen abstimmen können. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12283

Vizepräsidentin Renate Schmidt Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für F.D.P. und SPD abgestimmt, und weitestgehend diese gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgese- haben wir Einvernehmen erzielen können. Wir, die hen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Union, und sicherlich auch die F.D.P. haben so weit Fall. Dann ist das so beschlossen. wie in der Sache vertretbar Rücksicht auf die SPD- Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Fraktion genommen, nicht zuletzt bei dem heutigen Kollege Erwin Marschewski. Termin zur ersten Lesung. Wir haben dies getan, um den problembewußten Politikern in den Reihen der SPD die Möglichkeit zu geben, die innerparteilichen Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kräfte, die einer Änderung des Asylrechts ablehnend Meine Damen und Herren! Kaum ein innenpolitisches gegenüberstanden, von der zwingenden Notwendig- Thema zeigt deutlicher als die Asyldebatte, daß keit einer Änderung der Asylrechtsbestimmungen zu Pavese recht hatte, als er bekanntermaßen formu- überzeugen. lierte: Politik ist die Kunst des Möglichen. Ich habe als Verhandlungsführer Verständnis für Blicken wir auf unser Asylverfahrensrecht zurück, die Situation der SPD-Kollegen gehabt. Ich habe so stellen wir fest, daß es permanent Änderungen — ungeachtet abweichender Auffassungen bei eini- unterlag, alle mit dem Ziel der Beschleunigung der gen Detailregelungen — ihr ernsthaftes Bemühen Aber dieses Ziel, meine Damen und Asylverfahren. erkannt, den Asylkompromiß vom 6. Dezember vori Herren, ist niemals erreicht worden. Warum? Die gen Jahres ehrlich umzusetzen. Jetzt gilt es, die Gott nahezu unscheinbare Verfassungsaussage in Art. 16 sei Dank wenigen offenen Punkte in den Beratungen „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" hat durch zu klären und im übrigen das baldige Inkrafttreten des höchstrichterliche Rechtsprechung eine Bedeutung neuen Asylrechts sicherzustellen. erlangt, die nicht dem entsprach, was sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes damals darunter vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gestellt hatten. Jeder Ausländer, der sich auf politi- sche Verfolgung auch nur beruft, gleichgültig, ob Sie wissen, meine Damen und Herren, das Asylver- diese tatsächlich vorliegt oder nicht, meine Damen fahrensrecht knüpft an den neuen Art. 16 a des Grund- und Herren, hat das Recht auf Einreise und Aufenthalt gesetzes, den wir bereits im Januar eingebracht in der Bundesrepublik Deutschland und auf langfri- haben, an. Dies gilt zunächst einmal für die Asylan- stige Prüfung seines Vorbringens, auch wenn es völlig träge von Ausländern aus sicheren Herkunftsstaaten. aussichtslos ist. Dafür wollen wir verkürzte Verfahren einführen. Es All denen, ich meine insbesondere die SPD-Kolle- gilt weiterhin für Asylanträge von Ausländern, die gen, die nicht bewußt die Augen davor verschließen, über sichere Drittstaaten einreisen. Das heißt, wenn ist deutlich, daß dies zur Krise des Asylverfahrens Ausländer aus diesen Staaten zu uns kommen, kön- geführt hat. Denn zunehmend haben sich Ausländer nen sie sich nicht auf das Asylgrundrecht berufen. Es unter mißbräuchlicher Berufung auf die politische gilt vor allen Dingen, meine Damen und Herren, für Verfolgung den Beschränkungen für die Zuwande- die europäischen Asylrechtsregelungen, an denen wir rung nicht unterzogen. Die Zahlen sind eindeutig. Im zum ersten Mal gleichberechtigt teilhaben können. Februar kamen mehr als 38 000 Asylbewerber nach Meine Damen und Herren, vier Bausteine sind für Deutschland. Die Anerkennungsquote war so niedrig den Entwurf des neuen Asylverfahrensrechts wesent- wie niemals zuvor: 1,6 % der rund 35 000 Anträge sind lich. Der erste Baustein sind Regelungen, die zum anerkannt worden. Ausschluß aus dem Asylverfahren führen. Das gilt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) grundsätzlich für Ausländer, die aus einem sicheren Der einfache Gesetzgeber, d. h. die parlamentari- Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland einrei- sche Mehrheit von Union und F.D.P., hatte nach der sen. Sie werden unabhängig von Rechtsmitteln des- Verfassungslage keine Möglichkeit, diesen Miß- wegen abgeschoben, weil sie ja bereits Schutz vor brauch zu verhindern. - politischer Verfolgung gefunden haben . Nicht diese Regierung, meine Damen und Herren, Den zweiten Baustein bilden Verfahrensverkür- nicht die von ihr gemachte Politik haben versagt. zungen. Für Ausländer, die aus sicheren Herkunfts- Vielmehr war uns das Notwendige nicht möglich: die ländern kommen, gilt die Vermutung, daß sie nicht Verfassung zu ändern, wozu wir die Zweidrittelmehr- politisch verfolgt sind. Wenn sie nicht Tatsachen und heit brauchen, also auch die SPD. Beweismittel angeben, aus denen sich Gegenteiliges (Beifall bei der CDU/CSU) ergibt, wird ihr Antrag als offensichtlich unbegründet Heute stehen wir vor einer völlig neuen Situation. abgelehnt. Gleiches gilt für Ausländer, die gröblich Nach dem Parteienkompromiß zum Asyl vom 6. De- ihre Mitwirkungspflichten verletzen. Ich meine, wer zember 1992 konnten wir Ende Januar dieses Jahres hier Schutz sucht, von dem muß verlangt werden, daß den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asyl- er einem Minimum an Mitwirkungspflichten nach- grundrechts in erster Lesung hier beraten, und jetzt kommt. beraten wir die notwendigen Begleitgesetze, neben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dem Asylverfahrensrecht auch das Asylbewerberlei- stungsgesetz und vor allen Dingen auch zum Teil das Dies gilt natürlich auch für die Offenbarung, aus Staatsangehörigkeitsrecht. welchem Drittland man kommt. Es ist doch zumutbar, Der vorliegende Entwurf zum Asylverfahrensrecht sagen zu müssen, woher und über welches Transit- wurde in mehrtägigen Verhandlungen zwischen den land man in die Bundesrepublik Deutschland einge- Verhandlungsführern der Fraktionen von Union, reist ist. 12284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Erwin Marschewski Der dritte Baustein sind Maßnahmen zur Verhütung wollen nicht zulassen, daß Deutschland durch ein von Mißbrauchsfällen. Wir haben das Datensystem Überangebot von Flüchtlingen destabilisiert AFIS bereits eingeführt. Sie wissen auch, daß sehr oft wird, wir müssen Deutschland vor Wirrwarr Asylbewerber bedauerlicherweise mehrfach Sozial- schützen. hilfe bekommen, und das muß verhindert werden. Wir Meine Damen und Herren, der polnische Präsident wollen weitere Mißbrauchsfälle ausschalten. hat offensichtlich mehr als andere erkannt, worum es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geht. „Wir müssen Deutschland vor Wirrwarr schüt- zen" , sagte der polnische Präsident. Als vierten Baustein nenne ich die „Europafähig- keit" unseres Asylrechts. Wir können — und das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erfreulich — das erste Mal an europäischen Vereinba- Er sagte weiter: „Wir dürfen aber auch nicht zulas- rungen über die Zuständigkeit für Asylverfahren sen, daß ... Polen destabilisiert wird". Ich habe dieser vorbehaltlos und gleichberechtigt teilnehmen. Damit Bemerkung des Präsidenten nichts hinzuzufügen. ist insbesondere die volle Umsetzung des Schengener Aber, meine Damen und Herren, ein Junktim zwi- Abkommens gewährleistet. Dieses Schengener Ab- schen Vereinbarungen mit Polen und dem Asylkom- kommen stellt genau so wie unser Asylverfahrens- promiß oder zwischen Vereinbarungen mit der Tsche- recht sicher, daß politisch Verfolgte wirklich Schutz in chischen Republik und dem Asylkompromiß haben Deutschland finden. wir nicht beschlossen. Ich stelle dies noch einmal Deswegen, meine Damen und Herren, ist eine ausdrücklich fest. Anzeige falsch, in der behauptet wird, der Bonner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Asylkompromiß führe in die Irre. Es ist falsch, wenn Ich stelle ein weiteres fest: Ich bedanke mich bei dort steht, daß der Schutz der Menschen nicht Bundesinnenminister Rudolf Seiters, insbesondere gewährleistet sei, die um Leib und Leben fürchten auch bei seinem Staatssekretär Dr. Vöcking, daß sie es müssen. Deswegen haben diejenigen unrecht, die — vielleicht sogar wider Erwarten — erreicht haben, dies unterschrieben haben: Herr Engelmann, Herr daß wir mit Polen zurandekommen, daß die Polen Giordano, Herr Günter Gaus, Herr Walter Jens, Herr erkennen, daß wir Probleme haben, daß sie aber auch Detlev von Larcher, Herr F riedrich Schorlemmer und andere. erkennen, daß wir unserem Nachbarn helfen wollen. Gleiches wird sicherlich auch bezüglich der Tschechi- Nicht der Bonner Asylkompromiß führt in die Irre, schen Republik und anderer Länder der Fall sein. sondern solche Anzeigen führen in die Irre, weil sie die Herzlichen Dank, Herr Bundesinnenminister. Unwahrheit sagen, meine Damen und Herren, und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weil sie junge Menschen auf den falschen Weg führen. Meine Damen und Herren, ein Wort zu den sicheren Drittstaaten. Nach dem Entwurf gehören neben der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Schweiz und Österreich auch Polen und die Tschechi- Ich sage noch einmal: Politisch Verfolgte genießen in sche Republik zu den sicheren Drittstaaten, also zu diesem Land wie bisher Asylrecht. den Staaten, die politischen Flüchtlingen entspre- chend den völkerrechtlichen Abkommen Schutz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gewähren. Beide sollen neben Bulgarien und Rumä- Nicht mehr geben wird es allerdings den Anspruch nien sowie der Slowakischen Republik in die Liste auf Schutzgewährung in einem bestimmten Land, sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen werden, z. B. in der Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr also in die Liste der Länder, die ihre eigenen Staats- können nach dem neuen Recht die durch den Asylbe- angehörigen und andere nicht verfolgen. Wir werden, werberzustrom entstehenden Lasten europäisch ver- so meine ich — die Bitte geht auch an Sie, meine teilt werden. Wir wollen keine Besserstellung Damen und Herren von der SPD-Fraktion —, weiter Deutschlands, wir wollen nur eine Gleichstellung mit prüfen müssen, ob wir diese Liste erweitern kön- unseren europäischen Partnern. Dabei ist klar, meine nen. Damen und Herren, daß wir unsere östlichen Nach- Pressemeldungen zu diesem Bereich haben in der barn, die jungen, neuen Demokratien in Polen, in der Vergangenheit nicht gerade zur Beruhigung beigetra- Tschechischen Republik nicht im Stich lassen werden. gen. Lassen Sie mich deswegen drei Punkte klarstel- Das ist für uns doch selbstverständlich. len. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Erstens. Das Gesetz wird weder eine „globale", vollständige Aufzählung der sicheren Drittstaaten Aber wir können diese Staaten nicht auf Dauer aus vornehmen, noch wird es global alle verfolgungs- ihrer Pflicht entlassen. Wer sich der Europäischen sicheren Herkunftsländer benennen. Dies ist, so Gemeinschaft nähert, der muß bereit sein, auch Pro- meine ich, nicht Aufgabe des deutschen Gesetzge- bleme im Rahmen seiner Möglichkeiten lösen zu bers. helfen. Zweitens. Die Einbeziehung bestimmter Länder in Deshalb begrüße ich die neulich gemachte Äuße- die Listen setzt eine umfassende Prüfung der dortigen rung des polnischen Präsidenten Walesa. Er hat fol- Situation voraus. Dabei ist es richtig, daß wir uns gendes gesagt: Erkenntnisse z. B. des Hohen Flüchtlingskommissars Wir oder der Menschenrechtsorganisation Amnesty Inter- national zu eigen machen. Ich meine, dies ist selbst- — er meinte die Polen — verständlich. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12285

Erwin Marschewski Drittens. Nach den bisherigen Ergebnissen der den uns bei Gelegenheit den gesamten Bereich anse- Prüfung halten wir es für richtig, in die Liste der hen und sicherlich vernünftig regeln. Ich weiß sicheren Herkunftsstaaten auch Ghana und Indien genauso wie Sie, daß das Staatsangehörigkeitsrecht sowie gegebenenfalls Gambia und Senegal aufzuneh- aus dem Jahre 1913 stammt. men. Bei der Liste der sicheren Drittländer halten wir (Zurufe von der SPD) die Einbeziehung auch der skandinavischen Länder, — Es gibt auch gute Gesetze aus dieser Zeit; ich denke der Slowakischen Republik und Ungarns deswegen z. B. an das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre für angezeigt, weil dort eben keine politische Verfol- 1900. gung herrscht und viele über diese Länder unbegrün- det in die Bundesrepublik Deutschland kommen. Meine Damen und Herren, das permanente Nach- schieben von neuen Wünschen dient nicht der Sache. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dies gilt — ich sage das ausdrücklich — für die immer Richtig ist, daß auch auf dem Luft- und dem Seeweg undifferenzierter erhobene Forderung nach generel- aus Nichtanrainerstaaten Asylbewerber zu uns kom- ler Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit. men, die bereits im Transitland Schutz vor Verfolgung (Beifall bei der CDU/CSU) gefunden haben. Das sollte uns, so meine ich, jedoch Minister Stoiber, meine Damen und Herren, hat das nicht Veranlassung geben, die Liste sicherer Drittstaa- Problem plastisch so dargestellt: „Wo soll ein Kroate ten aufzublähen. mit deutscher Staatsangehörigkeit seinen Wehrdienst Deswegen erscheint es mir sinnvoller, für Asylbe- ableisten?" Er sagte weiter: „Nicht abzusehen wären werber, die aus sicheren Herkunftsstaaten auf dem z. B. auch die außenpolitischen Konsequenzen für Luftweg zu uns kommen, dort, wo dies möglich ist, Deutschland, wenn im ehemaligen Jugoslawien deut- eine Unterbringung auf dem Flughafen vorzusehen, sche Kroaten und deutsche Bosnier gegen deutsche so daß ihr Antrag vor der Einreise geprüft werden Serben kämpften. " kann. Das hat den Vorzug, daß diese Personen — un- Deswegen, meine Damen und Herren, stelle ich in abhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ohne Übereinstimmung mit Minister Stoiber fest: „Die besondere bilaterale Vereinbarungen — in das Land Staatsangehörigkeit ist das Bekenntnis der Zugehö- des Abflughafens zurückgeführt werden könnten, rigkeit zu einer Nation." falls ihnen ausnahmsweise nicht doch Asyl zu gewäh- ren ist. Es geht, um dies klar zu sagen, nur um sichere (Beifall bei der CDU/CSU) Drittstaaten, um Nichtverfolgerstaaten. Meine Damen Ist, meine Damen und Herren, diese Feststellung und Herren, Sie wissen, daß in den Niederlanden eine denn wirklich eine Besonderheit? ähnliche Regelung besteht. Die Niederlande sind doch wahrhaftig ein demokratischer Staat, in dem Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zwischen- man sich sicherlich bemüht hat, auch die Asylfrage frage des Kollegen Wiefelspütz, danach eine Zwi- vernünftig zu regeln. schenfrage des Kollegen Hirsch. Sie lassen beide zu? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- — Bitte, Herr Wiefelspütz. ordneten der F.D.P.) Der Ihnen vorliegende Entwurf für ein Gesetz zur Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Kollege Mar- Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsan- schewski, meinen Sie nicht wie ich, daß es dringend gehörigkeitsrechtlicher Vorschriften befaßt sich — der erforderlich ist und Sinn macht, das deutsche Staats- Name sagt es ja — nicht allein mit asylrechtlichen bürgerschafts-, das deutsche Einbürgerungsrecht Bestimmungen. Im Geiste der am 6. Dezember des durchaus auch im Interesse der deutschen Gesell- vergangenen Jahres getroffenen Vereinbarungen schaft den gewandelten Verhältnissen in Deutschland werden vielmehr alle damals als regelungsbedürftig anzupassen? Glauben Sie nicht, daß es einfach ein anerkannten Elemente berücksichtigt. Wir wollen die Gebot der Vernunft ist, hier endlich zu handeln? Situation der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge gesetzlich regeln. Ich finde es gut, daß dieses Land Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ich bedanke mich wegen der Not der Menschen im ehemaligen Jugosla- herzlich, Herr Kollege Wiefelspütz, für diese Frage. wien so viele Bürgerkriegsflüchtlinge von do rt aufge- Ein Gebot der Vernunft ist es natürlich auch, Gesetze nommen hat, sehr viel mehr als andere Länder. Wir zu lesen. Ich verweise auf § 87 des Ausländergesetzes. wollen diesen Menschen hier einen besonderen Sta- Es ist nicht so, daß eine doppelte Staatsangehörigkeit tus geben. in Deutschland nicht möglich wäre. Eine doppelte Staatsangehörigkeit ist z. B. möglich, wenn das Recht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. des Heimatstaates das Ausscheiden aus der bisheri- sowie bei Abgeordneten der SPD) gen Staatsbürgerschaft nicht vorsieht, wenn dies der Ich halte dies aus asylverfahrensrechtlichen Bestim- Heimatstaat regelmäßig verweigert, wenn er dies mungen, insbesondere aber aus menschlichen Grün- willkürlich versagt oder wenn die Forderung nach den für richtig. Hoffen wir, daß dieser furchtbare Krieg Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit endlich sein Ende findet. eine unzumutbare Härte bedeuten würde. Ich bitte, Ein weiterer Bereich muß kurz angesprochen wer- einmal das Gesetz zu lesen. Damit können wir im den, der Bereich des Staatsangehörigkeitsrechtes. Ich Augenblick zumindest alle problematischen Fälle weiß, daß in diesem Bereich nicht alle Wünsche der lösen. Ich will nur nicht, daß die doppelte, die dreifa- Kolleginnen und Kollegen erfüllt worden sind. Ich che Staatsangehörigkeit zur Regel wird, meine sage Ihnen aber: Wir behandeln im Augenblick nur Damen und Herren. eine Teilnovellierung dieses Rechtsbereichs. Wir wer- (Beifall bei der CDU/CSU) 12286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die zweite Zwi- haben erheblich mehr Menschen als andere Nationen schenfrage, Herr Kollege Hirsch. aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Ich habe mit vielen ausländischen Mitbürgern Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Lieber Herr Kollege gesprochen, vielleicht mit mehr Menschen als manche Marschewski, ist es nicht so, daß wir in der Bundesre- Theoretiker hier im Hause. Ich habe kaum Menschen publik schätzungsweise weit über 100 000 Doppel- gefunden, die sich ausdrücklich z. B. für eine doppelte staatler schon deswegen haben, weil sie Eltern ver- Staatsangehörigkeit interessieren. schiedener Nationalität haben, und daß sie so wenig Zum Schluß, meine Damen und Herren: So, wie es Probleme bereiten, daß wir sie statistisch nicht einmal uns gelingt, den Mißbrauch des Asylrechts einzudäm- zählen? Ist es in Wirklichkeit nicht so, daß Sie die men, so wird sich die Einstellung unserer Bürger auch Doppelstaatsangehörigkeit deswegen fürchten, weil gegenüber vielen Asylbewerbern zum Positiven wen- Sie nicht wollen, daß diese Menschen in Deutschland den. So wird vor allen Dingen den Rechtsextremisten ein Wahlrecht bekommen? der Wind aus den Segeln genommen werden, und so (Beifall bei der SPD) wird Schaden von dieser Demokratie abgewendet. Ich bedanke mich. Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Kollege Dr. Hirsch, wir fürchten überhaupt nichts. Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Art. 28 des Grundgesetzes geändert, weil wir wollen, ordneten der F.D.P.— Konrad Weiß [Berlin] daß Ausländer aus dem EG-Bereich hier wählen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein wirklich können. Ich möchte auch, daß Deutsche dann in den frommer Glaube!) EG-Staaten wählen können. Das ist doch der Witz dabei, Herr Kollege Dr. Hirsch. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat (Beifall bei der CDU/CSU) der Kollege Gerd Wartenberg das Wort.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es gibt noch eine Bitte um eine Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Gerd Wartenberg (Berlin) (SPD): Frau Präsidentin! Dr. Ullmann. Meine Damen und Herren! Die Asyldiskussion in der Bundesrepublik Deutschland ist traditionell schrill. Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ja, gerne. Moralische Grundpositionen, pragmatisches Han- deln, Übertreibung und Demagogie stehen häufig Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unvermittelt nebeneinander. Die schrillen Auseinan- NEN): Herr Kollege Marschewski, kann man sich trotz dersetzungen sind häufig genug nicht nur auf der verschiedener Konfessionen darauf einigen, daß Ebene der Politik zu finden, sondern auch in der Bekenntnisfragen in den Bereich des Glaubens und veröffentlichten Meinung. Diese Form der Diskussion darum der Theologie gehören, nicht in den Bereich in der Bundesrepublik Deutschland hat häufig genug des Staatsbürgerrechts? den Blick für die Realitäten verstellt. (Zustimmung bei der SPD) Zahllose Asylverfahrensgesetzänderungen, Ver- waltungsvereinbarungen, Konferenzen auf nationaler Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herzlichen Dank und internationaler Ebene zeugen davon, unter wel- für diese Frage. Mit dem theologischen Bereich kom- chem Druck sich die Industriestaaten durch die erst men wir bestimmt zurecht. Ich glaube, daß wir beide jetzt beginnende große Wanderung fühlen. Hinter als Protestanten und Katholiken gemeinsam einen flammenden moralischen Appellen, Teillösungen Weg zu vernünftigen politischen Ergebnissen gehen oder angeblichen Patentlösungen schimmert doch werden. Herzlichen Dank, Herr Kollege! immer nur die Ratlosigkeit durch, wie mit diesem säkularen Problem umzugehen sei. Dessen müssen (Heiterkeit bei der CDU/CSU) - wir uns bewußt sein, auch wenn wir über Teillösun- Lassen Sie mich abschließend festhalten: Die Novel- gen, zu denen ich stehe, streiten. Wer sich dieser lierung des Asyl- und Ausländerrechts — das ist ein Herausforderung nicht stellt, wird auch in der Vermitt- ganz wichtiger Punkt, vielleicht wichtiger als der lung dieses Problems in der Öffentlichkeit schei- Punkt, den Sie, Herr Dr. Ullmann, genannt haben; tern. darum sollten Sie den Gesetzen eigentlich zustimmen — liegt gerade im Interesse der wirklich politisch (Beifall bei der SPD) Verfolgten. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist das immer mit einem Dilemma gelebt und dieses Dilemma Entscheidende!) verdrängt. Die eine Seite war dabei ein großartiger Verfassungsanspruch, nach dem politisch Verfolgte Weil unser jetziges Asylrecht in Hunderttausenden Asylrecht genießen. Dieser universelle individual- von Fällen mißbraucht wird, ist auch die Aufnahme- rechtliche Anspruch für jedermann sollte die Bundes- bereitschaft unserer Bevölkerung gegenüber den republik Deutschland deutlich von der Vergangenheit Asylbewerbern gesunken. abheben. Auf der anderen Seite ist dieser universelle (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Zu Recht!) Anspruch niemals voll akzeptiert worden. Er ist immer Andererseits haben die Lichterketten und die große eingegrenzt worden; nur haben wir es verdrängt. Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen aus Jeder wußte: Würde der universelle Anspruch einge- dem ehemaligen Jugoslawien gezeigt, daß die Deut- löst, würde das Asylrecht nicht mehr funktionieren. schen ausländerfreundlich sind. In unserem Land Deswegen hat es immer Visumspflichten gegeben. leben mehr ausländische Mitbürger als anderswo. Wir Allein die Tatsache der Visumspflicht war immer auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12287

Gerd Wartenberg (Berlin) ein Element des Ausschlusses von diesem Grundge- Jeder war sich darüber im klaren, daß das sonst nicht setzartikel. funktionieren würde. Ich will auch konkretisieren, wie dies verdrängt (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) wurde. Als Mitte der 80er Jahre in der Türkei Hun- Meine Damen und Herren, wir haben diese Form derttausende — manche sprechen von eineinhalb der Verdrängung der Auseinandersetzung lange Millionen — iranischer Flüchtlinge festsaßen, die betreiben können. Seit 1989 ist das nicht mehr mög- wegen der europäischen Visumsbestimmungen nicht mehr herauskamen, hat zwar manch einer abstrakt lich. zugegeben, daß unsere Visumspolitik ein Problem sei, (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) aber weder in irgendeiner Partei noch in diesem Das Problem ist nicht mehr weit weg, sondern hier vor Parlament noch in einer Kirchenversammlung noch in der Tür, bei unseren Nachbarstaaten. Die bequeme einer Gewerkschaftsversammlung, wo auch immer Situation, der manche nachtrauern, weil der wirkliche man sich abstrakt für die Einhaltung des Asylrechts Cordon sanitaire, nämlich der Ostblock, weggefallen eingesetzt hat, ist einmal ein konkreter Antrag gestellt ist, hinter dem man sich auch in der Frage der worden, unter diesen Bedingungen die Visumspflicht Wanderung und des Asyls verstecken konnte, besteht für die Türkei aufzuheben. Das Gegenteil war der Fall: nicht mehr. Als auf Grund von europäischen Verpflichtungen die Frage aufkam, ob die Türkei wegen 25jähriger Zuge- (Beifall bei der SPD) hörigkeit zu den Römischen Verträgen Visumsfreiheit Sich diesem Dilemma nicht zu stellen und sich mit bekommen solle, haben alle dafür gesorgt, daß sie dieser Problematik nicht auseinanderzusetzen führt nicht die Visumsfreiheit bekam, und zwar unter der nicht zu einer Lösung, sondern verschärft letztendlich Erkenntnis des stillschweigenden Konsenses, daß auf Dauer die Probleme. eine ungesteuerte Wanderungsbewegung dieses Land oder auch andere Länder überfordern würde. Seit 1989 — das ist eben auch die Besonderheit — Nur sehr wenige haben sich diesem Dilemma jemals haben wir es mit einer europäischen Wanderung zu offen gestellt. tun. 80 % unserer Asylbewerber sind Europäer, davon nach den letzten Zahlen ein ganz geringer Anteil (Beifall bei der SPD) bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge. Dieser Anteil Das muß deswegen gesagt werden, weil die Verfas- innerhalb der europäischen Wanderungsbewegung sungsänderung — so problematisch sie manchen wird immer überschätzt. erscheinen muß — nichts weiter als ein Ausdruck Es gibt verschiedene Versuche — ein Patentrezept dieses Dilemmas ist. Ich werde das nachher noch gibt es überhaupt nicht —, Wege zu finden, wie eine konkretisieren. Begrenzung der Wanderung, auch unter Berufung auf das Asylrecht, zu bewerkstelligen ist; denn eines ist ja sehr merkwürdig: Mit wem auch immer man spricht, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege War- jeder sagt, mit den Wanderungsbewegungen könne tenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- es auf Dauer so nicht weitergehen. Eine Zuwanderung gen Hirsch? von 450 000 Asylbewerbern und 600 000 anderen Zuwanderern in einem Jahr wird allgemein als auf die Dauer nicht verkraftbar empfunden. In dem Augen- (Berlin) (SPD): Im Moment bitte Gerd Wartenberg blick aber, in dem man konkrete Schritte anbietet und nicht, später. dieses Dilemma offenbaren muß, nämlich politisch Meine Damen und Herren, dieses Dilemma der Verfolgten möglichst zu helfen, gleichwohl aber die Visumspflicht, dieses Dilemma des Versuchs der Wanderung, die sich auch darunter verbirgt, zu steu- Begrenzung schon in den Herkunftsländern, wo es ern, wird die Diskussion außerordentlich schwierig, uns scheinbar nicht weh tut, wobei man sich gleich- und viele entziehen sich dann den damit verbundenen zeitig in dem Wohlgefühl sonnte, daß bei uns das Problemen. Verfassungsrecht phantastisch sei, ist einer der Wider- sprüche, mit denen wir uns auseinandersetzen müs- Nun gibt es die Drittstaatenlösung, die jetzt so sen. offenkundig — man kann fast sagen, brutal — in der Verfassungsformulierung dieses Dilemma offenbart. Es hat ein einziges Mal in der Geschichte der Da ist nämlich Satz 1: „Politisch Verfolgte genießen Bundesrepublik Deutschland eine konkrete Diskus- Asylrecht", und danach kommt der Ausschluß von sion gegeben, dieses Dilemma aufzubrechen. Das war Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten. Diese Dritt- im letzten Jahr, als die Visumsbestimmungen gegen staatenlösung ist letztlich nur der Versuch, einen Weg Bosnien eingeführt wurden. Damals ist das erste Mal zu finden, andere Staaten mit in die Verpflichtung zu konkret darüber gesprochen worden, daß es falsch nehmen, das Problem dieser großen Wanderungsbe- wäre, bei der besonderen Situation in einem Land die wegung gemeinsam verantwortlich zu lösen. Es ist Visumspflicht einzuführen. kein Totalausschluß vom Asylrecht, und das werde ich Ich bitte alle, die sich mit vertretbaren moralischen im einzelnen dann noch darstellen. Positionen gegen jede Änderung der Verfassung Lassen Sie mich zur Philosophie der Drittstaatenre- sträuben, sich darüber im klaren zu sein, daß unser gelung etwas sagen. Im Schengener Bereich, unter Verfassungsartikel letzten Endes immer mehr ver- den westeuropäischen Staaten, wurde sie aufgrund sprochen hat, als er halten konnte und in Wirklichkeit folgender Überlegungen entwickelt und durchge- halten durfte. setzt: Wenn die Grenzen wegfallen, ist es zwingend (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) nötig, gemeinsame Regelungen für Asylbewerber 12288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Gerd Wartenberg (Berlin) bindend festzulegen. Eine derartige gemeinsame das so wirkt, wie ich es beschrieben habe, dann muß Verantwortlichkeit ist übrigens auch im Vorgriff auf auch jeder wissen: Wenn es nicht zu gemeinsamen eine spätere materiell-rechtliche Harmonisierung in Vereinbarungen kommt, wird es überhaupt nicht Europa notwendig. funktionieren, denn der Drittstaat, der nicht damit einverstanden ist, daß ein anderes Land einseitig Diese Philosophie ist logisch. Sie ist nicht von Regelungen trifft, wird immer die Möglichkeit haben, vornherein, wie es häufig gesagt wird, menschen- durch Infragestellung der Zuständigkeit jeden Fall der feindlich, sondern sie ergibt sich daraus, daß Grenzen Rücknahme hinauszuschieben und hinauszuzögern. zwischen unseren westeuropäischen Staaten nicht Das sage ich denjenigen, die meinen, wir bräuchten mehr existieren und daß wir einen gemeinsamen auf Polen oder auf die Tschechische Republik wenig Asylraum haben, wo jedes Land seine Zuständigkeit Rücksicht zu nehmen. Ich meine, wir müssen grund- für Menschen, die bei ihm einreisen und Asyl suchen, sätzlich anständig mit allen Nachbarn umgehen. Aber auch ausfüllen muß und keiner ein Land wegen die, die meinen, das nicht tun zu müssen, sollten bestimmter Besonderheiten mit den Lasten des Pro- mindestens wissen, daß sie faktisch anständig mit blems allein lassen kann. — Viele stimmen dem ihnen umgehen müssen, weil sonst trotz der Regelung übrigens, bezogen auf zu, weil sie das Westeuropa eine Verweigerungshaltung dieser Länder eintritt, die Gefühl haben: Na ja, Westeuropa und europäische zu überhaupt nichts führt! Einigung, das ist ja wohl notwendig und sinnvoll. (Beifall bei der SPD) Probleme gibt es — und nicht zu Unrecht — damit, daß jetzt Polen und die Tschechische Republik in Dann läuft eine solche Verfassungsänderung voll ins diesen Drittstaatenmechanismus hineingenommen Leere. Seien Sie sich dessen bewußt! werden. Es ist ein objektives Problem, eine Regelung, (Zuruf von der SPD: So ist es!) für die man in Westeuropa ja immerhin fünf Jahre gebraucht hat, um sie zu erreichen — bei gleichem Deswegen sage ich — und ich weiß, daß sich viele sozialen Standard! —, jetzt in kurzer Frist bezogen auf bei Ihnen dieser Problematik bewußt sind —: Lassen andere Länder durchzusetzen, deren gesellschaftli- Sie das Gerede vom Junktim oder Nichtjunktim! Das cher und sozialer Standard nicht dem im westeuropäi- können Sie sich in die Haare schmieren. Fakt ist: Ohne schen Bereich entspricht. eine gemeinsame Regelung zwischen be troffenen Ländern wird nichts funktionieren! Deswegen hat die Auch ich, der ich den Kompromiß trage, sage offen SPD recht. — und ich bitte auch alle, die diesen Kompromiß tragen, dies nicht zu verschleiern —, daß es ein ganz (Beifall bei der SPD) dramatisches Problem ist und daß wir uns vernünftige Seien Sie sich bitte dessen bewußt, und belästigen Sie Regelungen überlegen und sie durchsetzen müssen, die Öffentlichkeit nicht mit diesem Schaugeschrei, damit dieser Mangel kompensiert wird. und sagen Sie es insbesondere dieser institutionalen Tröte Herrn Rüttgers, der nur noch außerordentlich (Beifall bei der SPD) lästig fällt und dessen Wirksamkeit in der Öffentlich- An dieser Stelle muß es aber auch eine Einschät- keit nur noch begrenzt ist. zung geben, wie denn eine solche Drittstaatenrege- (Beifall bei der SPD) lung wirkt. Drittstaatenregelung heißt, daß der Staat, der einen Asylbewerber abgibt, dem Staat, der auf- Meine Damen und Herren, die Drittstaatenrege- nehmen soll, bei jedem einzelnen Fall nachweisen lung, die der Kernpunkt der Kritik an diesem Paket ist, muß, daß dieser Staat dafür zuständig ist. Das führt zu muß so gewertet werden, wie ich sie eben dargestellt einer automatischen Begrenzung der Wirksamkeit. habe. Deswegen geht es auch nicht, wenn in der Auch darüber muß sich jeder im klaren sein. Nicht „Süddeutschen Zeitung" in der letzten Woche ein verantwortbar ist, wenn manche heute davon reden, Journalist dieses Problem mit der Überschrift „Der dies sei eine totale Abschottung der Bundesrepublik zweite Überfall auf Polen" beschreibt. Das ist dema- Deutschland. Allein schon von der faktischen Wirk- gogisch und beschreibt nicht die Realität! samkeit eines solchen Ins trumentariums her trifft das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht zu. der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von Ich will das wieder konkretisieren, und zwar am der CDU/CSU: Sehr wahr!) Beispiel Dänemark. Dänemark hat nach der Logik der Denn wenn die Wirkung so ist, wie ich sie beschrieben Kritiker schon lange einen Cordon sanitaire; es hat nur habe, und damit der Zwang zur Einigung letztlich eine Grenze zur Bundesrepublik und eine innerstaat- Voraussetzung ist, werden die Verhandlungen dazu liche Rechtslage, nach der ohne Verfahren Asylbe- führen, daß eine gemeinsame Verantwortlichkeit in werber in die Bundesrepublik zurückgeschoben wer- Europa für die Wanderungsbewegungen auch im den können. Das geschieht auch. Gleichwohl haben Bereich des Asyls erreicht wird. die Dänen nach der Meinung zahlreicher dänischer Wir Sozialdemokraten setzen viel mehr als auf Politiker zu viele Asylbewerber. Das nur zur fakti- bilaterale Verträge auf multilaterale Abkommen mit schen Wirkung des angeblichen Cordon sanitaire. unseren südöstlichen Nachbarn, (Zustimmung bei der SPD) (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) Dies hat aber auch eine andere Bedeutung in den und ich hoffe, daß es in 60 Tagen gelingen wird, wie Verhandlungen mit Nachbarstaaten, die in die Dritt- man es sich vorgenommen hat, zwischen Ungarn, staatenregelung aufgenommen werden sollen. Wenn Österreich, Slowakischer Republik, Tschechischer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12289

Gerd Wartenberg (Berlin) Republik, Polen und der Bundesrepublik gemeinsame häufig genau dieselben Fundamentalkritiker, die Lösungsansätze zu finden. Denn multilaterale Ab- gesagt haben: Erst einmal sollte dieses neue ordentli- kommen, gemeinsame Verantwortlichkeiten sind che Instrumentarium angewandt werden, und eine allemal besser als bilaterale Verträge. Verfassungsänderung brauchen wir nicht. — Soviel zu dem immer schnell erhobenen Vorwurf, ein Vorhaben (Beifall bei der SPD) sei verfassungswidrig. Meine Damen und Herren, ein Punkt noch zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drittstaatenregelung: F.D.P. und SPD, aber auch der der CDU/CSU und der F.D.P.) Justizminister (Zuruf von der SPD: Eine Frau!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Warten- gehen eindeutig davon aus, daß es dann, wenn einem berg, Sie haben die Redezeit sehr weit überschrit- Asylbewerber konkret ein Drittstaat nicht zugeordnet ten. werden kann, keine Wahlzuordnung der Verwaltung (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Es ist aber eine geben kann, die vom Asylrecht ausschließt. Dies gute Rede!) würde dem Abs. 1 des neuen Art. 16a — und der besteht wirklich noch — widersprechen. Ich habe alle Sachverständigengutachten überflogen, soweit sie Gerd Wartenberg (Berlin) (SPD): Ich nenne einen seit gestern vorliegen. Selbst die, die den Kompromiß zweiten Punkt, den wir beachten müssen: Unser unterstützen, sind in dieser Frage eindeutig: Es muß Ausländerrecht ist antiquiert. Ein moderner Staat ein Asylverfahren durchgeführt werden. Meine kann sich ein solches Ausländerrecht nicht erlauben. Damen und Herren von der CDU/CSU, machen Sie da Einbürgerung, Doppelstaatsangehörigkeit und Ablö- keine Nachhutgefechte; Sie werden dafür keine sung des Jus sanguinis sind dringend notwendig. Mehrheit finden. Auch würde es die öffentliche Dis- Ich nenne einen dritten und letzten Punkt. Wir kussion in vernünftige Bahnen lenken, wenn wir von haben gemeinsam eine Bürgerkriegsregelung erar- vornherein sagen, daß wir so verfahren wollen, zumal beitet. Haben wir den Mut, sie auch anzuwenden! diese Menschen eh niemals abgeschoben werden (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) können, weil man dem Drittstaat die Verantwortung Bund und Länder müssen sich, wenn solche Krisen- nicht übertragen kann. Das ist ein ganz wichtiger fälle vorliegen, dann auch wirklich darüber einigen, Punkt, der auch für die Akzeptanz des Asylrechts in daß Leute auf Grund dieser Regelung aufgenommen seiner neuen Form von Bedeutung ist. werden. (Beifall bei der SPD) Recht herzlichen D ank. Ich bitte diejenigen, die berechtigte oder akzep- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten table Kritik an den neuen Asylgesetzen üben, sich der CDU/CSU) neben ihres hohen moralischen Anspruches auch immer des Dilemmas bewußt zu sein, in dem wir uns befinden: Der individuelle Rechtsanspruch gilt uni- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster versell, d. h. in Wirklichkeit für alle, aber gleichwohl spricht der Kollege Jörg van Essen. besteht die Notwendigkeit einer Steuerung der Wan- derungsbewegung. Dies muß zumindest problemati- Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine siert werden. Dies muß auch derjenige anerkennen, Damen und Herren! Die F.D.P. steht zu dem Asylkom- der aus grundsätzlich moralischen und ethischen promiß vom 6. Dezember 1992 und zu dessen schnel- Gründen sagt: Ich will überhaupt nichts ändern. ler Umsetzung sowohl in der Verfassung als auch in Wenn wir diese Diskussion weiterführen, dann bitte den einfachen Gesetzen. Der Asylkompromiß war und ich alle hier im Hause, drei Grundsätze zu beach- ist ein Beispiel dafür, daß dringende politische Pro- ten: bleme in einer gemeinsamen Anstrengung vieler Demokraten einer Lösung zugeführt werden können, Erstens. Ich bitte darum, daß wir die Anhörung ernst und er muß dies bleiben. nehmen. Wir müssen für ernsthafte Vorschläge und Teile der SPD versuchen leider immer wieder, nicht für Hinweise auf Widersprüche in den jetzt vorgeleg- nur die notwendigen Regelungen für eine bessere ten Formulierungen offen sein, und wir müssen bereit zu hintertreiben. Wir sein, dann auch Änderungen an den Gesetzentwürfen Steuerung der Zuwanderung mußten es als Verhandlungsführer mehrfach erleben, vorzunehmen. daß unsere Kollegen aus der SPD nach durchgehend (Beifall bei der SPD) konstruktiven Gesprächen — ich danke Ihnen dafür Es kann nicht nur — wie häufig — ein Anhörungsver- ausdrücklich — und einer Einigung immer wieder fahren „just for show" sein, wobei natürlich — das Nachbesserungswünsche vortragen mußten, und das sage ich auch — überspitzte Formulierungen von Spiel hat leider noch kein Ende. Seit Dienstag wissen Sachverständigen auch zurückgewiesen werden kön- wir, daß die SPD das einvernehmlich verabredete nen. Wenn ich an das Asylverfahrensbeschleuni- Asylbewerberleistungsgesetz nicht mit einbringen gungsgesetz, das wir im letzten Jahr verabschiedet wird. haben, denke und mir, die damalige Kommentierung Wer sich von der im Asylkompromiß klipp und klar in der Presse und durch Sachverständige angucke, vereinbarten deutlichen Absenkung der bisherigen dann muß das, was wir damals verabschiedet haben, finanziellen Zuwendungen an Asylbewerber und der „verfassungsrechtlicher Müll" gewesen sein. Nach- Umstellung auf Sachleistungen verabschieden will, dem das Gesetz in Kraft ge treten ist, waren es aber trägt die Verantwortung dafür, daß die Anziehungs- 12290 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Jörg van Essen kraft der Bundesrepublik Deutschland auf Wirt- uns aufgenommen. Das unwürdige Spiel, als sich schaftsflüchtlinge unverändert hoch bleibt. Großbritannien weigerte, selbst eine geringe Zahl von frierenden, auf einer Paßstraße wartenden alten Men- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schen und Kindern aufzunehmen, hat es in diesem Wie hoch sie noch immer ist, zeigt der erneute starke Land nicht gegeben. Anstieg der Asylbewerberzahlen; sie stiegen in den beiden ersten Monaten dieses Jahres um 20 %. Wer die Umsetzung des Asylkompromisses verzö- gert, behindert auch die Verbesserung der Einbürge- (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein rungsmöglichkeiten für die hier lebenden ausländi- [CDU/CSU]: Genau das ist es!) schen Mitbürger. Wer — wie ich — aus dem Ruhrge- Wer so handelt, ist ferner in der Verantwortung biet kommt, weiß, wie klug und schnell unser Land die dafür, daß Schlepperbanden weiter ihrem einträgli- Einbürgerung und damit die Integration der polni- chen Geschäft nachgehen können und daß Menschen, schen Arbeitskräfte und ihrer Familien vollzogen hat, die schon Opfer der wirtschaftlichen Verhältnisse in die um die Jahrhundertwende zum Aufbau der Indu- ihren Heimatländern geworden sind, ein zweites Mal strie in unser Land geholt worden sind. zu Opfern dieser organisierten Kriminalität wer- den. Neben der Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Einbürgerung bei bestimmten Voraussetzungen ist (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) für mich der Wegfall des Grundsatzes der Familien- Wie brutal hier vorgegangen wird, zeigen die sich einheitlichkeit besonders wichtig. Die Kinder aus der steigernden Überfälle, die aus diesem Umfeld in den dritten Generation haben eben häufig keine oder nur letzten Wochen in Deutschland gegen Landsleute noch sehr schwache Bindungen an die Heimat ihrer — ich nenne nur das Beispiel Schwerte in Nordrhein- Eltern oder Großeltern und sind eher als diese zu einer Westfalen — in Asylbewerberunterkünften begangen Einbürgerung bereit. Sie können sich nun freier worden sind. entscheiden, wobei die Entscheidung durch eine deutliche Absenkung der Gebühren und der Anforde- Niemand gebe sich der Hoffnung hin, er könne mit rungen an die sogenannte Unbescholtenheit zusätz- taktischen Spielchen und Verzögerungen die hessi- lich erleichtert wird. schen Kommunalwahlen am Wochenende positiv beeinflussen. Bei der Ausfüllung des durch Art. 16a des Grund- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — gesetzes gegebenen Rahmens haben wir eine Fülle Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Lächer- von Einzelregelungen vorgesehen, auf die in dieser lich!) Debatte nicht vollständig eingegangen werden kann. Ansprechen möchte ich zunächst den grundsätzlichen Vielleicht kann er den einen oder anderen Wähler Ausschluß vom Asylverfahren für diejenigen Auslän- dazu bewegen, statt grün rot zu wählen. Aber fünf der, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen oder oder sechs andere werden dafür zur Beute der rechts- eingereist sind. Der Asylkompromiß vom 6. Dezember extremen politischen Rattenfänger, die nichts als 1992 hat die Schweiz, Österreich, die Tschechische Scheinlösungen zu bieten haben. Republik und Polen bereits als sichere Drittstaaten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) benannt. Eine Einigung mit der SPD über weitere Staaten war leider noch nicht zu erreichen. Nach Er behindert darüber hinaus auch die schnelle Umset- meiner Auffassung sollten auch die skandinavischen zung der für unsere ausländischen Mitbürger wichti- Länder, die Slowakei und Ungarn dazukommen. gen und günstigen rechtlichen Regelungen. Für mich hat dabei die Schaffung eines eigenen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich Status für Bürgerkriegsflüchtlinge erste Priorität.-tig!) Tagtäglich erreichen uns neue Schreckensmeldungen über Greueltaten und Folterungen in den Bürger- Die Drittstaatenlösung — der Kollege Wartenberg kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien. Diese ist ja darauf eingegangen — hat besondere Kritik von Menschen werden aus für die Kommunalbehörden bestimmten Gruppen erfahren. Dabei wird überse- naheliegenden finanziellen Gründen heute noch häu- hen, daß wir auch in Zukunft durchaus Asylbegehren fig in das Asylverfahren gedrängt, in das sie nicht zu prüfen haben werden, auch wenn der Asylbewer- hineingehören. Ihre Stellung ist nun deutlich besser ber aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Immer und sicherer als die einer Person, die Asyl beantragt. dann nämlich, wenn wir nicht nachweisen können, So kann z. B. die Ausübung einer Erwerbstätigkeit aus welchem konkreten Drittstaat die Einreise erfolgt nicht verboten werden. ist, kommen wir an einer solchen Prüfung nicht vorbei. Aber auch dem Ziel einer besseren Steuerung der Zuwanderung werden die vorgesehenen Regelungen Im Gegensatz zu den Kollegen aus der Union sind in diesem Bereich gerecht. Ob und wie viele Bürger- wir mit der SPD der Auffassung, daß einer Person, die kriegsflüchtlinge aus welchen Gebieten aufgenom- dabei als politisch verfolgte Person festgestellt wird, men werden, ist eine freie politische Entscheidung. Asyl und nicht nur der Status nach der Genfer Flücht- Wir werden uns dabei unserer besonderen Verant- lingskonvention gewährt werden sollte. wortung bewußt sein und uns dementsprechend ver- halten. So haben wir etwa auch in der Vergangenheit Die Verhandlungen mit Polen und der Tschechi- — anders als unsere europäischen Nachbarn — beson- schen Republik werden intensiv geführt. Ich warne ders viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Balkan bei alle, die nachträglich ein Junktim zwischen dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12291

Jörg van Essen Abschluß dieser Verträge und der Verabschiedung Ich werde sorgfältig beobachten, ob die erforderlichen herstellen wollen. 500 Verwaltungsrichter und etwa 1 500 nichtrichterli- (Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Es existiert chen Hilfskräfte ebenso zügig eingestellt werden, wie doch faktisch! Sie wissen doch, daß es fak- die tatsächlichen Voraussetzungen für eine schnellere tisch da ist!) und effektivere Abschiebung geschaffen werden. Die Länder sind hier in einer besonderen Pflicht. Ein solcher Zusammenhang ist bei den Verhandlun- gen über den Asylkompromiß ausdrücklich ausge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schlossen worden. Ich bitte nachdrücklich darum, die Nur durch gemeinsames verantwortungsvolles Han- Verhandlungsposition der Bundesregierung bei den deln aller beteiligten Parteien und Ebenen werden wir Verhandlungen mit unseren Nachbarstaaten nicht die gewünschten Wirkungen erzielen. durch die Herstellung eines solchen Junktims zu erschweren. Die F.D.P. will und wird dazu beitragen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich bin übrigens sicher, daß die Abkommen rechtzei- tig vorliegen werden. Deutschland hat sich mit dem Angebot der Hilfe an diese Nachbarstaaten korrekt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Frau und vernünftig verhalten, und ich bin sicher, daß die Kollegin Ulla Jelpke. Verhandlungen in diesem Geiste geführt werden und rechtzeitig abgeschlossen sein werden. Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist Herr Kollege van Vizepräsidentin Renate Schmidt: meines Erachtens kein demokratischer Meinungsbil- Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- dungsprozeß gewesen, neten Wiefelspütz? (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Was denn?) Jörg van Essen (F.D.P.): Im Augenblick nicht. weder parlamentarisch noch außerparlamentarisch. Vielen Dank! — Sichere Herkunftsstaaten sind sol- che, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechts- Erst vor knapp 20 Stunden wurde uns, den Gruppen anwendung und der allgemeinen politischen Verhält- und auch den Fraktionen, die Drucksache von über nisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politi- 150 Seiten auf den Tisch gelegt. In den nächsten zwei sche Verfolgung noch unmenschliche oder erniedri- Sitzungswochen werden noch in kleinen Anhörungen gende Behandlung oder Bestrafung stattfinden. Sachverständige gehört; aber durchgeplant ist bereits heute, wann und wie die Gesetze durchgepeitscht Wir haben aus gutem Grund davon abgesehen, eine werden sollen. vollständige Liste dieser Staaten aufzustellen. Zwei Kriterien waren für die Betrachtung und für die (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Na, na!) Aufnahme in die Liste entscheidend: auf der einen Besonders gravierend und schlimm finde ich, daß Seite eine besonders hohe Zahl von Bewerbern und fast alle gesellschaftlichen Organisationen, angefan- auf der anderen Seite eine besonders niedrige Aner- gen von den Gewerkschaften bis hin zu kirchlichen kennungsquote. Die Verhandlungsführer sehen diese Verbänden, immer wieder dieses Parlament und die Voraussetzung für Rumänien und Bulgarien als gege- Fraktionen, die die Grundgesetzänderung wollen, ben an. Weitere Staaten — auch außerhalb Europas — aufgefordert haben, das Grundgesetz nicht zu verän- werden zu prüfen sein, insbesondere solche, bei deren dern. Dies wird meines Erachtens ganz zynisch von Staatsangehörigen eine niedrige Anerkennungs- diesem Parlament bzw. von den Vorlegern der quote festzustellen ist, welche aber im Bereich der Gesetzentwürfe ignoriert. schweren und schwersten Kriminalität, etwa im Dro- Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung und den genhandel, besonders aktiv sind. heute eingebrachten Begleitgesetzen werden zukünf- Die Ausgestaltung des durch Art. 16a Grundgesetz tige Flüchtlinge vor den deutschen Grenzen gehalten. in diesen Fällen ermöglichten verkürzten gerichtli- Betroffen sind die hier lebenden Flüchtlinge und die chen Verfahrens hat uns in den Verhandlungen lange Ausländer und Ausländerinnen. Verändern wird sich und intensiv beschäftigt. Wir halten an dem Ziel einer auch das Verhältnis der Bundesrepublik vor allem zu Entscheidung durch den obligatorischen Einzelrichter den Nachbarn im Osten. Vor nicht allzu langer Zeit hat in einer Woche fest, ermöglichen es aber nun der der Kanzler gar mit dem Staatsnotstand gedroht. Kammer des Verwaltungsgerichts, bei Vorliegen von schwerwiegenden Gründen die Entscheidungsfrist (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das haben um jeweils eine Woche zu verlängern. Nur mit raschen Sie wieder nicht verstanden!) gerichtlichen Entscheidungen kann die Vorausset- Es geht also nicht gerade um Lappalien — das wollte zung für eine schnellere Abschiebung geschaffen ich damit deutlich machen. Und doch haben es werden. Regierung und Fraktionsführungen nicht für nötig Der Hinweis auf die Abschiebung macht deutlich, gehalten, auch nur den Schein des demokratischen daß die Umsetzung des Asylkompromisses nicht nur Vorgehens zu wahren. von den hier zu verhandelnden Regelungen — wir als Wenn Sie jetzt auf monatelange öffentliche Ausein- Bundesgesetzgeber haben unsere Arbeit sorgfältig andersetzungen verweisen, kann ich nur sagen: Sie und schnell erledigt — sondern auch von der Bereit- haben nicht nur Ihre Verhandlungspartner — z. B. die schaft der Länder abhängt, ihren Beitrag zu leisten. polnischen Vertreter und Vertreterinnen — bewußt im 12292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Ulla Jelpke unklaren über die Konsequenzen verschiedener Ver- auf Asyl durch Reisewegkontrollverfahren zu erset- einbarungen gelassen; zen. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Quatsch Zwei Eckpfeiler entscheiden über die Effizienz des ist das! Ich habe selber mit Polen geredet! So Vorhabens: erstens die optimale Verhinderung der was!) Einreise, zweitens die schnellstmögliche Abschie- bung für Illegale und Problemfälle. Sie haben auch die deutsche Öffentlichkeit systema- tisch mit Halb- und Unwahrheiten gefüttert und so (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Hoffent Ihren Beitrag zu der Pogromstimmung in der Bundes- lich klappt das!) republik geleistet. Dabei ist die Frage der tatsächlichen Verfolgung der (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Das ist Flüchtlinge völlig egal geworden. Dafür sollen ja unerhört, was Sie hier vortragen!) gerade die anderen zuständig sein. Für diesen Zweck wurde der Begriff „sicherer Drittstaat" erfunden. Dabei behaupten Sie weiterhin, mit dem Öl der Grundgesetzänderung das Feuer der Pogromhetzer Erfinden können ihn meines Erachtens nur Leute, löschen zu können. die vom Grundsatz der Flüchtlingsabwehr als Ver- wirklichung des Grundrechts auf Asyl ausgehen. Zur innenpolitischen Seite dieser Asylpolitik haben Innenminister Seiters pervertiert diesen Gedanken wir schon darauf hingewiesen, daß die Bundesregie- zusätzlich dadurch, daß er zu derartigen Staaten rung die rechtsextremen programmatischen Vorstel- Länder erklärt, von denen er weiß, daß hier möglicher- lungen der Republikaner zur Asylpolitik vollständig weise guter Wille vorhanden ist, aber alle sonstigen übernommen hat. Ich bin heute gezwungen, hier zu Voraussetzungen fehlen, z. B. Polen. sagen, daß durch die Asylbegleitgesetze dieses Pro- gramm der Republikaner übererfüllt wird. Nicht nur der Landweg wird versperrt; zugemacht wird zudem das Schlupfloch Flughafen. Flughafen- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Na! Blei- betreiber werden zur Schaffung von Unterbringungs- ben Sie brav!) möglichkeiten verpflichtet, damit der Bundesgrenz- Ich erkläre hier in aller Schärfe: Die vorgelegten schutz die Reisewege und damit die Zurückweisungs- Begleitgesetze sind, entkleidet man sie ihrer bürokra- möglichkeiten überprüfen kann, bevor ein Asylver- tischen Formelhaftigkeit, Dokumente des Schreckens, fahren eingeleitet wird und damit ein Bleiberecht um so mehr, als sie vor dem Hintergrund der politi- entstehen kann. schen Entwicklung in den letzten zwei Jahren gese- (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Was ist hen werden müssen. dagegen einzuwenden?) Noch nie wurden in diesem Staat in einer solchen Was alle hierlassen müssen, auch die Zurückgewiese- Weise für eine spezielle Menschengruppe derartige nen, sind ihre Fingerabdrücke. Sondergesetze geschaffen, deren Benachteiligungs- Dieser Entrechtung, Demütigung und präventiven absicht so offensichtlich ist. Jeder — das sage ich sozusagen in Klammern — täuscht sich, der glaubt, Kriminalisierung an den Grenzen entspricht die Ver- diese Benachteiligungsabsicht sei auf Flüchtlinge schärfung der Lagerordnung in den Unterkünften. Erweitert wird die „Befugnis zur Durchsuchung des beschränkt. Ausländers und von Sachen". Eingeführt wird der Das Asylverfahrensgesetz auf der Grundlage der Zwang zu einem Arbeitsdienst zur „Selbstversorgung Grundgesetzänderung hat mit Asylrecht im her- und zur Aufrechterhaltung und Betreibung" der Sam- kömmlichen Sinne nichts mehr, aber auch gar nichts mellager. Kommunale und gemeinnützige Träger mehr zu tun. Es ist ein Reisewegüberprüfungsgesetz; sind aufgefordert, sogenannte Arbeitsgelegenheiten es ist ein Gesetz zur Abschiebung und Einreisever- für den Arbeitsdienst zu schaffen. weigerung. Den fast 150 Seiten ist anzumerken,- daß Bürokraten versuchen, ihren Feinden auch das aller- Nur noch als zynisch ist die Begründung für den letzte Schlupfloch zu schließen und die letzte Notlüge Stundenlohn von 2 DM zu bezeichnen, der angeblich der Motivation dienen soll. Damit wird ein Asylverfah- zu bestrafen. rensgesetz komplettiert, das ohnehin schon das Leben Ziel ist nicht nur die Aushöhlung der Genfer Flücht- der Asylsuchenden in allen Einzelheiten reglemen- lingskonvention, sondern vor allem die Verhinderung tiert und bereits bei geringsten Verstößen mit polizei- ihrer Anwendung. licher Behandlung bis hin zur Ausweisung droht. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie haben Eine zusätzliche Herabstufung bedeutet es, daß die das nicht gelesen! Bevor man redet, soll man Einzelrichtertätigkeit in Asylverfahren früher als bei es lesen!) anderen Verfahren von Richtern auf Probe wahrge- nommen werden soll. Keineswegs vom Tisch ist nach Mit dem Dreh der sicheren Drittstaaten, von denen die meiner Meinung die Vorstellung der CDU, Richter mit BRD umgeben ist, Prämien zu dieser Tätigkeit in Asylverfahren zu Lok- (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Wer? — ken. Erwin Marschewski [CDU/CSU]: „BRD"? Folgt man einen Moment der Logik der Gesetzes- „Bundesrepublik Deutschland"!) initiatoren, so ist diese Lagerbehandlung in Kombina- und den sicheren Herkunftsländern, die durch einfa tion mit den Abweisungsmechanismen an den Gren- ches Gesetz definiert werden, ist es der Koalition der zen ganz besonders entlarvend. Die Grundgesetzän- Asylabschaffer gelungen, den individuellen Anspruch derung sollte angeblich ja gerade dazu dienen, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12293

Ulla Jelpke wirklich Verfolgten zu schützen. Die hier vorgelegte dern. Statt zu einer wirklichen Einwanderungspolitik Behandlung erinnert exakt an die schikanösen Proze- führen diese Verfassungsänderung und diese Asyl- duren, denen die vor den Nazis Flüchtenden nahezu begleitgesetze zur Illegalisierung und damit zur Kri- weltweit ausgeliefert waren. minalisierung von ausländischen Mitbürgern und (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Das ist Mitbürgerinnen. Ich denke außerdem, daß Pogromen ein empörender Vergleich, den Sie hier brin- und Rassisten Wasser auf die Mühlen gegeben gen! Das ist ja nicht zu glauben!) wird. Durch die Einführung des Grundrechts auf Asyl (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Nach sollten nie wieder Verfolgte und Flüchtlinge an den Ihrer Rede!) deutschen Grenzen abgewiesen werden können. Danke. Leider hat die SPD-Führung bewiesen, daß man mit (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ihr nicht nur über alles reden, sondern auch alles mit ihr machen kann. Bei dem Paket, das Herr Klose, Herr Engholm und andere schnüren wollten, durften Sie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster von der SPD gerade noch den Daumen auf den Knoten spricht der Kollege Konrad Weiß. halten. Von Ihrem Einwanderungsgesetz ist die Ermä- ßigung für die Gebühr bei der Einbürgerung übrig- Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geblieben. Bei dem Streit über das Asylbewerberlei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die stungsgesetz dreht es sich um Fristen und um den Änderung des Grundgesetzes, über die wir heute Personenkreis. Auch hier ist das Prinzip geschluckt. beraten müssen, ist nicht das zwingende Ergebnis Die Ausführung wird letzten Endes der CDU überlas- eines tatsächlichen Notstands in unserem Land, sen. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das haben Nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges hat wir schon beraten!) die Bundesregierung zum wesentlichen Bestandteil sondern sie wurde herbeigeredet und herbeigezau- internationaler Konferenzen das Schachern um dert. Die vorliegenden Vorschläge der CDU/CSU Flüchtlingszahlen und die Erpressung mit Destabili- sowie von Teilen der F.D.P. und der SPD bedeuten die sierung der eh schon labilen Verhältnisse in den hilflose Kapitulation der beteiligten Parteien vor der gemacht. Die Äußerung einer polni- Nachbarstaaten Realität und offenbaren die völlige schen Parlamentarierin, sie befürchte den Sturz ihrer Handlungsunfä- Ministerpräsidentin, wenn die Bundesrepublik higkeit der Bundesregierung. Deutschland mit ihrer Politik fortfahre, steht für sehr (Johannes Ganz [St. Wendel] [CDU/CSU]: viel weitergehende Ängste unserer Nachbarn vor Ach du lieber Gott!) dieser Politik. Niemand wird bestreiten, daß uns die vielen Men- „Der neue Überfall auf Polen" — von dem auch Herr schen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung und Wartenberg sprach — ist die Überschrift eines Artikels Not suchen, Probleme machen. Doch das sind Pro- des Journalisten Heribert Prantl in der „Süddeutschen bleme, die mit gutem Willen und Entschlossenheit Zeitung". bewältigt werden könnten, wenn es gewollt wäre. (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: „Der Doch, statt zu handeln, wurde in Deutschland eine neue Überfall auf Polen": Was sind denn das törichte und ideologisierte Debatte geführt, an deren für Begriffe? — Zuruf von der CDU/CSU: Das Ende nun die faktische Zerstörung des Rechts auf Asyl ist ja ein rügenswerter Begriff! — Erwin zu beklagen ist. Marschewski [CDU/CSU]: Haben Sie mit Der Verlust dieses Grundrechts wird Deutschland einem polnischen Politiker gesprochen?) verändern. Die große Asylkoalition, die diese Gesetze — Das ist ein Zitat. ausgeheckt hat, läßt für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Wer so leichtfertig ein Menschenrecht aufgibt, untergräbt die Grundlagen unserer Demokratie. Wel- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin ches Grundrecht, so fragen sich besorgt die Bürgerin- Jelpke, Sie müssen bitte zum Ende kommen. nen und Bürger, muß als nächstes dran glauben? (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das Ganz und gar unerträglich aber ist die Art und wäre in jeder Hinsicht vernünftig!) Weise, wie versucht wird, die Abschaffung des Asyl- rechts in Deutschland zu verschleiern. Es ist doch Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Heribert Prantl über- reine Bauernfängerei, wenn im ersten Absatz des schrieb so seinen Be richt über die Reaktion in Polen neuen Art. 16a der Satz unseres Grundgesetzes „Po- auf die Asylpolitik der Bundesregierung und der SPD litisch Verfolgte genießen Asylrecht" zwar zitiert, in in Richtung Osten. den nächsten Absätzen aber vollends ausgehebelt Ich komme zum Schluß. wird. Halten die Autoren des Asylkompromisses die Bevölkerung wirklich für so blöd, daß die das nicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin merken würde? Jelpke, Sie haben jetzt schon beinahe eine Minute (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Selbst Sie überzogen. Sie müßten jetzt mit einem einzigen Satz als Parlamentarier begreifen ja nichts!) zum Schluß kommen. Die Gesetzentwürfe der Asylkoalition führen Deutschland in eine Sackgasse. Bedenklicher noch als Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Meine Damen und die fremdenfeindlichen Ausschreitungen verführter Herren, dieses Deutschland wird sich spürbar verän- Jugendlicher ist in meinen Augen aber, daß inzwi- 12294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Konrad Weiß (Berlin) schen selbst schlimmste rechtsradikale und nationali- Destabilisierung der osteuropäischen Reformstaaten stische Auslassungen fast widerstandslos hingenom- neue Flüchtlingsströme auslösen wird. men werden. Daß der Abgeordnete Rudolf Krause, Auch innenpolitisch wird die angestrebte Grundge- der Asylheime „Räuberhöhlen" genannt und Auslän- setzänderung nichts Gutes bewirken. Diejenigen, die der als „Asylkriminelle" diffamiert hat, weiterhin Mitglied der CDU, der Christlich Demokratischen wieder „Deutschland den Deutschen" brüllen, wer- den in ihrem Wahn bestärkt. Die Ausländerfeindlich- Union Deutschlands sein kann, ist ein wirklicher keit wird zunehmen, denn sie hängt eben nicht Skandal. ursächlich von der Anzahl der Asylbewerber und (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Flüchtlinge ab, wie immer — auch heute hier wie- der SPD und der PDS/Linke Liste) der — behauptet wird, sondern vom politischen Klima. Das wird durch den Asylkompromiß vergiftet. Mich schaudert es, wenn ich daran denke, daß eine Mehrheit von Abgeordneten aus CDU, CSU, F.D.P. Nicht nur die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD in Gemeinschaft mit diesem CDU-Mitglied ist aufs tiefste besorgt über den Weg, den die Asylko- das Grundgesetz ändern und das Asylrecht bis zur alition beschreiten will. Auch zahlreiche Verfassungs- Unkenntlichkeit verstümmeln wird. Sie sind bei Ihrem rechtler und Menschenrechtsorganisationen äußern Deal in übler Gesellschaft, meine Damen und Her- schwerwiegende Bedenken. Der Hohe Flüchtlings- ren. kommissar, das Deutsche Rote Kreuz, die Caritas, amnesty international, die Kirchen, Pax Christi und (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Wir füh- Pro Asyl, um nur einige zu nennen, sind mit uns der len uns ganz wohl!) Auffassung, daß mit der beabsichtigten Grundgesetz- Im übrigen paßt die nationale Überheblichkeit des änderung das Recht auf Asyl künftig in Deutschland Abgeordneten Krause bestens zur nationalen Arro- nicht mehr gewährleistet ist. ganz, mit der die Asylparteien mit ihrem Entwurf in die Souveränität unserer polnischen und tschechi- Verpflichtungen, die uns aus dem Grundgesetz, aus schen Nachbarn einzugreifen versuchen. Ohne die der Menschenrechtskonvention und aus der Antifol- terkonvention erwachsen, werden nicht mehr erfüllt. Regierungen in Prag und Warschau auch nur zu wird konsultieren, wurde selbstherrlich über die Souverä- Auch gegen internationales Flüchtlingsrecht and dem nität unserer Nachbarn verfügt und wurden ihnen verstoßen. Ich erinnere daran, daß Deutschl Beschluß Nr. 15 (XXX) des Exekutivkomitees des Verhandlungen aufgezwungen. Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Natio- Schon heute ist erkennbar, daß eine Realisierung nen zugestimmt hat. Danach darf Asyl nicht allein aus des deutschen Asylkompromisses für die osteuropäi- dem Grund verweigert werden, weil der Flüchtling in schen Reformstaaten fatale Folgen haben würde. einem anderen Staat hätte Asyl beantragen können. Polen und die Tschechische Republik sollen zu Asyl- Doch genau das ist vorgesehen. bütteln des mächtigen Deutschlands gemacht wer- den. Die vorgesehene Einführung einer Länderliste sogenannter verfolgungsfreier Staaten würde den (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ach du Art. 16 Abs. 2 nach dem Motto pervertieren: Politisch meine Güte!) Verfolgte genießen Asylrecht — aber nicht in Was innenpolitisch in Deutschland nicht durchzuset- Deutschland. zen ist, soll nun an die polnische und die tschechische Die Absicht, Angehörige bestimmter Staaten von Ostgrenze verlagert werden. Auf Dauer würden die vornherein vom Asylverfahren auszunehmen, stellt Polen und Tschechen nicht umhinkönnen, ihre Ost- einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Asyl dar grenzen abzuriegeln, mindestens aber die Visum- und ist mit dem Mindeststandard des internationalen pflicht für Weißrussen, Ukrainer, Litauer und Letten Flüchtlingsrechts, das eine individuelle Überprüfung wieder einzuführen. eines jeden Asylbegehrens vorsieht, nicht verein- Zu Recht wird in Prag und Warschau befürchtet bar. — wir sind in der vergangenen Woche in Warschau Schon jetzt geben die bekanntgewordenen Länder- gewesen und haben mit den polnischen Politikern, listen Anlaß zu erheblichen Bedenken. So sollen angefangen bei Präsident Walesa, beraten —, daß das Rumänien, Bulgarien, Indien und Ghana den Ritter- gefährlich destabilisierend wirken könnte. schlag als sichere Herkunftsstaaten erhalten, in denen Länder, in denen erst soeben das Menschenrecht weder politische Verfolgung noch unmenschliche auf Freizügigkeit verwirklicht wurde, werden nun oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung vom mächtigen Deutschland erpreßt, dieses Recht stattfinden. wieder einzuschränken. Tatsächlich aber berichtet amnesty international Werden das die Regierungen in Prag und Warschau über staatlich gebilligte Ang riffe auf Leben und überhaupt überstehen? Welche ökonomischen Konse- Eigentum und unberechtigte Verhaftung von Roma in quenzen wird die Abriegelung der Wirtschaftsräume Rumänien, über Repressionen und Mißhandlungen jenseits der polnischen und der tschechischen Ost- durch Sicherheitskräfte in Bulgarien, über willkürli- grenze haben? Wie wird diese Abschottung auf die che Festnahmen und Folterungen von Oppositionel- politische und die wirtschaftliche Entwicklung in den len in Ghana sowie über Folter und Mißhandlungen baltischen Staaten, in Weißrußland, in der Ukraine, in als täglicher Verhörpraxis in Indien. Offensichtlich Ungarn und in der Slowakei wirken? Es läßt sich doch leiden die Autoren des Asylkompromisses unter vorhersehen, daß eine politische und wirtschaftliche einem Realitätsverlust, der für die abgewiesenen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12295

Konrad Weiß (Berlin) Verfolgten aber die schlimmsten Konsequenzen Beratungen übergehen und diese Gesetze ganz haben wird. schnell verabschieden. Schließlich ist beabsichtigt, mit einem Gesetz zur (Beifall bei der CDU/CSU) Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber Ich nenne eine andere Zahl. Im ersten Monat dieses Flüchtlinge aus dem Bundessozialhilfegesetz auszu- Jahres sind insgesamt 6 413 illegal eingereiste Aus- gliedern und die Sozialleistungen zu senken. Nach länder ermittelt worden. Dies ist gegenüber dem der Definition des Bundessozialhilfegesetzes ist es Dezember 1992 eine Steigerung um mehr als 24 %, Zweck der Sozialhilfe, „dem Empfänger der Hilfe die gegenüber dem Januar 1992 sogar um 140 %. Die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde Dunkelziffer liegt bei dem Vier- bzw. Fünffachen; wir des Menschen entspricht". müssen also davon ausgehen, daß fünfmal so viele Schon heute wird die Sozialhilfe für Asylsuchende illegal in unser Land gekommen sind. Die Februarzahl oftmals um 15 bis 20 % gekürzt, weil ein sogenannter ist weiter gestiegen. geringerer Ernährungsbedarf angenommen wird oder weil die Regelsätze der Sozialhilfe um den Anteil für Ich will ganz ruhig sagen, daß ich fest entschlossen kulturelle und kommunikative Zwecke herabgesetzt bin, die Grenzüberwachung an den erkannten Grenz- werden. Die Auffassung, daß Ausländer für ein men- brennpunkten entlang der deutsch-polnischen und schenwürdiges Leben weniger brauchen als Deut- der deutsch-tschechischen Grenze personell wie auch sche, ist schlimmster Rassismus. durch technische Ausrüstung zu verstärken — im übrigen voll in Übereinstimmung auch mit unseren Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt Nachbarn. daher dieses Gesetz entschieden ab. Wir halten daran fest, daß allein die Menschenrechte der angemessene (Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Wiefels Orientierungsrahmen für eine humane Flüchtlings- pütz [SPD]: Der Schengener Vertrag ver- und Einwanderungspolitik sein können. pflichtet Sie dazu!) Die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Her- Auf der Budapester Konferenz zur Bewältigung kunftsländern begründet sich ausschließlich in der unkontrollierter Wanderbewegungen am 15. und Würde eines jeden Menschen, zu der wir uns vorbe- 16. Februar haben 33 Staaten — die Herkunftsländer, haltlos bekennen. Eine Politik, die nur aus der Abwehr die Transitländer und die Zielländer — festgestellt, resultiert, ist unwürdig und schafft neues Unrecht. daß die illegale Einwanderung in diesem Ausmaß eine Unsere Erfahrung als Bürgerrechtler ist, daß eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Stabilität nach außen geschlossene Gesellschaft immer auch im darstellt. Sie haben die Schleusertätigkeit als eine Inneren eine starre Ordnung schaffen muß. Deshalb besonders verwerfliche Form der Kriminalität verur- ist unser hartnäckiger Kampf für die Bewahrung des teilt und die Verantwortung aller Staaten für die Asylrechts auch ein Kampf um die Bewahrung von Verhinderung illegaler Wanderbewegungen bekräf- Menschenrechten und Demokratie für die Deutschen tigt. in Deutschland. Deswegen erwarte ich und bitte ich darum, daß Ich danke Ihnen. meine Maßnahmen zur stärkeren Grenzkontrolle von niemandem als Versuch verunglimpft werden, eine (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neue Mauer aufzubauen, sondern als notwendige und der PDS/Linke Liste sowie des Abg. Maßnahmen gegen illegale Zuwanderung, gegen Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos]) Schleuser und für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit unseres Landes verstanden werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat das Wort der Herr Bundesminister des Innern, Dr. Ru- Bei Einreisen aus einem sicheren Drittstaat kann dolf Seiters. - die Zurückweisung an der Grenze und ebenso die Zurückführung ohne Prüfung der Asylgründe erfol- gen, wenn dies auf Grund völkerrechtlicher Verträge Dr. Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Frau möglich ist. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß bei Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Herbert der Liste dieser Staaten gewährleistet ist, daß Auslän- Wehner im Februar 1982 seine Warnung aussprach, der, die sich auf ihre Flüchtlingseigenschaft berufen, wenn wir uns weiterhin der Steuerung des Asylpro- dort nicht politisch verfolgt werden, keiner unmensch- blems versagen würden, würden wir eines Tages von lichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt den Wählern, auch von unseren eigenen, weggefegt, sind, nicht den Vorschriften der Genfer Flüchtlings- kamen über das ganze Jahr 1982 37 000 Ausländer, konvention zuwider in einen Verfolgerstaat abge- die bei uns Asyl beantragten. Im Februar 1993 waren schoben werden und die Möglichkeit haben, sich an es 38 000. der Grenze oder im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates mit einem Schutzersuchen an die dortigen Seit dem Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 Behörden zu wenden. sind über 100 000 Asylbewerber in unser Land gekommen, über 17 000 allein aus Rumänien und Das sind exakt die Kriterien, auf die sich die Bulgarien, die wir auf die Liste der sicheren Her- EG-Mitgliedstaaten verständigt haben und die ver- kunftsländer setzen wollen. Die Anerkennungsquote deutlichen: Der politisch Verfolgte muß Schutz finden lag im Januar bei 2,4 %, im Februar bei 1,6 %. Ich kann können. Aber weder das Asylrecht noch die Genfer nur beschwörend sagen: Es wird allerhöchste Zeit, daß Flüchtlingskonvention noch die Europäische Men- wir ohne jede Verzögerung jetzt ganz schnell zu den schenrechtskonvention geben dem Flüchtling das 12296 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Bundesminister Dr. Rudolf Seiters Recht auf freie Wahl des Zufluchtslands. Und dabei weise auch anderen Gesprächspartnern von uns das soll es bleiben. Geschäft und die Möglichkeiten der Verständigung erschweren —, meine Verhandlungsposition nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dadurch zu erschweren, daß damit gedroht wird, der ordneten der SPD) Asylkompromiß werde keine Mehrheit finden ohne Der Parteienkompromiß sieht vor, daß begleitend zu das Vorliegen entsprechender Verträge. Ich sage den Gesetzgebungsmaßnahmen von Deutschland mit noch einmal: Wer meine Verhandlungen und meine Polen und der Tschechischen Republik Gespräche Bemühungen objektiv verfolgt, muß wissen, daß ich aufgenommen werden, in denen diesen Staaten auf schnelle, vertretbare und faire Vereinbarungen dem Gebiet des Asylrechts Zusammenarbeit und anstrebe. Aber ich muß nachdrücklich bitten, die Unterstützung angeboten werden, und zwar im Hin- deutsche Position in diesen Verhandlungen nicht zu blick auf administrative und finanzielle Hilfe zur stören, nicht zu erschweren, nicht zu unterlaufen und Bewältigung der Flüchtlingsprobleme, Regelungen nicht zu sabotieren. zur Lastenverteilung bei der Aufnahme von Flüchtlin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen in besonderen Situationen und die Festlegung von Zuständigkeitsregelungen entsprechend dem Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Dubliner Abkommen. Kollegen, einer der Kernpunkte des Asylkompromis- ses vom 6. Dezember war, bei Asylsuchenden, die aus Ich habe schon vor dem Asylkompromiß vom 6. De- einem sicheren Drittstaat eingereist sind, die Rückfüh- zember erklärt, daß wir in Deutschland nicht beab- rung in den sicheren Drittstaat ohne vorherige gericht- sichtigen, unsere Probleme einseitig auf andere Staa- liche Überprüfung im Rahmen des vorläufigen ten zu verlagern. Ich bekräftige dies auch heute. Wir Rechtsschutzes zu ermöglichen. Dies war der gemein- wollen in Deutschland mit den Wanderungsproble- same Wille aller derjenigen, die an dem Asylkompro- men nicht alleingelassen werden. Aber wir wollen miß mitgewirkt haben. Im Rahmen der Erörterungen auch Polen und die Tschechische Republik mit den des vorliegenden Gesetzentwurfs, der diesen gemein- Problemen der Asylpolitik und der illegalen Zuwan- samen Willen umsetzen soll, ist die Frage aufgetaucht, derung nicht alleinlassen. ob dies durch den vorgesehenen Art. 16a Abs. 2 Satz 3 Ich habe unmittelbar nach dem Asylkompromiß die des Grundgesetzes in Verbindung mit der Regelung Botschafter informiert. Die Gespräche mit Polen und des § 34a Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes verfas- der Tschechischen Republik laufen. Mit meinem pol- sungsrechtlich bedenkenfrei erreicht wird. Wer dies nischen Amtskollegen Milczanowski habe ich part- bezweifelt, möge eine andere Formulierung vorschla- nerschaftliche und sehr konstruktive Gespräche gen. Jedenfalls darf das Ergebnis, das für mich von geführt; mit seinem Stellvertreter Czymowski und mit entscheidender Bedeutung ist, in den anstehenden dem tschechischen Innenminister Ruml bin ich mehr- Gesetzesberatungen zur Grundgesetzänderung und mals zusammengekommen, zuletzt in Budapest. zur Änderung des Asylverfahrensrechts nicht in Frage Ich bedanke mich beim Vorsitzenden der SPD- gestellt werden. In der Möglichkeit der sofortigen Bundestagsfraktion, Hans-Ulrich Klose, der in einem Abschiebung liegt ein entscheidender Schlüssel zur öffentlichen Inte rview Kritik am Bundesinnenminister Lösung des Problems. Das muß auch hier noch einmal ausdrücklich zurückgewiesen und erklärt hat: ganz klar festgestellt werden. Deutschland geht gerade mit Polen und der Tschechi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schen Republik in besonders fairer Weise um. Was das System der sicheren Herkunftsstaaten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- anbetrifft, so ist festzustellen, daß dieses System nicht ordneten der F.D.P.) neu ist. Die Schweiz praktiziert dieses System. Die EG-Einwanderungsminister haben Grundsätze für Ähnlich hat sich — ich bedanke ich dafür — auch ein solches System entwickelt. Bei der Einstufung der brandenburgische Innenminister Ziel geäußert. eines Staates als sicherer Herkunftsstaat ist ein um- Und wenn man nachgelesen hat, was der polnische fangreicher Kriterienkatalog zugrunde gelegt wor- Staatspräsident Walesa, was die Ministerpräsidenten den, der sich wesentlich an dem Schweizer Katalog und was Innenminister Milczanowski in öffentlichen und den Schlußfolgerungen der EG-Einwanderungs- Erklärungen geäußert haben, kann man doch wohl minister orientiert: Höhe der Anerkennungsquote in davon ausgehen, daß wir fest entschlossen sind, diese den vergangenen Jahren, allgemeine politische Lage, Gepräche in einer fairen Weise zu führen, und daß ich Achtung der Menschenrechte, Bereitschaft, unabhän- alles tue, damit es zu Vereinbarungen kommt — im gigen internationalen Organisationen zur Überwa- Wissen, daß wir mit Polen eine rechtsgültige Verein- chung der Menschenrechtslage den Zutritt zu seinem barung haben, aber bereit sind, hinter diese Verein- Gebiet zu gewähren, und die Stabilität des Landes. barung zurückzugehen, weil wir nicht wollen, daß Diese Kriterien sind unter Heranziehung der von den Polen jetzt mit diesen Problemen überfrachtet wird. Behörden des Bundes gewonnenen Erkenntnisse von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Rechtsprechung sowie Materialien des UNHCR und ordneten der F.D.P.) internationaler Menschenrechtsorganisationen unter- Aber ich habe die ganz herzliche, dringende Bitte sucht worden. an andere Sprecher der Sozialdemokratie aus Bund Es gilt auch für die Liste der sicheren Herkunftsstaa- und Ländern — es ist doch nicht so, daß diese ten, daß sie nicht vollständig und abschließend sein Diskussion nur in Deutschland geführt und nur in soll. Ich bin allerdings nachdrücklich der Auffassung, Deutschland zur Kenntnis genommen wird; wir müs- daß neben den vorgesehenen Ländern Bulgarien, sen uns auch einmal fragen, ob wir nicht möglicher- Rumänien, Polen, der Slowakischen Republik, der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12297

Bundesminister Dr. Rudolf Seiters Teschischen Republik und Ungarn auch die Auf- reise durchgeführt wird, wenn die Unterbringung auf nahme anderer Staaten, z. B. Gh ana, Anerkennungs- dem Flughafengelände während des Verfahrens quote bei uns im Jahre 1992 0,3 %, Indien, Anerken- möglich ist. nungsquote 0,06 %, Gambia, Anerkennungsquote (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE 0,0 %, und Senegal, Anerkennungsquote 0,0 %, GRÜNEN]: Können Sie das rechtsstaatlich geprüft werden sollte. garantieren, Herr Minister?) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich- Ich habe die auf Erfahrung gestützte Sorge, daß tig!) viele Ausländer, wenn sie eingereist sind, untertau- Es war der Wille der am Asylkompromiß beteiligten chen, der Einladung zu Anhörungen nicht folgen und Parteien, daß die Regelung über sichere Herkunfts- damit das Asylverfahren und gegebenfalls später die staaten außereuropäische Lander einschließen Abschiebung erheblich erschweren. Das Bundesamt sollte. hat jetzt die Erfahrungen der Asylentscheidungszen- tren, die wir gemeinsam eingerichtet haben, mitge- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr teilt. Nur 15 % der Rumänen und nur 40 % der wahr!) Bulgaren sind überhaupt der Einladung zu diesen Ich muß mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß Anhörungen gefolgt. Liebe Kolleginnen und Kolle- bei einem Ausschluß außereuropäischer Staaten die gen, das können wir nicht hinnehmen; Neuregelung von Absatz 3 des Art. 16a des Grundge- setzes nicht die Wirkung erzielen wird, die sie nach (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der dem Willen der am Asylkompromiß Beteiligten haben SPD) sollte. denn wenn wir bereit sind, auch künftig in großzügi- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und ger Weise unter Abwägung der Fakten Asyl zu Kollegen, ich kann auch nicht erkennen, warum gewähren, Heimstatt und Zuflucht zu gewähren, dann Hauptherkunftsländer aus der Dritten Welt, bei denen ist doch das mindeste, was wir erwarten können müssen, daß diejenigen, die bei uns als politisch die Anerkennungsquote deutlich unter 1 % liegt, von der Liste dieser sicheren Herkunftsstaaten ausge- Verfolgte um Asyl nachsuchen, ihre Mitwirkungs- schlossen werden sollten. Dies wäre — ich sage dies pflichten nicht verletzen, sondern über die Gründe, warnend — der deutschen Öffentlichkeit nicht vermit- warum sie Asyl in Deutschl and begehren, Auskunft telbar, die ja nicht nur will, daß wir hier irgendein geben. Das müssen wir erwarten können. Asylgesetz verabschieden, sondern die auch möchte, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. daß dieses Gesetz effektiv ist und daß es dazu beiträgt, sowie bei Abgeordneten der SPD) das drängende Problem in Deutschland zu mildern. Deshalb mein dringender Wunsch, daß in diesen Deswegen will ich rechtzeitig auf die Bedeutung Fällen der Asylbewerber im Transitbereich verbleibt dieser Frage aufmerksam gemacht haben. Ich werbe und dort eine Überprüfung seines Asylbegehrens eindringlich dafür, in dem jetzt laufenden Gesetzge- durch das Bundesamt vorgenommen wird. Bei nega- bungsverfahren nicht hinter die Intention des Asyl- tivem Entscheid und endgültiger Einreiseverweige- kompromisses vom Dezember zurückzugehen. rung kann er innerhalb eines Zeitraums von 48 Stun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsge- Ich will für die Ausschußberatungen auch auf fol- richt beantragen. Im Falle der rechtzeitigen Antrag- gende Probleme noch einmal rechtzeitig hinweisen. stellung wird die Einreiseverweigerung nicht vor Das sind keine Nachbesserungswünsche, sondern sie Ablauf von sieben Tagen vollzogen. Der Asylbewer- haben schon in den bisherigen Verhandlungen eine ber hätte ein faires Verfahren und die Möglichkeit der Rolle gespielt. Ich habe immer wieder darauf hinge- gerichtlichen Überprüfung. wiesen und möchte auch an dieser Stelle meine (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Sehr Position in aller Ruhe verdeutlichen. gut!) (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) Meine Damen und Herren, ich kann also nicht Ich stelle mit Sorge fest, daß bisher keine Verfah- erkennen, warum wir in Deutschland nicht vergleich- bare Regelungen wie Frankreich und die Niederlande rensbeschleunigung bei der Situation an Flughäfen erreicht werden konnte. Ich habe immer wieder auf einführen können. Nachdem wir ohnehin gegenüber die Gefahr hingewiesen, daß sich die Ströme der den ersten Entwürfen im Wege von Kompromissen, illegalen Zuwanderung verändern, ja, daß der Ver- ohne die eine Zustimmung der SPD nicht erreichbar such unternommen wird, in verstärktem Umfang gewesen wäre, Fristen haben verlängern müssen, die wegen der Drittstaatenregelung nicht mehr über wiederum ganz notgedrungen zu einer Verlängerung Landgrenzen, sondern ohne die gesetzlich vorge- der Verfahren führen, bin ich besorgt, daß wir ohne schriebenen Einreisesichtvermerke über Flughäfen eine solche Flughafenregelung bei diesem Gesetz zu einzureisen, insbesondere über Frankfurt. kurz greifen. Schlepperorganisationen haben bereits in der Ver- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist richtig!) gangenheit bewiesen, daß sie jede sich abzeichnende Mitte Februar hat das Grenzschutzamt Frankfurt Lücke schnell ausnutzen. Ich plädiere deshalb dafür, einen deutlichen Anstieg von Flüchtlingen auf dem daß bei Ausländern aus einem sicheren Herkunfts- Rhein-Main-Flughafen verzeichnet. Allein im Januar staat, die über einen Flughafen einreisen wollen und dieses Jahres waren es bereits rund 20 % mehr als im dort bei der Grenzbehörde um Asyl nachsuchen, das Vergleichsmonat des Vorjahres. Ich stelle mir die Asylverfahren vor der Entscheidung über die Ein- Situation vor — ich hoffe nicht, daß es dazu kommt —, 12298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Bundesminister Dr. Rudolf Seiters daß es nach Verabschiedung dieser Gesetze eine Ich bitte aber herzlich darum, daß wir die Gesetzes- Veränderung der Wanderungsströme über unsere beratungen zu diesen Fragen, die wir Ende Ap ril Flughäfen gibt. Was wird wohl die Bevölkerung zu uns abschließen wollen, jetzt nicht mit Grundsatzfragen sagen, wenn wir uns dafür nicht gewappnet haben? anderer Art befrachten, wie das beim Thema der doppelten Staatsangehörigkeit versucht wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich appelliere eindringlich an Sie, diesen Vorschlag zu akzeptieren, auch angesichts nicht auszuschließender Meine Damen und Herren, am 6. Dezember haben wir Veränderungen der Wanderungsströme aus sicheren dieses Thema angesichts unterschiedlicher Meinun- Herkunftsstaaten. gen der Fraktionen ausdrücklich zurückgestellt. Auch andere Fragen der Neuregelung des Staatsangehörig- (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE keitsrechts sind vom Asylkompromiß des 6. Dezember GRÜNEN]: Und was machen Sie mit dem nicht erfaßt und werden in einem anderen Zusam- Flugplatz in Brüssel?) menhang weiter zu diskutieren sein. Meine Damen und Herren, einem Ausländer — und Ich appelliere jedenfalls an uns alle, die vorliegen- das ist ein zweites Problem; ich spreche es nur ganz den Gesetzentwürfe zügig und ohne jede Verzöge- vorsichtig an — sollte aber nach meiner Meinung an rung zu beraten. Die Zahl der Asylsuchenden ist — auf der Grenze die Einreise zur Antragstellung auch dann einer dramatischen Höhe — immer noch ansteigend. verweigert werden können, wenn er unter Vortäu- Die Bevölkerung erwartet ein rasches Handeln des schung einer falschen Identität oder Staatsangehö- Gesetzgebers. Dieser Erwartung dürfen sich demo- rigkeit einzureisen versucht und auf ausdrückliches kratische Parteien und darf sich ein handlungsfähiger Befragen keine Rechtfertigungsgründe darlegt und Staat nicht länger verschließen. auch seine wahre Identität oder Staatsangehörigkeit Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. nicht angibt. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Eine solche Vorschrift erfaßt möglicherweise nur Beifall bei der F.D.P.) wenige Fälle. Darüber bin ich mir im klaren. Aber es könnten gerade die Fälle sein, die sich dazu eignen, in der Öffentlichkeit hochgespielt zu werden und Asyl- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und bewerber generell zu diskriminieren. Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Wolfgang Zeitlmann. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Ich erinnere an den Fall der Schwarzafrikaner, die sich Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! mit Phantasienamen wie Welcome Germany oder Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist hier Johnny Walker meldeten. Das sind nicht viele Fälle, vieles gesagt worden, was ich nicht zu wiederholen aber sie eignen sich dafür, das ganze Thema Asyl oder beabsichtige. Ich möchte nur eines vorausschicken. andere Asylbewerber zu diskriminieren. Deswegen sage ich hier aus grundsätzlicher Überzeugung: Poli- Der Minister hat darauf hingewiesen, daß wir im tische Verfolgung bedeutet Verfolgung einer ganz Zuge dieses Kompromisses dringend eine Verstär- bestimmten Person. Wer nicht bereit ist, seine Identität kung unserer Kontrollkräfte an den Grenzen brau- zu offenbaren, damit die Frage einer Verfolgung chen. Dies ist wohl eine der entscheidenen Vorausset- überhaupt geprüft werden kann, der kann doch zungen. Ich bin froh, Herr Minister, daß Sie dies hier so eigentlich nicht behaupten, politisch verfolgt zu sein. klar und deutlich angesprochen haben. Deshalb möchte ich, daß dieses Problem im Gesetzge- Meine Damen und Herren, am späten Abend des bungsverfahren erneut aufgegriffen wird. 6. Dezember 1992 erklärten die Spitzen der im Deut- schen Bundestag vertretenen Fraktionen, man habe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sich bei den Streitfragen zu Asyl und Zuwanderung Ich unterstreiche, meine Damen und Herren, die geeinigt, und stellten die Ergebnisse der Verhandlun- Verständigung, die wir über die Änderungen des gen, die viele Stunden gedauert hatten, vor. Seitdem Ausländer- und des Staatsangehörigkeitsrechts er- betrachten die Leute das Problem als soweit wie zielt haben. In das Ausländergesetz wird eine eigen- irgend möglich gelöst und rechnen mit einer baldigen ständige Aufnahmeregelung für Kriegs- und Bürger- Verbesserung der Situation. kriegsflüchtlinge aufgenommen, und ich stimme all (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE denen zu, die gesagt haben, daß wir sie auch prakti- GRÜNEN]: Sie sollten mal unter die Leute zieren müssen. Wir haben es ja doch auch schon in der gehen!) Vergangenheit durch eine ganz großzügige Regelung gemacht, zu der ich mich auch innerlich voll bekenne. Nachdem Ende Januar die dazu erforderliche Ände- Ich möchte, daß wir für die Geschundenen und rung des Grundgesetzes in erster Lesung behandelt Gemarterten dadurch mehr tun können, daß wir uns worden ist, folgt heute mit der Änderung des Asylver- den Spielraum verschaffen. Diese eigenständige Auf- fahrensrechts, des Ausländerrechts, des Staatsange- nahmeregelung wird jetzt in das Ausländergesetz hörigkeitsrechts und dem Gesetzentwurf zur Neure- aufgenommen. Ich unterstreiche das. gelung der Leistungen an Asylbewerber der zweite Schritt zur Umsetzung des damals Vereinbarten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Konnte man im Herbst letzten Jahres keine Veran- Im Staatsangehörigkeitsrecht wird die Einbürge- staltung mehr abhalten, ohne nach wenigen Minuten rung junger Ausländer bzw. die Einbürgerung von beim Thema Asyl zu sein, stoßen heute auch wieder Ausländern mit langem Aufenthalt erleichert. andere Themen auf das Interesse der Menschen. Sie Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12299

Wolfgang Zeitlmann wissen, daß die Umsetzung des Vereinbarten eine Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Zeitl- gewisse Zeit in Anspruch nimmt, und bringen uns das mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vertrauen entgegen, daß wir schnell und wirksam Weiß? handeln. Dieses Vertrauen dürfen wir hier nicht enttäuschen. Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Selbstverständ- lich. Die Fragen, die sich bei der Regelung des Asylver- fahrens stellen, sind zwar in vielen Fällen schwierig, Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr keineswegs aber neu, so daß es uns möglich sein Kollege Weiß. müßte, die heute eingebrachten Entwürfe sehr zügig zu beraten und zu verabschieden. Wir dürfen schließ- Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lich nicht vergessen, daß nicht nur der Schritt von der Vielen Dank. — Herr Kollege Zeitlmeier, können Sie Einigung zwischen den Parteien zum Gesetz, sondern mir erklären, wie die gegenwärtigen Rechtsgrundla- auch der Schritt vom Gesetz zur praktischen Wirksam- gen für das Asylbegehren in der Tschechischen Repu- keit vor Ort gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. blik oder in Polen aussehen, auf die Sie sich berufen? Wollen wir das Vertrauen der Bürger nicht erschüt- Dort sollen Asylbewerber nach Ihrer Meinung das in tern, müssen wir ein Asylverfahren schaffen, das die Deutschland nicht in Anspruch zu nehmende Recht ja am 6. Dezember 1992 gewollten Verbesserungen wahrnehmen können. auch wirklich erreicht. Es bestand damals Einigkeit, daß nur eine Verein- Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Entschuldigen barung getroffen werden sollte, die wirklich Erfolg Sie die Replik, Herr Kollege Schwarz. bringt, das muß auch heute für alle Beteiligten gelten. (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU — Verwässerungen sind mit der CDU/CSU nicht zu Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE machen. Von seiten der Gegner des Kompromisses GRÜNEN]: Ich heiße Weiß!) wird seit Wochen geharnischte Kritik an den vorgese- — Ich weiß; ich wollte Ihnen nur beibringen, daß Sie henen Regelungen geübt. sich auch meines Namens richtig annehmen. (Zuruf von der SPD: Verbesserungen sind mit Aber, Herr Kollege Weiß, Spaß beiseite: Sie wollen der CDU/CSU nicht zu machen?) doch hier nicht im Ernst behaupten, daß wieder irgendwo am deutschen Asylrecht die Welt genesen — Verwässerungen, habe ich gesagt, Verwässerun- soll. Unser Maßstab muß nicht unbedingt der Maßstab gen. — Betrachtet man die Zugangszahlen, die Aner- anderer Länder sein. kennungsquote, die Situation beim Bundesamt für die (Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, bei den GRÜNEN]: Aber für uns!) Gerichten, in den Aufnahmestellen und in den Kom- Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ohne Zweifel in munen, so ist der Handlungsbedarf doch für jeden unseren Nachbarstaaten beachtet und kann Basis offenkundig. Die Inhalte und die Intention der vorge- auch der Verhandlungen über einzelne Asylverfahren legten Regelungen wurden bereits dargestellt. Wer in diesen Ländern sein. sie ablehnt, soll doch bitte einen besseren Vorschlag machen! (Zustimmung bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, unser Ziel hier in (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland ist eine europäische Lastenteilung, eine Zuständigkeitsregelung und eine Harmonisierung Immer wieder wird behauptet, das Asylrecht sei in auch des materiellen Asylrechts. Weshalb soll Wirklichkeit abgeschafft. — Diese Behauptung fand Deutschland es denn hinnehmen, daß der ganz über- sich auch in einigen Reden, z. B. in denen der Kolle- wiegende Teil der Asylbewerber gerade zu uns gen Weiß und Jelpke. — Übrig sei nur noch eine leere kommt? Wir können die Verantwortung für Flücht- Hülse, denn kaum ein Verfolgter könne es noch in linge nicht allein tragen; ein Asylrecht à la carte darf es Anspruch nehmen. nicht geben. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Nicht zu vertreten ist deshalb auch, den Abschluß GRÜNEN]: Sie haben gut aufgepaßt!) von entsprechenden Verträgen mit Polen und der Tschechischen Republik zur Voraussetzung für die Wer diese Ansicht vertritt, bescheinigt sich nur selbst, Änderung unseres Asylrechts zu machen. Niemand daß er von den praktischen Problemen des Asylrechts will diese Länder überfordern. Das zeigt auch schon keine Ahnung hat. der Kompromiß. Völlig aus der Verantwortung kön- nen wir sie jedoch nicht entlassen. Das hätte zur Folge, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. daß jedem Asylbewerber, der nach Polen oder in die Jörg van Essen [F.D.P.]) Tschechische Republik kommt, dort lediglich der Weg Diejenigen, die nachweislich über einen sicheren zur deutschen Grenze gezeigt werden müßte. Drittstaat eingereist sind und dorthin auch zurückge- Der Abschluß dieser Verträge war schon gar nicht schoben werden können, können dort Asyl beantra- Geschäftsgrundlage, wie dies oft behauptet wird. gen. Diejenigen, die nichts über ihren Reiseweg Ganz im Gegenteil wurde ausdrücklich vereinbart, sagen, erhalten ein vereinfachtes Verfahren, da von daß entsprechende Verhandlungen aufgenommen jemandem, der auf diese Weise seine Mitwirkungs- und unseren Nachbarn faire Angebote unterbreitet pflicht verletzt, vermutet wird, daß sein Asylbegehren werden müssen. Ob es zu einem Abschluß von Ver- offensichtlich unbegründet ist. trägen kommt, hängt nicht allein von uns ab, so daß 12300 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Wolfgang Zeitlmann wir uns mit einem Junktim völlig in die Hände unserer Verwaltung und von den unabhängigen Gerichten Verhandlungspartner begeben würden. Das kann 20 000, vielleicht 25 000 Menschen als politisch Ver- doch wohl im Ernst niemand wollen. folgte anerkannt werden. Wir könnten durchaus mehr Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum politisch Verfolgte in Deutschland unterbringen. Hier Abschluß zwei Sätze zu der Diskussion hier in diesem liegt nicht unser Problem. Ohne uns überheben zu Hause sagen: Solange wir uns auf der Basis der wollen, stellt sich hier sogar die Frage, ob es denn jetzigen Entwicklung in Europa, der Situation in richtig ist, daß wir uns nahezu ausschließlich um unseren Nachbarländern bewegen, mögen wir mit diejenigen politisch Verfolgten kümmern, die die diesem Gesetz das Richtige tun; nur eines befürchte Kraft, das Geld, das Glück hatten, die Bundesrepublik ich, nämlich eine Verschlechterung der politischen Deutschland zu erreichen. Könnte es nicht, Frau Entwicklung im Osten und damit eine wesentliche Ministerin, Herr Minister, ein unverzichtbarer Be- Steigerung der Zahlen, was uns Gott ersparen möge. standteil deutscher Außen- und Menschenrechtspoli- Nur, wenn das eintritt, glaube ich, daß wir die vom tik sein, Verfolgte aus Gefängnissen und Konzentra- Innenminister hier geforderten zusätzlichen Maßnah- tionslagern zu befreien, um ihnen hier in unserem men an Flughäfen, auch die zusätzlichen Maßnahmen Lande Schutz und Zuflucht zu gewähren? im Bereich der Verwaltung, sprich: Verstärkung der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Grenzkräfte, dringend brauchen. DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie, daß wir beweglich bleiben und uns nicht wieder Ich denke, einige unserer Möglichkeiten in diesem einmauern, daß wir der Entwicklung entsprechend Bereich sind längst noch nicht ausgeschöpft. handeln und jeweils eine vernünftige Antwort auf Nein, die politisch Verfolgten sind erkennbar nicht künftige Entwicklungen finden, um dem deutschen das Problem in Deutschland. Das Problem ist die Volk zu zeigen, daß diese Demokratie handlungsfähig ungesteuerte, gegenwärtig zu massive Einwande- und ein Problem zu meistern in der Lage ist. rung nach Deutschland. Es ist nicht nur das Recht der Herzlichen Dank. Politik, es ist die Pflicht der Politik, die Zuwanderung nach Deutschland zu reduzieren, sie steuerbar zu (Beifall bei der CDU/CSU) machen und dabei die — durchaus beachtliche — Aufnahme- und Integrationskraft der deutschen Vizepräsident Helmuth Becker: Der nächste Redner Gesellschaft nicht zu überschätzen. ist unser Kollege Dieter Wiefelspütz. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen brauchen wir ein Ein Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Liebe wanderungsgesetz!) Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um Zuwande- Im Bereich der Zuwanderung befinden sich die rung und Asyl in Deutschland hat einen Stellenwert wie andere bedeutende Debatten in der Geschichte Bundesregierung und die Koalition leider noch nicht unserer Republik. Ich erinnere an die Auseinanderset- auf der Höhe des Problems. In den kommenden zungen um die Landesverteidigung, um die Not- Jahren werden jährlich 200 000 Spätaussiedler und standsverfassung, um die Ostverträge, um die Reform mehr als 100 000 Menschen im Wege der Familienzu- des § 218, um den richtigen Weg im Einigungsprozeß sammenführung zu uns kommen. Diese Menschen sind Einwanderer. Gleichwohl behauptet die Bundes- und an die Debatte um die Hauptstadtfrage, um nur einige Beispiele zu nennen. regierung, unser Land sei kein Einwanderungsland. Ich will gar nicht bestreiten, daß wir kein Einwande- Wie stets führen wir die Debatte sehr grundsätzlich, rungsland wie Australien oder die Vereinigten Staa- sehr abstrakt, vielfach theoretisch, sehr leidenschaft- ten sind, aber wir waren in der Vergangenheit ein lich, manchmal sehr deutsch. Wie könnte das anders Einwanderungsland, und wir werden es in der sein? - Zukunft bleiben. Es hat in Deutschland leider auch nicht an haßer- füllten Beiträgen gefehlt. Es gab und gibt Brandstifter, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des in Einzelfällen auch gemeine Totschläger, aber auch Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/ viele — ich denke, eine deutliche Mehrheit —, die in DIE GRÜNEN]) unserem Lande mit Flüchtlingen leben wollen. Indes, es stellt sich die Frage: Sind wir eigentlich mit Die Vereinbarung der Parteien in Sachen Zuwan- unserem politischen Handlungsinstrumentarium ehr- derung und Asyl vom 6. Dezember 1992 stellt sich lich genug, aufgeschlossen genug, um diesen Gege- nach meiner Auffassung nicht als ein strahlender benheiten zu begegnen, um sie aufzugreifen und zu Abschluß einer schwierigen Diskussion dar. Es han- gestalten? Sagen wir eigentlich unserer Bevölkerung delt sich durchaus um einen Kompromiß. Es fällt nicht in hinreichender Deutlichkeit, daß das so ist, daß sich schwer, bei diesem Kompromiß Widersprüchlichkei- das in der Zukunft nicht ändern wird und daß wir auch ten, Halbherzigkeiten, Unvollständigkeiten aufzuzei- gar nicht wünschen sollten, daß es sich ändert? gen. Gleichwohl hebt der Asylkompromiß eine Hand- Ich bin der Überzeugung, daß wir angesichts der lungs- und Gestaltungsblockade in Deutschland auf, gegenwärtigen Probleme in unserem Lande über die die die demokratische und die zivile Kultur in unserem angesprochenen Gruppen und die vereinbarten Quo- Lande dauerhaft zu beschädigen drohte. ten hinaus vorläufig kaum weitere Einwanderungen Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß in Deutschland aufnehmen können. Dies wird sich in es in diesem Lande keine Probleme mit politisch einigen Jahren wieder ändern. In 10, 15 Jahren Verfolgten gibt. In diesem Jahr mögen von der werden wir es vermutlich gemeinsam begrüßen, wenn Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12301

Dieter Wiefelspütz sich wieder vermehrt Ausländer dauerhaft in Deutsch- ergreift. Sie werden auf diesem Sektor unsere nach- land niederlassen wollen. Heute gilt: Der politisch haltige Unterstützung finden. Verfolgte aus der Türkei, aus dem Iran, aus dem Irak, (Beifall bei der SPD, der F.D.P. sowie bei um nur Beispiele zu nennen, wird in Deutschland Abgeordneten der CDU/CSU) weiterhin Schutz und Zuflucht finden; den türkischen, rumänischen oder bulgarischen Bürger, der heute zu Wir haben bereits heute den Ke rn eines materiell uns kommt, um einzuwandern, werden wir jetzt und in einheitlichen europäischen Flüchtlingsrechts in Ge- den kommenden Jahren in seine Heimat zurückschik- stalt der Genfer Flüchtlingskonvention und der Euro- ken müssen. Wir benötigen in diesem schwierigen päischen Menschenrechtskonvention. Wir haben als Bereich mehr Klartext. Deutsche keine Veranlassung, keine Berechtigung zu anmaßender Besserwisserei, zu Hochmut und zu Her- Die SPD-Fraktion wird in der kommenden Woche ablassung. Wir haben aber das Recht, auf die Einhal- — ohne draufsatteln zu wollen, Herr Minister — ihre tung und Anwendung der Konventionen zu bestehen. Vorstellungen zum erleichterten Erwerb der doppel- Auch bei unseren östlichen Nachbarn darf in Men- ten Staatsbürgerschaft und zur erleichterten Einbür- schenrechtsfragen nicht gewackelt werden. Bitte gerung einbringen. Hoffentlich werden wir sie dann keine faulen Zugeständnisse in irgendeine Rich- auch diskutieren können. Ich denke, wir als SPD tung. werden noch im Frühsommer dieses Jahres den Ent- wurf eines Zuwanderungsgesetzes einbringen. Wir Hingegen ist uns eine faire Lastenverteilung mit haben sehr wohl die Aufgabe, uns dieser schwierigen den östlichen Nachbarn, insbesondere mit Polen und Problematik zu stellen. Die Probleme in diesem der Tschechischen Republik, nicht nur wichtig, son- Bereich sind auch in unserer Partei noch längst nicht dern unverzichtbare Voraussetzung für die Verab- alle gelöst. Aber durch Nichtstun wird es ja nicht schiedung des Asylkompromisses, für das gesamte leichter. Wir werden uns also dieser Aufgabe zu Gesetzespaket. Über die Ernsthaftigkeit dieser Aus- stellen haben, und wir werden dieses Gesetz, denke sage, Herr Minister, sollte sich niemand in diesem ich, noch im Frühsommer dieses Jahres einbringen. Hause Illusionen machen. (Beifall bei der SPD) Dieser Entwurf wird allerdings von Realismus geprägt sein und für einen mittleren Zeitraum eher Ich sehe, daß die Zeit dahinrinnt. Ich will noch kurz den Charakter eines Zuwanderungsbegrenzungsge- auf zwei, drei Argumente eingehen, die Sie, Herr setzes haben. In fünf oder zehn Jahren mag die Minister Seiters, angesprochen haben. Wir haben von Situation wieder anders sein. seiten der SPD-Fraktion kein Interesse an taktischen Mätzchen. Ich darf, ohne nachkarten zu wollen, aller- Die Änderung des Art. 16 Grundgesetz und die dings darauf hinweisen, daß wir von seiten der SPD- dazu heute eingebrachten Begleitgesetze sind erfor- Fraktion in den durchaus fair geführten Beratungen derlich geworden, weil der Art. 16 Grundgesetz ange- der letzten Wochen und Monate einige Mühe hatten, sichts zunehmender Reisefreiheit und der erheblichen eine Reihe von Vorschlägen aus dem von Ihnen sozialen Verwerfungen vor allem in Ost- und Südost- vorgelegten Gesetzentwurf herauszufiltern, die nicht europa mehr und mehr als Instrument zur Einwande- von dem Kompromiß vom 6. Dezember 1992 gedeckt rung nach Deutschland benutzt wurde. waren. Viele, insbesondere viele in der SPD, glauben, mit Man kann über manches diskutieren, was in der der Neufassung des Grundrechts auf Asyl sei der Zukunft vielleicht noch einmal angesprochen werden Grundrechtsschutz bis zur Unkenntlichkeit defor- muß. Aber ich sage ganz deutlich, auch für die miert worden. Diese Befürchtungen nehme ich ernst, kommenden, nicht ganz einfachen Beratungen, die sie sind aber nach meiner festen Überzeugung nicht noch vor uns stehen: Draufsatteln wird mit der SPD begründet. nicht möglich sein, auf keiner Seite. Wir werden das nicht tun. Bitte muten Sie uns das nicht zu, wenn Sie Wenn gegenwärtig Flüchtlinge nach Deutschland nicht das ganze Paket zum Scheitern bringen wol- kommen, werden sie gleichmäßig auf unsere Bundes- len. länder verteilt jedes Bundesland bemüht sich wie- derum landesintern um eine gerechte Verteilung. Damit sind insbesondere auch Sonderverfahren für Niemand wird bestreiten, daß dies Sinn macht und Flughäfen gemeint. Wir sind gerne bereit, im Rahmen vernünftig ist. Es darf in Zukunft, liebe Kolleginnen der bestehenden Gesetze praxisnah organisatorische und Kollegen, in der gleichen Weise keinen Unter- Regelungen zu schaffen, die einige der von Ihnen schied machen, ob ein Flüchtling in Frankreich, in den angesprochenen Probleme lösen helfen. Aber bitte Niederlanden oder in Deutschland erstmals das kein Sonderverfahren; das ist nicht vereinbart. Wir Gebiet der Europäischen Gemeinschaft erreicht. werden auf der europäischen Ebene diskutieren müs- sen, ob wir nicht gemeinsame Regelungen für Flug- Die Zuständigkeitsregelungen von Schengen und häfen finden. Das wird für die Zukunft abzuarbeiten Dublin sind ein erster wichtiger Schritt zur Schaffung sein. Aber im gegenwärtigen Verfahren wird dieser eines einheitlichen europäischen Flüchtlingsraumes. Punkt keine Chance haben, wie auch einige andere, Leider fehlt noch eine gerechte innereuropäische die Sie angesprochen haben. Verteilungsregelung für Flüchtlinge. Eine solche EG- interne Verteilungsregelung, Herr Minister, ist eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) unserer vorrangigen Aufgaben, die wir auf der euro- Lassen Sie mich noch eine vorsichtige Prognose päischen Ebene in Zukunft bewältigen müssen. Ich machen, was dieses Ganze bringen wird. Wir werden hoffe sehr, daß die Bundesregierung Initiativen ja gefragt: Was bringt das eigentlich? Die Befürchtun- 12302 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dieter Wiefelspütz gen sind sehr groß, manchmal sind auch die Hoffnun- Vielleicht war es unter dem Druck der Verhandlun- gen sehr groß. Ich sage ganz deutlich: Mit deutschen gen und in der Kürze der Zeit nicht möglich, hier Gesetzen, mit Gesetzen, die dieses Haus, der Deut- weitere Ausformungen zu finden. Aber das enthebt sche Bundestag, beschließt, beseitigen wir keine uns nicht der Aufgabe, hier weiterzugehen. Wir müs- Ursachen für säkulare Wanderungsbewegungen. Das sen deutlicher werden, wir müssen mutiger werden, wissen wir alle, und wir müssen es auch den Men- wir müssen klarer werden. Niemand kann doch im schen im Lande immer wieder deutlich sagen. Ernst glauben, daß wir uns jetzt nach dem Kompromiß Wir schaffen uns — das ist ja etwas — einige zurücklehnen, die Hände in den Schoß legen und der Möglichkeiten mit durchaus begrenzter Wirkung, die Meinung sein können, wir hätten unsere Schulaufga- Zuwanderung zu steuern. Wir schaffen die Vorausset- ben gemacht. zungen für eine solidarische europäische Flüchtlings- In einem Punkt übrigens muß es, finde ich, ganz politik. Das ist nicht alles, aber doch einiges. Das, was rasch eine Regelung geben, und zwar bevor der möglich ist, haben wir zu lösen. Entwurf Gesetz wird: Die Vertragsarbeitnehmer der Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsere ehemaligen DDR müssen endlich erfahren, woran sie Traditionen in Deutschland in Sachen Flüchtlinge sind. nicht aufgeben. Wir leben mit Flüchtlingen, und wir (Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch wollen weiterhin mit Flüchtlingen leben — um der [F.D.P.], bei der SPD, der PDS/Linke Liste Flüchtlinge willen und um unserer selbst willen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. Die humanitäre Lösung darf nicht eine vage Absichts- (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) erklärung bleiben. Hier ist Eile geboten. Die Regierungskoalition hat zu Beginn dieser Legis- laturperiode eine umfassende Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Reform des Reichs- und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Cornelia Staatsangehörigkeitsrechts verabredet. Das ist wahr- Schmalz-Jacobsen das Wort. lich notwendig. Die vorgesehenen Änderungen im Ausländergesetz in den §§ 85 und 86 und im Reichs- und Staatsangehörigenrecht sind, wie man so sagt, Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- Schritte in die richtige Richtung. Aber wenn das alles dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Frak- gewesen sein sollte, dann wäre das kärglich. Das tionskollege Jörg van Essen hat die Grundsatzposition entspricht eben nicht der Verabredung in der Koali- der F.D.P. dargelegt, auch was die Grundgesetzände- tion, und das entspricht im übrigen nicht den Vorstel- rung betrifft. Ich bin weit davon entfernt, irgend lungen der Freien Demokraten. Es wird den Gegeben- jemandem in diesem Hause die Ernsthaftigkeit bei der heiten, denen wir uns gegenübersehen, in keiner Beschäftigung mit diesem schwierigen und wirklich Weise gerecht. viele Leute bewegenden Thema abzusprechen. Ich Wenn das Wort vom Kollegen Marschewski so will aber nicht verschweigen, daß ich zu einer Min- gemeint sein sollte, daß man hier bei Gelegenheit derheit in meiner Fraktion gehöre. Mich bedrückt, daß weitergehen könnte, dann klingt das in meinen Ohren künftig nach unserem Recht offenbar der Fluchtweg zu sehr nach dem Sankt-Nimmerleins-Tag. Das geht viel entscheidender sein soll als das Gewicht der nicht. Fluchtgründe. Ich habe unlängst einen Gesetzentwurf vorgestellt, (Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch in dem umrissen wird, in welcher Weise das Einbür- [F.D.P.], bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gerungsrecht neu gefaßt werden sollte oder könnte. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/ Ich habe viel Zustimmung dafür erhalten. Linke Liste) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wo? — Italien hat ein ganz anderes Asylrecht als wir. Aber Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Auch viel man hat dort Schwierigkeiten. Man spricht von einem Kritik!) Zuwanderungsproblem. Es gibt dort eine Million Illegale. Das Problem liegt doch in Wahrheit in der — Quer durch die Parteien und darüber hinaus, lieber Tatsache, daß sich so viele Menschen auf den Weg in Herr Kollege. andere Länder und Regionen gemacht haben. Das ist Zu meinen Vorschlägen gehört, die Gewährung der heute schon gesagt worden. deutschen Staatsbürgerschaft nicht länger an die Wir diskutieren heute zum erstenmal über die Aufgabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit zu Begleitgesetze zum Asylkompromiß. Daß es sie gibt, knüpfen. das habe ich nachhaltig begrüßt. Das halte ich für (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie einen Erfolg für alle diejenigen, die immer wieder ein bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Gesamtkonzept für Zuwanderung und Integration GRÜNEN) gefordert haben. Die Forderung nach der Ermöglichung der Doppel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) staatsbürgerschaft ist nun wirklich nicht mehr so neu. Das wird hier immerhin in Umrissen sichtbar, aller- Tatsächlich nimmt die Zahl der Doppelstaatler in dings nach meinem Dafürhalten in wichtigen Berei- unserem Land ständig zu. Da sind die Kinder aus chen ein bißchen zu zaghaft. Ich erinnere an Zuwan- binationalen Ehen. In der Regel haben sie die Staats- derungsregelungen, die nur einmal so als Duftmarke bürgerschaft des deutschen Elternteils wie des auslän- genannt worden sind, und vor allen Dingen an die dischen Elternteils. Da gibt es die Menschen, die nach Einbürgerungsmodalitäten. Art. 116 des Grundgesetzes eingebürgert werden und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12303

Cornelia Schmalz-Jacobsen die die alte Staatsbürgerschaft behalten können. Da aufeinander —, halte ich für Polemik. Der „deutsche gibt es die Regelungen, die als Wiedergutmachung Bosnier" und der „deutsche Serbe" mögen Probleme nationalsozialistischen Unrechts gelten, in denen miteinander in Deutschland haben, sie mögen da ebenfalls die Doppelstaatsbürgerschaft in Kauf Schwierigkeiten haben, wo sie leben. Aber ihre Hei- genommen wird. mat ist die Bundesrepublik. Sie müssen auch nicht in Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Koalitions- den Krieg ins ehemalige Jugoslawien. Das Land, partner, ich frage Sie: Haben Sie je wirklich ernsthaft dessen Staatsbürgerschaft m an erworben hat, ist doch von Schwierigkeiten gehört? Diese Schwierigkeiten das ausschlaggebende und damit dasjenige, das sie entstehen in Amtsstuben und in Amtsköpfen, aber schützt. nicht in der Lebenswirklichkeit. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist keine (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ Antwort!) Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mein Ziel ist die erleichterte Einbürgerung. Ich NEN — Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: möchte nicht, daß hier einmal eine Nachnachfolgerin Das stimmt ja nicht!) steht und über die zehnte Ausländergeneration in der Kaum ein anderer Begriff ist derart mit Vor- und Bundesrepublik redet. Fehlurteilen belastet wie der der Doppelstaatsbürger- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie schaft. Ich wünsche mir hier mehr Sachlichkeit und bei der SPD) Nüchternheit. Das erste Haupthemmnis für die Einbürgerung sind Da Sie so unruhig werden, möchte ich Ihnen auch die Verfahren — das wird jetzt hoffentlich leichter noch folgendes sagen. Der bayerische Innenminister werden —, und das zweite Haupthemmnis ist die trägt natürlich mehr zur Verwirrung als zur Verkla- Aufgabe der ursprünglichen Staatsbürgerschaft. rung bei. ( V o r sitz : Dieter-Julius Cronenberg) (Beifall bei der F.D.P. und der SPD — Zurufe Das ist die Brücke für Einbürgerung, die in unser aller von der CDU/CSU) Interesse ist. Worum geht es denn? Der Grundsatz der einfachen Ich möchte den Asylkompromiß nicht verzögern. Staatsbürgerschaft ist längst nicht mehr zwingend. Das wäre unredlich. Aber wir, das Parlament, müssen Wer ständig darauf verweist, daß Mehrstaatlichkeit doch die Möglichkeit haben, im Laufe der Beratungen nun einmal nicht erwünscht sei, der muß sich sagen Klarstellungen anzubringen, Änderungen vorzuneh- lassen, daß es eben Aufgabe der Politik ist, ein als men und uns auf ein Verfahren zu einigen. Das überholt erkanntes Recht neu zu fassen. wünsche ich mir. Danke. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wie- (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem felspütz? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wenn Sie es ernst meinen, dann dürfen Sie nicht draufsat Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Ja, gerne. teln!)

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege Wiefelspütz. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jochen Welt das Wort. Dieter Wiefelspütz (SPD): Frau Kollegin Schmalz- Jacobsen, sehen Sie denn eine gewisse Chance dafür, Jochen Welt (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! daß sich Ihre Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, Ihre sehr Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit dem vernünftigen Auffassungen zu eigen macht? Zweiten Weltkrieg haben wir mehr als 170 Kriege und - Bürgerkriege auf dieser Erde gehabt, den weitaus Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Wir werden größten Teil davon in den Regionen der Dritten Welt. darüber beraten, Herr Kollege. Ich hoffe natürlich, daß Seit einigen Jahren gibt es allerdings neue Konflikt- sie sich die zu eigen macht. Im übrigen ist das in herde in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Nach weiten Teilen schon geschehen. dem Auseinanderfallen osteuropäischer Machtstruk- Meine Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung turen versuchen viele Völker, ihre Unabhängigkeit zu zu einer offenen, nicht mehr allein nationalen Gesell- erreichen. Gerade am Krieg im ehemaligen Jugosla- schaft ist in meinen Augen unaufhaltsam. Das ist doch wien wird deutlich, daß oft jahrhundertealte ethnische auch kein Schreckgespenst, dem man sich entgegen- und religiöse Konflikte mit ungeheurer Wucht wieder stemmen müßte. aufbrechen. Riesige Flüchtlingsbewegungen werden in Gang gesetzt. Das angebliche Problem der Rechtsunsicherheit stellt sich nur theoretisch — ich wiederhole das —, und Wir Sozialdemokraten fordern seit langem die Her- vieles, wie etwa die Frage der Wehrpflicht, läßt sich auslösung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Asyl- zwischenstaatlich regeln. Zum Beispiel zieht die Tür- verfahren. Wir wollen eine schnelle, praktikable und kei einen deutsch-türkischen Doppelstaatler nicht wirksame Hilfe für Flüchtlinge finden. Wir wollen mehr ein. Die Loyalitätskonflikte sind sehr konstruiert verhindern, daß Anträge von Bürgerkriegsflüchtlin- und kaum real. Das Beispiel, das heute noch einmal gen die ohnehin überlasteten Asylverfahren weiter genannt worden ist — der „ deutsche Bosnier" und der verstopfen. „deutsche Serbe" treffen im ehemaligen Jugoslawien (Beifall bei der SPD) 12304 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Jochen Welt Deshalb unsere Forderung: Den Flüchtlingen muß Verpflegung zu sichern. Die Bereitschaft dazu ist schneller und den Gemeinden besser geholfen wer- ungebrochen. Allerdings sind die damit verbundenen den. Lasten den Familien nur bedingt und für eine gewisse (Beifall bei der SPD) Zeit zuzumuten. Hier müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit und Entlastung anbie- Wir brauchen einen Sonderstatus für Bürgerkriegs- ten. flüchtlinge. Dieser neue Status hat zum Inhalt, den Die Gemeinden allein sind bei der finanziellen Betroffenen einen befristeten Aufenthalt bei uns für Absicherung schlichtweg überfordert. Wenn wir die die Zeit der Kriegswirren in ihrem Heimatland zu Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger erhal- gewähren. Dabei gehen wir davon aus, daß die ten und ausbauen wollen, dann müssen Bund, Länder Mehrzahl der Flüchtlinge nach Beendigung des Kon- und Gemeinden in diesem Punkt eine unbürokrati- flikts wieder in ihre Heimat zurückkehren wird. sche und finanziell tragbare Lösung finden. Die neue Regelung ist notwendig, weil wir wegen Aber nicht nur der Bund, die Länder und die der sich zuspitzenden Konfliktlagen in Osteuropa und Gemeinden sind gefordert, sondern auch Europa muß auf dem Balkan in den nächsten Jahren durchaus mit mehr Verantwortung für die Menschen aus den Bür- weiteren Flüchtlingswellen rechnen müssen. gerkriegsgebieten übernehmen. Kriegsverhütung Es ist gut, daß die Koalitionsfraktionen mit uns vor und Konfliktbegrenzung dürfen nicht Schlagworte diesem Hintergrund zu einem gemeinsamen Vor- bleiben. Die Ohnmacht muß dem funktionierenden schlag gekommen sind. Nicht hinnehmbar ist aller- Krisenmanagement weichen. dings der Vorstoß, die Menschen mit dem Bürger- Insbesondere bei der Übernahme von Verantwor- kriegsstatus auf Dauer aus dem Asylverfahren her- tung für Flüchtlinge muß ein gesamteuropäisches auszuhalten. Gerade bei ungeklärten politischen Konzept gefunden werden. Es darf nicht wie beim Lagen im Anschluß an Bürgerkriege dürfen wir nie- Krieg im ehemaligen Jugoslawien so sein, daß sich manden daran hindern, auch bei uns Schutz vor einzelne Staaten ihrer Mitverantwortung entziehen politischer Verfolgung zu suchen. und nur wenige oder gar keine Flüchtlinge aufneh- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- men. Die Uneinigkeit der Politiker bei der Regelung gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen auf der NEN]) Konferenz der Innenminister in Lissabon im letzten Juni bleibt für mich ein europäisches Trauma der Ein vorübergehender Ausschluß während der Zeit, Inhumanität. in der jemand schon bei uns Schutz genießt, steht allerdings dem neuen Art. 16 Abs. 1 Grundgesetz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht entgegen. Aber ein Anschlußasylantrag muß DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der möglich sein. CDU/CSU und der F.D.P.) Ich denke, daß wir mit dem jetzigen Weg eine Das vereinte Europa wird nur dann seinen Zielen praktische und auch sachgerechte Lösung gefunden gerecht, wenn es mehr ist als ein ökonomischer haben. Aber nicht nur der Schutz vor Verfolgung für Zweckverband. Europa muß auch Sozial-, Not- und die Flüchtenden selbst war für uns bei den Verhand- Hilfsgemeinschaft sein. Die Bundesregierung ist auf- lungen von großer Bedeutung. Für meine Fraktion gefordert, diesen Standpunkt noch deutlicher als war es außerdem unabdingbar, daß in den neuen bisher auf europäischer Ebene zu beziehen. gesetzlichen Bestimmungen auch die Verantwortung (Beifall bei der SPD) des Bundes für die Bürgerkriegsflüchtlinge festge- Abschließend will ich betonen, daß die Klärung des schrieben wird. Flüchtlingsstatus ein wichtiger Teil eines Gesamtpa- (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) ketes ist. Allerdings lösen wir mit den heute einzubrin- genden wichtigen Teilaspekten noch keinesfalls die Die Gemeinden und die hilfsbereiten Bürger dürfen - zukünftigen Probleme der Zuwanderung und der nicht weiter alleine die Hauptlast dieser Entwicklung Wanderungsbewegungen insgesamt. Wir haben hier tragen. große weitere Aufgaben der staatsbürgerschaftlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Regelung, der weiteren Klärung von wichtigen Fra- 90/DIE GRÜNEN) gen. Wir werden an diesem Gesamtpaket noch weiter Die Verantwortlichkeit des Bundes bezieht sich auf zu arbeiten haben. die Möglichkeit, Gebiete als Bürgerkriegsgebiete zu (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- deklarieren. Sie bezieht sich darauf, eine gewisse gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Anzahl von Menschen aus diesen Gebieten als Flücht- NEN]) linge mit einem Sonderstatus aufzunehmen. Diese Verantwortung des Bundes bedeutet für mich als Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Bürgermeister einer Ruhrgebietsstadt allerdings nunmehr dem Abgeordneten Norbert Geis das auch, daß sich der Bund nicht weiter einer finanziellen Wort . Lastenteilung entziehen darf.

(Zustimmung bei der SPD) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine In diesem Zusammenhang weise ich auf die große sehr verehrten Damen und Herren! Man muß sich Zahl von Familien in der Bundesrepublik hin, die noch einmal die dramatische Entwicklung vor Augen Flüchtlinge aufgenommen haben. Sie sind sicherlich halten. Wir haben in den ersten beiden Monaten in der Lage, für eine gewisse Zeit Unterkunft und dieses Jahres insgesamt 75 000 Asylbewerber, die zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12305

Norbert Geis uns gekommen sind und bei uns Bleiberecht suchen. uns wäre doch berechtigt, daß das nichts anderes als Das sind 20 Prozent mehr als in den beiden ersten ein Verfassungsbruch ist, den wir täglich hinnehmen. Monaten des Vorjahres. Das bedeutet, daß wir monat- Wir machen uns doch an diesem Verfassungsbruch lich Menschen in der Größenordnung einer mittleren mitschuldig, wenn wir nicht eine Regelung finden, um Stadt bei uns aufnehmen, die zu uns kommen und bei diesem Verfassungsbruch entgegenzutreten. uns Bleiberecht suchen. Das muß — das kann man sich ganz leicht ausrechnen — zur Katastrophe führen, Auch deswegen haben sich die Parteien zusammen- wenn wir es nicht schaffen, dem einen Riegel vorzu- gefunden. Und es ist gut, daß sie sich zusammenge- schieben. funden haben. Wir dürfen nur diesen Kompromiß jetzt nicht verwässern. Das führt in der Bevölkerung zu Angst. Das müssen wir doch sehen und erkennen. Die Menschen haben Ein Drittes. Unser Asylrecht, so wie es im Grundge- Angst vor den Problemen, die ein solcher Flüchtlings- setz niedergelegt ist, ist als Freiheitsrecht ausgebildet. strom, der unkontrolliert auf uns zukommt, mit sich Aber wenn man es tatsächlich einmal durchleuchtet, bringt. Sie haben Angst davor, daß die vielen Flücht- so wie es bei uns angewandt wird, dann bedeutet dies linge nicht mehr untergebracht werden können. In zwar ein Freiheitsrecht gegenüber dem Verfolger Baden-Württemberg ist zwischen 60 Gemeinden und staat. Aber bei uns hat sich doch dieses Recht als ein der Landesregierung ein Rechtsstreit ausgebrochen, soziales Teilhaberecht ausgestaltet; denn wir, der weil sie sich gegen die Zuteilung von Asylbewerbern Staat, gewähren ihnen Hilfe, Unterstützung, gewäh- wehren müssen; denn sie sind überhaupt nicht mehr in ren ihnen Unterkunft und Unterhalt. der Lage, sie unterzubringen. (Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/ ( [CDU/CSU]: Richtig!) DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi Wir wissen doch, daß die Kriminalität in unserem schenfrage) Land dramatisch ansteigt. Und wir wissen doch auch, — Ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulassen. wie hoch die Beteiligung von Ausländern dabei ist. Man darf doch die Augen davor nicht verschließen. Es ist also ein soziales Teilhaberecht. Jedes soziale Teilhaberecht — das wissen wir doch — steht unter (Zuruf des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.] dem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des jeweiligen — Gegenruf des Abg. Dr.-Ing. Dietmar Kansy Gemeinwesens. Wenn wir aber nicht Regelungen [CDU/CSU]: Ist doch wahr! Warum leugnen finden, die den unkontrollierten Zustrom von Flücht- Sie denn die Realität?) lingen stoppen, können wir doch ganz leicht ausrech- Dies ist das Agitationsfeld der Rechtsradikalen. Wir nen, wann wir an die Grenzen unserer Leistungsfähig- machen es doch den Rechtsradikalen leicht. Sie agi- keit gestoßen sind. Kein Staat auf dieser Welt aber hat tieren, und diese Agitation führt doch nur noch zu das Recht, seine Bürger in dieser Weise zu überfor- mehr Angst und zu mehr Hysterie. Das müssen wir dern. erkennen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der SPD — Dr.-Ing. Diet- mar Kansy [CDU/CSU]: Man darf hier nicht Deshalb sind nicht diejenigen, die für eine Ände- mehr die Wahrheit sagen!) rung des Grundgesetzes eintreten, die, denen man vorwerfen muß, sie würden das Asylrecht und damit Es wäre völlig verkehrt, davor die Augen zu verschlie- das Grundgesetz mit Füßen treten. Vielmehr sind ßen. diejenigen, die sich hinstellen und als große Hüter der Deswegen haben sich die Parteien zusammenge- Verfassung auftreten, in Wirklichkeit die, denen man funden und einen Kompromiß zustande gebracht, der den Vorwurf machen muß, daß sie sich des Verfas- sich doch sehen lassen kann. Es geht jetzt darum, sungsbruches schuldig machen. diesen Kompromiß auch wirklich in Gesetze umzuset- zen. - (Beifall bei der CDU/CSU — Horst Jaunich [SPD]: Pfui!) (Zuruf des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.] — Gegenruf des Abg. Dr.-Ing. Dietmar Kansy Sie sind diejenigen, die sich nicht dem Grundgesetz [CDU/CSU]: So ein Unsinn! Eine Schande ist gemäß verhalten. das!) (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Nein!) Eine zweite Überlegung: Durch den unkontrollier- ten Zustrom von Flüchtlingen wird das Grundrecht auf Das muß doch einmal gesagt werden. Asyl täglich und dauernd massenhaft mißbraucht. Wir widersetzen uns dem Vorwurf, daß wir diejeni- Wenn Sie sich einmal die Anerkennungsquoten gen seien, die das Recht, so wie wir es im Grundgesetz betrachten, dann werden Sie mir recht geben. Im niedergelegt haben, verletzen. Wir, die Politiker, Februar hat das Bundesamt über 34 000 Fälle ent- haben den Auftrag, das Grundgesetz zu wahren und schieden. Die Anerkennungsquote lag bei 1,6 %; dafür zu sorgen, daß es eine Akzeptanz in der Bevöl- verschwindend gering. Dies bedeutet tatsächlich kerung hat. Diejenigen, die das tun, sind doch nicht einen massenhaften Mißbrauch des Rechtes auf Asyl, diejenigen, die die Verfassung brechen. so wie wir es im Grundgesetz niedergelegt haben. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Richtig!) (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Nein!) Und wir schauen diesem massenhaften täglichen und — Richtig, Herr Hirsch. Ich gebe Ihnen in diesem Fall andauernden Mißbrauch tatenlos zu. Der Vorwurf an ausnahmsweise Recht. 12306 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Norbert Geis Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein die Position unserer Verhandlungsführer, wenn sie Kernstück des Kompromisses ist die Drittstaatenrege- mit den Polen, wenn sie mit den Drittstaaten sprechen, lung. nicht dadurch schwächen, daß wir sagen: Wir stimmen (Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: Ja, Ke rn dem nicht zu, wenn nicht erst eine vernünftige Rege- -strick! Das ist richtig!) lung erfolgt. Ein Kernstück, habe ich gesagt. Sie brauchen mir (Beifall bei der CDU/CSU) keine falschen Zungenschläge hereinzubringen. Wir müssen aber doch erkennen, daß der Vorwurf, Diese Position ist auch unter dem Gesichtspunkt den man uns deswegen macht —— wir würden auf diese falsch, daß, wie ich vorhin gesagt habe, dieses Pro- blem ein europäisches Problem ist. Deshalb müssen Weise unsere Last Drittstaaten aufbürden — , wir auch an die europäische Solidarität appellieren. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Aber wir machen es doch den anderen Europäern GRÜNEN]: Aber das ist doch so!) ziemlich leicht, wenn wir die Last dieser Unterstüt- falsch ist. Und zwar warum? Er ist deshalb falsch, Herr zung der Drittstaaten allein auf uns nehmen und im Weiß, weil sich die Drittstaaten ihrer Verantwortung übrigen die Europäer beiseite stehen lassen. Deswe- bislang nicht bewußt waren. gen ist es auch aus diesem Grunde falsch, meine sehr (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE verehrten Damen und Herren von der SPD, die GRÜNEN]: Wie sollen die das denn?) grundsätzliche Zustimmung zu diesen Ausführungs- Was ist denn geschehen? Die Flüchtlinge sind gesetzen davon abhängig zu machen, wie wir unsere gekommen, die Drittstaaten haben Spalier gestanden Regelungen mit den Drittstaaten gestalten. Das ist und haben sie alle in die Bundesrepublik weiterge- eine falsche Überlegung. Das ist von der Taktik her schickt, obwohl die Flüchtlinge in der Lage gewesen falsch, nicht von der Grundüberlegung her. Deswe- wären, in diesen Drittstaaten Aufnahme und Schutz gen lehnen wir es ab. vor Verfolgung zu finden. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich noch einen weiteren Gesichtspunkt Deswegen ist es nicht mehr als recht und billig, daß wir die Drittstaaten an ihre Verantwortung erinnern. anfügen. Das ist das Problem des Zustroms von Flüchtlingen über die Flughäfen. Der Herr Innenmi- (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE nister hat dies bereits gesagt. Ich meine, wir können GRÜNEN] meldet sich erneut zu einer Zwi- nicht umhin, auch für die Flughäfen Regelungen zu schenfrage) treffen, die es ermöglichen, den Asylbewerbern dort ein Verfahren anzubieten, bevor sie einreisen. Wenn Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- sie eingereist sind, haben wir so leicht nicht mehr die geordneter, ich habe den Redner so verstanden, daß er Möglichkeit, sie dann, wenn wir festgestellt haben, sie grundsätzlich keine Zwischenfragen zulassen will. sind in Wirklichkeit keine Asylbewerber, wieder in ihr Herkunftsland zurückzuschicken. Wir müssen in den Norbert Geis (CDU/CSU): Nein, ich möchte keine parlamentarischen Beratungen hierauf achten. Zwischenfragen zulassen. Es ist auch zu überlegen, wie wir mit der Abkürzung des Rechtswegs zu Rande kommen. Wenn wir es Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich wäre schaffen, daß die Asylbewerber in den jeweils dafür dankbar, wenn Sie das respektieren würden. vorgesehenen Unterkünften untergebracht werden, dann muß es doch möglich sein, die Fristen des Norbert Geis (CDU/CSU): Ein weiterer Gedanke in Rechtswegs zu verkürzen. diesem Zusammenhang. Wir weisen den Vorwurf zurück, wir würden fremden Staaten Lasten aufbür- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die den, weil es richtig ist, daß wir die Drittstaaten an ihre Parteien, die F.D.P., die CDU/CSU und die SPD, Verantwortung erinnern. Das Flüchtlingsproblem ist haben in einer gewaltigen Kraftanstrengung am aber nicht nur ein deutsches Problem, es ist ein 6. Dezember 1992 einen, wie ich meine, guten Kom- europäisches Problem. Die Flüchtlinge, die zu uns promiß gefunden. Wir sind den Verhandlungsführern, kommen, wollen in den sicheren Westen. Deswegen dem Fraktionsvorsitzenden, dem Innenminister und ist es nicht mehr als recht und billig, daß wir dies auch denen, die dabeigewesen sind, zu größtem Dank europäisch geltend machen. verpflichtet. Es geht jetzt darum, daß wir diesen Kompromiß umsetzen, und es geht darum, daß wir Wenn wir aber, meine sehr verehrten Damen und möglichst nah an diesem Kompromiß bleiben und ihn Herren von der SPD, von vornherein die Zustimmung nicht verwässern. Deswegen dürfen wir ihn nicht mit zu dieser Drittstaatenregelung, so wie sie jetzt in den anderen Überlegungen befrachten, beispielsweise Ausführungsgesetzen ausgestaltet ist, davon abhän- mit denen der Staatsangehörigkeit. Wir müssen auf- gig machen, wie es uns gelingt, mit den Polen und mit passen, daß wir die Linie jetzt auch durchhalten. Wir anderen Drittstaaten Vereinbarungen zu treffen, müssen der Bevölkerung draußen sagen, daß, wenn schwächen wir doch die Verhandlungsposition der wir im Parlament beraten, dies auch seine Zeit Bundesregierung. braucht. Wenn hier um Formulierungen gerungen (Widerspruch des Abg. Dr. Wolfgang Ull- wird, ist dies nicht ein Zeichen von Entscheidungs- mann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schwäche, vielmehr müssen wir um Formulierungen Es ist doch richtig, daß wir mit denen Vereinbarungen ringen. Aber wir dürfen nicht die Schwäche haben, treffen. Aber wir dürfen doch, innerstaatlich gesehen, eine Regelung zu finden, die am Schluß nichts bringt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12307

Norbert Geis Davor müssen wir uns hüten. Dies würde zu einer Das vorgelegte Gesetz verfolgt als vorrangiges Ziel großen Enttäuschung in der Bevölkerung führen. eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. mit der Begründung, daß in den letzten Jahren die Zahlen von Ausländern, insbesondere Asylsuchen- (Beifall bei der CDU/CSU) den, und solchen Ausländern, denen vor allem aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen ein Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer gewisses Bleiberecht zu gewähren ist, erheblich Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Kon- gestiegen sei. Nicht nur, daß wissentlich falsche rad Weiß das Wort. Zahlen in der Öffentlichkeit verwandt werden, u. a. indem man nur die Zahl der Asylbewerber nennt und Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht die Zahl der Menschen, die das Land monatlich Herr Kollege Geis, Sie haben den Vorwurf des Miß- verlassen. brauchs des Asylrechts zum ich weiß nicht wievielten Male wiederholt und haben sich dabei auch auf Es ist Realität, daß sich die etablierten Parteien in Zahlen bezogen. Etwa 36 000 Asylbewerber sind im der BRD in beschämender Einmütigkeit ermächtigt Februar nach Deutschland gekommen. Sie haben fühlen, die Würde des Menschen zu verletzen und den auch die Zahl derjenigen genannt, die anerkannt Grundsatz, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich worden sind: 1,6 %. Ich denke, die intellektuelle sind, aufzuheben. Nach dem vorgelegten Entwurf Redlichkeit verlangt es, daß das auch einmal erfolgt eine generelle Kürzung der Leistungen auf ein in abstrakten Zahlen ausgedrückt wird. Das sind Viertel des durchschnittlichen Sozialhilferegelsatzes 552 Asylbewerber, die im Februar 1993 in Deutsch- von 501 DM auf 360 DM, die generelle Streichung land anerkannt worden sind und ein Recht auf Asyl eines Mehrbedarfszuschlags z. B. für ältere Men- wahrgenommen haben. schen, Menschen mit Behinderung, werdende Mütter, die generelle Priorität der Ausgabe und Leistung in (Zuruf von der CDU/CSU: Und wo sind die Form von Sachleistungen oder bestenfalls von Wert- 35 000?) gutscheinen und nur in Ausnahmefällen von Bargeld, Das Zweite. Sie haben den Drittstaaten vorgewor- die Reduzierung des für einen Erwachsenen frei fen, ihre Verantwortung nicht wahrzunehmen. Ich verfügbaren Bargeldes auf 80 DM monatlich, d. h. auf denke, auch da verlangt es die intellektuelle Redlich- 16 % des durchschnittlichen Sozialhilfesatzes, und das keit, zu fragen: Wie soll denn die polnische Republik, reicht im gegebenen Fall nicht einmal mehr für einige wie soll denn die Tschechische Republik ihre Verant- Schachteln Zigaretten und vielleicht noch für Porto, wortung angesichts der fatalen Situation in diesen um einen Rechtshilfebeistand zu beantragen, oder Ländern wahrnehmen? Was verlangen Sie denn von mögliche Fahrtkosten, die entstehen. unseren Nachbarn im Osten, wenn Sie mit Ihrer Konstruktion erreichen wollen, daß sie alle Asylbe- (Widerspruch bei der CDU/CSU) werber, alle Flüchtlinge, die wir nicht aufnehmen — Genauso ist die Realität. wollen, obwohl wir unendlich viel besser gestellt sind als Polen und Tschechen, aufnehmen sollen? Ich Weitere Ziele sind eine grundsätzliche Absage an denke, diese Frage muß mit allem Nachdruck, mit die Grundintention des Bundessozialhilfegesetzes in allem Ernst gestellt werden. Wenn wir bei den Asyl- § 3 Abs. 1, daß sich Art und Form der Sozialhilfe „nach regelungen unsere östlichen Nachbarn außer acht der Besonderheit des Einzelfalls, vor allem nach der lassen und auch weiter nicht über die polnische und Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs tschechische Grenze hinaus denken, wird uns das, und der örtlichen Verhältnisse" richtet, und eine was wir jetzt versuchen wegzuschieben, in wenigen Einführung des allgemeinen Arbeitsdienstes gegen Jahren massiert auf die Füße fallen. ein lächerliches Entgelt von 2 DM pro Stunde. Ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — solches will die Familienministerin nach Möglichkeit Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Passen Sie nun auch für alle anderen Sozialhilfeempfänger ein- auf, daß Sie nicht auf den Kopf fallen! Das führen. wäre auch ganz gut!) Diese angestrebten gesetzlichen Regelungen defi- nieren somit einen neuen Minimalstandard des not- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile wendigen Existenzminimums. Die Grundaufgabe der nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Barbara Höll das Sozialhilfe, „dem Empfänger der Hilfe die Führung Wort. eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht", wird damit auf eklatante Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Weise über Bord geworfen. Diese Unterteilung der Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist Würde des Menschen auf materiallem Niveau hat grundgesetzwidrig, nicht nur, weil hier und jetzt über bisher nur oder hauptsächlich zwischen Erster und Folgegesetze eines veränderten Art. 16 des Grundge- Dritter Welt stattgefunden. Jetzt wird es innerhalb setzes debattiert wird, obwohl Art. 16 noch in der alten Deutschlands verwirklicht. Es gibt dann die Würde Form gilt — an den Gesprächen dazu sind ja immer von Deutschen, deutschen Aussiedlern und Men- nur bestimmte Parteien beteiligt —, sondern weil in schen, denen man ein Bleiberecht ermöglicht, und es den vorgelegten Entwürfen Art. 1, 2 und 3 des gibt ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Grundgesetzes in Geist und Inhalt außer Kraft gesetzt sich auf Grund ihrer Rasse, politischen oder religiösen werden. Ich möchte dies am Beispiel des sogenannten Überzeugung in ihren Heimatländern in ihrem Leben Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen an Asylbe- bedroht fühlen und deshalb eben hier um Asyl nach- werber nachweisen. suchen. Diesen Menschen wird von vornherein ein 12308 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Barbara Höll geringerer Anspruch auf ein Existenzminimum unter- ich dazu einen sachlichen Grund mehr; denn er hat ja geschoben. nun dargelegt, daß dieser sogenannte Asylkompro- Politisch und medienmäßig vorbereitet ist das die miß in Wirklichkeit ein Abschiebekompromiß ist. Umsetzung nationalistischer Biertischparolen. Sug- Dem habe ich in der Tat nichts hinzuzufügen — außer geriert wird den Bürgern mit diesem Gesetz, daß der einen verwunderten Anmerkung, Herr Bundesin- Asylbewerber grundsätzlich Menschen sind, die es nenminister, daß Ihnen die Flugplätze jetzt einfallen. eigentlich ausschließlich auf unsere sozialen Leistun- Wenn man so merkwürdige Verfassungsänderungen gen abgesehen haben und deshalb abgeschreckt vorhat und Reisewege in die Verfassung schreiben werden müssen. Zur Verbindlichkeit wird erhoben, will, dann muß man schon auch den Luft- und den daß diese Menschen geringere Bedürfnisse haben, Seeweg einbeziehen. Das ist freilich nicht mein Pro- weil sie aus ärmeren Ländern kommen. Abzulesen ist blem, sondern das Problem derjenigen, die solche gleichfalls, daß Flüchtlinge, da ungebildet, keinen bizarren Grundgesetzänderungen vorhaben. Bildungsbedarf haben. Das ist nichts anderes als Die zweite Bemerkung. Meine Herren Kollegen Ausdruck von Rassismus, und der Gesetzentwurf ist — ich denke vor allem an Herrn Geis —, die Staats- die Verwirklichung dieses strukturellen Rassismus. bürgerschaftfrage, Herr Geis, hängt eben mit dieser Ich möchte hier noch einmal Art. 3 des Grundgeset- Sache zusammen. Sie reden in Ihrem Gesetzentwurf zes zitieren, daß niemand „wegen seines Geschlechts, ja auch darüber. Das ist, finde ich, ein echter Fort- seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat schritt. Darum will ich mich jetzt diesem Art. 3 und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und zuwenden. politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt Die Frau Ausländerbeauftragte hat auch recht, werden darf". Bitte erklären Sie mir, wieso das, was glaube ich. Hier gibt es unter uns ein allgemeines Sie hier auf Grund der Heimat und der Herkunft Problembewußtsein. Wir müssen dieses Staatsbürger- verwirklichen, keine Benachteiligung ist! schaftsrecht ändern. Wir haben ja schließlich 4,6 Mil- (V o r sitz: Vizepräsident Helmuth Becker) lionen Bürger in unserem Lande, die keine deutsche Es ist bitter, daß führende Teile der deutschen Staatsbürgerschaft haben und darum von politischen Sozialdemokratie mit der grundsätzlichen Billigung Rechten ausgeschlossen sind. der Senkung der Leistungen an Asylbewerber im (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Haben Sie sogenannten Asylkompromiß im Dezember vergan- mal gefragt, wieviel das überhaupt wol- genen Jahres diesen strukturellen Rassismus unter- len?) stützen. Es ist der Einstieg in ein Zweiklassenrecht der Sozialhilfe. Es ist jetzt schon offensichtlich, daß dieser Es darf niemanden verwundern, daß unter solchen Einstieg in den Ausstieg aus der Sozialhilfe, wie es Pro Bedingungen die Entfremdung zwischen Staat und Asyl treffend kennzeichnet, die Tür zum Abbau des Gesellschaft immer größer werden muß. Rechts auf individuelle Sozialhilfe für alle Menschen, (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie dürfen die in Deutschland leben, öffnet. nicht Ihre zwei Kirchgänger fragen, die Sie (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie Beifall noch haben! Fragen Sie mal die Menschen! bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Die wollen das gar nicht!) GRÜNEN) Wie soll das aber auch anders sein, wenn m an ein Staatsbürgerschaftsrecht hat, das aus dem Jahre 1913 Vizepräsident Helmuth Becker: Ich will doch eine stammt, also aus der Zeit vor den großen rassistischen Bemerkung machen. Ich glaube, daß ich in diesem und ethnischen Krisen des Zweiten Weltkriegs und Saal niemanden kenne, der in dieses Parlament der Migrationsbewegung, der Einwanderung der 60er gewählt ist, der Rassismus betreiben will. Jahre? (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der In welche Richtung müssen die Änderungen gehen? F.D.P.) — Das ist schon angedeutet worden. Erstens müssen wir wegkommen vom Abstammungsprinzip, dem lus Ich möchte eine zweite Feststellung treffen. Ich sanguinis, und hinkommen zum Territorialprinzip, glaube, daß niemand im Saal ist, der gegen das dem ius soli. Grundgesetz verstoßen will. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD — Erwin und bei der SPD sowie des Abgeordneten Dr. Ulrich B efs [fraktionslos]) Marschewski [CDU/CSU]: Hier schießt auch ri keiner auf Flüchtlinge, die über die Mauer Das zweite ist auch von der Frau Ausländerbeauf- wollen! Selbst so etwas tut keiner hier im tragten mit Recht eingefordert worden. Bundestag!) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die soll Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen sich lieber um die Ausländer selbst küm- Dr. Wolfgang Ullmann. mern, als hier große Reden führen! Dann würde vieles nicht passieren!) Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir müssen uns vom Prinzip einer negativen Bewer- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es tung der Mehrfachstaatsbürgerschaft abkehren. Die war von vornherein meine Absicht, nur zu Art. 3 des Argumente werden meist mit dem Europaratsvertrag vorliegenden Gesetzentwurfs zu sprechen. Nach den vom 6. Mai 1963 begründet und sind in der Tat meist Darlegungen des Herrn Bundesinnenministers habe von der Wehrpflicht hergeholt. Das ist einfach nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12309

Dr. Wolfgang Ullmann mehr aktuell unter den Bedingungen, die der Vertrag der tatsächlichen Umsetzung letztlich das bringt, was von Maastricht geschaffen hat, in dem wir auf eine sich viele davon erwarten, Europabürgerschaft zugehen. In diese Richtung muß (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne es also gehen. ten der CDU/CSU) Am konsequentesten, denke ich, ist diese neue und der das erfüllt, was an Erwartungshaltung in der Richtung eingeschlagen in den Gesetzentwürfen der Öffentlichkeit erzeugt worden ist. Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in unseren Vor- schlägen zu einer rechtlichen Gleichstellung der aus- Dazu gehört auch, daß wir auf der einen Seite die Situation natürlich so darstellen, wie sie tatsächlich ist. ländischen Wohnbevölkerung, in unseren Vorschlä- gen für die Doppelstaatsbürgerschaft und in unserem Wir sollten nichs verharmlosen, auch nichts überdra- matisieren, gerade wenn wir mit Zahlen arbeiten Entwurf zu einer Neufassung des Art. 116. müssen. Wir alle sehen realistisch, wie sich die Zahlen Ein Lichtblick in der trüben Landschaft der deut- der Asylbewerber in den ersten zwei Monaten des schen Staatsbürgerschafts- und Ausländergesetzge- Jahres 1993 entwickelt haben. Wir sehen, wie die bung ist natürlich der Gesetzentwurf der Frau Auslän- Flüchtlingsprobleme insgesamt in den osteuropäi- derbeauftragten. Ich hoffe nur, daß sich in diesem schen Ländern ansteigen und der Druck stärker wird. Haus so viel Vernunft in allen Fraktionen findet, daß Wir sehen damit auch, daß es letztlich einmal um die wir uns der Arbeit daran bald zuwenden können. Fragen des Asylrechts geht, das aber nur ein Aspekt in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES einem Gesamtkonzept ist, das wir in dem Kompromiß 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Abg. Uta am 6. Dezember letzten Jahres angedacht haben, in Wüfel [F.D.P.]) dem wir eben neben den Asylrechtsregelungen auch Regelungen über die Steuerung und Begrenzung der Ihr Art. 3, meine Damen und Herren von der Zuwanderung angesprochen und eingefordert haben. CDU/CSU-F.D.P.-Koalition, geht ja auch in diese Das wird unter Berücksichtigung der steigenden Zah- - Richtung. Ich kann nur hoffen, Frau Schmalz-Jacob- len mit Sicherheit eher ein Schwergewicht bei den sen, daß Ihre pessimistische Deutung der Äußerung Beratungen und den Diskussionen sein, die wir poli- von Herrn Marschewski nicht zutrifft, tisch natürlich notwendigerweise führen müsen. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Was trifft (Beifall bei der F.D.P.) denn zu?) Als dritter Punkt gehört auch die Befassung mit sondern daß wir uns bald zur Arbeit an Ihrem neuen Regelungen zum Staatsangehörigkeitsrecht dazu. Ich Entwurf gemeinsam finden. möchte hier ganz deutlich folgendes sagen: Uns geht Danke. es überhaupt nicht darum, bei diesen Fragen den Asylkompromiß neu zur Diskussion zu stellen; wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchten bei diesem Punkt der anstehenden notwen- sowie bei Abgeordneten der SPD — Erwin digen Beratungen einer Reform unseres Staatsange- Marschewski [CDU/CSU]: Das können Sie hörigkeitsrechts deutlich machen, daß wir die politi- gemeinsam mit Frau Dings machen! Dann sche Diskussion beginnen müssen. kriegen Sie zwei Stimmen! Mehr kriegen Sie auch nicht für den Quatsch!) Es ist sehr gut, finde ich, daß es konkrete Vorschläge dazu gibt, die die Probleme aufzeigen, und daß wir uns mit Fragen der doppelten Staatsangehörigkeit auseinandersetzen müssen. So wie wir es bei der Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Asyldiskussion gemacht haben, sollten wir auch in Herren, ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin diesem Punkt nicht nur Argumente austauschen, für Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenber- sondern auch zuhören und überlegen, wieweit wir uns ger. vielleicht auch von Auffassungen, die wir bisher noch nicht teilen, überzeugen lassen können. (Beifall bei der F.D.P.) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- nisterin der Justiz: Herr Präsident Meine Kolleginnen und Kollegen! Vor genau sechs Wochen haben wir in Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Ministerin, erster Lesung den Gesetzentwurf behandelt, der mit gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mar- seinem Vorschlag für einen neuen Art. 16a unserer schewski? — Bitte, Kollege Marschewski. Verfassung die Grundlage für eine Neuregelung des Asylrechts bilden soll. Wir haben bei den Beratungen (CDU/CSU): Frau Ministe rin, über die Entwürfe der heute vorliegenden einfach- Erwin Marschewski ist Ihnen bekannt, daß die CDU/CSU-Fraktion bereits gesetzlichen Regelungen in den vergangenen Wo- im letzten Jahre den Herrn Bundesinnenminister chen — ich möchte das betonen — eine sehr sachliche aufgefordert hat, Neuregelungen zum Staatsangehö- Diskussion und Auseinandersetzung geführt. rigkeitsrecht vorzulegen, daß der Bundesinnenmini- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr ster sofort gehandelt hat, daß er eine Arbeitsgruppe wahr!) von Bund und Ländern eingerichtet hat, die sich mit Was vielleicht zum Teil die Diskussion im letzten Jahr der sehr schwierigen Materie befaßt, und daß weder beherrscht hat, die schrillen Töne, haben wir abge- Sie noch die Frau Ausländerbeauftragte die ersten legt. Dabei sollte es auch bleiben, weil wir gemeinsam sind, die dieses Problem aktuell angefaßt haben? einen vernünftigen Kompromiß finden wollen, der in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 12310 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- es zu starken Überlastungen kommen sollte, haben nisterin der Justiz: Herr Marschewski, ich finde es sehr wir die Möglichkeit vorgesehen, daß Fristverlänge- gut, daß Sie das so ansprechen, weil ich daraus Ihre rungen beantragt werden können. Ich glaube, damit Bereitschaft entnehme, jetzt in eine offene Diskussion haben wir die Grundlagen geschaffen, daß es tatsäch- zu diesen Fragen einzutreten. lich dann zu einem effektiven und auch einem schnel- len Gerichtsverfahren im einstweiligen Rechtsschutz (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne kommen kann. ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber ganz wichtig ist — das ist auch schon in den Gesprächen zu dem Kompromiß am 6. Dezember Da können neue Vorschläge, die hinzukommen, nur deutlich geworden —: Wir müssen hier auch die eine Bereicherung sein. Länder, die ja durch einige Ministerpräsidenten bei (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn sie logisch den Beratungen zu diesem Kompromiß vertreten sind, schon!) waren, mit in die Pflicht nehmen; denn sie müssen die Von daher haben wir in diesem Punkt auch keinen personellen und sachlichen Voraussetzungen für die Dissens. Genau wie wir uns über die einfachgesetzli- Einhaltung dieser Fristen und dieses Verfahrens schaffen. Ich bin nicht bereit hinzunehmen und finde chen Asylregelungen unterhalten haben, werden wir das auch in diesem Punkt tun. Wenn wir das wirklich es auch unannehmbar, daß wir die Rechtsschutzga- in der gebotenen Sachlichkeit und Nüchternheit rantie des Art. 19 Abs. 4 allein deshalb weiter ein- machen, dann sind wir da auch auf einem guten schränken müßten, weil die Arbeitsvoraussetzungen in den Gerichten eine fristgerechte und sorgfältige Wege. Durchführung von Asylverfahren nicht gewährlei- (Beifall bei der F.D.P.) sten. Aber ich möchte hier klarstellen. Es geht nicht (Beifall bei der F.D.P. und einigen Abgeord-- darum, etwas draufzusatteln oder damit die Verab- neten der SPD) schiedung dieses Kompromisses und die Umsetzung Ich glaube, die Verantwortlichkeiten bei der des Kompromisses zu behindern oder hinauszuzö- Umsetzung des Kompromisses sind klar. Es ist der gern. Bund, der zum Teil mehr Kompetenzen bekommt. Es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — sind die Länder, die natürlich eine ganz entschei- Zuruf von der CDU/CSU: Das war wichtig zu dende Aufgabe auch bei der Durchführung der hören!) Abschiebung haben. Ich glaube, da wäre es interes- — Etwas anderes ist nie, auch nicht von denen, die sant, in den nächsten Wochen einmal die Zahlen zu Vorschläge vorgelegt haben, behauptet worden oder sehen, wie sich tatsächlich die Abschiebung entwik- damit verbunden worden. kelt hat, unabhängig von den Regelungen, die wir jetzt hier beraten und von denen ich hoffe, daß wir sie Ich möchte jetzt nicht noch einmal in die grundsätz- so, wie ich zu Anfang schon gesagt habe, in einer sehr liche Diskussion einsteigen — viele Dinge sind heute sachlichen, vernünftigen Atmosphäre beraten wer- ja schon genannt worden —, sondern nur noch einen den, auch wenn es noch einige Punkte geben wird, Punkt ansprechen, der die Ausgestaltung des gericht- über die bisher keine Einigkeit erzielt werden lichen Verfahrens betrifft. Ich möchte hier klar sagen: konnte. Alle diejenigen, die zu Recht eine Beschleunigung der sicheren Herkunftslän- Verwaltungsverfahren fordern, müssen dann natür- Ich möchte gerade, was die betrifft, doch darum bitten, daß wir bei den lich auch eine Beschleunigung und Verkürzung der der Beratungen über die Aufnahme der sicheren Her- gerichtlichen Verfahren mittragen. Das war nicht immer leicht in den Beratungen, als das Justizministe- kunftsländer auch die außenpolitischen Implikatio- nen und Verwicklungen mit berücksichtigen und dort, rium dazu Vorschläge vorgelegt hat. wie es auch das Anliegen ist und in den Beratungen zu Ich bin froh, daß wir uns jetzt auf eine Linie geeinigt Anfang zum Ausdruck kam, sehr behutsam und sehr haben, die zum Inhalt hat, daß wir in offensichtlich vorsichtig vorgehen. Denn das ist genau das, was wir unbegründeten Fällen und dann, wenn ein Asylbe- auch in einigen anderen europäischen Ländern sehen werber aus einem sogenannten sicheren Herkunfts- müssen: daß man sehr vorsichtig und zurückhaltend land kommt, einen einstweiligen Rechtsschutz im mit den Listen über die sogenannten sicheren Her- Inland vorsehen und, wie ich meine, damit die richtige kunftsländer umgeht. Entscheidung getroffen haben in der Abwägung ein- mal des Rechtes desjenigen, der eine politische Ver- folgung behauptet, sie auch darlegen und dann in Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Ministerin, Sie einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren überprü- gestatten noch eine Zusatzfrage des Kollegen Wiefels- fen lassen zu können, und auf der anderen Seite der pütz? — Bitte, Kollege Wiefelspütz. Anforderungen, die wir nach unserer Verfassung haben, nämlich des Art. 19 Abs. 4. Ich stehe hinter den Fristen, die wir jetzt in dem Gesetzentwurf festzu- (SPD): Frau Ministerin, ich schreiben versucht haben, und möchte ganz klar Dieter Wiefelspütz möchte Sie bitten, aus dieser Debatte mitzunehmen, sagen, daß es uns nicht darum geht, daß hier Richter daß wir als SPD-Fraktion die Hoffnung haben, daß Sie mit Fristen gegängelt werden. Wir sind der Meinung, in den Gesetzesberatungen das rechtsstaatliche daß eingearbeitete Verwaltungsrichter für einen Gewissen dieser Bundesregierung sind. Asylantrag, der offensichtlich unbegründet ist, nicht eine Woche lang zur Entscheidung brauchen. Wenn (Zurufe) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12311

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- zeigen, daß wir gern mit ihnen leben und endlich nisterin der Justiz: Herr Wiefelspütz, wir waren ja etwas tun wollen, um ihre Rechtsstellung, ihren Status teilweise zusammen bei den Gesprächen dabei, und zu verbessern. ich habe hier ganz deutlich unterstrichen, daß wir (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uta gerade in den Punkten, wo wir, was den gerichtlichen Würfel [F.D.P.]) Teil betrifft, zu einer Einigung gekommen sind, wirk- lich sehr gute und konstruktive Gespräche geführt Eine Möglichkeit besteht darin, die Einbürgerung zu haben. Ich habe schon zu Anfang gesagt: Dafür erleichtern und die doppelte Staatsangehörigkeit bedanke ich mich bei allen aus allen Fraktionen, die generell zuzulassen. Es ist ja kein Zufall, daß heute daran mitgewirkt haben. morgen dieser Aspekt eine erhebliche Rolle spielt, wie (Beifall bei der F.D.P.) man eben auch noch einmal aus dem Beitrag der Justizministerin entnehmen konnte. Ich möchte zum Schluß nur noch ein Wort anmer- ken. Wir haben große Schwierigkeiten gehabt, auch Meine Damen und Herren, 6,5 Millionen Menschen eine Regelung für die Bürgerkriegs- und Kriegs- aus anderen Ländern leben inzwischen in der Bundes- flüchtlinge zu finden. Ich meine, wir haben eine auch republik, weit über die Hälfte länger als ein Jahrzehnt. aus verfassungsrechtlicher Sicht vernünftige Lösung Viele Jüngere und Kinder können inzwischen auf gefunden, die einen besonderen Aufenthaltsstatus schwäbisch besser fluchen als ihre Eltern in ihrer gewährleistet und nicht ermöglicht, während dieses Heimatsprache, und türkische Jugendliche sprechen Status' einen Asylantrag zu stellen, um in das Asyl- den in Hamburg-Wilhelmsburg gängigen Tonfall. verfahren umwechseln zu können, sondern wir haben Aber dreißig Jahre faktischer Einwanderung nach vernünftig zu Beginn eines Verfahrens, eines Asylver- Deutschland haben dennoch nicht verhindern kön- fahrens oder eines Verfahrens zur Anerkennung als nen, daß sich viele Ausländer oder, nennen wir sie Bürgerkriegsflüchtling, und zum Schluß des Verfah- besser, Inländer ohne den vollen Status der Deutschen rens diese Entscheidungsmöglichkeiten aufgezeigt. bei uns immer noch als Menschen der zweiten Kate- Ich glaube, daß wir auch da nach den Beratungen und gorie fühlen müssen. Sie haben eigentlich längst den sehr unterschiedlichen vorliegenden Konzeptio- Anspruch auf volle Rechte, Chancen und Entfaltung in nen einen vernünftigen Weg gegangen sind. Die einem Land, das sie seit Jahren durch ihr Hiersein und künftige Debatte sollte davon leben, daß wir gemein- ihre Leistungen materiell und kulturell bereichern. sam schrille Töne vermeiden. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uta Vielen Dank. Würfel [F.D.P.]) (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten Aber verstaubte Vorstellungen davon, wer Deutscher der CDU/CSU) sein darf oder nicht, antiquierte Paragraphen, büro- kratische Hürden oder hohe Einbürgerungskosten Vizepräsident Helmuth Becker: Nächste Rednerin verhindern das bisher. Herr Kollege Marschewski, ist jetzt Frau Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wol- auch wenn Sie es eben so treuherzig gesagt haben, die gast. bestehenden Gesetze regeln eben nicht jeden Pro- blemfall, wie Sie es behauptet haben. Die Reform ist Dr. Comelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi- überfällig. Die SPD hat sie in den vergangenen Jahren dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf in mehrfach gefordert, zuletzt auf dem Parteitag vom Ergänzung meines Kollegen Wiefelspütz noch sagen, 16. November vergangenen Jahres. Und wenn es daß nicht nur die Justizministerin das rechtsstaatliche noch eines Anstoßes bedurft hätte, dann ist es das zur Gewissen bei den Beratungen sein wird, sondern Zeit laufende sehr erfolgreiche sogenannte Referen- selbstverständlich die gesamte SPD-Fraktion diesen dum „Doppelte Staatsbürgerschaft", das wir hier Anspruch für sich reklamiert. ausdrücklich begrüßen, ebenso wie das eindeutige (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Votum des Bundespräsidenten in seiner Weihnachts- Meine Kolleginnen und Kollegen! Seit wir über eine ansprache für eine Reform des Einbürgerungs- neue Asyl- und Zuwanderungspolitik reden, hat sich rechts. die Diskussion immer wieder auf die Frage nach einer Liebe Kollegen und Kolleginnen, wann, wenn nicht Grundgesetzänderung vor allem im Zusammenhang jetzt, sollen und müssen wir ein klares Signal geben mit dem Art. 16 zu sehr verengt. Immer wieder haben für unsere Bereitschaft, die Menschen, die zu uns wir Sozialdemokraten darauf gedrängt, die gesamte gekommen sind, als gleichberechtigte Bürger zu ach- Problematik so umfassend zu behandeln, wie sie es ten und ihnen die Integration zu erleichtern, und verdient. Denn die Zuwanderung zu steuern und zu wann, wenn nicht jetzt, sind eindeutige Zeichen auch begrenzen ist ein wesentlicher Aspekt, aber eben nur dieser Art gegen Fremdenhaß, Intoleranz und Terror einer. von rechts nötig? Die zahlreichen Aktionen gegen Fremdenhaß in (Beifall bei der SPD) unserem Land, Lichterketten, Runde Tische, Appelle, Unterschriftensammlungen, waren gut und unglaub- Deswegen noch einmal an Ihre Adresse, liebe Kolle- lich wichtig. Aber wir dürfen es nicht bei Solidaritäts- ginnen und Kollegen aus der CDU/CSU: Ich verstehe adressen und Gesprächen bewenden lassen. Gerade es nicht, warum weiterhin von Ihnen so massiver in dieser schwierigen Auseinandersetzung um die Widerstand gegen die Hinnahme der doppelten Neuregelung, in der wir uns befinden, steht es uns gut Staatsangehörigkeit und gegen die erleichterte Ein- an, liebe Kollegen und Kolleginnen, mit sehr konkre- bürgerung kam und noch kommt. Wir jedenfalls ten Schritten den Ausländerinnen und Ausländern zu haben die parlamentarische Initiative vorbereitet und 12312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast werden aller Voraussicht nach die Gesetzentwürfe Vizepräsident Helmuth Becker: Kollege Dr. Ulrich bereits in der kommenden Woche vorlegen. Wir Briefs, ich erteile Ihnen jetzt das Wort. setzen dabei auch auf die bessere Einsicht, die sich inzwischen ja bei Abgeordneten aus Ihren Reihen, Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! den Reihen der Union, bemerkbar macht und die — so Meine Damen und Herren! Für das, was heute hier in hoffe ich jedenfalls — wohltuend ansteckend wirken diesem — insofern ganz und gar nicht Hohen — Hause wird. geschieht, die faktische fast vollständige Beseitigung Ich appelliere an die Koalition insgesamt, sich des Asylrechts, kann man sich nur schämen. Schämen unseren Argumenten zu öffnen und damit auch dem kann man sich auch nur für den Geist oder besser Bemühen der Ausländerbeauftragten um die erleich- Ungeist, der seit der deutschen Wiedervereinigung terte Einbürgerung mehr Unterstützung zu geben, als dieses Land durchzieht und der inzwischen in diesem es bislang der Fall war. hochentwickelten Land zu Tausenden von Menschen- Unser Vorschlag wird darauf abzielen, den Erwerb rechtsverletzungen, zu getöteten, verletzten oder ver- der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt zu stümmelten Kindern, Frauen und Männern — die ermöglichen, den Ausländern, die seit einer Reihe von meisten von ihnen Asylbewerber — geführt hat. Jahren bei uns leben, die Einbürgerung zu erleichtern Darauf wird jetzt mit dem Abbau des Asylrechts bzw. ihnen unter bestimmten Voraussetzungen auch geantwortet. Wenn das deutsch ist, möchte man einen Anspruch darauf zu geben und endlich die eigentlich gar nicht mehr richtig Deutscher sein. Modalitäten zur Einbürgerung von Ehepartnern zu (Zuruf des Abg. Hans-Joachim Fuchtel verbessern. Außerdem soll, wer hier auf Dauer lebt, [CDU/CSU]) dennoch nicht gezwungen sein, die bisherige Staats- — Das war besonders dumm, Herr Kollege. angehörigkeit aufzugeben. Dafür gibt es nun einmal Bei allem Respekt vor den Initiatoren, Organisato- einleuchtende Gründe, die aus unserer aktuellen ren und Teilnehmern der Lichterketten — diese sind- Situation entstehen. Anders als die Auswanderer von notwendig, beileibe aber nicht hinreichend. Wo bleibt früher, die meistens sämtliche Brücken hinter sich das Eintreten für Bedrohte und Angegriffene in der abbrachen, wollen die Migranten von heute ihre Öffentlichkeit? Wo bleibt die konsequente gesell- Bindungen zum Herkunftsland halten. Sie bleiben in schaftliche Achtung des rassistischen, antisemiti- Kontakt mit Familienangehörigen und Freunden. Sie schen, völkerverhetzenden Ungeistes? Wo bleibt das erfahren aus den Medien, was sich in ihrem Land konsequente praktische Eintreten für Menschlichkeit abspielt, sie fürchten auch — erinnern Sie sich bitte gegenüber Ausländern und Ausländerinnen, insbe- daran —, Rechte im Heimatland einzubüßen. Kurz: Sie sondere auch gegenüber Kindern, die zumeist aus wollen ihre Wurzeln nicht verlieren. Welche deutsche bitterer Not hierher geflüchtet sind? Wo bleibt die Arroganz, welche Hoffart steckt darin, ihnen diesen Gegenwehr gegen die alltägliche rassistische Praxis Wunsch streitig zu machen? im Kleinen wie im Großen in diesem neuen Deutsch- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ land? DIE GRÜNEN — Erwin Marschewski [CDU/ Das, was hier heute geschehen soll, ist keine Maß- CSU]: Wollen Sie die fünffache oder sechsfa nahme gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, che Staatsangehörigkeit vorschlagen?) gegen Ausländerfeindlichkeit, sondern leistet ihnen Was viele nicht wissen, ist folgendes: Das Europa- und leistet den Rassisten, den Antisemiten und den ratsabkommen über die Vermeidung der Mehrstaa- Völkerverhetzern Vorschub. Es gewährt ihnen einen tigkeit hindert die Bundesrepublik nicht, Entspre- einzigartigen politischen T riumph und stärkt sie damit chendes zu tun. für die Zukunft. (Zuruf von der CDU/CSU) Dieses angeblich so humane, demokratische Nach- kriegsdeutschland weicht zurück gegenüber rassisti- — Hören Sie bitte zu; Sie können vielleicht noch etwas scher und ausländerfeindlicher Gewalt. Dieses Land lernen. Die meisten Teilnehmerstaaten dieses Ab- wendet nicht, wie andere europäische Länder, recht- kommens haben inzwischen Möglichkeiten zum liche und politische Mittel gegen die Täter, gegen die Erwerb der doppelten Staatsangehörigkeit geschaf- Mörder, die Verletzer, die Verstümmler, die Brand- fen, die praktisch auf die Mehrstaatigkeit hinauslau- schätzer, die massenhaften Verletzer von Menschen- fen. Wir dürfen durchaus bei anderen europäischen rechten an, nein, dieses Land wendet sich gegen die Ländern in Sachen Liberalität und Fortschrittlichkeit Opfer, gegen die Asylbewerber. Weder die Lehren im Umgang mit Ausländern in dieser Frage Nachhil- aus dem dutzendjährigen Reich noch die Dankbarkeit feunterricht nehmen. für die Asylgewährung gegenüber deutschen NS- (Zuruf des Abgeordneten Norbert Geis Verfolgten können offensichtlich verhindern, daß, wie [CDU/CSU]) es ein Leserbrief in der „Frankfurter Rundschau" Ergänzung des Art. 16 GG die Lüge — Herr Geis, zum Schluß ein Zitat, das man öfter hört: sagte, durch die Verfassungsrang erhält. „Ich bin Berliner, aber in meinem Paß steht, daß ich Türke bin." Das sagen viele Jugendliche. Es sollte Abs. 1 des Artikels sichert künftig das Asylrecht. Die doch möglich sein, ihnen diese bittere Feststellung in hinzugefügten Abs. 2 und 3 sorgen aber dafür, daß es Zukunft zu ersparen. kaum jemand in Anspruch nehmen kann. Das ist das Verlogene daran. Das geschieht an der Stelle der Danke schön. Verfassung, an der in besonders nachhaltiger Form (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lehren aus dem furchtbaren Versagen der Deutschen DIE GRÜNEN) in der jüngeren Geschichte gezogen worden sind. Zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12313

Dr. Ulrich Briefs Recht kritisieren DGB und Pro Asyl gemeinsam, daß Industrieland, Rassismus, Antisemitismus, Ausländer- vom Asylrecht nur eine Rechtsruine übrigbleibt. Die feindlichkeit und Völkerverhetzung wieder als Mas- Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird auf senphänomene auftauchen? Wie ist es möglich, daß kaltem Wege beseitigt. Mit den Änderungen des neonazistische Organisationen wieder zum offiziell Asylverfahrensgesetzes wird dafür gesorgt, daß von geduldeten politischen Faktor geworden sind und hier einem rechtsstaatlichen Asylverfahren kaum mehr und heute einen politischen Sieg auf dem Silbertablett die Rede sein kann. Eines Tages wird man vielleicht gereicht bekommen? Wie ist es möglich, daß unsere sogar sagen müssen, daß mit der Beseitigung des angeblich so gefestigte Demokratie so nach rechts Asylrechts und der Autoritarisierung des Asylverfah- driftet und unter dem Druck von Pogromen und rens der Anfang vom Ende des halbwegs liberalen Menschenrechtsverletzungen das Asylrecht beseitigt Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland und zu uns aus Not geflohene Menschen aus anderen kam. Ländern weiter diskriminiert und stigmatisiert? Warum diskriminiert und stigmatisiert man nicht die Mit dieser faktischen Asylrechtsbeseitigung geht rechtsradikalen Täter und ihre ideologischen Fellow die Phase der halbwegs liberalen deutschen Nach- travellers, die ja bekanntlich in Ausläufern bis in kriegsgeschichte zu Ende, in der dieses L and — dieses Haus reichen? eingedenk der historischen Schuld Deutschlands — seine Verantwortung zumindest in dieser Form des Deutschland ist im Jahre 3 seiner wiedervereinigten uneingeschränkten Asylrechts auf sich genommen Geschichte gepackt von einer Welle des Rassismus, hat. Durch die Beseitigung des uneingeschränkten jenes Rassismus, der wohl wesentlich entsteht und Asylrechts kommen — das ist erklärtes Ziel — nur bedingt wird im Zusammenhang mit dem kalten noch ganz wenige Asylbewerber in dieses Land. Nun Leistungs- und Überlebenskampf in der hochmoder- könnte man meinen, wer durchkommt, der wird dann nen Wirtschaft, z. B. in Betrieben, in denen Individua- aber auch voll und ganz akzeptiert. Mit dem Asylbe- lisierung und Vereinzelung Tatsache und die Solida- werberleistungsgesetz wird jedoch sofort vielfältig rität der Arbeitenden untereinander zunehmend weiter diskriminiert. Wer nach Überwindung der Mangelware sind. vielfältigen Hürden als Asylbewerber hier leben kann, soll künftig auf Schritt und Tritt — wie die Rassismus hat auch mit Marktwirtschaft zu tun, in anderen Ausländer, wie Türken, Italiener, Spanier der jeder sich selbst der Nächste ist, in der es auf und andere, die als Arbeiter und Arbeiterinnen zu uns Gedeih und Verderb ums Überleben geht. Er hat z. B. kamen — spüren, daß er eben nicht zu den Deutschen auch zu tun mit einer marktwirtschaftlichen Medien- zählt. Die Herrenvolkvorstellungen von dereinst las- landschaft, in der Nervenkitzel systematisch mit Bru- sen im Hintergrund grüßen. talo- und Sexsendungen bewirkt wird, um die Ein- - schaltquoten zu erhöhen, usw. usf. (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Das ist unerträglich, Herr Präsident!) (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Das ist das Schlimmste mit an diesem Vorhaben der Jetzt ist er beim Thema!) wohl leider überwiegenden Mehrheit in diesem Die UN-Menschenrechtskommission ist auf dem Hause: Es wird systematisch verfassungsrechtlich und richtigen Wege. Es gibt neue Formen des Rassismus gesetzlich eine weitere Mauer zwischen Deutschen — ich nenne sie industriellen Rassismus —, die in und Ausländern aufgebaut. hochentwickelten Ländern, gerade auch bei uns, (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Jetzt fängt grassieren. Hier werden zunehmend Menschen aus- der schon wieder an!) gegrenzt und in ihren Menschenrechten verletzt, die sich den hochgeputschten Leistungsnormen dieser Es wird den dumpfen rassistischen und ausländer- Industriegesellschaft nicht fügen können oder wollen feindlichen Instinkten in weiten Bereichen der deut- — Ausländer, Behinderte, Frauen und Mädchen, schen Bevölkerung nachgegeben, statt sie zu Marginale. bekämpfen und zu ächten. Rassismus ist die derzeit brutalste Va riante der (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: systematischen Ausgrenzung und Diskriminierung, So etwas ist dieses Hauses unwürdig!) auf der unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Allerdings — das vergessen Sie hier auf der Rechten in wesentlichen Bereichen vielfältig beruht. Seite immer wieder — wird sich diese Politik gegen Auch insofern ist die Asylrechtsbeseitigung, die uns richten. Dieses Land ist nicht mehr in der Situation heute hier eingeleitet wird, eine völlig falsche Maß- der 20er und 30er Jahre. Deutschland ist in wichtigen nahme. Statt den gesellschaftlichen Ursachen für den Bereichen international geworden. Es ist multikultu- Rassismus gegenzusteuern, wird den Rechtsradikalen rell geworden, ob die Ewiggestrigen das nun wahrha- nachgegeben. Statt die komplexen Ursachen im poli- ben wollen oder nicht. tischen Diskurs zu klären, werden falsche Erklärun- Zu begrüßen ist, daß die UN-Menschenrechtskom- gen kultiviert und deshalb das Asylrecht praktisch mission und andere internationale Organisationen -beseitigt. Statt einen gesellschaftlichen Umdenkungs Deutschland künftig wegen der zahlreichen Men- und Erziehungsprozeß gegen Rechts in Gang zu schenrechtsverletzungen gegenüber Ausländern und setzen, wird mit dieser Asylrechtsbeseitigung einer Ausländerinnen beobachten werden. Die entschei- weiteren Rechtsentwicklung Tür und Tor geöffnet. denden Fragen haben wir uns jedoch selbst zu stellen: Das ist gemeinsam mit dem Leid, das Menschen in Not Wie ist es möglich, daß in diesem hochmodernen damit zusätzlich zugefügt wird, das besonders Land, international tätig wie kaum ein anderes großes Gefährliche an dieser Grundrechtsänderung, die in 12314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Ulrich Briefs Wirklichkeit die Beseitigung eines Menschenrechts Damit sollte dem neu vereinbarten und verkürzten ist. Verfahren Rechnung ge tragen und der Spielraum für Herr Präsident, ich danke Ihnen. vielfältigen Mißbrauch eingegrenzt werden. Nicht zuletzt zum Schutz der Asylbewerber sollten die Anreize vermindert und das Abkassieren durch Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Schlepperbanden ausgeschaltet werden. Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Ursula Männle. Dieser Konsens wurde in langen und zähen Ver- handlungen zwischen CDU/CSU, SPD und F.D.P. in einen Gesetzentwurf umgesetzt. Von diesem hat sich Ursula Männle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine nun die SPD verabschiedet und damit, wie ich meine, sehr geehrten Damen und Herren! Das Recht auf Asyl auch vom Kompromiß der Parteien vom 6. Dezember ist ein Recht für politisch Verfolgte. 1992. Seit 1989 ist die Zahl der Asylbewerber sprunghaft (Zurufe von der SPD: Nicht wahr!) angestiegen. 1992 kamen rund 439 000 Asylsuchende Wir, die Koalitionsfraktionen, stehen zu unserem nach Deutschland, doppelt so viel wie 1990. Die Wort. Wir bringen den Entwurf eines Asylbewerber- Anerkennungsquote des Bundesamts für die Aner- leistungsgesetzes dennoch so ein, wie er mit der SPD kennung ausländischer Flüchtlinge bewegte sich zwi- verabredet war. schen 4 und 8 %. Sicherlich lassen diese Zahlen nicht den Rückschluß zu, daß mehr als 90 % der Anträge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mißbräuchlich gestellt werden oder wurden. Aber sie Lassen Sie mich kurz auf die Schwerpunkte des zeigen ganz deutlich die Diskrepanz zwischen der Gesetzentwurfs über die Leistungen an Asylbewerber ursprünglichen Intention des Asylrechts und der heu- eingehen. Die notwendige Versorgung mit Nahrungs- tigen Praxis. mitteln, Wohnung, Heizung, Kleidung, Gesundheits- Eine der Ursachen dieser Entwicklung liegt in der und Körperpflegeartikeln sowie Gebrauchs- und Ver- wirtschaftlichen und sozialen Situation der Herkunfts- brauchsgütern des Haushalts wird gewährleistet. länder. Die finanziellen Leistungen an Asylbewerber Grundsätzlich sollen bei Aufenthalten in zentralen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Deutsch- Anlaufstellen oder Gemeinschaftsunterkünften Sach- land führten dazu, daß 60 % der nach Westeuropa leistungen erfolgen. Dies gilt ebenso bei Aufenthalt kommenden Asylbewerber sich die Bundesrepublik außerhalb von zentralen Anlaufstellen. Sind Sachlei- Deutschland als Asylland gewählt haben. Diese Ver- stungen nicht möglich, treten an deren Stelle Leistun- mutung darf als gesichert gelten. Natürlich ist nach- gen in Form von Wertgutscheinen oder anderen vollziehbar, daß der Lebensstandard bei uns einen vergleichbaren unbaren Abrechnungen. Nur in Aus- Anreiz darstellt. Alle wollen an diesem Wohlstand nahmefällen wird eine Geldleistung gewährt. Diese teilhaben, aber das Recht auf Asyl ist hierfür nicht der soll dem Berechtigten persönlich ausgehändigt wer- richtige Weg. den, um den Mißbrauch, wie z. B. Doppelbezug, zu verhindern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Im Falle von Geldleistungen liegen diese gegen- Wir können nicht alle sozialen und wirtschaftlichen über dem Regelsatz der Sozialhilfe für den Haushalts- Probleme dieser Welt bei uns in Deutschland lösen. vorstand um ca. 20 % niedriger. Alle Bezieher unbarer Wir müssen durch den richtigen Einsatz unserer Leistungen erhalten für den persönlichen Bedarf Mittel der Entwicklungspolitik die Ursachen in den einen Barbetrag. Herkunftsländern selbst bekämpfen. Um es in einem Ich bin überzeugt, daß diejenigen, die politisch häufig benutzten Bild zu sagen: Die Welt ist ein Haus, verfolgt sind, mit dem Standard, den Asylbewerber in aber nicht nur ein kleiner Teil der Zimmer darf der Bundesrepublik Deutschland vorfinden, zufrieden bewohnbar sein. Die, die es können, müssen helfen, sind oder sein können. Sie sind in Sicherheit und auch die anderen Zimmer bewohnbar zu machen. Die Freiheit. Sie haben das, was für den Lebensunterhalt Bundesrepublik Deutschland leistet deshalb auch unerläßlich ist, sowie Geldmittel zur Befriedigung weiterhin ihren Beitrag, um Hunger und Elend in der persönlicher Bedürfnisse. Ein menschenwürdiges Welt beseitigen zu helfen und Armutswanderungen Leben ist gewährleistet. Ich verwahre mich mit Ent- zu stoppen. schiedenheit gegen Äußerungen, dies sei durch die Der Schutz politisch Verfolgter muß nun wieder in nun vorgeschlagenen Regelungen nicht der Fall. den Vordergrund treten. Deshalb wurde der Asylkom- promiß der Parteien geschlossen. Er enthält auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bestimmungen über die Leistungen an Asylbewerber. Sie sollen nun in einem eigenen Gesetz zu deutlichen Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin, Absenkungen der bisherigen Leistungen führen, bei gestatten Sie eine Zwischenfrage? Aufenthalten in zentralen Anlaufstellen oder Gemein- schaftsunterkünften grundsätzlich Sachleistungen gewähren, bei Aufenthalten außerhalb dieser Ge- Ursula Männle (CDU/CSU): Nein. meinschaftsunterkünfte einen Vorrang für Sachlei- Die vorrangig zu gewährende Sachleistung vermin- stungen sicherstellen und erst nach einer positiven Entscheidung im Verwaltungsverfahren oder einem dert den Anreiz, aus wirtschaftlichen Gründen einen positiven Entscheid über ein Bleiberecht Leistungen Asylantrag zu stellen. nach dem Bundessozialhilfegesetz gewähren. Soweit (Zuruf von der SPD: Das hat man Ihnen ja nur der Wortlaut der Einigung zwischen den Parteien. aufgeschrieben!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12315

Ursula Männle — Ich kann schon frei antworten; diese Bemerkung Als zweites wollen Sie diesen Kompromiß nicht auf hätten Sie wirklich nicht zu machen brauchen. die Altfälle ausdehnen. Ich frage Sie: Warum hier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht, bei dem Gesetzentwurf zur Änderung asylver- fahrensrechtlicher Vorschriften aber doch? Langfristig werden dadurch Spareffekte erzielt. Der letzte Punkt. Die Einigung enthält nur den Durch Kombination von Sachleistungen und geringe- Begriff „Asylbewerber" und umfaßt damit nicht die- rem Barbetrag wird dem Abkassieren der Schlepper jenigen, die z. B. bewußt keinen Asylantrag stellen, der Boden entzogen. Dazu bekenne ich mich — ich aber dennoch vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sage es sehr deutlich, und damit erübrigen sich sind. Nehmen wir diese Gruppe aus, kommt es zu sicherlich auch die Zwischenfragen — ohne jeden ungleicher Behandlung vergleichbarer Gruppen. Vorbehalt. Es ist sogar bezweckt. Neue Schlupflöcher und neue Mibßbrauchsmöglich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) keiten werden damit aufgetan. Dies kann doch allen Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus weitere Ernstes von Ihnen nicht gewollt sein. wichtige Regelungen. Auch diese dienen dazu, daß Lassen Sie uns über die Kontroverspunkte diskutie- Mißbrauchsmöglichkeiten — Sie kennen die vielen ren. Wir sind dazu bereit. Geben Sie Ihre Verweige- Vorwürfe hinsichtlich des Mißbrauchs unseres Ge- rungshaltung gegenüber diesem Gesetz auf, und sundheitswesens — ausgeschlossen werden. Leistun- stehen Sie zu Ihrer Verantwortung, die Sie einmal gen im Krankheitsfall sind nur in akuten Fällen gesehen haben! Treten Sie diesem Vorschlag, den wir möglich, freie Arztwahl wird eingeschränkt. gemeinsam erarbeitet hatten, bei! Er leistet in Umset- Einkommen und Vermögen der Leistungsberech- zung unserer Einigung einen wichtigen Beitrag zur tigten und ihrer Familienangehörigen sind vor Inan- Lösung des Asylproblems. Die Bevölkerung, das wis- spruchnahme von Leistungen aufzubrauchen. sen wir alle, erwartet dies von uns. (Zuruf von der SPD: Eine durch und durch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) christliche Regelung!) — Das haben Ihre Kollegen alle mitentschieden; dies Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- sagt auch der Kompromiß. ten Damen und Herren! Ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Christel Hanewinckel. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In den Einrichtungen werden Arbeitsgelegenhei- Christel Hanewinckel (SPD): Sehr geehrter Herr ten geschaffen, zu deren Wahrnehmung die Lei- Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Das stungsberechtigten verpflichtet sind. 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Flüchtlinge. Ich sagte es bereits: Alle diese Punkte waren Ergeb- „Moderne Völkerwanderung" sagen manche Leute. nisse gemeinsamer Beratungen. Selbstverständlich Was sich dahinter versteckt, sind Gewalt, Elend, wären einige Formulierungen anders ausgefallen, Krieg, unendliches menschliches Leid und ungeheure wenn wir sie allein zu erarbeiten gehabt hätten. Katastrophen für Natur und Umwelt. Die Menschen (Zurufe von der SPD) im Norden bangen um ihren Wohlstand, um ihre soziale Sicherheit, die Menschen im Süden und Osten — Ja, dazu stehe ich. Wir stehen aber auch zu diesem bangen um ihr nacktes Leben. Kompromiß. Leider trägt die SPD-Fraktion diesen nun nicht mit. „Leider" sage ich deshalb, weil wir alle Die Politik hat bisher versagt. Statt sich um ihr wissen, daß zwischen den Sozialdemokraten vor Ort ureigenstes Geschäft zu kümmern, be treibt sie Flick- — den Bürgermeistern, den Sozialdezernenten, selbst schusterei. Lösungsversuche greifen nicht, weil sie Landesministern vor Ort, aber vor allen Dingen auch kleinmütig und den Problemen nicht angemessen den SPD-Mitgliedern vor Ort und SPD-Wählern — sind. und den Sozialdemokraten in Bonn erhebliche Diffe- (Beifall bei der SPD) renzen hinsichtlich der Problemeinschätzung beste- Die alten Themen des konziliaren Prozesses, der hen. maßgeblich auch aus der DDR mit angestoßen war, die (Zurufe von der SPD) Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind aktueller und brennender denn je. Wir hoffen alle, daß die SPD-Fraktion zum Asyl- Nur wenn nach Lösungen gemeinsam weltweit bei den Leistungen an Asylbewerber kompromiß gesucht wird, gibt es Chancen für ein Überleben der zurückfindet. Warum verweigert sie sich? Nicht einen Welt. wegen der Punkte, die ich gerade genannt habe. Sie möchte die Dauer der Leistungen nach diesem Gesetz Welche Rolle spielt dabei das geeinte Deutschland? auf sechs oder zwölf Monate beschränken. Ich sage: Welche Rolle wollen wir einnehmen? — Nach meinem ein kontraproduktiver Vorschlag. Eindruck sind wir eher dabei, auf Besitzstandswah- rung zu achten, statt bereit zu sein, wirklich verant- (Zuruf von der SPD: Das ist aber richtig wortlich mitzugestalten. so!) (Beifall bei der SPD — Dr. Erreicht würde ein Anreiz, die Asylverfahren und [CDU/CSU]: In Jugoslawien, in Bosnien!) damit die Abschiebung bei offensichtlich unbegrün- deten Anträgen zu verzögern. Frau Männle, Sie sprechen vom Helfen. Deutsch- land ist mitverantwortlich. Entwicklungshilfe oder (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) helfen für Asylbewerber hier im Lande ist genau das, Genau dies wollen wir verhindern. Dies weicht vom was ich mit Flickschusterei bezeichne. Es ist wirklich Asylkompromiß ab, höhlt ihn sogar aus. eine Entwicklungspolitik weltweit angesagt, und ich 12316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Christel Hanewinckel denke, das geeinte Deutschland hat hier eine ganz heißt, davon will ich nicht reden. Wir sind ausgestie- entscheidende Vorreiterrolle zu spielen, aber nicht so, gen. wie es sich z. B. in dem Asylbewerberleistungsgesetz ausdrückt. (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Die anderen sind ausgestiegen!) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Kirchen Eigentlich sind Sie ausgestiegen — das ist richtig —, steuern sparen können wir!) weil Sie sich an die Vereinbarung, die wir getroffen — Ja, darüber können wir reden. hatten, nicht gehalten haben. Wir debattieren heute über die Gesetze zur Rege- (Zuruf von der SPD: Die haben die Unwahr- lung des Asyls in Deutschland. heit gesagt! — Erwin Marschewski [CDU/ (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Gehen Sie CSU]: Wir steigen nie aus!) mal voran! Verzichten Sie mal auf etwas!) Sie steigen nie aus, fragt sich bloß, an welchen Die großen Parteien dieses L andes haben die Hoff- Stellen. nung, mit der Änderung des Grundrechts auf politi- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wir sind sches Asyl, durch veränderte Verfahren und treue Menschen, wir steigen nie aus!) Beschränkung von Sozialleistungen ein Instrumenta- Zu den einzelnen Punkten des Dissenses bezüglich rium zu schaffen, das Flüchtlings- und Einwande- des Gesetzes. rungsströme lenken kann. Das wird nicht funktionie- ren, denn diese Verfahren sind untauglich zur Rege- Erstens der Empfängerkreis. Es war nicht möglich, lung von sozialen, ökonomischen und ökologischen sich in den Verhandlungen darüber zu einigen, wie weltweiten Bevölkerungsumschichtungen. der Empfängerkreis so eingegrenzt werden kann, daß in der Tat Asylbewerber damit gemeint sind und nicht (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und andere Ausländergruppen. Die Koalition sieht eine - dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ausweitung des Personenkreises auf alle vollziehbar Die Verfahren, die wir heute debattieren, werden zur Ausreise Verpflichteten vor. Hier wäre es sicher- eine Sortierung und Klassifizierung von Menschen lich möglich gewesen, mit entsprechenden Formulie- festschreiben und die Lasten anderen aufbürden. Ein rungen einen Schritt weiterzukommen, aber in der Begleitgesetz für die Änderung des Artikels 16 Abs. 2 Verhandlung zeigte sich immer wieder, daß offenbar des Grundgesetzes ist das Asylbewerberleistungsge- andere Absichten mit eine Rolle spielen, die von Ihnen setz. Dieses Gesetz soll eigenständig, außerhalb des nicht deutlich genug benannt und auf den Tisch -Bundessozialhilfegesetzes, regeln, auf welche Sach gelegt wurden. und Geldleistungen Asylbewerber in Deutschland Zweitens. Ausländer, die geduldet werden, sollen Anspruch haben. Jetzt bekommen Asylbewerberin- nach Entscheidung ihres Verfahrens zusätzlich sechs nen und Asylbewerber entsprechende Leistungen Monate gekürzte Leistungen bekommen. Das ent- nach den Regeln der Sozialhilfe. spricht nicht den Vereinbarungen des Parteienkom- Rahmenbedingungen für dieses Gesetz legt der promisses. Deshalb fordert die SPD die Streichung Asylkompromiß der Parteien vom 6. Dezember 1992 dieser Frist, da es sich um eine Gruppe handelt, deren fest. Die Vereinbarung besagt, daß eine deutliche Verfahren bereits abgeschlossen ist. Absenkung der bisherigen Leistungen erfolgen soll, Ein dritter Punkt. Nach der Vorstellung der Koali- daß bei Aufenthalten in zentralen Anlaufstellen der tion soll das Gesetz auch auf bereits in der Bundesre- Gemeinschaftsunterkünfte grundsätzlich Sachlei- publik lebende Asylbewerber unmittelbar angewen- stungen gewährt werden sollen und bei Aufenthalten det werden. Also alle sogenannten Altfälle sollen von außerhalb von zentralen Anlaufstellen und Gemein- heute auf morgen auf die verminderten Leistungen schaftsunterkünften ein Vorrang für Sachleistungen umgestellt werden. Dies wird von uns abgelehnt. Wir gelten soll. wollen, daß das Gesetz nur für diejenigen Gültigkeit In den Verhandlungen mit der Koalition konnte in hat, die nach Inkrafttreten des Asylbewerberlei- drei wesentlichen Punkten keine Klärung erzielt wer- stungsgesetzes in die Bundesrepublik Deutschland den. kommen. Frau Männle, es ist nicht richtig, wenn Sie sagen, ( [SPD]: Ist das nicht ein daß wir dieses Gesetz, so wie es jetzt vorliegt, mit Rechtsstaatsprinzip?) Ihnen ausgehandelt haben. Wir haben die Verhand- — Ich denke, ja. Es ist doch nicht möglich, daß wir das lungen abgebrochen, weil wir in den entscheidenden Rechtsstaatsprinzip der Besitzstandswahrung Punkten, die ich jetzt benenne, keine Einigung erzie- nur für len konnten und weil Sie außerdem, entgegen von uns in Anspruch nehmen. Absprachen, dieses Gesetz mit einer Begründung, die (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das kön- mit uns nicht ausgehandelt worden ist, in Ihre Fraktion nen Sie nur theologisch begründen! Warum eingebracht haben. nicht rechtlich, liebe Frau?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Für Ausländer gilt das offenbar nicht. Ich denke, sie DIE GRÜNEN) haben angesichts der Länge der Verfahren schon gezeigt, daß sie offensichtlich Gründe dargelegt Verhandlungen danach waren nicht mehr möglich. Rein formal, müssen wir sagen, war es schon nicht haben, die ein Bleiben hier rechtfertigen. möglich, mit auf diesen Gesetzentwurf zu gehen, von (Zustimmung bei der SPD und dem BÜND- den inhaltlichen Punkten ganz zu schweigen. Das NIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12317

Christel Hanewinckel Die SPD ist der Meinung, daß Menschen in diesem Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott Land — unter unseren Bedingungen — das zum Leben und den Menschen, von dem Willen beseelt, als Unerläßliche benötigen, unabhängig davon, welcher gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Hautfarbe, welchen Geschlechts sie sind und welcher Europa dem Frieden der Welt zu dienen, .. . Nationalität oder welcher Gesellschaft sie angehö- Wir wollen die Präambel des Grundgesetzes ernst ren. nehmen. Wir sind schon jetzt gut beraten, wenn wir (Beifall bei der SPD, bei der PDS/Linke Liste uns nicht von Kategorien der Abschreckung, sondern und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Kategorien der Verantwortung und der Mensch- lichkeit leiten lassen. Die Beschränkung auf diese deutlich abgesenkten Leistungssätze ist sozialpolitisch nur dann vertretbar, Ich möchte alle, die sich dem christlichen Glauben wenn erstens der Zeitraum des Leistungsbezuges eng verpflichtet fühlen, und besonders die, die das begrenzt ist, zweitens der Personenkreis auf Asylbe- „Christlich" in ihrem Parteinamen deutlich machen, werber begrenzt ist und drittens die Unterbringung in an die Stellung von Flüchtlingen in der hebräischen zentralen Aufnahmestellen erfolgt. Nur unter diesen Bibel erinnern. Im 2. Buch Mose steht der Satz: drei Gesichtspunkten ist auch das Sachleistungsprin- Ein und dasselbe Gesetz gelte für den Einheimi- zip vertretbar. schen und den Fremdling, der unter euch wohnt. (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg) (Zustimmung bei der SPD und bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alle diese Punkte gilt es in den Ausschußverhand- lungen nach Anhörung von Sachverständigen noch zu Im 3. Buch Mose steht: klären. Kriterien können für die SPD nur sozialpoliti- Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem sche und dem Grundgesetz gemäße sein, nicht aber Land, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei - ein Kriterium, das vom Geist der Abschreckung aus- euch wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst geht. ihn lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr, euer (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Gott. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Dazu gehört auch die Beantwortung der Frage, ob das Diese dreitausendjährige Erfahrung leitet uns hoffent- vorgelegte Gesetz überhaupt praktikabel ist. Prakti- lich auch bei unseren weiteren Beratungen zum kabel ist das, was uns vorliegt, zu einem großen Teil Asylbewerberleistungsgesetz. noch nicht. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Nicht nur mir, sondern auch dem DGB, den Wohl- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fahrtsverbänden, den Flüchtlingsorganisationen so- wie Juristinnen und Juristen ist fraglich, ob dieses Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Leistungsgesetz den Werten des Grundgesetzes ver- nunmehr dem Abgeordneten Hans Engelhard das pflichtet ist. Professor Manfred Zuleeg sagt in einem Wort. Kurzgutachten zu dem vorliegenden Gesetzentwurf: Hinter der Kürzung der sozialen Hilfeleistung . . . Hans A. Engelhard (F.D.P.): Herr Präsident! Meine steckt der Gedanke der Abschreckung, der Men- Damen und Herren! Ein eigenständiges Asylbewer- schen zu Instrumenten der Politik macht und berleistungsgesetz mit reduzierten, nach dem Sach- daher mit der Würde des Menschen nicht verein- leistungsprinzip gewährten Leistungen ist die logi- bar ist. sche, die notwendige, ja die zwingende Folge und Die Caritas in Hessen sagte am 25. Februar 1993: Flankierung der Neuregelung des Asylrechts. Wir wissen, daß die explosive Zunahme der Zahl politisch Die Absicht der Bundesregierung, die Leistungen nicht verfolgter Asylbewerber vor allem auf die Ver- für Asylbewerber deutlich unter den Sozialhilfe- lockungen unserer Sozialhilfe zurückzuführen ist. regelsatz abzusenken und dann schwerpunktmä- Man kann das herunterspielen, wie die Frau Kollegin ßig in Sachleistungen umzuwandeln, lehnt die Hanewinckel es soeben getan hat. Aber es ist ein Konferenz der Caritasverbände in Hessen ab. Tatbestand, daß für die Armen in Osteuropa, in Aufgabe der Sozialhilfe ist, ein menschenwürdi- Südosteuropa, und in den Entwicklungsländern ges Leben zu sichern, sie stellt lediglich die unsere Sozialhilfe viel, viel Geld ist. soziale Grundsicherung dar und will den Sturz in völlige Armut verhindern. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es ist selbst dann noch viel Geld, wenn aus dieser Der Art. 1 unseres Grundgesetzes bindet uns und Quelle die Schlepperorganisationen gespeist wer- unsere Gesetzgebung auch an die Unantastbarkeit den. der Würde des Menschen. Die Gesetze, die heute — einschließlich der Änderung des Art. 16 — einge- Wer zur strikten zeitlichen Verkürzung der Verfah- bracht werden, werden dieser Überprüfung standhal- ren ja sagt — ich weiß nicht, Frau Kollegin Hanewink- ten müssen. kel, ob ich feststellen kann, daß Sie ja dazu sagen; ich weiß es wirklich nicht —, aber dann zum Leistungs- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Mit Si gesetz nein sagt, der schöpft nicht nur im Übermaß aus cherheit!) fast schon leeren Kassen in die falsche Richtung, Die Präambel unseres Grundgesetzes beginnt mit sondern bewirkt leider auch, daß heuer nochmals dem Satz: mehr Verfahren bewältigt werden müssen. Die Logik 12318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Hans A. Engelhard eines solchen Verhaltens nun einmal erläutert zu quenz ziehen, mit auslegungsbedürftiger Unklarheit bekommen, das erwarten die Öffentlichkeit und wir daranzugehen, zur Sozialhilfe zurückzukehren. mit Spannung. Nun muß ich sagen: Hier wird es nicht Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß die SPD mehr passieren, denn nach der Rednerliste wird die bei den Beratungen mitmachen wird. Frau Ministerin nach mir das Wort nehmen, und von der Opposition wird niemand mehr Gelegenheit (Zuruf von der SPD: Das in jedem Fall!) haben zu sprechen. Es liegt an ihr, sich nun zu entscheiden, ob sie auf halbem Wege stehenbleibt und neben den Gegnern Frau Kollegin Hanewinckel, Sie haben viel Nach- nun auch noch die Befürworter eines geänderten denkenswertes, Ernstes gesagt. Aber aufzuklären, für Asylrechts gleichermaßen vor den Kopf stößt. uns einsehbar klarzumachen, worin eigentlich Ihre gravierenden Bedenken bestehen, das ist Ihnen — mit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verlaub — nun wirklich nicht gelungen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Kurzintervention erteile ich dem Grafen von Schön- GRÜNEN]: Also, ich habe es verstanden!) burg-Glauchau das Wort. Sozialhilfe garantiert den Betroffenen nach dem (CDU/ Bundessozialhilfegesetz nicht nur die Unterkunft, die Joachim Graf von Schönburg-Glauchau CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- Kleidung, die Ernährung; Sozialhilfe hat sich grund- sätzlich an den Bedürfnissen des einzelnen zu orien- gen! Ein kurzes Wort von einem, dessen Mutter eine Polin war und dessen ganze Verwandtschaft aus tieren. Der Bedürftige soll am Leben der Gesellschaft teilnehmen können. Er soll durch Hilfe zur Selbsthilfe Russen und Ungarn und Litauern besteht. befähigt werden, wieder eigenständig in der Gemein- ( [SPD]: Alter, vertrottelter - schaft zu leben. All dies steht so im Gesetz, aber ich Adel!) sage Ihnen: Für den Asylbewerber in einem gekürz- — Lauter alte, vertrottelte politische Flüchtlinge. — ten, zeitlich zusammengedrängten Verfahren passen Seit ich zehn Jahre alt bin, seit dem Jahre 1939, hat das diese Grundsätze nicht. Thema Ausländerbehörde, Aufenthaltsgenehmi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gung, Arbeitsgenehmigung, Dauervisum, Nansen- Paß zu meinem täglichen Brot gehört. Deswegen, so Ihm ist Versorgung zu gewähren, ihm ist mit Anstand meine ich, habe ich ein bißchen Legitimation, für zu begegnen. Dies alles ist ganz selbstverständlich. politische Flüchtlinge zu sprechen. Deswegen würde Aber den Versuch zu unternehmen, ihn vor einer ich alle die, die jetzt noch ernste Bedenken gegen Anerkennung bei uns zu integrieren, all dies hat diesen Asylkompromiß haben, im Namen der politi- keinen Platz und kann nicht richtig sein. schen Flüchtlinge bitten, diese Bedenken zurückzu- Nun haben wir in dem Entwurf vorgesehen, daß die stellen. ärztliche Behandlung akuter Erkrankungen und von Gerade die echten politischen Flüchtlinge brauchen Schmerzzuständen selbstverständlich gewährleistet eine neue Regelung, eine, die eben nicht die Kanäle werden muß, ja wir haben ausdrücklich festgelegt, und auch nicht die Herzen der Menschen verstopft. daß werdenden Müttern und Wöchnerinnen jede, Die echten politischen Flüchtlinge sind bös dran. In aber auch jede ärztliche Hilfe und Betreuung in ihrem Interesse möchte ich Sie bitten, diesem Asyl- vollem Umfange dessen, was bei uns üblich ist, zugute kompromiß, auch wenn Sie Bedenken haben, zuzu- kommen muß. stimmen. Ein ganz zentraler und wichtiger Bestandteil in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diesem Zusammenhange ist das Sachleistungsprin- zip. Das ist von Frau Kollegin Männle bereits ausge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile führt worden; ich brauche dies daher nicht zu wieder- nunmehr der Ministerin für Familie und Senioren, holen. Es ist ein zentraler Baustein des Entwurfs, weil Frau Hannelore Rönsch, das Wort. alles andere sonst in die falsche Richtung geht. Es ist einem Menschen zuzumuten, für eine Reihe von Monaten mit kaum barem Geld auszukommen, wenn Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie er ansonsten versorgt wird. und Senioren: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne von der SPD! Auch ich möchte noch einmal den ten der CDU/CSU) Versuch machen, Sie zu der bereits gefundenen Was Sie bemängelt haben, Frau Kollegin Hane- Kompromißlösung zurückzuführen. Ich möchte den winckel: Einsehbar, das sagte ich, ist es nicht. Wir Versuch machen, Sie wieder zu den Beratungen können nicht hinnehmen, daß, wer keinen Asylantrag einzuladen; denn ich denke, wir brauchen gerade für stellt und sich als Ausländer hier befindet, materiell die Männer und Frauen in der ganzen Welt, die aus besser gestellt wird als ein Asylbewerber. religiösen, aus rassischen oder aus politsichen Grün- den verfolgt werden und bei uns in der Bundesrepu- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahr!) blik Deutschland Aufnahme finden sollen, jetzt und in Wir können auch keine Fristen von sechs oder von der Zukunft die neue Regelung, über die wir heute zwölf Monaten hinnehmen. Wir wollen ein Verfahren, hier diskutieren. das schnell geht. Wenn das im Einzelfall nicht gelingt, Wir stehen dazu, daß das Grundrecht auf Asyl aus dann können wir unsererseits daraus nicht die Konse- den eben von mir genannten Gründen weiterhin in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12319

Bundesministerin Hannelore Rönsch unserer Verfassung festgeschrieben ist. Aber um das nen eine ganze Reihe von konkreten Maßnahmen gerade für diesen Personenkreis auch weiterhin ausgearbeitet, die hier schon vorgetragen wurden. gewährleisten zu können, müssen wir sicherstellen, daß all diejenigen — die Zahlen sind heute schon Ich möchte trotzdem noch auf das eine oder andere genannt worden —, die aus ökonomischen Gründen kurz eingehen und noch einmal betonen, daß wir an als Asylsuchende in die Bundesrepublik Deutschland die Stelle der Geldleistungen jetzt Sachleistungen kommen, zurückgewiesen werden. setzen wollen. Ich will auch noch einmal begründen, warum, weil ich mich noch sehr gut an die Debatte im Die Verfahren — wir haben heute morgen darüber November erinnern kann. diskutiert — werden beschleunigt. Zudem bin ich überzeugt, daß die Regelung, die wir Ihnen jetzt (Zuruf von der SPD: Wir auch!) vorgeschlagen haben, auch der Menschenwürde voll und ganz entspricht. Ich darf mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken: Ich habe großes Verständnis dafür, daß Asylbewer- Sie sind, wohl auch durch Ihre Bürgermeister in den ber in der Bundesrepublik Deutschland einen Ausweg Kommunen und Ihre Landräte get rieben, uns und aus der Armut zu Hause suchen. Sie versprechen sich unseren Vorstellungen jetzt ein ganzes Stück entge- bei uns im Land ein Leben ohne den täglichen gengekommen. Ich kann mich noch erinnern, daß ich materiellen Überlebenskampf. Wir alle müssen Ver- als inhuman — das war noch das Humanste, was Sie ständnis dafür haben. an Vokabeln gebraucht haben — bezeichnet wurde, als ich für Sachleistungen plädiert habe. Ich stehe und Dennoch brächte ein weiterer ungebremster Zuzug ich bekenne mich voll zu diesen Sachleistungen. Ich von Armuts- bzw. Wirtschaftflüchtlingen unser freue mich, daß Ihre Bürgermeister nun auch Sie in der Gemeinwesen komplett aus dem Gleichgewicht. Wir SPD-Fraktion in diese Richtung bewegt haben. Ich können die Armutsprobleme dieser Welt nicht allein denke, daß wir nur mit der Sachleistung sicherstellen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland lösen. Ich können, daß die Versorgung für alle Familienmitglie- - denke, daß es wichtiger ist, daß wir die Anstrengun- der, nämlich auch für die Kinder und für die Frauen in gen verstärken, damit diese Menschen in ihren Hei- größeren Familienverbänden, sichergestellt ist. Wir matländern unter guten Bedingungen leben kön- haben Erkenntnisse darüber, daß wenn Bargeld aus- nen. gezahlt wurde, dieses Geld in den Familien an Kin Frau Kollegin Hanewinckel, wir sind mit Ihnen -dern und Frauen vorbei zu den schon angesprochenen einer Meinung, daß wir in der Entwicklungspolitik Schlepperorganisationen transferiert wurde. Mit der Bundesrepublik Deutschland noch verstärkt Sachleistung ist sichergestellt, daß Essen, daß Nah- Ansatzpunkte finden müssen. Ich würde mir aber rungsmittel an Kinder und Familienangehörige aus- auch wünschen, daß Sie einmal in den Haushalt gegeben werden. Darauf muß es uns ankommen. Wir schauen und auch die anderen europäischen Länder wollen, können und dürfen Schlepperorganisationen zum Vergleich heranziehen. Sie wollen, daß die nicht mitfinanzieren. Bundesrepublik Deutschland — so haben Sie es wört- lich gesagt — bei der Entwicklungspolitik eine Vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — reiterrolle einnimmt. Schauen Sie sich um, und Sie Erwin Maschewski [CDU/CSU]: Das wollen werden sehen: Wir nehmen diese Vorreiterrolle die aber offensichtlich! — Rudolf Bindig momentan schon ein! [SPD]: Sie rennen mit Schwung gegen die offene Tür!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In der Struktur ist sicher noch viel zu verändern. — Lieber Herr Kollege, ich freue mich, daß die Türen mittlerweile meilenweit offen sind. Nur habe ich die Aber schauen Sie sich die Beträge an. Ich kann die Debatte aus dem November noch sehr gut in Erinne- anderen Lander in Europa einfach nur einladen, sich an der Bundesrepublik ein Beispiel zu nehmen. rung. Ich sagte es schon: „Inhuman" war die mildeste Vokabel. Ich freue mich, daß wir Sie bekehren konn- Der Mißbrauch unseres Asylrechts muß verhindert ten, daß Sie jetzt auf dem richtigen Weg sind. und die Zuwanderung nach Deutschland in vernünf- tiger Weise begrenzt werden. In diesem Punkt besteht Ich will auch noch eines betonen, nämlich daß Einigkeit zwischen dem Bund und den Ländern sowie Asylbewerber, wenn sie außerhalb zentraler Aufnah- mit den Kommunen. meeinrichtungen untergebracht sind, mit Wertgut- scheinen anstelle von Geldleistung versorgt werden Die Parteien der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sollen, um eine mißbräuchliche Verwendung auszu- haben am 6. Dezember darüber einen Konsens erzielt. schließen. Deshalb wollen wir auch, daß diese Wert- Entsprechend diesen Verhandlungsergebnissen zur gutscheine persönlich ausgehändigt werden. künftigen Regelung von Asyl und Zuwanderung sieht der vorliegende Gesetzentwurf nun eine eigenstän- Es ist schon darüber gesprochen worden, daß die dige Regelung für den Unterhalt von Asylbewerbern medizinisch notwendigen Hilfen bei Krankheit, vor. Schwangerschaft und bei Geburten geleistet werden. Gegenüber der bisherigen Regelung im BSHG Niemand soll im Falle einer Erkrankung oder bei sollen künftig nur noch begrenzte Leistungen — dar- Schmerzen leiden bzw. ohne ärztliche Versorgung über ist heute schon gesprochen worden — zur Dek bleiben. Aber — ich denke, auch das muß betont kung der Grundbedürfnisse während des in aller werden — es muß niemand eine umfängliche und Regel nur kurzen Aufenthaltes gewährt werden. Wir kostenintensive Zahnbehandlung erfahren, wenn sie haben dazu im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktio- nicht während des Zeitraums seines Aufenthalts in der 12320 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Bundesministerin Hannelore Rönsch Bundesrepublik Deutschland unaufschiebbar erfor- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das war derlich ist. wohl mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich bitte (Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste] doch ein bißchen auf die Form zu achten. meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Ja, das war eine Feststellung! — Rudolf Bindig [SPD]: „Teilen Sie meine Feststellung, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie sind daß...") bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Frau Dr. Höll, ich gehe sehr gern auf Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Ihre Feststellung ein. Ich meine schon, daß m an den und Senioren: Selbstverständlich. Menschen, die bei uns Aufnahme finden, zumuten können darf, daß sie für die Zeit ihrer Aufnahme hier Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, mit einem Wertgutschein die Leistungen, die sie Frau Dr. Höll. brauchen, in einem Warenhaus oder wo auch immer sonst in Empfang nehmen. Wir haben über viele Jahre und in vielen Kommunen, auch heute noch unseren Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Frau Ministerin, Sozialhilfeempfängern zugemutet, mit einem Be- mich würde interessieren, ob Sie sich vorstellen kön- zugsschein z. B. Kohlen bei einem Kohlenhändler zu nen, was es für die einzelnen Menschen bedeutet, bestellen. Dadurch haben sie sich als Sozialhilfeemp- wenn sie mit Wertgutscheinen einkaufen gehen müs- fänger ausgewiesen. Sie aber implizieren, daß bereits sen. der Empfang von Sozialhilfe oder der Empfang einer (Joachim Graf von Schönburg-Glauchau Leistung als Asylbewerber eine Diskriminierung dar- [CDU/CSU]: Oh ja! Habe ich gemacht!) stellen würde. Das ist nicht der Fall. Dagegen verwah- - Sollte man das vielleicht einmal selber ausprobieren? ren wir uns auf das Schärfste. Können Sie sich vorstellen, wie lange man mit 80 DM (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bargeld auskommt? Sie haben einiges aufgeführt, was Die Abge- davon noch alles bestritten werden muß. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: ordnete Frau Würfel möchte auch noch eine Frage stellen. Gestatten Sie dies, Frau Ministerin? Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Liebe Frau Dr. Höll, da ich aus einer Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Generation komme, die den Krieg und die Nach- und Senioren: Aber selbstverständlich. kriegszeit erlebt hat, habe ich das sogar noch selber Uta Würfel (F.D.P.): Frau Ministerin Rönsch, haben praktiziert. Deshalb weiß ich, daß dies möglich ist. Ich Sie Kenntnis davon, daß es bislang in Sammelunter- weiß auch, daß dies unter gar keinen Umständen eine künften nicht üblich ist, daß die dort wohnenden Diskriminierung darstellen muß. Es kommt natürlich Asylbewerber ihre Räumlichkeiten selber sauberhal- darauf an, wie man die Gesellschaft darauf vorberei- ten — d. h. auf gut deutsch: ihre Toiletten selber tet. Ich möchte Sie deshalb bitten und auffordern, daß putzen — und beispielsweise bei der Essenszuberei- Sie die Diffamierung, der Leistung von Wertgutschei- tung helfen oder auch nur den Tisch decken oder nen, endlich unterlassen, damit sich Asylbewerber, abfragen? Wenn dem so ist und Sie davon Kenntnis die diese Wertgutscheine haben, nicht diskriminiert haben: Wie wollen Sie in Zukunft sicherstellen, daß fühlen müssen. diejenigen, die bei uns hier doch erhebliche Einkünfte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beziehen und Möglichkeiten haben, wenigstens Denn nur durch diese Diskussion, die wir hier führen, durch ihre Arbeitsleistung einen Teil dazu beitra- kann überhaupt erst der Eindruck einer Diskriminie- gen? rung entstehen. Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie (Christel Hanewinckel [SPD]: Also das darf ja und Senioren: Herzlichen Dank, Frau Kollegin Würfel, nicht wahr sein! So ein Mist! — Abg. Dr. Bar für die Frage. Ich wollte eigentlich aus Zeitgründen bara Höll [PDS/Linke Liste] meldet sich zu gerade diesen Passus kurz überschlagen. Aber ich einer weiteren Zwischenfrage) mache jetzt gerne, nachdem Sie die Frage gestellt — Aber klar. haben, noch einmal darauf aufmerksam, daß unser Gesetzentwurf vorsieht, daß Asylsuchende für die Dauer des Verfahrens gehalten sind, ihre Arbeitskraft Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Es ist sicher nur zur Selbstversorgung, also auch in ihren Unterkünf- ein Punkt, es ist nicht der Hauptpunkt dieses Gesetzes. ten, aber auch für gemeinnützige Zwecke, einzuset- Aber ich glaube, auch mit Ihrem historischen Bezug zen. Ich meine, das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich liegen Sie außerhalb der Realität dieses Landes, in selber habe die Erfahrung gemacht, daß z. B. Reini- dem es eben nicht mehr dem allgemeinen Zustand gungskolonnen in Asylbewerberunterkünfte gekom- entspricht, daß man mit Wergutscheinen einkaufen men sind, die Häuser reinigen mußten und die Häuser gehen muß. Hier erfolgt die Stigmatisierung einer nach einer halben Stunde, nach dem Ende meines bestimmten Gruppe von Menschen, die dazu gezwun- Besuchs, wieder so aussahen wie am Anfang. Ich muß gen wird. das so sagen, weil ich es genau so erlebt habe. (Ursula Männle [CDU/CSU]: Das war keine Ich denke, daß wir gerade auch mit diesem Passus in Frage!) unserem Gesetzentwurf, nämlich mit der Arbeitsver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12321

Bundesministerin Hannelore Rönsch pflichtung, dann auch zur Selbstversorgung in den Dauer seines Asylverfahrens gar nicht zumuten, daß Häusern bzw. in den Unterkünften auf dem richtigen er sich fest in die Gesellschaft integriert; Weg sind. (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Listel: Unver- schämt!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will denn die Reintegration in sein Heimatland wird dann noch einige Gedanken darauf verwenden, wie der für ihn mit Sicherheit um so schwerer, sollte sein Würde der Menschen, die sich dann in der Bundesre- Asylersuchen abgelehnt werden. publik Deutschland als Asylsuchende aufhalten, Rechnung getragen wird. Ich bin überzeugt, daß unser Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Gesetzentwurf auch die Würde der Menschen, die auch diese Debatte zeigt, daß die Neuregelung der sich zu Unrecht auf Art. 16 des Grundgesetzes beru- Leistungen an Asylbewerber nur einen Teilbeitrag zur fen, ganz genau berücksichtigt. Die Grundbedürf- Lösung der Asylproblematik insgesamt leisten kann. nisse Wohnung, Essen und Bekleidung werden gesi- Er ist aber in jedem Fall zwingend notwendig, wollen chert. Andererseits, denke ich, muß klar sein, daß wir die Politik der Zuwanderung EG-weit und darüber diejenigen, die eine solche Rundumversorgung erfah- hinaus europaweit mitgestalten. Hierzu gehören auch ren, in einem überschaubaren Zeitraum für sonstige die angestrebten Vereinbarungen mit Polen und mit Dinge des täglichen Lebens nur noch wenig Bargeld der Tschechischen Republik. Wir gehen davon aus, benötigen. In diesem Sinne soll jedenfalls das Gesetz daß die derzeit laufenden Verhandlungen bald zu den wirtschaftlichen Anreiz verringern — Kollege einem positiven Abschluß gebracht werden können. Engelhard ist darauf schon eingegangen —, unter Ich persönlich erwarte weiterführende Perspekti- Berufung auf das Asylrecht offensichtlich unbegrün- ven auch von den Ergebnissen der europäischen det in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Bevölkerungskonferenz, die in diesem Monat in Genf zur Vorbereitung der Weltbevölkerungskonferenz Die Einsparungen betragen zwei Milliarden DM. 1994 stattfindet. Es muß uns in Europa darum gehen, Diese Einsparungen erfolgen — dabei muß man in daß mit einer abgestimmten Wanderungspolitik die Klammern sagen: der Bundesgesetzgeber macht nur Zuwanderung nach berechenbaren Maßstäben ge- die Gesetze — bei den Kommunen, in den Landkrei- steuert werden kann, ohne das eigene Land und sen, bei den einzelnen Bundesländern. Wir sind ja nun unsere soziale Ordnung zu überfordern und das gerade auch von Ihren Kolleginnen und Kollegen aus Gemeinwohl unserer Gesellschaft zu gefährden. Ich den Kommunen, meine Damen und Herren von der glaube, es muß Aufgabe auch der Parlamentarier im SPD-Fraktion, aufgefordert worden, endlich in dieser Bundestag sein, gerade den letzten Gedanken ganz Richtung tätig zu werden. Deshalb habe ich Ihre intensiv zu überlegen und zu verfolgen; denn sie sind Einlassungen weder im November noch heute ganz den Bürgern verpflichtet. Sie müssen unseren Bun- verstanden. Die Einsparungen erfahren die Kommu- desbürgern gegenüber ihr Verhalten rechtfertigen nen. Das enthebt natürlich schon den Stadtkämmerer und dazu Stellung nehmen. der einen oder anderen Stadt bzw. Gemeinde man- Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Teil dieses cher ernsthafter und teilweise sogar sehr dramatischer Gesamtpaketes und muß im Rahmen einer umfassen- Sorgen. den Positionsbestimmung gegenüber dem Migra- tionsproblem neu gesehen werden. Unbegrenzte und Ich muß Ihnen sagen, daß auch in meinem Heimat- ungesteuerte massenhafte Zuwanderung kann mit land Hessen — darauf sollten Sie vielleicht doch bei Rücksicht auf die sozialen Folgen weder bei uns noch allem wahltaktischen Denken ein wenig Rücksicht für die Herkunftsländer das Ziel der Politik sein. Umso nehmen — die sozialdemokratischen Sozialdezernen- dringlicher ist das Überdenken von bisherigen eige- ten und Bürgermeister genau den Weg, den wir jetzt in nen Positionen. Ich wünsche mir, daß Sie zu den der Gesetzesvorlage eingeschlagen haben, von uns, Beratungen zurückfinden. Sie haben sich schon ein aber auch von Ihnen forde rn. ganzes Stück auf den Weg gemacht, uns entgegenzu- kommen; wir sind Ihnen auch entgegengekommen. Lassen Sie uns für die Asylsuchenden, aber auch für Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Asyl- die Bürger in unserem Lande zu einem Kompromiß bewerberleistungsgesetz hebt sich bewußt vom Bun- kommen. dessozialhilfegesetz ab. Die Sozialhilfe, die vom Grundsatz einer individuell abgestimmten Leistung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ausgeht, soll dem Leistungsberechtigten neben dem existentiell gesicherten Leben auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Der Aufent- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine halt während eines künftig nur noch kurzen Asylver- Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache. fahrens läßt eine soziale Eingewöhnung der Asyl- Bevor ich über die Überweisung der heute diskutier- bewerber in Deutschland aber erst gar nicht zu. Ich ten Vorlagen abstimmen lasse, möchte ich Sie über die denke, es ist auch human, daß wir so verfahren. Geschäftslage unterrichten. Wir werden, wie gesagt, jetzt über die Überwei- Herr Kollege Engelhard hat vorhin schon darüber sungsvorschläge abstimmen. Ich lasse dann noch über gesprochen, daß der sogenannte soziokulturelle verschiedene Vorlagen ohne Aussprache abstimmen. Anteil, der in der Sozialhilfe für alle anderen Sozial- Anschließend beginnt die Fragestunde. Sie wird in hilfeempfänger enthalten ist, jetzt reduziert wird. Ich vollem Umfang abgewickelt, d. h. während der Frak- glaube, wir dürfen es einem Asylsuchenden für die tionssitzungen der CDU/CSU und der F.D.P. wird 12322 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg entsprechend einer Vereinbarung mit den Geschäfts- Ausschuß für Post und Telekommunikation führern die Fragestunde weiterlaufen. EG-Ausschuß Finanzausschuß Ich lasse nunmehr über den Vorschlag des Ältesten- rates abstimmen, die Drucksachen 12/4450 und c) Erste Beratung des von der Bundesregierung 12/4451 an die in der Tagesordnung aufgeführten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf der Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 CDU/CSU und der F.D.P. zur Neuregelung der Lei- zur Gründung einer Assoziation zwischen den stungen an Asylbewerber soll zusätzlich an den Aus- Europäischen Gemeinschaften sowie ihren schuß für Gesundheit überwiesen werden. Ist das Mitgliedstaaten und der Republik Polen Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es so beschlossen. — Drucksache 12/4275 — Überweisungsvorschlag: Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über Ausschuß für Gesundheit die Anpassung von Dienst- und Versorgungs- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bezügen in Bund und Ländern 1992 Ausschuß für Post und Telekommunikation (Bundes- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau besoldungs- und -versorgungsanpassungsge- EG-Ausschuß setz 1992 — BBVAnpG 92) Finanzausschuß — Drucksachen 12/3629, 12/4165, 12/4387, d) Erste Beratung des von der Bundesregierung 12/4447 — eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur- Berichterstattung: Aufhebung der Tarife im Güterverkehr (Tarif- Abgeordneter Hans-Joachim Hacker aufhebungsgesetz — TAufhG) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann lasse ich darüber abstim- — Drucksache 12/4231 — men. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Überweisungsvorschlag: Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Ausschuß für Verkehr (federführend) Deutschen Bundestag über die Änderungen gemein- Innenausschuß sam abzustimmen ist. Rechtausschuß Ausschuß für Wirtschaft Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mittlungsausschusses auf Drucksache 12/4447? — Ausschuß für Gesundheit Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthal- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tungen der PDS/Linke Liste und des Abgeordneten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Briefs ist die Beschlußempfehlung angenommen. e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und Überweisungen im vereinfachten Verfahren zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Regelung von Ingenieur- und Architektenlei eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem stungen, des Wohnungsbindungsgesetzes und Vertrag vom 21. April 1992 zwischen der des Belegungsrechtsgesetzes Bundesrepublik Deutschland und Rumänien — Drucksache 12/4276 — über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/4273 — Ausschuß für Raumordung, Bauwesen und Städtebau (feder- führend) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. R. Werner Schuster, Dr. Ingomar Hauchler, b) Erste Beratung des von der Bundesregierung , weiterer Abgeordneter und der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fraktion der SPD Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 Dauerhafter Zielerreichung (Nachhaltigkeit) zur Gründung einer Assoziation zwischen den in der Entwicklungszusammenarbeit Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Ungarn — Drucksache 12/4269 — — Drucksache 12/4274 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Christoph Matschie, Hans Martin Bury, Elke Ausschuß für Gesundheit Ferner, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tion der SPD Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12323

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Umstrukturierung des Fahrdienstes des Deut- wirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der schen Bundestages nach Kriterien der Umwelt- Unterrichtung durch die Bundesregierung verträglichkeit Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur — Drucksache 12/4266 — Änderung der Richtlinie 79/112/EWG zur Überweisungsvorschlag: Angleichung der Rechtsvorschriften der Mit- Ältestenrat (federführend) gliedstaaten über die Etikettierung und Auf- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit machung von Lebensmitteln sowie die Wer- Ausschuß für Verkehr bung hierfür Haushaltsausschuß — Drucksachen 12/3240 Nr. 3.18, 12/4278 — h) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Hornung Gruppe der PDS/Linke Liste Erarbeiten einer DM-Eröffnungsbilanz des d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Vermögens der DDR richtung durch die Bundesregierung — Drucksache 12/4205 — Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 02 Überweisungsvorschlag: Titel 682 01 — Erstattung von Fahrgeldausfäl Ausschuß Treuhandanstalt (federführend) Rechtsausschuß len — Ausschuß für Wirtschaft — Drucksachen 12/3712, 12/4287 — Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Berichterstattung: an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Abgeordnete zu überweisen. Die Gesetzentwürfe auf den Drucksa- Hans-Gerd Strube chen 12/4274 und 12/4275 sollen zusätzlich an den - Finanzausschuß überwiesen werden. Ist das Haus e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Dann darf ich das als beschlossen feststellen. richtung durch die Bundesregierung Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 02 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: — Allgemeine Bewilligungen — (apl.) Titel Abschließende Beratungen ohne Aussprache 684 15 — Einmalige Zuwendung an eine zen- trale Organisation zur Unterstützung von a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Staatsangehörigen des ehemaligen Jugosla- desregierung eingebrachten Entwurfs eines wien, die die Bundesrepublik Deutschland Gesetzes zur Bereinigung von in der ehemali- gen Deutschen Demokratischen Republik zwi- vorübergehend aus humanitären Gründen aufgenommen hat schen den öffentlichen Haushalten und volks- eigenen Unternehmen, Genossenschaften so- — Drucksachen 12/4060, 12/4288 — wie Gewerbetreibenden begründeten Finanz- Berichterstattung: beziehungen Abgeordnete Ina Albowitz (Finanzbereinigungsgesetz - DDR) Rudolf Purps — Drucksache 12/3345 — f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- (Erste Beratung 113. Sitzung) haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Beschlußempfehlung und Bericht des Haus- richtung durch die Bundesregierung haltsausschusses (8. Ausschuß) Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 — Drucksache 12/4173 — Titel 681 01 — Arbeitslosenhilfe Berichterstattung: - Drucksachen 12/4070, 12/4289 —— Abgeordnete Arnulf Kriedner Berichterstattung: Helmut Wieczorek (Duisburg) Abgeordnete Karl Diller b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Dr. Gero Pfennig Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- Ina Albowitz schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- der Verordnung der Bundesregierung haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Zustimmungsbedürftige Zweiundzwanzigste richtung durch die Bundesregierung Verordnung zur Durchführung des Bundes- Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Immissionsschutzgesetzes Titel 681 02 — Aufwendungen des Bundes für (Verordnung über Immissionswerte — die gesetzliche Unfallversicherung — 22. BImSchV) — Drucksachen 12/4029, 12/4290 — — Drucksachen 12/4204, 12/4365 — Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Hans-Gerd Strube Dietmar Schütz Ina Albowitz Dr. Jürgen Starnick h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- c) Beratung der Beschlußempfehlung und des haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Berichts des Ausschusses für Ernährung, Land- richtung durch die Bundesregierung 12324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02 Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Titel 683 91 — Zahlungen aus der Wechsel- Landwirtschaft und Forsten zu? — Gegenstimmen? — kurssicherung beim Airbusprogramm — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Briefs ist die Beschlußempfehlung einstimmig ange- — Drucksachen 12/4030, 12/4291 — nommen. Berichterstattung: Abgeordnete Kurt Rossmanith Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 3d bis Dr. Sigrid Hoth 3j. Es handelt sich um sieben Beschlußempfehlungen Helmut Wieczorek (Duisburg) des Haushaltsausschuses zu über- und außerplanmä- i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- ßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1992. Wenn Sie haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- damit einverstanden sind, lasse ich über die sieben richtung durch die Bundesregierung Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. Ist das Haus damit einverstanden? — Nein; dann lasse ich Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 einzeln abstimmen. Titel 686 30 — Beitrag an die Vereinten Natio- nen — Zuvor stimmen wir über den Tagesordnungs-

— Drucksachen 12/4061, 12/4292 — punkt 3k und 31 ab. Wer den Beschlußempfehlun- Berichterstattung: gen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) 12/4322 und 12/4323 zustimmt, den bitte ich urn sein Dr. Sigrid Hoth Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- Helmut Wieczorek (Duisburg) gen? — Einstimmig angenommen. j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Wir kommen nunmehr zu den genannten sieben haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Beschlußempfehlungen. richtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr Zu Tagesordnungspunkt 3d liegen Ihnen die 1992 bei Kapitel 10 02 Titel 656 58 — Drucksachen 12/3712 und 12/4287 vor. Wer der Zuschüsse zur Förderung der Einstellung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu- landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit (Pro- zustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzei- duktionsaufgaberente) chen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Ein- — Drucksachen 12/3556, 12/4300 — stimmig angenommen. Berichterstattung: Zu Tagesordnungspunkt 3e liegen Ihnen die Abgeordnete Bartholomäus Kalb Drucksachen 12/4060 und 12/4288 vor. Wer stimmt Dr. Sigrid Hoth der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses Ernst Kastning zu? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Einstim- k) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- mig angenommen. tionsausschusses (2. Ausschuß) Zu Tagesordnungspunkt 3 f liegen Ihnen die Druck- Sammelübersicht 89 zu Petitionen sachen 12/4070 und 12/4289 vor. Wer stimmt der — Drucksache 12/4322 — Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu? l) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Einstimmige tionsausschusses (2. Ausschuß) Annahme. Sammelübersicht 90 zu Petitionen Zu Tagesordnungspunkt 3 g liegen Ihnen die — Drucksache 12/4323 — Drucksachen 12/4029 und 12/4290 vor. Wer stimmt für Zu Tagesordnungspunkt 3a empfiehlt der Haus- die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses? haltsausschuß auf Drucksache 12/4173, den Gesetz- — Einstimmig angenommen. entwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Zu Tagesordnungspunkt 3h liegen Ihnen die das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthal- Drucksachen 12/4030 und 12/4291 vor. Wer stimmt tungen? — Einstimmig angenommen. der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Wir kommen zur Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der dritten Beratung Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.— Zu Tagesordnungspunkt 3 i liegen Ihnen die Druck- Damit erübrigen sich die weiteren Fragen. Der sachen 12/4061 und 12/4292 vor. Wer der Beschluß- Gesetzentwurf ist angenommen. empfehlung des Haushaltsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer Zu Tagesordnungspunkt 3 b liegen Ihnen die stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Gegen die Drucksachen 12/4204 und 12/4365 vor. Wer stimmt für Stimmen von PDS/Linke Liste ist die Beschlußemp- die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Um- fehlung angenommen. welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit? — Gegen- stimmen? — Wer enthält sich? — Bei Enthaltung des Zu Tagesordnungspunkt 3 j liegen Ihnen die Druck- Abgeordneten Briefs einstimmig angenommen. sachen 12/3556 und 12/4300 vor. Wer wünscht der Zu Tagesordnungspunkt 3 c liegen Ihnen die Druck- Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu- sachen 12/3240 und 12/4278 vor. Wer stimmt der zustimmen? — Einstimmig angenommen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12325

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Ich rufe jetzt Punkt 1 der Tagesordnung auf: Dieter Maaß (Herne) (SPD): Ich möchte sozusagen außerhalb des Protokolls fragen: War das die Antwort Fragestunde auf beide Fragen? — Drucksache 12/4433 — Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundes- Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Nein, das war ministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beant- die Antwort auf Ihre erste Frage, Herr Kollege wortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Maaß. Staatssekretär Horst Günther zur Verfügung. Dieter Maaß (Herne) (SPD): Bei einigen Maßnah- Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Dieter men gab es einen Bewilligungszeitraum von zwei Maaß aus Herne auf: Jahren. Jetzt fehlen die Mittel für die Weiterführung Trifft es zu, daß im Bereich des Arbeitsamtes Bochum, zu dem dieser Maßnahmen. Wie sieht es mit der rechtlichen auch mein Wahlkreis lierne gehört, in diesem Jahr die Mittel für Stellung der Anspruchsberechtigten aus? Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um 90 % und die Mittel für die berufliche Qualifizierung von Arbeitslosen um 25 % gekürzt Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege werden? Maaß, bewilligte Maßnahmen der Bundesanstalt sind Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort. grundsätzlich zeitlich begrenzt. Wenn Sie einen Zwei- Jahres-Zeitraum ansprechen, meinen Sie vermutlich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, deren Bewilligung Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- für zwei Jahre früher möglich war, die aber schon seit nister für Arbeit und Sozialordnung: Verehrter Kol- Mitte vorigen Jahres für nur noch ein Jahr bewilligt lege Maaß, im von der Bundesregierung genehmigten werden können. Wenn diese Mittel gebunden sind, Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit standen 1992 können sie natürlich kein zweites Mal ausgegeben für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 9,4 Milliarden werden. Aber im Rahmen frei werdender Mittel, wenn DM zur Verfügung, zuzüglich 3 Milliarden DM aus Maßnahmen auslaufen, können Neubewilligungen dem auslaufenden Gemeinschaftswerk Aufschwung ausgesprochen werden. Ost. Im genehmigten Haushalt 1993 beträgt diese Zahl 9,9 Milliarden DM, wovon nach den Haushalts- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere vorgaben mehr als 3 Milliarden DM für Neubewilli- Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte. vorgesehen sind. gungen Dieter Maaß (Herne) (SPD): Es ist nicht so, daß die Für die Förderung der beruflichen Fortbildung, Mittel für laufende Maßnahmen nicht mehr zur Ver- Umschulung und Einarbeitung stehen im Haushalt fügung stehen? der Bundesanstalt für 1993 rund 14,7 Milliarden DM zur Verfügung. Die einzelnen Dienststellen der Bun- Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Alle laufenden desanstalt können, wie bisher, Bewilligungen aus- und rechtmäßig genehmigten Maßnahmen werden sprechen, wenn die Teilnahme arbeitsmarktpolitisch finanziert. notwendig und sinnvoll ist. Die Zahl der Neueintritte Wir kom- in berufliche Weiterbildungsmaßnahmen —1991 und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: men zur Frage 20 des Abgeordneten Dieter Maaß: 1992 mit jeweils über 1,4 Millionen Teilnehmern — hat jedoch eine Größenordnung erreicht, die im Hin- Wie stellt sich die Bundesregierung eine aktive Arbeitsmarkt- politik in Herne angesichts der gravierenden strukturellen und blick auf die Haushaltslage der Bundesanstalt und des konjunkturellen Probleme, insbesondere der Stahlunterneh- Bundes eine am Maßnahmeziel und an den Erforder- men, des metallverarbeitenden Gewerbes, der Autoindustrie nissen des Arbeitsmarktes orientierte Abgrenzung einschließlich der Zulieferfirmen und des Bergbaus, einer Her- erfordert. ner Arbeitslosenquote von zur Zeit 13,5 % (9 412 Arbeitslose) mit einem hohen Anteil Langzeitarbeitsloser, einem angekündigten Mit einem sogenannten Planungserlaß vom 29. Ja- Arbeitsplatzabbau von mehreren tausend Stellen in Herne und nuar 1993 hat der Präsident der Bundesanstalt ent- in der Region, der sozialen und finanziellen Folgen von Arbeits- sprechende Weisungen erteilt. Dabei hat er die Lan- losigkeit für die Betroffenen und die Stadt Herne vor? desarbeitsämter angewiesen, ihren Planungen die um Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege 25 % reduzierten Ausgaben des Vorjahres zugrunde Maaß, die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung zu legen. kann nicht speziell auf einzelne Städte wie etwa Um zu vermeiden, daß die Haushaltsansätze erneut Herne ausgerichtet sein. Das Arbeitsförderungsge- überschritten werden, wie dies 1992 in beträchtlichem setz enthält jedoch eine breite Palette von arbeits- Umfang geschehen ist, halte ich diese Vorgabe für marktpolitischen Ins trumenten, die die Arbeitsämter berechtigt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß schon unter Berücksichtigung regionaler Verhältnisse flexi- durch die mit dem AFG-Änderungsgesetz vom 18. De- bel einsetzen können. Die Hauptstelle der Bundesan- zember 1992 getroffenen Neuregelungen, nämlich stalt für Arbeit und die Landesarbeitsämter berück- die Streichung der Förderung von Maßnahmen nach sichtigen bei der Zuteilung von Mitteln an die Arbeits- § 41 a AFG, den Ausschluß qualitativ ungenügender ämter auch die regionalen Unterschiede wie etwa Bildungsmaßnahmen, die Beratungspflicht für die Arbeitslosenquote, Anteil an Langzeitarbeitslosen Teilnehmer sowie die Einschränkungen bei der För- und besondere strukturelle Probleme in den einzelnen derung durch Einarbeitungszuschüsse, ein erhebli- Arbeitsamtsbezirken. cher Einspareffekt erzielt werden kann. Die Frage nach den Hilfen insbesondere in struktur- politischen Problemlagen darf jedoch nicht auf die Arbeitsmarktpolitik verengt werden. Hier sind die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Wirtschafts- und die Strukturpolitik der EG, des Bun- frage, bitte schön. des und insbesondere auch der zuständigen Länder 12326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Parl. Staatssekretär Horst Günther gefordert. Die Arbeitsmarktpolitik kann die Maßnah- Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Oster- men dieser Politikbereiche nur flankieren. Das Kurz- tag, ich glaube, daß es sich hier um zusätzliche Mittel arbeitergeld kann Entlassungen bei vorübergehen- handelt, die neu bewilligt werden können. Die Maß- dem Auftragsmangel verhindern, und durch Maßnah- nahmen, die bereits laufen, werden ja aus dem gesam- men der Fortbildung und Umschulung können Quali- ten Haushalt finanziert. Wenn Trägerstrukturen fikationen der Arbeitnehmer an veränderte Arbeits- zusammenbrechen, dann werden in diese Bereiche marktbedingungen angepaßt werden. hinein keine Bewilligungen mehr zu erfolgen haben. Man muß örtlich untersuchen, warum gewisse Maß- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- nahmen gefördert und andere nicht gefördert wer- frage, Herr Abgeordneter Maaß, bitte schön. den. Bitte sehr, (Herne) (SPD): In diesem Zusammen- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dieter Maaß Frau Abgeordnete Steen. hang, Herr Staatssekretär: Hat die Bundesregierung eine ungefähre Vorstellung, wieviel hauptamtliche Antje-Marie Steen (SPD): Herr Staatssekretär, Stellen bei den Trägern dieser Maßnahmen in könnten Sie in diesem Zusammenhang Auskunft Zukunft gestrichen werden müssen? geben, wie die Durchführung der, ich sage einmal: angedrohten Meldepflicht organisiert werden und für Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das ist der diejenigen, die ihr nachkommen sollen, ablaufen Bundesregierung zur Zeit nicht bekannt. Die laufen- soll? den Maßnahmen — das hatte ich schon gesagt — werden bezahlt. Im Rahmen der Haushaltslage — für Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Der Bundesar- 1993 stehen für ABM im gesamten Bundesgebiet beitsminister hat sich zusammen mit der Selbstver- 9,9 Milliarden DM und für Fortbildung und waltung und der Verwaltung der Bundesanstalt für Umschlungsmaßnahmen 14,7 Milliarden DM zur Ver- Arbeit darauf verständigt, daß in den alten Bundes- fügung — kann die Bewirtschaftung weiter erfolgen. ländern 50 % und in den neuen Bundesländern 33 % Ob einzelne Träger dadurch ihre Aufgaben nicht der Leistungsbezieher dieser Meldepflicht unterzo- mehr erfüllen können, kommt auf die regionalen gen werden. Diese Meldepflicht ist übrigens nichts Gesichtspunkte und auf die Bewilligungen an, die in Neues; sie steht bereits im Gesetz. Wir wollen die den einzelnen Arbeitsamtsbezirken ausgesprochen Pflicht, sich alle drei Monate zu melden, für die werden können. genannten Personenkreise auf einen Monat verkür- zen. Dies wird in den Arbeitsämtern zur Zeit nach Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere einem Erlaß des Präsidenten der Bundesanstalt für Zusatzfrage, bitte schön. Arbeit organisiert. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich möch- Dieter Maaß (Herne) (SPD): Herr Staatssekretär, te die Damen und Herren bitten, den Zusammenhang müssen nicht einige Träger, wenn die Mittel jetzt mit der usprünglichen Frage nicht ganz außer acht zu zurückgenommen werden, ihre Maßnahmen ganz lassen. Das hatte nicht unbedingt etwas mit der einstellen, und wird dadurch nicht die Infrastruktur für Situation in Herne zu tun. Nichtsdestotrotz war es von solche Maßnahmen völlig zerstört? allgemeinem Interesse, und deswegen habe ich die Frage zugelassen. Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Wir haben die Ich rufe nunmehr die Frage 21 des Abgeordneten Mittelansätze, Herr Kollege Maaß, bei ABM in 1993 Dr. Hans-Hinrich Knaape auf: noch erhöht, bei Fortbildung und Umschulung aller- dings — das ist richtig — gekürzt. Wenn man beide Ist der Bundesregierung bekannt, daß Altersrenten der Jahr- gänge 1932 Geborene aus den neuen Bundesländern trotz Zahlen zusammen sieht und alles flexibel gestaltet fristgemäßer Einreichung ihrer Unterlagen von den Rentenbe- werden kann, kann es eigentlich keinen Zusammen- rechnungsstellen der Landesversicherungsanstalten ab Januar bruch von Förderstrukturen geben, es sei denn, die 1992 erst einen vorläufigen Bescheid über die Höhe ihrer Rentenzahlungen erhalten haben und nun in der Ungewißheit Bewilligungen gehen in andere Bereiche und die leben müssen, welche Rentenhöhe ihnen endgültig zur Gestal- aufgebauten Strukturen werden nicht mehr bedient. tung des finanziellen Spielraumes zur Verfügung steht, und was Das ist aber eine Sache der regionalen Verhältnisse gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den die Lebensqualität und der regionalen Bewilligung in den einzelnen mindernden und Unmut erzeugenden Zustand der psychischen Befindlichkeit, der als Diskriminierung erlebt wird, abzuhel- Arbeitsamtsbezirken. fen?

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege frage, bitte schön. Knaape, der Bundesregierung sind die Probleme, die sich aus der derzeitigen längeren Bearbeitungszeit Adolf Ostertag (SPD): Herr Staatssekretär, in mei- bei Rentenanträgen aus den neuen Bundesländern nem Arbeitsamtsbereich Hagen standen im vergan- ergeben, bekannt. Die Gründe für die längere Bear- genen Jahr über 17 Millionen DM für Arbeitsbeschaf- beitungsdauer der Rentenanträge in den neuen Bun- fungsmaßnahmen zur Verfügung. In diesem Jahr sind desländern liegen darin, daß der Gesetzgeber — das es 860 000 DM, also ein minimaler Betrag. Sind Sie wurde von allen großen Parteien getragen — eine nicht auch meiner Meinung, daß dadurch die Träger- möglichst gerechte Regelung angestrebt hat. strukturen, die z. B. bei der Caritas, bei der Arbeiter- Die Übertragung der Vergünstigungen des west- wohlfahrt oder auch bei den Städten vorhanden sind, deutschen Rentenrechts, insbesondere durch die Ein- zusammenbrechen müssen? führung vorgezogener Altersgrenzen für bestimmte Deutscher Bundestag —— 12. Wahlperiode 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12327

Parl. Staatssekretär Horst Günther Personengruppen, die günstigeren Voraussetzungen neuen Weg gehen. Vereinfachungen werden zur Zeit für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und diskutiert, und ich gehe davon aus, daß in absehbarer das günstigere Hinterbliebenenrentenrecht schon Zeit die entsprechenden Maßnahmen wirken werden. zum 1. Januar 1992 haben dazu geführt, daß 1992 rund Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann der gesamte 600 000 Rentenanträge in den neuen Bundesländern Rentenantragsstau aufgearbeitet sein wird. Das ist gegenüber normalerweise 240 000 Rentenanträgen nicht möglich. gestellt worden sind. Das bedeutet eine Erhöhung auf Wir kennen ja auch das Instrument der Vorschuß- das Zweieinhalbfache. Eine Erhöhung der Anzahl der zahlungen. Davon sollten alle Gebrauch machen, die Rentenanträge auf das Zweieinhalbfache können noch nicht im Besitz ihres Rentenbescheides sind. auch die westdeutschen Rentenversicherungsträger nicht ohne eine spürbare Verlängerung der Bearbei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine wei- tungszeit der Rentenanträge bewältigen. tere Zusatzfrage. Bei den Rentenversicherungsträgern in den neuen Bundesländern kommt jedoch noch dazu, daß sie Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Staatssekre- erstens in jedem Einzelfall erst einmal ein Versiche- tär, welche Argumentation empfehlen Sie denn rungskonto aufbauen müssen, weil man hier anders gegenüber den aufgebrachten älteren Damen und als im Westen nicht auf einen entsprechenden Herren, die jetzt auf ihre Rente warten und mit dieser Bestand zurückgreifen kann, und daß sie zweitens Ihrer Erklärung vorlieb nehmen müssen? weitgehend nur mit verkürzt ausgebildetem und damit noch nicht umfassend einsatzfähigem Personal Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Die Argumen- arbeiten müssen, weil die Rentenversicherungsträger tation ist die, die ich eben vorgetragen habe. Ich kann in den neuen Bundesländern nach der deutschen Ihnen das gern schriftlich zur Verfügung stellen, damit Einigung in kürzester Zeit aufgebaut werden muß- Sie dann daraus argumentieren können. ten. Andere Argumente gibt es nicht; es ist die Realität, Um die Bearbeitung von Rentenanträgen in den daß mit dem bei den Rentenversicherungsträgern neuen Bundesländern zu beschleunigen, haben die vorhandenen Personal einschließlich des Einsatzes Rentenversicherungsträger im Rahmen des Ver- moderner Techniken eben nicht schneller zu arbeiten bandes Deutscher Rentenversicherungsträger bereits ist. Es geht beim besten Willen nicht. Das ist eine Wege eröffnet, wie die westdeutschen Landesversi- solche Flut von Anträgen, die wir natürlich insoweit cherungsanstalten den Landesversicherungsanstal- selbst verursacht haben, als wir das Rentengesetz ten in den neuen Bundesländern solidarische Hilfe schon ein Jahr früher, als wir es ursprünglich vorge- leisten, insbesondere z. B. einen Großteil der Renten- sehen hatten, in Kraft treten ließen, um den Menschen anträge aus den neuen Bundesländern im Westen die Vergünstigungen schneller zukommen zu lassen. bearbeiten können. Die Bundesversicherungsanstalt Das hat natürlich zur Folge, daß die Bearbeitungszei- für Angestellte und andere bundesweit tätige Renten- ten etwas länger sind, und die Bearbeitung muß auch versicherungsträger haben intern bereits entspre- gründlicher erfolgen, damit nichts verlorengeht. chende Regelungen getroffen. Dadurch werden sich Deshalb verweise ich noch einmal — auch das allerdings auch die Bearbeitungszeiten der Rentenan- können Sie ja den Bürgerinnen und Bürgern bitte träge im Westen verlängern. weitergeben — auf das Instrument der Vorschußzah- Die Bundesregierung unterstützt darüber hinaus lungen. Die Rentenversicherungsträger sind bemüht, nachdrücklich Überlegungen der Rentenversiche- diese Vorschußzahlungen so dicht wie möglich an der rungsträger und der Koalitionsfraktionen, die Renten- voraussichtlichen Rente, soweit das überschaubar ist, berechnungen nach dem Renten-Überleitungsgesetz auszurichten. zu vereinfachen und damit zu beschleunigen. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll so bald wie mög- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Da wei- lich eingebracht werden. Es ist zu hoffen, daß sich auf tere Fragen zur Frage 21 nicht vorliegen, rufe ich die Grund dieser administrativen und legislativen Maß- Frage 22 des Abgeordneten Adolf Ostertag auf: nahmen die Situation bald verbessern wird. In welcher Weise will die Bundesregierung die Arbeitsämter personell ausstatten, damit professionell betriebener Mißbrauch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine Zu- der durch die Bundesanstalt für Arbeit gewährten Leistungen (einschließlich illegale Beschäftigung) verhindert wird, und satzfrage, Dr. Knaape, bitte schön. welche Summe schätzt die Bundesregierung dadurch pro Jahr netto (abzüglich der Personalkosten) einsparen zu können? Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Staatssekre- tär, Sie haben hier ein sehr düsteres Bild gemalt. Sieht Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege die Bundesregierung denn, wann sich dieser Zustand, Ostertag, die Verhinderung von mißbräuchlichem zeitlich gesehen, verändern wird? Leistungsbezug sowie die Aufdeckung und Verfol- gung desselben gehören ebenso wie die Bekämpfung Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege der illegalen Beschäftigung zu den traditionellen Knaape, ich habe eigentlich kein düsteres Bild gemalt, Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit. Die derzeitige sondern ein realistisches, wie es den Tatsachen im personelle Ausstattung der Dienststellen der Bundes- Augenblick entspricht. anstalt für Arbeit trägt dieser Tatsache bereits Rech- Die Rentenversicherungsträger geben sich schon nung. seit langem große Mühe, den Antragsstau zu bewäl- In diesem Zusammenhang sei ein Hinweis auf die in tigen, aber es ist beim besten Willen nicht schneller den letzten zehn Jahren erfolgten Stellenmehrungen hinzubekommen. Deshalb wollen wir ja jetzt einen bei der Bundesanstalt erlaubt. Gegenüber dem Jahre 12328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Parl. Staatssekretär Horst Günther 1982 ist die Zahl der Beschäftigten trotz verbesserten Mißbrauchsbekämpfung im individuellen Bereich EDV-Einsatzes im Gebiet der alten Bundesländer um gelöst werden kann? über 11 000 gestiegen. Derzeit kann die Bundesan- Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In Köln, einer Stadt mit stalt über 70 000 Mitarbeiter bei den Dienststellen im 40 000 Leistungsempfängern, wird die Hälfte dieser bisherigen Bundesgebiet beschäftigen. Hinzu kom- Leistungsempfänger künftig monatlich im Arbeitsamt men über 27 000 Personen in den neuen Bundeslän- erscheinen müssen. Bei 20 Arbeitstagen im Monat dern. sind das täglich 1 000. Sind Sie nicht auch der Mei- Die im Föderalen Konsolidierungsprogramm von nung, daß wir ein großes Zelt vor dem Arbeitsamt in den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. beschlos- Köln aufstellen müssen, um das bewältigen zu kön- sene Kürzung der Lohnersatzleistungen nach dem nen, und daß dadurch dort die notwendige Bewälti- AFG um einen Prozentpunkt für Arbeitslose mit Fami- gung der Aufgaben durch die Beamten nicht mehr lienpflichten, also mit mindestens einem Kind, oder möglich ist? um drei Prozentpunkte für die übrigen Leistungsbe- zieher steht unter dem Vorbehalt, daß diese Lei- Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Nein, dieser stungsabsenkungen nicht durchgeführt werden, Auffassung bin ich nicht, schon gar nicht der, daß ein wenn durch die Intensivierung der Bekämpfung von Zelt aufgestellt werden muß, Kollege Ostertag, zumal Mißbrauch und Leistungsmitnahme ein entsprechen- die Arbeitsverwaltung dies ganz anders organisieren des Einsparvolumen erbracht wird. Die bisherigen wird. Einschätzungen lassen ein Einsparvolumen in Milliar- Wir haben — das habe ich eben schon in Beantwor- denhöhe erwarten. tung einer Frage gesagt — mit der Selbstverwaltung und der Verwaltung der Bundesanstalt mehrere Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Gespräche geführt und sind übereingekommen, und frage, bitte schön. die Arbeitsverwaltung sieht sich dazu auch imstande, mit der jetzt vorhandenen Personalausstattung das, Adolf Ostertag (SPD): Mit Verlaub, Herr Präsident, was gefordert wird, zu bewältigen. aber ich glaube, die Antwort geht an meiner Frage vorbei. Ich fragte nämlich ausdrücklich nach dem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere professionell betriebenen Mißbrauch. Auch dem Fragen, Herr Staatssekretär, liegen nicht vor. Dann Arbeitsministerium und dem Staatssekretär müßte bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen. bekannt sein, daß es gerade in ostdeutschen Berei- Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers chen im Zusammenhang mit AB-Gesellschaften einen für Frauen und Jugend auf. Hier steht uns zur Beant- professionell betriebenen Mißbrauch gibt und zu wortung die Parlamentarische Staatssekretärin Cor- dessen Bekämpfung das Personal nicht zur Verfügung nelia Yzer zur Verfügung. Ich rufe zunächst die steht. Frage 23 des Abgeordneten Rudolf Meinl auf: Aber ich habe trotzdem zwei Zusatzfragen, und die In welchen Bundesländern ist nach den Erkenntnissen der sind auch so allgemein, wie auf meine speziellere Bundesregierung die Bestimmung des Artikels 5 (§ 24 Abs. 2 Frage geantwortet wurde. Wie soll denn die Arbeits- Nr. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch) des sog. Schwangeren- und verwaltung, die in diesem Jahr 1 600 Stellen einspa- Familienhilfegesetzes bereits in die Tat umgesetzt worden, ren soll, mit den gewachsenen Problemen fertigwer- wonach für jedes Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt ein Platz im Kindergarten zur Verfügung steht, den? Wir haben nicht nur mehr Personal bei den und in welchen Bundesländern wird dies bis Ende 1993 der Fall Arbeitsämtern, sondern wir haben vor allem eine sein? Fülle zusätzlicher Zahlen und eine Fülle von zusätzli- Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort. chen Programmen, die ja kontrolliert werden müssen, um einen Mißbrauch zu verhindern. Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- 1 600 Stellen sollen gestrichen werden, und wir desministerin für Frauen und Jugend: Herr Kollege haben gemeinsam im Ausschuß beraten, daß weitere Meinl, gegenwärtig steht — statistisch gesehen — für 180 Stellen, die die Arbeitsämter gerade in diesem jedes Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr bis Bereich haben wollten, nicht bewilligt werden. Das zum Schuleintritt in den neuen Bundesländern ein stimmt mit dem, was Sie eben gesagt haben, nicht Platz im Kindergarten zur Verfügung. Örtliche und überein. regionale Engpässe sind dabei jedoch nicht auszu- schließen, Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Oster- In den alten Bundesländern dagegen ist die Bestim- tag, 1 600 Stellen sollen nicht gestrichen, sondern von mung des Art. 5 des Schwangeren- und Familienhil- den alten in die neuen Bundesländer verlagert wer- fegesetzes noch nicht umgesetzt. Bis zum Ende des den. Es werden also keine Stellen gestrichen. Jahres 1993 ist mit einer Umsetzung im Bundesland Hinzu kommt, daß bereits seit geraumer Zeit von Rheinland-Pfalz zu rechnen, nachdem dort eine dem den freiwerdenden Mitarbeitern des Zolls 450 Perso- Schwangeren- und Familienhilfegesetz entspre- nen der Arbeitsverwaltung zusätzlich zur Bekämp- chende landesgesetzliche Regelung am 1. August fung von Mißbrauch und illegaler Beschäftigung zur 1993 in Kraft treten wird. Verfügung stehen. Bis Ende März werden es weitere 350 sein, so daß in diesem Umfang eine Personalauf- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- stockung vorgesehen ist. frage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Meinl,

Adolf Ostertag (SPD): Sind Sie der Meinung, daß mit Rudolf Meinl (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, dieser Personalaufstockung wirklich das Problem der wird die Bundesregierung mit den zuständigen Mi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12329

Rudolf Meinl nisterien in den Ländern, in denen dies noch fehlt oder meingültiger Maßstab für die notwendige Bedarfs- noch nicht abgesichert ist, Gespräche zur Erfüllung deckung kaum aufstellen. dieses gesetzlichen Anspruches führen? In welchem In der Kostenschätzung, die das Bundesministerium Zeitraum wird das erfolgen? für Frauen und Jugend zusammen mit den kommuna- len Spitzenverbänden im Auftrag des Sonderaus- Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin: Es hat Gesprä- schusses „Schutz des ungeborenen Lebens” erarbei- che mit den Vertretern der kommunalen Spitzenver- tet hat, ist angenommen worden, daß 30 % der Plätze bände gegeben. Diese werden auch fortgeführt. Im im Kindergartenalter als Ganztagsplätze vorzuhalten übrigen ist die Umsetzung eine gesetzliche Verpflich- sind. Neuere statistische Daten über die Zahl der tung der Länder und Kommunen. Ganztagsplätze liegen nicht vor, da die Jugendhilfe- statistik nur die Gesamtzahl aller verfügbaren Plätze Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere ausweist, nicht jedoch nach Ganztagsplätzen und Zusatzfrage? — Dann der Abgeordnete Jäger. Bitte Halbtagsplätzen — Vor- oder Nachmittagsplätzen — sehr, Herr Abgeordneter. unterscheidet. Nach einer nicht veröffentlichten Untersuchung im Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, wie Auftrag des Bundesministeriums für Frauen und erklären Sie es sich, daß — wie Sie ausgeführt Jugend, der eine Befragung von Jugendämtern in den haben — erst ein einziges Bundesland der alten Bun- alten Bundesländern in den Jahren 1989 und 1990 desrepublik in der Lage ist, Vollzugsmeldung zu zugrunde liegt, waren zum damaligen Zeitpunkt 14 % erstatten? Welche Erfahrungen gibt es denn darüber, aller Kindergartenplätze Ganztagsplätze. Angesichts ob in den anderen Bundesländern überhaupt bereits der starken örtlichen Schwankungen differenziert die Initiativen in dieser Richtung ergriffen worden sind? Untersuchung nicht nach Ländern, sondern nach Jugendamtstypen, also nach kreisfreien Städten, Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin: Noch einmal kreisangehörigen Städten und Landkreisen. Folgen- zur Klarstellung: Es ist unter den alten Bundesländern der Anteil der Plätze steht danach als Ganztagsplatz das Land Rheinland-Pfalz, das den Rechtsanspruch in zur Verfügung: in kreisfreien Städten 33,85 % der einer landesgesetzlichen Regelung verankert hat. In Kindergartenplätze, in kreisangehörigen Städten den neuen Bundesländern gibt es ebenfalls einen 11,4 %, in Landkreisen 4,85 %. Dabei ist darauf zu gesetzlichen Rechtsanspruch. verweisen, daß die Kindergartenplätze im Land Berlin fast ausschließlich als Ganztagsplätze ausgestattet Darüber hinaus: Die Umsetzung hat nach dem sind, und daß in Hamburg die überwiegende Zahl als Schwangeren- und Familienhilfegesetz im Jahre 1996 Ganztagsplatz angeboten wird. zu erfolgen. Wir schreiben das Jahr 1993. Die Initiati- ven der Länder sind abzuwarten. Es kann davon ausgegangen werden, daß seit dem Erhebungsstichtag die Zahl der Ganztagsplätze bun- desweit zugenommen hat, daß sich aber die Betreu- Die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: ungsquoten im Hinblick auf die Geburtenentwick- Frage 24 des Abgeordneten Herbert Werner (Ulm) lung und den Zuzug nur unwesentlich verändert wird auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die haben. Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Plätze für Kinder dieser Altersgruppe in den So kann ich jetzt die Frage 25 des Abgeordneten neuen Bundesländern werden dagegen generell als Graf von Schönburg-Glauchau aufrufen: Ganztagsplätze vorgehalten. In welchen Bundesländern ist nach Kenntnis der Bundesregie- rung die Bestimmung des Artikels 5 des sog. Schwangeren- und Familienhilfegesetzes (§ 24 Abs. 2 Nr. 3 Achtes Buch Sozialge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- setzbuch), wonach ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztages- frage, bitte schön, Graf von Schönburg-Glauchau. plätzen vorgehalten werden muß, bereits in die Tat umgesetzt worden, und in welchen Bundesländern wird dies bis Ende 1993 (CDU/ erreicht sein? Joachim Graf von Schönburg-Glauchau CSU): Frau Staatssekretärin, Ihrer sehr langen, gründ- Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort. lichen, guten Antwort war zu entnehmen, daß beson- ders auf dem Land knapp 5 % Ganztagsplätze vorhan- Cornelia Yzer, Parl Staatssekretärin: Herr Kollege den sind. Das ist ein erbärmlicher Zustand. Sehe ich von Schönburg-Glauchau, die Verpflichtung zur Vor- das richtig? haltung von Ganztagsplätzen im § 24 Abs. 2 Nr. 3 des Achten Buches Sozialgesetzbuch bezieht sich ihrem Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretär: Es ist richtig, Sinne nach auf das Kindergartenalter, also auf die 4,85 % sind es in den Landkreisen im Schnitt. Förderung von Kindern im Alter vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt. Joachim Graf von Schönburg-Glauchau (CDU/ Der Begriff „bedarfsgerechtes Angebot" ist aller- CSU): Würden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß dings unterschiedlichen Interpretationen zugänglich. die wichtige Funktion der Ganztagsplätze als flankie- Deshalb wird die Bestimmung in den einzelnen Län- rende Maßnahme zum Schutz ungeborener Kinder dern und kommunalen Gebietskörperschaften auch — weil sie die Mütter ermutigen könnte, ihr Kind unterschiedlich umgesetzt. auszutragen — jedenfalls auf dem Lande doch höchst Ungeachtet der Interpretationsunterschiede haben ungenügend erfüllt ist? darüber hinaus Faktoren wie etwa die Zahl alleiner- ziehender Elternteile im jeweiligen Einzugsbereich Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin: Ich unterstrei- Einfluß auf den Bedarf. Deshalb läßt sich ein allge- che, daß Ganztagsangebote ein wertvolles Hilfsange- 12330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Parl. Staatssekretärin Cornelia Yzer bot für die Mutter in der Entscheidungssituation für Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin das ungeborene Leben sein können. Das gilt für beim Bundesminister für Gesundheit: Frau Kollegin Landkreise wie für Großstädte. Das Angebot reicht Steen, die Bundesregierung beabsichtigt, im Rahmen bislang im allgemeinen nicht aus, aber wir müssen einer 2. Gebührenanpassungsverordnung die Vergü- immer das Stichwort „bedarfsgerecht", das Sie ja tungen für Leistungen der Hebammenhilfe in den selbst hinterfragt haben, hinzuziehen und dann im neuen Bundesländern zum 1. Juni 1993 auf 75 v. H. einzelnen die Situation im Landkreis, in der Groß- der in den alten Bundesländern geltenden Vergü- stadt, in der kreisangehörigen Stadt betrachten, um tungssätze anzuheben. beurteilen zu können, ob eine bedarfsgerechte Aus- stattung erfolgt oder nicht. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- frage, Frau Abgeordnete.

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- Antje - Marie Steen (SPD): Frau Staatssekretärin, ist frage des Abgeordneten Jäger. damit auch eine allgemeine Anhebung der Gebühren für alle Hebammen in der Bundesrepublik verbunden, Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, da die ja seit drei bzw. sieben Jahren keine Erhöhung es sich hier wohl im wesentlichen um einen Bedarf von erfahren haben? alleinerziehenden Müttern handelt, die auf Ganztags- (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) plätze angewiesen sind, möchte ich Sie fragen: Wie

hoch schätzt denn die Bundesregierung den bisher Dr. Sabine Bergmann - Pohl, Parl. Staatssekretärin: noch nicht gedeckten Bedarf — weil ja im Gesetz Frau Kollegin Steen, wir haben die Gebühren der Bedarfsdeckung verlangt wird — vor allem bei dieser Hebammen in den alten Bundesländern gegenüber Personengruppe? denen in anderen medizinischen Fachbereichen schneller angehoben. Es wäre zu überprüfen, inwie- Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin: Wie ich bereits weit die Entlohnung der Hebammen gegenüber der in ausführte, Herr Kollege Jäger, sind wir als Bundesre- anderen medizinischen Fachberufen in den alten gierung davon ausgegangen, daß 30 % der Kindergar- Bundesländern ungerechtfertigt ist. tenplätze als Ganztagsplätze vorgehalten werden sollten. Dabei möchte ich auch noch einmal deutlich Vizepräsident Renate Schmidt: Die zweite Zusatz- frage, Frau Kollegin. hervorheben, daß es keinesfalls nur um alleinerzie- hende Mütter geht, sondern darüber hinaus auch um Antje - Marie Steen (SPD): Frau Staatssekretärin, ich Familien, die auf Grund einer schwierigen Situation glaube, Sie unterliegen einem Irrtum. Es liegt bereits der Unterstützung durch Ganztagsbetreuung bedür- seit dem 1. Juli 1992 ein Antrag vor, diese Gebühren fen. anzuheben. Bis heute ist darüber keine Entscheidung gefallen. Ich sage Ihnen auch, daß es um bestimmte Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- Pauschalen geht. Es geht z. B. um die Geburtshilfe, frage des Abgeordneten Meinl. aber auch um die Geburtsvorbereitung und um die Kilometerpauschalen. Ein entsprechender Antrag der Rudolf Meinl (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, Standesvertretung der Hebammen liegt Ihnen seit wie hoch liegt der Prozentsatz der bereits bestehen- 1992 vor. Diese Pauschalen sind seit drei bzw. sieben den Kindergärten, die Ganztagesplätze anbieten? Jahren nicht angehoben worden.

Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin: Im Durch- Dr. Sabine Bergmann - Pohl, Parl. Staatssekretärin: schnitt 14 %. Ich hatte bereits vorgetragen, daß dabei Frau Kollegin Steen, ich bin gern bereit, mich in nach kreisfreien Städten, Landkreisen und kreisange- meinem Haus darüber sachkundig zu machen. Da Sie hörigen Städten zu differenzieren ist. Ihre Frage aber ausschließlich auf die neuen Bundes- länder abgestellt haben, kann ich diese Frage jetzt nicht beantworten. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Danke schön. Weitere Fragen liegen nicht vor. Frau Staats- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- sekretärin, ich bedanke mich bei Ihnen und rufe nun fragen zu dieser Frage liegen nicht vor. Dann kommen den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wir zur Frage 27 der Frau Kollegin Steen: Gesundheit auf. Hier steht uns zur Beantwortung die Bezug nehmend auf eine Meldung des BGA, daß die Häufig- Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Sabine keit der Vergiftungsfälle im Kleinkindalter mit Lampenöl weiter Bergmann-Pohl zur Verfügung. zunehme, frage ich die Bundesregierung, inwieweit sie eine Rücknahme-Aktion für Lampenölbehälter, die bislang noch Zunächst rufe ich die Frage 26 der Abgeordneten ohne kindersicheren Verschluß im Handel sind, für dringlich Frau Antje-Ma rie Steen auf: erachtet und veranlaßt hat und inwieweit sie darüber hinaus Vor dem Hintergrund, daß — wie mir durch den Bund Sorge trägt, daß auch bei anderen gesundheitsgefährdenden Deutscher Hebammen e. V. (BDH) bekannt wurde — das Ein- Substanzen wie z. B. Putzmitteln, Waschmitteln, Medikamen- kommen bei Hebammen in Ostdeutschland weiterhin bei 60 % ten, Desinfektionsmitteln etc. kindersichere Verschlüsse zur der Gebührenverordnung stagniert und daß das ohnehin in Auflage gemacht sind? Gesundheitsberufen bekannte Phänomen der Berufsflucht dadurch in Ostdeutschland dramatisch zunimmt, frage ich die Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Bundesregierung, in welchem Zeitraum mit einer Angleichung Lampenöle bestimmter Zusammensetzung dürfen der Gebührenverordnung analog der ostdeutschen Ärzte (72 bis nach den Bestimmungen der EG-Richtlinie vom 79 %) zu rechnen ist und mit welchem Nachdruck dieses von der 23. Juli 1991 nur in Bundesregierung verfolgt wird, um einer drohenden Ver- Behältnissen mit kindergesicher- schlechterung bei Mutterschaftsvor- und -nachsorge sowie bei ten Verschlüssen an Verbraucher abgegeben werden. Geburten entgegenzuwirken? Diese Vorschrift wird zur Zeit im Rahmen einer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12331

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl

Verordnung zur Novellierung der Gefahrstoffverord- Antje - Marie Steen (SPD): Frau Staatssekretärin, nung in deutsches Recht umgesetzt; doch werden darf ich Sie dann bitten, mir auf diese Frage eine Lampenöle in Deutschland bereits in Packungen mit schriftliche Antwort zu geben? Ich gestehe ein, daß kindergesicherten Verschlüssen angeboten. Eine das eine Erweiterung meiner Fragestellung war. Aber Rücknahmeaktion für möglicherweise einige wenige ich würde Sie ganz herzlich um eine schriftliche noch nicht derart ausgestattete Lampenölpackungen Auskunft über die Umweltbelastungen und die hält die Bundesregierung daher nicht für dringend Schädlichkeit durch diesen Verbrennungsprozeß bit- erforderlich. Dies gilt insbesondere auch deswegen, ten. weil sich die in der letzten Zeit beobachteten Vergif- tungsfälle zumeist dadurch ereigneten, daß Kleinkin- Dr. Sabine Bergmann - Pohl, Parl. Staatssekretärin: der Lampenöle direkt aus Öllampen tranken. Frau Kollegin Steen, wenn uns Erkenntnisse darüber Um solche Unfälle künftig nach Möglichkeit zu vorliegen, bin ich gerne bereit, Ihnen das zu beant- verhindern, hat das Bundesministerium für Gesund- worten. heit eine Verordnung vorbereitet, mit der Lampenöle, die bestimmte Kohlenwasserstoffe enthalten und die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- gefärbt oder mit Riechstoffen versehen sind, verboten fragen liegen nicht vor. werden sollen. Nicht nur Lampenöle, sondern auch Die Fragen 28 und 29 der Kollegin Lieselott Blunck Putzmittel, Waschmittel und andere Erzeugnisse, die werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 30 für jedermann erhältlich sind und die auf Grund ihrer des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die Antworten Eigenschaften als sehr giftig, giftig oder ätzend zu werden als Anlagen abgedruckt. kennzeichnen sind, werden nach Einschätzung des Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs Bundesministeriums für Gesundheit bereits jetzt fast angelangt. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin. ausnahmslos in Behältnissen mit kindergesicherten Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Verschlüssen angeboten, da das Gemeinschaftsrecht nisteriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- die bei dies vorsieht. Für bestimmte Arzneimittel, cherheit. Alle Fragen, nämlich die Fragen 34 und 35 Kindern durch mißbräuchliche Verwendung Vergif- des Kollegen Klaus Harries und die Fragen 36 und 37 tungen befürchten lassen, z. B. Schmerz-, Schlaf- und des Kollegen Dr. Klaus Kübler, werden schriftlich Beruhigungsmittel, hat das Bundesgesundheitsamt im beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen Wege der Auflage nach § 28 Abs. 2 Nr. 5 des abgedruckt. Arzneimittelgesetzes bereits 1979 kindergesicherte Verschlüsse angeordnet. Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun- desministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung steht Herr Parlamenta- Zusatzfrage, Frau Vizepräsidentin Renate Schmidt: rischer Staatssekretär Joachim Günther zur Verfü- Kollegin Steen. gung. Die Frage 38 des Kollegen Josef Grünbeck und die - Marie Steen (SPD): Frau Staatssekretärin, ich Antje Frage 39 des Kollegen Gerhart Rudolf Baum werden danke Ihnen für die Mitteilung, daß es überwiegend schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als schon kindergesicherte Verschlüsse z. B. für Medika- Anlagen abgedruckt. mente gibt. Das gilt aber nicht für Putzmittel. Es stehen in unseren Putzmittelschränken überall Putzmittel, Wir kommen damit zur Frage 40 des Kollegen Claus die nicht kindergesichert sind, die ganz leicht zugäng- Jäger: lich sind. Werden die Bestimmungen der Artikel 9 bis 11 des sog. Schwangeren- und Familienhilfegesetzes über die Bevorzugung In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen: schwangerer Frauen im sozialen Wohnungsbau bereits in allen Wenn denn schon das Trinken aus diesen sogenann- Bundesländern in der Praxis angewandt, und wenn nein, in ten Lampenölflaschen oder nur das Saugen am Docht welchen Ländern gibt es noch Defizite? dieser Lichter gefährlich und gesundheitsbeeinträch- tigend ist, können Sie dann darüber Auskunft geben, Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- ob es nicht auch Umweltbelastungen bei der Verbren- desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- nung dieser Lampenöle gibt und in welchem Umfang tebau: Herr Kollege Jäger, in den Art. 9 bis 11 des das gesundheitsgefährdend ist? Sehen Sie da nicht genannten Gesetzes sind, jeweils zugeschnitten auf einen Handlungsbedarf, die Herstellung und den die bestehenden unterschiedlichen gesetzlichen oder Vertrieb dieser Lampenöle insgesamt zu verbieten? vertraglichen Bindungen von Sozialwohnungen, be- sondere Vorrangregelungen für die Vermittlung schwangerer Frauen geschaffen worden. Die Vor- Dr. Sabine Bergmann - Pohl, Parl. Staatssekretärin: Frau Kollegin Steen, ich kann jetzt natürlich keinen rangregelungen gelten in den alten Ländern für die direkten Zusammenhang zwischen der Vergiftung öffentlich geförderten und in den neuen Ländern für von Kindern durch das Trinken von Lampenölen und die ehemals volkseigenen Wohnungsbestände. der Umweltbelastung erkennen. Mir ist nicht bekannt, Es handelt sich dabei um gesetzliche Vorschriften, daß eine Umweltbelastung durch das Verbrennen an deren Umsetzung die Länder bzw. deren für den von Lampenölen vorhanden ist. Uns ist auch gar nicht Verwaltungsvollzug zuständige Stellen seit Inkraft- bekannt, wie viele Menschen zu Hause Lampenöle im treten der einschlägigen Bestimmungen unmittelbar Gebrauch haben, gebunden sind. Dessenungeachtet hat die Bundesbauministerin Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- bereits mit Schreiben vom 13. August 1992, also frage, Frau Kollegin Steen. unmittelbar im Anschluß an die Entscheidung des 12332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Parl. Staatssekretär Joachim Günther Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit der Nach den Regelungen des Einigungsvertrages un- genannten Vorschriften, ihre Länderkollegen gebe- terliegen diese Wohnungen grundsätzlich der Miet- ten, sicherzustellen, daß die neuen wohnungsrechtli- preisbindung nach übergeleitetem Preisrecht der chen Regelungen sofort in die Praxis vor Ort umge- ehemaligen DDR. setzt werden und entsprechende Hinweise für den Ausnahmen von dieser Bindung gelten für den Fall, Verwaltungsvollzug gegeben werden. Soweit mir daß es an öffentlicher Förderung fehlt und es sich bekannt ist, haben einige Bundesländer, z. B. Bayern, damit um freifinanzierten Wohnungsbau handelt bzw. Baden-Württemberg, Brandenburg und Schleswig- Mittel des sozialen Wohnungsbaus zur Verfügung Holstein, eigene, den Vollzug fördernde Durchfüh- gestellt wurden. rungsvorschriften erlassen. Über die Gestaltung der Förderung und damit auch Bisher liegen flächendeckende Erfahrungen über die Mietpreisbindung haben allein die Lander ent- Defizite in der Anwendung nicht vor. schieden. Der Bund konnte darauf keinen Einfluß nehmen. Die getroffenen Entscheidungen liegen in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr der Verantwortung des jeweiligen Landes. Kollege Jäger. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Claus Jäger (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wird Kollege. die Bundesregierung bzw. Ihr Haus nach einem gewissen Zeitraum solche Erkenntnisse anfordern, Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Staatssekre- sobald man erwarten kann, daß diese Bestimmungen tär, ist sich der Bund bewußt, welcher soziale Spreng- in den Bundesländern in die Tat umgesetzt worden stoff in dieser Maßnahme liegt, und ist der Bund bereit, sind? den Ländern eine Hilfe, eine finanzielle Unterstüt- zu geben, damit diese Kredite bedient werden Parl. Staatssekretär: Ich gehe mit zung Joachim Günther, können? Sicherheit davon aus, daß es nach einem solchen Zeitraum diese Anforderungen gibt. Bisher ist ein Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Es kommt halbes Jahr verstrichen. Deshalb können Aussagen jetzt wirklich darauf an, welche Kredite Sie meinen; über die Länder noch nicht vollständig vorliegen. das geht aus Ihrer Frage nicht eindeutig hervor. Sie haben in Ihrer Frage von durchschnittlichen Kaltmie- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- frage, Herr Kollege Jäger. ten von 6 DM/qm gesprochen, die angehoben wur- den, um die fälligen Kredite der Investitionsbanken zu Claus Jäger (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind bedienen. Diese Kredite, wenn sie nicht durch die auch die anderen Bundesländer, die Sie vorhin nicht vorhin genannten Mittel finanziert wurden, geben erwähnt haben, wenigstens grundsätzlich bereit, keine Berechtigung, zusätzliche Mieterhöhungen ebenso wie die vier, die Sie eben genannt haben, vorzunehmen. Das zu regeln ist klar eine Sache des entsprechende landeseigene Vorschriften zu erlassen, Landes. Hier muß also praktisch mit dem Land eine oder sagen diese Länder, es bedürfe keiner ergänzen- Regelung getroffen werden. den landesrechtlichen Vorschriften? Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Außer aus frage. Nordrhein-Westfalen liegen von den anderen Län- dern keine Stellungnahmen vor, so daß man davon Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Die Zuständigkeit ausgehen kann, daß sie diese Vorschriften anerken- des Bundes ist in keinem Fall gegeben? nen. Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: In diesem Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Fall nicht; das ist Landeshoheit. fragen liegen nicht vor. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Wir kommen damit zu Frage 41 des Kollegen fragen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende dieses Dr. Hans-Hinrich Knaape: Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Ist der Bundesregierung bekannt, daß in den neuen Bundes- Herr Staatssekretär. ländern ab 1. März 1993 in den öffentlich geförderten Neubau- wohnungen eine durchschnittliche Miete von 6 DM/qm monat-- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- lich bewilligt wurde, um die fälligen Kredite der Investitionsban- nisteriums des Innern. Zur Beantwortung steht Herr ken zu bedienen, hierdurch aber Mieter, die bei den jetzigen Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Mieten von 2,31 DM/qm monatlich schon zu 60 % Wohngeld Verfügung. beziehen, jetzt die Wohnungen räumen müssen, da sie die Mieten durch ihre Einkünfte nicht aufbringen können, und Ich rufe die Frage 46 des Kollegen Horst Kubatschka welche Schritte empfiehlt die Bundesregierung zur Lösung auf: dieses Sozialproblems, da auch Behinderte hiervon betroffen sind? Auf welcher Rechtsgrundlage ist der Bundesgrenzschutz bei der Aschermittwochveranstaltung der CSU in Passau bei der Festnahme von fünf jungen Demonstranten tätig geworden, und Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege sieht die Bundesregierung hier den Grundsatz der Verhältnis- Dr. Knaape, Ihre Frage bezieht sich offenbar auf vor mäßigkeit verletzt? dem 3. Oktober 1990 begonnene Mietwohnungsbau vorhaben, also auf Vorhaben des ehemals komplexen Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Wohnungsbaus, deren Fertigstellung u. a. über durch minister des Innern: Herr Kollege Kubatschka, darf ich vom Bund verbürgte Kredite und Zuschüsse gesichert die Fragen 46 und 47 gemeinsam beantworten? — wurde. Danke schön. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12333

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann rufe ich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere auch die Frage 47 auf: Zusatzfrage des Kollegen Hirsch. Bei welchen der parteipolitischen Aschermittwochveranstal- tungen am 24. Februar 1993 war Bundesgrenzschutz im Ein- Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Staatssekretär, satz? Sie haben sich hier auf formale Antworten beschränkt. Können Sie sich denn dazu hinreißen lassen, einmal Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Zu beiden politisch zu antworten, ob Sie den Vorgang für ange- Fragen lautet die Antwort wie folgt: Beamte des messen halten? Bundesgrenzschutzes waren weder bei der Ascher- mittwochveranstaltung der CSU in Passau noch aus Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Anlaß einer anderen parteipolitischen Aschermitt- Hirsch, auch das ist nicht üblich. Wir kommentieren wochveranstaltung am 24. Februar 1993 eingesetzt. solche Dinge nicht. (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Das ist auch Zusatzfrage, Herr Vizepräsidentin Renate Schmidt: eine Antwort!) Kollege Kubatschka. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Gibt es weitere Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, damit Zusatzfragen? — Dann gibt es zu diesen beiden ist die Pressemeldung in der „Süddeutschen Zeitung" Fragen keine Zusatzfragen mehr. nicht zutreffend, sprich: Die Reporter konnten nicht unterscheiden, ob es sich um den Bundesgrenzschutz Wir kommen zur Frage 48 und zur Frage 49 der oder um bayerische Polizeikräfte handelte? Kollegin Erika Simm: Ist es üblich, daß Bundesgrenzschutz zum Schutz von Partei- (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Die können veranstaltungen herangezogen wird (vgl. Artikel in der Süd- oft nicht unterscheiden!) deutschen Zeitung vom 25. Februar 1993, S. 3, „Abschied von den tollen Tagen")? Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Möglicher- Was ist gegebenenfalls die Rechtsgrundlage für derartige weise, Herr Kollege. Einsätze?

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin frage. Simm, die Antworten lauten: Beamte des Bundes- grenzschutzes waren weder bei der in dem Zeitungs- Horst Kubatschka (SPD): Ist es verboten, Herr artikel in Rede stehenden Aschermittwochveranstal- Staatssekretär, auf einer politischen Veranstaltung tung der CSU in Passau noch aus Anlaß einer anderen — es handelt sich immerhin um eine Aschermittwoch- parteipolitischen Aschermittwochveranstaltung am veranstaltung — sein Mißfallen durch Pfeifen auszu- 24. Februar 1993 eingesetzt. drücken, und ist dies strafrechtlich relevant? Erika Simm (SPD): Ich bedanke mich. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Da bin ich überfragt. Für den Strafrechtsvollzug sind wir ohnehin Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage? — nicht zuständig. Da darf ich Sie an die zuständige Keine. bayerische Staatsanwaltschaft verweisen. Die Fragen 50 und 51 der Kollegen Horst Peter und Im übrigen gibt es viele Formen des Ausdrucks des Norbert Gansel werden schriftlich beantwortet. Die Mißfallens, u. a. auch Pfeifen. Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir kommen dann zur Frage 52 des Kollegen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Dr. Günther Müller: frage, Herr Kollege Kubatschka. Welche politischen Gründe veranlassen die Bundesregierung, zwar die Republikaner, nicht aber die PDS durch den Verfas- Horst Kubatschka (SPD): Wie schätzt dann die sungsschutz überwachen zu lassen? Bundesregierung ein, daß die Demonstranten nach der Veranstaltung im Foyer des Veranstaltungsortes Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege festgenommen wurden? Dr. Müller, die Antwort lautet: Die Sammlung und Auswertung von Informationen — der Ausdruck Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege „Überwachen" ist mißverständlich — richtet sich nach Kubatschka, die Bundesregierung hat keinen Anlaß, den §§ 3 und 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Einschätzungen zu solchen Sachverhalten bekannt- Voraussetzung ist das Vorliegen tatsächlicher An- zugeben; das ist auch nicht üblich. haltspunkte. Die diesbezügliche Prüfung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesbe- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die letzte Zusatz- hörden für Verfassungsschutz ist noch nicht abge- frage, Herr Kollege Kubatschka. schlossen. Auf die Antwort der Bundesregierung in der Fragestunde am 20. Januar 1993 — Sitzungspro- Horst Kubatschka (SPD): Wie würde es die Bundes- tokoll S. 11571 — und auf die schriftliche Antwort vom regierung beurteilen, wenn die Festgenommenen 13. Januar 1993 weise ich in dem Zusammenhang fotografiert werden? Ist das ein erkennungsdienstli- hin. ches Erfassen der Personen, ja oder nein? Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Wir haben auf Kollege. hypothetische Fragen eigentlich nie geantwortet. Deswegen bitte ich Sie, mir das auch jetzt zu erlas- Dr. Günther Mü ller (CDU/CSU): Herr Staatssekre- sen. tär, kann ich Ihre Antwort so verstehen, daß zumindest 12334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Günther Müller zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder die PDS noch Edelgard Bulmahn die Republikaner vom Verfassungsschutz überwacht Dr. Karl-Hans Laermann oder kontrolliert werden? b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Tech- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nein, es nologie und Technikfolgenabschätzung besteht schon ein gewisser Unterschied. Die Republi- (20. Ausschuß) gemäß § 56a der Geschäftsord- kaner werden in der Tat beobachtet. Bei der PDS ist nung des Deutschen Bundestages zur Technik- der Sachverhalt etwas komplizierter. Hier sind wir folgenabschätzung (TA) noch nicht in diesem Stadium. hier: Raumtransportsystem SANGER Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die zweite Zu- — Drucksache 12/4277 — satzfrage, Herr Kollege. Berichterstattung: Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Wie beurteilt die Abgeordnete Christian Lenzer Bundesregierung die Tatsache, daß z. B. bei der Lothar Fischer (Homburg) Neuwahl des Fraktionsvorstands der PDS im Berliner Dr. Karl-Hans Laermann Abgeordnetenhaus ausschließlich ehemalige hohe Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von neu gewählt wurden, und ist das Funktionäre der SED einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — kein Anlaß, danach zu sehen, ob die zur demokrati- Auch das ist offensichtlich der Fall, so daß wir die stehen? schen Grundordnung Aussprache eröffnen können. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Als erster Redner hat der Abgeordnete Voigt (Nort- Müller, ganz konkret reicht es nicht aus, denn es ist ja heim) das Wort. immer auch auf das abzustellen, was tatsächlich von sich gegeben oder vertreten wird. Hier haben wir im übrigen den Sachverhalt, daß es innerhalb der PDS Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim) (CDU/CSU): Herr zwar eine Gruppierung mit dem Namen „Kommuni- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! stische Plattform" gibt, die Anlaß beispielsweise zu Ich würde gerne meinen Beitrag zu Protokoll geben, genauerer Beobachtung gibt, daß aber die PDS insge- aber da ich nur Stichworte habe, ist das etwas schwie- samt noch in einem Umbruch begriffen ist, der es eben rig. Ich verspreche Ihnen aber, daß ich versuche, es so noch nicht möglich macht, eine Überwachung recht- kurz wie möglich zu machen. lich zu begründen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben seit etwa drei Jahren einen Modellversuch Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- über Technikfolgenabschätzung am Deutschen Bun- fragen liegen nicht vor. Auch liegen weitere Fragen zu destag, ein Büro, das in meinen Augen sehr erfolg- dieser Fragestunde nicht vor. Damit sind wir am Ende reich gearbeitet hat. Es geht heute darum, daß wir eine der Fragestunde. Beschlußfassung darüber herbeiführen, daß dieses Ich unterbreche jetzt die Sitzung. Die Sitzung wird Büro in der vorgegebenen Form auch weiter am um 18 Uhr fortgesetzt. Bundestag angesiedelt und mithin institutionalisiert (Unterbrechung von 14.23 Uhr bis wird, 19.00 Uhr) Die CDU/CSU begrüßt es ausdrücklich, daß wir die Möglichkeit haben, diesen Auftrag, der in den ver-

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Meine gangenen Jahren so erfolgreich ausgeführt worden Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene ist, weiterzuführen. Ich glaube, daß die Politik Bera- Sitzung fort. tung auf dem Gebiet der Abschätzung von Folgen und Ich würde gerne zu Beginn der Sitzung das Plenum Technik nötig hat und daß es sinnvoll ist, auch die bitten, zuzustimmen, daß für die nachfolgenden Konstruktion so zu führen, wie wir es durch die Arbeit Tagesordnungspunkte Reden zu Protokoll gegeben in den letzten Jahren erlebt haben. werden können, weil wir durch die Entwicklung doch Wir hatten zu entscheiden, in welcher Form dieses arg in zeitlichen Rückstand geraten sind. — Ich kann Büro die ihm aufgegebenen Aufträge und Themen feststellen, daß das Plenum damit einverstanden ist. bearbeitet. Wir haben den Weg einer engen Koope- ration zwischen dem Büro und dem federführenden Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Ausschuß für Forschung, Technologie und Technik- a) Beratung der Beschlußempfehlung und des folgenabschätzung gewählt und aus den jeweiligen Berichts des Ausschusses für Forschung, Tech- Fraktionen Berichterstatter benannt. Ich denke, daß nologie und Technikfolgenabschätzung wir das in diesem Sinne weiterführen sollten, uns dann (20. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktionen aber zu Beginn der nächsten Wahlperiode Gedanken der CDU/CSU, SPD und F.D.P. darüber machen sollten, ob wir nicht doch einen Beratungskapazität „Technikfolgenabschät- eigenen begleitenden Unterausschuß dafür wählen. Aber das ist ein Thema, über das wir später diskutie- zung" beim Deutschen Bundestag ren. — Drucksachen 12/3499, 12/4193 — Lassen Sie mich zum Schluß drei Bemerkungen zu Berichterstattung: der zukünftigen Arbeit innerhalb dieses Büros bzw. zu Abgeordnete Dr. Hans-Peter Voigt (Nort- der Arbeit zwischen dem federführenden Ausschuß heim) und dem Büro machen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12335

Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim) Die Themenauswahl muß in manchen Punkten darum gerungen, ob und in welcher Weise er dieses anders vorgenommen werden. Wir haben das auch Instrument nutzen will, und insbesondere darum, ob schon besprochen. Wir wollen kürzere Themenauf- er eine eigene Beratungskapazität zur Stärkung sei- träge. Wir möchten eine höhere Aktualisierung, und ner Handlungskompetenz in technologiepolitischen wir wollen verhindern, daß Themen im Büro bearbei- Fragen benötigt. Am Ende der vergangenen Legisla- tet werden, die unmittelbar in die Entscheidung des turperiode bestand unter allen Fraktionen des Deut- Bundestages hineinreichen, so wie wir es z. B. bei der schen Bundestages Einigkeit darüber, daß der Deut- Frage der biologischen Sicherheit der Gentechnik sche Bundestag künftig das Instrument der Technik- hatten. folgenabschätzung nutzen und auch auf eine eigene In diesem Sinne möchte ich meine kurzen Bemer- Beratungskapazität Zugriff haben sollte. Die Frage kungen schließen, indem ich mich bei den Mitarbei- der Form der Institutionalisierung blieb allerdings tern und dem Leiter des Büros, Herrn Professor umstritten. Zu mehr als einem auf drei Jahre befriste- Paschen, sehr herzlich dafür bedanke, daß er uns, die ten Modellversuch vermochte sich die Mehrheit der wir als Abgeordnete Neuland betreten mußten, bera- Koalitionsfraktionen in diesem Hause nicht durchzu- ten hat, daß wir zu einer guten Kooperation gefunden ringen. haben und daß wir auf diese Art und Weise diese sehr Wir stehen jetzt vor der Frage: Wie soll es nach dem wichtige, zukunftsweisende Einrichtung am Deut- Auslaufen des Modellversuchs weitergehen? Wollen schen Bundestag so positiv erfahren konnten. Vielen wir das Instrument der Technikfolgenabschätzung Dank dafür! weiter nutzen? Soll der Bundestag auch künftig auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. eine eigenständige Beratungskapazität zurückgreifen sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke können? Die Antwort ist eindeutig ja. Liste) Wohl nichts unterstreicht den erfolgreichen Verlauf des Modellversuchs eindeutiger und deutlicher als die

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Ich erteile Tatsache, daß sich die im Deutschen Bundestag ver- nunmehr der Abgeordneten Frau Edelgard Bulmahn tretenen Fraktionen in einem gemeinsamen Antrag das Wort. für die Überführung des TAB in eine ständige Einrich- tung des Deutschen Bundestages ausgesprochen haben. Der federführende FTTA-Ausschuß hat inzwi- Edelgard Bulmahn (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- schen einstimmig beschlossen, dem Deutschen Bun- dent! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wissenschaft destag die Annahme dieses Antrages zu empfehlen. und Technik bestimmen in einer immer grundlegen- deren Art und Weise unser Leben. Entscheidungen Die übereinstimmend positive Einschätzung des über Technikentwicklung, über Anwendung oder TAB ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der hervorra- auch Nichtanwendung wissenschaftlich-technischer genden Arbeit, die Professor Dr. Paschen und seine Erkenntnisse und Möglichkeiten sind damit auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den vergangenen immer stärker Wertentscheidungen, Entscheidungen Jahren trotz der nicht immer günstigen Bedingungen über die Qualität von Leben, Arbeiten und Wohnen, geleistet haben. Hierfür möchte ich ihnen ausdrück- Entscheidungen über unseren Umgang mit der Natur, lich danken. Entscheidungen über die Lebenschancen jetziger und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) künftiger Generationen. Unserer parlamentarischen Pflicht zur Kontrolle der Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des TAB haben Regierung, zur Schadensvorsorge, zur sozial- und mit der wissenschaftlichen Qualität ihrer Arbeit über- umweltverträglichen Gestaltung der technologischen zeugt und dem TAB Reputation und Anerkennung Entwicklung und zur Ausgestaltung von Rahmenbe- verschafft. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dingungen, die zur Entfaltung der Chancenpotentiale daß sich die Möglichkeiten des Deutschen Bundesta- moderner Technologien führen, können wir nur dann ges, eigenständige Beiträge zur Gestaltung und gerecht werden, wenn wir auch im Deutschen Bun- Schaffung der Rahmenbedingungen für technologie- destag die wissenschaftlich-technische Entwicklung relevante Entwicklungen zu leisten, in den vergange- sorgfältig und beständig beobachten, eigene Initiati- nen Jahren erheblich verbessert haben. ven entfalten und für die Setzung der entsprechenden Wenn über den Ausschuß für Forschung, Technolo- Rahmenbedingungen Sorge tragen. gie und Technikfolgenabschätzung hinaus in wach- Verantwortungsbewußte Entscheidungen sind aber sendem Umfang auch Mitglieder dieses Hauses das nur dann möglich, wenn man ein gesichertes Funda- TAB genutzt haben, um sich über die neuesten ment von Kenntnissen besitzt. Verantworten kann ich wissenschaftlichen Erkenntnisse und Analysen zu zudem nur etwas, wenn ich die Folgen meiner Ent- technologiepolitisch relevanten Themen zu informie- scheidungen abschätzen kann und über Alternativen ren, wenn zahlreiche Ausschüsse inzwischen Inter- verfüge. Erfolgreiche politische Einflußnahme auf die esse bekunden, ihre Arbeit durch TA-Untersuchun- wissenschaftlich-technische Entwicklung setzt Pro- gen unterstützen zu lassen, so unterstreicht dies, daß gnosen über den Nutzen, die ökonomischen Chancen, dem Bundestag mit dem TAB eine unverzichtbare die ökologischen und sozialen Folgewirkungen vor- Einrichtung zur qualifizierten Beratung bei komple- aus. xen technologiepolitischen Entscheidungsprozessen Mit der Technikfolgenabschätzung verfügen wir zugewachsen ist. über ein hervorragendes Instrument zur Gewinnung Bereits mit dem ersten vorgelegten Endbericht, der und handlungsorientierten Aufbereitung des verfüg- in dieser Debatte gleichfalls zur Diskussion steht, der baren Wissens. 17 Jahre hat der Deutsche Bundestag TA-Studie zum Raumtransportsystem Sänger, landete 12336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Edelgard Bulmahn das TAB, wie „Die Zeit" zu Recht feststellte, „einen Keine Chancen dürften auch Überlegungen besit- Treffer". Der Bericht stellt in überzeugender Weise zen, die Entwicklungskosten von Sänger dadurch zu den Wert derartiger Studien für den politischen Ent- senken, daß mit der Entwicklung der Unterstufe scheidungsprozeß unter Beweis. Er zeigt die Stärken zugleich ein Hyperschallflugzeug entwickelt wird, und Schwächen des Förderkonzepts auf und ermög- wie das ursprünglich geplant war. Wie eine im vor- licht so eine intensive und detaillierte Auseinander- letzten Jahr für das BMFT fertiggestellte Umweltver- setzung mit dem Programm. Der Bericht stellt klar und träglichkeitsstudie zu Sänger unmißverständlich fest- deutlich die Alternativen und Handlungsspielräume stellt, würde ein Hyperschallflugverkehr zu einem bei der Entscheidung über die Fortführung bzw. derartigen Ozonabbau führen, daß der bloße Nichtfortführung des Programms dar. Er nimmt dem Gedanke daran ad acta gelegt werden sollte. Damit Parlament aber nicht die politische Entscheidung ab, besteht kein realisierbares Szenario, das die Entwick- er ermöglicht erst eine qualifizierte Entscheidung. lung eines Hperschallfuggeräts wie Sänger in abseh- barer Zeit wirtschaftlich sinnvoll erscheinen läßt. Das 1988 eingeleitete Förderprogramm „Hyper- schalltechnologie" sollte zur Entwicklung einer Eine Unabhängigkeit von außereuropäischen, neuen Generation von wiederverwendbaren Raum- äquatornahen Startorten läßt sich mit dem Raum- fahrtsystemen beitragen, an die Bundesregierung und transportsystem ebenfalls nicht erreichen, weil entge- Raumfahrtindustrie große Hoffnungen knüpften: Sen- gen den leichtfertigen Versprechungen von BMFT kung der Transportkosten um ca. 80 bis 90 %, deutli- und MBB die Nutzung herkömmlicher Flugplätze auf che Steigerung der Zuverlässigkeit in der Raumfahrt, Grund des Start- und Landelärms wie auch auf Grund Einführung eines flugzeugähnlichen Betriebes unter der mit dem Wasserstoffantrieb zusammenhängenden Nutzung herkömmlicher europäischer Flugplätze, Sicherheitsprobleme durch Sänger grundsätzlich aus- Unabhängigkeit von außereuropäischen, äquatorna- zuschließen ist. hen Startorten, Verbesserung der Umweltverträglich- keit der Raumfahrt, Stärkung der Positionen der Unter umweltpolitischen Gesichtspunkten ist Sän- deutschen Raumfahrtindustrie, Erarbeitung der tech- der zweifellos ein Schritt in die falsche Richtung. Der nologischen Grundlagen für ein Hyperschallflugzeug Energieaufwand für eine Nutzlasteinheit bei Sänger und damit Auslösung eines Technologieschubs in der liegt erheblich über derjenigen von Raketensystemen. klassischen Luftfahrt. Verglichen mit einer möglichen Ariane-X-Familie, bei der die jetzigen umweltschädlichen Feststoffboo- Das waren die formulierten Ziele. Von diesen voll- ster durch einen Wasserstoff/Sauerstoffantrieb ersetzt mundigen Versprechungen, liebe Kolleginnen und werden würden, sieht die Energiebilanz von Sänger Kollegen — dies haben die vom TAB vergebenen nach Berechnungen des Münchener Raumfahrttech- Studien eindringlich deutlich gemacht —, ist wenig nikers Hornik um den Faktor 2 bis 10 schlechter aus. übrig geblieben. Hinzu kommt, daß bei Sänger der zur Verbrennung Eine drastische Senkung der Transportkosten wird notwendige Sauerstoff der Umgebungsluft entnom- sich mit dem Raumtransportsystem Sänger nicht men wird, so daß — anders als bei der Ariane X erreichen lassen. Hierzu tragen vor allem die immens zugleich mit einem erheblichen Stickoxidausstoß zu gewachsenen Entwicklungskosten bei, die inzwi- rechnen ist. schen, nachdem sie 1987 noch auf rd. 27 Milliarden DM veranschlagt wurden, auf 45 bis 80 Milliarden DM Schließlich trägt das Förderkonzept mit seiner ein- geschätzt werden. Sie liegen damit bei dem Fünf- bis seitigen Ausrichtung auf das Leitkonzept Sänger Siebenfachen einer konventionellen Trägerrakete nicht dazu bei, die Position der deutschen Industrie bei vom Typ Ariane 5. der Entwicklung und dem Bau künftiger Trägertech- nologien zu verbessern. Im Gegenteil, es birgt die Wiederverwendbare Raumfahrtsysteme wie Sänger Gefahr in sich, die Entwicklung in eine falsche Rich- amortisieren sich deshalb erst bei Überschreiten einer tung, in eine Sackgasse zu lenken. Das Förderkonzept Mindestzahl von Starts. Den im Auftrag des TAB konzentriert sich vor allem auf die Unterstufe von durchgeführten Berechnungen zufolge sind minde- Sänger und dort insbesondere auf die Antriebstechno- stens 20 Starts pro Jahr erforderlich. Die tatsächliche logie. Nachfrage dürfte allerdings bei nicht mehr als 8 bis 15 Starts pro Jahr liegen. Ein System Sänger wäre also (Dr. Martin Meyer [Siegertsbrunn] [CDU/ nicht, wie angepeilt, um Größenordnungen kosten- CSU]: Sie reden auf Grund der Informationen günstiger, sondern erheblich teurer als herkömmliche von vorgestern!) Transportsysteme. Der Bereich der Werkstoffe und der Integration der Anders würde sich die Situation nur darstellen, Komponenten werden hingegen nur unzureichend wenn wir nach der Jahrtausendwende zielstrebig den oder gar nicht bearbeitet. — Sie sind aber nach wie vor Aufbau einer permanenten Infrastruktur auf dem die Schwerpunkte in dem Förderkonzept. — Dies ist Mond, auf dem Mars und Produktions- und Energie- vor allem deshalb problematisch, weil die Antriebs- umwandlungsanlagen im Weltraum in Angriff neh- technologie sehr konzeptspezifisch ist, während die men würden. Werkstoff- und Bauweisenproblematik für alle wie- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das muß derverwendbaren Raumtransportsysteme ähnlich nicht sein!) ist. Aber ich denke, angesichts der gegenwärtigen Meine Damen und Herren, der Bericht des Büros für Finanzprobleme entbehren derartige Szenarien nun TA hat das Förderkonzept Hyperschalltechnologie wirklich jeglicher Realität. — anders als die Bundesregierung immer wieder Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12337

Edelgard Bulmahn glauben machen will — nicht bestätigt. Er hat diesem über fast 20 Jahre hinziehenden Diskussionen in vielmehr eine schallende Ohrfeige versetzt. diesem Hohen Hause über Technikfolgenabschät- (Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ zung und über Notwendigkeit und Sinn einer unab- CSU]: Jetzt hören Sie aber auf! Das geht hängigen Beratungskapazität für den Deutschen Bun- eindeutig zu weit!) destag. Mit Beschlüssen vom November 1989 und Oktober 1990 hat der Bundestag endlich einen defini- Er unterstreicht, daß die alleinige Ausrichtung auf das tiven Beschluß zum Aufbau einer solchen Beratungs- Leitkonzept Sänger als Raumtransportsystem der kapazität gefaßt und den Bundestagsausschuß für nächsten Generation hochgradig spekulativ war und Forschung, Technologie mit dem Zusatz „und Tech- deutlich über das hinausgeht, was sachlich begründ- nikfolgenabschätzung" versehen und sozusagen mit bar und politisch verantwortbar ist. der Geschäftsführung beauftragt. Meines Erachtens spricht für den Wert von TA-Stu- dien und die Qualität dieser Studie im besonderen, (Josef Vosen [SPD]: Das war vernünftig!) daß am Ende der Empfehlungen nicht ein einfacher Ende August 1990 wurde dann mit dem Aufbau Schlagabtausch zwischen Opposition und Regie- eines Büros für Technikfolgenabschätzung für parla- rungsparteien steht nach dem allzu schlichten Muster: mentsbezogene Beratung des Deutschen Bundesta- Die einen lehnen ab, und die anderen stellen sich ges begonnen. Ich betone hier ausdrücklich, weil es vorbehaltlos hinter die Empfehlung ihrer Regierung. mir sehr darauf ankommt, das herauszustellen: des Vielmehr hat die vorliegende Studie zu einer deutli- Deutschen Bundestages, also für alle Politikbereiche chen Stärkung der technologiepolitischen Kompe- und nicht nur für den Bereich Forschung und Techno- tenz dieses Hauses beigetragen, logie. (Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Aber auf allen Seiten!) Zunächst sollten in einem dreijährigen Modellver- such Struktur und Arbeitsweise, das Zusammenwir- wie Ihnen die vorliegende, einstimmig gefaßte ken zwischen Parlament und den beauftragten wis- Beschlußempfehlung des FTTA-Ausschusses zeigt. senschaftlichen Institutionen erprobt werden. Es soll- Wir machen mit der vorliegenden Beschlußempfeh- ten Erfahrungen gesammelt und ausgewertet werden. lung endlich einmal von unserer Gestaltungskompe- Diese Phase steht jetzt vor dem Abschluß. tenz Gebrauch. Wir fordern die Bundesregierung auf, die spezifischen Technologiearbeiten für das Sänger- Die positiven Erfahrungen im Modellversuch haben Konzept drastisch zu reduzieren und statt dessen zu dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag wichtige, allgemeine Entwicklungsarbeiten zu kriti- geführt, der — wie die Kollegin schon richtig bemerkt schen Schlüsseltechnologien für ein HSF-Transport- hat — interfraktionell eingebracht worden ist — wir system in den Mittelpunkt zu stellen. waren uns da doch alle sehr einig —, nämlich die Erlauben Sie mir abschließend noch eine Berner- Beratungskapazität nunmehr als ständige Einrich- kung an die Adresse der Bundesregierung. Wir erwar- tung weiterzuführen. ten, daß Sie den einstimmig gefaßten Beschluß des In der vorliegenden Beschlußempfehlung und dem FTTA-Ausschusses auch umsetzen und nicht unter Bericht des Ausschusses für Forschung, Technologie neuem Etikett einfach so weitermachen wie bisher. und Technikfolgenabschätzung — „FTTA" geht mir Sie können sicher sein, daß wir die künftige Ausge- so schlecht über die Lippen; das hört sich so an, als ob staltung des Förderprogramms Hyperschalltechno- ich stotterte — wird über den Ablauf des Modellver- logie sehr sorgfältig beobachten werden und gegebe- suchs, über die bisherigen Erfahrungen und Ergeb- nenfalls auch von unserem Recht auf Sperrung oder nisse ausführlich berichtet. Ich kann mir deshalb hier Streichung der Mittel Gebrauch machen werden. weitere Darlegungen ersparen und möchte nur ergän- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte zend zu drei Aspekten Stellung nehmen. Sie im Namen meiner Fraktion um die Zustimmung zu den beiden vorliegenden Beschlußempfehlungen. Vom Büro für Technikfolgenabschätzung wird aus- drücklich und ausschließlich sachliche Objektivität (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gefordert. Es soll eben nicht populistischen Strömun- Liste) gen oder politischen Meinungen folgen, die gerade auf der Tagesordnung stehen. Es wäre gut, wenn sich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Fraktionen- oder Gruppen und Gruppierungen sehr nunmehr dem Abgeordneten Professor Dr. Karl-Heinz zurückhalten würden, die Beratungskapazität sozusa- Laermann das Wort. gen auf ihren jeweiligen Kurs lenken zu wollen. (Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Voigt [Nort Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann F.D.P.): Herr Präsi- heim] [CDU/CSU]) dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- gen! Über den Wolken wird die Freiheit wohl gren- Das TAB wird und soll nicht wohlgefällig einzelne zenlos sein — Frau Kollegin, wir brauchen das Projekt Meinungen aufgreifen. Die Aufgabe des Büros Sänger nicht mehr. Sie haben schon ganz rasant besteht vielmehr darin — ich betone dies nachdrück- abgehoben. lich —, wissenschaftliche Fakten zu sammeln, zu korrelieren, nationale und inte rnationale Trends in (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ technischen Entwicklungen zu verfolgen, auf Folge- CSU) wirkungen hinzuweisen und politische Handlungs- Ich will hier und heute wirklich nicht mehr eingehen notwendigkeiten, Handlungsoptionen und auch auf die schon als historisch zu bezeichnenden, sich Handlungsalternativen aufzuzeigen, wie es gerade 12338 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann exemplarisch in vorzüglicher Weise bei der TA-Studie schall-Technologie-Programms, aufbauend auf dem Sänger der Fall gewesen ist. Leitkonzept Sanger, das nun ein zweistufiges, hori- Ich möchte auch darauf hinweisen, daß Technikfol- zontal startendes, wiederverwertbares — also rück- genabschätzung und -bewertung eine politische kehrbares — Raumfahrzeug vorgesehen hat.

Querschnittsaufgabe ist. Sie soll Folgewirkungen Zunächst einmal zur Hyperschall - Technologie. technischer Entwicklung und neuer Technologien Unstrittig ist insgesamt, daß die Raumfahrt auch in und daraus abzuleitende Handlungserfordernisse in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Wann, wo und allen Politikfeldern aufzeigen. Die Beratungskapazi- wie neue Bereiche der Raumfahrt wirtschaftlich wer- tät steht deshalb allen Bundestagsausschüssen zur den, das ist sehr schwer abzuschätzen; insofern sind Verfügung. Nicht der Forschungsausschuß allein Ihre Berechnungen, Frau Bulmahn, meiner Meinung bestimmt Aufgaben und Themen für die Arbeit des nach sehr weit im Bereich der Spekulation. TAB; dieser Ausschuß nimmt sozusagen die Fachauf- sicht und Koordinierungsaufgaben wahr. Unter (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das sind nicht Berücksichtigung der vorhandenen Kapazitäten des meine Berechnungen! Das sind die Berech TAB — so die einhellige Meinung der Berichterstatter; nungen des TAB, Herr Mayer! Die sind nicht ich hoffe, ich sage hier nichts Falsches — stellt der spekulativ!) Forschungsausschuß seine Wünsche zurück, wenn Eines ist für mich jedoch sicher: Eine entscheidende aus anderen Ausschüssen wichtige Fragestellungen Rolle für die künftige Entwicklung der Raumfahrt eingebracht werden. insgesamt spielen die Raumtransportsysteme. Da gibt Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den es eine Wechselwirkung: Je besser und preiswerter nahezu drei Jahren des Modellversuchs haben alle die Transportsysteme werden, um so eher wird der Beteiligten einen Lernprozeß durchgemacht: die Mit- Bedarf steigen, um so eher wird es zusätzliche Anwen- arbeiter des TAB, das begleitende Sekretariat, die dungen geben. Berichterstatter und die Kollegen aus dem Ausschuß. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Wer soll das Natürlich, wer wollte das leugnen, gab es dabei bezahlen?) manchmal auch Reibungen, Irritationen, gelegentlich auch Verstimmungen. Soweit ich der Verursacher — Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß es war, auch einen wirtschaftlichen Bedarf gibt. (Josef Vosen [SPD]: Das war oft der Fall!) Andererseits: Je mehr die Leistungen der Raum- bitte ich dafür um Verständnis, wie ich auch für andere fahrt nachgefragt werden, um so eher macht sich das Verursacher Verständnis habe. Geld bezahlt, das wir in bessere und leistungsfähigere Transportsysteme stecken. Das ist ein allgemeiner (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber wir Grundsatz, und ich meine, den sollten wir hier auch haben es noch immer hingekriegt, Herr Laer- immer beachten, mann!) Inzwischen haben wir aber zu einer konstruktiven, Die Raumtransportsysteme sind in der Tat verbes- fruchtbaren Zusammenarbeit gefunden, im Dienste serungsbedürftig und verbesserungsfähig: Sie müs- der Aufgabe, die wir uns gestellt haben und der wir sen mehr Rücksicht auf die Umwelt nehmen — das uns stellen. wird um so bedeutender, je mehr es sind —, sie müssen wiederverwendbar werden, die Sicherheit verbessern (Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ und auch die Kosten senken. CSU]: Jeder ist lernfähig!) Dafür möchte ich ausnahmslos allen an den TA- Als führende Industrienation muß Deutschland auf Prozessen bisher Beteiligten ganz herzlich danken. diesem strategisch wichtigen Feld dabeisein, genauso wie ich der Meinung bin, daß Deutschland bei der Im übrigen verweise ich — in anmaßender Selbst- Kernfusionsforschung dabeisein muß, auch wenn wir einschätzung — auf meine vielfältigen, richtungwei- nicht wissen, ob und wann sie nutzbar sein wird und senden früheren Ausführungen zu dem Thema Tech- wie sie im Ergebnis aussehen wird. nikfolgenabschätzung. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sie wissen (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause — auch nicht, wie Sie das bezahlen sollen!) Lothar Fischer [Homburg] [SPD]: Tempora mutantur et nos mutamur in illis!) - Es geht hier auch nicht darum, mit der Hyperschall Technologie das Rad neu zu erfinden, sondern es geht darum, daß Deutschland die Fähigkeit nachweist, in Nunmehr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: diesem wichtigen Bereich einen mitbestimmenden erteile ich dem Abgeordneten Martin Mayer das Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit zu lei- Wort. sten, und daß Deutschland mit dabei ist. (Josef Vosen [SPD]: Genau!) Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt heute Auf die beabsichtigte internationale Zusammenar- insofern einen Zusammenhang zwischen Tagesord- beit im Bereich der Hyperschall-Technologie zielt nungspunkt 5 a und 5 b, als der Bundestag zum ersten- Punkt I der Beschlußvorlage ab. Dieser Punkt besagt, mal einen Beschluß auf Grund einer Empfehlung des daß das Technologieprogramm verbreitert wird. Er Büros für Technikfolgenabschätzung faßt. Es geht legt sich nicht mehr auf den Sänger fest, sondern es heute um die Weiterführung dieses Büros als ständige soll eine Öffnung für das, was in späteren Jahren und Einrichtung und um die Weiterführung des Hyper- — wahrscheinlich — Jahrzehnten an Konzeptionen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12339

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) für neue Raumfahrtzeuge entwickelt wird, erreicht Abbau der Arbeitslosigkeit als vorrangige Aufgabe werden. für das Parlament und die Regierung an. Ich möchte hier aber doch sagen, daß die deutschen Viele Menschen in den neuen Bundesländern sind Arbeiten auf diesem Gebiet bereits europaweit Aner- und werden psychisch und auch physisch krank, weil kennung finden und daß es deshalb wichtig ist, daß sie die Probleme des Nicht-mehr-gebraucht-Werdens wir dieses Programm trotz finanzieller Schwierigkei- nicht verarbeiten können. In den alten Bundesländern ten in dem vorgesehenen Umfang in den nächsten ist die gleiche Angst vor Arbeitslosigkeit ständig und drei Jahren durchführen; ich halte das für ganz unterschwellig da. Freude am Leben wird selten. wichtig. Bedrückende Gedanken prägen vielerorts die Fami- Ich möchte noch ein paar Sätze zum TAB — zum lienatmosphäre. Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen In dieser Situation ist politisches Handeln angesagt Bundestag — sagen, weil diese Studie die Grundlage und vonnöten. Die Forderung „Arbeit statt Arbeitslo- für die Entscheidung war. Es ist die Aufgabe des Büros sigkeit" ist legitim. Wir sind herausgefordert, politisch — wie bei der Sänger-Studie —, schwierige wissen- realisierbare Lösungsvorschläge zu unterbreiten. schaftliche und technische Fachinformationen zusam- menzutragen und aufzubereiten. Das ist wichtig für Da ich viele Jahre in den Stahlwerken Hennigsdorf uns Parlamentarier für eine optimale Vorbereitung und Brandenburg gearbeitet habe, kenne ich die von Entscheidungen. Schwere der Arbeit mit Hitze, Lärm und Staub und weiß um die Gefahren und Belastungssituationen, mit Da sich TAB-Studien überwiegend oder fast aus- denen die Stahlwerker fertigwerden müssen. Wenn schließlich mit neuen Techniken befassen, darf sich sie sich entschließen, auf die Straße zu gehen, dann das TAB nicht nur auf die Auswertung von Literatur stehen nicht nur mir, sondern vielen Tausenden Stahl- beschränken, sondern es muß mit denen intensiv werkerfrauen und -familien sowie anderen Menschen Kontakt, Erfahrungs- und Informationsaustausch pfle- überstandene Gefahrensituationen vor Augen. Im gen, die an diesen technischen Vorhaben arbeiten. Ich Technikfolgenausschuß haben wir eine Vorstellung halte das für ganz wichtig, denn nur so kommen wir zu davon. Sie sind unser Hinterkopfwissen für das poli- den aktuellen Informationen, die für uns unverzicht- tisch notwendige Handeln. bar sind. Etwas ganz Wichtiges möchte ich hier noch zum Stahlwerker reden konkret miteinander. Für Allge- Abschluß sagen: Das TAB sollte keine Wertungen in meinplätze haben sie wenig übrig. Auch deshalb seine Studien einarbeiten. Die Wertung und die dann gehen sie auf die Straße. Sie fordern Lösungen der folgende Entscheidung sind ureigene Aufgaben von sozialen Probleme auch von uns. uns Politikern — dafür sind wir gewählt worden, und Im Hennigsdorfer Stahlwerk haben wir in den 60er dafür müssen wir uns verantworten. Jahren davon geträumt, daß wir irgendwann einmal Das TAB soll sich auf Sammlung und Aufbereitung einen Sechs-Stunden-Tag für Mütter und nach Mög- von Informationen beschränken. Es soll Entschei- lichkeit auch für Väter einführen könnten. Daraus ist dungshilfen liefern, indem es beispielsweise Optionen nichts geworden. Aber ich habe mich jetzt noch aufzeigt, wie es das bei der Sänger-Studie getan hat. einmal hingesetzt und einen Schichtplanvorschlag für Ich meine, das ist hier gut geschehen. Deshalb möchte den durchgehenden Schichtbetrieb erarbeitet. Ich ich auch von dieser Stelle aus dem Büro meine kann ihn zeigen; er sieht so aus. Der funktioniert und Anerkennung und meinen Dank aussprechen. ist durchführbar. Sie bitte ich, den beiden Beschlußempfehlungen Bei einem Sechs-Stunden-Tag und einer Arbeitszeit zuzustimmen. von durchschnittlich 28 Stunden pro Woche können (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sechs Arbeitskräfte auf einem Arbeitsplatz beschäftigt sowie bei Abgeordneten der SPD) werden. Statt Abbau von Arbeitskräften ist eine Wei- terbeschäftigung möglich. Die Männer kommen bei diesem Zeitrhythmus nicht mehr erschöpft nach Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Hause, sie können im Familienleben einen Platz nunmehr der Abgeordneten Frau Ingeborg Philipp einnehmen und dort ebenso nützlich sein wie im das Wort. Betrieb. Das würde gesellschaftlichen Fortschritt bewirken und gute Gefühle bei den Stahlwerkern und ihren Frauen aktivieren, bei vielen anderen Men- Ingeborg Philipp (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! schen gleichfalls. Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich Arbeitslosigkeit ist auch Technikfolge. Zu aus- sagen, daß ich mich darüber freue, daß eine Bera- schließlich ist allein Wissenschaft und Technik tungskapazität zur Technikfolgenabschätzung als bedacht worden. Zu sehr sind die Menschen als ständige Einrichtung zur Qualifizierung unserer Rädchen im großen Getriebe der Technik angesehen Arbeit zur Verfügung stehen wird, die klar auf die worden. Sie sind aber mehr. Jeder hat besondere Nützlichkeit ihrer Arbeit orientiert wird. Das wird uns Fähigkeiten und eine ihm eigene Würde. Es ist Zeit, helfen, die anstehenden Probleme besser lösen zu daß Wirtschaftler, Wissenschaftler, Ingenieure und können. Dazu gehören auch die Probleme der Men- auch wir Politiker auf die Bedürfnisse der Menschen schen, die in der Technik arbeiten. Damit komme ich Antwort geben, die uns gewählt haben. Es ist unsere ganz hart auf unsere Erde zurück. Aufgabe, ein Finanzierungsmodell gemeinsam mit In der gegenwärtigen Situation ist die Stahlkrise Gewerkschaften und Indus trie zu erarbeiten, damit auch unser Problem. Ich sehe den schrittweisen eine rasche Lösung dieses Problems zustande kommt. 12340 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Ingeborg Philipp Die Steuerzahler müssen das Gefühl bekommen, daß Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deut- von der Regierung nicht nur Zahlungen eingefordert, schen Bundestages soll in dieser laufenden Studie, sondern auch soziale Probleme gelöst werden. Hier ausgehend von einer Analyse des Innovationspotenti- muß die Regierung handeln. als neuer Werkstoffe, forschungs- und technologiepo- Das TAB sollte vordringlich ein Untersuchungs- litische Konzeptionen in den führenden Industriena- programm zur Einführung der Sechs-Stunden-Woche tionen vergleichen. Im Rahmen eines integrierten erarbeiten und in einem Workshop vorstellen. Es Ansatzes werden technologische, ökonomische, so- könnte die Arbeit an einem politisch interessanten ziale und ökologische Aspekte betrachtet. Hierzu Thema anfangen, das einen großen Einfluß auf das gehören auch Fragen der Sicherheit und Gesundheit Denken der Bevölkerung hat. oder Aspekte wie Rezyklierung, Verwertung und Entsorgung. Ich danke Ihnen. Neben den angesprochenen Gesichtspunkten be- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) rücksichtigt die Studie auch die sozialen Aspekte neuer Produktionsverfahren und Produkte, die eine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort direkte Folge der Entwicklung neuer Werkstoffe dar- hat nunmehr die Abgeordnete Frau Trudi Schmidt stellen. Die Auswirkungen neuer Technologien auf (Spiesen). die Arbeitswelt sind nicht zu unterschätzen, denn sie wirken sich auch auf andere Bereiche der gesell- schaftlichen Struktur aus. Einige klassische Beispiele Trudi Schmidt (Spiesen) (CDU/CSU): Herr Präsi- wie die Etablierung der Eisenbahn zur Zeit der dent! Meine Damen und Herren! Zu den Aufgaben industriellen Revolution oder die Erfindung des Fließ- des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deut- bandes im Bereich der industriellen Produktion haben schen Bundestages gehört die Beobachtung aktueller die Gesellschaft und die Arbeitswelt in ihrer Struktur und zukunftsweisender Tendenzen in Wissenschaft verändert. und Technik. Die Entwicklung der Mikroelektronik hat ebenso Die durch eine im November 1990 durchgeführte wie die Kommunikationstechnik zu einer immensen Meinungsumfrage ermittelte Akzeptanz der deut- Verbreitung und Akzeptanz von technischen Geräten schen Bevölkerung für den technisch-wissenschaftli- in den Haushalten geführt. Hier stellt sich nun die chen Fortschritt stellt uns die Aufgabe, die aus neuen Frage nach der Geschwindigkeit von technischem Technologien erwachsenden Risiken zu erkennen Fortschritt und gesellschaftlichen Veränderungen. und gegenseitig abzuwägen. Auch hierbei kommt der Technikfolgenabschätzung eine wichtige Funktion Gerade in unserer komplizierten und vernetzten zu. Gesellschaft sind z. B. Produktionsprozesse nicht Als Beispiel möchte ich auf die TAB-Studie „Neue mehr für jedermann durchschaubar. Trotzdem wer- Werkstoffe" eingehen. Be trachtet man die klassischen den technische Produkte in der Gesellschaft konsu- Werkstoffe wie z. B. Stahl, so ist offensichtlich, daß miert und akzeptiert, die Herstellung dieser Produkte diese immer an das gewünschte Eigenschaftsprofil — weil nicht nachvollziehbar — jedoch oft negativ angepaßt wurden. Neue Werkstoffe, zu denen Hoch- bewertet. Diese Aspekte abzuschätzen und zu erfas- temperaturkeramiken und Verbundwerkstoffe zäh- sen, sehe ich als eine wichtige Aufgabe des Büros für len, eröffnen dagegen völlig neue Anwendungsge- Technikfolgenabschätzung. biete. Welche Auswirkungen auf die Arbeitswelt könnten Technologische Fortschritte in sehr vielen Berei- nun die neuen Werkstoffe haben? Neue Werkstoffe chen, wie z. B. in der Luft- und Raumfahrt, der Mikro- beinhalten einen hohen Anteil an geistiger Arbeit. und Optoelektronik oder in der Umwelt- und Energie- Materialien und Produkte werden vornehmlich in technik, machen den Einsatz solcher Werkstoffe not- wissenschaftbasierten Indust rien produziert. Immer wendig, ja sie ermöglichen ihn erst. Steigende Anfor- speziellere Anforderungsprofile erfordern für Materi- derungen an Produkte und Produktionsverfahren las- alverarbeiter z. B. die Umstellung von Massen- in sen sich nicht mehr durch klassische Materialien Kleinserienproduktionen. Durch die geringere Ferti- erreichen, sie erfordern maßgeschneiderte Werk- gungstiefe dieser Werkstoffe wird es zu einer Verla- stoffe. Damit folgt dem Einsatz neuer Werkstoffe ein gerung der klassischen Facharbeitertätigkeiten hin zu Strukturwandel, der die gesamte Bandbreite der Pro- Wartungs-, Überwachungs- und Steuerungsfunktio- duktion und Dienstleistungen erfaßt. nen kommen. Die Bundesrepublik muß diesen Wandel mitgestal- Der Wandel der Arbeitsanforderungen hat natürlich ten und regionalpolitisch umsetzen. Neue Material- auch eine Veränderung der Aus- und Weiterbildungs- technologien sind auf Grund ihrer Wirkungspoten- konzepte zur Folge. Die Veränderung klassischer tiale von gleicher Relevanz wie die Informations- und Berufsprofile gilt nicht nur für Facharbeiter, sondern Kommunikationstechnologien oder die Biotechnolo- auch für Ingenieure und erfaßt somit einen großen gien, erscheinen in der Öffentlichkeit jedoch weniger sozialen Bereich. spektakulär und werden in ihrer Tragweite unter- Erste Auswirkungen zeigen sich bereits in der schätzt. Ingenieurausbildung. Die Kammer der Technik, ein Dabei ist klar, daß neue Werkstoffe eine der Schlüs- ingenieurtechnischer Berufsverband, der hauptsäch- seltechnologien der 90er Jahre sind, die ein sehr lich in den neuen Ländern tätig ist, hat eine Kommis- großes Marktpotential besitzen. Die Entwicklung und sion „Technikfolgenabschätzung" als Beratungsor- Produktion neuer Materialien trägt entscheidend zur gan eingesetzt. Ziel ist es, die Technikfolgenabschät- Qualität eines Wirtschaftsst andortes bei. zung in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12341

Trudi Schmidt (Spiesen) sowie Empfehlungen zur Ingenieurausbildung zu sage das, damit bei den Zuhörern keine Verwirrung erarbeiten. entsteht —, daß die Arbeit des TAB zu würdigen ist Die Konsequenzen dieser Änderungen auf die und daß wir der Bundesregierung — sprich: dem Beschäftigung ist allerdings umstritten. Neben einer BMFT — Vorgaben machen konnten, wie die Ent- Sogwirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung wer- scheidung in drei Jahren aussehen soll. Deshalb den auch arbeitssparende Rationalisierungseffekte möchte ich wiederholen, was meine Vorredner gesagt erwartet. haben: Ich spreche dem Büro für Technikfolgenab- schätzung für seine hervorragende Arbeit meine Ein anderer Aspekt der neuen Werkstoffe ist der Hochachtung aus. Arbeitsschutz. Vorschriften, Normen und Bedie- nungsanweisungen für gefährliche Stoffe, Maschinen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der und Anlagen müssen angeglichen oder verändert F.D.P.) werden. Diese Umstellung in der Arbeitswelt wie im Es war nicht immer so, daß m an im Vorfeld davon Bereich der Arbeitsmedizin fordert die Berufsgenos- ausgehen konnte, daß es auch so kommen könnte. Das senschaft und den Gesetzgeber. TAB weist ausdrück- TAB hat damit unsere Erwartungen mehr als erfüllt. lich darauf hin, daß diese Problematik unter Einbezie- hung aller Beteiligten vertiefend erörtert werden Der Bericht bietet uns eine gute Entscheidungs- sollte. grundlage, indem er die möglichen Optionen aufzeigt Die ökologische Bewertung neuer Materialien darf und ihre jeweiligen Folgewirkungen skizziert. Er in der heutigen Zeit nicht vernachlässigt werden. Hier enthält zugleich Ansätze, von denen ich mir wünschen ist es wichtig, den gesamten Stoffkreislauf der Werk- würde, daß der BMFT den einen oder anderen — viel- stoffe und ihrer Produkte zu betrachten, besonders leicht auch etwas modifiziert — aufgreift. unter dem Gesichtspunkt des Rezyklierens und der Hierzu nur ein Beispiel. Das Hyperschalltechnolo- Abfallbehandlung. Es ergeben sich unter Umständen gie-Programm wurde zu einer Zeit initiiert, in der noch ganz neue Probleme, z. B. verursacht durch die hohe gar nicht feststand, wohin sich die deutsche Welt- thermische Stabilität, die eine Verbrennung nicht raumpolitik bewegen wird. Ich halte die Anregung zuläßt oder durch die Entstehung von giftigen Gasen des TAB, eine politische Grundsatzentscheidung zur sehr problematisch macht. Der Weg sollte und muß Rolle Deutschlands bei der Weltraumnutzung herbei- auch hier zu emissionsärmeren, ressourcenschonen- zuführen, für unumgänglich. Bereits anläßlich der in den, energiesparenden und wiederverwertbaren Ma- diesem Jahr zu erwartenden Debatte über das fünfte terialien gehen — mit allen Konsequenzen für beste- deutsche Weltraumprogramm — ich hoffe, daß diese hende Primär- und Sekundärstoffkreisläufe. Debatte überhaupt stattfinden wird — besteht eine Diese Ausführungen zeigen, wie komplex sich die solche Möglichkeit. Nutzen Sie die Chance! Herr Wirkungszusammenhänge darstellen und welche Staatssekretär Neumann, Sie sind ja schon länger in Bereiche unserer Gesellschaft betroffen sind. diesem Geschäft als der neue Minister. Nutzen Sie Zum Schluß noch ein kurzer Hinweis auf eine bitte gemeinsam mit uns die Chance, diese Fragen im Vorabstudie zum Thema Verkehr, die das TAB im Ausschuß oder auch hier zu diskutieren. Auftrag der Regierungskoalition erstellt. Diese Studie Die bisherige einseitige Ausrichtung der deutschen umfaßt im wesentlichen die folgenden Punkte: Einlei- Weltraumpolitik führte doch zu einer Akzeptanzkrise tung eines TA-Prozesses über Verkehrsvermeidung für die deutsche Raumfahrtpolitik. und -verlagerung in allen Bereichen des Verkehrswe- sens unter Berücksichtigung schon existierender Aus- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das kann arbeitungen. Hier soll aufgezeigt werden, wo zusätz- man wohl sagen!) liche Analysen nötig sind und wo nicht. Eine große Diese Politik spaltete die Deutsche Forschungsge- Bedeutung kommt der Beantwortung der Fragen, meinschaft und verunsicherte bewährte Forschungs- warum bestehende Konzepte keinen Einfluß auf poli- institutionen. Ich brauche sie gar nicht im einzelnen deln nehmen, sowie der Erstellung eines tisches Han aufzuführen. Ich nenne beispielsweise nur die Deut- Verkehrskonzepts unter Berücksichtigung von ökolo- sche Physikalische Gesellschaft, das Fraunhofer-Insti- gischen Gesichtspunkten zu. Das TA-Büro ist somit tut. Wir wissen doch, was da alles gelaufen ist. ausgelastet. Vielen Dank. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die waren sich sicher in ihrer Kritik! — Dr. Martin (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: An die SPD) Deutsche Physikalische Gesellschaft gesagt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- werfen!) teile ich dem Abgeordneten Lothar Fischer das — Ja, die Diskussion kennen wir doch. Wir alle wissen Wort. doch: Jeder kämpft für seinen eigenen Bereich, aber wir haben auch Schwerpunkte und Prioritäten zu Lothar Fischer (Homburg) (SPD): Herr Präsident! setzen. Das ist unsere Aufgabe. Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst einmal (Zuruf von der SPD: So ist es!) möchte ich feststellen: Wir alle, die Mitglieder des Ausschusses für Forschung, Technologie und Tech- Herr Staatssekretär, dies müßte für Sie doch Anlaß nikfolgenabschätzung, freuen uns, daß in dieser wich- genug sein, die bisherige Position Ihres Hauses zu tigen Frage ein Konsens dahin gehend besteht — ich überdenken. Ich würde es für einen Verdienst halten, 12342 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Lothar Fischer (Homburg) wenn der neue Forschungsminister mit Ihrer Unter- gestellt. Dies wäre billiger gewesen und hätte den stützung eine breite gesellschaftliche Debatte über Forschern auch einen schnelleren Zugriff ermög- die zukünftige Ausrichtung der deutschen Raumfahrt licht. initiieren würde. Wenn wundert es noch, daß die Politik der Bundes- (Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) regierung —jetzt komme ich auf das Thema zurück — In Zeiten knapper Haushalte ist das unbedingt erfor- in Sachen Sänger derlich, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ anderen ESA-Staaten; denn dort hat man die gleichen CSU]: Das ist das Thema!) Probleme. — ja, das andere war die Forschungspolitik — nahezu (Zuruf des Abg. Georg Gallus [F.D.P.]) spiegelbildlich verlief? Ohne Rücksicht auf Kosten- — Herr Gallus, rufen Sie doch einmal in Frankreich, in Nutzen-Analysen wurde dieses Leitmodell — mit Spanien, in Italien, in Großbritannien oder in den USA „t"! — ins Leben gerufen. Voller Optimismus wurde bei Clinton an! Er hat jetzt schon wieder das Freedom- eine deutsche Systemführerschaft angestrebt, obwohl Programm abgespeckt, und er nennt das „rede- jedem klar sein mußte, daß dieses Projekt allenfalls sign". global zu finanzieren ist und auch nur global einen Sinn macht. Es wurden Auslegungskriterien festge- (Egon Susset [CDU/CSU]: Was hat er für eine setzt, die nicht mehr zeitgemäß sind. Telefonnummer?) Sänger sollte einen Beitrag zur europäischen Auto- — Da müssen Sie Herrn Gallus fragen, der als ehemals nomie leisten, d. h. Starts und Landungen von West- zuständiger Staatssekretär in vielen Bereichen europa aus ermöglichen. Es war ja auch die Rede bekannt ist; dann wird er auch in den USA bekannt davon, daß Sänger von jedem größeren Flughafen sein. Er soll Präsident Clinton einmal anrufen. starten könnte. Es hat sich gezeigt, daß dieses Krite- Was wir brauchen, sind verläßlichere Rahmenda- rium nicht mehr zeitgemäß ist. Es widersp richt den ten. Im übrigen braucht auch die Raumfahrtindustrie Kooperationsbemühungen und erhöht die technologi- verläßlichere Rahmendaten — das gilt also nicht nur schen Anforderungen. für uns als Politiker, sondern auch für die Raumfahrt- Die SPD unterstützt den Antrag, weil es unserer industrie —, und sie verlangt sie auch. Viel zu lange Auffassung nach Sinn macht, rechtzeitig Know-how ließ sich die Raumfahrtpolitik der Bundesregierung für neue Trägertechnologien zu erwerben. So war mit wenigen Schlagworten umreißen: abenteuerliche auch das Ergebnis der Berichterstattergespräche. Gigantonomie, europäische Autonomie — das ist von Grundlagenforschung in diesem Bereich sichert uns der ESA immer so gesagt worden —, einseitige die erforderliche internationale Partnerschaftsfähig- Förderung der bemannten Raumfahrt und — zum Teil keit. dadurch bedingt — eine Plan- und Konzeptionslosig- keit sowie fehlende Flexibilität. Insofern begrüßen wir es, daß sich die Bundesregie- Ein Beispiel hierfür liefert doch bereits das Herun- rung nunmehr auch von dem Leitmodell verabschie- terfahren des nationalen Programms. Das wird uns det hat. Ob wir einmal Hyperschalltransporter benö- noch beschäftigen. Es wird noch schlimmer kommen, tigen, hängt neben der Machbarkeit für mich und meine Fraktion letztendlich von drei Bedingungen ab, als wir es vermutet haben. Gerade die D - 2 - Mission — der Start ist, wie ich heute gehört habe, zum über deren Vorhandensein nach Beendigung der zweitenmal verschoben worden — zeigt doch die Phase 1 zu befinden sein wird. Diese Voraussetzungen Probleme der bemannten Raumfahrt auf. lauten: erstens eine globale Kooperation; denn nur dann wird ein solcher Transporter finanzierbar sein Sicherlich ist der Mensch in einigen Fällen noch und sich rechnen. Zweitens. Ein entsprechender nicht aus dem Weltraum wegzudenken. Angesichts Bedarf muß nachgewiesen sein. Die TAB-Studie weist des Forschungsbedarfs z. B. im Bereich der Mikrogra- eindrucksvoll nach, daß ein Hyperschalltransporter vitation oder in der Materialforschung ist jedoch die nur unter Berücksichtigung ganz bestimmter Szena- Frage erlaubt, ob der BMFT immer die richtigen rien wirtschaftlich sinnvoll ist. Prioritäten gesetzt hat. Es wäre doch wohl sinnvoller gewesen, zunächst einmal die Forschung mit unbe- Dritter Punkt: Angesichts der zu erwartenden mannten Kapseln voranzutreiben oder aber die Mög-- Kosten dieses Projekts muß sichergestellt sein, daß lichkeiten auszuloten, wie man das auf der Erde seine Finanzierung andere wichtige Aufgaben nicht machen kann. Ich nenne nur zwei Stichworte: Fall- erdrückt. turm und Fallschacht, der eine in Bremen. Der Fall- (Zustimmung bei der SPD) schacht ist ja gestrichen worden. Diese Voraussetzungen sind erst einmal abzuklä- (Zuruf des Abg. Dr.-Ing. Karl-Hans Laer- ren. Welchen Stellenwert soll die bemannte Raum- mann [F.D.P.]) fahrt erhalten? Darüber muß man bei uns auch disku- — Es waren ja wohl drei Länder beim Fallschacht, die tieren. sich darum beworben haben, nämlich das Saarland, (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Diese Pro- CSU]: Aber erst nach der Technologie jekte sind gestrichen worden. Fragen Sie einmal bei phase!) Herrn Staatssekretär Neumann nach. Er muß Ihnen das bestätigen, oder mir ist etwas Falsches gesagt Welche Raumfahrtprojekte dürften, vom Zeithorizont worden. Jedenfalls hat das Saarland einen Antrag eines Hyperschalltransporters her gesehen, realistisch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12343

Lothar Fischer (Homburg) sein? Hierüber müssen wir alle, im Ausschuß und im schalltransportersystems Sanger ein Konzept zu ana- Parlament, einmal diskutieren. lysieren. Wir sind mit dem Ergebnis, so glaube ich, Wenn sich deutsche und europäische Raumfahrt einmütig einverstanden gewesen, daß nämlich weiterhin vor allem mit der Mission „Erde" befaßt, bestimmte Dinge aus forschungspolitischen, aber also z. B. mit der Erdbeobachtung oder der Telekom- auch aus Kostengründen zunächst einmal in den munikation, ist es dann nicht sinnvoller, sich verstärkt Hintergrund geschoben werden müssen. mit der Verbesserung und der Weiterentwicklung Dieses Transportsystem, das untersucht worden ist, bestehender Transportsysteme zu befassen? Denn das ist eigentlich ein Doppelsystem: Es ist ein luftfahrt- stellt die Fachstudie ebenfalls in aller Deutlichkeit technisches System und ein raumfahrttechnisches heraus: Für den Steuerzahler dürfte dieser Weg System in einem. Die Studie des TAB kommt zu dem kostengünstiger und mit weniger Risiken behaftet Ergebnis, daß wir im Bereich der Luftfahrtforschung sein. einen Schwerpunkt setzen, uns auf die Schlüsseltech- Ich halte es deshalb für unabdingbar, daß sich die nologie Hyperschalltechnologie konzentrieren und Bundesregierung auch mit anderen Trägertechnolo- diese Hyperschalltechnologie weiterverfolgen soll- gien befaßt — sie sind ja auch in der TAB-Studie ten. aufgeführt —; denn eines wissen wir wohl alle: Die Ich meine, das ist logisch; es macht Sinn, gleichgül- heutigen Wegwerfraketen sind nicht nur ökologisch tig, was man damit erreichen will. Hohe Geschwindig- bedenklich, sondern sie potenzieren ein Problem, keit, große Flughöhe, umweltschonende Treibstoffe welches letztendlich die Raumfahrt selbst gefährdet, sind einfach Kriterien, die es lohnen, daß man darüber nämlich den sogenannten Weltraumschrott. nachdenkt, wie sie genutzt werden können. Ich komme jetzt zum Schluß. Vor dem Hintergrund Um auf den Eingang zurückzukommen: Arbeits- der derzeitigen Finanzierungskrise in der europäi- marktpolitik hängt natürlich auch damit zusammen, schen Raumfahrt besteht die Möglichkeit, daß der daß wir Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung TAB-Bericht wesentlich mehr bewirkt, als es sich auch einmal im internationalen Bereich umsetzen seine Initiatoren einmal gedacht haben mögen. Las- können und nicht alles anderen überlassen. sen Sie uns diese Chance ergreifen. Diese Schlüsseltechnologie ist ein Teil dessen, was Schönen Dank. vorher einmal konzipiert war. Die Änderung, die wir meinen haushaltstechnisch und forschungspolitisch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten durchführen zu müssen, ermöglicht es uns, mit den der PDS/Linke Liste) vorhandenen Mitteln ein breiteres Spektrum abzu- decken. Sie bietet ausreichende Möglichkeiten für spätere internationale Entscheidungen, an denen wir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr beteiligt sind. Sie bietet mehr Möglichkeiten auch für spricht der Abgeordnete Jürgen Timm. verstärkte internationale Kooperation. Bis zum Jahre 1995 — das ist noch etwas unterhalb Jürgen Timm (F.D.P.): Herr Präsident! Meine des Jahres 2000 — müssen wir eine politische Grund- Damen und Herren! Eigentlich waren wir nur ange- satzentscheidung darüber treffen, wie wir zukünftig treten, um eine gewisse Arbeit zu bewerten, die ein Weltraumpolitik, Weltraumforschung und Weltraum- von uns beauftragtes Büro geleistet hat, an einem nutzung mit unseren Ideen und mit unseren Grund- bestimmten Fallbeispiel daraus Konsequenzen zu konzepten in Einklang bringen wollen. Sie sollen ziehen und dann den einmütig beschlossenen Antrag sinnfällig sein; sie müssen finanzierbar sein. auf der einen und auf der anderen Seite zustimmend Die Studie hat uns sehr geholfen, die vorher zur Kenntnis zu nehmen. Aber aus einem so kleinen beschriebene Entscheidung im Forschungsausschuß Punkt kann man offensichtlich auch wieder eine einmütig zu treffen. Ich glaube, wenn wir in der Arbeit Raumfahrtdebatte machen, die gar nicht auf der der Technikfolgenabschätzung, der Bewertung und Tagesordnung steht. der Entscheidungen daraus weiter so verfahren, dann Es reizt mich, dazu ein Wort vorab zu sagen, nämlich haben wir eine gute Arbeit geleistet. daß bei den Debattenbeiträgen heute abend deutlich Vielen Dank. geworden ist, daß von der ganzen Spannbreite — Ar- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) beitsmarktsituation, Forschungsbereich und Ideolo- gie — eines übriggebliebenen ist, nämlich daß auch die Raumfahrt- und Luftfahrtforschung und ihre Tech- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nologie ihren Platz in der Forschungslandschaft hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs. behalten werden, trotz oder gerade weil Frau Bul- mahn heute so eine abgehobene Gegenposition dar- Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! gestellt hat. Meine Damen und Herren! Um es vorweg klar zu Das ist einigermaßen beruhigend, Frau Kollegin; sagen: Mit der Verwirklichung der Beschlußempfeh- denn eines haben wir in der Ausschußberatung allge- lung des Bundestagsausschusses für Forschung, Tech- mein, wie ich meine, sehr wohl verstanden: daß wir nologie und Technologiefolgenabschätzung — meine uns vor dem Hintergrund schwieriger Haushaltslagen Güte, was für ein Wort! —, der wir heute zustimmen auf bestimmte Forschungsbereiche und auf Kostenre- werden, hinken wir international im Hinblick auf die duzierung konzentrieren müssen. Wir haben aus die- Probleme neuer Technologien auf dem Feld der sem Grunde das Technikfolgenabschätzungsbüro mit Technologiefolgenabschätzung immer noch hinter- der Aufgabe beauftragt, am Fallbeispiel des Hyper- her. Die Technologiefolgenabschätzung für das deut- 12344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Ulrich Briefs sche Parlament, das Parlament eines der technolo- dere was die Einbeziehung der Betroffenen betrifft, gisch führenden, großen Industrieländer, droht zum auf den diesem Land und seinem technologischen Dauerprovisorium zu werden, und das auch noch auf Entwicklungsstand angemessenen St and zu bringen. einer Minibasis. Daran ändert weder die Vergabe Das wird eine der großen Aufgaben der Zukunft sein. eines Beratungsauftrages an die Abteilung für Ange- Ich fürchte, dazu sind allerdings sehr viel weiterge- wandte Systemanalyse des KfK auf fünf Jahre etwas hende politische Veränderungen in den nächsten noch die Dotierung mit 4 Millionen DM im Jahr. Jahren erforderlich; denn mit dieser konservativen Trotz der verdienstvollen Bemühungen der Mitar- Mehrheit in diesem Hause kriegen wir das nicht beiter und Mitarbeiterinnen des TAB: Deutschland ist zustande. unter den technologisch führenden Ländern auf dem Herr Präsident, ich danke Ihnen. Gebiet der Technologiefolgenabschätzung „substan- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei dard", unter dem notwendigen Niveau. Schuld sind Abgeordneten der SPD) wir. Schuld ist die Mehrheit dieses Parlaments. Schuld sind Sie auf der Rechten insbesondere. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit ( [CDU/CSU]: Unglaublich!) kann ich die Aussprache schließen. Das OTA, das Office for Technology Assessment des Wir kommen zur Abstimmung und zwar zunächst US-Kongresses, existiert nicht nur schon sehr viel über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für länger, nämlich inzwischen über 20 Jahre, es hat auch Forschung, Technologie und Technikfolgenabschät- mehr als 15mal so viele Mitarbeiter. Mitarbeiterzahl, zung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, Budget und wohl auch Einwirkungsmöglichkeiten der SPD und der F.D.P. zur Beratungskapazität Tech- des OTA übersteigen die zusammengefaßten Kapazi- nikfolgenabschätzung auf Drucksache 12/4193. Wer täten aller europäischen TA-Institute einschließlich stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt der EG um ein Vielfaches! Von 26 in Frage kommen- dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese den parlamentarischen Demokratien in Europa haben Beschlußempfehlung einstimmig angenommen wor- ohnehin nur 6 eine TA-Einrichtung. Nur 6 von 26! den. Unsere Technologiefolgenabschätzung führt nach Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung wie vor ein Kümmerdasein, obwohl wir nicht weniger, in bezug auf das Raumtransportsystem S anger auf sondern mehr, frühzeitigere und umfassendere Drucksache 12/4277. Wer stimmt dieser Beschluß- Abschätzungen der Folgen neuer Technologien benö- empfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthal- tigen, wie u. a. die jüngsten Atomreaktorschäden und tungen? — Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste und der Chemieunfall in Frankfurt oder wie auch die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist diese Be- Ausführungen des TAB-Arbeitsberichts zu möglichen schlußempfehlung angenommen. ökologischen Schäden des Sänger-Projekts zeigen. Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Vergessen wir auch nicht: Mit der Beschlußempfeh- Punkt 6 der Tagesordnung auf: lung erreichen wir nicht einmal jetzt — sechs Jahre später — das Niveau, das die erste Enquete-Kommis- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat sion in der 10. Legislaturperiode bereits für notwendig eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes fiber erachtet hatte. Die Mehrheit im Hause hatte der das Inverkehrbringen und die Anwendung Technologiefolgenabschätzung eine Beerdigung er- von Pflanzenschutzmitteln in dem in Artikel 3 ster Klasse bereitet, weil ihr offensichtlich die Indu- des Einigungsvertrages genannten Gebiet strie auf den Füßen stand, die nach den Erfahrungen — Drucksache 12/4124 — mit der Anti-AKW-Bewegung zu viel Sand in ihrem (Erste Beratung 137. Sitzung) forschungspolitischen Getriebe befürchtete. Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!) schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Bei der deutschen Technologiefolgenabschät- Forsten (10. Ausschuß) zungskonzeption fehlt insbesondere aber das, was in — Drucksache 12/4367 — kleineren Ländern wie Dänemark und den Niederlan- Berichterstattung: den Abgeordnete Gudrun Weyel (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie haben Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen ein Ent- doch diese internationalen Erfahrungen! Sie schließungsantrag und ein Änderungsantrag der wissen doch, wie das woanders ist!) Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von — allerdings mit relativ sehr viel höherem Aufwand — 45 Minuten vor. Ist das Haus damit einverstanden? — betrieben wird, nämlich ein technologiepolitischer Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos- Dialog mit der Öffentlichkeit und den bereits oder in sen. Zukunft von neuen Technologien Betroffenen. Ich eröffne die Debatte und erteile zunächst dem (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das haben Abgeordneten Hans-Ulrich Köhler das Wort. Sie gerade in Abschnitt 2 des Handbuchs gelesen!) Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Herr Es bleibt daher für uns in Zukunft die Aufgabe, Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! sowohl den Umfang als auch das Niveau der Techno- Laut Einigungsvertrag besteht nach dem 31. Dezem- logiefolgenabschätzung in Deutschland, insbeson- ber 1992 für rund 3 500 t der bis zum 3. Oktober 1990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12345

Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) im Beitrittsgebiet zugelassenen Pflanzenschutzmittel schutzgesetz hätten und weil drittens in Folge zu ein Anwendungs- und Inverkehrbringungsverbot. langer Lagerung mit erheblichen Wirkungsverlusten Das heißt: Sie müssen als Sondermüll entsorgt wer- zu rechnen ist. den. Demzufolge sind von 430 Pflanzenschutzmitteln, Der Gesetzentwurf Thüringens sieht eine Verlän- die vor dem 3. Oktober 1990 produziert, verpackt und gerung von Auslauffristen des Einigungsvertrages um gekennzeichnet wurden, lediglich 303 ohne jegliche zwei Jahre für jene Pflanzenschutzmittel vor, die nach Einschränkung für weitere zwei Jahre einsetzbar. ihrer Zusammensetzung, nach ihren Wirkstoffen und Sollten sich neue Erkenntnisse gegen die Anwendung deren Abbauverhalten mit zugelassenen Pflanzen- weiterer Mittel ergeben, dann ermöglicht das Gesetz, schutzmitteln aus den alten Bundesländern vergleich- die Verbotsliste kurzfristig zu erweitern. bar sind bzw. diese Wirkstoffe enthalten. Ihre Weiter- Die Biologische Bundesanstalt Braunschweig wird verwendung erfolgt in Abstimmung mit der Biologi- ein entsprechendes Pflanzenschutzmittelverzeichnis schen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft speziell für das Beitrittsgebiet bis Ende April heraus- Braunschweig unter Beachtung der für ganz Deutsch- geben. land zulässigen Höchstmengen und unter Wahrung der Belange des Gesundheits- und Umweltschutzes. Die landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern und die Mitarbeiter des amtlichen Wir haben den Gesetzentwurf eingebracht, weil es Pflanzenschutzdienstes haben die Gesetzesinitiative eine Übermaßregelung darstellt und sinnwidrig ist, zur Verlängerung der Einsatzmöglichkeiten sehr daß Pflanzenschutzmittel mit gleichen bzw. vergleich- begrüßt. Die notwendige Bereitschaft ist vorhanden, baren Wirkstoffen in den neuen Bundesländern als die noch anwendbaren Mittel im Sinne eines inte- Sondermüll gelten sollen. Ein Teil der Wirkstoffe grierten Pflanzenschutzes einzusetzen. stammt ohnehin aus den alten Bundesländern und wird heute noch dort angewendet. Gegen den Gesetzentwurf gab es allerdings von verschiedenen Seiten erhebliche Bedenken bis zur Laut Erhebung des amtlichen Pflanzenschutzdien- grundsätzlichen Ablehnung. stes vom 10. November 1992 bet rifft die Fristenverlän- gerung in den neuen Bundesländern ca. 3 500 t Bei Kritik von fachlich kompetenter Seite war eine Pflanzenschutzmittel, die sich in den neuen Bundes- sachlich argumentative Auseinandersetzung möglich ländern wie folgt aufteilen: Freistaat Sachsen 860 t; und führte letztlich auch zum Konsens. Es gab Beden- Brandenburg 836 t; Sachsen-Anhalt 800 t; Mecklen- ken, daß einige ehemalige DDR-Präparate wider- burg-Vorpommern 670 t und Thüringen 275 t. rechtlich von Betrieben im Altbundesgebiet beschafft und dort eingesetzt werden. In dem vorliegenden (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Gesetz wurde dem jedoch Rechnung getragen, da die GRÜNEN]: Woher wissen Sie denn diese Anwendung der betreffenden Präparate in den Alt- Zahlen?) bundesländern eine Ordnungswidrigkeit darstellt Die Gesamtmenge ergibt 3 441 t. und entsprechend geahndet werden muß. Das von Thüringen eingebrachte Gesetz soll dazu Weiterhin gilt es, die Behauptung zu widerlegen, dienen, die durch Inkrafttreten des Art. 3 des Eini- daß durch die sachgemäße Anwendung bestimmter gungsvertrages entstandene Situation zu entschärfen. Pflanzenschutzmittel mit DDR-Zulassung die Umwelt Es ist vorgesehen, nur solche Pflanzenschutzmittel, gefährdet wird. Die Gegner des chemischen Pflanzen- deren Wirkstoffe mit denen der Altbundesländer ver- schutzes müssen heute erkennen, daß die Bundesre- gleichbar sind, noch bis zum 31. Dezember 1994 publik Deutschland vergleichsweise sehr strenge Vor- weiter anzuwenden, Bei der Beurteilung der weiteren schriften für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln Anwendbarkeit zog die Biologische Bundesanstalt hat. Braunschweig auch vorhandene DDR-Prüfunterlagen Auch wenn die Pflanzenschutzmittelzulassung in heran. der ehemaligen DDR nicht nach den gleichen Anfor- Von den in der ehemaligen DDR zugelassenen derungen erfolgte, heißt das nicht, daß verantwor- 430 Pflanzenschutzmitteln dürfen 57 Mittel laut tungslos gehandelt wurde. Anlage 1 weder angewandt noch in Verkehr gebracht Läßt man bestimmte wirtschaftspolitische Aspekte werden. Hierzu gehören auch die Pflanzenschutzmit- außer acht, so ist festzustellen, daß Pflanzenschutzmit- tel mit Wirkstoffen, deren Übergangsregelungen für tel in der ehemaligen DDR nach ähnlichen Verfahren Höchstmengen abgelaufen sind. zugelassen wurden wie in der Bundesrepublik Anlage 2 enthält weitere 79 Pflanzenschutzmittel, Deutschland. Auch die Mittelaufwandmengen und die nicht mehr in den Verkehr gebracht, d. h. nicht die Anwendungsbeschränkungen haben sich nur mehr gehandelt werden dürfen, weil sie erstens Wirk- wenig von bundesdeutschen Zulassungen unterschie- stoffe enthalten, deren Anwendung aus Gründen des den. Gesundheitsschutzes oder des Schutzes des Natur- (Zurufe von der SPD: Na! Na! Na! — Zuruf haushalts nicht vertretbar sind, so daß ihre Anwen- von der F.D.P.: Ganz neu!) dung bereits durch die Pflanzenschutzanwendungs- verordnung verboten wurde, weil sie zweitens, falls Was die im Mittelpunkt des Interesses und der Kritik ein Antrag auf Zulassung gestellt würde, nach dem stehenden möglichen negativen Auswirkungen auf derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkennt- die Umwelt, insbesondere auf Oberflächen-, Grund- nisse und der Technik keine Aussicht auf eine Zulas- und Trinkwasser anlangt, bitte ich folgendes zu sung oder erneute Zulassung nach dem Pflanzen- bedenken: Bisher erfolgte der Einsatz entsprechend 12346 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) dem Pflanzenschutzmittelverzeichnis 1991/92 der In den in Thüringen seit 1991 untersuchten 1 278 Biologischen Bundesanstalt Braunschweig. Rein- bzw. Trinkwasserproben wurden nach Angaben des Thüringer Ministeriums für Umwelt und Landes- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- planung vom Dezember 1992 lediglich bei ca. 5 % der geordneter Köhler, sind Sie bereit, eine Zwischen- Proben zeitweilig Pflanzenschutzmittelwirkstoffe, frage des Abgeordneten Dr. Feige zu beantworten? meist Atrazin, knapp über dem Pauschalwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter festgestellt. Von einer Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Ja, Gefährdung durch Pflanzenschutzmittel kann demzu- bitte. folge keine Rede sein. (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, GRÜNEN]: Prima!) Herr Feige. Da im Rahmen des Bienenschutzes die Einstufungs- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: kriterien der ehemaligen DDR im wesentlichen mit Der Feige sieht immer so seriös aus!) denen der Bundesbienenschutzverordnung überein- stimmten, ist bei sachgemäßer Anwendung eine Bie- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nengefährdung ebenfalls nicht zu erwarten. NEN): Wenn das mit dem verantwortungsvollen Ein- Bei abschließender Betrachtung der genannten satz so stimmt, dann möchte ich Sie fragen, warum sich Argumente zeigt sich, daß eine Einstufung aller ehe- denn der Umweltausschuß insbesondere mit den maligen DDR-Pflanzenschutzmittel als Sondermüll hohen Pestizidanteilen im Grundwasser in den neuen eine sinnwidrige und wirtschaftlich nicht vertretbare Bundesländern beschäftigen mußte, obwohl Sie dort Maßnahme darstellen würde. keine Gefahrenquelle und auch keine mißbräuchliche Nutzung in den neuen Ländern gesehen haben. (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja eben, wirtschaftlich nicht ver tretbar!) Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Herr Abgeordneter Feige, die Pflanzenschutzmittel mit Bei ordnungsgemäßer Anwendung der durch die Pestiziden sind aus dem Verkehr gezogen, sind nicht Fristenverlängerung bis Ende 1994 noch anwendba- zugelassen. Die Pflanzenschutzmittel, die das verur- ren Präparate bestehen keine Gefahren für Mensch, sachen, sind auf der Liste derer, die aus dem Verkehr Tier und Umwelt. gezogen worden sind. Sie müßten in den Ausschuß Ich bitte Sie, im Interesse der Landwirtschaft der kommen, dann können Sie das feststellen. neuen Bundesländer dem vorliegenden Gesetzent- (Zurufe) wurf zuzustimmen. (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Fahren GRÜNEN]: Das wäre eigentlich ein Grund, Sie bitte fort. dagegen zu sein!)

Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Dem- zufolge kommen nur Mittel ohne W-Auflage in Was- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile serschutzgebieten zum Einsatz. nunmehr der Abgeordneten Frau Gudrun Weyel das Da mir keine anderen Untersuchungsergebnisse Wort. vorliegen, kann die Belastung des Trinkwassers mit Pflanzenschutzmitteln nur aus Thüringer Sicht beur- teilt werden. Die folgenden Untersuchungsergebnisse Gudrun Weyel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- zeigen, daß die gemessenen Werte durchaus mit ginnen und Kollegen! Nach dem, was Herr Köhler denen der Altbundesländer vergleichbar sind. Die ausgeführt hat, müssen wir uns fragen, warum eigent- Verfeinerung der Analysemethoden hat in den letzten lich beim Einigungsvertrag nicht absehbar war, daß in Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, so daß man den zwei Jahren die Mittel nicht verbraucht werden heute Nachweise im Ultraspurenbereich führen kann. können. Es werden zulässige Höchstmengen, z. B. für Trink- (Georg Gallus [F.D.P.]: Weil sie es verschla wasser in Mikrogramm = ein Millionstel Gramm je fen haben!) Liter, angegeben. - Das hat mit Sicherheit unterschiedliche Gründe. Nach der deutschen Trinkwasserverordnung und Erstens war der Bestand nicht vollständig erfaßt, denn der EG-Richtlinie 80/778/EWG darf in einem Liter offensichtlich haben viele Landwirte in der DDR aus Wasser nicht mehr als 0,1 Mikrogramm eines Pflan- langer Übung geheime Vorräte für alle Fälle gehabt. zenschutzwirkstoffes enthalten sein. Bei gleichzeiti- Zweitens wurde durch Flächenstillegung in den letz- gem Auftreten mehrerer Wirkstoffe gilt der Summen- ten Jahren weniger gebraucht. Der trockene Sommer grenzwert von 0,5 Mikrogramm. WHO-Grenzwerte 1992 hat dazu beigetragen, daß weniger gespritzt liegen um ein Mehrfaches höher. Fachleute wissen, wurde. Manche Betriebe haben auch gemeint, die daß der EG-Trinkwassergrenzwert ein politischer Westmittel seien besser, und sie haben neue gekauft. Pauschalwert, jedoch nicht ein fachlich untermauerter Im übrigen besteht der Verdacht, daß einige Herstel- Grenzwert ist. ler sich gar nicht an die Bestimmungen des Einigungs- (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE vertrages gehalten haben und noch weiter produziert GRÜNEN]: Na, na! — Widerspruch bei der und verpackt haben, was sehr schwer nachzukontrol- SPD) lieren ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12347

Gudrun Weyel Es ist ein ganzes Bündel, was da zusammenkommt zumessen. Sicher stimmt das, was Herr Köhler eben und uns veranlaßt, diese Verlängerung ins Auge zu über die Qualität des Trinkwassers in den neuen fassen, wobei wir heute gar nicht mehr über den Ländern gesagt hat, nicht durchweg. Es gibt mit Antrag des Bundesrates sprechen, weil ja der 31. De- Sicherheit einige Gewässer, die der europäischen zember 1992 abgelaufen ist, sondern eine Neuformu- Richtlinie heute nicht entsprechen. lierung der Bundesregierung haben. Die ganze (Zuruf von der SPD: Das sind die Sünden der Geschichte ist schon recht durcheinander. Vergangenheit!) (Georg Gallus [F.D.P.]: Richtig!) Wir wollen versuchen, das abzubauen. Aber, Herr Von den Mitteln, die im Einigungsvertrag standen, Feige, wir müssen auch sehen, daß es nicht nur um die haben wir verschiedene Kategorien. Ein Teil ist ord- Erhöhung der Erträge geht, sondern auch darum, nungsgemäß über die BBA zugelassen — Kategorie 1. Krankheiten der Pflanzen durch entsprechende Mittel Ein zweiter Teil befindet sich im Zulassungsverfah- in sachgemäßer Anwendung zu verhindern. ren. Ein dritter Teil ist durch die Pflanzenschutz- (Beifall bei der SPD) Anwendungsverordnung ohnehin bereits in der Anwendung verboten. Das sind die Fälle, die eindeu- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- tig sind. Viertens kommen die Mittel, die jetzt durch geordnete, diese Ihre Bemerkung hat den Abgeordne- die Anlage 1 sowohl im Vertrieb wie in der Anwen- ten Köhler veranlaßt, eine Zwischenfrage zu stellen. dung verboten werden. Dann kommen die Mittel, bei denen das In-Verkehr-Bringen verboten wird, die Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Frau Anwendung aber erlaubt ist. Wenn wir die Anlage 2 Kollegin Weyel, würden Sie bitte zur Kenntnis neh- aber anschauen, sind unter ihnen wieder welche, die men, daß ich in bezug auf die Trinkwasserwerte nur in der Anwendung verboten sind, damit es möglichst über das Land Thüringen gesprochen habe. kompliziert wird. Diese gehören eigentlich in die Kategorie 3. Schließlich bleiben die Mittel übrig, die Gudrun Weyel (SPD): Dann wollen wir hoffen, daß weiter erlaubt sein sollen. Herr Köhler recht hat und das Land Thüringen sich Deswegen war eigentlich unser Anliegen zu sagen: von allen anderen neuen Bundesländern absolut Machen wir nicht soviel Verbotslisten, sondern ein- unterscheidet. Ich nehme das zur Kenntnis, kann es fach eine Liste der Mittel, die dann jetzt noch in der aber nicht nachvollziehen. Anwendung erlaubt sein sollen. Das wäre einfacher Wir haben darüber hinaus, damit dem Umwelt- gewesen. Die Bundesregierung hat aber gemeint, schutzgedanken Rechnung getragen wird, dem eine solche Liste könnte die Leute zu der irrtümlichen Gedanken der vernünftigen und verantwortungsvol- Annahme verführen, dieses seien Mittel, die nach den len Entsorgung der Mittel, die ja noch vorhanden sind, Kriterien des bundesdeutschen Pflanzenschutzgeset- aber nicht mehr benutzt werden dürfen, dies in einem zes zugelassen sind. Entschließungsantrag zusammengefaßt. Wir hoffen, Es geht jetzt einfach darum, eine vernünftige Rege- daß das auch praktiziert werden kann. Wir richten uns lung zu finden. Dies ist leider mit der Positivliste nicht damit zwar an die Bundesregierung, aber es ist uns gelungen. In den Ausschußberatungen kamen sehr klar, daß es im Grunde genommen in der Hand der unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck. Es hat neuen Länder liegt, die Erfassung und Entsorgung sich eigentlich niemand ganz wohl gefühlt. Deswegen vernünftig durchzuführen. Wir haben uns geeinigt, haben wir vereinbart, daß wir die beiden Anlagen daß wir diesem Entschließungsantrag, der bei der noch ergänzen, so daß außer den Mitteln auch die dritten Lesung beraten wird, gemeinsam zustimmen Wirkstoffe angegeben sind. In Anlage 2, in der die wollen. Mittel enthalten sind, die noch angewendet werden Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. dürfen, haben wir durch entsprechende Fußnoten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deutlich gemacht, welche von ihnen eigentlich bereits der CDU/CSU) verboten sind und welche insbesondere in bezug auf den Wasserschutz besonderer Sorgfalt bedürfen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Das ist zwar sicher nicht hundertprozentig befriedi- nunmehr dem Abgeordneten Georg Gallus das gend, aber wenigstens ein Versuch, den notwendigen Wort. Gewässerschutz in den neuen Bundesländern ins Bewußtsein zu bringen und Mittel zu vermeiden, die Georg Gallus (F.D.P.): Herr Präsident! Meine dem nicht entsprechen. Die Fraktionen haben sich Damen und Herren Kollegen! Die Überschrift des geeinigt, daß sie den Änderungsantrag gemeinsam Gesetzesentwurfs ist mir zu hochtrabend, um das einbringen, Herr Präsident. Ich denke, wir können einmal deutlich zu sagen. Im Grunde geht es einzig dem zustimmen, obwohl wir insbesondere im Bereich und allein darum, die Pflanzenschutzmittel, die nach des Umweltschutzes Bedenken haben. den entsprechenden Richtlinien der BBA angewendet Wir haben versucht, einen gangbaren Weg zwi- werden können, auch weiterhin anwenden zu dürfen. schen den zwei Prinzipien zu finden. Wir wollten zum Bei der ganzen Angelegenheit, Herr Köhler, kann einen eine vernünftige wirtschaftliche Entscheidung man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob einige treffen, daß man nämlich nicht Dinge entsorgen muß, Leute in den neuen Bundesländern die ganze Sache in die man noch verwenden kann, soweit dies noch den letzten zwei Jahren nicht ernst genug genommen vertretbar ist. Auf der anderen Seite wollen wir hätten, sonst hätten sie nämlich mit der Menge fertig deutlich machen, daß wir dem Umweltschutz, insbe- werden müssen. Machen wir uns da einmal gar nichts sondere dem Gewässerschutz, eine hohe Bedeutung vor! 12348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Georg Gallus Wir fassen einen Entschließungsantrag ab, in den — Ich habe gar nicht geschaut, wer im Bundesrat alles wir hineinschreiben: Es muß bei den Genossenschaf- geredet hat. ten, bei den Nachfolgeorganisationen und wie sie alle (Heiterkeit — Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] heißen festgestellt werden, welche Menge vorhanden [CDU/CSU]: Die F.D.P. war das!) ist. Von dem, was über die Mengen im Protokoll des Bundesrates steht, glaube ich nur die Hälfte. — Auf gar keinen Fall, Herr Kollege. Sie werden mir doch zugestehen, daß für die F.D.P. gilt: Verstand ist Ich sage nicht, daß die Freien Demokraten dem stets bei wenigen nur gewesen. Und wir gehören Gesetzentwurf nicht zustimmen. Aber deutlich an die dazu. Adresse der Betroffenen gewandt, möchte ich eines (Heiterkeit — Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie, sagen: Ein Jahr hätte voll genügt, um mit dem Problem Unmöglich!) fertig zu werden. Wir verwenden 30 000 t Pflanzen- Verstand bei Ihnen? schutzmittel in der Bundesrepublik einschließlich Zum Schluß kann ich nur eines sagen, meine lieben neue Bundesländer, weil die Produktion in den letzten Kollegen: Die Freien Demokraten stimmen zu unter Jahren zurückgegangen ist. In den neuen Bundeslän- der Maßgabe, daß die Betroffenen diese Geschichten dern beträgt der Anteil an dieser Gesamtsumme in Zukunft ernst genug nehmen und daß die Angele- 10 000 t. Wenn die Zahl von 3 000 t stimmt, dann hätte genheiten zum Abschluß geführt werden können. man in einem Jahr mit dem Problem fertig werden Danke schön. müssen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: sowie bei Abgeordneten der SPD) Sehr richtig!) In dieser Angelegenheit hat m an sich wieder einmal richtig balbieren lassen, weil es Probleme gibt; das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort sehe ich ein. Aber das ist das letzte Mal. Für die F.D.P. hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter kommt eine weitere Verlängerung nicht in Frage. Feige. (Beifall bei der F.D.P.) Das, was in der Entschließung darüber hinaus steht, Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bitte ich sehr ernst zu nehmen, nämlich, daß es nur um NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen die Pflanzenschutzmittel gehen kann, die schon vor und Herren! So lustig kann ich das nicht sehen. dem entsprechenden Zeitraum, vor 1990, abgepackt Angesichts der Erfahrung vieler ostdeutscher Natur- wurden. Wir haben schon so manches erlebt: und Umweltschutzaktivisten mit dem Pestizideinsatz in der DDR kann ich die heute zur Abstimmung (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: stehenden Vorlagen aus umweltpolitischer Sicht nur Man kennt seine Pappenheimer!) als zynisch bezeichnen. Die Übergangsregelung für mit dem Rubelumtauschen und dem ganzen Zeugs. das Inverkehrbringen und die Anwendung von den in Die Gefahr, daß sie das Ganze weiter formulieren, der früheren DDR zugelassenen Pflanzenschutzmit- Pflanzenschutzmittel nach Polen schleusen und am teln soll um weitere zwei Jahre verlängert werden. Ende dieser zwei Jahre mehr haben als heute, ist ganz Nicht nur, daß hier ein weiterer Gesetzgebungsakt groß. erfolgen soll, der das Zweiklassenrecht zwischen Ost- und Westdeutschland erneut festschreibt — wir haben Meine Damen und Herren, ich will hier einmal ganz genug Gesetze, die das so machen —, es geht Ihnen nüchtern sagen: Die Menschen in den neuen Bundes- auch darum, daß hochgiftige Sonderabfälle — um ländern sollen nicht glauben, daß sie bei so schwer- nichts anderes handelt es sich hierbei ganz konkret — wiegenden Fragen auch in Zukunft auf unsere Gut- großflächig auf landwirtschaftliche Flächen in Ost- mütigkeit bauen können. deutschland — und nur dort — ausgebracht wer- den. (Beifall bei der F.D.P.) Wenn das so harmlos und friedlich ist, wie Sie es Außerdem — auch das möchte ich noch sagen —: Ein immer darstellen, dann frage ich Sie: Bitte, warum paar Dummheiten sind sowieso passiert. Wenn jeder, lassen Sie das dann nicht auch in den alten Ländern der hier gesprochen hat, das Protokoll der Sitzung zu? Wenn das alles so gleichwertig ist, Herr Kollege des Bundesrats-Gesundheitsausschusses nachgele- Köhler, wie Sie sagen, warum dann nicht auch in den sen hat, wird der feststellen: So etwas Dummes hat er alten Ländern zulassen? Den Aufschrei hier in den noch nicht gesehen. Dort wurde nämlich der Eindruck westlichen Ländern möchte ich hören, wenn Sie mit erweckt, als ob man die Pflanzenschutzmittel tatsäch- diesem Ansatz gekommen wären. lich dadurch entsorgen könnte, daß sie angewendet Ich glaube, Sie haben recht — es steht in den werden dürfen. Darum kann es überhaupt nicht Vorlagen —: Die Alternative ist und bleibt die restlose gehen. und äußerst kostspielige Beseitigung dieser Stoffe als (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) Sondermüll. Es ist schon ein beispielloser Vorgang, wenn landwirtschaftliche Anbaugebiete in Ost- Es ist bei der Geschichte von Anfang an ein falscher deutschland als großflächige Sonderabfalldeponien Zungenschlag hineingekommen; das muß man scheinbar zum Nulltarif genutzt werden sollen. sehen. (Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: (Zuruf von der CDU/CSU: Wer war das?) Das ist unwahr!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12349

Dr. Klaus-Dieter Feige — Genau das ist der Ansatz. Ihr Motto: Heute wird gesamten Strategie des Einsatzes von Pflanzenschutz- gespart. Selbst in Ihrer Argumentation spielt das mitteln: Wir benutzen diese Pflanzenschutzmittel Finanzielle eine ganz entscheidende Rolle. doch nur, um hochgezüchtete Arten, die gegen Krank- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist zu ein heiten gar nicht mehr resistent sind, ganz einfach fach!) überhaupt noch am Leben zu erhalten und Höchster- träge zu bekommen. Da liegt, glaube ich, der grund- Ich glaube, daß dies auf Kosten der Gesundheit der sätzlich falsche Ansatz in der S trategie einer Land- Menschen geht. wirtschaft. (Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: Herr Dr. Feige, so leicht können wir uns das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das ver- nicht machen!) anlaßt den Abgeordneten Gallus zu einer Zwischen- — Genauso wird es sein. Bezahlt wird von irgendwem frage. später, nur nicht gegenwärtig. In den ostdeutschen Bundesländern soll offenbar Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein unsäglicher Pestizid-Großversuch fortgesetzt NEN): Bitte schön. werden, der die Menschen in diesem Land noch weit (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sie kommen teurer zu stehen kommen wird als seine ordnungsge- schon auf Ihre zehn Minuten!) mäße Beseitigung. Ich bin entsetzt, wenn ich lese, was der großen Georg Gallus (F.D.P.): Herr Kollege, wie erklären Koalition im Umweltausschuß am 10. Februar hierzu Sie sich eigentlich, daß die Menschen in Deutschland, eingefallen ist. Im gemeinsamen Entschließungsan- obwohl wir bei uns Pflanzenschutzmittel im Vergleich trag heißt es nämlich, daß die Bundesregierung auf- zur übrigen Welt am restriktivsten anwenden und gefordert wird, mitzuhelfen, daß das Grundwasser obwohl wir die Pflanzenschutzmittel anwenden müs- Monitoring in den neuen Bundesländern fortgesetzt sen, immer älter werden? Wie erklären Sie sich das wird, um insbesondere die Gefährdung des Grund- eigentlich, wenn das alles total giftig ist? Wie erklären wassers durch Pflanzenschutzmittel besser abschät- Sie sich denn das? zen zu können und die eingetretenen Grundwasser- belastungen sanieren zu helfen. Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie NEN): Herr Gallus, ich weiß, daß Sie das schon in die Antwort der Bundesregierung auf Ihre eigene Ihrem Beitrag sehr lustig aufbereitet haben. Aber ich weiß, wie teuer das Gesundheitswesen der Bundesre- Kleine Anfrage zu den Umweltkosten in der Land- wirtschaft vergessen? Da steht, daß die Kosten der publik Deutschland ist und wie teuer es ist, das alles, Entfernung von Pflanzenschutzmittelkontaminatio was wir über Nahrungsketten oder sonst etwas tat- nen bei der Trinkwasseraufbereitung bis zu 1,50 DM sächlich zu uns nehmen, zu kompensieren. Ich denke, je m3 betragen könne. Dann ist die Kostenbilanz eine daß wir auf diesem Gebiet in erheblichem Maße ganz andere. einsparen könnten. Die Menschen werden übrigens auch in anderen Ländern älter. Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen: Von oben werden hochtoxische Pflanzenschutzmittel Dennoch, glaube ich, kann keiner hier bestreiten, eingesetzt. Danach wird das Grundwasser beobachtet daß die Produkte, die aus einem ökologischen Anbau und später möglicherweise saniert. Das ist absurd, das kommen, für die Gesundheit der Menschen tatsäch- ist von der Gesamtkostenbilanz her absurd. lich wesentlich günstiger sind als das, was wir an Reststoffen und Präparaten teilweise zu uns neh- men. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Dr. Feige, das veranlaßt die Abgeordnete Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sind Sie Weyel zu einer Zwischenfrage. Bitte schön. bereit, eine weitere Frage des Abgeordneten Gallus zu beantworten? Gudrun Weyel (SPD): Herr Feige, ist Ihnen bekannt, daß toxische Mittel natürlich nicht zugelassen werden Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dürfen? NEN): Gerne.

- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, NEN): Wissen Sie, über die Bewertung all dessen, was Herr Abgeordneter Gallus. als Pflanzenschutzmittel in der Bundesrepublik ins- gesamt zugelassen wird und was sich als Reststoffe Georg Gallus (F.D.P.): Herr Kollege, können Sie über Nahrungsketten oder in Sammelwirkungen bestätigen, daß fast jahrzehntelange Untersuchungen heute anreichert, glaube ich, werden wir in diesem erbracht haben, daß die alternativ produzierten Nah- Haus noch sehr oft diskutieren müssen. All das, was in rungsmittel keineswegs weniger Rückstände als die den alten Ländern zugelassen ist, ist meines Erachtens mit herkömmlichen Pflanzenschutzmitteln behandel- dennoch ein erheblich belastender Anteil für unsere ten haben? gesamte Umwelt. Ökosysteme brechen nicht von In welcher Relation stufen Sie hier eigentlich das alleine zusammen, wenn das alles nicht toxisch ist. Rauchen ein, wenn Sie schon bei den Pflanzenschutz- Sie können es ja einfach einmal probieren. Auch in mitteln so große Vorbehalte haben? Sind Sie dafür, verdünnter Form haben diese Stoffe eine Langzeitwir- daß Rauchen bundesweit verboten wird? kung. Ich glaube, das ist das Entscheidende bei der (Zuruf von der CDU/CSU: Weltweit!) 12350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Interview mit der „Tageszeitung" mit den Worten NEN): Ich glaube, wir dürfen das Problen nicht ins — ich zitiere ihn — Lächerliche ziehen. Es geht tatsächlich um eine sehr Aber ich will auch nicht bestreiten, daß quer ernsthafte und gewissenhafte Sache, die uns in den durch alle Parteien viele die Ökologie zwar verbal kommenden Jahren noch sehr intensiv beschäftigen hochhalten, daß sie diese Versprechen bei prak- muß. tischen Entscheidungen aber nicht immer einlö- Aber eben gerade, in der vorhergehenden Debatte sen — Sie waren dabei —, haben wir uns mit dem ständig vielleicht ein bißchen auch die SPD-Fraktion wachsenden Standard der wissenschaftlich-techni- gemeint? schen Forschung beschäftigen müssen. Auch in dieser Ich bitte Sie daher eindringlich, Ihr Votum noch Hinsicht sind wir in unserem Erkenntnisstand nicht einmal zu überdenken und gemeinsam mit uns den stehengeblieben. Antrag und die Beschlußempfehlung abzulehnen. Ich sage Ihnen: Nicht nur die Meßmethoden haben Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sich verfeinert, sondern auch das Wissen über die Zusammenhänge, insbesondere auch über die Quer- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) beziehungen und die Wirkungsweise von Verbindun- gen auf den menschlichen Organismus. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Das, was in den letzten Jahren in der wissenschaft- Damen und Herren, ich möchte das Haus darüber lichen Literatur — das ist leicht nachzuvollziehen — informieren, daß die Abgeordnete Frau Ulrike Mehl an neuen Erkenntnissen auch hinsichtlich der Wir- ihre Rede zu Protokoll gegeben hat.*) kungsweise bisher scheinbar schadloser Verbindun- gen auf den menschlichen Organismus dazugekom- Darm erteile ich dem Abgeordneten Jungharms das men ist, sollte uns hier vorsichtiger machen und nicht Wort. dazu bringen, zu sagen: Es wird schon alles nicht so schlimm sein. Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Herr Präsident! Herr Gallus, Sie selbst haben in Ihrem Beitrag Meine Damen und Herren! Ich möchte das nicht ganz eigentlich genau in unserem Sinne davor gewarnt, das so stehenlassen, was jetzt durch Herrn Feige in den dann nach 1994 nicht noch einmal zu verlängern. Das Raum gestellt worden ist. machen Sie doch auch nicht von ungefähr, denn auch Sie wissen, wie verunreinigt die eigentlichen Verbin- Gemeinsam liegt uns hier daran, Rahmenbedingun- dungen sein müssen. gen für die Landwirtschaft landauf, landab zu schaf- fen, die Raum für fleißige und lohnende Arbeit geben. (Georg Gallus [F.D.P.]: Aus ganz anderen Ich bin der Auffassung wie Sie, Herr Dr. Feige, daß wir Gründen!) mit diesem Thema natürlich in dieser Frage einen sehr sensiblen Bereich diskutieren. Ich glaube, daß das Gefahrenpotential tatsächlich insbesondere im Grundwasserbereich liegt, wenn Es geht schlechthin um Vertrauen, um das wichtige auch in Thüringen viele Gewässer sehr gut sind. Aber Bindeglied Vertrauen der Gesellschaft gegenüber es gibt Bundesländer, insbesondere auch Mecklen- dem, was die Bauern tagtäglich auf den Tisch bringen burg-Vorpommern, wo es in großen Regionen zu und wofür die Bauern tagtäglich die Verantwortung erheblichen Belastungen mit Pflanzenschutzmitteln tragen. Das ist für mich etwas, was man wie seinen in den Gewässern gekommen ist. Augapfel hüten muß. Da ist es ganz einfach aberwitzig und so einfach nicht hinnehmbar, daß Sie uns, die wir (Zuruf von der F.D.P.: Leider!) natürlich auch für den Ruf der Bauern Verantwortung tragen, an dieser Stelle ausgesprochen oder unausge- Kennen Sie denn ein Verfahren, mit dem man Grund- sprochen unterstellen wollen, wir ließen diese wich- wasser reinigen kann? Selbst wenn wir das Grund- tige Frage außer acht. wasser später sauber bekommen, schaffen wir uns eine Zeitbombe auf viel längere Jahre. Das ist das, was Uns unterscheidet im Grunde genommen nur eines. in der gesamtwirtschaftlichen Konsequenz nicht Sie sagen, das, was an Umweltbelastungen festge- gerechtfertigt ist. stellt würde, sei ein Grund dafür, von vornherein alles abzulehnen. Wir sagen: Natürlich sehen auch wir Damit nicht genug! Hatten wir bei der abschließen- diese Probleme, die mit der Umweltbelastung verbun- den Beratung des Investitionserleichterungsgesetzes den sind; aber bei uns beginnt im Grunde genommen vor Tagen schon das zweifelhafte Vergnügen, daß ein die Verantwortung für das, was die Bauern in der Ministerium ermächtigt wurde, den Wortlaut eines Gesellschaft leisten, damit, daß wir für das Vertrauen Bundestagsbeschlusses zu korrigieren, so erleben wir auf die Bauern eintreten. heute, daß ein Gesetz sogar rückwirkend in Kraft Aus dieser Sicht bitte ich ganz einfach darum, das treten soll. Das hat mit Rechtssicherheit nichts zu nicht so in Bausch und Bogen abzutun und in den tun. Raum zu stellen, als würden wir eine riesengroße Zum Schluß noch ein Wort an die Kollegen der SPD. Sauerei begehen. Wir haben es uns in dieser Bezie- Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie eine hung nicht leichtgemacht. Auch aus den Unterlagen Partei, die sich in Wahlkampfreden dem ökologischen ist das zu erkennen. Umbau verpflichtet, eine solche Umweltsauerei mit- machen kann. Oder hat in seinem *) Anlage 2 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12351

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sind Sie dungskriterium mit zu Rate zu ziehen. Nichts anderes bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten, Herr haben wir getan. Junghanns? Ich meine, Gründlichkeit und Vernunft haben die Entscheidungsvorbereitung insbesondere im Bundes- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Selbstverständlich, tag bestimmt; Gründlichkeit und Vernunft sind auch für Herrn Feige bin ich das. das, was wir als nachdrückliche Erwartung an die Landesämter und Bauern bei der Handhabung dieser Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte helfenden Regelung richten. schön, Herr Abgeordneter Feige. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Junghanns, nehmen Sie mir ab, daß ich nicht mißtrauisch gegenüber den Bauern in den neuen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Bundesländern bin, Damen und Herren, nun können wir zur Abstimmung (Ulrich Junghanns [CDU/CSU]: Aha!) kommen, nämlich zu den Einzelberatungen über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf über sondern gegen diese Verbindungen, die damals in der das Inverkehrbringen und die Anwendung von Pflan- DDR unter teilweise sehr mysteriösen und merkwür- zenschutzmitteln in den neuen Bundesländern. Das digen Bedingungen in ihrer Zusammensetzung her- alles liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/4124 und gestellt wurden, und daß es auch dort erhebliche 12/4367 vor. Qualitätsunterschiede in den Chargen einer und der- selben Verbindung hinsichtlich der Nebenstoffe Zunächst lasse ich über einen Änderungsantrag der geben kann? Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P., der Ihnen auf der Drucksache 12/4456 vorliegt, abstim- men. Wer für diesen Änderungsantrag der drei Frak- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Ihre Frage verstehe tionen ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ich. Ich kann Ihnen sagen, daß hinsichtlich der Mittel, stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Gegen die die heute hier zur Disposition stehen, Überprüfungen Stimme von Herrn Dr. Feige und bei Enthaltung der durchgeführt werden — natürlich mit dem Hinweis PDS/Linke Liste ist dieser Änderungsantrag ange- darauf, daß sie entsprechend verpackt sind, daß auch nommen. ordnungsrechtliche Regelungen damit verbunden werden und so jene Rahmenbedingungen gegeben Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den sind, die die normalen Umstände dafür darstellen, mit Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der soeben Pflanzenschutzmitteln sachgerecht umzugehen. Das beschlossenen Änderung. Wer dem zuzustimmen möchte ich hier ganz einfach — vielleicht auch aus wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — unterschiedlicher Position heraus — betonen. Dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dies in der zweiten Lesung mit den gleichen Mehrheitsverhält- Ich bin der Meinung — damit möchte ich meinen nissen wie der Änderungsantrag angenommen. Wortbeitrag schließen —, daß diese Unterlagen, diese Entscheidungen unsere Zustimmung aus dreierlei Meine Damen und Herren, es wurde fristgerecht Gründen verdienen. beantragt, unmittelbar in die dritte Beratung zu gehen. Ich frage noch einmal, ob das Haus damit Zum ersten sind es wirklich nur unbedenkliche einverstanden ist. — Auch das ist offensichtlich der Mittel, die heute eine Anwendungsverlängerung Fall. Dann kommen wir zur erfahren. Verbotene, verfallene oder auslaufende Prä- parate sind ausgeschlossen. dritten Beratung Zum zweiten. Weil wir — da bin ich für den Hinweis und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem von Frau Weyel sehr dankbar — eine sehr spezielle Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, Situation des Übergangs haben, haben wir diese sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer Regelungen mit Auflagen verbunden, die die Entsor- enthält sich? — Dann ist mit derselben Mehrheit wie in gung verbotener Mittel regeln, ganz einfach um der zweiten Lesung der Gesetzentwurf angenommen sicherzustellen, daß wir über das normale Maß hinaus worden. immer aus einer Gesamtsicht diesen Risiken begeg- Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und nen. Forsten empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfeh- Zum dritten wollen wir eben auch nicht den Unsinn lung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt begehen, daß entsprechend vergleichbare Pflanzen- für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — schutzmittel einerseits vernichtet werden und ande- Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthal- rerseits von demselben Bauern wieder gekauft wer- tung von Dr. Feige und PDS/Linke Liste ist die den müssen. Beschlußempfehlung angenommen. Ich möchte, auch an Ihre Adresse gerichtet, noch Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- einmal mit aller Deutlichkeit feststellen: Wenn ßungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD ansteht, über die Vernichtung eines vergleichsweise und der F.D.P., der Ihnen auf Drucksache 12/4466 unbedenklichen Präparates zu befinden, dann ist es vorliegt. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag auch legitim, ja, notwendig, in einer Gegenüberstel- zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Bei lung die damit verbundenen Kosten und Belastungen Enthaltung der PDS/Linke Liste und des BÜNDNIS- — besonders die Umweltbelastungen der Entsorgung SES 90/DIE GRÜNEN ist dieser Entschließungsantrag des dann Sondermüll Gewordenen — als ein Entschei- angenommen. 12352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Meine Damen und Herren, damit rufe ich den ganz klar sagen, warum diese zur Zeit so billig ist: auf Tagesordnungspunkt 7 auf: Kosten von Menschen und Umwelt, mit über 10 000 Beratung der Beschlußempfehlung und des Toten pro Jahr durch Arbeitsunfälle weltweit und Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Aus- weiträumigen Landschaftszerstörungen beispiels- schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Petra weise in den USA. Wer ja zum billigen Öl und nein zur Bläss, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), teuren heimischen Steinkohle sagt, muß auch ja sagen Dr. Ilja Seifert, Jutta Braband und der Gruppe zu Tankerunfällen und militärischer Ölversorgungssi- der PDS/Linke Liste cherung am Golf. Sicherung des Weiterbetriebs der Zeche Die letzte ESSO-Energieprognose sagt eine Steige- SOPHIA-JACOBA durch finanzielle Sonder- rung des Heizöleinsatzes in den fünf neuen Bundes- hilfen des Bundes — perspektivisch eine volks- ländern von 1 % im Jahre 1990 auf 27 % im Jahre 2010 wirtschaftlich und energiepolitisch sinnvolle voraus. Gerade im Osten könnte die niederflüchtige Maßnahme für die Zukunft Steinkohle von der Sophia Jacoba in schnell installier- — Drucksachen 12/1623, 12/4147 — baren Heizzentralen und Einzelfeuerungen für eine schnelle Reduzierung der Umweltbelastung, auch Berichterstattung: von CO2 sorgen, wenn dies politisch nur gewollt Abgeordneter Volker Jung (Düsseldorf) wird. Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Fünfminuten runde. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: offensichtlich der Fall. Dann erteile ich zunächst der Das können Sie nicht ernst meinen!) Abgeordneten Dagmar Enkelmann das Wort. Stattdessen wird auf 01 und Erdgas gesetzt, weil damit mehr zu verdienen ist. Erdgas wird immer teu- rer und knapper, der Hauptlieferant Rußland hat Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr zunehmend mit technischen und politischen Schwie- Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte rigkeiten zu kämpfen. Die Risiken der Atom- zunächst daran erinnern, daß der Antrag, über den wir energie sind bekannt und hier mehrfach debattiert jetzt sprechen, im November 1991 in den Bundestag- worden. eingebracht wurde, also doch ziemlich l ange Zeit im Parlament verweilte. Wer dies alles billigend in Kauf nimmt oder ausblen- In einer Presseerklärung vom 2. August 1992 fragte det, der kann, wie im Wirtschaftsausschuß geschehen, der SPD-Kollege Niggemeier: „Im Jahr 2000 deutsche in großer Koalition gegen die Sophia Jacoba stimmen. Kohle nur noch eimerweise?", und 1989, vor einer der Mit einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen letzten Kohlerunden, erklärte der damalige VEBA- und ressourcenschonenden Energiepolitik hat dies Vorstandsvorsitzende Bennigsen-Foerder, der gleich- allerdings nichts zu tun. Mit wirtschaft lichem Weit- zeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Ruhrkohle AG blick auch nicht. Der Welthandelspreis für Steinkohle war: „Wir müssen dafür sorgen, daß uns die deutsche wird außerdem durch Dumping künstlich niedrig Steinkohle nicht unter den Händen wegstirbt." Diese gehalten — von Südafrika und den vier großen im Worte können nur jemanden beeindrucken, der nicht Weltsteinkohlehandel tätigen Mineralölmultis. Im- weiß, daß die Preußen-Elektra, ebenfalls zum VEBA- portkohle würde sofort teurer, wenn große Teile des Konzern gehörend, einen Atomstromanteil von 70 % EG-Steinkohlebergbaus stillgelegt würden, wie die hat. Darüber hinaus ist die VEBA auch im Mineralöl-, britische Bergarbeitergewerkschaft nachgewiesen Erdgas- und Importkohlehandel tätig. hat. Scheinheiligkeit ist symptomatisch für die Diskus- In modernen, umweltfreundlichen Heizkraftwer- sion um die heimische Steinkohle. Immerhin jedes ken mit Kraft-Wärme-Koppelung muß auch die hei- 1 300-Megawatt-Atomkraftwerk ersetzt die Jahres- mische Steinkohle ihren Platz haben. So eingesetzt, förderung einer Schachtanlage. kann sie Atomstrom preislich unterbieten. Die Salamitaktik, nach der der Steinkohlebergbau Energieversorger, Stadtwerke und Indus trie in den abgewickelt wird, hat System. Die Ruhrkohle AG, neuen Bundesländern müssen umgehend Zugang zu mehrheitlich im Besitz von VEBA und VEW, ist verbilligter Steinkohle aus dem Jahrhundertvertrag mittlerweile zur „Treuhandanstalt des Steinkohlen- erhalten. Die großen westdeutschen Elektrizitätsun- bergbaus" verkommen. Abwickeln und Dichtmachen- ternehmen müssen ihren Verpflichtungen aus der ist ihre Aufgabe. Aktuell sollen nun Haus Aden und Verstromung heimischer Steinkohle auch im Osten Monopol in Bergkamen dran glauben. Die großen nachkommen. Es kann nicht angehen, daß ein durch Energiekonzerne achten peinlich darauf, daß es in der den Jahrhundertvertragspartner Preußen-Elektra in Bundesrepublik keine eigenständige Steinkohlepoli- Rostock errichtetes Heizkraftwerk mit Importkohle tik gibt. Dies wäre ja auch „nur" im Interesse der betrieben wird und die Menschen der Region Heins Menschen in den Revieren und gesamtgesellschaft- berg auf der Strecke bleiben. lich sinnvoll, verdirbt aber den großen Energiekon- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. zernen die Import- und Atomenergiegewinnbilan- zen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Natürlich ist die heimische Steinkohle teuer. Der hohe Preis spiegelt allerdings noch am ehesten die realen gesamtgesellschaftlichen Kosten der Energie- nutzung wider. Bekanntlich ist Energie viel zu billig. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Wer zur billigen Nicht-EG-Kohle ja sagt, sollte auch nunmehr dem Abgeordneten Dr. Karl Fell das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12353

Dr. Karl H. Fell (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Umstrukturierung zu beteiligen. Wir haben das jetzt Damen und Herren! Der Antrag, Frau Kollegin Enkel- dahin verändert, daß Sophia Jacoba mit ihren Mög- mann, war und ist ein Schauantrag. lichkeiten am Umbau in der Region mitwirken (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: So kann. ist es!) Wir von der CDU/CSU-Fraktion bleiben bei der Ablehnung dieses Antrages, weil wir für eine ökono- Er hat in der Sache überhaupt nichts bewirkt. Das hat misch, volkswirtschaftlich und energiepolitisch ver- sich am deutlichsten darin ausgedrückt, daß im feder- nünftige Lösung sind und gerade diese Perspektive führenden Wirtschaftsausschuß über den Antrag bei aus Gründen der Wahrhaftigkeit für richtig halten. Abwesenheit der Vertreter Ihrer Gruppe beraten wurde. Sie haben sich überhaupt nicht für die Sach- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auseinandersetzung interessiert. Wenn ich die in der ersten Lesung mit viel Engagement vorgetragene Rede Ihres Kollegen Briefs noch im Ohr habe, dann bin Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ich geneigt, zu sagen: Das war „B riefs tönende hat nunmehr der Abgeordnete Christoph Zöpel. Wochenschau". Aber das hatte nichts mit den Sach- problemen zu tun. Dr. Christoph Zöpel (SPD): Herr Präsident! Meine In der Sache haben wir in der Zwischenzeit dreierlei Damen und Herren! Diese Debatte um die Vergan- festzustellen: genheit und Zukunft eines konkreten Steinkohleberg- Erstens. Es ist intellektuell unredlich, den Men- werks mit hervorragender Anthrazitkohle — damit schen in der Region Heinsberg bei Sophia Jacoba eine Sie, Herr Kollege Dr. Weng, aus dieser Debatte etwas Chance auf Fortbestand vorzugaukeln, wenn fest- mitnehmen — be trachten wir jetzt unter dem steht, daß die Fördermengen bei der Steinkohle Gesichtspunkt: Wie glaubwürdig sind Anträge? Ich wegen der Einbindung in die EG abgebaut werden will das erweitern: Wie glaubwürdig sind politische müssen, und wenn man weiß — und das wissen auch Aussagen? Sie —, daß gerade bei Sophia Jacoba nun einmal die Ich kann Herrn Kollegen Fell nicht ganz widerspre- höchsten Förderkosten für Steinkohle ausgelöst wer- chen, daß der Realitätsbezug dieses Antrags nicht sehr den können. groß ist. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Er geht gegen Und die brennt nicht einmal richtig!) Null!) — Ja, gut, das ist niederflüchtige Kohle, sie ist sehr Wir alle sollten uns vornehmen, unsere Anträge mit wertvoll, Sie können sie nur nicht nach Belieben einem gewissen Realitätsbezug zu versehen. Sonst irgendwo einsetzen. könnte die Vertrauenskrise, die es derzeit im Zusam- menhang mit politischem Handeln gibt, verschärft Wir haben zweitens in der Zwischenzeit erreicht, werden. daß Sophia Jacoba bis 1997 fortbestehen wird. Das war nach den EG-Rahmenbedingungen nicht sicher- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gestellt. Wir haben es erreicht, und damit haben wir F.D.P.) die Zeit gewonnen, die wir für die Umstrukturierung Aber dieser Maßstab, Herr Kollege Fell, ist, glaube brauchen. Die Umstrukturierung, Frau Kollegin ich, an alles anzulegen, was in diesem Zusammen- Enkelmann, eine Perspektive für die Menschen, aber hang geschehen ist. nicht ein leeres Versprechen, das keiner von uns zu Als der Antrag eingebracht wurde, habe ich einige vernünftigen Bedingungen einzuhalten in der Lage kritische Bemerkungen über die verbalen Ausführun- ist. gen des damaligen Bundeswirtschaftsministers ge- (Beifall bei der F.D.P.) macht, die weder glaubwürdig, noch realitätsbezo- gen, noch verantwortungsvoll waren. Das dritte. Wir haben in den zurückliegenden Monaten an der Umstrukturierung entscheidend (Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Aber wir haben gearbeitet. Wir haben nämlich einmal — ich sage: es ja korrigiert! — Weitere Zurufe von der dankenswerterweise — gemeinsam mit der Landesre- CDU/CSU) gierung Nordrhein-Westfalen erreicht, daß die A 46, — Da wäre ich sehr vorsichtig, mir in diesem Zusam- die Autobahn, die die Verkehrsinfrastruktur für die menhang zu unterstellen, daß ich jemals etwas gesagt Region Heinsberg wesentlich verbessern wird und hätte, wo Sie mir jetzt vorführen könnten, daß das damit Marktchancen und Standortchancen für Inve- keinen Realitätsbezug hätte. stitionen eröffnet, schneller und wirksamer, weil vier- Wir haben um jedes Jahr des Überlebens von spurig, weitergebaut wird. Sophia Jacoba gekämpft; der Zeitraum bis 1997 ist (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: kurz. Wir wollten das Auslaufen flankieren und die Krause läßt grüßen!) Voraussetzung dafür schaffen, daß das Fortbestehen Wir haben zweitens in den Diskussionen des Wirt- bis 1997 erreicht werden kann. Nur wenn die Ankün- schaftsausschusses mit dem Ministerium erreicht, daß digungen in Übereinstimmung mit dem sind, was der Bescheid des Ministeriums für die Stillegung 1997, nachher passiert, kann ein Vertrauen in politisches für die Strukturhilfen, die dazu gegeben wurden, in Reden und Handeln zurückgewonnen werden. einem entscheidenden Punkt verbessert worden ist. Ich will das nicht allein den Parteien zuordnen. Sophia Jacoba war nämlich ursprünglich verboten Wenn Sie, Herr Kollege Fell — dem ist hier nicht zu worden, sich mit ihren Möglichkeiten aktiv an der widersprechen — den Ende Dezember ergangenen 12354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Christoph Zöpel Zuwendungsbescheid an Sophia Jacoba als einen ist zumindest durch das Konzept des Bundesfinanzmi- Erfolg des Parlaments darstellen, ist das richtig. Den- nisters über das Föderale Konsolidierungsprogramm noch bleibt die Frage offen, warum Administrationen, mit der Ankündigung des Rückzugs des Bundes aus von wem auch immer geleitet, so lange brauchen, um dem öffentlichen Nahverkehr mehr als gefährdet einen Zuwendungsbescheid zu erteilen, nachdem ihr worden. In der Forschungs- und Technologiepolitik ist Minister vorher die betroffene Zeche aufgefordert hat, ebenfalls nichts geschehen. aktiv am Umstrukturierungsprozeß mitzuwirken. Also, in der Gemeinsamkeit, in der das Parlament (Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Dann lesen hier die Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns wie- Sie einmal die „Wochenpost" ! Da steht es derherstellen möchte, wäre es für alle Kohleregionen drin!) sinnvoll, wenn die Bundesregierung nun sehr schnell diese Zusagen in Ziffer 8 der Kohlevereinbarung — Da sehen Sie einmal, wie vorsichtig ich heute bin. einlösen würde. Die SPD-Fraktion wird in einer ent- Ich frage mich, egal, welcher Partei der Minister sprechenden Anfrage die Bundesregierung zusätzlich angehört, warum Administrationen so lange brau- zu dem, was ich hier sage, in höflicher Form daran chen. erinnern. (Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Das war auch Herzlichen Dank. ganz allgemein bemerkt!) (Beifall bei der SPD) Ich sage das auch deshalb, weil zu denen, die aus der derzeitigen Kritik am öffentlichen Handeln weit- gehend ausgeschlossen sind, eigenartigerweise die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Bürokratien gehören. Die Frage, ob es hier nicht ein nunmehr dem Abgeordneten Klaus Beckmann das eigenartiges Bündnis von Presse und Bürokratien Wort. gegen gewählte Politiker gibt, läßt sich auch am Fall Sophia Jacoba exemplifizieren. Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der SPD — Dr. Karl H. Fell sehr verehrten Damen! Meine Herren! Angesichts der [CDU/CSU]: Aber, Herr Zöpel, das wissen Tatsache, daß die Gruppe PDS/Linke Liste der Verfol- Sie doch am besten aus Ihrer eigenen Zeit als gung ihres Antrages in der parlamentarischen Ressortchef!) Behandlung desselben bisher kaum Aufmerksamkeit — Was meinen Sie, warum ich so rede? schenkt, erlaube ich mir, mich kurzzufassen, Frau Dr. Enkelmann. (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und Ganz offensichtig handelt es sich hierbei nämlich der F.D.P.) um eine Schaufensterveranstaltung, die ausschließ- Ich habe doch Herrn Kollegen Möllemann nur wegen lich dazu geeignet ist, dem Deutschen Bundestag und seiner Reden im Kreis Heinsberg kritisiert und nicht seinen Mitgliedern hier die Zeit zu stehlen. Die deswegen. Kumpels von Sophia Jacoba, ihre Angehörigen und Nächster Punkt. Es ist angekündigt worden, daß die die Menschen in der Region Hückelhoven/Heinsberg EG-rechtliche Absicherung der Vereinbarung, der müssen wissen, daß es die PDS/Linke Liste weder bei Ergebnisse der Kohlerunde vom November 1991, den Beratungen dieses Antrages im Haushaltsaus- schnell eingeholt werden sollte; das ist bis heute nicht schuß im Dezember 1991 noch im Wirtschaftsaus- gelungen. schuß im Juni 1992 für nötig gehalten hat, sich für ihr angebliches Anliegen in diesen Ausschüssen einzu- Wir fragen uns zur Zeit: Wer ist für diese EG- setzen. Ihre Abgeordneten glänzten in diesen Sitzun- Verdrossenheit verantwortlich, die Mitglieder des gen durch Abwesenheit. Ministerrats, also die nationalen Regierungen, oder Mit Ihren sehr allgemein gehaltenen Ausführungen die Kommission? Ich sage an dieser Stelle deutlich: soeben zur Energiepolitik versuchen Sie, hierüber Die bürgerfernen Kommissare, die ihre Zustimmung verweigern, werden zunehmend zu einem Demokra- hinwegzutäuschen. Sie versuchen, die Kumpels mit tierisiko für Europa. Das läßt sich auch an diesem Potemkinschen Dörfern zu täuschen. Damit stehen Sie wirklich tadellos in der Nachfolge der Partei, die Beispiel exemplifizieren. 40 Jahre lang die Menschen in der DDR über die Allerdings — es tut mir leid — muß auch die Realitäten getäuscht hat. Bundesregierung angesprochen werden. Sie hat in Ich will hier gleichwohl hervorheben, daß der Deut- Ziffer 8 der Kohlevereinbarung zwei Dinge angespro- sche Bundestag und insbesondere die Bundesregie- chen: rung die Beschäftigten von Sophia Jacoba, ihre Ange- Erstens. Sie wollte zusätzliche Haushaltsmittel für hörigen und die Region in der Zukunft mit ihren die Gemeinschaftsaufgabe einstellen. Sie hat es Problemen nicht alleinlassen werden. Ich darf daran getan. erinnern, daß die öffentliche H and dem Unternehmen Sie hat aber als zweites zugesagt, sie würde im nach dem Beschluß des Aufsichtsrats über die Stille- Bereich der Verkehrspolitik, der Forschungs- und gung der Kohleförderung bis 1997 zum Ausgleich der Technologiepolitik und der Stadtentwicklung stüt- damit verbundenen Belastungen für die Bilanz 1991 zend tätig werden. Es bleibt festzuhalten: Auf diesen eine Zuwendung von 314 Millionen DM rechtlich Gebieten ist bisher nichts passiert. Im Gegenteil: Die bindend zugesagt hat. Städtebauförderung ist eingestellt und damit diese Nach Erarbeitung eines Umstrukturierungskon- Zusage aufgehoben worden. Die Möglichkeit, den zepts im Verlauf des Jahres 1992 und mit Unterstüt- öffentlichen Nahverkehr in der Region zu verbessern, zung der Abgeordneten des Ausschusses für Wirt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12355

Klaus Beckmann schaft des Deutschen Bundestages — ich erinnere nur Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 und an das Zusammenwirken von Herrn Dr. Fell von der den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf: CDU/CSU-Fraktion mit Herrn Kollegen Jung und der 9. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- Bundesregierung, die zu vertreten ich seinerzeit die ten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung Ehre hatte — wurde seitens des Bundeswirtschaftsmi- des Abwasserabgabengesetzes nisteriums ein Änderungsbescheid erteilt, der inzwi- schen vom Unternehmen akzeptiert worden ist. Die- — Drucksache 12/4272 — ses Konzept trägt den Zielen von Sophia Jacoba Überweisungsvorschlag: Rechnung und fördert den Umstrukturierungsprozeß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in dieser Region. (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Insofern ist natürlich die heutige Debatte überholt. ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gleichwohl wollte ich gerne noch einmal hervorhe- Susanne Kastner, Dr. Uwe Küster, Dr. Helga ben, daß es die verantwortungsbewußten Teile dieses Otto, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Parlaments gewesen sind, die in den vergangenen der SPD Monaten für einen sicheren Handlungsrahmen zugunsten der Mitarbeiter von Sophia Jacoba und der Bericht an die EG-Kommission fiber Sanie- Region gesorgt haben. rungspläne für Oberflächenwasser, Grund- wasser und Trinkwasser in den neuen Bundes- Vielen Dank. ländern (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Drucksache 12/4404 — Überweisungsvorschlag: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Damen und Herren, da der Parlamentarische Staats- (federführend) sekretär Göhner dankenswerterweise seine Rede zu Ausschuß für Gesundheit Protokoll gegeben hat,*) kann ich nunmehr über die Interfraktionelle Vereinbarung ist, für die Aus- Beschlußempfehlungen des Ausschusses abstimmen sprache eine halbe Stunde vorzusehen. Ist das Haus lassen. damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt, den Antrag Fall. der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1623 abzulehnen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses Ich erteile das Wort der Abgeordneten Frau folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer Susanne Kastner. Frau Abgeordnete, Sie haben das stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist Wort. diese Empfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU bei unterschiedlichem Stimmverhalten der SPD-Fraktion Susanne Kastner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- und Ablehnung der PDS/Linke Liste angenommen leginnen und Kollegen! Heute beraten wir in erster worden. Lesung eine Novelle zum Abwasserabgabengesetz, die formal auf einem Gesetzentwurf des Bundesrates Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesord- bzw. des Freistaates Baye rn, in Wirklichkeit aber auf nungspunkt 8 auf: einem Kabinettsbeschluß der Bundesregierung ba- Beratung des Antrags der Abgeordneten siert. Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, Angelika Umweltminister Töpfer hat diese Novelle mit den Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Schlagworten „zusätzliche Investitionserleichterung der SPD für die neuen Länder" und „Anreizwirkung für EG-Fernsehrichtlinie — Schutz von Minder- Gewässerschutzmaßnahmen" in der Öffentlichkeit jährigen verkauft. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist — Drucksache 12/4325 — leider wieder einmal ein Etikettenschwindel des Überweisungsvorschlag: Umweltministers. Ausschuß für Frauen und Jugend (federführend) (Dr. Peter Struck [SPD]: Wie immer!) Innenausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Schaut man sich nämlich die Vorschläge zur Ände- EG-Ausschuß rung des Abwasserabgabengesetzes genauer an, muß Zunächst einmal kann ich dem Haus mitteilen, daß man feststellen, daß in Wirklichkeit eine weitere die Abgeordneten Frau Dr. Edith Niehuis, Claudia Abschwächung der Anreizwirkung der Abwasserab- Nolte, Petra Bläss, Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink gaben beabsichtigt ist. Auch die „zusätzlichen Inve- und Konrad Weiß ihre Reden zu Protokoll gegeben stitionserleichterungen für die neuen Länder" sind haben.**) Die Frau Staatssekretärin möchte ebenfalls äußerst fragwürdig. nicht reden, so daß uns keine Wortmeldung mehr zu diesem Tagesordnungspunkt vorliegt. Damit kann ich Die Kommunen in den neuen und den alten Län- die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache dern müssen auf Grund des Wasserhaushaltsgesetzes 12/4325 an die in der Tagesordnung aufgeführten und der EG-Richtlinien zur Behandlung kommunaler Ausschüsse beschließen lassen. Ist das Haus damit Abwässer die notwendigen Käranlagen bauen und einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. dem Stand der Technik entsprechend modernisieren. Die Umlage der Kosten für die notwendigsten Investi- *) Anlage 3 tionen in den Trinkwasserschutzgebieten der neuen **) Anlage 4 Länder betragen schon heute über 10 Milliarden DM. 12356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Susanne Kastner Die Kommunen können dies bei den bestehenden Abgabensätze und die Einbeziehung der Indirektein- Finanzproblemen nicht mehr leisten, und eine leiter waren zwei wichtige Forderungen. Jetzt schlägt Umlage auf die Bürger würde zu völlig urakzeptablen der Umweltminister vor, statt der beschlossenen Abwassergebühren führen. Anhebung des Abgabensatzes alle zwei Jahre um 10 DM nur noch 1997 einmal auf 70 DM anzuhe- (Beifall bei der SPD) ben. Aber darüber haben wir bereits in einer der letzten (Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Sehr ver Debatten ausführlich geredet. nünftig!) Die Finanzprobleme der Kommunen werden durch — Nein, das ist nicht vernünftig. Die Verrechnungs- diese Novelle aber nicht gelöst. Eine weitere Verwäs- möglichkeiten und die Regelungen zur Ermäßigung serung des Abwasserabgabengesetzes geht zu Lasten der Abgaben sollen nämlich ausgeweitet werden, so des Gewässerschutzes, da die wirtschaft lichen An- daß abzusehen ist, daß überhaupt keine Abgabe mehr reize für über gesetzliche Anforderungen hinausge- bezahlt werden muß. hende gesetzliche Gewässerschutzinvestitionen wei- ter abgeschwächt werden. Angesichts des riesigen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kein Realitätsbe Investitionsbedarfs in den neuen Bundesländern im wußtsein!) Abwasserbereich habe ich vollstes Verständnis dafür, Das wäre ja erwünscht, wenn keine oder nur stark daß sich der sächsische Umweltminister, Vaatz, verminderte Schadstofffrachten in die Flüsse gelan- Gedanken darüber macht, wie diese Summen denn gen — aber bitte doch erst dann. So weit sind wir heute nun aufzubringen sind. Die Argumentation seiner noch nicht. Sprecherin im Dresdener Umweltministerium, Bar- bara Hintzen, ist allerdings ein Schlag ins Gesicht (Ottmar Schreiner [SPD]: Das verstehen die einer vorbeugenden Umweltpolitik. Wenn diese nicht!) Dame nämlich von „Luxusinvestitionen" in West- Die stufenweise Anhebung, alle zwei Jahre um deutschland redet, tut sie dies entweder aus Unwis- 10 DM, war schon bei ihrer Verabschiedung ein senheit über den tatsächlichen Stand der Verschmut- Kompromiß zu der Forderung der SPD nach einer zung unserer Flüsse oder vielleicht auch aus takti-- stärkeren Anhebung des Abgabesatzes. Wenn wir schen Überlegungen. jetzt diese stufenweise Anhebung abschaffen und nur (Dr. Peter S truck [SPD]: Sehr wahr!) noch eine einmalige Anhebung auf 70 DM 1997 beschließen sollten, ist die Anreizwirkung für Unter- Man muß ihr und anderen noch einmal deutlich nehmen und Kommunen, zu investieren, um mög- sagen, daß die dritte Reinigungsstufe Phosphate und lichst wenig Schadstoffe einzuleiten, weg. Nitrate aus dem Abwasser entfernen soll. Diese Sub- stanzen im Wasser hatten und haben, wie jeder hier (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Was machen denn hoffentlich weiß, die Algenpest zur Folge und diese — die SPD-regierten Länder?) wie vielleicht ebenfalls bekannt ist — z. B. das Rob- — Darauf komme ich nachher noch zu sprechen, Herr bensterben in der Nordsee. Grünbeck. Nun kann und muß man ja über Verbesserungen Der Vorschlag zur Änderung der Ermäßigungsre- des Abwasserabgabengesetzes diskutieren. So ein- gelung bedeutet eine Vereinfachung der Berechnung fach aber, wie es sich Herr Vaatz als Verantwortlicher und kann von uns mitgetragen werden. Sie sehen, in Sachen Umwelt in Sachsen macht, geht es nun Herr Grünbeck, wir sind hier gar nicht so sperrig, wie leider nicht. Denn Herr Vaatz sprach sich gestern für Sie im Augenblick tun. eine fünfjährige Aussetzung der - Umweltnorm für EG (Dr. Peter Struck [SPD]: Herr Grünbeck ist das Trinkwasser aus und forderte, die Höhe der nur uneinsichtig!) Abwasserabgabe nicht mehr an Menge und Art ein- geleiteter Schadstoffe zu binden, sondern statt dessen Schwierig wird es beim dritten Punkt. Hier soll eine Pauschalabgabe von einer Mark pro Kubikmeter nämlich die 20%ige Minderungsrate aus dem § 10 Abwasser einzuführen. Abs. 3 als Voraussetzung für die Verrechnungsfähig- keit von Investitionen nicht mehr auf das Gesamtab- (V o r s i t z: Vizepräsidentin Renate Schmidt) wasser bezogen werden, sondern auf Teilabwasser In der Tat klingt das vielleicht für viele, auch gerade- ströme. Das könnte bei den Einleitern dazu führen, für die westlichen Kommunen, sehr verführerisch, daß beim Gesamtabwasser nur minimale oder keine klagen sie doch angesichts der mangelnden Finanz- Reinigungseffekte mehr erzielt werden. Das können mittel sehr über die zunehmende Gebühren- und und wollen wir aus den eingangs von mir erwähnten Abgabenbelastung der Bevölkerung. Eine Ausset- Gründen nicht mitmachen. Zusätzlich müssen wir zung der gesetzlichen Anforderungen des Gewässer- aber auch noch — hoffentlich gemeinsam — in einer schutzes kommt für die SPD aber nicht in Frage; Anhörung klären, was die Abkehr von dem Maß- stab „Schadeinheit" zu dem Maßstab „Schadstoff- (Beifall bei der SPD) fracht" bedeutet. denn alles, was wir heute umweltpolitisch verwässern, Notwendig ist nach unserer Meinung auf jeden Fall müssen unsere Kinder in zwei- und dreifacher Höhe auch eine prozentuale Festlegung für die Minderung zahlen. der Gesamtschadstofffracht, um das Ziel, durch Klä- Die SPD hat sich bei der letzten Novellierung 1990 rung der Teilströme gleichzeitig Verbesserungen in für weitgehende Änderungen zur Verbesserung der der Gesamteinleitung zu erreichen, durchzusetzen. Wirkung dieses Gesetzes ausgesprochen. Höhere Wenn wir allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12357

Susanne Kastner die Kanalbauinvestitionen, also das, was Firmen und Kommunen auf das Schwachsinnsargument der soge- Kommunen in neue Rohrleitungsnetze investieren, in nannten „Luxusinvestitionen" zurückziehen. Das ist die Abwasserabgabe einbeziehen, wird es keine Ein- eigentlich das Fazit des Durchdenkens des Herrn nahmen mehr aus der Abwasserabgabe geben, und — Stoiber: daß sie nicht mehr den Umweltschutz im was noch schlimmer ist — dadurch wird kaum ein Auge haben, sondern sagen, jede Investition wäre Rückgang, vielmehr eine Erhöhung bei den eingelei- eine „Luxusinvestition". teten Schadstoffen erzielt. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nein, nein, (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Das ist übertrie nein!) ben!) Dadurch können die ostdeutschen Kommunen not- Das kann ja wohl nicht im Sinne einer Novellierung wendige Investitionen nicht tätigen, und so wird die sein. Sanierung der Elbe und der Ostsee, des Rheins und der Nordsee weiter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist wahr!) verschoben. Für einen grundsätzlich positiven Ansatz, der ein (Dr. Peter Struck [SPD]: Wohl wahr!) gewisser Investitionsanreiz für westdeutsche Firmen Das würde mittel- und langfristig nicht nur zu Lasten sein könnte, halten wir die vorgeschlagene Kompen- unser aller Gesundheit gehen, sondern auch sehr viel sationsregelung. Diese Regelung wäre eine Möglich- teurer, wenn überhaupt noch bezahlbar, werden. keit, z. B. auch im Sinne des sächsischen Umweltmi- nisters, Gelder für die notwendigen Sanierungen in Ich jedenfalls, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Ostdeutschland freizumachen. Wenn westdeutsche Sie sicher auch, möchte mit meinen Enkelkindern Firmen ihre Investitionen in den neuen Ländern mit noch in der Nord- und Ostsee baden können. Dazu der Abwasserabgabe verrechnen können, ist das für sind wir heute in der Verantwortung, die notwendigen diese Unternehmen sicher ein interessanter und luk- Schritte zu unternehmen. rativer Aspekt. Ich kann mir allerdings nicht vorstel- Ich danke. len, daß westdeutsche Kommunen zu ähnlichen Inve- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke stitionen in der Lage sein werden. Auch aus diesem - Liste) Grund bin ich fest davon überzeugt, daß diese Novel- lierung ein untaugliches Mittel zur Unterstützung der Kommunen ist. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat der Kollege Professor Norbert Rieder das Wort. (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Eine am Stand der Technik orientierte Abwasser- reinigung ist eines der notwendigsten Ziele in West- Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! und Ostdeutschland, um unser wichtigstes Lebensmit- Meine Damen und Herren! Der Ansatz der Bundes- tel, das Wasser, sauber zu erhalten und Flüsse sowie länder zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes Nord- und Ostsee zu sanieren. Aus diesem Grund durch eine Erweiterung der Kompensationsmöglich- fordern wir die Bundesregierung und alle Bundeslän- keiten ist hervorragend, vor allen Dingen, da sich der auf, die Finanzprobleme der Kommunen durch gezeigt hat, daß ein akuter Handlungsbedarf u. a. ausreichende Zuweisungen im Abwasserbereich zu auch am Kanalnetz besteht, das in sehr vielen Fällen lösen. so marode ist, daß durch Undichtigkeiten größere Umweltschäden entstehen als durch nicht ganz opti- Gleichzeitig muß der Bund befristet auch die Inve- mierte Kläranlagen. stitionsbedürfnisse der ostdeutschen Kommunen positiv begleiten — in der Vergangenheit haben Sie (Susanne Kastner [SPD]: Das ist eine Behaup sich in dieser Frage ja immer verweigert —, tung, die nicht beweisbar ist!) — Die ist sehr gut beweisbar; wir gehen mal zusam- (Beifall bei der SPD) men in den Kanal rein. sei es durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm oder (Zuruf von der SPD: Das könnte Ihnen so durch die befristete Weiterführung des Programms passen!) „Aufschwung Ost". Trotz dieses erkannten Mißstandes ist es allerdings Streichungen, wie sie z. B. auch der bayerische richtig,- nach wie vor den Schwerpunkt auf den Klär- Innenminister Stoiber in dem immer noch reichen anlagenbau zu legen, weshalb der Vorschlag der Bayern im Abwasserbereich angekündigt hat, Länder, andere Anlagen als Kläranlagen nur zur (Dr. Peter Struck [SPD]: Immer der Stoi Hälfte anrechenbar zu machen, ohne Zweifel der ber!) Situation genau gerecht wird. führen dazu, daß der Bürger mit Recht sauer auf die Die Praxis der letzten Jahre hat allerdings gezeigt, steigenden Gebühren ist. daß darüber hinaus weitere Änderungen des Abwas- serabgabengesetzes durchaus sinnvoll wären, von (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der Stoiber hat denen ich einige etwas genauer beleuchten möchte. das genau durchdacht! Er hat ein gutes So wäre es sicherlich empfehlenswert, den Abgabe- Konzept! — Ottmar Schreiner [SPD]: Amigo satz für die Restverschmutzung nicht so schnell und Stoiber!) nicht so hart zu steigern, wie ursprünglich vorgese- — Ja, ich bin überzeugt, daß der Herr Stoiber das hen. genau durchdacht hat, aber nicht im Sinne des Bür- (Susanne Kastner [SPD]: Das ist gerade gers. — Das führt dazu, daß sich die westdeutschen falsch!) 12358 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Dr. Norbert Rieder Die Festsetzung der richtigen Höhe eines Abgaben- Punkt den Vorschlag der Bundesregierung ernsthaft satzes ist ja bekanntlich nicht ganz leicht. Letztlich in Erwägung zu ziehen. handelt es sich immer um eine Gratwanderung. Ist der Ganz ähnlich übrigens ist die Situation beim bishe- Satz zu hoch, kommt es zu einer unerwünschten rigen § 10 Abs. 3, nach dem eine Absenkung um Knebelung bzw. zur Geldschöpfung an der falschen mindestens 20 % von einer vorhandenen Verschmut- Stelle. Das Geld fehlt dann für notwendige Investitio- zung gegeben sein muß, um zu einer Verminderung nen an anderer Stelle. Ist der Abgabensatz dagegen zu der finanziellen Belastung zu kommen. Solch starke niedrig, hat er keine oder keine ausreichende Len- Absenkungen sind in der Regel nur dann leicht zu kungswirkung. erreichen, wenn noch ein sehr großes Absenkungspo- Ähnliche Effekte ergeben sich auch bei nicht richtig tential vorhanden ist. Je näher sich aber eine Anlage angepaßter Steigerung des Abgabensatzes. Ist die dem optimalen Wirkungsgrad nähert, um so kleiner Steigerung zu schnell, ergibt sich ein Zwang zur jetzt werden die erreichbaren Fortschritte. Deshalb ist auch schon machbaren, aber in der Regel zweitbesten hier der Vorschlag der Bundesregierung sehr zu Lösung, während solche Techniken, die sich gerade in begrüßen, der Entwicklung befinden, nicht zum Zuge kommen. (Susanne Kastner [SPD]: Dann müssen sie Ist die Steigerung dagegen zu langsam, gibt es keinen keine Abwasserabgabe mehr bezahlen!) Anreiz mehr für schnelle Innovationen. Deshalb sind auch Teilströme zu betrachten und Verbesserungen in alle Abgaben genau zu beobachten und ständig auf Teilströmen anrechenbar zu machen. ihre Wirkung hin zu kontrollieren. Das ist aber ein ganz wichtiger Schritt hin zur (Susanne Kastner [SPD]: Das hat die Bundes Betrachtung der letztlich einzig entscheidenden regierung nicht gemacht!) Gesamtfracht, die ja, so bald ein kritisches Konzentra- Flexibilität ist notwendig, um notfalls nachkorrigie- tionsniveau unterschritten ist, für die Ökologie der ren zu können. Gewässer viel entscheidender ist als die Konzentra- tion. (Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Norbert, das ist Damit bietet sich aber auch an, einen weiteren, an für die zu kompliziert!) sich logischen Schritt in den Beratungen in den — Ach, sie kapiert es schon. Ausschüssen genauestens zu überprüfen und zu über- Die ideal konstruierte Abgabe — diese Bemerkung legen, ob er bereits gegangen werden kann, nämlich Damit ist gemeint, daß sei mir erlaubt — erledigt sich übrigens nach Errei- die sogenannte Meßlösung. chen ihres Zieles von selbst: Die Abgabe geht dann nicht die im Bescheid genehmigte Konzentration, sondern die durch entsprechende Messungen nach- gegen Null. gewiesene tatsächliche Fracht den Berechnungen (Ottmar Schreiner [SPD]: Nachts ist es dunk- zugrunde gelegt wird. ler als draußen!) (Susanne Kastner [SPD]: Dann fragen Sie Bei der Restverschmutzungsabgabe hat es sich nun Ihre Kommunalpolitiker!) gezeigt, daß die derzeitige Höhe völlig ausreicht. Eine Diese Meßlösung, die in der Vergangenheit schon Steigerung ist deshalb nicht bzw. nicht so schnell häufiger diskutiert worden ist, u. a. aber an den nötig, wie ursprünglich geplant. Wer die derzeitigen damaligen meßtechnischen Schwierigkeiten geschei- technischen Entwicklungen etwas verfolgt hat, wird tert ist, sollte ausführlich diskutiert und auf ihre bestätigen können, daß derzeit verschiedene, sehr Realisierbarkeit hin überprüft werden. Denn zumin- erfolgversprechende Lösungsansätze für bessere und dest in Teilbereichen scheint sie heute — anders als preiswertere Anlagen zur Verringerung der Restver- noch vor wenigen Jahren — von der Meßtechnik her schmutzung vorhanden sind, machbar und könnte deshalb bei richtiger Ausgestal- (Susanne Kastner [SPD]: Technik statt tung zu einer weiteren Verbesserung des ökologi- Grundwasserschutz! Das holt euch noch schen Zustands unserer Gewässer führen und gleich- ein!) zeitig den Anstoß zu technischen Neuerungen sowohl bei der Meßtechnik als auch bei den Anlagen geben. die allerdings noch etwas Zeit zur Reife brauchen. Allerdings muß sie so ausgestaltet sein, daß sie wirk- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Denken Sie an Ihre lich den eben genannten Anforderungen genügt und - Enkelkinder! — Nichts Nordsee!) nicht als billigere Variante eingesetzt wird, um Gebühren zu sparen. — Ja, die schaffen es noch, die Enkelkinder. Vielen Dank. Eine mittlere Doktorarbeit — und auch in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bereich sind Doktorarbeiten ein wesentlicher Motor der Entwicklung — dauert nun einmal drei Jahre. Dieses Zeitraster sollte man, möglichst multipliziert Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- mit zwei, zum Maßstab des Handelns nehmen, wenn lege Josef Grünbeck das Wort. nicht gerade eine akute Notlage vorliegt. Sie liegt trotz aller wünschenswerten und auf Dauer auch notwendigen Verbesserungen bei der Restverschmut- Josef Grünbeck (F.D.P.): Verehrte Frau Präsidentin! zung derzeit wahrlich nicht vor. Deshalb kann man Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für die auch hier wie in so vielen anderen Fällen die klassi- bisher sachlich verlaufene Diskussion. Worum geht sche Grenznutzen-, Grenzkosten-Betrachtung anstel- es? Der Bundesrat schlägt als Neuregelung im Abwas- len. Das spricht meines Erachtens dafür, in diesem serabgabengesetz vor, daß künftig auch die Kosten für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12359

Josef Grünbeck den Bau oder die Erweiterung von Kanalisationen mit auch des Oberflächenwassers be trifft. Gemäß der der Abwasserabgabe verrechnet werden können. Das Vereinbarung mit der EG werden die Dinge bis Ende ist eine sehr wichtige Entscheidung. März vorgelegt werden können. Darüber hinaus schlägt die Bundesregierung vor, (Susanne Kastner [SPD]: Das habt ihr schon eine Verrechnungsmöglichkeit für Investitionen in einmal gemacht, und dann habt ihr ein hal den neuen Bundesländern zu schaffen. Damit sollen bes Jahr überzogen!) die Investitionsförderungsmittel möglichst dorthin Ich halte nichts davon, liebe, verehrte und hochge- gelenkt werden, wo sie am dringendsten gebraucht schätzte Frau Kollegin — — werden. Ich sage Ihnen, diese Entscheidung ist von ganz großer Bedeutung. (Dr. Peter Struck [SPD]: Wir sind ganz f ried lich, und jetzt fangen Sie an, mit uns zu (Susanne Kastner [SPD]: Dagegen haben wir schimpfen! ) nichts!) — Entschuldigung, vielleicht haben Sie als Norddeut- Denn: Wir haben im Moment eine dynamische scher nicht das Gefühl für süddeutsche Tempera- Entwicklung moderner Technologien, die sowohl bei mente. der Investition als auch bei den Bet riebskosten der Abwasserreinigungsanlagen erhebliche Einsparun- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der gen ermöglichen werden. Deshalb ist es gut so, wenn CDU/CSU —Dr. Peter Struck [SPD] : Ich habe wir die Priorität dorthin lenken, wo sie am notwendig- mich richtig erschrocken!) sten ist, und dorthin verzögern können, wo möglicher- Aber das macht nichts aus, ich bitte da um Nachsicht; weise durch vorzeitige falsche technologische Ent- das sollte nichts an meiner Heftigkeit ändern. scheidungen den Kommunen Kosten aufgebürdet werden, sowohl bei den Investitionen als auch bei den Aber es ist natürlich so, daß wir eines nicht machen Betriebskosten. Da geht es um 20 % bis 30 % Kosten- sollten: Wir müssen achtgeben, daß wir die Menschen senkungen, die erzielt werden können. Eine solche nicht unnötig verunsichern und etwa Ängste einla- Regelung der Bundesregierung ist ein Schritt in die gern, die nicht berechtigt sind. richtige Richtung und deshalb auch ausdrücklich zu (Susanne Kastner [SPD]: Das ist ein Klopper; begrüßen. unser Antrag erweckt Ängste!) Was wir vorrangig brauchen, sind nicht die letzten — Liebe Frau Kollegin, wir haben uns doch schon ein Reinigungsprozente in den alten Bundesländern, in paarmal so gut verstanden, daß Sie mir heute abend denen die Abwasserbehandlung doch insgesamt eigentlich kaum noch widerstehen sollten. einen guten Stand erreicht hat, sondern der Auf- und Ausbau in den neuen Bundesländern. Auch dazu ist (Susanne Kastner [SPD]: Wenn Sie noch die Einbeziehung der Kanalisation in die Verrech- mehr so Sachen sagen, verstehe ich mich nung als positiv zu sehen. nicht mehr mit Ihnen!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich möchte darauf verweisen, daß der Trinkwasser- bericht keine ernsthaften Aspekte ausweist, die etwa Die Netze sind in einem derart maroden Zustand, zu einer hektischen Reaktion führen sollten. daß beim Abwasser manchmal bis zu 30 % Leckage- verluste zu verzeichnen sind, bevor die Kläranlage Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen erreicht wird. Das ist eine erhebliche Gefährdung Satz zum Klärschlamm sagen. Je besser eine Abwas- unserer Grundwasservorräte. Darüber muß man seraufbereitungsanlage funktioniert, um so mehr wer- reden und muß es auch energisch in Angriff nehmen. den Sie an Klärschlamm und an Schadstoffen im Man muß sich allerdings auch darüber im klaren sein, Klärschlamm erhalten, und die Entsorgung des daß eine Sanierung z. B. der Rohrleitungen allein aus Schlamms wird immer mehr zum Problem. Bisher wird bautechnischen Gründen nicht von heute auf morgen er überwiegend deponiert; künftig wird er in großem durchführbar ist. Das sollten Sie erkennen. Wir sind Maße auch verbrannt werden müssen. In der Land- bei den Fachleuten, den Ausschreibungsleuten, den wirtschaft kann der Klärschlamm nur verwendet wer- Überwachungsleuten tatsächlich auch in den neuen den, wenn er schadstofffrei ist. Dies ist ein wichtiger Bundesländern an den Rand der sachlichen Kapazitä- Punkt in der Zukunft.Wir müssen uns bewußt sein, daß ten gelangt. mit- einer qualifizierten Abwasserreinigung die Klär schlammpotentiale mengenmäßig, aber auch schad- Für wichtig und richtig halte ich auch die von der stoffmäßig stärker ausgeweitet werden. Damit stellt Bundesregierung vorgeschlagenen Entlastungsmaß- sich die Frage, wie wir das in Zukunft machen nahmen für die Wirtschaft. Vor allem begrüße ich den können. Vorschlag, daß auch solche Investitionen mit der Abwasserabgabe verrechnet werden können, die zur Ich warne davor, daß wir etwa der Philosophie Verbesserung bei einem Teilstrom des Abwassers nachhängen, die Abwasserentsorgung der Industrie führen. Das macht es für Be triebe interessant, auch von der der Haushalte abzukoppeln und für beide kleine Umweltschutzmaßnahmen im Abwasserbe- eigene Anlagen zu errichten. Es gibt entsprechende reich durchzuführen. Tendenzen. Wenn dies realisiert würde, würden Sie merken, daß Sie die Indust rie auf Grund von Investi- Was den SPD-Antrag betrifft, verstehe ich Sie tionen mit wesentlich höheren Kosten befrachten, eigentlich überhaupt nicht; denn wir haben mit der gleichzeitig aber auch die Haushalte mit wesentlich EG-Kommission bereits eine Fristverlängerung ver- höheren Kosten für ihre Abwasserentsorgung bela- einbart, sowohl was die Analyse des Grundwassers als sten. Die Technik schreitet im Augenblick so dyna- 12360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Josef Grünbeck misch voran, daß wir mit einer qualifizierten Kanali- neuen Modellen umsehen. Sie werden bestimmt sation zu einer qualifizierten gemeinsamen Abwas- bemerkt haben, daß der Bundesumweltminister ver- serentsorgung und damit zu einer kostengünstigen sucht hat, Modelle wieder neu aufzuleben und weiter- Gesamtversorgung kommen können. Darum bitte ich entwickeln zu lassen, die es in den alten Bundeslän- Sie, in dieser Sache fortzufahren. Wir stehen Ihnen dern einmal gab, nämlich in den Bereich öffentlicher gern für weitere Beratungen zur Verfügung. Dienstleistungen p rivates Kapital zu bringen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir haben in den letzten zwei Jahren einen sehr schwierigen Lernprozeß hinter uns, einen Lernprozeß, der natürlich auch eine Menge schwarzer Schafe auf Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Herr den Plan brachte. Im Endergebnis können wir Ihnen Parlamentarische Staatssekretär Wieczorek das zu dieser Entwicklung aber sagen, daß es in den Wort. neuen Bundesländern im Unterschied zu den alten eben keine Neubauten von Kläranlagen gibt, die nicht Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim grundsätzlich die dritte Reinigungsstufe haben. Ich Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- möchte jetzt nichts über Ableitwerte reden, um nicht torsicherheit: Frau Präsidentin! Meine Damen und einige alte Bundesländer neidisch zu machen. Dieser Herren! Frau Kastner, ich muß mich zunächst einmal Lernprozeß und die Unterstützung dieser Konzeptio- an Sie wenden. Ich glaube nicht, daß hier ein versteck- nen im Bundesumweltministerium haben dazu ter Entwurf der Bundesregierung vorliegt. Vielmehr geführt, daß es zu sozialverträglichen Abwasser- hat die Bundesregierung versucht, aus einem viel- gebühren gekommen ist, die die Bürger jetzt und leicht etwas verunglückten Antrag des Bundesrates auch in den folgenden Jahren werden bezahlen kön- etwas zu machen. Nebenbei gesagt ist das nicht ein nen. Antrag allein von Baye rn. Wenn Sie da einmal nach- Ich kann Sie nur auffordern — damit komme ich lesen: Es sind mehrere Bundesländer beteiligt. schon zum Schluß meiner Ausführungen —, in Anbe- Was zeigen der Antrag des Bundesrates und die tracht knapper öffentlicher Haushalte solche Modelle Gegenäußerung der Bundesregierung? Daß wir auch auch in den alten Bundesländern greifen zu lassen in den alten Bundesländern einen enormen Nachhol- und damit auch zu einer entscheidenden Absenkung bedarf vorrangig im Bereich der Kanalisation, aber der Ableitwerte von Abwässern in den nächsten natürlich auch im Bereich der Kläranlagen haben und Jahren beizutragen. daß wir an einem Punkt angekommen sind, wo wir Schönen Dank. über das Kompensationsprinzip, das umweltpolitisch einen großen Sinn macht, versuchen, die Fördermittel, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die noch zur Verfügung stehen, in den Bereich zu lenken, in dem — es ist von Herrn Grünbeck gerade gesagt worden — große Leckagen bestehen, d. h. über Weitere Wortmel- Einlässe aus der Kanalisation diffuse Belastungen des Vizepräsidentin Renate Schmidt: dungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Ausspra- Grundwassers und letztendlich des Trinkwassers ent- che. stehen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (Susanne Kastner [SPD]: Da sind wir uns den Drucksachen 12/4272 und 12/4404 an die in der einig!) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Frau Kastner, ich bin mit Ihnen auch völlig einig, daß gen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache wir nicht von Nanogramm oder Mikrogramm auf der 12/4404 soll zusätzlich dem Haushaltsausschuß über- einen Seite und von Kilogramm auf der anderen Seite, wiesen werden. Gibt es dazu eventuell irgendwelche nämlich in den neuen Bundesländern, sprechen soll- anderweitigen Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. ten. Wir müssen vielmehr harmonisch im Beitrittsge- Dann ist die Überweisung so beschlossen. biet wie auch in den alten Bundesländern die Gewäs- serqualität enorm und entscheidend verbessern. Wir sind damit, meine sehr geehrten Damen und Nebenbei gesagt liegen die Herausforderungen Herren, am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. natürlich mehr auf der Seite der neuen Bundesländer Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- als der der alten. destages auf morgen, Freitag, 5. März 1993, 9.00 Uhr Meine Damen und Herren, wenn wir sagen, daß die ein. Kommunen mit ihren Möglichkeiten — ich habe mir Eine schöne gute Nacht. erzählen lassen, daß es alte Bundesländer gibt, die Die Sitzung ist geschlossen. solche Anlagen bis zu 90 % und 100 % gefördert haben — am Ende sind, dann müssen wir uns nach (Schluß der Sitzung: 21.29 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12361*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Waltemathe, Ernst SPD 4. 3. 93 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 4. 3. 93 einschließlich Zierer, Benno CDU/CSU 4. 3. 93* Baum, Gerhart Rudolf F.D.P. 4. 3. 93 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 4. 3. 93** * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Böhm (Melsungen), CDU/CSU 4. 3. 93* ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Wilfried lung Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 4. 3. 93 Büchler (Hof), Hans SPD 4. 3. 93* Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 4. 3. 93* Clemens, Joachim CDU/CSU 4. 3. 93 Anlage 2 Dempwolf, Gertrud CDU/CSU 4. 3. 93 Fuchs (Verl), Katrin SPD 4. 3. 93 Zu Protokoll gegebene Rede Gerster (Mainz), CDU/CSU 4. 3. 93 zu Tagesordnungspunkt 6 Johannes (Entwurf eines Gesetzes über das Inverkehrbringen Gleicke, Iris SPD 4. 3. 93 und die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages Großmann, Achim SPD 4. 3. 93 genannten Gebiet) Harries, Klaus CDU/CSU 4. 3. 93 Hasenfratz, Klaus SPD 4. 3. 93 (SPD): Wasser, das „weiße Gold", wird Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 4. 3. 93 Ulrike Mehl knapp. Da Wasser nicht nur zum Waschen da ist, Hilsberg, Stephan SPD 4. 3. 93 sondern ein elementares Lebensmittel ist, muß es Horn, Erwin SPD 4. 3. 93** unser aller größtes Interesse sein, sich rechtzeitig Kolbe, Manfred CDU/CSU 4. 3. 93 darum zu kümmern, daß auch in Zukunft genügend Kolbow, Walter SPD 4. 3. 93** sauberes Wasser zur Verfügung steht. Nicht nur im Koschyk, Hartmut CDU/CSU 4. 3. 93 wilden Westen gab es Kriege um Wasser, sondern Dr. Kübler, Klaus SPD 4. 3. 93 auch in der heutigen Welt drohen ernsthafte Konflikte Lenzer, Christian CDU/CSU 4. 3. 93* um die Nutzung dieses Lebensmittels. Hier in Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 4. 3. 93 Deutschland leben wir zwar in einer relativ wasserrei- Michels, Meinolf CDU/CSU 4. 3. 93* chen Region, aber selbst bei uns gibt es Gegenden, in Mischnick, Wolfgang F.D.P. 4. 3. 93 denen in Sommermonaten Trinkwasser aus Tanklast- zügen verteilt werden mußte. Das Problem der Trink- Müller (Pleisweiler), SPD 4. 3. 93 wasserknappheit ist also durchaus nicht nur eines von Albrecht fernen Wüstenländern. Nelle, Engelbert CDU/CSU 4. 3. 93 Oesinghaus, Günther SPD 4. 3. 93 Heute allerdings geht es auch zunehmend um die Otto (Frankfurt), F.D.P. 4. 3. 93 Qualität des Wassers. Das aus der Erde entnommene Hans-Joachim Trinkwasser ist mit Nitraten und Pestiziden verunrei- Pfuhl, Albert SPD 4. 3. 93 nigt und die vorgeschriebenen Grenzwerte sind nur schwer einzuhalten. Die Art der Nutzung des Bodens Dr. Probst, Albert CDU/CSU 4. 3. 93* durch die Landwirtschaft spielt eine entscheidende Rempe, Walter SPD 4. 3. 93 Rolle. Ringkamp, Werner CDU/CSU 4. 3. 93 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 4. 3. 93 Die Landwirtschaft ist der größte Landnutzer und Ingrid hat somit auch den größten Einfluß auf die Erdober- fläche und das, was darunter liegt. Schon vor über Sauer (Salzgitter), CDU/CSU 4. 3. 93 zehn Jahren begann die Diskussion um Nitrat im Helmut Trinkwasser, die sich dann wegen chemischer Sub- Dr. Scheer, Hermann SPD 4. 3. 93* stanzen aus Pflanzenschutzmitteln fortsetzte. Wäh- Schmidt (Dresden), Arno F.D.P. 4. 3. 93 rend die Landwirtschaftslobby noch viele Jahre zu Schulte (Hameln), SPD 4. 3. 93** vermitteln versuchte, daß sie uns nur Gutes tut, statt Brigitte mal zuzuhören, was kritisiert wurde, schlugen Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 4. 3. 93 Umweltverbände, Bürgerinitiativen und der Bundes- Gmünd), Dieter verband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 4. 3. 93 bereits Alarm. Christian Wie sorglos mit diesem Thema auch heute noch Seiler-Albring, Ursula F.D.P. 4. 3. 93 umgegangen wird, sieht man an der Begründung des Seuster, Lisa SPD 4. 3. 93 ursprünglichen Bundesratsentwurfs, wo unter der Stachowa, Angela PDS/LL 4. 3. 93 Überschrift „Alternativen" zu lesen ist: „Restlose, Dr. Starnick, Jürgen F.D.P. 4. 3. 93 kostspielige Beseitigung der noch verwertbaren Thierse, Wolfgang SPD 4. 3. 93 Pflanzenschutzmittel als Sondermüll, was eine unzu- 12362* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 mutbare finanzielle Belastung für viele landwirt- darf. Das gilt auch für die alten Bundesländer, denn schaftliche Betriebe in dem in Artikel 3 des Einigungs- auch hier werden noch Mittel angewendet, deren vertrages genannten Gebiet darstellen würde." Dar- Substanzen im Grundwasser wiederzufinden sind. aus schließe ich, daß die Initiatoren es vorziehen, Dieses Problem würde sich ganz anders darstellen, Sondermüll lieber auf der Fläche zu entsorgen, statt in wenn in der Landwirtschaft endlich so gewirtschaftet dafür vorgesehenen Anlagen. Ich muß schon sagen, würde, daß Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit daß ich dies für ein starkes Stück halte, zumal dabei gleichrangig neben der Produktion stünden. Dies und völlig außer acht gelassen wird, daß eine eventuelle nicht das Aufstellen immer länger werdender Listen Reinigung des Trinkwassers von Pflanzenschutzmit- muß und wird die Aufgabe der Zukunft sein. telrückständen ungeheuer aufwendig und teuer ist, sofern es überhaupt geht. Daß dies nicht gut sein kann, hat ja glücklicherweise auch die Bundesregierung so gesehen und ursprünglich vorgeschlagen, diese Mit- tel vollständig in entsprechenden Anlagen zu entsor- gen, wobei dies selbstverständlich nicht allein den Anlage 3 betroffenen Landwirten aufgehalst werden darf. Ich bedauere jedenfalls außerordentlich, daß der oben Zu Protokoll gegebene Rede genannte Vorschlag der Bundesregierung nicht reali- zu Tagesordnungspunkt 7 siert wurde. (Antrag zur Sicherung des Weiterbetriebs der Zeche SOPHIA-JACOBA durch finanzielle Deshalb habe ich auch bei dem nunmehr zu Sonderhilfen des Bundes — perspektivisch beschließenden Gesetzesvorschlag trotz der Verbes- eine volkswirtschaftlich und energiepolitisch serungen nach wie vor große Bauchschmerzen. Wir sinnvolle Maßnahme für die Zukunft) haben zwar in dem gemeinsamen Änderungsantrag klargestellt, welche Pflanzenschutzmittel welche z. T. gefährlichen Wirkstoffe enthalten, um die Anwender Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär beim zu äußerst vorsichtiger Verwendung aufzufordern, Bundesminister der Justiz: Die PDS hat beantragt, und es wird auf Verbote und Beschränkungen der durch finanzielle Sonderhilfen des Bundes den Wei- Anwendung in Wasserschutz- bzw. Heilquellenge- terbetrieb der Zeche Sophia Jacoba im niederrheini- bieten hingewiesen. Nur ist in den neuen Bundeslän- schen Hückelhoven zu ermöglichen. Sie nennt dies dern die Qualität der Ausweisung dieser Wasser- eine volkswirtschaftich und energiepolitisch sinnvolle schutzgebiete fragwürdig. Darum gibt es sicher kei- Maßnahme. nen Anlaß zu Sorglosigkeit, und deshalb haben wir in Dieser Antrag war schon überholt, als er am 18. No- dem interfraktionellen Antrag noch einmal die in den vember 1991 gestellt wurde. Wie die PDS ihn selbst alten Bundesländern verbotenen Wirkstoffe aufge- einschätzt, zeigte ihre Abwesenheit anläßlich der zählt, die auch in den neuen Bundesländern nicht Behandlung im Haushaltsausschuß und im Wirt- mehr angewendet werden sollten. schaftsausschuß. Da einige wichtige Punkte im eigentlichen Antrag In der Kohlerunde November 1991 hatten Bund und nicht genannt sind, wurde ein weiterer interfraktio- Land Nordrhein-Westfalen gemeinsam erklärt, auf- neller Entschließungsantrag formuliert, in dem die grund begrenzter finanzpolitischer Möglichkeiten der Bundesregierung aufgefordert wird: zusammen mit öffentlichen Hand sowie der Kostensituation des Berg- den Ländern ein Konzept für eine sachgemäße Entsor- werks eine derartige Hilfe nicht gewähren zu können. gung der nach diesem Gesetz verbotenen Pflanzen- Unternehmensleitung und Aufsichtsrat von Sophia schutzmittel zu entwickeln; eine genaue Erfassung Jacoba haben daraufhin beschlossen, die Zeche 1997 der noch in den neuen Bundesländern lagernden stillzulegen. Pflanzenschutzmittel sicherzustellen, um Umwelt- schäden durch illegale Verwendung zu vermeiden; Entsprechend der Zusage in der Kohlerunde haben wirksame Kontrollen der sachgerechten Lagerung, Bund und Land die mit dem Stillegungsbeschluß Entsorgung bzw. Anwendung sicherzustellen; dafür verbundenen, für das Unternehmen nicht verkraftba- zu sorgen, daß ein überarbeitetes Pflanzenschutzmit- ren Finanzbelastungen durch eine Zuwendung von telverzeichnis mit den noch anwendbaren Pflanzen- 314 Millionen DM abgefangen. schutzmitteln baldmöglichst herausgegeben wird; Darüber hinaus ist dem Unternehmen eine aktive mitzuhelfen, daß das Grundwassermonitoring in den Rolle bei der Umstrukturierung seiner Region durch neuen Ländern fortgeführt wird, um eingetretene Einsatz seines beträchtlichen Grundstücksbestandes Grundwasserbelastungen zu erkennen und gegebe- ermöglicht worden. Hierfür hatten sich auch Kollegen nenfalls sanieren zu können, und bis zum 30. Juni aus dem Wirtschaftsausschuß engagiert. Die Region 1993 über die Erfassung und Entsorgung der Mittel zu Hückelhoven wurde außerdem in das regionale Son- berichten. Gerade letzteres ist wichtig, weil wir ja nun derprogramm zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen schon erlebt haben, daß solche Mittel plötzlich an in den Steinkohlerevieren einbezogen. Stellen auftauchen, wo sie überhaupt nicht hingehö- ren, im jüngsten Falle in Rumänien. Insgesamt sind damit von Bundesseite die Voraus- setzungen für ein sozialverträgliches Auslaufen der Grundsätzlich kann man allerdings nur dadurch Zeche geschaffen und auch eine Basis für eine erfolg- Abhilfe schaffen, daß man Chemikalien, die Boden, reiche Zukunftssicherung der Region gelegt. Es wird Grundwasser oder andere Medien schädigen können, jetzt darauf ankommen, daß Land, Region und Unter- überhaupt nicht herstellen, verkaufen und anwenden nehmen die gebotenen Möglichkeiten durch prakti- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12363* kable Konzepte zum Wohle der Menschen vor Ort Seither ist ein nach wie vor expandierender umsetzen. Geschäftszweig entstanden, der zudem durch die elektronische Entwicklung, die Video-Technik, eine Hinsichtlich des PDS-Antrages selbst kann ich Sie neue Qualität bekommen hat. nur bitten, dem Vorschlag des Herrn Berichterstatters zu folgen. Dabei ist der Wettbewerb nicht unbedingt ein Segen. Die Zulassung privater Fernsehanbieter im übrigen auch nicht, wie auch die Befürworter von damals heute einsehen könnten. Denn in der Konkur- renz um den Abnehmer haben sich auch die Inhalte Anlage 4 der Darstellungen verändert: Immer mehr Produzen- ten warten mit schärferen, d. h. auch brutaleren Rei- Zu Protokoll gegebene Reden zen auf, bis an die Grenze des Erträglichen und häufig zu Tagesordnungspunkt 8 genug bis über die Grenze des noch Erlaubten hin- (Antrag betr. EG-Fernsehrichtlinie — aus. Schutz von Minderjährigen) Den ersten Entrüstungssturm gab es vor Jahren aus Teilen der Frauenbewegung, die sich gegen die Dr. Edith Niehuis (SPD): Wenn die SPD-Bundestags- dargestellte zunehmende sexuelle Brutalität gegen fraktion heute einen Antrag einbringt, der versucht, Frauen verwahrten und zu Recht das entwürdigende das, was über die Fernseher in die Wohnzimmer und und demütigende Frauenbild kritisierten: Frauen als Kinderzimmer gelangt, gesetzlich mit engeren jederzeit verfügbare, willenlose Objekte, deren der Schranken zu belegen, so geschieht dieses, weil dem Mann sich auch gewalttätig bedienen darf. Ich teile Fernsehangebot jedes vertretbare Maß verloren zu diese Kritik. So manches, was heute produziert wird, gehen scheint. Schon seit längerem wird an die ist keine Bereicherung, sondern nur Ausdruck gesell- Fernsehsender, insbesondere die privaten, appelliert, schaftlichen Elends. Dennoch ist dieser frauen- sich mit dem Senden von Gewalt- und Sexfilmen politische Ansatz nicht der Hintergrund für den zurückzuhalten. Ich habe nicht das Gefühl, daß diese Antrag, den wir heute in erster Lesung beraten. Appelle bisher viel gebracht haben. Und bevor uns Es geht uns um das, was über den Fernseher in die überhaupt eine Abrüstung im Fernsehen gelungen ist, Wohnzimmer gesendet werden darf oder nicht, oder steht eine neue Aufrüstung ins Haus: Pornos ohne besser gesagt, in die Kinderzimmer, denn bereits ein Grenzen via Satellit. Drittel der Neun- und Zehnjährigen z. B. hat ein Ich denke, als politisch Verantwortliche in diesem eigenes Fernsehgerät auf dem Zimmer, wie im letzten Land können wir diese neue Phase der Fernsehdar- Jahr eine Hamburger Studie ergab. Insofern darf sich bietungen nicht einfach stillschweigend zur Kenntnis niemand wundern, wenn Untersuchungen über Seh- nehmen. Es reicht in der Politik auch nicht aus, uns in gewohnheiten ergeben, daß nach 23 Uhr noch Hun- die Reihe derjenigen zu stellen, die an die Medienver- derttausende von 6- bis 13jährigen Kindern vor dem antwortlichen appellieren, sondern es ist unsere Auf- Fernseher sitzen und auch die zu dieser späten Zeit gabe, auch die gesetzlichen Grundlagen zu überprü- gesendeten Filme sehen, die z. T. auf der Index-Liste fen. Diesem Ziel dient der vorliegende Antrag. der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schrif- Wenn wir uns heute der Frage nähern, wie wir mit ten stehen. Dies hat auch eine vom Bundesjustizmini- Pornographie, Sex und Gewalt in den Medien gesetz- sterium in Auftrag gegebene Studie ergeben. lich umgehen wollen, dann muß man auch auf die Ich denke, solch eine Entwicklung können Politike- geschichtliche Entwicklung eingehen. Wir knüpfen rinnen und Politiker, die sich der Jugend gegenüber nämlich an eine Diskussion an, die vor 17 Jahren hier verantwortlich fühlen, nicht geschehen lassen, ohne im Deutschen Bundestag geführt wurde mit dem daß wir uns einmischen. Für mein Empfinden machen Ergebnis, daß das bis dahin geltende totale Verbot der wir es uns zu leicht, wenn wir uns unserer Verantwor- Verbreitung pornographischer Erzeugnisse zugun- tung dadurch entledigen, daß wir an die Verantwor- sten einer begrenzten Freigabe aufgehoben wurde. tung der Medien, der Eltern, Lehrerinnen, Lehrer und Ziel dieser damals notwendigen Änderung war es, die Erzieherinnen appellieren. Wer Kinder hat, weiß, Gesellschaft von altmodischer und unehrlicher Prüde- welche Anstrengungen es immer wieder aufs neue, rie zu entrümpeln, dem Erwachsenen sein Pornoheft- tagtäglich, erfordert, Kinder vor unerwünschten chen im stillen Kämmerlein zu ermöglichen, ohne daß gesellschaftlichen Einflüssen zu schützen, sie gegen er gleich straffällig dabei wurde. Eines war aber auch diesen von den unerwünschten Einflüssen ausgehen- bei der damaligen Strafrechtsreform nie umstritten: den Druck zu erziehen. Darum können Eltern auch der Jugendschutz. Es blieb verboten, Pornographie an von uns erwarten, daß wir ihnen hilfreich zur Seite Orten, die Jugendlichen zugänglich sind — in Kios- stehen, wenn die Entwicklung ihrer Kinder gefährdet ken, im Versandhandel und in gewerblichen Leihbü- ist. chereien — anzubieten. Gleiches gilt für öffentliche Daß das Sehen von Gewaltdarstellungen, seien sie Filmvorführungen. sexueller oder anderer Art, die Entwicklung von Ich halte diese gesetzliche Liberalisierung unter Kindern negativ beeinflußt, steht für mich außer Beibehaltung des Jugendschutzes von damals nach Zweifel. Die sog. Katharsis-Hypothese, die davon wie vor für richtig. Dennoch wird es Zeit, daß wir jetzt ausgeht, daß durch das Be trachten von Gewalt die die Entwicklung, die sich seit dieser Zeit ergeben hat, eigene Gewaltneigung gesenkt wird, ist für mich kritisch betrachten. Denn es geht schon lange nicht heute keine ernstzunehmende Meinung mehr. Viel- mehr um das Pornoheftchen im stillen Kämmerlein. mehr müssen wir davon ausgehen, daß Gewaltdar- 12364* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Stellungen unsensibel machen gegen Gewalt. Men- Zudem zeigt der Vertrieb von Decodern hinsichtlich schen, die einen hohen Medienkonsum aufweisen, des Jugendschutzes bisher nachgewiesenermaßen werden so desensibilisiert, daß sie Gewalt viel zu Lücken. Wie beim Vertrieb von Decodern werden wir selten noch als solche wahrnehmen. Es besteht die über gesetzliche Änderungen hinaus im zweiten Gefahr, daß sie Gewalt zunehmend als Hauptmethode Schritt über die wirksame Umsetzung des gewollten zur Lösung zwischenmenschlicher Probleme anse- Jugendschutzes reden müssen. Auch Landesmedien- hen. anstalten und EG-Kommission sind hier stärker als All diese denkbaren Wirkungen hängen natürlich bisher in die Pflicht zu nehmen. von der persönlichen Disposition der Menschen ab, Wer über die zunehmende Gewaltbereitschaft von auch vom Geschlecht. Aber allen Kindern ist eine Kindern und Jugendlichen klagt, darf nicht zögern, Disposition gemeinsam: Ihr Verhaltensrepertoire ist ernst zu machen mit der Abrüstung im Fernsehen. Wer noch in der Entwicklung, sie suchen nach Vorbildern, mit dem Handeln zögert, weil ihm nach wie vor sie leben vom Nachahmen. Sie wollen erzogen wer- Beweise fehlen, die den Zusammenhang zwischen den. zunehmender Gewaltbereitschaft und Gewaltdarstel- lungen im Fernsehen hieb- und stichfest nachweisen, Und wenn wir in die Gesellschaft hineinschauen, muß bedenken, daß solche Beweise nur über bereits dann kann uns nicht entgangen sein, daß der Haupt- geschädigte Kinder- und Jugendgenerationen zu füh- erzieher der modernen Gesellschaft das Fernsehen ist, ren sind. Wer will so eine Beweiskette verantworten? oftmals mehr als die Eltern, machtvoller als die Schule. Hier ist eine Beweislastumkehr notwendig, die Fern- Hier liegt auch unsere Verantwortung als Politikerin- sehveranstalter müssen uns beweisen, daß ihre Sen- nen und Politiker. Alles, was das körperliche, geistige dungen Kinder nicht schädigen. Auch Beg riffe wie oder seelische Wohl von Kindern beeinträchtigen Kunst, Zensur und Freiheit sind in diesem Zusammen- kann, darf über die Fernseher nicht ausgestrahlt hang unangebracht. Wer Geschäft meint, sollte auf werden. Das ist das Ziel des Ihnen vorliegenden dem Rücken der Kinder den Wert Freiheit nicht SPD-Antrages. mißbrauchen. Die EG-Fernsehrichtlinien, aber auch der Rund- In der neuen Wochenzeitung „Die Woche" gab es funkstaatsvertrag machen hier nicht mehr nachvoll- letzte Woche zu dem Thema, das wir hier debattieren, ziehbare Ausnahmen. Verboten ist, was die Entwick- einen lesenswerten Kommentar. Die Kommentatorin lung von Minderjährigen schwer beeinträchtigen meinte in Anspielung an die Aktion „Rettet den kann. Unter bestimmten Bedingungen sind allerdings Wald", wir brauchen jetzt eine Bewegung „Rettet das Sendungen erlaubt, welche die körperliche, geistige Kind vor der elektronischen Gewalt" oder sittliche Entwicklung beeinträchtigen können. - Ich fordere Sie auf, lassen Sie uns an die Spitze Ich halte diese Unterscheidung — schwere Beein- dieser Bewegung gehen! trächtigung der Entwicklung des Kindes verboten, Beeinträchtigung der Entwicklung des Kindes unter bestimmten Bedingungen erlaubt — aus mindestens Claudia Nolte (CDU/CSU): Bereits im Februar führ zwei Gründen für nicht tragbar. Erstens: Woher neh- ten wir hier eine gute Debatte zur Problematik men wir das Recht, offiziell etwas zuzulassen, was die Jugendgefährdung durch Medien. Wir waren uns kindliche Entwicklung beeinträchtigt? Ich denke, die- über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig, daß ein ses Recht steht uns nicht zu. Zweitens überlassen wir wirksamer Jugendschutz nötig ist. Wenn m an alle das, was schließlich gesendet werden darf, einem körperliche Gewalt präsentierenden Szenen, die im diffusen Beurteilungsspektrum. Die Entscheidung, ob Laufe einer Woche durch die unterschiedlichen Sen- etwas die kindliche Entwicklung schwer beeinträch- der ausgestrahlt werden, zusammenschnitte, erhielte tigt oder „nur" beeinträchtigt, ist objektiv nicht zu man einen durchschnittlichen Gesamtfilm von etwa treffen, sondern hängt vom jeweiligen Beurteilungs- 25 Stunden pro Woche mit 481 Mordszenen. maßstab und von der individuellen Disposition des Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt Konsumenten ab. Lassen wir hier einen zu großen grundsätzlich alles, was die Ausstrahlung von Pro- Beurteilungsspielraum zu, kann dieses nur zu Lasten grammen mit pornografischem oder gewalttätigem der Kinder gehen. Inhalt verhindert. Auch wir verurteilen das Vorhaben Darum möchten wir, daß die Fernsehrichtlinien und einer niedersächsischen Videoproduzentin, vom Aus- der Rundfunkstaatsvertrag hier eine klare Sprache land aus über Satellit stundenweise ein Pornopro- sprechen: Alles, was die kindliche Entwicklung beein- gramm auszustrahlen, das insbesondere auf Empfän- trächtigt, darf nicht gesendet werden. Wer darauf ger in Deutschland abzielt. Aus Dänemark und verweist, daß Kinder beinträchtigende Sendungen Schweden werden schon seit längerem sogenannte ohnehin nur gesendet werden dürfen, wenn durch die „Hardcore-Pornos" gesendet, die mit einem Decoder Wahl der Sendezeit oder durch sonstige technische ebenfalls bei uns zu empfangen sind. Maßnahmen dafür gesorgt wird, daß diese Sendungen Derartige Programme sind in der Bundesrepublik von Minderjährigen üblicherweise nicht wahrgenom- Deutschland nicht zulässig und strafbar (§ 184 Abs. 1 men werden, muß zugleich eingestehen, daß diese Nr. 2 StGB). Selbst nach geltendem EG-Recht ist die Sicherheitsmaßnahmen in Wahrheit keine Sicher- Ausstrahlung solcher Programme verboten. Haupt- heitsmaßnahmen sind. Durch die Video-Technik ist hindernis für einen wirksamen Jugendschutz auf die Wahl der Sendezeit nicht mehr gleich mit der Wahl EG-Ebene ist nicht die derzeitige Formulierung des der Wiedergabezeit, und für unsere technisch versier- Artikels 22, sondern sein ungenügender Vollzug. Die ten Kleinen ist der Umgang mit Decodern zumeist Bundesregierung sollte darauf hinwirken, daß Arti- einfacher als für die Erwachsenen. kel 22 der EG-Fernsehrichtlinien zum Schutz von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12365*

Minderjährigen einheitlich interpretiert und auch Drittens. Die rechtlichen Mittel, mit denen der vollzogen wird. Gesetzgeber Jugendliche vor Einflüssen schützt, die sich nachteilig auf die Entwicklung ihrer Persönlich- Die mangelnde Durchsetzungsbereitschaft nationa- keit auswirken, müssen angemessen sein. Dies hängt ler Rundfunkaufsichtsbehörden ist genauso skandalös von einer Güterabwägung zwischen der Forderung wie der fehlende Konsens der EG-Mitgliedstaaten nach einem Grundrecht auf Rundfunkfreiheit (Art. 5 über den Inhalt des Begriffs „Pornografie". Hier ist die Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) und dem verfassungs- EG-Kommission gefordert, einheitliche Auslegungs- rechtlich hervorgehobenen Interesse an einem wirk- maßstäbe herbeizuführen und der Kritik an der man- samen Jugendschutz ab (BVerfGE 30, 336, 347 f.; 77, gelnden Umsetzung der EG-Fernsehrichtlinien in 346, 356). Es ist für uns unumstritten, daß einem einigen Mitgliedstaaten nachzukommen. Dem euro- wirklich effektiven Jugendschutz ein hoher Stellen- parechtlich geltenden Pornografieverbot muß auch in wert einzuräumen ist. Die Verhältnismäßigkeit der der Praxis Geltung verschafft werden. Darüber hinaus von der SPD-Fraktion geforderten Regelungen auf dürfen wir die Staaten Mittelost- und Südosteuropas nationaler Ebene ist aber zweifelhaft. Unter anderem nicht vergessen. Ein EG-weiter Schutz von Minder- würde fraglich, ob die öffentlich-rechtlichen Rund- jährigen ist wichtig, reicht aber nicht mehr aus. Die funkanstalten noch ihren Grundversorgungsauftrag Möglichkeiten aus den Staaten des ehemaligen Ost- erfüllen könnten, der der Meinungsvielfalt und dem blocks entsprechende Programme zu senden, sollten Informationsinteresse der gesamten Bevölkerung nicht unterschätzt werden. gerecht werden muß. Die Bundesregierung hat sich bereits lange vor der Der Tatsache, daß an Wochenenden bis zu 500 000 Wende darum bemüht, daß es zu gesamteuropäischen Kinder noch nach 23 Uhr fernsehen, kann nur begeg- Vereinbarungen kommt. So sieht das „Europäische net werden, wenn die Familien ihre erzieherischen Übereinkommen über das grenzüberschreitende Aufgaben erfüllen. Das Ziel des Gesetzes über die Fernsehen vom 5. Mai 1989" ein absolutes Verbot von Verbreitung jugendgefährdender Schriften ist es, Stö- Sendungen vor, die Pornografie und unangemessene rungen des grundrechtlich gewährleisteten Erzie- Gewalt zeigen. Bereits 22 Staaten — darunter z. B. hungsrechtes vorzubeugen. Wir fordern die Geräte- auch Polen — haben unterzeichnet. Der Deutsche industrie auf, die Ausübung dieses elterlichen Erzie- Bundestag sollte das deutsche Ratifizierungsgesetz hungsrechtes zu unterstützen, indem der Einbau tech- umgehend verabschieden, um auch die Einstrahlung nischer Sicherungen gegen unbefugten Gebrauch, von jugendgefährdenden Sendungen aus Nicht-EG- durch eine sogenannte Kindersicherungstaste, zu Staaten zu verhindern. Industriestandard erhoben wird. Wir können davon ausgehen, daß die Anbieter verschlüsselter PAY- Es sind im besonderen unter anderem drei Gründe, - TV-Programme schon aus kommerziellem Eigeninter- die ich bei der Beratung des vorliegenden Antrags der esse verstärkt dazu übergehen, nur die Decoder zu SPD zur Änderung des Artikels 22 der EG-Fernseh- vertreiben, die ausschließlich durch Einführung einer richtlinien zu bedenken gebe: in regelmäßigen Abständen neu zu kodierenden Ent- Erstens schießt der Antrag der SPD unserer Mei- schlüsselungskarte, der sogenannten Smart-Card, nung nach über das Ziel hinaus. Alle von der freiwil- aktiviert werden können. Für die Eltern besteht somit ligen Selbstkontrolle ab 18 Jahren, aber auch die ab eine bedienungsfreundliche, nur mit erheblichem 16 Jahren freigegebenen Kinofilme dürften künftig Aufwand zu umgehende Sperrmöglichkeit. Das elter- nach der vorgeschlagenen Fassung in diese verbotene liche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundge- Kategorie fallen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen setz) umfaßt unter anderem die Befugnis, die Lektüre würde die Behandlung wichtiger gesellschaftlicher und den Fernsehkonsum zu bestimmen. Dieses elter- Themen, wie Aids, Schwangerschaftsabbruch, Eutha- liche Erziehungsrecht ist aber gleichsam eine elterli- nasie etc., fraglich, da deren Darstellung geeignet sein che Verantwortungspflicht. Nur so kann einer Ent- könnte, die geistige und seelische Entwicklung von wicklung entgegengewirkt werden, durch die die Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen, ohne zeitlichen Sendebeschränkungen zunehmend an Be- pornografisch oder gewalttätig zu sein. Das gleiche deutung verlieren. gilt unter Umständen auch für künstlerisch wertvolle Wie die Familien sind insbesondere die Schulen Filme. Wir kennen die Schwierigkeiten einer sachge- gefordert. Der richtige Umgang mit Medien muß auch rechten Abgrenzung. In Abwandlung eines Zitates dort Thema sein. Für mich ist wichtig, daß neben dem von Albert Schweitzer möchte ich sagen: Es ist besser, Verbot von kinder- und jugendgefährdenden Sen- strenge EG-Richtlinien zu haben, die man einhält, als dungen der Ausstrahlung von kinder- und jugendge- noch strengere, die man außer acht läßt. rechten Filmen noch größere Bedeutung zukommt. Es bedarf weit mehr als gesetzlicher Initiative. Zweitens ist der vorliegende Antrag EG-politisch kaum durchsetzbar. Nur mit großer Mühe konnte Die Bedingungen, unter denen junge Menschen in Deutschland gegen den starken Widerstand anderer Deutschland aufwachsen, die Einflüsse, denen sie EG-Mitgliedstaaten die derzeitige Fassung des Arti- ausgesetzt sind, stellen eine große Herausforderung kels 22 der EG-Fernsehrichtlinien durchsetzen. Die auch an die Politik dar. Wir sollten bei den Beratungen Niederlande, Luxemburg und Dänemark hatten nur in den Ausschüssen nicht über das Ziel hinausschie- einen deutlich niedrigeren Jugendschutzstandard ßen, aber wenn es um den Schutz von Minderjährigen akzeptieren wollen. Es sind keinerlei Anzeichen geht, auch nicht zu kurz springen. erkennbar, daß es gelingen könnte, für die geforderte erhebliche Verschärfung eine Mehrheit im EG-Mini- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (F.D.P.): Der SPD sterrat zu erhalten. Antrag ist gut gemeint und in der Zielsetzung auch 12366* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 unterstützenswert. Aber die Forderungen sind in die- Anbieter, freiwillig auf alle Programme verzichten, ser Form abzulehnen. Würde der SPD-Antrag wirklich die von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende umgesetzt, wäre ein Totalverbot von Programmen, in Schriften indiziert werden. Denn Bedürfnisse werden denen Gewalt und Pornographie vorkommen, für alle nicht nur gedeckt, sondern vor allem auch geweckt. Fernsehzuschauer aller Altersstufen die Folge. Ein Wenn alle Sender den Konsens erzielten, sich nicht in solches Totalverbot mit unbestimmten Rechtsbegrif- erster Linie an Einschaltquoten zu orientieren, son- fen kollidiert mit der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und dern an die Gefahren dächten, die Gewaltdarstellun- ist auch EG-politisch kaum durchsetzbar. Haupthin- gen für Kinder und Jugendliche haben könnten, hätte dernis für einen effektiven Jugendschutz sind nicht die öffentliche Diskussion, die zur Zeit läuft, ihr Ziel fehlende Normen, sondern es sind die uneinheitlichen erreicht. und unzureichenden Möglichkeiten zur Anwendung Aber effektiver als der normative Jugendschutz ist der vorhandenen Vorschriften. Es ist wichtig, auf der erzieherische Jugendschutz. Die wichtigsten EG-Ebene eine einheitliche Interpretation der beste- Adressaten, an die wir Politikerinnen und Politiker henden Schwellenwerte von „leicht" und „schwer" uns wenden, sind die Eltern. Fernsehen ist kein Ersatz jugendgefährdenden Inhalts von Programmen zu fin- für Elternzuwendung. Der Fernseher ist der schlech- den. Die Bundesregierung kann nur fordern, daß die teste „Babysitter". Kinder können auf Grund fehlen- bislang gültige EG-Fernseh-Richtlinie in den Mit- der kognitiver und emotionaler Verarbeitungspro- gliedstaaten wirklich angewandt wird, d. h. 1. enge zesse durch die Montage der Bilder verängstigt und Auslegung der Jugendmedienschutzregelungen und verwirrt werden. Vertrauenspersonen müssen helfen, 2. EG-einheitlicher Vollzug. den Kindern die „symbolischen Codes" des Mediums Die EG-Länder müssen Verbotenes auch wirklich Fernsehen zu entschlüsseln. Dies setzt eine große verbieten. Ebenso müssen die Bundesländer im Rah- Motivation voraus, ist aber dringend notwendig. Hun- men ihrer Einflußmöglichkeiten darauf hinwirken, derttausende Kinder zwischen 6 und 13 Jahren sehen daß die Bestimmungen des Jugendschutzes eng inter- beispielsweise nachts in Hardporno-Videos Szenen, pretiert werden. Diesem Antrag zufolge würde die die auch für Erwachsene die Grenze des Zumutbaren Alternative zum Totalverbot für die Fernseh-Macher überschreiten. Im übrigen: Warum müssen eigentlich nur lauten, einzelne Sequenzen herauszuschneiden der Zweitfernseher und der Videoapparat im Kinder- und letztlich doch zu senden. Das Fernsehen steht in zimmer stehen? der Verantwortung, ein Wirklichkeitsbild zu vermit- Wissenschaftliche Studien (Vergleiche zwischen teln, das zur differenzierten Wahrnehmung befähigt, Viel- und Wenigsehern unter Berücksichtigung von ohne ständige Beigabe von Verzerrungen und Über- Altersstufen) ergeben, daß die Häufung von Gewalt zeichnungen. In einer Zeit, in der stumpfsinnige und - mit der Gewalttätigkeit von Jugendlichen korrespon- seichte Unterhaltung das Programm — auch vor diert. 23 Uhr! — bestimmt, in der Reality-TV Nervenkitzel bietet und Fernsehen zum blutigen Voyeurismus oder Fazit: Die F.D.P. kann sich einem Totalverbot von zur Peep-Show im Wohnzimmer verkommt, sind in Programmen, die Pornographie und Gewalt aufwei- der Tat wirkungsvolle Gegenmaßnahmen gefordert. sen, nicht anschließen und setzt weiterhin auf das Hier stimmen wir mit der SPD überein. Schutz darf Verantwortungsbewußtsein der Sender und den aber auch nicht zu überzogener und ungerechtfertig- öffentlichen Druck. Wir wissen, daß dies eine Grat- ter Kontrolle über die Zuschauer pervertieren. Kinder wanderung ist. Das Gebot der Stunde ist aber nicht, und Jugendliche sind nicht grundsätzlich schutzbe- neue Normen zu formulieren, sondern den Vollzug dürftig, sie müssen aber lernen, Probleme und Gefah- der vorhandenen Normen besser zu kontrollieren, ren zu erkennen und Strategien zu entwickeln, diese notfalls mit empfindlichen Sanktionen (Stichwort zu bewältigen. Lizenzentzug). Für Liberale ist dieser Schritt aber wirklich die Ultima ratio. Alle gesellschaftlichen Die heutige Debatte muß öffentliche Signalwirkung Gruppen sind gefordert, eindeutig und einmütig Maß- haben. Kleine, aber wichtige Schritte in die richtige nahmen zu ergreifen, um einer zunehmenden Verro- Richtung sind schon getan, und zwar auf Grund des hung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Der wirk- Drucks, der in der öffentlichen Diskussion in den samste Jugendschutz ist dann erreicht, wenn Kinder letzten Monaten entstanden ist. Die Einsetzung einer und Jugendliche gelernt haben, „nein" zu sagen. Anti-Gewalt-Kommission der ARD im vergangenen November ist lobenswert. Von der Medienkommis- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Kaum hat die Mehr sion der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstal- zahl der Abgeordneten des Bundestages im Eiltempo ten wird jetzt eine Analyse des Programmangebots in und ohne wirkliche gesellschaftliche Diskussion die Auftrag gegeben. Die ARD/ZDF-Medienkommission Verträge von Maastricht ratifiziert, schon holen uns hat ebenfalls beschlossen, den für die Aufsicht der die ersten Auswirkungen der Wirtschafts- und Wäh- Privatsender zuständigen Landesmedienanstalten rungsunion ohne soziale Begleitgesetze in Form von eine Beteiligung an der kontinuierlichen Analyse der unterschiedlich gehandhabtem Kinder- und Jugend- Fernsehprogramme der Privatsender einzuräumen. schutz in den EG-Mitgliedsländern ein. Gerade hat RTL-Chef Helmut Thoma angekündigt, das heftig umstrittene „Reality TV" drastisch zu Aber ich will hier nicht weiter auf die Frage der reduzieren. Dies sind erste Anzeichen dafür, daß auch Maastrichter Verträge und ihrer nachweislichen die Programm-Macher erkannt haben, daß nicht alles Negativwirkung eingehen, sondern diese erste gesendet werden kann, was gesendet werden darf. Lesung des Antrags der SPD zu EG-Fernsehrichtlinien Statt staatlich verschärfter Normen sollten alle Anstal- zum Schutze der Minderjährigen zum Anlaß nehmen, ten, die öffentlich-rechtlichen und die p rivaten mein Unverständnis darüber zum Ausdruck zu b rin- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12367* gen, in welcher Weise hier im Bundestag das Thema gung als jugendgefährdend zu verbieten sind, unter- Gewalt im Leben von Kindern und Jugendlichen stütze ich, halte sie aber in dieser Begrenztheit für immer wieder behandelt wird. Anhand einzelner unzureichend. Anträge oder Gesetzesinitiativen zu Teilproblemen wird versucht, an Symptomen etwas zu ändern, ohne Eine weitere Dimension nämlich, die durch keinen daß der gesellschaftlichen Dimension des Problems Beirat zu kontrollieren ist und hohe Steigerungsraten mit adäquaten gesetzgeberischen Mitteln begegnet erwarten läßt, entwickelt sich zur Zeit in Laserdromen wird. In der letzten Sitzungswoche hat die Kollegin und Cyberspaces sowie am Computer. Hier wird Falk von der Fraktion der CDU/CSU dazu bereits verfolgt, ermordet und gefoltert was das Zeug hält. gesprochen und ein neues Kinder- und Jugendschutz- Ausgerüstet mit einer Plastik-Laserpistole können gesetz gefordert, das alle sozialen Bereiche, vom sich die Kids an das „Deaktivieren" ihrer Mitspie- Elternhaus über die Schule bis zu Freizeit und Ausbil- lerlnnen machen und bekommen für jeden außer dungsplatz, umfassen muß. Dieser Forderung möchte Gefecht Gesetzten Punkte. Per Computer können sie ich mich heute anschließen. danach zu Hause im Kinderzimmer Krieg spielen, frei nach dem Werbespruch zum Computerspiel „Nord- Allein die Tatsache, daß wir uns in immer kürzeren see-Inferno": Metzel Dich frei. Wer zuerst schießt, Abständen mit den Problemen Gewalt, Gewaltdar- stirbt zuletzt! Nach Angaben von entsprechenden stellung und deren Auswirkungen befassen müssen, Fachmagazinen hat jeder zweite minderjährige Com- wirft doch ein bezeichnendes Licht auf die Situation, puterfan Gewaltspiele im Speicher, mit Vorliebe Sze- der Heranwachsende in unserer Gesellschaft ausge- nen aus dem Konzentrationslager und Attentate auf setzt sind. Bevor Kinder richtig sprechen, lesen und Prominente. schreiben können, haben sie bereits eins tief verinner- Diese Entwicklung ist nicht gerade ermutigend, und licht: Gewalt ist ein alltägliches Mittel der Durchset- ich denke, wir werden ihr mit unserer bisherigen zung von Interessen: der Eltern gegenüber den Kin- Herangehensweise nicht gerecht. Ich fordere die dern, der Männer gegenüber den Frauen, der Stär ke- Bundesregierung deshalb auf, einen Gesetzentwurf ren gegenüber den Schwächeren. für einen umfassenden Kinder- und Jugendschutz zu Die neuen elektronischen Medien, allen voran das erarbeiten, und schlage den Kolleginnen im Ausschuß Fernsehen als immer noch am häufigsten konsumier- für Frauen und Jugend vor, daran fraktionsübergrei- fend mitzuarbeiten. tes, fügen diesem Erfahrungsschatz weitere Formen der Gewaltrezeption hinzu. Vom Vormittagspro- gramm bis zur abendlichen Nachrichtensendung Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): steht täglich eine bunte Mischung aus „rauchenden Die Krankheit ist offensichtlich. Der Patient Gesell- Colts", „Conan der Barbar" und „Shakkar die Bestie" schaft wird von Tag zu Tag gewalttätiger, unbere- zur freien Auswahl. Selbst bei Trickfilmen können chenbarer. Horrormeldungen über kindliche Mörder, Eltern heute nicht mehr sicher sein, daß darin nicht über Fünf- bis Siebenjährige, die ihren eigenen Kin- Grausamkeiten aller Art gezeigt werden. Alles zu dergarten verwüsteten, über bewaffnete Auseinan- kinderfreundlichen Zeiten. Wobei Kinder und Ju- dersetzungen in Diskotheken jagen uns von einem gendliche natürlich auch zu den Zuschauern beim Entsetzen ins andere. besonders blutrünstigen Reality-TV und den Softpor- Über die Notwendigkeit, den Stillstand der Krank- nos der Privatsender gehören. Wer anderes denkt, heit, besser noch die Gesundung des Patienten zu hängt einem Wunschtraum nach. erreichen, besteht sicher Einvernehmen. Doch der Wenn Sie meinen, daß ich, was die Anzahl derarti- vorliegende Antrag leistet dazu nur einen sehr ger Sendungen betrifft, übertreibe, können Sie sich ja begrenzten Beitrag. eine beliebige Fernsehzeitung ansehen und selbst Den durchschnittlich 11 000 Stunden Schulzeit im nachzählen, wieviel Stunden Mord, Folter und Gewalt Leben eines Jugendlichen stehen 15 000 Stunden jeden Tag zu besichtigen sind. Wir sind schon mitten- Fernsehkonsum gegenüber. In dieser Zeit hat er drin in der Gewaltspirale, auch ohne einen nächtli- 30 000 bis 40 000 Gewalttaten am Bildschirm miter- chen Sender aus Holland. Von der im vorliegenden lebt. Es liegt auf der Hand, daß zwischen der passiv SPD-Antrag erwähnten selbstkritischen Auseinan- rezipierten und der aktiv praktizierten Gewalttätig- dersetzung bundesdeutscher Anbieter von Fernseh- keit ein Zusammenhang bestehen muß. Und weil es so programmen ist in der Praxis jedenfalls nichts zu schön bequem ist, wird aus diesem Zusammenhang spüren und wird sich auch so lange wenig ändern, wie eine Beziehung von Ursache und Wirkung konstru- allein Einschaltquoten über die Frage „senden oder iert. Das Gegenteil ist nicht zu beweisen. Viel war in nicht senden" entscheiden. Die Ausstrahlung jugend- jüngster Zeit zu lesen und zu hören über die Schuld gefährdender Sendungen, das heißt solcher, die die der Medien an der Verrohung der Sitten. körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schwer gefährden könn- Dabei ist die Diskussion um die möglichen Auswir- ten, ist in der Bundesrepublik bereits jetzt verboten. kungen von Gewaltdarstellungen uralt; bereits Platon Wo aber liegt die Grenze zwischen der „normalen" und Aristoteles stritten darüber. Während Platon die Beeinträchtigung von Interessen Minderjähriger und Dichter von Sagen und Märchen beaufsichtigen las- der vom Gesetzgeber als Kriterium geforderten sen wollte, damit nur die guten an die Leser weiter- schweren, und weshalb ist eine Beeinträchtigung gegeben würden, schrieb Aristoteles der Gewalt eine überhaupt erlaubt? Die diesbezüglichen Intentionen sozialhygienische Wirkung zu. der SPD, auch den Rundfunkstaatsvertrag dahin Obwohl sich gegenwärtig mehr als 2 000 Studien gehend zu ändern, daß alle Arten von Beeinträchti- weltweit mit dem Zusammenhang von Medienkon- 12368* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 sum und Gewalt beschäftigen, bleiben alle den kationsmöglichkeiten und nicht zuletzt der Mangel an Beweis schuldig, daß übermäßige Gewaltbereitschaft Integrität, im privaten wie im öffentlichen Leben. auf übermäßigen Medienkonsum zurückzuführen sei. Um zum Bild vom Anfang meiner Rede zurückzu- Nur zwei Ergebnisse gelten bisher als relativ gesi- kehren: Ich behaupte nicht, daß die Einschränkung chert: von Gewaltdarstellungen in den Medien nicht nötig Zum einen haben sich für die Herausbildung von wäre. Wollen wir jedoch die Krankheit wirk lich erfolg- Verhaltensweisen Persönlichkeit und soziales Umfeld reich bekämpfen, dürfen wir es nicht beim Kampf des Rezipienten als ausschlaggebend erwiesen. Das gegen Symptome belassen, sondern müssen uns der heißt, daß beobachtete Verhaltensweisen zwar vom Ursachen annehmen. Es ist daher höchste Zeit für die Gedächtnis gespeichert werden, ihre Ausführung gesamtgesellschaftliche Debatte über Werte, Normen jedoch von vielen außermedialen Faktoren abhängig und Ziele, die unser Zusammenleben in Zukunft ist. Am wichtigsten dabei ist beim normal entwickel- bestimmen sollen und die jungen Menschen Orientie- ten Kind, welche Konsequenzen im Falle der Nachah- rung geben können. mung zu erwarten wären, welche Haltung die Umwelt dazu einnimmt. Zum anderen scheint es unmöglich, objektive Krite- rien bzw. allgemeingültige Definitionen zu finden, Anlage 5 was Gewalt oder Pornographie ist. Seit der Antike ist Gewalt als dramaturgisches Mittel ein wesentliches Antwort Element der Unterhaltung. Und während hier die der Parl. Staatssekretärin Co rnelia Yzer auf die Frage Absicht zur Schädigung anderer möglicherweise als des Abgeordneten Herbert Werner (Ulm) (CDU/CSU) Kriterium noch taugen könnte, gehen bei erotischen (Drucksache 12/4433 Frage 24): Darstellungen die Meinungen noch weiter auseinan- der. Für viele ist James Baldwin ein großer Künstler, In welchen Bundesländern ist nach den Erkenntnissen der Bundesregierung die Bestimmung des Artikels 5 (§ 24 Abs. 2 für andere ein Perverser. Auch Platon hat wohlweis- Nr. 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch) des sog. Schwangeren- und lich darüber geschwiegen, was gut sei oder nicht gut Familienhilfegesetzes bereits verwirklicht worden, wonach das ist und wer darüber entscheiden sollte. Betreuungsangebot für Kinder im Alter von unter drei Jahren und Kinder im schulpflichtigen Alter bedarfsgerecht ausgebaut Zu beiden Grundaussagen steht der Antrag der SPD wird, und in welchen Bundesländern ist die Verwirklichung bis im Widerspruch. Ende dieses Jahres zu erwarten?

Zwar wird die Forderung nach Aufhebung- der Zunächst darf ich darauf hinweisen, daß die Ver- Abstufung von „schweren" und „einfachen" Beein- pflichtung zum bedarfsgerechten Ausbau der Tages- trächtigungen mit der Unmöglichkeit einer Abgren- einrichtungen für die genannten Altersgruppen zung begründet. Zugleich aber wird dabei die Mög- bereits vor der Verabschiedung des Schwangeren- lichkeit einer Definition vorausgesetzt, wenn im und Familienhilfegesetzes in § 24 Satz 2 Achtes Buch Begleittext gefordert wird, beeinträchtigende Pro- Sozialgesetzbuch gesetzlich verankert war. Es han- gramme ohne Ausnahme zu verbieten. delt sich insoweit um keine neue Rechtsverpflich- Auch findet sich im gesamten Text kein Wort, das tung. darauf schließen ließe, daß auch die Antragsteller Der Begriff „bedarfsgerechter Ausbau" ist aller- ihren Teil der Verantwortung für die immer gewalttä- dings unterschiedlichen Interpretationen zugänglich. tigeren Auseinandersetzungen innerhalb der Gesell- Deshalb wurde und wird die Bestimmung in den schaft übernehmen würden. Wer selbst Grundwerte einzelnen Länder und den kommunalen Gebietskör- wie den Schutz vor politischer Verfolgung preisgibt, perschaften auch unterschiedlich umgesetzt. Unge- darf sich über negative Auswirkungen nicht wun- achtet der Interpretationsunterschiede haben auch dem. Faktoren wie etwa die Zahl alleinerziehender Eltern- teile im jeweiligen Einzugsbereich Einfluß auf den Statt hier ein Wort hinzuzufügen und dort eines zu Bedarf. Daher läßt sich ein allgemein gültiger Maß- streichen, sollten wir uns als politisch Verantwortliche stab für die notwendige Bedarfsdeckung kaum auf- endlich mit den wirklichen Ursachen der Krankheit stellen. Im Rahmen der Kostenschätzung, die das befassen. Ich kann hier nur einige wenige in Erinne- Bundesministerium für Frauen und Jugend zusam- rung rufen: der permanente Streß durch überzogene men mit den kommunalen Spitzenverbänden im Auf- Leistungsanforderungen bereits an Kinder und trag des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Jugendliche; der Verlust des Verantwortungsgefühls Lebens " erarbeitet hat, ist hinsichtlich der Kinder für die Gemeinschaft und die daraus letztlich resultie- unter drei Jahren ein je nach örtlicher sozioökonomi- rende Nivellierung des Individuellen; das hohe Maß scher Struktur unterschiedlicher Bedarf an Plätzen für an Wahlmöglichkeiten, von denen jedoch nur ein 10 bis 30 % aller Kinder der Altersgruppe angenom- kleiner Teil gesellschaftlich anerkannt ist und die zu men worden (Deutscher Bundestag, Ausschußdruck- wenig Raum bieten für Minderheiten; der Mangel an sache 0088, Sonderausschuß Schutz des ungeborenen Autoritäten, die Werte vermitteln, nicht jedoch zu Lebens, 12. Wahlperiode S. 10). Der Kostenschätzung verwechseln mit autoritären Strukturen; der Mangel ist deshalb ein Betreuungsbedarf für 20 % aller Kinder an Verläßlichkeit, an gemeinsam erarbeiteten und im Alter unter drei Jahren zugrunde gelegt worden. von allen respektierten Regeln, deren Bruch auch geahndet wird; der Zusammenbruch der menschli- Im Rahmen der Jugendhilfestatistik wird im vierjäh- chen Kommunikationskultur; der Mangel an Identifi rigen Abstand die Zahl der Plätze in Kinderkrippen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12369* erfaßt, im jährlichen Abstand die Zahl der Kinder in Saarland 1,94 Tagespflege. Während die Plätze in Kinderkrippen Berlin 29,32 insgesamt der Altersgruppe von Kindern unter drei Im Durchschnitt der alten Bundesländer stehen für Jahren zugeordnet werden können, werden in Tages- 5,02 Kinder der Altersgruppe Plätze in Horten zur pflege auch ältere Kinder untergebracht. Nach den Verfügung. Auch hier ist davon auszugehen, daß sich Erfahrungen der Praxis werden etwa die Hälfte der die Zahl der Plätze seit dem 31. Dezember 1990 in Tagespflegestellen von Kindern unter drei Jahren in allen Bundesländern erhöht hat, auf Grund der Anspruch genommen. Geburtenentwicklung und der Zuwanderung ist Daraus können für die alten Bundesländer folgende jedoch auch hier nicht mit einer wesentlichen Verän- Ergebnisse abgeleitet werden (Anteil der Betreuungs- derung der Betreuungsquoten zu rechnen. plätze auf hundert Kinder im Alter bis zu drei Jah- In den neuen Bundesländern standen nach den ren): Angaben der Länder am 31. Dezember 1991 für 63 % Schleswig-Holstein 1,79 der Kinder Hortplätze zur Verfügung. Hamburg 12,81 Niedersachsen 2,30 Bremen 3,90 Nordrhein-Westfalen 1,34 Hessen 2,61 Anlage 6 Rheinland-Pfalz 1,07 Antwort Baden-Württemberg 2,12 Bayern 1,49 der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl Saarland 1,09 auf die Fragen der Abgeordneten Lieselott Blunck Berlin (West) 22,10 (Uetersen) (SPD) (Drucksache 12/4433 Fragen 28 Es ist davon auszugehen, daß sich die Zahl der und 29): Plätze seit dem 31. Dezember 1990 (Stichtag für die Ist der Bundesregierung bekannt, daß sog. „physikalische Statistik) in allen Bundesländern erhöht hat, auf Wasserbehandlungsgeräte" im Haushalt, im Gewerbe und in Industriebetrieben gegen die Bildung von Kalk und Rost in Grund der Geburtenentwicklung und der Zuwande- Leitungen und wasserbeschickten Geräten und Aggregaten rung werden sich jedoch die Betreuungsquoten bis eingesetzt werden, ohne daß weder dafür für das Handwerk oder zum 31. Dezember 1993 nicht wesentlich verän- den Bauherren und schon gar nicht für den Verbraucher die dern. dafür notwendigen wissenschaftlichen Erkentnnisse noch die notwendigen Normen vorliegen? In den neuen Bundesländern lag nach den Angaben Ist der Bundesregierung bekannt, daß derartige physikalische der Länder zum 31. Dezember 1991 das Platzangebot Wasserbehandlungsanlagen zur Bekämpfung der Legionellen für Kinder unter drei Jahren statistisch über 70 %. eingesetzt werden, ohne daß dafür ein Beleg für die Wirksamkeit Neuere Informationen lassen auf einen zwischenzeit- erbracht wird, und daß gegen die Geräte eher der Verdacht lichen Rückgang schließen. besteht, daß sie durch magnetische Feldstäbe im Niederfre- quenzbereich im Trinkwasser gesundheitsschädigende Ein- Für Kinder im schulpflichtigen Alter geht die flüsse ausüben können? Kostenschätzung des Bundesministeriums für Frauen und Jugend ebenfalls von einem Platzbedarf aus, der Zu Frage 28: je nach den örtlichen und regionalen sozioökonomi- schen Faktoren zwischen etwa 20 und 30 % schwankt. Alle bisher durchgeführten Untersuchungen zeig- Unter Einbeziehung von Betreuungsangeboten im ten, daß Geräte, die mit magnetischen oder elektro- Bereich der Schule wird für den Verwantwortungsbe- magnetischen Feldern arbeiten, unter reproduzierba- reich der Jugendhilfe ein Platzbedarf von 20 % im ren Laborbedingungen wirkungslos sind. Deshalb ist Bezug auf die Altersgruppe (Beginn der Schulpflicht bisher weder vom Deutschen Verein des Gas- und bis 10. Lebensjahr) angenommen. Wasserfaches (DVHW) noch vom Deutschen Institut für Normung (DIN) ein Gütezeichen vergeben wor- Im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfestatistik den. wird alle vier Jahre die Zahl der Plätze in Horten erfragt. Da es jedoch keine gesetzliche Altersgrenze Verbraucher, aber auch Gewerbebetriebe, die den für den Besuch von Horten gibt, werden dort auch Einbau derartiger Geräte beabsichtigen, sollten die Kinder im Alter von über zehn Jahren betreut. Genaue einschlägigen Bestimmungen der Trinkwasserver- Angaben dazu liefert die Statistik nicht. Rechnet man ordnung und insbesondere die Vorschriften der Ver- die vorhandenen Plätze nur auf die Kinder im schul- ordnung über Allgemeine Bedingungen für die Ver- pflichtigen Alter bis zur Vollendung des 10. Lebens- sorgung mit Wasser beachten. Nach § 12 der letztge- jahres um, so ergibt sich für die einzelnen Bundeslän- nannten Vorschrift dürfen bei Kundenanlagen nur der folgendes Platzangebot in Horten (je 100 Kin- Geräte eingebaut werden, die entsprechend den der): anerkannten Regeln der Technik beschaffen sind. Schleswig-Holstein 3,93 In Zweifelsfällen sollten sich Verbraucher vor dem Hamburg 19,55 Einbau solcher Geräte bei den Beratungsstellen von Niedersachsen 3,13 Wasserwerken oder Verbraucherverbänden beraten Bremen 15,11 lassen. Nordrhein-Westfalen 3,62 Hessen 7,17 Rheinland-Pfalz 2,35 Zu Frage 29: Baden-Württemberg 2,85 Geräte dieser Art sind zur Beseitigung mikrobiolo- Bayern 4,48 gischer Kontaminationen des Trinkwassers ungeeig- 12370* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 net. Insbesondere bei der Kontamination mit Legio durch die Aufbringung von Klärschlamm auf land- nellen im Warmwasserbereich bestünde die Gefahr, wirtschaftlich genutzten Böden entstehen könnten, daß sich der Verbraucher einer Gesundheitsschädi- unabhängig von ihrem subjektiven Verschulden haf- gung aussetzt, wenn er sich auf die angebliche keim- ten. Um derartigen Schäden von vorneherein entge- tötende Wirkung eines solchen Gerätes verließe. Über genzuwirken, wurden hinsichtlich der Klärschlam- mögliche gesundheitsschädigende Einflüsse durch maufbringung anspruchsvolle Anforderungen in der die magnetischen oder elektromagnetischen Felder neuen Klärschlammverordnung (AbfKlärV vom solcher Geräte liegen der Bundesregierung keine 15. April 1992; BGBl. I S. 912) festgelegt. Mit Inkraft- wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. treten der TA Siedlungsabfall werden auch für Kom- poste fachtechnische Anforderungen festgelegt. Die von den Landwirten verlangte Gefährdungshaf- tung der Klärschlammabgeber setzt nicht notwendi- Anlage 7 gerweise eine gesetzliche Regelung voraus. Vielmehr Antwort kann zwischen den klärschlammabgebenden Kom- munen und den abnehmenden Landwirten auch ver- der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl traglich vereinbart werden, daß die Kommunen für auf die Frage des Abgeordneten Jürgen Augustino- Schäden unabhängig von ihrem subjektiven Ver- witz (CDU/CSU) (Drucksache 12/4433 Frage 30): schulden einstehen müssen. Entsprechende Verein- Für wie gesundheitsschädlich hält die Bundesregierung das barungen sind in der Vergangenheit für Klärschlamm Passiv-Rauchen? gelegentlich getroffen worden. Zum flächendecken- den Abschluß entsprechender Verträge kam es nicht, Aus wissenschaftlichen Untersuchungen und epi- weil die Kommunalversicherer sich außerstande demiolgischeh Studien ist bekannt, daß eine chroni- sehen, für entsprechende Schadenersatzansprüche sche Exposition beim Passiv-Rauchen besonders bei Deckung anzubieten. Um den Landwirten für eventu- Bürgern mit chronischen Atemwegserkrankungen zu elle Schäden, die trotz Anwendung und Einhaltung einer Verschlechterung ihrer Erkrankung führen der Vorschriften der Klärschlammverordnung entste- kann. hen könnten, zumindest in begrenztem Umfang Bei Kindern, die zu über 50 Prozent häuslichem Ersatzleistungen zu verschaffen, wurde stattdessen Passivrauch ausgesetzt sind, ist mit erheblichen ein Klärschlammfonds eingerichtet. Gesundheitsgefährdungen zu rechnen. Das auf privatrechtlicher Grundlage errichtete Gleichzeitig wird seit einigen Jahren auch eine Fondsmodell ist besser als eine gesetzliche Haftungs- Krebsgefährdung und ein höheres Risiko für Atem-- regelung zum Ausgleich der betroffenen Interessen wegserkrankungen von passivrauchexponierten geeignet. Denn selbst wenn eine gesetzliche Gefähr- Nichtrauchern diskutiert. dungshaftung der Klärschlammabgeber begründet würde, wofür das novellierte Abfallgesetz aus rechts- Beispielsweise hat das Deutsche Krebsforschungs- systematischen Gründen nicht der geeignete Standort zentrum (DKFZ) im Frühjahr 1992 darauf hingewie- wäre, wären die mit der Versicherbarkeit entspre- sen, daß Passivrauchen ein erkennbarer Risikofaktor chender Schäden verbundenen Schwierigkeiten noch für die Entstehung des Lungenkrebses sei. Das DKFZ nicht gelöst. schätzt, daß in der Bundesrepublik Deutschland jähr- lich etwa 400 Lungenkrebsfälle bei Nichtrauchern auf Passivrauchen zurückzuführen sind, Zu Frage 35: Der Bundesminister für Verkehr und der Bundesmi- nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit haben sich bereits im Jahr 1990 an die für den Schutz Anlage 8 der Alleen zuständigen Straßenbau- und Natur- Antwort schutzverwaltungen der Länder gewandt und gebe- ten, die Erfassung und Bewertung besonders wertvol- des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf ler Alleenbestände sicherzustellen. Zur Unterstüt- die Fragen des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/ zung besonders der damals noch im Aufbau befindli- CSU) (Drucksache 12/4433 Fragen 34 und 35): chen Verwaltungen in den jungen Bundesländern hat Teilt die Bundesregierung die Auffassung der kommunalen der Bundesminister für Verkehr mit Unterstützung Spitzenverbände und des Deutschen Bauernverbandes, daß die durch den Bundesminister für Umwelt, Naturschutz zunehmenden Probleme bei der Entsorgung von Klärschlamm und Reaktorsicherheit Anfang 1991 eine Arbeits- und Kompost durch landwirtschaftliche Verwertung dann ent- schärft werden könnte, wenn eine gesetzliche Gefährdungshaf- gruppe eingerichtet mit dem Ziel, fachliche Hinweise tung zu Lasten der Klärschlammabgeber und Komposthersteller zur Erhaltung der Alleen im Bereich der klassifizierten eingeführt wird? Straßen zu erarbeiten. Als Ergebnis dieser Arbeits- Hält die Bundesregierung die Alleen an Landes- und Bundes- gruppe konnte der Bundesminister für Verkehr straßen in den neuen Ländern für erhaltenswert, wenn ja, was bereits am 13. Februar 1992 der Presse und der unternimmt die Bundesregierung konkret, um ggf. im Einver- interessierten Öffentlichkeit eine Broschüre „Merk- nehmen mit den Ländern die Alleen zu erhalten? blatt Alleen" vorstellen, die den zuständigen Verwal- tungen vorliegt und Empfehlungen über die Erfas- Zu Frage 34: sung und Zustandsbewertung von Alleen, über das Die Landwirtschaft fordert seit langem, daß die Aufstellen von Verkehrszeichen und verkehrslen- Klärschlamm- bzw. Kompostabgeber für Schäden, die kende Maßnahmen, das Anbringen von Fahrbahn- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993 12371*

markierungen, das fachgerechte Schneiden der Brandschutzgutachten zu Tschernobyl gefertigt und Bäume bis hin zur Reservierung der Alleen für Rad- die Ergebnisse — in Abstimmung mit der EG — am fahrer, Fußgänger und den landwirtschaftlichen Ver- 20. Januar 1993 im Rahmen einer Pressekonferenz in kehr enthält. Hamburg vorgestellt hat (siehe Anlage). Die Ergeb- Es ist nunmehr Aufgabe der L ander, die Umsetzung nisse sprechen für sich. der Anregungen des Alleenmerkblatts so vorzuneh- Nach Auffassung der Bundesregierung erübrigt men, daß bei der Pflege und Unterhaltung der Alleen sich deshalb eine gesonderte offizielle EG-Stellung- mit größter Sorgfalt, mit Sachverstand und mit nahme, zumal das keinerlei Auswirkungen auf die Berücksichtigung ortsbezogener Erfordernisse vorge- Maßnahmen vor Ort hätte. gangen wird. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Die jungen Bundesländer haben die Bedeutung der Kommission die Ergebnisse dieser Studie im Rahmen Alleen erkannt und sie in ihren Naturschutzgesetzen, ihres TACIS-Programms berücksichtigen wird. soweit sie schon erlassen sind, zu geschützten Land- schaftsbestandteilen erklärt (z. B. § 31 des Branden- burgischen Naturschutzgesetzes, § 4 des Ersten Gesetzes zum Naturschutz im Land Mecklenburg- Anlage 10 Vorpommern). Auch haben die Länder zum Teil schon auf dem Erlaßwege das Zusammenwirken von Stra- Antwort ßenbau- und Naturschutzbehörden zum Schutz, des Parl. Staatssekretärs Joachim Günther auf die Erhalt und Pflege der Alleen geregelt (z. B. gemein- Frage des Abgeordneten Josef Grünbeck (F.D.P.) samer Erlaß der Umweltministerien und des Wirt- (Drucksache 12/4433 Frage 38): schaftsministers des Landes Mecklenburg-Vorpom- Aus welchen Gründen wurde seitens des Bundesministers mern vom 20. Oktober 1992). Carl-Dieter Spranger die Verabschiedung des Entwurfs zur Novellierung der Wärmeschutzverordnung durch die Bundes- regierung abgelehnt, und inwieweit berührt diese Verordnung Kompetenzen des Bundesministeriums für wi rtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung? Anlage 9 Antwort Der Chef des Bundeskanzleramts hat den Entwurf zur Novellierung der Wärmeschutzverordnung bisher des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf nicht auf die Tagesordnung des Kabinetts gesetzt, die Fragen des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) weil noch Beratungsbedarf gesehen wird. Es finden (Drucksache 12/4433 Fragen 36 und 37): Gespräche auf politischer Ebene mit dem Ziel statt, in Kann die Bundesregierung Berichte bestätigen, nach denen nächster Zeit eine Kabinettbefassung zu ermögli- die ehemalige Sowjetunion mindestens zwei nukleargetriebene chen. Schiffe in der Ostsee versenkt hat, und wie beurteilt die Bundesregierung die Gefährdung von Mensch und Umwelt Im übrigen wird davon abgesehen, zu internen durch diese atomaren Wracks? Meinungsbildungsprozessen der Bundesregierung Kann die Bundesregierung bestätigen, daß der EG-Kommis- Stellung zu nehmen. sion in Brüssel bereits seit mehr als vier Monaten ein von der EG in Auftrag- gegebenes Brandschutzgutachten der Firma „svt Brandschutz" zu Tschernobyl vorliegt, ohne daß dazu bislang eine offizielle Stellungnahme erfolgt ist, und welche Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, damit sich die EG- Anlage 11 Kommission mit den Ergebnissen dieser brandschutztechni- schen Untersuchung unverzüglich und intensiv befaßt? Antwort des Parl. Staatssekretärs Joachim Günther auf die Zu Frage 36: Frage des Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum Der Bundesregierung sind keine Berichte über in (F.D.P.) (Drucksache 12/4433 Frage 39): der Ostsee versenkte oder untergegangene Nuklear- Trifft es zu, daß der Entwurf der Novelle der Wärmeschutzver- schiffe bekannt. Die russische Seite hat derartige ordnung im Dezember 1992 auf Intervention des Bundesmini- Behauptungen — zuletzt auch noch einmal anläßlich sters für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger, von der Tagesordnung des Kabinetts abgesetzt wurde, und wann des Besuches von Bundesminister Prof. Töpfer am wird der Entwurf vom Kabinett verabschiedet werden? 23. Februar 1993 bei einem Gespräch mit dem russi- schen Vizepremierminister Jurij Jarow in Moskau — Zur Beantwortung Ihrer Frage verweise ich auf als unzutreffend dargestellt, gleichwohl aber Über- sendung eines Berichts zu dieser Frage zugesagt. meine Antwort auf die Frage Nr. 38 des Kollegen Grünbeck. Entsprechend hatte sich in Gesprächen am 14./15. Fe- bruar 1993 der Direktor des russischen Auslands- Nachrichtendienstes, Primakov, gegenüber Staatsmi- nister Schmidbauer geäußert. Anlage 12 Zu Frage 37: Antwort Der Bundesregierung ist bekannt, daß die in Berlin des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage ansässige Firma SVT Brandschutz Vertriebs-GmbH des Abgeordneten Horst Peter (Kassel) (SPD) (Druck- International im Auftrag der EG-Kommission ein sache 12/4433 Frage 50): 12372* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. März 1993

Werden in Ländern der Europäischen Gemeinschaft Anträge Frankreich 26 650 auf politisches Asyl von Flüchtlingen aus Bulgarien, Ghana, Indien, Rumänien und der Türkei anerkannt, und wenn ja, in Griechenland 1 900 welcher Größenordnung? Irland 35 Italien 2 650 Luxemburg 2 000 Für das Jahr 1992 liegen dem Bundesministerium Niederlande 17 618 des Innern nur die Gesamtzahlen über den Zugang Portugal 182 von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten vor: Spanien 13 300 Vereinigtes Königreich 24 605 Zahl der Asylbewerber Bundesrepublik Deutschland 438 191 1992 Aufgeschlüsselt nach den in der Frage genannten Belgien 17 647 Herkunftsländern liegen dem Bundesministerium des Dänemark 11 023 Innern zur Zeit folgende Angaben vor:

Zahl der Asylbewerber 1992

Herkunftsländer EG-Staaten Bulgarien Ghana Indien Rumänien Türkei

Belgien 503 934 1 093 3 463 834 Dänemark 18 18 23 93 40 (1. bis 3. Quartal) Frankreich 101 426 750 1 774 1 654 Griechenland (2. und 3. Quartal) 0 0 0 0 244 Irland o. A. o. A. o. A. 12 o. A. Italien 610 19 7 1 696 8 Luxemburg (1. bis 3. Quartal) 0 0 0 13 5 Niederlande 197 140 94 960 721 Portugal (1. bis 3. Quartal) 0 5 6 51 1 Spanien 435 135 0 891 0 (1. und 2. (1. und 2. Quartal) Quartal) Vereinigtes Königreich 179 1 602 1 449 305 1 865 Deutschland 31 540 6 994 5 798 51 054 6 804

Anlage 13 Zur Frage der Erteilung eines Reisepasses an Erich Antwort Honecker hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag bereits in der Fragestunde am 20. Januar des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage 1993 über das Schreiben des Berliner Innensenators des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache vom 8. Januar 1993 und über die Antwort des Bundes- 12/4433 Frage 51): ministeriums des Innern vom 12. Januar 1993 unter- richtet. Dementsprechend hat die Bundesregierung Trifft es zu, daß der Berliner Innensenator sich bei der Ausstellung und Aushändigung eines Reisepasses an Erich auch eine schriftliche Frage des Abgeordneten Ch ri Honecker beim Bundesministerium des Innern rückversichert -stian Schmidt am 28. Januar 1993 beantwortet. hat, das ihm mitgeteilt hat, daß „nach Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesmi- Im übrigen bezog sich die seinerzeitige Stellung- nisterium der Justiz gegen seine Auffassung keine Einwendun- nahme des BMI auf die konkrete Anfrage des Landes gen erhoben werden" (Deutschland-Magazin 1/2 93), und warum hat die Bundesregierung auf meine Anfrage am 4. Fe- Berlin zu § 7 Abs. 1 Nr. 1 des Paßgesetzes. bruar 1993 zu den Umständen der schnellen Ausreise von Erich Honecker geantwortet, die Bundesregierung äußere sich nicht In Ihrer Frage vom 4. Februar 1993 ist das Paßrecht zu Fragen, die im Zuständigkeitsbereich eines Bundeslandes liegen? nicht angesprochen.