Kommissionsprotokoll 6

Kommission von und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung

Stenografischer Bericht

6. Sitzung

Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004

Inhalt:

Begrüßung durch den Vorsitzenden Franz Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Müntefering...... 127 A Deutscher Landkreistag ...... 128 B Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber Vorsitzender Franz Müntefering ...... 128 C (Bayern)...... 127 B Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (SPD) . . 129 A Vorsitzender Franz Müntefering ...... 127 D Bundesministerin (BMJ) . . 131 C Vorsitzender Franz Müntefering ...... 132 D Tagesordnungspunkt 1: Bundesministerin Renate Künast Europa (BMVEL) ...... 132 D Aussprache zu folgenden Themen- Staatssekretär Rudolf Böhmler schwerpunkten: (Baden-Württemberg) ...... 135 A I. Veränderungsbedarf bei Art. 23 GG, Staatsminister Herbert Mertin insbesondere unter folgenden Ge- (Rheinland-Pfalz) ...... 136 D sichtspunkten: Handlungsfähigkeit , MdB (FDP)...... 137 B der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union, Präzisie- Minister Wolfgang Gerhards rung der derzeitigen Rechtslage, (Nordrhein-Westfalen) ...... 138 A eventuelle Änderungen im Hinblick Dr. Norbert Röttgen, MdB (CDU/CSU) . . . 139 A auf die EU-Verfassung; Effektivie- rung der innerstaatlichen Willensbil- Prof. Dr. Rupert Scholz ...... 140 D dung Prof. Dr. Hans-Peter Schneider ...... 142 A II. Umsetzung von EU-Recht, inner- staatliche Kompetenzordnung und Rainder Steenblock, MdB Haftungsfragen im Bund-Länder- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)...... 143 A Verhältnis Dr. Hans-Peter Friedrich, MdB (CDU/CSU) 143 D III. Nationaler Stabilitätspakt ...... 127 D Staatsrat Prof. Dr. Reinhard Hoffmann (Bremen) ...... 144 C Vorsitzender Franz Müntefering ...... 128 A Axel Schäfer, MdB (SPD) ...... 145 B Prof. Dr. Adolf Spotka, Präsident des Landtages von Sachsen-Anhalt (CDU) . . . 128 A Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig...... 146 B

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung II 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht

Bundesminister (BMF) . . . . . 146 D Vorsitzender Franz Müntefering ...... 156 A Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber Staatssekretär Prof. Dr. Hansjörg Geiger (Bayern) ...... 148 B (BMJ) ...... 156 D Bundesminister Hans Eichel (BMF) . . . . . 148 D Volker Kröning, MdB (SPD) ...... 157 B Ministerialdirektor Dr. Walter Schön Minister Wolfgang Gerhards (Bayern)...... 149 A (Nordrhein-Westfalen) ...... 157 C Staatssekretär Prof. Dr. Hansjörg Geiger , MdB (CDU/CSU) ...... 158 C (BMJ) ...... 150 A Staatssekretär Dr. Frank Tidick Prof. Dr. Peter Huber...... 151 B (Mecklenburg-Vorpommern) ...... 158 D Vorsitzender Franz Müntefering ...... 152 A Vorsitzender Franz Müntefering ...... 159 A Prof. Dr. Dieter Grimm ...... 152 A Axel Schäfer, MdB (SPD) ...... 159 A Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber Bundesminister Hans Eichel (BMF) ...... 159 C (Bayern)...... 152 C Volker Kröning, MdB (SPD) ...... 160 A Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfalen)...... 152 D Vorsitzender Franz Müntefering ...... 160 C Dr. Norbert Röttgen, MdB (CDU/CSU) . . . 154 B Nächste Sitzung ...... 160 D Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (SPD) . . 154 D Prof. Dr. Hans Meyer ...... 155 C Berichtigung ...... 0000161 A

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht III

Verzeichnis der anwesenden Kommissionsmitglieder

Vorsitz

Franz Müntefering

Ordentliche Mitglieder Stellvertreter

Bundestag

SPD Hans-Joachim Hacker Volker Kröning Franz Müntefering Axel Schäfer Dr. Angelica Schwall-Düren Erika Simm Dr. Dieter Wiefelspütz

CDU/CSU Dr. Hans-Peter Friedrich Tanja Gönner Dr. Norbert Röttgen Dr. Günter Krings Heinz Seiffert Antje Tillmann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rainder Steenblock

FDP Ernst Burgbacher

Bundesrat

Baden-Württemberg Rudolf Böhmler, Staatssekretär, Chef der Staatskanzlei

Bayern Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident Dr. Walter Schön, Ministerialdirektor, Amtschef der Staatskanzlei

Berlin Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister André Schmitz, Staatssekretär, Chef der Staatskanzlei

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung IV 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht

Ordentliche Mitglieder Stellvertreter

Brandenburg Matthias Platzeck, Ministerpräsident Bremen Prof. Dr. Reinhard Hoffmann, Staatsrat, Chef der Senatskanzlei

Hamburg Dr. Roger Kusch, Senator, Präses der Justizbehörde

Hessen Roland Koch, Ministerpräsident Jochen Riebel, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Bevollmächtigter des Landes Hessen beim Bund

Mecklenburg-Vorpommern Dr. Frank Tidick, Staatssekretär, Chef der Staatskanzlei

Niedersachsen Elisabeth Heister-Neumann, Justizministerin

Nordrhein-Westfalen Wolfgang Gerhards, Justizminister

Rheinland-Pfalz Herbert Mertin, Staatsminister, Minister der Justiz

Saarland Karl Rauber, Staatssekretär, Chef der Staatskanzlei

Sachsen Dr. Thomas de Maizière, Staatsminister der Justiz Sachsen-Anhalt Rainer Robra, Staatsminister, Chef der Staatskanzlei

Schleswig-Holstein Annemarie Lütkes, Ministerin für Justiz, Frauen, Jugend und Familie

Thüringen Arndt Koeppen, Staatssekretär im Justizministerium

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Ordentliche Mitglieder Stellvertreter

Bundesregierung Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz Prof. Dr. Hansjörg Geiger, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen Volker Halsch, Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen Renate Künast, Bundesministerin für Verbrau- Alexander Müller, Staatssekretär im cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

Landtage

Sachsen-Anhalt Bayern Prof. Dr. Adolf Spotka (CDU), Alois Glück (CSU), Präsident des Landtages Präsident des Landtages

Schleswig-Holstein Martin Kayenburg (CDU)

Baden-Württemberg Wolfgang Drexler (SPD)

Hessen Jörg-Uwe Hahn (FDP)

Baden-Württemberg Berlin Winfried Kretschmann (BÜNDNIS 90/ Volker Ratzmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)

Kommunale Spitzenverbände

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Deutscher Landkreistag

Sachverständige

Prof. Dr. Arthur Benz, Fernuniversität – Gesamthochschule in Hagen Prof. Dr. Dieter Grimm, Wissenschaftskolleg Berlin Prof. Dr. Peter Huber, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Prof. Dr. Hans Meyer, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Rüdiger Pohl, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung VI 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht

Ordentliche Mitglieder Stellvertreter

Prof. Dr. Fritz W. Scharpf, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Rupert Scholz, Ludwig-Maximilians-Universität München

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht 127

(A) (C) Redetext

6. Sitzung

Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004

Beginn: 15.15 Uhr

Vorsitzender Franz Müntefering: sprechend gestärkt wird. Wenn der Bund die engen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich be- Fesseln des Bundesrates in der Gesetzgebung abstrei- grüße Sie ganz herzlich zur 6. Sitzung der Kommission fen und seine Handlungsfähigkeit gegenüber der Euro- zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. päischen Union erweitern will, dann muss er auch be- Das Thema unserer heutigen Beratungen ist Europa. reit sein, den Ländern mehr Handlungsmöglichkeiten Bevor wir aber mit diesem Thema beginnen, hat Herr einzuräumen. Föderalismus ist nur dann lebendig, Ministerpräsident Stoiber das Wort. Er wird etwas zu wenn die Länder eigenverantwortlich Landespolitik den Ergebnissen der Ministerpräsidentenkonferenz gestalten können und unterschiedliche politische Ziel- Anfang Mai und zu den Weiterungen sagen, die sich setzungen und Konzepte in einen gesunden, kreativen daraus für unsere Arbeit ergeben. – Herr Stoiber, bitte Wettbewerb um die besten Lösungen und Ideen ein- schön. bringen können. Ich habe das Positionspapier der Ministerpräsiden- (B) ten der Geschäftsstelle der Kommission übergeben, da- (D) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): mit es noch heute als Kommissionsdrucksache verteilt Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde werden kann. – So viel zu dem Ergebnis, zu dem wir in aller Kürze über die Sonderkonferenz der Minister- am 6. Mai gekommen sind. präsidenten berichten, die am 6. Mai in Berlin stattge- funden hat. Die Ministerpräsidenten haben sich sechs Stunden lang intensiv mit der Föderalismusreform be- Vorsitzender Franz Müntefering: fasst und ein Positionspapier beraten, das im Großen Vielen Dank, Herr Stoiber. – Ich möchte in diesem und Ganzen eine gemeinsame Länderposition formu- Zusammenhang anmerken, dass wir ein Obleutege- liert. Ich bin als Vorsitzender der Ministerpräsidenten- spräch geführt haben, zu dem die Ergebnisse der Mi- konferenz beauftragt worden, diese Position in die Dis- nisterpräsidentenkonferenz bereits vorlagen. Ich halte kussion mit der Bundesregierung und auch mit dieser dieses Positionspapier für sehr hilfreich; denn es ist Kommission einzubringen. Eine solche gemeinsame eine Grundlage für die weiteren Beratungen. Darin Positionierung ist nicht ganz einfach, weil die Länder wird eine ganze Reihe von Fragen auf den Punkt ge- von unterschiedlichen Interessenlagen geprägt sind. bracht und es kann uns insofern als Orientierung die- Deshalb musste das eine oder andere Land zum Teil nen. Ich bin sicher, dass es in unserer weiteren Arbeit die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zugunsten einer hilfreich sein wird. gemeinsamen Verhandlungsposition zurückstellen. Ich Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf: glaube aber, dass es uns trotz aller Unterschiedlichkeit gelungen ist, eine Position zu finden, die es uns ermög- Europa licht, zu einem Reformkonzept zu gelangen, das der Aussprache zu folgenden Themenschwer- Interessenlage der Länder, aber auch des Bundes Rech- punkten: nung trägt und den Föderalismus nach vorne bringt. I. Veränderungsbedarf bei Art. 23 GG, insbe- Den Kolleginnen und Kollegen war bei den Bera- sondere unter folgenden Gesichtspunkten: tungen bewusst – dies stelle ich deutlich heraus –, dass Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik eine Reform des Föderalismus nur dann gelingen kann, Deutschland in der Europäischen Union, wenn es am Ende zwei Gewinner gibt: den Bund und Präzisierung der derzeitigen Rechtslage, die Länder. Eine Stärkung der Politikfähigkeit des eventuelle Änderungen im Hinblick auf die Bundes kann von den Ländern nur dann mitgetragen EU-Verfassung; Effektivierung der inner- werden, wenn auch die Politikfähigkeit der Länder ent- staatlichen Willensbildung

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 128 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht

Vorsitzender Franz Müntefering (A) II. Umsetzung von EU-Recht, innerstaatliche die Vertreter der Landesparlamente gern daran beteili- (C) Kompetenzordnung und Haftungsfragen im gen, jedenfalls bei Themen, die von unmittelbarer Bund-Länder-Verhältnis Kommunalrelevanz sind; dazu gehört Art. 84 des Grundgesetzes; dazu gehören aber auch die Fragen des III. Nationaler Stabilitätspakt Besoldungs- und Dienstrechts sowie der Gesetzge- Zu diesem Thema hat es erste Diskussionen gege- bungskompetenzen in den Bereichen regionale Ar- ben, die aber noch nicht so ausführlich und intensiv beitsmarktpolitik, Wohnungswesen und öffentliche waren, wie es erforderlich ist. Wir haben uns für heute Fürsorge. vorgenommen, aus den bisherigen Beratungen drei As- pekte herauszugreifen, die von besonderem Gewicht Vorsitzender Franz Müntefering: sind. Alles hat zwar miteinander zu tun – manchmal Wir können dies sicherlich mit Gelassenheit sehen. gibt es Überlappungen –, aber ich wäre dankbar, wenn Wir hätten die Kommission noch darüber informiert, wir uns in den ersten zwei Stunden auf Teil I, Verände- was wir hinsichtlich der Arbeitsweise besprochen ha- rungsbedarf bei Art. 23 des Grundgesetzes, konzen- ben. Es gibt keine neuen Gremien; vielmehr ist unver- trierten. ändert die Kommission in ihrer derzeitigen Zusam- Mir liegen sowohl von der Bundesseite als auch von mensetzung das entscheidende Gremium. Diese der Länderseite Wortmeldungen vor: Frau Schwall- Kommission hat zwei große Arbeitsgruppen, die für Düren hat Interesse angemeldet, hier zu berichten; die beiden großen Komplexe, die ich nicht noch ein- vonseiten der Bundesregierung haben Frau Zypries mal im Einzelnen nennen will, gute Vorarbeit geleistet und Frau Künast um das Wort gebeten und von der haben. Bei der Behandlung der Themen im Obleutege- Länderseite hat sich Herr Böhmler zu Wort gemeldet, spräch Anfang Mai waren wir gemeinsam der Auffas- da sich Herr Teufel für heute entschuldigt hat. sung, dass der Zeitdruck groß ist, wenn wir in diesem Jahr zu einem Ergebnis kommen wollen, und dass be- Ich sehe jetzt noch zwei Wortmeldungen. Handelt stimmte Einzelaspekte besonders beleuchtet und bear- es sich um Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? – beitet werden sollten. Insofern sind die Projektgruppen Das ist der Fall. Bitte schön. keine neue Institution der Bundesstaatskommission; vielmehr wird jeweils vier Personen – Vertretern von Prof. Dr. Adolf Spotka, Präsident des Landtages Bund und Ländern, A- und B-Seite – ein konkreter von Sachsen-Anhalt (CDU): Auftrag erteilt. Sie sollen sich einige Zeit mit einem Herr Vorsitzender, wir haben soeben von dem Be- bestimmten Thema befassen, dabei alles einbeziehen, schluss der Obleute Kenntnis erhalten, dass den Vertre- was erforderlich ist, und dann den großen Arbeitsgrup- (B) tern der Landesparlamente und der Kommunen die pen bzw. der Kommission berichten. (D) Mitarbeit in den Projektgruppen versagt wird. Die Ar- Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, ob alle, die beit der Bundesstaatskommission, die in den Projekt- dieser Kommission angehören, auch an der Arbeit der gruppen fortgeführt wird, tritt jetzt in eine entschei- kleinen Projektgruppen beteiligt werden sollten. Da- dende Phase, in der die Dinge gewissermaßen durch würden aber wieder große Arbeitsgruppen ent- festgeklopft werden. Den Landesparlamenten in dieser stehen. Gleichwohl werden wir Ihre Anliegen berück- Phase den Zutritt zu versagen, halten wir für eine Be- sichtigen; sie werden Gegenstand des nächsten schränkung der uns ursprünglich zugesagten Mitspra- Obleutegesprächs sein. Ich bitte aber, zu akzeptieren, che-, Mitberatungs- und Antragsrechte. Insofern neh- dass wir zunächst einmal so beginnen, wie wir es mit- men wir diesen Beschluss mit großem Unverständnis einander vereinbart haben. Es muss sich dadurch nie- zur Kenntnis. Wir fordern, ihn zu überdenken, und ver- mand benachteiligt fühlen. Die Projektgruppen haben langen, dass Sie uns die Möglichkeit geben, je einen keinerlei Entscheidungsbefugnis und treffen auch Vertreter in die Projektgruppen der Bundesstaatskom- keine abschließenden Feststellungen. Dies ist den bei- mission zu entsenden. Bitte überdenken Sie diesen Be- den großen Arbeitsgruppen und der Kommission vor- schluss und öffnen Sie den Vertretern der Landesparla- behalten. mente die Türen zu den Projektgruppen! Dass an bestimmten Stellen über bestimmte Dinge Herzlichen Dank. miteinander gesprochen wird, geschieht allenthalben: bei uns ebenso wie bei Ihnen, zum Teil organisiert, Vorsitzender Franz Müntefering: zum Teil auch spontan. Sie wissen, wie dies funktio- Herr Henneke. niert. Deshalb bitte ich darum, dieses Thema niedriger zu hängen. Es gibt keinen Grund, misstrauisch zu sein. Das, was in diesen Projektgruppen behandelt wird, Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Deutscher Land- kreistag: wird an niemandem vorbeigehen. Bitte nehmen Sie dies zu diesem Zeitpunkt als Ergebnis der Obleutebe- Ich schließe mich diesen Ausführungen für den sprechung hin. kommunalen Bereich an. Bisher haben wir im Plenum und in zwei Arbeitsgruppen, aber ausdrücklich nicht in Wir werden noch konkrete Vorschläge hinsichtlich anderen Organisationsformen getagt. Wir sind bisher der Ausgestaltung machen. Wir werden in absehbarer auch gar nicht über andere Organisationsformen unter- Zeit wieder zusammentreffen. Dann werden wir sehen, richtet worden. Wenn diese nun entstehen sollten, wäre ob und wie das Verfahren funktioniert. Für mich hat es es ein überraschender Vorgang und wir würden uns wie im Wesentlichen den Charakter von Berichterstatter-

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Vorsitzender Franz Müntefering (A) aufträgen an Mitglieder der Kommission. Wenn die schlanken ist, weil es sich um ein zu komplexes Regel- (C) Aufträge konzentriert abgearbeitet werden sollen, sind werk handle, das zulasten der Durchsetzung deutscher kleine Gruppen notwendig. Dass wir Ihnen die Teil- Interessen und der Handlungsfähigkeit in der EU gehe. nahme daran versagt hätten, war – ich will hier keine Die Regelungen des Art. 23 des Grundgesetzes führten Schärfe hereinbringen – etwas zu stark formuliert. Wir zu einem innerstaatlichen Koordinierungsbedarf, der versagen niemandem die Mitarbeit in der Kommission. den Anforderungen an die europäische Politik nicht Allerdings müssen wir auch auf die Arbeits- und Funk- gerecht werde. Imperative Mandate – hier ist an die tionsfähigkeit der Kommission achten und unsere Ar- Möglichkeit einer „maßgeblichen Berücksichtigung“ beit für die kommende Zeit hinreichend strukturieren. zu erinnern – schwächten die Verhandlungsposition Dadurch muss sich niemand benachteiligt fühlen. Deutschlands in der EU. Andererseits bestehe gerade hier – dies hat in der letzten Sitzung zu diesem Thema Jetzt kommen wir zu Punkt I, Veränderungsbedarf eine Rolle gespielt – ein eklatantes Ungleichgewicht bei Art. 23 des Grundgesetzes. Ich gebe Frau Schwall- zulasten des Bundestages, dessen Stellungnahmen le- Düren das Wort. – Bitte schön. diglich Berücksichtigung fänden, also der verfassungs- mäßigen Stellung des Bundestages eigentlich nicht ge- Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (SPD): recht würden. Die Position des Bundes werde durch Vielen Dank, Herr Vorsitzender. – Meine Herren Initiativen und Einflussnahmen einzelner Länder bei Vorsitzenden! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- den EU-Institutionen geschwächt. Glaubwürdigkeits- gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die und Effizienzverluste seien die Folge. Frage der Europatauglichkeit ist ja in den bisherigen Deswegen wird eine weitere europapolitische Stär- Beratungen als hinlänglich wichtig erkannt worden. kung der Länder von keinem Sachverständigen emp- Deswegen möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, fohlen. Ganz im Gegenteil hat sich die Mehrzahl der eine Einschätzung des bisherigen Standes der Beratun- Sachverständigen dafür ausgesprochen, die Hand- gen zu geben, ein paar Anmerkungen dazu zu machen, lungsspielräume des Bundes auszudehnen. Von man- wo wir Gemeinsamkeiten haben, aber auch Divergen- chen Sachverständigen wurde davor gewarnt, dass die zen und offene Fragen anzusprechen und die Positio- Mitwirkung der Länder an der Willensbildung der EU nierung der jeweiligen betroffenen Gruppen in Erinne- als Kompensation des vermeintlichen Verlustes inner- rung zu rufen, um anschließend einige Leitlinien zu staatlicher Gestaltungsbefugnisse zu einer Schwä- formulieren, die aus unserer Sicht als Fokus für Ent- chung deutscher Interessen durch fehlende Einheitlich- scheidungen dienen können, die wir am Ende unserer keit und zwangsläufige Verzögerungen bei der Beratungen zu treffen haben. Willensbildung führen werde; so ließ sich zum Bei- (B) Im Hinblick auf die Zielsetzung einer verbesserten spiel Herr Professor Wieland ein. (D) Europatauglichkeit der bundesstaatlichen Ordnung hat sich, wie ich meine, zwischen den Beteiligten bislang Die Länder ihrerseits haben diese Kritik einmütig ein grundsätzliches Einvernehmen in folgenden drei zurückgewiesen. Aber es ergibt sich länderseitig ein Punkten herausgestellt: Erstens. Deutschlands Hand- uneinheitliches hinsichtlich der Frage, ob und ge- lungsfähigkeit im Rahmen der Europäischen Union gebenenfalls wie Art. 23 des Grundgesetzes zu refor- und deren Entscheidungsprozesse ist zu stärken. Zwei- mieren sei bzw. welcher Anpassungsbedarf sich hier tens. Die Interessen des Bundes und die Interessen der durch die zukünftige EU-Verfassung ergeben werde. Länder sind bei der Gestaltung deutscher Europapoli- Neben denjenigen Ländern, die sich für eine weit ge- tik im gesamtstaatlichen Interesse ausreichend zu be- hende Beibehaltung des Art. 23 des Grundgesetzes rücksichtigen. Drittens. Bestimmte nationale Regelun- aussprechen, gibt es auch Länder, die sich einen radi- gen sind mit Blick auf die künftige europäische kalen Kurswechsel als Option vorstellen können, so Verfassung anzupassen; hier sind die Stichworte Subsi- Baden-Württemberg. Das ist das Modell der europapo- diaritätskontrolle und Klagerechte zu nennen. litischen Totalentflechtung, das zum Ziel hat, „den Ländern für die Bereiche ihrer innerstaatlichen Gesetz- Jenseits dieser Gemeinsamkeiten gibt es aber bisher gebungszuständigkeit ein alleiniges Handlungsrecht in keine Verständigung zwischen Bund und Ländern hin- europäischen Angelegenheiten zuzugestehen und da- sichtlich der Frage, welche Wege einzuschlagen sind, mit auch die betreffenden Materien eigenverantwort- um die in der Tagesordnung genannten Punkte im Rah- lich in den EU-Organen und -Institutionen zu vertre- men der Verfassungsreform umzusetzen. Dies gilt ins- ten“. In diesem Zusammenhang wird auf das besondere im Hinblick auf die Überlegungen zu Nachbarland Belgien als positives Beispiel verwiesen, Art. 23 des Grundgesetzes. Vor diesem Hintergrund wobei doch viele Kenner vor einer „Belgisierung“ un- fällt umso mehr die eindeutige Kritik der von der seres deutschen Bundesstaates warnen. Kommission bestellten Sachverständigen an Art. 23 des Grundgesetzes auf. Die Sachverständigen sind hier Von der Bundesregierung wird demgegenüber die wie in kaum einem anderen Bereich einig, indem sie Einschätzung der Sachverständigen geteilt – ich nehme diese Kritik in unterschiedlicher Schärfe und unter- an, dass unsere beiden Ministerinnen hier Entsprechen- schiedlicher Tiefe vortragen. Ich führe einige ihrer Kri- des ausführen werden –, dass die bestehenden Regelun- tikpunkte an: gen des Art. 23 des Grundgesetzes zu weit gehen. Bis- lang habe man zwar – so habe ich es verstanden – im Eine von den Sachverständigen vertretene Position Zusammenwirken von Bund und Ländern größere Kon- lautet, dass der Art. 23 des Grundgesetzes zu ver- flikte in der Anwendung von Art. 23 des Grundgesetzes

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 130 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht

Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (A) durch pragmatische Lösungen vermeiden können; aber politik vermag, erfolgreich Koalitionen mit anderen (C) im Hinblick auf die zunehmende Komplexität der in der EU-Partnern zu schmieden und themenübergreifende Europäischen Union zu behandelnden Materien und im Paketlösungen verbindlich zu vereinbaren. Von den Hinblick auf die zunehmende Zahl von Mitgliedslän- Ländern kann dies aus meiner Sicht weder aus politi- dern seien auf der Grundlage des Art. 23 des Grundge- scher noch aus rechtlicher, organisatorischer oder fach- setzes Konflikte vorprogrammiert und werde der euro- licher Sicht geleistet werden. Auch dies spricht für papolitische Spielraum des Bundes in unangemessener eine einheitliche Vertretung Deutschlands im Rat Weise eingeschränkt. durch die Bundesregierung. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem mit Blick Viertens. Im gesamtstaatlichen Interesse muss die auf den bisherigen Stand der Beratungen die Bundes- deutsche Europapolitik künftig kohärenter auftreten. staatskommission den Weg für tragfähige Lösungsan- Das heißt, sie muss mit einer Stimme sprechen. Für sätze ebnen muss. Das bedeutet, sich von unrealisti- Deutschland als Ganzes sollte auf der EU-Ebene aus- schen Maximalpositionen zu verabschieden, damit schließlich der Bund handeln. Daher ist die Vertretung Grundlagen für einen zufrieden stellenden Kompro- im Rat in allen Fällen der Bundesebene zuzuordnen. miss gefunden werden. Es ist ein realistischer Ansatz gefragt, der die europapolitische Handlungsfähigkeit Fünftens. Das Ziel einer deutlich verbesserten euro- Deutschlands stärkt und damit für eine angemessene papolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands ist Berücksichtigung des gesamtstaatlichen Interesses des deshalb mit einer Reform des Art. 23 des Grundgeset- Bundes und der Länder bei der Gestaltung der deut- zes eng verknüpft. Dabei dürfen weder die berechtig- schen Europapolitik sorgt. ten europapolitischen Interessen der Länder noch die ihnen innerstaatlich zugewiesenen Kompetenzen außer Vor diesem Hintergrund und mit dieser Absicht Acht gelassen werden. Die Beteiligung der Länder an werde ich jetzt einige Leitlinien formulieren: der Gestaltung und Umsetzung der deutschen Europa- Erstens. Die Reform der bundesstaatlichen Ordnung politik ist unbestritten; sie ist wichtig und sinnvoll und muss zu einer deutlich spürbaren Stärkung der europa- liegt im gesamtstaatlichen Interesse. Es sind aber Klar- politischen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik stellungen und Anpassungen nötig, die den zuvor be- Deutschland auf allen Ebenen und in allen Phasen der schriebenen praktischen Anforderungen an eine wirk- Politikgestaltung führen. Eine Ausweitung der bereits same Vertretung deutscher Interessen in der EU bestehenden Mitwirkungsrechte der Länder gerade vor gerecht werden. Den Ländern sind deshalb im Gegen- dem Hintergrund der Gutachtermeinungen und der zug rechtliche und organisatorische Gewährleistungen durchaus umstrittenen Praxis des Art. 23 des Grundge- zu geben. Auch ist daran zu denken, die europapoliti- (D) (B) setzes ist dabei nicht zielführend. Hingegen ist zu prü- sche Bund-Länder-Zusammenarbeit durch weitere fen, welche Auswirkungen sich aus einer möglichen konkrete Verfahrensabsprachen und Fristvereinbarun- Neuordnung der innerstaatlichen Kompetenzordnung gen zu straffen, um das Verhalten aller beteiligten Ak- für Art. 23 des Grundgesetzes ergeben. teure im Sinne einer deutlich verbesserten Effizienz zu disziplinieren. Gleichzeitig muss die Mitwirkung des Zweitens. Deutschland benötigt im Rahmen der eu- Bundestages äquivalent abgesichert werden. ropäischen Politikgestaltung künftig ein weitaus höhe- res Maß an Verhandlungsflexibilität. Die Verhand- Sechstens. Die Verbesserung der Europafähigkeit lungsposition der Bundesregierung darf nicht durch des föderalen Systems muss mit der nachhaltigen Stär- imperative Mandate fixiert werden. Eine uneinge- kung der Effizienz und Transparenz sowie der demo- schränkte Bindung des Bundes an die Stellungnahme kratischen Legitimation und Kontrolle von Politik ver- des Bundesrates, die zudem die unterschiedlichen Pha- knüpft sein. Die auch aus Gründen der Effizienz sen des europäischen Entscheidungsprozesses von der angestrebte Entflechtung der bundesstaatlichen Ord- Initiativ- bis zur Entscheidungsphase nicht berücksich- nung darf in der Konsequenz nicht zur Verlagerung tigt, würde eine Paralyse der deutschen Verhandlungs- von Verflechtungsproblemen auf die europäische führung herbeiführen und entspräche in keiner Weise Ebene führen. Eine klare Zuweisung der politischen dem Ziel einer aktiv gestaltenden, also auch koalitions- Verantwortung muss erfolgen. Eine Verhandlungsfüh- fähigen Europapolitik. Imperative Mandate sind für rung in den europäischen Räten durch einen Bundes- die europapolitische Praxis ungeeignet und sollten ver- ratsvertreter wäre gesamtstaatlich nicht durch ein par- worfen werden. lamentarisches Gremium demokratisch legitimiert, wie es ein Mitglied der Bundesregierung durch den Bun- Drittens. Deutschlands Europapolitik muss sich auf destag ist. die veränderten Rahmenbedingungen im institutionel- len Gefüge der EU einstellen. In der erweiterten Euro- Siebtens. Überlegungen, die auf eine europapoliti- päischen Union werden Mehrheitsentscheidungen des sche Totalentflechtung in Deutschland abzielen, kön- Rates im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens mit nen nicht ernsthaft Gegenstand der Beratungen der dem Europäischen Parlament zur Regel. Außerdem Kommission sein. Deutschland muss europapolitisch wird angesichts der zunehmenden Themenbreite euro- wie ein Bundesstaat und nicht wie ein Staatenbund päischer Politik die schon heute übliche Praxis der so handeln. Forderungen nach einer Totalentflechtung genannten Paketlösungen weiter an Bedeutung gewin- führen in der Konsequenz zu einer totalen Fragmentie- nen. Erfolgreiche Politik kann unter diesem Vorzei- rung der deutschen Europapolitik und sind daher nicht chen nur dann gelingen, wenn es die deutsche Europa- diskutabel. Aber umgekehrt darf das Ziel einer verbes-

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Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (A) serten Europafähigkeit auch nicht als Vorwand für eine mung des Bundesrates entsprächen nicht dem von der (C) einseitige Zentralisierungsdynamik auf Bundesebene europäischen Verfassung hergestellten Systemzusam- dienen. menhang und sind deswegen aus unserer Sicht abzu- lehnen. Achtens. In Fragen der Europapolitik müssen das Bundesstaatsprinzip gewahrt und die Fähigkeit des Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, Bundesrates zu Mehrheitsentscheidungen erhalten Sie haben meinen Ausführungen entnehmen können, bleiben. Es ist zu vermeiden, dass die unterschiedli- dass wir bereit sind, Brücken zu bauen, um aufeinan- chen europapolitischen Kapazitäten der Länder zu Ver- der zuzugehen und gemeinsame Lösungen zu finden, zerrungen in der Interessenwahrnehmung führen. die die Wahrnehmung gesamtstaatlicher Interessen des Bundes und der Länder bei der europapolitischen Neuntens. Erlauben Sie mir, auch wenn es nachher Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik optimieren. ein eigener Punkt ist, an dieser Stelle einen Hinweis auf die Umsetzung europäischen Rechts: Jenseits der Vielen Dank. Fragen, was wir hier auf der Bundesebene zu optimie- ren haben, muss auch die Frage der Umsetzung zwi- Vorsitzender Franz Müntefering: schen Bund und Ländern geprüft werden. Hier gibt es Auch Ihnen vielen Dank. Ich habe den Eindruck, als Alternative eine strikte Trennung und eine grund- mit dieser Brücke wurde ein großer Bogen geschlagen. sätzliche Umsetzungskompetenz des Bundes. Diese (Heiterkeit) Frage muss unbedingt mit der Haftungsfrage verknüpft werden. Man wird sich in der Mitte treffen. Zehntens. Ich erlaube mir hier, bevor ich zum Nun hat Frau Zypries das Wort. Schluss komme, auch eine Anmerkung zu Art. 24 des Grundgesetzes, weil dies ebenfalls Gegenstand unserer Bundesministerin Brigitte Zypries (BMJ): Beratungen ist. Die Möglichkeiten zur Verbesserung Vielen Dank, Herr Vorsitzender. der Handlungsfähigkeit der Länder im Rahmen der grenznachbarschaftlichen Kooperation sind ernsthaft Frau Schwall-Düren, ich danke Ihnen für die Bun- in Erwägung zu ziehen. Vor dem Hintergrund der ein- desregierung für diese Vorlage. deutigen Stellungnahmen der Sachverständigen wird (Teilweise Lachen) zwar die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung bestritten. Aber man sollte doch die von Baden- Es bietet sich an, daran anzuknüpfen. (B) Württemberg und Nordrhein-Westfalen eingereichte Art. 23 des Grundgesetzes ist 1992 eingefügt wor- (D) Arbeitsunterlage mit den dort vorgetragenen Argumen- den. Er war damals das Ergebnis der Verhandlungen ten ernsthaft prüfen und darüber nachdenken, ob für über die Bereitschaft der Länder, den Maastricht-Ver- die grenzüberschreitende Zusammenarbeit entweder trag zu ratifizieren. Deshalb sind seinerzeit relativ durch Veränderung dieses Grundgesetzartikels oder viele Forderungen der Länder aufgenommen worden. durch einfachgesetzliche Vorschriften Regelungen ge- Zwölf Jahre sind eine gute Zeit, um diesen Grundge- troffen werden, die die Kooperationsmöglichkeiten op- setzartikel zu evaluieren und zu sehen, ob das Ganze timieren. so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hatte. Elftens und letztens. Die in Aussicht genommene Die Bundesregierung hat Ihnen dazu schon ein Pa- europäische Verfassung begründet keinen zusätzlichen pier vorgelegt. Sie haben es mit Schreiben von Herrn Kompensationsbedarf für die Länder. Genau das Ge- Professor Geiger mit Datum 3. Mai 2004 bekommen; genteil ist der Fall, da zentrale Länderforderungen in es ist die Kommissionsdrucksache 41. Dort können Sie dem Entwurf der europäischen Verfassung weitgehend nachlesen, was ich Ihnen jetzt vortragen werde. verwirklicht werden konnten. Auch die neuen poten- Die Norm, die seinerzeit in das Grundgesetz einge- ziellen Rechte, wie sie der EU-Verfassungsvertrag für fügt wurde, regelt die direkten und die indirekten Mit- die nationalen Parlamente vorsieht – Subsidiaritäts- wirkungsrechte nicht nur des Bundesrates, sondern kontrolle und Klagemöglichkeit –, dürfen weder zu auch des Bundestages. Mit Art. 23 Abs. 6 des Grund- neuen Verflechtungstatbeständen noch zu nachhaltigen gesetzes wurde seinerzeit eine alte Forderung der Län- Erschwernissen für die deutsche Europapolitik führen. der realisiert, nämlich die Möglichkeit zu eröffnen, Es müsste allerdings geprüft werden, auf welche Weise dass die Vertretung der Bundesrepublik im Ministerrat Bundestag und Bundesrat in der Frage der Subsidiari- auf einen Ländervertreter übertragen wird, wenn nach tätskontrolle zusammenarbeiten können. Bedenklich der innerstaatlichen Kompetenzordnung nur die Län- sind unserer Meinung nach aber Überlegungen, einzel- der zuständig sind. Nach meiner Kenntnis ist von die- nen Bundesländern Klagerechte im Zusammenhang ser Möglichkeit nur sehr selten Gebrauch gemacht mit dem so genannten Frühwarnverfahren einzuräu- worden. men. Abgesehen von den Bedenken, die sich aus der politischen und verfassungsrechtlichen Praxis ergeben, In einer Art Resümee der Bundesregierung unter- widerspräche eine derartige Regelung Wortlaut und streiche ich im Grundsatz das, was Frau Schwall- Sinn des Protokolls über die Anwendung der Grund- Düren angedeutet hat: Die Vertretung Deutschlands in sätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Kla- Europa funktioniert noch recht gut, aber nur deshalb, gerechte einzelner Länder ohne eine formelle Zustim- weil die Länder die ihnen zustehenden Rechte nicht in

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Bundesministerin Brigitte Zypries (BMJ) (A) vollem Umfang wahrnehmen. Diese Einschätzung ha- nen gibt man Positionen auf, beim anderen kann man (C) ben auch die Sachverständigen geäußert. Sie haben sie durchsetzen. Hierzu benötigt man eine hinrei- dargelegt, dass das in der Verfassung vorgesehene Be- chende Flexibilität. teiligungsverfahren insgesamt zu aufwendig und zu kompliziert sei, die Mitwirkungsrechte zu weit gingen Vor diesem Hintergrund glauben wir, dass es ein Al- und das Ganze in der Praxis zu Problemen führe. leinentscheidungsrecht und ein Alleinvertretungsrecht der Länder in den Bereichen, in denen sie innerstaat- Ich nenne ein Beispiel, bei dem dies besonders ekla- lich für die Gesetzgebung zuständig sind, nicht geben tant war: die Verhandlungen zur so genannten Plan- kann. Dies würde auch dem ausschließlichen Außen- UVP-Richtlinie der Europäischen Union. Damals hat vertretungsrecht des Bundes widersprechen und die der Bundesrat unter Berufung auf Art. 23 Abs. 5 des einheitliche Vertretung der europapolitischen Interes- Grundgesetzes gefordert, dass die Bundesregierung die sen Deutschlands erheblich beeinträchtigen. Auch ein ablehnende Haltung der Länder bei der Abstimmung imperatives Mandat des Bundesrates erscheint in die- über den Richtlinienvorschlag in Brüssel als maßgeb- sem Bereich nicht als akzeptabel, da eine solche Bin- lich berücksichtigen solle. Ein solcher Beharrungsbe- dung an das Bundesratsvotum die notwendige Flexibi- schluss nach Art. 23 des Grundgesetzes kam wegen lität bei Verhandlungen verhinderte. der mangelnden Zweidrittelmehrheit des Bundesrates Nach meiner Überzeugung muss man deshalb auch damals nicht zustande. Aber weil sich der Bundesrat in zur Sicherung der Länderinteressen bei EU-Angele- dieser Art und Weise in das Verfahren eingeklinkt genheiten den Blick nach innen wenden und die Frage hatte, musste die Bundesregierung sämtliche Verhand- ventilieren, wie weit kompensiert werden kann. Wir lungen in der Ratsgruppe unter Vorbehalt führen. Eine müssen Lösungen suchen, wie im innerstaatlichen Ver- solche Situation ist für eine Verhandlung – dies kann hältnis von Bund und Ländern die Zusammenarbeit bei jeder von Ihnen nachvollziehen – natürlich ausgespro- EU-Rechtsetzungsverfahren möglichst schon im Vor- chen schlecht. Das Abstimmungsverfahren zwischen feld optimiert und wie nach außen eine effektive Ver- Bund und Ländern wurde seinerzeit überhaupt erst vier tretung durch den Bund in Brüssel sichergestellt wer- Tage vor der entscheidenden Sitzung des Umweltrates den kann. abgeschlossen. Die Verhandlungspartner Deutsch- lands konnten sich also bis zu diesem Zeitpunkt nicht Herr Vorsitzender, soll ich gleich noch etwas zu ausrechnen, wie Deutschland letztlich abstimmen Punkt II sagen? werde. Hätte der Bundesrat die Bundesregierung ge- bunden, wäre sie verpflichtet gewesen, sich entspre- Vorsitzender Franz Müntefering: chend dem Bundesratsbeschluss zu verhalten. (B) Hierüber sprechen wir getrennt. Diesen Punkt (D) Es lässt sich nachvollziehen, dass es für niemanden werde ich nachher aufrufen. eine glückliche Verhandlungssituation ist – es wäre im umgekehrten Falle auch für einen Ländervertreter Bundesministerin Brigitte Zypries (BMJ): keine glückliche Situation –, wenn man den Verhand- Dann wird Herr Professor Geiger das Wort dazu er- lungspartner auf diese Art und Weise hinhalten muss. greifen. Er wird mich vertreten, weil ich diese Sitzung Zudem hat dies zur Folge, dass man bei künftigen Ver- leider eher verlassen muss. handlungen nicht richtig ernst genommen wird, weil alle sagen, sie wüssten gar nicht, ob das, was von der Vorsitzender Franz Müntefering: deutschen Seite verhandelt werde, letztendlich Bestand haben werde. Vielen Dank. Zunächst wollen wir zu Punkt I, Veränderungsbe- Dieses Beispiel zeigt, dass hinsichtlich Art. 23 des darf bei Art. 23 des Grundgesetzes, die Positionen der Grundgesetzes keine uneingeschränkt positive Bilanz Bundesseite hören. Danach werden die Vertreter der gezogen werden kann. Eine positive Positionierung Länder zu ihren Stellungnahmen aufgerufen. Wir ha- Deutschlands in Brüssel ist nur deshalb möglich, weil ben es für sinnvoll gehalten, erst alle Positionen hierzu die Länder die ihnen zustehenden Verhandlungsmög- zu hören, weil auf diese Weise ein umfassendes Bild lichkeiten nicht ausschöpfen. Die Bundesregierung entsteht. Für dieses Vorgehen bitte ich um Ihr Ver- fordert daher, den Verfassungstext der Wirklichkeit, ständnis. also der tatsächlichen Beteiligung der Länder, anzu- passen. Dabei ist zu berücksichtigen – darauf hat Frau Frau Künast hat das Wort. Nach ihr werde ich Herrn Schwall-Düren eben bereits hingewiesen –, dass wir Böhmler aufrufen. künftig in einem Europa der 25 Staaten unter einer neuen EU-Verfassung sehr viel häufiger zu Mehrheits- Bundesministerin Renate Künast (BMVEL): entscheidungen kommen werden, als das bisher der Danke, Herr Vorsitzender. Fall war. Bis jetzt konnte Deutschland noch in relativ vielen Fällen blockieren – wir haben dies auch getan –, Ich möchte in Absprache mit der Kollegin Zypries, indem man einfach gesagt hat, Deutschland mache die hier den Überbau dargestellt hat, kurz darüber be- nicht mit. Das werden wir künftig weniger oft machen richten, wie Verhandlungsabläufe auf EU-Ebene ausse- können. Es werden in Zukunft häufiger so genannte hen, weil nicht alle der hier Anwesenden solche Ver- Paketlösungen in Rede stehen. Man wird also unter- handlungen persönlich erlebt bzw. erlitten haben. schiedliche Dossiers miteinander verhandeln; beim ei- Indem ich Ihnen die praktischen Probleme aufzeige,

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Bundesministerin Renate Künast (BMVEL) (A) mache ich zugleich deutlich, warum es sinnvoll ist, da- wird. Als Nettozahler hat man hier immer bestimmte (C) bei zu bleiben, dass die Außenvertretung durch eine Interessen. Vertreterin bzw. einen Vertreter erfolgt. Am Beispiel der Gemeinsamen Agrarpolitik – das ist sicherlich ei- Dann gibt es noch andere politische Bereiche von ner der am feinsten ziselierten Politikbereiche, die im der Klimapolitik bis zu Umweltfragen und dem Tier- europäischen Recht harmonisiert sind – kann man gut schutz. Aus alledem ergibt sich ein Bündel an Interes- darstellen, wie es aussieht, wenn man sich daranmacht, sen, die bei der Frage nach unserer allgemeinen Posi- einen Politikbereich zu reformieren. Dies tue ich mit tion irgendwie zusammengefasst werden müssen. Dies Blick auf die vier Aspekte Strategiebildung, Bearbei- gehört zur Strategiebildung. Dabei muss man sich mit tung von Rechtstexten, Beachtung von Nebenwirkun- der Kommission und, soweit es um Mitentscheidungs- gen und Mehrheitsbildung. fälle geht, auch mit dem Europäischen Parlament aus- einander setzen. Frau Schwall-Düren hat vorhin schon Damals sind in Berlin im Rahmen der Verhandlun- darauf hingewiesen, dass dies in Zukunft bei fast allen gen zur Agenda 2000 Beschlüsse dazu gefasst worden, Themen der Fall sein wird. Das heißt, man muss Kon- wie für den Zeitrahmen 2000 bis 2006 die Gemein- takte zu Mitgliedstaaten, zur Kommission und zum EP same Agrarpolitik aussehen soll und nach welchen haben, um in einem frühen Stadium zu signalisieren, Förderkriterien welche Finanzmittel wohin fließen sol- welches in diesem Gesamtkontext deutsche Interessen len. Solche Detailregelungen führen, so richtig die Ent- sind und wie weit Deutschland zu gehen bereit ist. Ein scheidungen auch sein mögen, stets dazu, dass Beträge wichtiger Punkt in der Strategiebildung ist, dass man in Höhe von Milliarden Euro in dieses oder jenes Land frühzeitig so weit sein muss, um die Kommission in ih- transferiert werden, je nachdem welche Kriterien ange- rer Entscheidungsfindung hinsichtlich ihres ersten po- legt werden. In der Agenda 2000 ist festgelegt worden, litischen Vorschlags zu beeinflussen. dass eine Halbzeitbilanz gezogen werden sollte, und zwar logischerweise im Jahr 2003. Es gab völlig unter- An dieser Stelle möchte ich die damalige Ländersi- schiedliche Positionen der Mitgliedstaaten untereinan- tuation darstellen. Damals hatten die 16 Bundesländer der sowie innerhalb der Mitgliedstaaten, je nachdem fast genauso viele politische Auffassungen. Die meis- wer Nettozahler oder Nettoempfänger ist, je nach der ten haben gesagt: Wir bewegen uns gar nicht. – Das ist jeweils vorhandenen Agrarstruktur und je nachdem kein Vorwurf. Ich verstehe diese Haltung; denn die welche Marktordnungen in welchen Produktionsberei- Länder wollten ihr Geld behalten und den Druck – zum chen für die Mitgliedstaaten von Bedeutung waren, zu- Beispiel aus den EU-WTO-Verhandlungen – gab es für mal es in Brüssel bereits Debatten darüber gegeben sie in diesem Maße gar nicht. Sie haben sogar zum hatte, dass diese oder jene Marktordnung zwingend Ausdruck gebracht, dass sie sich diese Aufgabe als kri- (B) auslaufen oder hinsichtlich des Umfangs der Finanz- tischen Punkt in der Auseinandersetzung mit einer (D) mittel halbiert werde. Man wusste also, einzelne Län- Lobbygruppe nicht freiwillig heranziehen. Die Bun- der würden in einzelnen Produktionsbereichen mindes- desregierung musste aber reagieren. Warum? Meine tens dreistellige Millionenbeträge verlieren. These ist folgende: Die großen Dinge muss man ver- hindern, und zwar spätestens bevor die Kommission Wie geht man einen solchen Reformprozess an? Die ihren zweiten Diskussionsvorschlag macht. Bundesregierung hat sich mit dem Thema Gemein- same Agrarpolitik beschäftigt, lange bevor Vorschläge Als Beispiel nenne ich hier die Kappungsgrenze für der Europäischen Kommission hierzu auf dem Tisch Direktbeihilfen von 300 000 Euro. Die Kommission lagen, und hat Grundlagenpapiere auch per Kabinetts- hat in einem ersten Papier vorgeschlagen, ein Betrieb beschluss formuliert, in denen festgeschrieben ist, wie solle nicht mehr als 300 000 Euro erhalten. Das hätte wir uns die jeweiligen Reformschritte vorstellen. Dies für Deutschland angesichts der unterschiedlichen ist deshalb wichtig gewesen, weil wir gesehen haben, Strukturen in Ost und West – im Osten gibt es viele dass die Kommission an die Wissenschaft Fragen stellt sehr große Betriebe, die erheblich größere Summen und Aufträge für Planungen herausgibt. bekommen – beträchtliche Einbußen bedeutet. Jetzt kann man zwar immer darüber diskutieren – das mache Wir haben uns in diesem Zusammenhang überlegt, ich mit Hans Eichel auch gern –, ob dieses gesamte welches unsere nationalen Interessen sind. Diese Ge- System richtig ist. Solange es aber vorhanden ist, er- danken haben wir vor dem Hintergrund angestellt, dass hält es Arbeitsplätze. Bei 20 bis 40 Prozent Arbeitslo- EU-Mercosur-Verhandlungen, also Handelsverhand- sigkeit in manchen ländlichen Räumen in den neuen lungen mit vier Staaten Südamerikas, anstanden und Bundesländern muss man sich nun wirklich nicht über- dass die EU-WTO-Gespräche anliefen. Bei solchen legen, wie man Zuschüsse über Nacht kürzt. Vielmehr Verhandlungen werden unterschiedliche Interessen muss man darüber nachdenken, wie man hilft, etwas verfolgt; schließlich will man einerseits außenpolitisch Neues zu entwickeln. eine Entwicklungsrunde positiv abschließen und ande- rerseits bei Dienstleistungen im Nichtagrarbereich Wir alle wissen, was eine Kappungsgrenze bedeutet – ich nenne als Stichwort die so genannten Singapur- hätte, nach der innerhalb von zwei, drei Jahren Zu- Themen – für Europa und Deutschland positive Ent- schüsse von zum Beispiel 2 Millionen Euro auf scheidungen bis hin zu Entscheidungen zur finanziel- 300 000 Euro heruntergefahren worden wären. Das len Vorausschau treffen. Jeder weiß, dass bei jeder Re- konnten wir nicht ernsthaft wollen, zumal es bewirkt form auch Entscheidungen darüber getroffen werden, hätte, dass diese Gelder immer noch im Brüsseler Topf wie in den nachfolgenden Jahren Geld ausgegeben gewesen und zu einem großen Teil an die Mittelmeer-

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Bundesministerin Renate Künast (BMVEL) (A) länder verteilt worden wären. Sollen wir als Nettozah- Man muss immer an die Nebenwirkungen denken: (C) ler freiwillig noch ein paar Milliarden abgeben, die an große Strukturbrüche in bestimmten Regionen, die dann nach Italien, Griechenland oder Spanien fließen? keine Alternativen haben, aber auch daran, dass sich Nichts gegen die europäische Idee, aber jede Idee hat unser Anteil am Etat – ein Viertel zahlen wir – negativ auch ihre Grenzen! verändern kann. Im Übrigen fällt mir an dieser Stelle immer auf, dass es eigentlich nicht sein kann – dies ist Daher war es für uns wichtig, in Gesprächen mit der aber der Ansatz einiger Länder –, dass ein Land ver- Europäischen Kommission dafür Sorge zu tragen, dass handelt und der Bund bezahlt. Wenn zum Beispiel Herr diese Idee gar nicht mehr in das zweite Diskussionspa- Stoiber für Bayern ein Interesse daran hat, ganz spezi- pier aufgenommen wird. Dies mussten wir aber schon fische Forderungen im Agrarbereich durchzusetzen, zu einem Zeitpunkt tun, als die Bundesländer noch würde ich sie als deutsche Ministerin sofort unter- nicht einmal eine angedachte Bundesratsposition hat- schreiben. In dem Augenblick aber, in dem ich an das ten. Ich verstehe dies aber auch, weil die politische gesamte Portefeuille denke, muss ich fragen, ob es Entwicklung zu einem solchen Zeitpunkt eine ganz an- nicht auch ein Drittel dieser Forderung täte, weil es dere ist. Wir haben uns an dieser Stelle abgesichert. sonst hieße, dass von 100 Prozent der Finanzmittel Dann kommt als zweite Stufe ein zweites Positions- 10 Prozent nach Deutschland und die anderen papier, das eine enge Voraussetzung für die Vorlage 90 Prozent in andere Bereiche fließen würden. des so genannten Legal Proposal, eines Rechtstextes, Zu den Nebenwirkungen und der Arbeit an ist. Von da an kann man in Europa – was ich schildere, Rechtstexten gehören immer auch Paketlösungen. Da- ist immer „work in progress“ – nur noch Feinsteuerun- mit meine ich keine Lösungen über diesen Themen- gen vornehmen. Deshalb haben wir uns als Erstes auf komplex hinaus, sondern Paketlösungen innerhalb ei- die 300 000-Euro-Grenze und nicht auf irgendwelche nes Themenkomplexes, weil einzelne Mitgliedstaaten anderen Punkte konzentriert. Man muss sich nämlich einander signalisieren, welche spezifischen Problemla- überlegen, wo man bei den weiteren Verhandlungen gen sie in bestimmten Regionen haben. noch Mehrheiten erreichen kann und welche Mitglied- staaten ähnliche Interessen wie Deutschland haben. Da Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, zum die Kappungsgrenze von 300 000 Euro niemanden Weg zur Mehrheitsbildung. Von dem Augenblick an, in weiter störte, war es für uns wichtig, diese am Anfang dem die Bundesregierung ihr Papier fertig hat, ohne herauszunehmen. dass die Kommission bereits über eine Position ver- Ich wage die These, die Länder könnten sich auf so fügt, muss man in der EU mit 15 Mitgliedern – mittler- weile sind es 25 – nach einer Mehrheit suchen. Das al- (B) etwas nicht einigen. Das sage ich nicht als Vorwurf, (D) sondern ich stelle dies als logische Situation dar, weil les muss natürlich effizient und trotzdem demokratisch 16 Bundesländer nicht dieselben Interessen vertreten sein. Nachdem wir einen Beschluss des Bundesrates und zu unklaren Entscheidungen gekommen wären. In vorliegen hatten – er konnte logischerweise gar nicht Gesprächen mit anderen Mitgliedstaaten ist strategisch mehr mit dem Tempo mithalten, das in Brüssel teil- zu klären, wer wann was mitmacht, und abzuchecken, weise vorgelegt wurde –, haben wir dieses Problem für wo es noch zwei, drei Partner gibt und wo welche den Agrarbereich so gelöst, dass wir regelmäßig ver- Geldflüsse oder Agrarstrukturen von Bedeutung sind. sucht haben, auf Arbeits-, Staatssekretärs- oder Minis- Dies ist in der Hand einer Person, die gut rückkoppelt, terebene einen Austausch zuwege zu bringen und einfacher zu praktizieren. Dann muss man seine Mei- darzulegen, welche Interessenlagen sich jeweils gegen- nungsbildung immer weiterentwickeln und überlegen, überstehen. wo man sich auf andere verlässt, wo man andere unter- Hinsichtlich des Tempos will ich zeigen, wie es ab- stützt und auf sie Rücksicht nimmt, natürlich immer läuft: Der erste große Beschluss im Agrarbereich mit Rückkopplung mit den Bundesländern und allen wurde im Juni letzten Jahres in Luxemburg gefasst. NGOs: vom Tierschutzverband bis zum Bauernver- band. Wir sind mit einem Koffer für vier, fünf Tage angereist und waren auch vier, fünf Tage dort. Allerdings sind Nun kommt die feinsinnige Bearbeitung der wir dann noch dreimal jeweils vier, fünf Tage in Lu- Rechtstexte. Hier muss man die Kontakte zur Kom- xemburg gewesen, bis der Vorsitzende eines Morgens mission – nicht nur zum verantwortlichen Kommissar, anhand der Redebeiträge um 7.40 Uhr feststellte, dass sondern zum gesamten Kollegium –, zu anderen Mit- es eine qualifizierte Mehrheit gibt. In diesen vier Wo- gliedstaaten und zum Europäischen Parlament intensiv chen konnte man Rückkopplungen vornehmen und Te- pflegen. Man braucht eine regelmäßige Rückkopplung lefonkonferenzen mit Bauernverbänden und Länder- und muss Aufträge an Fachleute vergeben. Dies be- vertretern machen. Das alles haben wir gemacht; da- trifft insbesondere die Ressortforschung, egal ob auf rüber gab es keine Klagen. Aber in diesem Zeitraum der Ebene des Bundes oder der Länder, weil man sich konnte man niemals einen Bundesratsbeschluss orga- auf der Grundlage der Basisaufträge, die man vor ei- nisieren. Bis ein handlungsfähiger Beschluss zustande nem oder zwei Jahren schon einmal erteilt hat, jeweils gekommen wäre, hätte man sich längst zusammen mit schnell ausrechnen lassen muss, was welche Wirkun- anderen Mitgliedstaaten in einem kleinen Deal fünf gen für einzelne Betriebe hat, welcher Strukturwandel Meter in eine andere Richtung bewegt und seitens der dort stattfindet und wie die Geldflüsse in Europa sein Kommission Signale über bestimmte Bewegungen er- werden. halten.

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Bundesministerin Renate Künast (BMVEL) (A) Ich glaube, dass diese Schilderung der Abläufe klar Erstens. Die regionale Dimension wird im Verfas- (C) macht, dass hier ein komplexes Vorgehen angezeigt ist, sungsentwurf ausdrücklich als Teil der nationalen bei dem sich die eigenen Interessen natürlich nie hun- Identität verankert. dertprozentig durchsetzen lassen. Aber wenn man eine Zweitens. Das Subsidiaritätsprotokoll stärkt die gute Strategiebildung betreibt, früh anfängt und all Beteiligung der nationalen Parlamente, also von Bun- diese komplexen Ebenen miteinander verhandelt, dann desrat und Bundestag. Herausragend ist dabei ein Kla- kann man versuchen, für Deutschland das herauszuho- gerecht der nationalen Parlamente gegen Subsidiari- len, was nur irgend herauszuholen ist. Das muss immer tätsverstöße, sodass in Deutschland auch Klagen des transparent sein und eine Rückkopplung aufweisen. Es Bundesrates möglich sind. geht nicht an, hier Personen und Federführungen zu wechseln und mit einer Vielzahl von Kontaktpersonen Drittens. Ein weiterer Beleg aus der aktuellen Ent- zu agieren, anstatt Verlässlichkeit und Vertrauen in den wicklung des Verfassungsprozesses: Im neuesten Vor- Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten walten zu las- schlag der irischen Präsidentschaft wird die Idee einer sen. Möglicherweise wäre es leichter, alle vier Jahre Schutzklausel aufgegriffen. Diese Schutzklausel sieht die verhandelnde Bundesregierung zu wechseln, als vor, dass jedes nationale Parlament die Schutzklausel bei jedem Thema die Verhandlungspositionen und die geltend machen darf. Bei Zweikammersystemen wie Vertreter auszutauschen. Niemand von uns kann über bei uns kann jede Parlamentskammer, also auch der Nacht bei verschiedenen Themen sämtliche Kontakte Bundesrat, den Übergang von der Einstimmigkeit zur in 25 Mitgliedstaaten aufbauen. qualifizierten Mehrheit unterbinden. Viertens. Es bleibt auch zukünftig bei der Möglich- Vorsitzender Franz Müntefering: keit, einem regionalen Minister in Brüssel die Vertre- tung der gesamtstaatlichen Interessen anzuvertrauen. Vielen Dank, Frau Künast. – Ich empfand dies als überzeugend; eigentlich könnten wir abstimmen. Zu- Kurz und gut: Der europäische Zug geht durchaus erst aber hat Herr Böhmler noch das Wort. auch in die Richtung der Stärkung der regionalen Di- mension. Diesen klaren Befund – das ist entscheidend – Staatssekretär Rudolf Böhmler (Baden- können wir meines Erachtens bei unserer innerstaatli- chen Debatte nicht außen vor lassen. Wir müssen viel- Württemberg): mehr daraus auch für die innerstaatliche Debatte die Meine Herren Vorsitzenden! Meine Damen und entsprechenden Konsequenzen ziehen und Bundesrat Herren! Ministerpräsident Teufel hat am 11. März in und Bundestag stärken und nicht schwächen. Dies ver- (B) diesem Raum eine sehr klar und pointiert Position zu kennt – mit Verlaub – das Papier des BMJ vom 3. Mai (D) Art. 23 des Grundgesetzes bezogen. Er ist heute leider zu Art. 23 des Grundgesetzes. Ich lese in dem Papier verhindert. Deshalb kommen nun einige Anmerkungen keinen einzigen Satz zum Zusammenhang unserer Dis- von mir. Ich gehe dabei auch auf die Entwicklung der kussion mit dem Verfassungsprozess und verhehle letzten zwei Monate ein. nicht, dass mich dies doch etwas erstaunt hat. Von verschiedener Seite ist in den vergangenen Mo- Die Haltung von Baden-Württemberg ist klar: Die naten an den im Art. 23 des Grundgesetzes verankerten Stärkung der regionalen Dimension im Verfassungs- Länderrechten heftig gerüttelt worden. Dies ist so weit prozess muss sich bei der innerstaatlichen Mitwirkung gegangen, dass von Sachverständigen vereinzelt die der deutschen Länder in EU-Angelegenheiten fortset- Streichung von Beteiligungsrechten der Länder vorge- zen. Der auf europäischer Ebene gespielte Ball muss schlagen wurde. Bedauerlicherweise geht auch das von aufgenommen und weitergespielt werden, und zwar Frau Zypries erwähnte Papier des BMJ vom 3. Mai in aus unserer Sicht nicht nach hinten, sondern nach diese Richtung. Auch die soeben gehörten Statements vorne. Deswegen trifft die vom BMJ geäußerte Kritik folgen dieser Spur. Umso wichtiger erscheint es mir, nicht den Kern des Problems; denn sie gibt keine Hin- dass ich hier nochmals die Position von Ministerpräsi- weise darauf, wie wir zukunftsweisend auf das reagie- dent Teufel verdeutlichen kann. ren, was sich auf europäischer Ebene erkennbar an- bahnt. Zum Auftakt einige Anmerkungen zum Thema Ver- Kurz zum Thema der vollständigen Entflechtung. fassungsprozess und innerstaatliche Mitwirkung – da- Ministerpräsident Teufel hat mit großem Nachdruck rauf sind Sie, Frau Schwall-Düren, zuletzt eingegan- den Gedanken der vollständigen Entflechtung ins Spiel gen –: Niemand wird bestreiten, dass gerade im gebracht. Ich persönlich sage nicht, dass diese Idee in Bereich Europa ein untrennbarer Zusammenhang zwi- Deutschland zwingend umgesetzt werden muss. Aber schen der Modernisierung der bundesstaatlichen wir müssen schon einmal über den Tellerrand schauen Ordnung einerseits und dem Projekt einer EU-Verfas- und zur Kenntnis nehmen, dass es in anderen Mitglied- sung andererseits besteht. Dabei gehe ich davon aus, staaten der EU funktionierende Modelle gibt, die die dass es zu dieser Verfassung kommt. Was das Projekt Effektivität der Europapolitik auf ganz andere Weise, einer europäischen Verfassung betrifft, ist der Befund nämlich durch Trennung der Zuständigkeiten, errei- aus meiner Sicht eindeutig: Der künftige Verfassungs- chen. Ich will damit sagen: Effektivität hat etwas mit vertrag stärkt die regionale Dimension und damit auch Klarheit der Zuständigkeiten und klaren Verfahren zu die deutschen Länder. Vier Argumente dazu: tun; darin sind wir uns einig. Der Weg kann aber nicht

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Staatssekretär Rudolf Böhmler (Baden-Württemberg) (A) sein – sofern das Papier des BMJ so gemeint sein soll –, um Materien wie Bildung, Wissenschaft, Kultur und (C) dass einfach einer der beiden Mitspieler im deutschen innere Sicherheit, also Materien, bei denen die Kompe- Föderalstaat beim Mitspielen behindert wird. tenz primär bei den Ländern liegt. Dass die Idee der vollständigen Entflechtung im Lassen Sie mich nochmals auf das erwähnte Papier jüngsten Papier des BMJ vom 3. Mai gerade unter Hin- des BMJ eingehen: Es hat mich auch deswegen über- weis auf das Außenvertretungsrecht des Bundes abge- rascht, weil es nicht nur den europäischen Verfas- lehnt wird, hat mich etwas überrascht. Europapolitik sungsprozess ausblendet, sondern auch die Arbeit der ist doch schon lange keine reine Außenpolitik mehr, Kommission zur Modernisierung der bundesstaatli- wie sie es vielleicht zu Hallsteins Zeiten war. Der Bür- chen Ordnung nicht hinreichend berücksichtigt. Wenn ger weiß in der Regel ohnehin nicht, dass er es mit ei- wir dazu kommen wollen, dass im innerstaatlichen Be- nem europäischen Gesetz zu tun hat; er hält es für ein reich Spielräume der Länder vergrößert werden, dann deutsches Gesetz. Deswegen ist es fast schon ein Ge- kann dies in Anbetracht der engen Verschränkung in meinplatz, dass Europapolitik letztendlich Innenpolitik unserer bundesstaatlichen Ordnung doch auch für die ist. Mitwirkungsrechte der Länder nicht ohne Auswirkung bleiben. Nun aber weg von der Maximalforderung Baden- Württembergs und Erwin Teufels und hin zur zweiten Im Übrigen darf ich zum Schluss auf eine Antwort Alternative. Für die konkrete Arbeit ist mir vor allem der Bundesregierung vom 10. November 2003 auf die unsere zweite Alternative wichtig, nämlich die Mög- Kleine Anfrage der Abgeordneten Silberhorn, Kauder lichkeit der Präzisierung der bestehenden Rechtslage. und anderer hinweisen, die erst sechs Monate alt ist. Es Hier sollten wir gemeinsam zu substanziellen Fort- geht dabei um die praktischen Erfahrungen, die man schritten kommen. Das ist auch eine Grundforderung mit Art. 23 des Grundgesetzes gemacht hat. Aus den im Positionspapier der Ministerpräsidenten vom dort gegebenen Antworten vermag ich nicht zu erken- 6. Mai. Dabei ist der Grundgedanke, dass eine effek- nen, dass die Bundesregierung der Auffassung ist, dass tive, aber auch sachlich optimale deutsche Interessen- so entscheidende Konsequenzen zu fordern sind, wie vertretung unter Mitwirkung der Länder gemäß ihrer es nun im Papier des BMJ vom 3. Mai angemahnt und verfassungsrechtlichen Stellung erfolgt. Dies führt im auch von Frau Schwall-Düren gefordert wird. Viel- Gegensatz zur Haltung des BMJ im Grundsatz dazu, mehr wird in dieser Antwort im Tenor von einer ver- das wir zu einzelnen Verbesserungen am Bestand des trauensvollen und unspektakulären Zusammenarbeit Art. 23 des Grundgesetzes kommen. Dabei sind aus ausgegangen. meiner Sicht Änderungen am Wortlaut des Art. 23 des Mein Fazit: In dem Ziel, die Europafähigkeit (B) Grundgesetzes selbst und in den Ausführungsgesetzen (D) zu prüfen. Deutschlands zu verbessern, sind wir uns alle einig. Dabei ist aus meiner Sicht das Bundesstaatsprinzip Besonders wichtig erscheint mir die Bindung an das kein Hemmschuh, sondern eine Chance. Votum des Bundesrates zu sein. Hier sollten wir zu ei- ner klaren Erhöhung der Verbindlichkeit des Bundes- Vorsitzender Franz Müntefering: ratsvotums kommen und damit die derzeitige Rechts- Vielen Dank, Herr Böhmler. lage präzisieren. Die Ministerpräsidenten haben auf ihrer Sitzung am 6. Mai von einer uneingeschränkten Es liegt nun eine Reihe von Wortmeldungen vor: Bindungswirkung gesprochen und diesen Begriff in Herr Mertin, Herr Burgbacher, Herr Röttgen, Herr das bereits erwähnte Positionspapier aufgenommen. Scholz, Herr Gerhards, Herr Steenblock, Herr Der bisherige Wortlaut des Art. 23 des Grundgesetzes, Friedrich, Herr Hoffmann und Frau Schwall-Düren. – der von einer maßgeblichen Berücksichtigung des Herr Mertin hat das Wort, bitte schön. Bundesratsvotums spricht, hat leider nicht zur erfor- derlichen Rechtsklarheit geführt. Das wird in dem Pa- Staatsminister Herbert Mertin (Rheinland- pier des BMJ vom 3. Mai festgestellt. Wir, die Länder, Pfalz): ziehen daraus allerdings andere Schlüsse. Wir fordern, diese unbestimmten Rechtsbegriffe zu präzisieren. Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! In der Kommission wurde in der Vergangenheit, aber Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die auch heute der Versuch unternommen, durch Kritik an Frage, wie wir zu Verbesserungen im operativen Ge- der bisherigen Regelung der Ländermitwirkung eine schäft der Europaarbeit kommen. Ich nehme an, dass Änderung des Art. 23 des Grundgesetzes herbeizufüh- Minister Gerhards nachher noch dazu Stellung nehmen ren. Aber die Zusammenführung der angreifenden wird. Die Chefs der Staats- und Senatskanzleien haben Truppen durch die Rednerbeiträge zu Beginn unserer zu all diesen Fragen eine Arbeitsgruppe unter Feder- Sitzung wird nicht dazu führen, dass die Festung der führung von Baden-Württemberg eingesetzt. Wir wer- Bundesländer so leicht sturmreif geschossen werden den die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe abwarten. wird. In diesem Zusammenhang eine Anmerkung zu Frau Ich gebe nochmals die Position der Landesregierung Künast. Die Agrarpolitik ist nicht das beste Beispiel von Rheinland-Pfalz wieder, die sich in dieser Frage für unsere Diskussion, weil es für diesen Bereich in- eindeutig positioniert hat und davon ausgeht, dass sich nerstaatlich keine ausschließliche Gesetzgebung der das System der Ländermitwirkung in EU-Angelegen- Länder gibt. Uns geht es vielmehr und in erster Linie heiten grundsätzlich bewährt hat. Ich verweise inso-

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Staatsminister Herbert Mertin (Rheinland-Pfalz) (A) weit auch auf das Schreiben des Herrn Ministerpräsi- Wir alle kennen den Hintergrund des Art. 23 des (C) denten, das als Kommissionsdrucksache 34 vorliegt. Grundgesetzes; darauf wurde bereits hingewiesen. Es Dort wird im Einzelnen dargelegt, dass die behaupte- gibt auch in meiner Fraktion viele Abgeordnete, die ten Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser Vor- sehr unglücklich über diese Vorschrift waren. Der schrift in der Vergangenheit so nicht aufgetreten sind. Streit geht darum – das ist heute sicherlich der schwie- Dies wurde eben auch konzediert, allerdings mit der rigste Punkt –, ob die deutschen Interessen in Brüssel Bemerkung, dass dies nur deshalb funktioniert habe, angemessen vertreten werden. Hier teile ich eher die weil die Bundesländer ihre sich aus dieser Vorschrift Position, dass dies bisher nicht der Fall ist. Ich ver- ergebenden Rechte gar nicht vollständig geltend ge- weise zum Beispiel auf die Stellungnahme von Herrn macht hätten. Daraus aber nun wiederum ableiten zu Professor Schneider, der gut dargestellt hat, dass heute wollen, dass es einer Änderung bedürfe, halte ich für die verschiedenen Bundesländer mit den Kommissaren zu weit gehend. Man kann dies auch so verstehen, dass oder Generaldirektoren verhandeln und für die anderen die Länder mit dieser Vorschrift verantwortungsvoll eine deutsche Position von Anfang an nicht ersichtlich umgegangen sind. Von daher besteht gar keine Not- ist. Nur drei Staaten haben eine ähnliche Struktur. Des- wendigkeit, diese Vorschrift zu ändern. Davon geht je- halb ist es schon in dem heutigen Gefüge schwierig, denfalls die Landesregierung von Rheinland-Pfalz aus. unsere Interessen überhaupt vorzubringen; noch schwieriger wird es, wenn sich dieses Gefüge weiter in Es ist sicherlich faszinierend, dem Gedanken der Richtung Mehrheitsentscheidungen bewegen wird. Oft Entflechtung näher zu treten. Nur fürchte ich, dass das werden wir erst in einem Stadium unser Interesse for- Problem darin liegt, dass die Politikbereiche auf euro- mulieren können, in dem viele Entscheidungen eigent- päischer Ebene nicht so abgegrenzt werden wie bei lich schon gefallen sind. Wenn wir uns über diese Ein- uns, sodass eine Entflechtung auf der Ebene der Bun- schätzung nicht einig sind, ist es schwierig, über das zu desrepublik Deutschland vielleicht nicht funktionieren diskutieren, was verändert werden soll. Hier gibt es wird. Wir hielten es für zielführender, unterhalb einer keine gemeinsame Grundlage, während wir in vielen Grundgesetznovelle daran zu arbeiten, wie die Abstim- anderen Bereichen wenigstens so weit sind, dass wir mungsprozesse und die Koordinierung der Aufgaben von einer gemeinsamen Basis ausgehen können. besser gewährleistet werden können, damit die Bun- desrepublik Deutschland letztlich vernünftig repräsen- Es gibt aber noch einen zweiten Zusammenhang, tiert wird und im Interesse aller vernünftig auf europäi- der für mich sehr wichtig ist: Wir reden auf der einen scher Ebene mitwirken kann. Seite über Entflechtung. Viele Mitglieder der Kommis- sion – auch Vertreter der Bundestagsseite – sind durch- Soweit in einigen Schreiben der letzten Wochen (B) aus bereit, sehr viele Kompetenzen an die Länder ab- (D) darauf hingewiesen wurde, der Entwurf einer künfti- zugeben. Sollte dies allerdings zur Folge haben, dass gen EU-Verfassung lasse Art. 23 des Grundgesetzes in sich in all diesen Verfahren nach Art. 23 des Grundge- der bestehenden Form gar nicht mehr zu, betone ich, setzes nichts ändert oder dass diese Vorschrift, wie Mi- dass wir davon ausgehen, dass der jetzt vorliegende nisterpräsident Teufel im März sagte, sogar noch ein Entwurf diese Vorschrift durchaus zulässt. Sollte dies Stück weit verschärft wird, dann würde die Stellung nicht der Fall sein, müssten wir aufseiten des Bundes- des Bundes in Brüssel noch mehr geschwächt und der rates natürlich darüber nachdenken, ob ein solcher Ent- Entscheidungsprozess auf EU-Ebene noch schwieriger. wurf überhaupt zustimmungsfähig ist, wenn er uns In diesem Falle hätte ich mit dem Art. 23 des Grundge- Bundesländer in unseren bisherigen Rechten tatsäch- setzes durchaus Probleme. Wir müssen es schaffen, die lich so stark eingrenzen sollte. innerstaatliche Mitwirkung – sie ist unstrittig; es ist Wir halten also daran fest, dass das bestehende Sys- uns allen doch völlig klar, dass die Länder dort, wo sie tem der Ländermitwirkung ein bisher gut funktionie- Kompetenzen haben, müssen mitwirken können – mit rendes und auch flexibel zu handhabendes Instrumen- einer effizienten Vertretung deutscher Interessen in tarium darstellt und dass deshalb allenfalls unterhalb Brüssel zu verbinden. Um diese Frage geht es meines einer Grundgesetzänderung an der Verbesserung und Erachtens heute. Optimierung der Zusammenarbeit gearbeitet werden In den uns vorliegenden Papieren der Professoren sollte. Scholz, Benz und Schmidt-Jortzig gibt es eine Reihe von Vorschlägen, etwa den eines gemeinsamen Aus- Vorsitzender Franz Müntefering: schusses. Dabei wird übrigens auf ein weiteres Problem Vielen Dank, Herr Mertin. Zu Ihrer Eingangsbemer- hingewiesen, über das wir hier ebenfalls diskutieren kung: Da wir gegen den Einsatz der Bundeswehr im sollten: Im europapolitischen Entscheidungsprozess Inland sind, müssen Sie keine Sorge haben, was die sind der Bundestag und die Landtage eigentlich völlig Festung Pfalz angeht. – Herr Burgbacher. außen vor. Wenn wir beide Fragen behandeln, dann sollten sich auch die Länder ein Stück weit in Richtung des vorgeschlagenen gemeinsamen Ausschusses bewe- Ernst Burgbacher, MdB (FDP): gen. Es gibt andere Vorschläge. Aber ich stelle hier Meine Herren Vorsitzenden! Liebe Kolleginnen und klar: Der Art. 23 des Grundgesetzes, der allein wegen Kollegen! Ich widerspreche Herrn Mertin natürlich un- seines Umfangs, wie irgendjemand einmal sagte, kein gern. Aber in diesem Fall muss ich es tun; ich werde an Verfassungsartikel, sondern eher eine Geschäftsord- seiner Schlussbemerkung einhaken. nung ist, passt nicht in das Gefüge. Deshalb bitte ich

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Ernst Burgbacher, MdB (A) darum, dass die Länder mit Offenheit an diese Frage- liegen zum Teil aber innerhalb der Bundesressorts und (C) stellung herangehen und versuchen, eine Lösung zu er- im Übrigen in der mangelnden Kooperation zwischen zielen, die dem gesamtstaatlichen Interesse entspricht Bund und Ländern. Dies alles ist gut beschrieben. Da- und bei der zugleich die Mitwirkungsrechte so ange- rauf sollten wir also viel Gehirnschmalz verwenden. messen berücksichtigt werden, wie es sein muss. Ich füge aber gleich hinzu, dass es damit nicht getan ist; deshalb sind die Absätze 2 bis 7 des Art. 23 des Vorsitzender Franz Müntefering: Grundgesetzes nicht verzichtbar. Die bisherigen Erfah- Vielen Dank. – Ich rufe ab jetzt die Redner nicht rungen – so nachlässig oder verantwortungsvoll, um mehr in der Reihenfolge auf, in der sie sich gemeldet ein Wort von Herrn Mertin aufzugreifen, wir damit haben, sondern so, dass wir einen Dialog hinbekom- umgehen – zeigen gerade, dass wir ohne den Hebel der men. Ich gebe deshalb jetzt Herrn Gerhards als Nächs- Absätze 2 bis 7 noch viel schlechter dastünden, und tem das Wort, danach Herrn Röttgen und Herrn zwar nicht nur im Verhältnis zwischen Bund und Län- Scholz. dern, sondern auch hinsichtlich der Bereitschaft des Bundes, überhaupt zu einer Koordinierung zu kom- Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-West- men. Das weiß jeder. Verwaltungsgerichte haben ihren falen): Sinn nicht darin, dass sie viele Verfahren entscheiden, Schönen Dank, Herr Vorsitzender. – Wir haben sondern darin, dass Verwaltungen ihre Sache im Zwei- heute von der Bundesseite eine ganze Reihe beeindru- fel lieber gleich richtig machen, bevor sie einen Ver- ckender Baumaßnahmen erklärt bekommen: Frau waltungsprozess riskieren. Dies gilt auch für viele an- Schwall-Düren hat eine große Brücke gebaut, Frau dere Dinge. Zypries, die uns leider schon verlassen hat, hat den Der Hebel, den wir auf Länderseite in den Überbau geliefert und Frau Künast hat eindrucksvoll Absätzen 2 bis 7 haben, um Rechte durchzusetzen den Unterbau für die Brücke geliefert. Diese Brücke – diesen Hebel hat in bestimmten Bereichen übrigens trägt trotzdem nicht, weil der Beton an der falschen auch der Bundestag –, wirkt in der Regel so, dass im Stelle versenkt worden ist. Vorfeld einiges an Koordinierung stattfindet, die nicht Ich mache dies an einem Beispiel deutlich – Kol- so intensiv betrieben würde, wenn die Länder am Ende lege Mertin hat bereits darauf hingewiesen –: Es ist nicht notfalls gemäß Art. 23 des Grundgesetzes auf die schon etwas überraschend, dass in der Argumentation Bremse treten könnten. In der Regel tun sie es nicht; in des Bundes unter anderem dessen außenpolitische der Regel müssen sie es auch nicht tun, weil eben vor- Kompetenz herangezogen worden ist. Dies ist nicht her die notwendige Arbeit geleistet wird. Trotzdem (B) nur überraschend, sondern es zeigt auch das Problem könnten wir hier noch sehr viel besser werden. Daraus (D) auf, dass Europapolitik von der Bundesregierung in kann man die Konsequenz ziehen, die Herr Böhmler weiten Teilen offenkundig immer noch als Außenpoli- eben gezogen hat: Damit wir dies hinbekommen, wol- tik verstanden wird. Mir fallen hierzu viele Sottisen len wir die Bremse lieber noch ein bisschen größer di- ein, die ich sonst an dieser Stelle immer äußere; ich mensionieren, wenn auch in der Hoffnung, dass wir lasse sie heute einmal weg. gar nicht auf diese Bremse treten müssen. Die präziseste und knappste Analyse dessen, warum Da der Bund dieser Variante sicherlich nicht zuge- es gegenwärtig sowohl innerhalb des Bundes als auch neigt sein wird, lautet die Variante, die uns wahr- zwischen Bund und Ländern schief läuft – darauf hat scheinlich weiterführt, dass wir jetzt intensiv über die Herr Burgbacher schon hingewiesen –, ist in dem Pa- Möglichkeiten reden, wie wir es in der innerstaatlichen pier von Herrn Professor Schneider vorgenommen Koordinierung unterhalb der Verfassungsrechte besser worden. Ich empfand es als dankenswert, dass er auch machen. Hier würde ich zunächst einmal etwas reflek- Vorschläge gemacht hat, wie man aus dem verfahrenen tieren, was Professor Schneider geschrieben hat. Ich Zustand wieder herauskommt. Ob man das in allen glaube, dass uns seine Vorschläge im Gegensatz zu den Teilen so machen kann, wie er es vorschlägt – mit ei- Vorstellungen von Professor Scholz eher weiterführen ner Aufwertung der Europakammer, mit einem Beirat werden. Die Variante von Professor Scholz ist die und insbesondere mit einem Europaminister, dem sich schwierigere; da wir schon einmal darüber geredet ha- die Landesattachés in Brüssel unter- oder zuordnen –, ben, will ich es jetzt nicht vertiefen. lasse ich einmal dahingestellt. Ich halte das, was dort beschrieben worden ist, jedenfalls für nachdenkens- Ein weiterer Punkt ist mir sehr wichtig: Die EU- wert, um an dieser Stelle weiterzukommen. Verfassung wird uns in den drei Aspekten, die im MPK-Papier vom 6. Mai genannt worden sind, zu Än- Dies macht dann aber auch klar, worum es geht: we- derungen der Rechtsetzung zwischen Bund und Län- niger um Änderungen der Verfassung – ich lasse die dern zwingen. Dies gilt zum Ersten für das Gelbe- europäische Verfassung für den Augenblick beiseite, Karte-Verfahren, zum Zweiten für das Klagerecht des weil es hier um die praktische Politik geht – und mehr Bundesrates als einem eigenen Organ und zum Dritten darum, unterhalb des heutigen Art. 23 des Grundgeset- für die Beteiligung an etwaigen Passerelle-Entschei- zes und insbesondere vor dessen Inanspruchnahme dungen. Hier werden wir sicherstellen müssen, dass eine Reihe von Verfahrensregelungen zu finden, durch die Rechte, die die EU-Verfassung jetzt dem Bundesrat die wir in unserer Aufstellung besser werden. Wir alle wie auch dem Bundestag bietet, durch eine gesetzliche wissen, dass wir hier Probleme haben. Diese Probleme Regelung – nicht durch eine Verfassungsbestimmung –

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Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfalen) (A) wirklich eingehalten werden. Richtig ist aber, dass die deutsche Interesse in der in Rede stehenden Frage ist. (C) beiden Bundesorgane eigene Rechte wahrnehmen, die Außerdem muss man mit umfassender Verhandlungs- man auch getrennt muss exekutieren können; an dieser macht auftreten können, weil dort bekanntlich Verhand- Stelle lehne ich eine Zusammenarbeit zwischen Bun- lungen geführt und Geschäfte gemacht werden, die sich desrat und Bundestag ab. nicht innerhalb der mitgliedstaatlichen Gesetzgebungs- kompetenzen bewegen. Es muss auch ein Kompromiss Zur Umsetzung kommen wir nachher im zweiten zwischen Bildungspolitik und Agrarpolitik eingegan- Teil. Eines will ich aber gleich abhandeln: Ich danke gen werden können. Man muss also frühzeitig, Frau Schwall-Düren für den Hinweis auf die Vor- geschlossen und mit umfassender Vertretungsmacht schläge von Baden-Württemberg und Nordrhein-West- auftreten können. Dies gewährleistet Art. 23 des falen zu Art. 24 des Grundgesetzes. Dann brauchen Grundgesetzes nicht. wir dies nachher nicht mehr aufzurufen. Danke schön. Er wird aber auch dem Demokratiegebot nicht ge- recht, weil sein Mechanismus, sein Glaube, man könne die gesetzgeberische Tätigkeit der Bundesregierung als Vorsitzender Franz Müntefering: eine politische Tätigkeit rechtlich an die Leine legen, Vielen Dank. – Jetzt hat Herr Röttgen das Wort, es sei möglich, ein imperatives Mandat zu begründen, nach ihm Herr Scholz. und man könne kontrollieren, wie im Ministerrat – bis- lang ja geheim – verhandelt werde, eine blanke Illu- Dr. Norbert Röttgen, MdB (CDU/CSU): sion ist. Die starke Stellung der Länder steht nur auf Ich werde noch einmal ausführen, worin nach mei- dem Papier; die Stellung ist in Wirklichkeit nicht stark. ner Auffassung die Problematik des Art. 23 des Grund- Manche trösten sich damit – das ist auch heute arti- gesetzes liegt. Art. 23 ist deshalb so problematisch, kuliert worden –, dies stimme zwar in der Theorie, weil in ihm nicht nur ein Spannungsverhältnis, sondern nicht aber in der Praxis, weil Art. 23 des Grundgesetzes sogar ein Widerspruch zwischen Effizienz und Demo- nicht angewendet werde. Damit kann ich mich, offen kratie angelegt ist. Ginge es nur um Effizienz, wie die gestanden, nicht trösten; denn dies bedeutet insbeson- Bundesregierung sagt – sie spricht davon, dass wir die dere, dass eine Mitwirkung und Einflussnahme des Handlungsfähigkeit stärken müssen –, dann gäbe es Bundestages – das ist die Wirklichkeit von heute – auf nur eine Lösung: Dann müsste die Bundesregierung die Gesetzgebungstätigkeit, die die nationale Exekutive verhandeln und entscheiden können, ohne dass ihr als Gesetzgeber im europäischen Ministerrat ausübt, Bundesrat und Bundestag hineinreden. Das wäre die schlicht nicht stattfindet. Der Bundestag ist bei europäi- (B) effizienteste Art, Interessen durchzusetzen. scher Gesetzgebung, deren Relevanz von niemandem (D) (Bundesminister Hans Eichel [BMF]: So ist bestritten wird, außen vor. das!) Der Bundesrat, der darin etwas stärker verankert ist, – Ja, so ist das; das ist gar nicht zu bezweifeln. ist praktisch ebenso außen vor. Ich halte die Zahlen der vergangenen fünf Jahre für ganz interessant. Sie zei- Da aber die Tätigkeit der Bundesregierung im Mi- gen, wie einflussreich der Bundesrat war: In den Jah- nisterrat Gesetzgebung darstellt, sind wir alle ebenso ren 1998 bis 2003 hat der Bundesrat in ganzen 37 von unbezweifelbar der Auffassung, dass dies etwas mit insgesamt 900 Stellungnahmen – das ist ein Anteil von Demokratie und demokratischer Willensbildung zu tun 4 Prozent – eine maßgebliche Berücksichtigung seiner hat, Position bei der europapolitischen Willensbildung (Bundesminister Hans Eichel [BMF]: Was durch die Bundesregierung gefordert. Das ist marginal. ist mit dem Bundesrat?) In 20 Fällen hat die Bundesregierung widersprochen. In einem einzigen Fall, der genannten UVP-Richtlinie, da die Gesetzgebung keine Domäne der Exekutive ohne ist es in fünf Jahren bei 900 Stellungnahmen zum Kon- parlamentarische Kontrolle und Willensbildung sein flikt gekommen. soll. Darum kann das, was von der Effizienz her gebo- ten ist, nicht die Lösung dieses Problems darstellen. Fazit der Nichtanwendung von Art. 23 des Grund- Vielmehr muss man versuchen, dieses Spannungsver- gesetzes: Diese Vorschrift bringt für Deutschland ein hältnis aufzulösen. Nach meiner Auffassung vermag massives Demokratieproblem mit sich, weil die exeku- Art. 23 des Grundgesetzes dieses Spannungsverhältnis tive Gesetzgebung und Rechtsetzung ohne eine parla- aber nicht aufzulösen. Er wird dem Gebot der Effizienz mentarische Rückkoppelung und Kontrolle stattfindet. nationaler Interessenvertretung in Brüsseler Institutio- Ich empfinde dies als Parlamentarier nicht nur als theo- nen nicht gerecht, indem er Bundestag und Bundesrat retisch, sondern auch als europapolitisch schlimm, Mitwirkungsrechte einräumt, weil ein Gebot effizienter weil ich der festen Überzeugung bin, dass die wach- Interessenvertretung in Brüssel ganz unbestreitbar da- senden Akzeptanzprobleme, die wir im Hinblick auf rin besteht, dass man ganz frühzeitig – nicht erst, wenn europäische Entscheidungen haben, damit zusammen- der Richtlinienvorschlag auf dem Tisch liegt, sondern hängen, dass die europapolitischen Entscheidungen zum frühesten Zeitpunkt der Überlegungen im Hinblick nicht Gegenstand der innenpolitischen Diskussion auf gesetzgeberische Tätigkeit – präsent sein und ge- sind. Wenn die Menschen stets feststellen, das europäi- schlossen auftreten muss. Es darf kein Zweifel daran sche Recht komme irgendwie an, ohne dass wir er- bestehen, was zum frühestmöglichen Zeitpunkt das kennbar die Chance hätten, darauf Einfluss zu nehmen,

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Dr. Norbert Röttgen, MdB (A) dann akzeptieren sie europäische Entscheidungen dem ein Richtlinienvorschlag der Kommission in der (C) nicht. Dies ist ein Grund für das Demokratieproblem, Welt ist, eine Stellungnahme zum Thema Subsidiari- das ich darzulegen versucht habe, und auch die maß- tätskompetenz abgeben. Auch europapolitisch und eu- gebliche Ursache für das Akzeptanzproblem im Hin- roparechtlich wird sich der Subsidiaritätsanspruch nur blick auf Europa. Das wird uns alle noch weiter betref- sehr eingeschränkt justiziabel durchsetzen lassen. Aber fen. er stellt die Chance dar, dass wir, wenn nach der euro- päischen Verfassung die Befassung der nationalen Par- Die Probleme des Art. 23 des Grundgesetzes, die lamente zwingend vorgesehen ist, nicht nur über die ich beschrieben habe, das Problem mangelnder Effi- Subsidiarität im Rahmen des Richtlinienvorschlags re- zienz ebenso wie das Problem mangelnder Demokra- den, sondern über den Richtlinienvorschlag selbst. tie, werden sich aus zwei Gründen verschärfen: Die Dass die Bundesregierung verpflichtet wird, in den EU-Verfassung wird kommen und es wird weit mehr Parlamenten – im Bundestag und im Bundesrat – zu Mehrheitsentscheidungen geben. Das heißt, der Minis- sagen, ob sie diesem Richtlinienvorschlag zustimmen terrat wird in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber noch will oder nicht, dass wir darüber auch eine kontroverse viel aktiver und wirkungsvoller werden, als er es bis- Debatte in unserem Land führen, das halte ich für das lang war. Wenn unsere Föderalismusreform erfolgreich Wichtigste. Wir müssen über die Entscheidungen und sein sollte und die Länder Gesetzgebungskompetenzen Themen der Europapolitik auch innerstaatlich diskutie- bekommen, wird sich unser Problem unter Effizienz- ren und Transparenz schaffen. Dann wird dem demo- gesichtspunkten noch weiter verschärfen. kratischen Anspruch Genüge getan. Mehr als Transpa- renz kann man nicht wollen. Dann können die Bürger Wie kann nun die Problemlösung aussehen? Ich am Ende entscheiden, was sie von den Entscheidungen möchte mehr einen Vorschlag zur Staatspraxis als zum halten. Gleichzeitig wird die Effizienz gesichert, in- Staatsrecht, zum Verfassungsrecht oder auch zur unter- dem sich Deutschland durch interne Willensbildung gesetzlichen Regulierung machen, weil ich glaube, nicht daran hindern lässt, mit einer Stimme geschlos- dass es am Ende wirklich an der Staatspraxis hängt, die sen und frühzeitig in den europäischen Gremien zu sich ja vom Verfassungsrecht, wie wir nicht bezweifeln entscheiden. können, abgelöst hat. Ich tue dies nicht nur aus der Einsicht heraus, dass, da die Bundesregierung strikt für Wir müssen also zu einer Staatspraxis, zu einer Ver- eine Entschärfung von Art. 23 des Grundgesetzes plä- ständigung zwischen der Regierung auf der einen Seite diert und einige Bundesländer ebenso strikt für eine und Bundestag und Bundesrat auf der anderen Seite Verschärfung plädieren, die Perspektive aus diesem kommen, den jeweiligen Verfassungsorganen ihr Recht Dualismus der Status quo ist, also nicht nur aus der zu geben: der Bundesregierung das Recht, in Europa (B) Einsicht heraus, dass es keine Zweidrittelmehrheit ge- effizient zu handeln, und dem Bundestag und dem (D) ben wird, sondern auch aus der Einsicht heraus, dass Bundesrat das Recht, darüber kontrovers zu diskutie- die Staatspraxis an dieser Stelle viel wichtiger als das ren und die Regierung hinsichtlich dessen, was sie tut, Staatsrecht ist. zu kontrollieren. Es ist möglich, dass der Effizienzanspruch des Staa- tes, in Europa seine Interessen durchzusetzen, durch Vorsitzender Franz Müntefering: eine Transparenzverpflichtung derjenigen, die dort handeln, also der Bundesregierung, ausbalanciert wird. Vielen Dank, Herr Röttgen. – Ich erteile Herrn Die Bundesregierung – egal wer sie stellt – kann für Scholz das Wort. Danach werde ich Herrn Steenblock sich beanspruchen, die Interessen Deutschlands wir- und Herrn Friedrich aufrufen. kungsvoll durchsetzen zu wollen, weshalb sie darüber entscheiden müsse, was in Europa passiere. Aber sie muss für diesen Effizienzanspruch auch eine Transpa- Sachverständiger Prof. Dr. Rupert Scholz: renzverpflichtung eingehen. Sie muss sicherstellen Vielen Dank, Herr Vorsitzender. – Der Art. 23 des – wahrscheinlich unterverfassungsrechtlich in den Grundgesetzes, wie er seinerzeit beschlossen worden Durchführungsgesetzen –, dass sie bereit ist, für das, ist – der eine oder andere in diesem Kreis weiß ja, dass was sie in Europa tut, national zur Verantwortung ge- ich daran in anderer Funktion nicht ganz unschuldig zogen zu werden. Sie muss bereit sein, über ihre Posi- war –, war bekanntlich Ergebnis eines Kompromisses. tion zu reden, bevor abgestimmt wird. Dies tut die Er stand damals erklärtermaßen – jeder, der dabei war, Bundesregierung heute nicht. Sie muss Klarheit da- wird sich daran erinnern – unter dem Vorbehalt, dass er rüber schaffen, wofür sie verhandelt und was sie sich bewährt, weil dies etwas völlig Neues war. Ein durchgesetzt hat. Sie muss sich gesetzlich festlegen, Bundesstaat, der auf der einen Seite europafähig sein dass sie mindestens ein Jahr vor Ablauf von Umset- muss und der auf der anderen Seite mit Mechanismen, zungsfristen einen Gesetzentwurf einbringt, damit we- die auf der europäischen Ebene nach wie vor die der nigstens in der Umsetzung parlamentarische Kontrolle Außenpolitik und die der völkerrechtlichen Verfahren möglich ist. sind, zurechtkommen muss, tut sich ganz ungeachtet dessen, dass Europapolitik mehr und mehr zur Innen- Ein Ansatz, den Effizienzanspruch gegen eine politik wird, bekanntlich sehr viel schwerer als ein Transparenzverpflichtung zu realisieren, ist das Früh- Einheitsstaat. Aber wir sind ein Bundesstaat und wir warnsystem in der europäischen Verfassung, das vor- müssen diesen Bundesstaat europafähig halten oder so- sieht, dass die Parlamente binnen sechs Wochen, nach- gar erst europafähig machen.

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Sachverständiger Prof. Dr. Rupert Scholz (A) Nach zwölf Jahren Erfahrungen mit Art. 23 des bindlich ist. Bei uns ist in Art. 45 von einer Ermächti- (C) Grundgesetzes sieht es sicherlich der eine so und der an- gung die Rede; das ist in Österreich verbindlich. Denn dere so; aber man kann es nicht nur an bestimmten Fäl- man weiß, dass der gesamte Nationalrat nicht in der len festmachen. Das, was diese Kommission jetzt zu Lage ist, mit der nötigen Effizienz rechtzeitig zu ent- entscheiden hat, ist mit Sicherheit für die nächsten scheiden. – Aber das ist mehr eine Randbemerkung. zwölf oder vielleicht auch 20 und mehr Jahre maßge- bend. Deshalb muss man den Art. 23 des Grundgesetzes Die Österreicher haben ferner, wie ich finde, auch jetzt wirklich auf den Prüfstand stellen. Nach meiner eine sehr gute Formel für die Außenvertretung des festen Überzeugung muss er geändert werden. Ich habe Landes gefunden. Jetzt kommt wieder der außenpoliti- mir erlaubt, Ihnen in der Kommissionsdrucksache 40 sche und völkerrechtliche Aspekt ins Spiel. Es stellt ein paar Vorschläge zu unterbreiten, die ich jetzt nicht sich die Frage nach einer totalen Bindung der Bundes- im Einzelnen wiederholen will. Aber auf einige mir be- regierung in den Verhandlungen nach außen. Die Au- deutsam erscheinende Punkte werde ich ganz kurz ein- ßenvertretung eines Landes muss meines Erachtens bei gehen, weil ich glaube, dass sie für die Richtung grund- der Bundesregierung liegen. sätzlich maßgebend sind. Natürlich muss man in Verhandlungen auch ein Das Spannungsverhältnis zwischen europapoliti- bestimmtes Maß an Flexibilität haben. Man braucht scher Handlungsfähigkeit nach außen und innenpoliti- Verhandlungsspielräume, was eine effiziente Rück- scher Föderalismusgerechtigkeit und Demokratiege- koppelung nach außen, aber auch ein Stück Bewe- rechtigkeit – man könnte hier fast von einem Dreieck gungsfähigkeit bedingt. Wir haben in Art. 23 unseres sprechen – kann man, wie Herr Röttgen ganz richtig Grundgesetzes den Begriff der gesamtstaatlichen Ver- bemerkt hat, nur ganz schwer zusammenführen. Aber antwortung. Meiner Ansicht nach haben die Österrei- es muss zusammengeführt werden. Richtig ist zu- cher eine viel intelligentere Formulierung. Diese sieht nächst, der Bundestag spielt eine Rolle, die in Wirk- eine Abweichung von dem innerstaatlichen Votum nur lichkeit keine Rolle ist. Es ist ganz eindeutig, dass der für den Fall zwingender außen- und integrationspoliti- Bundestag in Art. 23 des Grundgesetzes vernachlässigt scher Gründe vor. In der Außen- und Integrationspoli- worden ist. Der Bundestag ist daran allerdings ein biss- tik braucht die Regierung Spielraum; denn da steht sie chen selbst schuld. Er hat nämlich die Möglichkeit des in den konkreten Verhandlungen und gegebenenfalls Art. 45 des Grundgesetzes, die wir damals eröffnet ha- auch Auseinandersetzungen mit den Partnern. Ich gebe ben – Stichwort: Europaausschuss als beschlussfähiger auch in diesem Punkt zu bedenken, ob wir nicht eine Hauptausschuss – aus vielen Gründen nicht umgesetzt. Regelung in Anlehnung an die österreichische schaffen Dies ändert aber nichts daran, dass die Rechte des sollten. (B) Bundestages gestärkt werden müssen. (D) Lassen Sie mich noch einmal kurz auf den gemein- Der Bundesrat ist besser weggekommen. Er hat das samen Ausschuss zurückkommen, auf den Herr Recht, dass seine Auffassung gegebenenfalls maßgeb- Burgbacher eingegangen ist. In Bezug auf Art. 23 be- lich zu berücksichtigen ist. steht ein Problem in der Richtung, dass die Entschei- dungen aus Brüssel, die umzusetzenden Rechtsakte, in Ich habe in meiner Stellungnahme einmal einen vielen Fällen leider nicht lupenrein entsprechend unse- Vergleich zu einem anderen Bundesstaat gezogen, rer innerstaatlichen Kompetenzordnung aufgeteilt wer- nämlich dem uns sehr verwandten Bundesstaat Öster- den können. Das heißt, es muss – ich sage es einmal reich. Ich empfehle Ihnen sehr, sich einmal die öster- unjuristisch – eine Clearingmöglichkeit zwischen Bun- reichische Bundesverfassung zu dieser Frage anzuse- destag und Bundesrat geben. Das spricht für ein sol- hen. Es ist sehr leicht, die entsprechende Stelle zu ches gemeinsames Gremium, in dem man solche finden, weil es auch da mit Art. 23 anfängt, allerdings Dinge austrägt. Durch ein solches gemeinsames Gre- mit Art. 23 a; es sind mehrere Artikel. Die Österreicher mium könnte im Übrigen auch die Rückkoppelung si- haben einige sehr klare Regelungen zu dieser Proble- chergestellt werden, die dringend nötig ist: Bundesrat matik. wie Bundestag müssen auch im Vorfeld von Brüsseler Sie haben, was Rechtsakte der EU angeht, zunächst Entscheidungen beteiligt werden; sie müssen infor- gesagt – hier kommt das Demokratieprinzip ins Spiel –: miert werden. Sie müssen an Planungsprozessen teil- Da, wo Zuständigkeiten der Länder in der innerstaatli- nehmen können. Das ist mit den Mechanismen des chen Umsetzung berührt sind, ist das Votum des Bun- Art. 23 in der geltenden Fassung jedenfalls nicht mög- desrates nicht nur maßgeblich zu berücksichtigen lich. Beide Verfassungsorgane, Bundesrat wie Bundes- – wie wir sagen –, sondern für die Regierung verbind- tag, müssten ein dringendes Interesse daran haben, lich. Da, wo es um Bundeszuständigkeiten geht, ist das dass über die Strukturen, wie sie in Art. 23 niederge- Votum des Bundestages, sprich: des Nationalrates, ver- legt sind, und deren Veränderung noch einmal nachge- bindlich. Das ist klar und demokratisch eindeutig. Man dacht wird. Das ist die innerstaatliche Seite. sollte meines Erachtens auch bei uns den Mut haben, darüber einmal ernsthaft nachzudenken. Das würde Ich möchte noch einen Satz zu dem sagen, was Herr beide Ebenen im Lichte des Demokratieprinzips erheb- Schneider beigesteuert hat und was hier zu Recht lich stärken. schon sehr viel Zustimmung gefunden hat. Herr Schneider hat sich die andere Seite angesehen, nämlich Im Übrigen hat man sogar in die Verfassung hinein- die politische Repräsentanz der Bundesrepublik in den geschrieben, dass die Hauptausschusskonstruktion ver- Organen in Brüssel.

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 142 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht

Sachverständiger Prof. Dr. Rupert Scholz (A) Das, was ich in meiner Stellungnahme zu dem betrifft also die Frühphase und die spätere Umset- (C) innerstaatlichen Aspekt ausgeführt habe – Herr zungsphase. Schneider wird Ihnen das bestätigen; wir sind uns da sehr einig –, und das, was Herr Schneider dankenswer- In der eigentlichen Verhandlungs- und Entschei- terweise zu dem Brüsseler Aspekt geschrieben hat, dungsphase muss in Brüssel koordiniert werden. Dazu passt sehr gut zusammen. Ich schließe mich auf Punkt habe ich Vorschläge gemacht, von denen ich drei für und Komma dem an, was Herr Schneider zu der Ver- essenziell halte. Der wichtigste Punkt scheint mir zu tretung der Bundesrepublik in Brüssel vorgetragen hat. sein, dass die Leiter der Brüsseler Büros der Länder Ich meine, dass das sehr wichtig und weiterführend ist. mit dem Ständigen Vertreter der Bundesregierung ei- nen Länderbeirat bilden sollten. Ich bin der Meinung, Vielen Dank. dass dieser sogar wöchentlich tagen könnte. Er sollte als die eigentliche Schaltstelle für die tagtäglichen Ver- Vorsitzender Franz Müntefering: handlungen fungieren, die dort geführt werden müs- sen. Vielen Dank. – Jetzt hat sich auch Herr Schneider gemeldet. Ich würde ihm gern Gelegenheit geben, das Ferner sollte die Europakammer des Bundesrates Wort zu nehmen. tatsächlich die Funktion ausüben, die ihr nach Art. 23 zugedacht worden ist. Die Europakammer hat in dem Sachverständiger Prof. Dr. Hans-Peter gesamten Zeitraum seit 1993, also in zehn Jahren, nur Schneider: neunmal getagt. Das ist nicht gerade ein Beleg dafür, dass Art. 23 in dieser Hinsicht funktioniert hat. Die Vielen Dank, Herr Vorsitzender. – Auch vielen Europakammer des Bundesrates müsste also gestärkt Dank für das Lob. Ich weiß nicht, ob ich es verdient werden. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass habe. der Vorsitzende der Kammer als eine Art Gesamtbe- vollmächtigter der Länder agieren könnte. Das wäre Vorsitzender Franz Müntefering: möglich, wenn man ihn nicht, wie zurzeit, für ein Jahr, Geben Sie es einfach zurück; dann ist es okay. sondern vielleicht für zwei Jahre wählen würde und auch die Möglichkeit der Wiederwahl vorsehen (Heiterkeit) könnte.

Sachverständiger Prof. Dr. Hans-Peter Darüber hinaus liegt mir am Herzen, dass aufseiten Schneider: der Bundesregierung ein Europaministerium einge- richtet wird. Ich weiß, wie problematisch dieser Vor- (B) (D) Ich gebe es zurück an den Vorsitzenden für den Rest schlag ist. Er ist ja auch nicht neu. Ich weiß auch, dass der Versammlung hier. die Staatssekretäre großen Wert darauf legen, dass sie Zunächst einmal möchte ich mich an die Länder ihre Staatssekretärsrunde behalten, dass diese mögli- richten: Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten in Ihrem cherweise sogar aufgewertet wird. Wenn man aber Land eine Gemeindekammer, also eine zweite Kam- nach Frankreich schaut – ich möchte im Anschluss an mer. Stellen Sie sich des Weiteren vor, Sie hätten in das österreichische Beispiel jetzt einmal Frankreich er- Ihrer Landesverfassung einen Art. 23 für die Gemein- wähnen –, dann stellt man fest, dass es dort – neben den. – Mehr möchte ich dazu gar nicht sagen. dem Europaminister – das Comité Interministériel mit einem Generalsekretär gibt. Dieser Generalsekretär des (Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber Comité Interministériel ist der eigentliche Akteur auf (Bayern): Das haben wir!) europäischer Ebene. Dieses Komitee hat etwas mehr als 200 Mitarbeiter. Ich habe mir sagen lassen, dass Überlegen Sie einmal, wie aktionsfähig Sie dann auf dort niemand eingestellt wird, der nicht vorher zwei Bundesebene wären. Man braucht nur nachzulesen, Jahre in Brüssel war. Daran sehen Sie, welche Anfor- was Landesregierungen im Rahmen von Diskussionen derungen die Franzosen an das Personal stellen. Sie gesagt haben, die anlässlich von Verfassungsreformen verlangen, dass jemand, der dort arbeiten will, Erfah- in den Ländern über Gemeindekammern geführt wor- rungen aus Brüssel mitbringt. Ich meine also, es sollte den sind. Das könnte man der Bundesregierung wort- ein eigenes Ministerium eingerichtet werden. wörtlich als Lektüre empfehlen; sie könnte das alles zi- tieren. – Das war meine Vorbemerkung. Ich habe eine Bitte an die Kommission: Vielleicht könnten wir, Herr Vorsitzender, die Frage, ob und, Ich danke Herrn Scholz für seinen Hinweis, dass wenn ja, wie Art. 23 geändert werden muss, hintanstel- diese beiden Vorschläge gut zusammenpassen. Mein len. Sehen wir uns an, was wir hier verbessern können, Interesse gilt in der Tat dem Koordinierungsbedarf, der wie auch immer. Machen wir dazu Vorschläge und eher kurzfristiger Art ist und dem deshalb in Brüssel überlegen wir uns erst zum Schluss, in welche Rechts- Rechnung getragen werden muss. Wir brauchen, form sie gegossen werden. – Ich glaube, dass wir auf glaube ich, Verbesserungen in beiden Bereichen. In- diese Weise weiterkommen. nerstaatlich benötigen wir eine Koordinierung, die frühzeitig einsetzt, die die langfristigen Dinge beachtet und auch die Initiativen im Vorfeld umfasst. Wir brau- Vorsitzender Franz Müntefering: chen innerstaatlich des Weiteren eine Koordinierung, Vielen Dank, Herr Schneider. – Herr Steenblock, eine Clearingstelle in Bezug auf die Umsetzung. Das dann Herr Friedrich.

Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Mai 2004 – Stenografischer Bericht 143

(A) Rainder Steenblock, MdB (BÜNDNIS 90/DIE Daher meine ich, dass die legitimierte Ebene im (C) GRÜNEN): Rahmen der Subsidiaritätskontrolle gestärkt werden Vielen Dank, Herr Vorsitzender. – Das, was Herr muss. Es gibt einen Ansatz, auch wenn die Vorgaben, Schneider zum Schluss gesagt hat, ist als Vorschlag si- was die Operationalisierbarkeit angeht, relativ eng cherlich akzeptabel. Gleichwohl will ich mich eigent- sind. Der in der neuen EU-Verfassung für Subsidiari- lich nicht gern damit abfinden, dass wir Art. 23 in der tätskontrolle vorgesehene Zeitraum ermutigt nicht ge- jetzigen Form bestehen lassen; denn ich glaube, dieser rade dazu, das Projekt in Angriff zu nehmen. Aber ich Grundgesetzartikel dient nicht dem Zweck, die natio- glaube, wir haben trotzdem eine Chance, dies zu ver- nalen Interessen unseres Landes vernünftig zu organi- wirklichen. Konsequenz daraus muss sein – jetzt spre- che ich für den Bundestag –, dass die Stellung des sieren. In diesem Sinne meine ich, dass wir gefordert Bundestages in diesen Entscheidungsprozessen ge- sind, aufgrund der in der Vergangenheit gesammelten stärkt wird; sonst hat die Subsidiaritätskontrolle über- Erfahrungen zu überlegen, wie wir es besser organisie- haupt keinen Wert. ren können, damit wir uns, was die Interventionsfähig- keit auf europäischer Ebene angeht, so etwas wie eine Vor diesem Hintergrund bitte ich die Länder, über strategische Kompetenz zurückerarbeiten; denn eine die Aufgabenverteilung ernsthaft nachzudenken. Es solche haben wir zu den sehr frühen und zentralen geht hierbei ja nicht um eine institutionalisierte Miss- Zeitpunkten, zu denen in Brüssel Entscheidungen ge- trauenskontrolle; vielmehr geht es darum, welche troffen werden, nicht. Ebene unser aller Interessen an dieser Stelle am besten wahrnehmen kann. Ich will damit nicht sagen, dass die Ich gebe Herrn Schneider ausdrücklich Recht, dass Abstimmungsprozesse auf der Ebene darunter, zwi- der Umstand, dass wir insoweit schlecht aufgestellt schen Bund und Ländern, nicht massiv verbessert wer- sind, nicht nur auf unsere föderalen Struktur zurückzu- den müssten und dass wir nicht neue Strukturen führen ist, sondern dass als weiteres Problem das Res- bräuchten, damit wir auf der europäischen Ebene ins- sortprinzip hinzukommt. Ich meine – auch wenn ich gesamt schlagkräftiger werden. Was aber die Vertre- mich damit nicht bei allen Grünen beliebt mache –, tung und Darstellung unserer Politik in Brüssel und die dass das Ressortprinzip, was die Vertretung des Bun- frühzeitige Beobachtung und Intervention angeht, so des nach außen angeht, die Schlagkraft nicht unbedingt müssen wir meiner Meinung nach zu einer entschei- stärkt. Daher müssen wir auch darüber nachdenken, denden Veränderung kommen, damit es sich in der wie innerhalb der Bundesregierung zu einem frühen Realität besser darstellt, als es im Grundgesetz geregelt Zeitpunkt eine größere Handlungsfähigkeit erreicht ist. Ich meine, wir sollten die Kraft haben, dieser Rea- werden kann. lität Rechnung tragend eine akzeptable Formulierung (B) in das Grundgesetz aufzunehmen. Die Wortungetüme, (D) Natürlich beeinflussen die Entscheidungen, die in die gegenwärtig in der Verfassung stehen, sorgen mei- Brüssel getroffen werden, die Situation innerhalb der ner Ansicht nach eher für Unklarheit und schaffen Bundesrepublik auf allen Politikfeldern; das ist gar keine Klarheit. Wir sollten die Kraft haben, hier zu ei- keine Frage. Gleichwohl besteht die zuständige Instanz ner Veränderung zu kommen. nicht aus Innenpolitikern, sondern es handelt sich im- mer noch um eine supranationale Aufgabe. Auch die Vorsitzender Franz Müntefering: neue Verfassung spricht vom Europa der Staaten und Herr Friedrich hat das Wort. – Mir liegen noch neun der Bürgerinnen und Bürger. Die Vertretung auf dieser weitere Wortmeldungen vor. Dann ist die Zeit, die wir übernationalen Ebene sollte nach meinem Verständnis uns für dieses Kapitel vorgenommen haben, eigentlich in allererster Linie durch die Bundesregierung und das vorbei. Mein Vorschlag ist, die Diskussion darüber Bundesparlament wahrgenommen werden. dennoch fortzusetzen – denn sie verläuft ausgespro- chen gut, weil alles auf den Punkt gebracht wird –, und Kollege Röttgen hat völlig Recht, was die Proble- zwar unabhängig davon, ob dann noch ausreichend matik der demokratischen Legitimation angeht. Mei- Zeit bleibt, die anderen Punkte mit dem nötigen Nach- ner Meinung nach ergibt sich aus der Konstruktion des druck zu beraten. Art. 23 im Grunde eine Konkurrenz zwischen zwei Ebenen der Exekutive. Die beiden demokratisch legiti- Im Anschluss an den Beitrag des Kollegen mierten Ebenen, also die Parlamente, sind außen vor. Friedrich, der als Nächster das Wort erhält, haben – al- Das ist auf Landesebene im Grunde noch krasser. Die lerdings in anderer Reihenfolge, als ich es jetzt sage – Europaausschüsse der Landtage sind in aller Regel Herr Hoffmann, Frau Schwall-Düren, Herr Geiger, nicht die Institutionen, die kontrollieren können, wel- Herr Eichel, Herr Schön, Herr Gerhards, Herr Schäfer che Möglichkeiten der Einflussnahme die Landesre- und Herr Schmidt-Jortzig das Wort. Das mischen wir gierungen über den Bundesrat tatsächlich wahrneh- dann noch einmal, damit sich eine vernünftige Reihen- men. Auf Bundesebene ist es das Gleiche: Der folge ergibt. – Herr Friedrich, bitte schön. Europaausschuss fasst zwar ein-, zweimal in der Le- gislaturperiode plenarersetzende Beschlüsse – was er Dr. Hans-Peter Friedrich, MdB (CDU/CSU): tun kann –, aber das ist der extreme Ausnahmefall. Das Angesichts der momentanen Diskussionslage hat geschieht auch nicht qua Amt, sondern weil die Be- man fast das Gefühl, die Diskussion könnte eigentlich schlüsse aufgrund einer Zeitverzögerung sonst gar abgebrochen werden; denn die Fronten stehen relativ nicht gefasst werden könnten. klar so gegeneinander, dass Änderungen nicht möglich

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Dr. Hans-Peter Friedrich, MdB (A) zu sein scheinen. Daher möchte ich noch einmal einen dung der nationalen Parlamente vor. So ist beabsichtigt, (C) Appell im Sinne dessen, was Professor Scholz gesagt dass die EU-Organe unmittelbar den Bundestag unter- hat, an Sie richten: Wir haben in dieser Kommission richten und dass der Bundestag unmittelbar Stellung- die Chance, für viele Jahre vorausbestimmend unsere nahmen gegenüber EU-Organen abgeben kann. Da- bundesstaatliche Ordnung ein Stück zu modernisieren durch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es und europafähig zu machen. Wenn wir alles beim Al- – das ist mehrfach gesagt worden – ein enormes Demo- ten lassen, haben wir diese Chance verwirkt. kratiedefizit gibt, das sich in den letzten Jahrzehnten in der Europäischen Union aufgebaut hat. Es haben – so Da die Fronten so festgefahren sind, sollten wir uns würde Herr de Maizière sagen – die Fachbrüderschaf- in der Diskussion vielleicht zunächst nur über Grund- ten der nationalen Ministerien, also die Exekutive, in prinzipien unterhalten. Ein Grundprinzip muss doch Richtung Brüssel Recht gesetzt und die gewählten Par- sein, dass wir Effizienz und legitime Beteiligung nicht lamente sind außen vor gelassen worden. Das gilt es zu gegeneinander ausspielen dürfen. Frau Schwall-Düren, korrigieren. Der EU-Verfassungsvertrag ist ein Schritt es hat mich gerade an Ihrem Vortrag einigermaßen irri- auf diesem Weg. Wir sollten uns in dieser Kommission tiert, dass Sie zum Ausdruck gebracht haben, nationale auch auf diesen Weg begeben. Beteiligungsrechte müssten beseitigt werden, weil wir in Europa handlungsfähig sein müssten. Vorsitzender Franz Müntefering: (Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB [SPD]: Vielen Dank, Herr Friedrich. – Herr Hoffmann. Da haben Sie mich aber missverstanden!) Ich halte es für einen falschen Ansatz, das gegeneinan- Staatsrat Prof. Dr. Reinhard Hoffmann (Bre- der auszuspielen. men): Wichtig ist, dass wir die Effizienz der legitimen und Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Ich richtigen Beteiligungsrechte einer bundesstaatlichen möchte zunächst etwas mehr Klarheit schaffen, damit Ordnung steigern. Unser Bundesstaat besteht eben aus deutlich wird, wie wir dann zu dem Brückenbau kom- 16 Bundesländern, die alle ihre Beteiligungsrechte le- men. gitim ausüben wollen. Ich halte es grundsätzlich und strukturell für falsch, Das, was Kollege Röttgen, gesagt hat, nämlich dass wenn wir das Problem, das nicht zu verkennen ist, das wir die Effizienz steigern müssten, ist das Entschei- hinsichtlich der europapolitischen Aktivitäten des dende. Aber ich glaube nicht, dass wir dabei von vorn- Bundestages besteht, mit dem Problem des Bundesra- tes vermischen. Deshalb halte ich überhaupt nichts von (B) herein auf das freundschaftliche Miteinander setzen (D) sollten; vielmehr muss man justiziable Mechanismen einem gemeinsamen Ausschuss, der nach dem Grund- dafür finden. Ich denke, es ist gar nicht so verkehrt, gesetz bisher nicht als ständiges Gremium, sondern als über ein verbindliches Verhandlungsmandat, wie es ein Notgremium vorgesehen ist. Demgegenüber wäre etwa die Österreicher haben – das nicht ganz so unfle- ein solches Gremium im Zusammenhang mit der Euro- xibel ist wie das der Dänen; aber auch die Dänen sind papolitik zwangsläufig der von beiden Seiten wahr- in Europa durchaus gut vertreten –, nachzudenken. Zu- scheinlich am meisten beschäftigte Ausschuss. Damit mindest aber muss es in einigen Punkten unzweifelhaft hätten wir eine Verflechtung von zwei strukturell völ- mehr als bisher Parlamentsvorbehalte geben. Ich denke lig anders angelegten Gremien. zum Beispiel an die Veränderung der europäischen Außerdem ist auch die Beziehung zwischen Bundes- Verträge oder an die Neuaufnahme von Verhandlungen regierung und Bundestag strukturell völlig anders als mit künftigen Mitgliedstaaten. Ich meine, ein Parla- die zwischen Bundesrat und Bundesregierung. Ich mentsvorbehalt ist dann zwingend, wenn die Mitwir- glaube nicht, dass sich die Länder verweigern würden, kung der Bundesregierung in Brüssel dazu führt, dass wenn in Bezug auf das Thema Bundestag/Bundesregie- unser Grundgesetz anschließend geändert werden rung von der Bundestagsseite im Wege einer Verfas- muss. Es versteht sich fast von selbst, dass für diesen sungsänderung andere Regelungen getroffen werden Fall ein Zweidrittelvorbehalt für ein verbindliches Ver- sollten. Aber ich halte aus ganz allgemeinpolitischen, handlungsmandat eingeführt wird. Das Gleiche, Herr strukturellen Überlegungen, die etwas mit der Kon- Minister Eichel, müsste meiner Ansicht nach für EU- struktion unseres Parlamentarismus zu tun haben, Eigenmittel zwingend vorgeschrieben werden. Meiner nichts davon, wenn wir beides zusammenführen. Ansicht nach sollte man das Gleiche auch für die Be- nennung der Kommissare in Brüssel einführen. Was die Auswirkungen der EU-Verfassung betrifft, so gibt es meines Erachtens mindestens zwei Punkte, (Bundesminister Hans Eichel [BMF]: Das ist die diese Kommission – unterstellt, die EU-Verfassung das Europaverhinderungsgremium!) wird auf der Ebene der Regierungschefs vor dem Ende Insoweit halte ich eine substanzielle Verstärkung der der Arbeit dieser Kommission ratifiziert – berücksich- Beteiligung des Deutschen Bundestages für dringend tigen muss. Denn die Passerelle-Regelung hat etwas notwendig. mit Kompetenzen bzw. Gesetzgebungskompetenzen auch der Länder zu tun, wenn nämlich von dem Ein- Im Übrigen – das hat Herr Böhmler für Baden- stimmigkeitsprinzip durch Beschluss des Europäischen Württemberg vorhin richtig festgestellt – sieht der neue Rates zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung über- EU-Verfassungsvertrag in der Tat eine stärkere Einbin- gegangen wird. An dieser Stelle halte ich es für völlig

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Staatsrat Prof. Dr. Reinhard Hoffmann (Bremen) (A) unverzichtbar, dass die Rechte der Länder über den Entscheidend für die Stärkung der Demokratie in (C) Bundesrat durch eine entsprechende Beteiligung an dieser Verfassung ist die Stärkung der Rechte des Eu- dieser Entscheidung – wie auch immer man sie kon- ropäischen Parlaments. Man hat die Methode, die Ver- struiert –, und zwar verfassungsmäßig abgesichert, ge- fassung auf den Weg zu bringen, geändert, indem man wahrt werden. die Verträge letztendlich zu einer Verfassung ausge- staltet und weiterentwickelt. Der Konvent zeigt, auf Was das Klagerecht angeht, Frau Kollegin Schwall- welche Weise die Demokratie verbessert worden ist. Düren, so ist nicht die Rede davon gewesen, dass ei- Das zeigt sich auch durch das Abstimmungsprozedere, nem einzelnen Land ein direktes Klagerecht einge- was die Position des Nationalstaates anbelangt, das räumt wird; vielmehr soll der Bundesrat ein solches heißt durch das neue Verfahren der doppelten Mehr- Klagerecht ausüben können. Dann allerdings würde heit. Genau um diese beiden zentralen Punkte geht es. ich darum bitten, es dem Bundesrat im Rahmen seiner Geschäftsautonomie zu überlassen, wie er einen Wenn das so ist, dann muss die Diskussion über die rechtsgültigen, formal unanfechtbaren Beschluss fasst. Konsequenzen aus der EU-Verfassung in erster Linie Das war auch bisher die Basis; die Bundesregierung darüber geführt werden, wie der jetzt anders aufzustel- hat den Ländern schriftlich versichert, dass das respek- lende Partner, nämlich die Vertretung im Ministerrat, tiert werden soll. der öffentlich tagen soll, in dem auch Kontroversen Nun zu der Frage des Brückenbaus. Die Länder ha- ausgetragen werden sollen und nicht nur hinter ver- ben in ihrer Stellungnahme gesagt – das ist hier schon schlossenen Türen alles ausgehandelt werden soll, sich mehrfach angesprochen worden –, dass der innerstaat- positionieren kann und wie er sozusagen im Vorfeld liche Abstimmungsprozess schon im Vorfeld effektiver parlamentarisch – natürlich auch ein Stück weit durch zu gestalten ist. Ich möchte einmal kess die These for- Kontrolle, durch Berichterstattungspflicht, auch durch mulieren: Je eher wir – auf welcher Ebene auch immer; Aufträge – getragen und unterstützt werden kann. es könnte sein, dass das sogar auf der Verfassungs- Wenn man das nicht machen würde, würden wir eine ebene geschieht – zu einer stärkeren, effektiveren in- europapolitische Verhinderungsstrategie verfolgen. nerstaatlichen Abstimmung kommen, umso eher kann Das ist hier expressis verbis formuliert worden. man über das Problem der Außenvertretung reden. Damit bin ich beim zweiten Punkt. Es kann doch Andererseits ist auch klar, dass Art. 23 in seiner jet- wohl nicht sein, dass der Bundesrat seine Position ins- zigen Form gewissermaßen als fleet in being eine Län- besondere darüber definiert, dass es ein Klagerecht derbeteiligung im Vorfeld – zum großen Teil inoffiziell gibt. Das ist das Defensivste, was es überhaupt gibt, nämlich die Verhinderung europäischer Politik. Wir (B) und informell – absichert. Das hat, glaube ich, vorhin (D) schon der Kollege Gerhards gesagt. Verbindliche Vor- haben bisher in Deutschland das Selbstverständnis ge- absprachen sind nicht automatisch mit einem imperati- habt – das sollten wir, gerade was den Föderalismus ven Mandat gleichzusetzen; denn man kann Vor- angeht, deutlich machen –, dass wichtige Elemente, absprachen auch mit einer erheblichen Flexibilität zum Beispiel der Ausschuss der Regionen, eine deut- treffen. Wir sollten, glaube ich, stärker bedenken, wie sche Erfindung sind, die Länder- und ein Stück weit wir da zusammenkommen, um uns dann über die – ei- auch Gemeindepositionen stärkt. gentlich eher sekundären – Fragen der Vertretung – da geht es um denjenigen, der den Arm hochheben muss Einige geschätzte Kollegen haben hier vor allem die oder soll – zu verständigen. Frage angesprochen, wie weit man auf die Bremse tre- ten sollte. Ihnen kann ich nur sagen: Denken Sie doch (Zuruf von der SPD: Verhandeln!) bitte nicht daran, dass man sich in dem weiteren Pro- zess inklusive der Ratifizierung mit Zweidrittelmehr- – Ja, aber verhandeln im Rahmen der ständigen inter- heit in Richtung Blockade bewegen könnte. Wir sind nen Kommunikation. Das ist doch der Punkt. hier im Bundestag und im Bundesrat weder bei Radio Insoweit glaube ich, kann man die Brücke da dann Maria noch bei der britischen Massenpresse; das sind irgendwo weiterbauen. meines Wissens die Einzigen, die diese Verfassung derzeit ernsthaft infrage stellen.

Vorsitzender Franz Müntefering: Wenn wir über andere Möglichkeiten reden, sollte es auch darum gehen, voneinander zu lernen und Ver- Vielen Dank. – Jetzt Herr Schäfer. gleiche zu anderen Bundesstaaten herzustellen. Der ös- terreichische Bundesrat ist tatsächlich so etwas wie Axel Schäfer, MdB (SPD): eine zweite Kammer, weil die dortigen Vertreter von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt werden. Ich möchte gern zu drei Punkten etwas sagen, und zwar zunächst zu den Konsequenzen, die sich aus der (Bundesminister Hans Eichel [BMF]: Aha! – EU-Verfassung ergeben. Ich glaube, an dieser Stelle Zuruf des Sachverständigen Prof. Dr. Hans- gibt es einen fundamentalen Meinungsunterschied, Peter Schneider ) wahrscheinlich auch ein fundamentales Missverständ- nis in Bezug auf die EU-Verfassung. Das zeigt sich – Die Mitglieder des Bundesrates werden durch Ur- nicht nur darin, dass die einen von der Verfassung und wahl gewählt. Das können Sie mir wirklich glauben, die anderen vom Verfassungsvertrag reden. Herr Schneider.

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Axel Schäfer, MdB (A) Ein Drittes möchte ich nur am Rande vorsichtig an- Dann hätte man statt zweier Gremien eines. Aber das (C) merken, weil auch bei den hier Handelnden am Tisch, fällt erst in ein fortgeschrittenes Stadium der Bemü- und zwar auf allen Seiten, das Sein das Bewusstsein hungen. bestimmt. Die Länder haben, seit es eine Vertretung in Ich möchte an dieser Stelle aber auch noch einmal Brüssel gibt – sie heißen eigentlich Büros –, ihre dorti- eine Lanze für einen Beteiligten brechen, der über- gen Büros zu Vertretungen – fast zu Ständigen Vertre- haupt noch nicht dabei ist, obwohl es auf ihn entschei- tungen, also zu Botschaften – entwickelt. Gab es dort dend ankommt. Das sind die Landesparlamente in dem zunächst nur Räume, so entwickelte sich das hin zu Teil, in dem sich die Legislative oder – wie hier gesagt Repräsentanzen; mittlerweile gibt es dort sogar schon wurde – die innerstaatliche Clearingstelle zu arbeiten Paläste. anschickt. In dem gemeinsamen Ausschuss müssten, (Zuruf: Nur einen Palast!) finde ich – wie immer das zu organisieren wäre –, auch die Landesparlamente vertreten sein; denn sie sind – Entschuldigung, nur einen Palast. nachher diejenigen, die die legislativen Aufgaben auf (Zuruf: Schloss!) Landesebene wahrzunehmen haben. Bei aller Liebe für die Landesregierungen und ihre Vertretung im Bundes- – Ein Schloss; ich lasse mich gerne korrigieren. rat, also als Bundesorgan: Die ernsthaft Betroffenen, Ich kann mir schon vorstellen, dass es – ausgehend auf die es in diesem Bereich ankommt, sind letztlich von dem bisherigen Verständnis, dass man dort sozusa- die Landtage. gen wie ein kompletter Staat auftritt – in mancher Gestatten Sie mir eine letzte kurze Bemerkung. Herr Staatspraxis schwierig ist, sich auf die ein bisschen Kollege Schneider hat eine interessante Überlegung zu veränderte Situation einzustellen; denn es geht nicht der sicherlich verbesserungsfähigen Koordination zwi- nur um mehr Demokratie in der EU, sondern auch da- schen den Ressorts der Bundesregierung angestellt. rum, dass in der größeren EU anders agiert werden Dabei geht es natürlich nicht – er ist auch weit davon muss, als man es bei ursprünglich einmal sechs Mit- entfernt, wie ich aus anderen Diskussionen von ihm gliedstaaten getan hat. Daher muss man im Interesse weiß – um eine Festschreibung in der Verfassung. Nie- des bundesdeutschen Staates in bestimmter Hinsicht mand will die Organisationsgewalt des Kanzlers oder auch die bisherige Praxis auf den Prüfstand stellen. der Bundesregierung bzw. im Bereich der Bundesre- gierung – lassen wir es einmal so offen – in irgendeiner Vorsitzender Franz Müntefering: Weise antasten. Aber ich hätte doch Bedenken – diese Vielen Dank. – Herr Schmidt-Jortzig hat das Wort. will ich nur anmelden –, dass das mit einem Europami- nister optimal gelöst wäre. (B) (D) Sachverständiger Prof. Dr. Edzard Schmidt- Ich kann mir vorstellen, dass ein solcher Europami- Jortzig: nister in dieser Angelegenheit stark überfordert wäre, Ich hatte zunächst den Eindruck, wir würden heute weil Europa längst zur Querschnittsaufgabe geworden eine Veranstaltung l’art pour l’art abhalten: zwei Seiten und in jedem Ressort zu Hause ist. Das nun ohne ir- begegnen sich mit absoluten Vorstellungen und es gendein besonderes Machtmittel zu koordinieren ist kann keine Verständigung gefunden werden. Insbeson- wohl nicht möglich. Deswegen muss diese Stelle – wie dere nach dem Beitrag von Ihnen, Herr Hoffmann, immer man sie ausbaut – im Kanzleramt, beim Bun- habe ich aber jetzt doch ein etwas optimistischeres Ge- deskanzler bleiben, etwa in Form eines Parlamentari- fühl. Wir sind uns einig geworden, dass es darum geht, schen Staatssekretärs mit dem schönen Titel Staats- das Rückkopplungs- und Koordinierungsverfahren zu minister, als beamteter Staatssekretär oder however. effektivieren. Darin stimmen, glaube ich, alle überein. Aber mit einem Europaminister holt man sich indessen Wir sind uns, glaube ich, auch darin einig, dass diese eine institutionalisierte Konfliktsituation ins Kabi- Optimierungsaufgabe zu Strukturen führen muss, die nett. – Das wollte ich nur angemerkt haben. – Organisation und Verfahren einschließend – eine Ein- Danke. beziehung und ein integriertes Arbeiten aller Beteilig- ten ermöglichen. Darüber hinaus soll tunlichst perma- Vorsitzender Franz Müntefering: nent die Möglichkeit der gegenseitigen Abstimmung Vielen Dank, Herr Schmidt-Jortzig. – Herr Eichel. bestehen und eine bestimmte personelle Kontinuität vorhanden sein. Bundesminister Hans Eichel (BMF): Dann macht es auch Sinn – wie die Kollegen Scholz Bevor mir Herr Ministerpräsident Stoiber laut vor- und Schneider, S + S, es zusammengepackt haben –, wirft, was er mir vorhin schon leise vorgeworfen hat, ein Gremium für innen und für außen vorzusehen. Ich nämlich ich sei am Zustandekommen von Art. 23 des würde eher sagen: Für die Legislative sollte ein – wie Grundgesetzes stark beteiligt gewesen, will ich es hier es Herr Scholz formuliert hat – Gemeinsamer Aus- bekennen. schuss für Angelegenheiten der Europäischen Union eingerichtet werden und für die Außenvertretung, wie (Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber [Bay- es Herr Schneider formuliert hat – ich würde eher sa- ern]: Sie waren damals gut beraten!) gen: für die exekutivischen Aufgaben –, ein Länder- – Das sehe ich heute völlig anders. beirat beim Ständigen Vertreter. Ob man das noch zu- sammenführen könnte, wäre eine Überlegung wert. (Heiterkeit)

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Bundesminister Hans Eichel (BMF) (A) Art. 23 ist Ausdruck – er passt ja auch nicht in die Rechtsetzungsakte geben, die Parlament und Rat (C) Verfassung – grenzenlosen Misstrauens. Er ist mehr gemeinsam machen. Das ist spiegelbildlich genau das- eine Geschäftsordnung, als dass er eine in die Verfas- selbe wie das, was wir zwischen Bundestag und Bun- sung gehörende Formulierung wäre. Darin kommt zum desrat haben, wobei das demokratisch direkt legiti- Ausdruck, wie der damalige politische Stand war. mierte Parlament der Bundestag ist. Das muss man einräumen. Die Länder wussten damals nicht – wenn ich es richtig sehe, wissen sie es bis heute nicht –, ob sie denn Ich will nur sagen: Wenn wir hier über mehr Demo- eigentlich ihre Interessen in Brüssel wahrnehmen wol- kratie reden, dann müssen wir auch darüber reden, ob len oder ob sie sie gegenüber der Bundesregierung wir – das ist die Debatte – Kompetenzen direkt zu den wahrnehmen wollen, damit diese sie vertritt. Das ist Ländern, das heißt zu den Länderparlamenten zurück- der zweite Widerspruch. Wir sind es ja auch gewesen, holen. die insbesondere wegen der Länder den Ausschuss der Regionen – mit kleinen kommunalen Einsprengseln – Dieselbe Frage kann man dann vernünftigerweise durchgesetzt haben. – So viel zur Vorgeschichte. auch in Europa stellen. Sie ist ja auch gestellt worden. Da hatten wir als Deutsche nicht so viel Erfolg. Ich Jetzt möchte ich gerne etwas zum Verlauf der De- will dem ursprünglichen Ansinnen des Herrn Kollegen batte sagen. Wir sind angetreten, um zunächst einmal Teufel ausdrücklich zustimmen, abschließend einmal eine Verfassungsdebatte zu führen. Nun kann man sa- so etwas wie einen Kompetenzkatalog zu bekommen; gen, dass die Verfassung gar nicht so schlecht ist – das dann weiß man, was wo ist. Dann weiß man auch: Die war ja eine These – oder aber dass wir die Verfassung Bundesregierung muss den Kompetenzkatalog, den nicht ändern können, weil es dafür keine Zweidrittel- Deutschland in Brüssel hat, auch innerstaatlich haben, mehrheit gibt, und dass man deshalb über Optimierun- damit sie das vertreten kann. Das muss dann im Rah- gen in der Staatspraxis redet. Das ist in Ordnung. Das men des Föderalismus kompensiert werden, indem den ist nur etwas anderes als der ursprüngliche Sinn dieser Ländern in Bezug auf bestimmte Dinge ein Alleinent- Debatte. Wir wollten über die Verfassung reden. Wir scheidungsrecht eingeräumt wird. Das war, glaube ich, wollten dies unter der Überschrift Entflechtung tun. der ursprüngliche Ansatz. Mir fällt auf, dass wir gegenwärtig das genaue Gegen- teil tun. Wir sind dabei, lauter neue Verflechtungsgre- Jetzt will ich noch auf einige Schwachpunkte in der mien zu schaffen. Argumentation der Länder hinweisen. Man kann nicht sagen – das ist auch damals ein Problem gewesen; das Man müsste übrigens einmal untersuchen, wie es muss ich zumindest nachträglich einräumen –, dass sich gegenwärtig darstellt. Nach dem, was ich hier er- (B) man mitentscheiden bzw. in einzelnen Punkten allein (D) kennen kann, gibt es keinen Mangel an Informationen, entscheiden will, sich gleichzeitig aber weigern, über- die die Bundesregierung etwa gegenüber dem Bundes- haupt einen Beitrag zur Finanzierung derselben Veran- tag oder dem Bundesrat zur Verfügung stellt. staltung zu leisten. Die Länder haben es strikt abge- (Widerspruch) lehnt, sich an der Finanzierung der Europäischen Union zu beteiligen, indem sie unter Hinweis auf das – Nein, überhaupt nicht. Wir schicken wöchentlich Argument der Außenvertretung gesagt haben, dies sei umfangreiche Informationen hinüber. Jede Sitzung des ausschließlich Sache des Bundes. Europaausschusses wird wahrgenommen. Dass es in- soweit einen Mangel gibt, ist nicht wahr. Das kann man aber nicht zurückholen, indem man, wie es eben geschehen ist, jetzt sagt, das sei aber nicht Die Frage ist doch, ob denn überhaupt eine Chance nur Außenvertretung. Mit Außenvertretung ist im Üb- besteht – ich will es einmal freundlich formulieren –, rigen nicht nur Außenpolitik gemeint; das ist falsch. die Fülle an Rechtsetzungsakten aus Europa zu beglei- Denn in Brüssel wird der Bund in Fachräten vertreten ten, ob wir da überhaupt auf dem richtigen Dampfer und das betrifft nicht nur die Außenpolitiker. sind. Das glaube ich nämlich nicht. Wir kommen gleich darauf zurück, wenn wir da- Wenn wir einerseits über Entflechtung und anderer- rüber reden, was passiert bzw. wer dafür haftet, wenn seits über Europatauglichkeit reden, dann müssen wir, das Europarecht nicht umgesetzt wird. Auch da sagen glaube ich, auch einmal grundsätzlich darüber reden, die Länder zurzeit, dass das mit Blick auf die Außen- wie sich – das ist in der bisherigen Diskussion fast aus- vertretung der Bund zu bezahlen hat, und zwar selbst geblendet worden; es kam nur einmal vor – Europa ei- dann, wenn innerstaatlich die Länder zuständig sind. gentlich entwickelt. Vorhin ist von dem Misstrauen ge- Ich meine, dass die Argumentation konsistent sein genüber der Bundesregierung im Rat die Rede muss – was sie an dieser Stelle aber nicht ist. gewesen. Ich kann dazu nur sagen: Das ist spiegelbild- lich ein Abwatschen der Landesregierungen im Bun- Ich fände es fruchtbarer, wenn wir die Diskussion so desrat. Nichts anderes passiert hier. Wir marschieren in führten – ich glaube, alles andere wird auch nicht mehr Eu-ropa auf eine Linie zu, in der Rechtsetzung nur realistisch sein, wenn man ernsthaft deutsche Interes- noch gemeinsam stattfinden kann. Das ist die doppelte sen vertreten will –, dass sich Europa mehr und mehr Mehrheit, und zwar auch am Schluss: Die doppelte – das werden andere nicht gerne hören; aber es ist die Mehrheit gilt einmal im Rat, aber auch in Bezug auf Wirklichkeit – zu einer Art Bundesstaat entwickelt. Rat und Parlament. Es wird keine Rechtsetzungsakte Die demokratische Legitimation schafft das Europäi- des Rates mehr geben, sondern es wird nur noch sche Parlament. Die Interessen der Nationalstaaten

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Bundesminister Hans Eichel (BMF) (A) nimmt der Rat wahr. Das ist ziemlich genau das Spie- ben, so dürfte der Bundestag dem EU-Verfassungsver- (C) gelbild dessen, was wir in der deutschen Verfassung in trag niemals zustimmen; denn das käme seiner Auflö- Bezug auf das Verhältnis von Bundestag und Bundes- sung bzw. seiner Abdankung gleich. Das kann nicht rat geregelt haben. Deswegen kann man nicht gegen sein. die Vertretung durch die Bundesregierung in Brüssel argumentieren, wenn man gleichzeitig den Bundesrat Die Europäische Union hat eine andere rechtliche, in seiner jetzigen Form in Deutschland für richtig hält. aber auch eine andere politische Konstruktion als die Auf diesen Widerspruch muss ich ganz ausdrücklich Bundesrepublik Deutschland. Deswegen halte ich es hinweisen. für sehr gefährlich, wenn man im Zusammenhang mit der Diskussion über Art. 23 auf die Rolle der Landtage Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der von in der Bundesgesetzgebung hinweist. Diese ist nämlich Herrn Hoffmann angesprochenen Praxis machen. Es gleich null, weil wir nur ein Regierungsparlament in ist nicht wahr, dass wir durch eine bessere Koordina- Form des Bundesrates haben; so ist es 1949 entschie- tion im Vorfeld gemeinsam stärker auftreten. Die Inte- den worden. Folglich würde eine spiegelbildliche ressenunterschiede verschwinden nämlich nicht. Wir Übertragung der Rolle der Landtage in der Bundesge- haben eine intensive Koordination in Bezug auf die setzgebung auf Europa bedeuten, dass das deutsche Frage, wie wir uns in Zukunft zur europäischen Struk- Parlament auf die europäische Gesetzgebung und die turpolitik aufstellen. Diese intensive Koordinierung politische Willensbildung keinen formalen Einfluss zwischen den Ländern und dem Bund hat die Interes- mehr hätte. Das ist absolut unmöglich. Damit würde senunterschiede nicht beseitigt. So vertreten die praktisch ein neuer Staat Europäische Union mit einem 16 Länder in einer Anhörung in Brüssel ganz überwie- Europäischen Parlament anstelle der nationalen Parla- gend eine andere Auffassung als der Bund, indem sie mente geschaffen. sich expressis verbis dafür aussprechen, den Beitrag auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu be- Darauf wollte ich nur hingewiesen haben. Mögli- grenzen. Deswegen glaube ich nicht daran, dass alleine cherweise haben Sie es gar nicht so gemeint. durch Koordinierung irgendwelche Unterschiede be- (Bundesminister Hans Eichel [BMF]: Doch!) seitigt werden können. Vielmehr ist die Wahrheit sehr viel einfacher – da- – Wenn Sie es so gemeint haben, lösen Sie meines Er- rauf ist zu Recht hingewiesen worden –: Art. 23 des achtens eine Lawine aus, die in den einzelnen Berei- Grundgesetzes ist nicht sonderlich wichtig, weil er chen zu enormen Schwierigkeiten führen kann, was praktisch nicht sonderlich relevant wird. Denn die In- ich bedaure; der Kollege Friedrich weiß, was ich damit meine. Damit lösen Sie im Prinzip Reflexe innerhalb (B) teressen der Länder untereinander sind viel zu unter- (D) schiedlich und die Beanspruchung durch Brüssel ist des Bundestages aus mit der Folge, dass dem Verfas- viel zu groß, als dass das geleistet werden kann. Das sungsvertrag nicht zugestimmt wird. Das würde ich wird nur an einigen wenigen zentralen Konfliktfeldern insgesamt bedauern. sichtbar. In den zentralen Konfliktfeldern schaffen wir die unterschiedlichen Positionen auch nicht durch eine Vorsitzender Franz Müntefering: bessere Koordination aus der Welt. Daher muss ent- Jetzt hat Herr Eichel noch einmal das Wort. schieden werden, ob nun die Bundesregierung Deutschland in Brüssel vertritt oder ob das die Ge- samtheit der Länder bzw. die Mehrheit der Länder Bundesminister Hans Eichel (BMF): – oder wer auch immer – macht. Zunächst einmal, Herr Kollege Stoiber, müssen wir uns schon klar machen – das war der Sinn meines Bei- Dazu habe ich eine sehr klare Position. Ich betone trages –, wohin die Richtung in Europa geht. Wir sind nochmals: Ich bin nicht gegen den Föderalismus, aber noch längst nicht an diesem Punkt; so weit stimme ich ich meine, dass sich die Stärkung der Länder nicht in Ihnen zu. der Mitwirkung gegenüber Brüssel ausdrücken kann; denn das ist kontraproduktiv. Vielmehr muss sich die (Ministerin Elisabeth Heister-Neumann Stärkung der Länder in mehr eigenen Rechten in der [Niedersachsen]: Aber kurz davor!) deutschen Verfassung, wo der Bund nicht mitwirkt, ausdrücken. Das wäre aus meiner Sicht ein produktiver Es gibt übrigens zwei ganz unterschiedliche Denk- Ausweg. schulen in Europa. Die britische Position sieht so et- was wie einen Staatenbund vor. Möglicherweise wird diese Position – aus vielerlei Gründen – auch von einer Vorsitzender Franz Müntefering: Reihe der neu beigetretenen Länder vertreten. Herr Stoiber. Die Tradition der Gründungsmitglieder der Europäi- schen Union ist eine völlig andere, nämlich eine strikt Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): integrationistische. Das zeigt sich daran – das hat na- Ich möchte nur eine kurze Intervention machen, die türlich erhebliche Konsequenzen –, dass wir zum Bei- eigentlich im Interesse des Bundestages liegt. Herr spiel zusammen mit Frankreich und mit den alten Eichel, wenn Sie dem Bundestag bei europäischen Gründungsmitgliedern in der Steuerpolitik weg von Entscheidungen die Rolle zumessen wollen, die die dem Erfordernis der Einstimmigkeit hin zu einer quali- Landtage bei bundesgesetzlichen Entscheidungen ha- fizierten Mehrheit kommen wollen.

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Bundesminister Hans Eichel (BMF) (A) Sie haben völlig Recht, Herr Kollege Stoiber, es ist tet werden, dann werden sie natürlich in den entspre- (C) nicht der heutige Zustand. Aber wer das zu Ende denkt chenden Fachgremien und Fachausschüssen beraten. und sich die beiden unterschiedlichen Positionen in Oftmals werden sie sogar schon beraten, bevor sie offi- Europa vergegenwärtigt, der kommt in der Tat – davon ziell auf der Tagesordnung stehen. So etwas wird nicht bin ich fest überzeugt – zu diesen beiden Modellen. nur unter den Ländern, sondern durchaus auch in Ab- Ich bekenne mich freimütig zu dem Modell einer bun- stimmung mit den Bundesministerien vorab geklärt desstaatlichen Ordnung – man muss das nicht so nen- und beraten. Mir sind eigentlich keine echten Kritik- nen – in Europa als Ziel einer Verfassungsentwick- punkte oder Klagen bekannt, dass etwas nicht rechtzei- lung. Alles andere halte ich, auch was die Situation tig auf die Tagesordnung des Bundesrates gesetzt wor- Europas in der Welt angeht, nicht für vernünftig. Das den sei und deswegen gescheitert sei. muss man dann schon miteinander ausdiskutieren; da haben Sie Recht. Ich halte es auch nicht für ein Manko, sondern ei- gentlich für einen Vorzug der deutschen Gesetzgebung, Was den Bundestag angeht, so geben wir – ich wie- dass Praxiserfahrungen im Gesetzesvollzug dadurch derhole das – jede Information weiter. Ich kann mich ein eigenständiges politisches Gewicht erhalten, dass nicht an irgendeine Beschwerde erinnern. Wir werden sie über die Landesregierungen sehr fachspezifisch und können uns nicht die Hände binden lassen. Herr eingebracht werden können. Kollege Stoiber, wir kommen doch nicht mit Verhand- lungsergebnissen zurück – deshalb bemühen wir uns Der zweite Vorwurf war, dass die maßgebliche Be- höchst intensiv –, die im Bundestag und, sofern es der rücksichtigung von Länderpositionen die Verhand- Zustimmung des Bundesrates bedarf, im Bundesrat lungsposition des Bundes in der Europäischen Union nicht die erforderlichen Mehrheiten – und sei es eine schwächen würde. Hierzu hat Herr Röttgen Zahlen ge- Zweidrittelmehrheit – finden. Das machen wir sehr nannt. Es kam in der Vergangenheit zu einem einzigen sorgfältig. Ich glaube, das kann nicht ernsthaft bestrit- Konfliktfall in der Sache. Es waren überhaupt nur ten werden. 4 Prozent aller Fälle, die sich auf eine maßgebliche Be- rücksichtigung bezogen haben. Sonst gab es auch von der Bundesregierung keine Abweichung in der Sache Vorsitzender Franz Müntefering: zu einem Votum des Bundesrates. Wie daraus abgelei- Jetzt sind wir wieder in der Spur. Zunächst Herr tet werden kann, dass sich das Verfahren nicht bewährt Schön und dann Herr Geiger. habe, entzieht sich schlichtweg meiner Logik. Der dritte Vorwurf bestand darin, die Länder seien Ministerialdirektor Dr. Walter Schön (Bayern): nicht gut aufgestellt, weil sie nur sehr punktuell in die Ich möchte an den Beitrag von Herrn Professor (D) (B) Verhandlungsführung auf der Ebene der Europäischen Scholz anknüpfen, der auf Österreich und darauf ver- Union eingeschaltet seien. Auch dieses zunächst viel- wiesen hat, dass man bei genauerem Hinsehen das eine leicht einleuchtend klingende Argument ist bei näherer oder andere zur Präzisierung der deutschen Verfas- Betrachtung nicht nachvollziehbar. Es ist nämlich so, sungslage heranziehen kann. Die Position der Länder dass in den Räten, in denen die Länder vertreten sind, zeigt auch an dieser Stelle in die gleiche Richtung. Es also Bildung, Kultur, audiovisuelle Medien, Forschung geht nämlich um die Frage, mit welcher Bindung die oder auch Inneres, mehrjährige Vertretungen der Län- Bundesregierung Voten und Meinungen der Länder im der durch einen Landesminister oder durch einen Lan- europäischen Prozess aufgreift. Ich denke, das ist in desvertreter gegeben waren. der Tat etwas, worauf wir auf der Länderseite gerne eingehen und was wir dann noch vertiefen. Es gab in der Vergangenheit allerdings eine Reihe von Streitfällen zu der Frage, wer die Verhandlungs- Einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt hat Herr führung hat. Aber auch diese Streitfälle haben nicht Röttgen sehr deutlich angesprochen. Auch wir sehen dazu geführt, dass in der Sache nicht die Position der Defizite im innenpolitischen Diskussionsprozess, was Länder – im Zweifel auch von der Bundesregierung – europäische Projekte und gesetzliche und untergesetz- vertreten worden wäre. Dass die Länder diese Fälle liche Vorhaben in Europa angeht. Das Petitum der Län- nicht bei Gericht anhängig gemacht haben und nicht der geht dahin, dass wir uns Gedanken darüber ma- nach Karlsruhe gegangen sind, ist, glaube ich, kein Ar- chen, wie wir das – auch durch untergesetzliche gument gegen das Verfahren. Es sagt vielleicht eher et- Regelungen – intensivieren können, um auf diese was darüber aus, mit welchem Verständnis die Bundes- Weise den Überraschungseffekt, den schon so manches regierung auf der europäischen Ebene die Interessen europäische Vorhaben hervorgerufen hat, ein wenig zu der Bundesrepublik Deutschland vertritt – außenpoli- minimieren. tisch oder innenpolitisch. Wir glauben, dass das inzwi- Im Weiteren möchte ich einige Anmerkungen zu der schen europäische Innenpolitik ist und dass deswegen Stellungnahme der Bundesregierung zur Bewährung auch eine Vertretung durch die Länder sehr wohl mög- des Art. 23 des Grundgesetzes machen. lich und auch angemessen ist. Zunächst einmal hat die Bundesregierung – das ha- Am allermeisten hat uns der in der Stellungnahme ben aber auch einige Sachverständige getan – auf Defi- der Bundesregierung erhobene Vorwurf überrascht, zite hingewiesen. Es wurde auch bemängelt, dass das dass die Praxis durchaus tolerabel sei, dass dies aber Mitwirkungsverfahren nach Art. 23 zu aufwendig sei. – nur der guten Kooperation der Länder zu verdanken sei Wenn dem Bundesrat Vorlagen über Projekte zugelei- und das Regelwerk trotzdem schlecht sei. Mit Verlaub

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Ministerialdirektor Dr. Walter Schön (Bayern) (A) gesagt, dieses Argument halte ich am allerwenigsten nicht so stark ist – Stimmenthaltung „german vote“ (C) für begründet. heißt. Das ist die Erfahrung in Brüssel. Nur eine Bemerkung am Rande: Bayerische Vertre- Eine weitere Erfahrung, die ich in Brüssel gemacht tungen, sowohl in Bonn und Berlin als auch in Brüssel, habe, ist folgende – das ist so; es ist heute schon ange- dienen dazu, unsere Interessen wahrzunehmen und zu sprochen worden –: Wenn ich mit einem Kommissar in artikulieren, in diesem Fall auch als Teil des Bundesor- Brüssel spreche, dann fragt mich dieser manchmal zy- gans Bundesrat. nisch: Wissen Sie, dass in Deutschland zum Teil eine völlig andere Meinung vertreten wird? – Ich antworte dann, dass ich das zwar ahne, aber dass ich jetzt hier Vorsitzender Franz Müntefering: sitze. Vielen Dank, Herr Schön. – Dann Herr Geiger und Wir erwecken den Eindruck, dass wir nicht mit ei- anschließend Herr Huber. ner Stimme sprechen. Deswegen, meine ich, müssen wir Einigkeit hinsichtlich der Frage erzielen, was wir eigentlich erreichen wollen. Wir wollen als Bundes- Staatssekretär Prof. Dr. Hansjörg Geiger (BMJ): staat unsere Interessen in Brüssel vertreten. Was müs- Wenn ich einmal Revue passieren lasse, was wir sen wir da machen? Wir müssen zwei Dinge tun: Wir bisher gehört haben, so möchte ich einmal folgende müssen erstens effizient auftreten und in Brüssel mit provokante These wagen: Art. 23 läuft leer. Er sieht einer Stimme sprechen. Wir müssen zweitens – daran schön aus; er gibt den Ländern viele Rechte. Sie haben gibt es überhaupt keinen Zweifel – das Know-how, das diese Vorschrift nach Maastricht bekommen; es war partiell viel mehr in den Ländern liegt – dies liegt in eine Gegenleistung. Aber die Zahlen zu den Möglich- der Natur der Sache –, stärker einbinden. keiten der Beteiligung und zur faktischen Beteiligung, vor allem der wirksamen deutlichen Einflussnahme, Die Frage ist, wie wir Art. 23 umgestalten, damit machen ein Missverhältnis deutlich. Das heißt – ich beides erreicht wird, nämlich dass wir auf der einen sage einmal bewusst provozierend –, wir schauen hier Seite effizient und sehr schnell in Brüssel auftreten auf eine Monstranz, die in der Praxis nur partiell be- können und auf der anderen Seite das Wissen der Län- achtet wird. der verstärkt einbinden. Das ist die Frage – es gab ver- schiedene Ansätze, die mich noch nicht so überzeugt In einem Teil der Redebeiträge – in den Gutachten haben –, über die wir nachdenken müssen. wird das Gleiche ausgeführt – ist gesagt worden, dass Art. 23 nicht störe, dass es doch eigentlich ganz gut Wie wichtig das ist, will ich – exempla trahunt – an (B) funktioniere. Wenn dem so wäre, könnte man natürlich einem praktischen Beispiel aus der allerjüngsten Zeit (D) mit Art. 23 weiterleben. Aber ich glaube, es haben sich deutlich machen. Wir haben in Zivilprozessen in mehrere Dinge verändert: Die europäische Verfassung, Deutschland ein unglaublich praktisches Verfahren, aufgrund derer den Ländern partiell eine andere Be- das billig und schnell ist. 6 bis 7 Millionen Zivilpro- deutung zukommt, spielt natürlich eine Rolle. Aber es zesse werden durch das nahezu automatisierte Mahn- wird – wie mehrfach gesagt worden ist – aufgrund der verfahren erledigt. Das geht blitzartig. Da gibt es einen europäischen Verfassung zunehmend zu Mehrheitsent- Mahnbescheid und dann einen Vollstreckungsbe- scheidungen kommen. scheid. Wir haben Rechtsfrieden und die Sache ist erle- digt. Die europäische Verfassung wird aber ein Weiteres mit sich bringen, was heute nicht angesprochen wor- Die Europäische Kommission meinte nun im letzten den ist: Die Europäische Kommission wird zunehmend Jahr, wir müssten so etwas auf europäischer Ebene ha- zu einer europäischen Regierung. Wir werden mit ben. Sie hat deswegen ein Grünbuch herausgegeben. Wegnahme der Säulenarchitektur auch keine dritte Mich hat das als Bundespolitiker mit Landeserfahrung Säule mehr haben, durch die die nationalen Regierun- aus zwei Gründen alarmiert. Die Kommission hat ge- gen bislang die Möglichkeit hatten, Vorschläge zu ma- sagt, sie wolle das Mahnverfahren auf ganz Europa er- chen. So etwas geschieht dann nur noch über die Kom- strecken, und zwar auch auf die innerstaatlichen Ver- mission. Das heißt, die Kommission ist der treibende fahren. Wenn sie das europaweit einführen würde, Motor und wir hängen an einem der Räder. Es wird dann gäbe es bei transnationalen Übergängen vielleicht also von Brüssel noch viel mehr kommen. Wir werden eine parallele zweite Verfahrensordnung. Dann hat noch viel mehr Schwierigkeiten haben – wenn wir man aufgrund einer Anregung aus Frankreich gesagt noch Einfluss nehmen wollen in Brüssel –, diesen Ein- – da gibt es ein Amtsverfahren –, dass den Beklagten fluss auch tatsächlich geltend zu machen. Das ist das rechtliches Gehör gewährt werden müsse. Es könne Entscheidende. Wir müssen, wenn wir uns als ein Rad nicht nur die Schlüssigkeit geprüft werden; die Gewäh- betrachten, darauf achten, dass wir nicht über weitere rung rechtlichen Gehörs gehöre zu einem normalen Transmissionsriemen die Kraft so verteilen, dass für Prozess. Mir war sofort klar: Wenn das kommt, dann Deutschland gar nichts mehr erreicht wird. können wir unser Mahnverfahren vergessen und un- sere Justiz ist völlig überlastet; dann geht nichts mehr. Es ist ganz interessant, dass heute schon in Brüssel Ich war also alarmiert. bei 15 Mitgliedern – dabei gibt es einen stärkeren Ein- fluss, weil viele Entscheidungen noch einstimmig ge- Als ich den Entwurf des Grünbuchs bekommen troffen werden müssen und weil die Kommission noch habe, habe ich im Bundesjustizministerium gesagt:

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Staatssekretär Prof. Dr. Hansjörg Geiger (BMJ) (A) Wir müssen sofort und als Allererste in Brüssel unsere – so wird es auch in Bezug auf den Verfassungsent- (C) Stellungnahme abgeben, damit die anderen europäi- wurf gesehen – nicht ausschließlich darin, dass das Eu- schen Mitgliedstaaten gleich eine deutliche Vorgabe ropäische Parlament nicht die Rolle hat, die der Bun- haben. Wir können sagen, wir haben die Erfahrung destag bei uns einnimmt, sondern vor allem darin, dass dazu und so muss es sein. die Kontrolle des Rates durch die nationalen Parla- Ich habe das dann auch im Kreis meiner Kollegen mente nicht ausreicht. Das ist die Ratio, weshalb das aus den Ländern diskutiert und gesagt, was mein Ziel Subsidiaritätsprotokoll – das ist weniger, als von deut- ist. Dann sagten mir verschiedene Kollegen, dass es scher Seite gewünscht war, aber immerhin – eine prä- aber gut sei, wenn auch ihre Meinung berücksichtigt ventive Kontrolle der europäischen Gesetzgebung werden könnte. Ich habe sie gebeten, mir ihre Meinung durch die nationalen Parlamente vorsieht. schriftlich übermitteln; wir würden eine Stellung- Herr Minister Eichel, Sie sagen, das sei nicht mach- nahme abgeben. Was war die Folge? Ich habe ständig bar. Es gibt Erfahrungen in anderen Mitgliedstaaten, gedrängt, mir die Meinungen zuzuleiten, damit ich die durch die das Gegenteil belegt wird. Ich habe mir ein- deutsche Stellungnahme auf den Weg bringen könnte. mal das britische Beispiel angeschaut, um zu sehen, Das zog sich hin. Ich will niemanden schlecht machen, wie die Select Committees on European Affairs im sondern nur auf die Praxis hinweisen. House of Lords und im Unterhaus arbeiten. Sie sind Einige Kollegen habe ich angerufen. Sie haben mir sehr wohl in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu gesagt, sie hätten in Brüssel angerufen und dort habe trennen und eine sehr detaillierte Gesetzgebungsarbeit man ihnen gesagt, die Frist, die die Kommission ge- zu machen. setzt habe, müsse man nicht so ernst nehmen; der deut- sche Beitrag werde auch nach Ablauf der Frist noch Auch das Beispiel Dänemark zeigt – der Agraraus- gelesen. Ich habe dann mit viel Mühe erreicht, dass die schuss des Folketing ist gezwungen, parallel zu der deutsche Stellungnahme, die nicht komplett, aber zu- Ratssitzung eine eigene Sitzung zu machen –, dass mindest intern abgestimmt war, in Brüssel wenigstens dann, wenn der Wille und die politische Entschlossen- noch vor Fristablauf eingetroffen ist. heit, die Kontrolle der Öffentlichkeit und die Sensibili- tät für die Wichtigkeit der Entscheidungen gegeben Ich will an diesem Beispiel deutlich machen – es sind, auch eine nationale parlamentarische Kontrolle wird oft gesagt, man sei nicht betroffen –, dass möglich ist. Deutschland in Brüssel erfolgreicher und schneller ar- beiten muss und dass wir uns überlegen müssen, wie Für die beiden Europaausschüsse – des Bundestages wir gleichwohl das Know-how der Länder einbringen und des Bundesrates – ist das natürlich eine physische (B) (D) können. und arbeitsmäßige Herausforderung. Aber andere Län- Wir müssen versuchen, herauszufinden, welche der zeigen, dass sie zu bewältigen ist. Sichergestellt Conclusio wir daraus ziehen müssen. Es ist nicht das werden müsste nur, das die Sechswochenfrist, die das Problem, wie es heute gesagt worden ist, dass die Län- Subsidiaritätsprotokoll vorsieht, nicht ausgeschöpft der, der Bundesrat oder der Bundestag nicht informiert wird, damit im innerstaatlichen Bereich eine hinrei- sind. Wir haben ein Gesetz für die Zusammenarbeit chend effektive Willensbildung möglich ist. Das heißt, mit dem Bundesrat und Bundestag. Es fließen ständig man müsste im Zweifel eine Zweiwochenfrist oder Informationen. Die Informationen werden aber so Ähnliches vorsehen. Aber ich denke, das ist zu ma- zahlreich werden, dass sie den Apparat verstopfen. Da- chen. her brauchen wir eine andere Lösung. Straflos sollte die Bundesregierung die maßgeblich Danke schön. oder verbindlich zu berücksichtigenden und nur aus den von Herrn Scholz genannten Gründen zu ignorie- Vorsitzender Franz Müntefering: renden Positionen des Bundestages und des Bundesra- Vielen Dank. – Herr Huber, dann Herr Grimm. tes allerdings nicht ignorieren dürfen. Insofern meine ich, dass das Klagerecht zum EuGH und, was die in- Sachverständiger Prof. Dr. Peter Huber: nerstaatliche Seite angeht, ein mögliches Klagerecht zum Bundesverfassungsgericht zwar nicht der Regel- Wenn ich es richtig sehe, scheint ein Kompromiss denkbar zu sein, der dahin geht, die innerstaatlichen fall sein werden, aber die Bremse, die Drohkulisse im Mitwirkungsrechte sowohl des Bundesrates als auch Hintergrund, die man immer braucht, wenn man seine des Bundestages zu stärken und im Gegenzug dazu die Interessen effektiv durchsetzen will. Außenvertretung Deutschlands durch die Bundesregie- Ich denke, wenn man die Vorteile dieses Pakets er- rung zum Regelfall bzw. zum alleinigen Fall zu ma- kennen würde, nämlich einerseits die Mitwirkungs- chen. Ich denke, dass insbesondere der erste Aspekt, rechte des Parlaments im Interesse der Demokratie, im die stärkere innerstaatliche Bindung der Bundesregie- Interesse der Partizipation der Menschen an Europa rung an das Votum beider Kammern des Parlaments, und auch im Interesse einer effektiveren Berichterstat- wenn ich es so sagen darf, auch der Logik der europäi- tung über europäische Gesetzgebung innerstaatlich zu schen Verfassung entspricht. erweitern und andererseits dem Bund, was die Paketlö- Wie Herr Ministerpräsident Stoiber gesagt hat, be- sungen angeht, mehr Handlungsspielraum zu geben, steht das Demokratiedefizit der Europäischen Union wäre ein großer Schritt nach vorne getan.

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(A) Vorsitzender Franz Müntefering: (Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (C) Vielen Dank, Herr Huber. Zu der Frage der zukünf- [Bayern]: Darf ich kurz etwas zu Herrn tigen Praxis im Deutschen Bundestag vor dem Hinter- Grimm sagen?) grund der Verfassung wird Frau Schwall-Düren gleich – Ja, bitte schön. noch etwas sagen. Dieser Punkt hat uns erreicht; das ist klar. Es wird erhebliche Konsequenzen für unsere Ar- beit geben müssen, um die Frist einhalten und zu einer Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bay- geordneten Formation kommen zu können. Wir sind ern): uns dessen bewusst. Entschuldigen Sie; ich will mich nur sehr kurz ein- mischen. – Herr Grimm, die Ministerpräsidenten ha- Jetzt hat Herr Grimm das Wort, abschließend Herr ben festgestellt – ich will auch auf die Schwierigkeiten Gerhards und Frau Schwall-Düren. hinweisen, da zusammenzukommen –, dass Art. 23 in den letzten vier Jahrzehnten im Grunde genommen der Sachverständiger Prof. Dr. Dieter Grimm: einzige Artikel gewesen ist, der die Position der Län- Ich wollte noch einmal daran erinnern, dass in der der gegenüber dem Bund – wenn ich das einmal so sa- Debatte nicht selten gesagt worden ist, Art. 23 in sei- gen darf – verbessert hat, während es seit 1959 im Üb- ner jetzigen Fassung gleiche mehr einer Geschäftsord- rigen immer eine Einbahnstraße gewesen ist, indem nung als einer Verfassungsnorm. Er ist ein Monstrum. mehr Kompetenzen zugunsten des Bundes und zulas- Er ist nur aus seinen Entstehungsbedingungen heraus ten der Länder geschaffen worden sind. Das ist die ein- erklärbar, an die Herr Scholz uns noch einmal erinnert heitliche Meinung der Ministerpräsidenten. Das dürfen hat. Dennoch hat niemand daraus Konsequenzen gezo- Sie bei Ihrer Argumentation nicht vergessen. gen. Vielmehr sind Vorschläge gemacht worden, die Das Problem liegt einfach darin, dass die europäi- Art. 23 noch weiter verlängern würden. Das heißt sche Entwicklung, eine quasistaatliche Entwicklung, nicht, dass diese Vorschläge nicht in vielen Punkten fundamentale Auswirkungen auf einen föderalen Staat meine Sympathie haben. Den Vorschlägen von Herrn hat und dass sich die nationale Kompetenzverteilung Schneider und Herrn Scholz könnte ich vom Inhalt her durch die Entwicklung in Europa letzten Endes funda- durchaus zustimmen. Aber muss das alles in der Ver- mental verschieben kann. Art. 23 wird in seiner Sub- fassung stehen oder gäbe es nicht eine Möglichkeit, die stanz mit Sicherheit nicht verändert werden können. Verfassung wieder verfassungsgemäß zu formulieren?

Solche Möglichkeiten existieren ja, nämlich dann, Vorsitzender Franz Müntefering: wenn man sich in der Verfassung auf das Grundsätzli- (B) Herr Gerhards und dann Frau Schwall-Düren. (D) che beschränkt. Das hat auch den Vorteil, dass wir uns auf die Grundsätze wahrscheinlich leichter einigen könnten, denn sie sind einfach: Auf der innerstaatli- Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfa- chen Ebene muss es ein Maximum an Beteiligung so- len): wohl für die Länder als auch für den Bundestag geben. Ich will versuchen, mich nicht zu wiederholen; aber Auf der europäischen Ebene muss es ein Maximum an ganz wird es sich nicht vermeiden lassen. Durchsetzungsfähigkeit für die Bundesrepublik und Herr Röttgen hat einen Punkt angesprochen, bei deswegen ein Alleinvertretungsrecht der Bundesregie- dem ich anderer Ansicht bin als er. Dieser Punkt ist rung geben. Dann müssen wir – das ist etwas zu kurz aber sehr grundlegend für das, was wir diskutieren. gekommen – wieder auf die innerstaatliche Ebene zu- Wenn es in der Europäischen Union ein Demokratiede- rückschalten und dort für ein Maximum an Rechen- fizit gibt, werden wir das nicht dadurch reparieren kön- schaftspflicht der Bundesregierung sorgen. nen, dass wir den Bundesrat oder den Bundestag mit Wenn wir das formulieren – nach dem Eindruck, weiter gehenden Kontrollrechten für die Bundesregie- den ich aus der Diskussion gewonnen habe, findet es rung ausstatten; vielmehr – dafür ist die europäische breite Zustimmung –, dann können wir die Frage, wie Verfassung wichtig – werden wir mehr Demokratie in das im Einzelnen funktioniert, auf den Gesetzgeber de- das Europäische Parlament oder über das Parlament in legieren, natürlich mit Zustimmung des Bundesrates. die europäischen Gremien bringen müssen. Das ist der Das Gesetz hätte den Vorteil, dass es erstens flexibler richtige Weg. Was wir an Defizit haben, werden wir und zweitens viel lernfähiger ist. Auf Erfahrungen, die anders nicht auffangen können. Ich will auch sagen, bei der sich wandelnden Situation in Brüssel – es ist warum das so ist. mehrfach darauf hingewiesen worden, dass sie sich Der entscheidende Unterschied zum Bundesrat be- wandelt – gemacht werden, könnte man so angemes- steht darin, dass der Bundesrat ein Bundesorgan ist, in sen reagieren. Ich denke, das wäre ein Ausweg, der uns dem die Länder – nicht die Länderparlamente – durch hier von Problemen entlasten würde, die wir auf einer ihre Regierungen an der Bundesgesetzgebung mitwir- anderen Ebene leichter und besser lösen können. ken. Das nimmt den Länderparlamenten nichts von ih- rer Gesetzgebungskompetenz für die Belange, für die Vorsitzender Franz Müntefering: die Länder zuständig sind; vielmehr ist es eine völlig Vielleicht ist es nicht nur der Ausweg, sondern so- daneben stehende Beteiligung der Länder über die gar der Hauptweg. Darauf kommen wir gleich noch Länderregierungen an der Gesetzgebung des Bundes, zurück. die ihren guten Sinn hat.

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Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfalen) (A) Das ist in dem Augenblick völlig anders, in dem der zwei völlig unterschiedliche Dinge sind, die auch eine (C) Bund an europäischer Rechtsetzung teilnimmt. Der unterschiedliche Intensität haben, ist Art. 23 so formu- Union sind nämlich im Laufe der Zeit immer mehr Ge- liert worden. setzgebungsmaterien übertragen worden, für die die Gesetzgebungskompetenz früher beim Nationalstaat Jetzt können Sie sagen, das sei eine Geschäftsord- – entweder beim Bundestag oder bei den Länderparla- nungsregelung, das sei ein Monstrum. Das ändert aber menten – lag. Das heißt, hier kompensieren wir einen nichts daran, dass niemandem eingefallen ist, wie man echten Kompetenzverlust der beiden Parlamente. Die diese komplizierten Vorgänge besser abbilden kann. Zuständigkeit für die Gesetzgebungsmaterie des Bun- Insofern will ich auch einmal die Väter des Grundge- des ist bei uns nun einmal herkömmlich zwischen Bun- setzes in Schutz nehmen. Sie waren nicht so dämlich, destag und Bundesrat aufgeteilt. wie es heute manchmal den Anschein hat. Wir disku- tieren heute wieder vieles von dem, was wir vor zwölf, Wir haben versucht, durch Art. 23 – deshalb ist er 13 Jahren schon diskutiert haben. Allerdings tun wir am Ende auch so kompliziert geworden – für die ent- das heute im Lichte der Erfahrung, die wir in der Zwi- gangenen Kompetenzen im Bereich der Gesetzgebung schenzeit gemacht haben. Es ist festzustellen, dass sich des Bundes wenigstens Mitwirkungs- und Mitgestal- die Europäische Union in manchen Bereichen anders tungsrechte zu bekommen. Das sind am Ende im We- entwickelt, als wir es damals prognostiziert haben. sentlichen aber nur Kontrollrechte des Bundestages und des Bundesrates. Am Ende aber – das ist sehr wichtig – ist Art. 23 durchaus das, was Herr Steenblock vermeiden wollte, Wenn Sie sich Art. 23 Abs. 3 einerseits sowie die nämlich Ausdruck des institutionalisierten Misstrau- Absätze 4, 5, 6 und 7 andererseits anschauen, dann ens, das wir haben. Ich will Ihnen auch sagen, warum werden Sie feststellen – das ist nichts Neues; das haben es, gerade auf Länderseite, ein solches Misstrauen wir schon gewusst, als Art. 23 formuliert worden ist –, gibt. Es gibt nämlich eine große Versuchung für die dass der Bundestag im Vergleich zu dem Bundesorgan Bundesregierung, nach dem Grundgesetz bestehende Bundesrat sehr viel schlechter abschneidet, dass er Länderkompetenzen dadurch auszuhöhlen, dass sie als sehr viel weniger Mitwirkungsrechte hat als – bei ver- Mitwirkende im Rahmen der europäischen Gesetzge- gleichbarer Beteiligung – der Bundesrat. Das ist letzt- bungskompetenz kalt lächelnd alles mitmacht, sich un- lich politisch akzeptabel gewesen, weil der Bundestag ter Umständen auch überstimmen lässt und Länder- in der Regel die erforderliche Mehrheit hat, um die kompetenzen usurpiert, die nach Brüssel wandern, Bundesregierung notfalls an den Haaren zu ziehen. ohne dass es einen Ausgleich gibt. Das gilt übrigens Das hat der Bundesrat eben nicht. Deshalb haben wir für den Bundestag ganz genauso. (B) die verloren gegangenen Beteiligungsrechte des Bun- (D) desrates an der Bundesgesetzgebung durch eine wei- Wer das verhindern will, der muss darauf bestehen, tergehende Bindung, die in den Absätzen 5 und 6 ihren dass die Kontrollrechte in Art. 23 Abs. 2 bis 7 erhalten Ausdruck findet, zu kompensieren versucht. Das heißt, bleiben. Wenn sie weg sind, dann gibt es nämlich über- es ist eine Kompensation für den Verlust eines echten haupt keine Kontrolle mehr – weder für den Bundesrat Mitgestaltungsrechts an Gesetzgebungen. Das ist der noch für den Bundestag –, durch die sichergestellt wer- entscheidende Unterschied zum Bundestag. den kann, dass die Bundesregierung in den europäi- schen Gremien nicht macht, was sie will, und dass sie (Dr. Dieter Wiefelspütz, MdB [SPD]: Also gegebenenfalls deren Kompetenzen nicht in unzulässi- zurück nach Bonn!) ger Weise ausdehnt. – Das habe ich nicht gesagt. Ich schildere zunächst ein- Das weiß inzwischen auch die Europäische Union, mal nur den Ausgangspunkt. was dadurch deutlich wird, dass sie im Gelbe-Karte- Verfahren oder im Klageverfahren europarechtlich ei- Im Gegensatz dazu haben wir in dem Bereich, in genständige Kontrollinstitute der Rückbindung schafft. dem es um echte Länderkompetenzen geht, einen Ver- Das nennen wir Subsidiaritätsprinzip. Das betrifft aber lust ohne Beteiligung des Bundestages; da sind Gesetz- in Wahrheit nur den sehr engen Bereich der Kontrolle gebungskompetenzen der Landtage unmittelbar auf darüber, dass sich die Europäische Union keine natio- Brüssel übergegangen. Die Einzigen, die das bei unse- nalen Kompetenzen aneignet und dass es nur Kompe- rer Konstruktion noch auffangen können, sind die Län- tenzen für die beiden Parlamente, wenn es denn zwei derregierungen über ihre Beteiligung im Bundesrat. sind, bzw. für ein Parlament gibt, wenn es ein Einkam- Anders geht es nicht; denn wir haben gesagt, dass es zu mersystem ist. Deshalb müssen wir an dieser Stelle einem absoluten Chaos führt, wenn die Landtage es darauf bestehen, dass das sauber abgesichert wird, dass selbst machen. Das will ich heute nicht vertiefen. Aber die Rückbindung des Subsidiaritätsprinzips im euro- wir wissen alle, glaube ich, warum das in Art. 23 so päischen Prozess wirklich abgebildet wird. Das muss konstruiert ist, warum die 16 Landtage für das ihnen man nicht in der Verfassung festlegen. Aber man muss entgangene Recht zur Gesetzgebungskompetenz nicht für eine Absicherung sorgen. selbst in den europäischen Prozess eintreten – das wäre noch viel schlechter zu koordinieren gewesen –, son- Umso deutlicher wird, glaube ich, warum den Län- dern der Weg über die Landesregierungen – sprich: dern damals die Regelungen des Art. 23 Abs. 2 bis 7 so Bundesratsbeteiligung, Bundesregierung an die Kan- wichtig gewesen sind oder warum es auch dem Bun- dare nehmen, was ihre Mitwirkung an europäischer destag so wichtig gewesen ist, überhaupt in dem gan- Gesetzgebung angeht – gewählt worden ist. Da das zen Prozess vorzukommen. Ich sage noch einmal: Wir

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Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfalen) (A) hätten anderenfalls keine Bremse dafür, dass die Bun- in nationalen Sprachräumen vollzieht oder ob wir (C) desregierung macht, was sie will, und Kompetenzen schon kosmopolitisch strukturierte Bevölkerungen ha- schleichend nach Brüssel überträgt; denn ohne eine ben. Es ist eine Grundsatzfrage, wo Demokratie statt- Rückbindung an nationale Parlamente könnte sie ma- findet. Ich glaube, es ist unverzichtbar, sie neben der chen, was sie will. europäischen Ebene weiterhin im Nationalstaat anzu- siedeln. Wenn stattdessen das Bundesstaatsmodell Da das so ist, muss es eigentlich ein gemeinsames gälte, dann hätte das für die Mitwirkung der Länder Interesse des Bundestages und des Bundesrates geben, und der Parlamente eine eindeutige Konsequenz: Dann die vorhandenen Rechte zumindest zu erhalten, weil wäre die Mitwirkung der Bundesregierung im Minis- nur durch sie sichergestellt werden kann – jetzt bin ich terrat genauso zu sehen wie die Mitwirkung der Lan- wieder bei Herrn Röttgen –, dass notfalls die Bremse desregierungen im Bundesrat. Dann gäbe es keine gezogen wird und dass die Bundesregierung im Vor- Rückkopplung an die Landtage und an den Bundestag. feld dieses Prozesses möglichst frühzeitig alle Betei- ligten einbindet und die Transparenz herstellt, die er- Wenn Sie das Bundesstaatsmodell für die Europäi- forderlich ist, um demokratische Prozesse auch sche Union präferieren, dann weisen Sie den Anspruch jenseits von Verfassungsregeln überhaupt einleiten zu der Parlamente zurück, an der Gesetzgebungstätigkeit können. der Regierung mitzuwirken. Bundestag und Bundesrat würden dann genauso wenig Anspruch darauf erheben Ich glaube, damit ist der Vorwurf aus der Welt, können, auf die Bundesregierung einzuwirken, wie ein Art. 23 laufe ins Leere. Im Gegenteil: Er erfüllt seine Landtag rechtlich Einfluss auf das Agieren der Landes- Funktion. Dass er sie gut erfüllt, ersehen wir daran, regierung im Bundesrat nimmt. Die Bundesregierung dass es bisher nur sehr wenige Konfliktfälle in der Eu- würde dann eigenständig im europäischen Bundesstaat ropakammer bzw. im Bundesrat und im Bundestag ge- wirken. Deshalb ist Ihr erster Vorschlag auch nicht mit geben hat. Wenn es anders wäre – wir haben damals, dem vereinbar, wofür Sie am Ende plädiert haben. Ich als wir Art. 23 formuliert haben, eine schlechte Pro- bleibe also dabei, dass ich Herrn Müntefering zu- gnose gehabt –, hätten wir viel mehr Konfliktfälle be- stimme. treffend Art. 23 Abs. 2 ff. Dass wir sie nicht haben, ist ein Beleg dafür, dass es funktioniert. Es war also gut, dass wir sicherheitshalber ein paar Rechte – Herr Vorsitzender Franz Müntefering: Hoffmann, Sie haben in diesem Zusammenhang von Frau Dr. Schwall-Düren, dann noch Herr der fleet in being gesprochen –, die wir normalerweise Professor Meyer. – Weitere Wortmeldungen nehmen nicht in Anspruch nehmen, eingebaut haben nach dem wir für den nächsten Tagesordnungspunkt an. (B) Motto: Wir freuen uns, wenn die Polizei nicht ein- (D) schreiten muss. Aber ohne sie würde das Chaos aus- Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (SPD): brechen. – Genau das ist die Funktion des Art. 23. Ich Es ist deutlich geworden, dass wir uns in einem glaube, sie wird relativ gut erfüllt. Dies macht klar, wa- – auch von Herrn Röttgen beschriebenen – Spannungs- rum man nicht versuchen sollte, ihn abzuschaffen. feld aus Handlungsfähigkeit und demokratischer Legi- timierung befinden. Ich will noch einmal kurz auf die Vorsitzender Franz Müntefering: Funktionsfähigkeit des Art. 23 eingehen. Herr Minis- Sie haben die Chance, zu antworten, Herr terpräsident Stoiber, Sie haben vorhin darauf hingewie- Dr. Röttgen. sen, dass Art. 23 der einzige Artikel sei, der zugunsten der Länder geschaffen worden sei. Gleichzeitig wird uns aber immer wieder gesagt, dass er praktisch keine Dr. Norbert Röttgen, MdB (CDU/CSU): Bedeutung habe. Das bezieht sich auf die bisherige Er- Ich möchte diese Chance ergreifen, weil es um die fahrung. Ich möchte jetzt dafür plädieren, dass wir uns Grundsatzfrage geht, wer für Demokratie in der euro- prospektiv orientieren. Ich glaube, es ist sehr wichtig, päischen Gesetzgebung eigentlich zuständig ist. dass wir uns die Veränderungen in der Verfassung vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität und Vorsitzender Franz Müntefering: der zunehmenden Zahl der Mitgliedsländer in der Eu- Wir. ropäischen Union anschauen und uns auch die Frage der Paketlösungen noch einmal vor Augen führen. Dr. Norbert Röttgen, MdB (CDU/CSU): Herr Schön, Sie haben vorhin deutlich gemacht, Genau, wir. Ich stimme Ihnen und nicht Herrn dass es Felder gibt, auf denen die Länder fachlich sehr Gerhards zu. Herr Gerhards, Sie sagen, das Europäi- gut aufgestellt sind. Aber Paketlösungen werden nicht sche Parlament sei für Demokratie in der europäischen nur innerhalb eines Feldes geschnürt, sondern sie ge- Gesetzgebung zuständig. Wenn das so wäre, dann hen auch über Fach- und Sachmaterien hinaus. So hat bräuchten wir einen europäischen Bundesstaat, aber es zum Beispiel im Mai 2002 im Rat ein Verhand- auch ein Europäisches Parlament, das – anders als jetzt lungspaket gegeben, das aus der Verlängerung der – das Recht auf Gesetzesinitiative hat. Das haben wir Kohlesubventionierung, Ausnahmen bei der Dieselbe- aber nicht und deshalb gibt es noch keinen europäi- steuerung in Frankreich und in den Niederlanden so- schen Bundesstaat. wie Fragen betreffend den Alpentransit – es können noch einige andere Dinge gewesen sein – bestand. Des Weiteren müssen wir die Frage beantworten, ob sich Demokratie realistischerweise nicht noch immer (Zuruf: Milchquote!)

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Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB (A) Dies zeigt, wie komplex die Verhandlungssituation in Ich bitte Sie, die folgenden Wochen für die Erarbei- (C) Brüssel ist. Deswegen bin ich den Sachverständigen tung konkreter Möglichkeiten zu nutzen und eine Eini- dankbar für ihre konkreten Vorschläge, wie die Mitwir- gung zu erzielen. kungsmöglichkeiten der Länder und auch des Bundes- tages optimiert werden können. Ich habe mich beson- Vorsitzender Franz Müntefering: ders gefreut, dass Herr Grimm das zum Schluss so Vielen Dank. – Herr Professor Meyer. pointiert dargestellt hat. Wir können eine Lösung finden, indem wir die Sachverständiger Prof. Dr. Hans Meyer: Grundsätze, die in Art. 23 stehen, knapp und einfach Herr Röttgen hat zu Beginn gesagt – ich finde das formulieren, und dann versuchen, durch einfachgesetz- richtig –, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen liche Regelungen die Transparenzverpflichtung des der Effizienz der Vertretung sowie der föderalen und Bundes, seine Rechenschaftspflicht und die Mitwir- der demokratischen Organisation unserer Willensbil- kungsmöglichkeiten klar zu definieren und zu struktu- dung gibt. Ich glaube, man muss sich darüber im Kla- rieren, damit die Möglichkeit besteht, zu einem frühen ren sein, dass dieses Spannungsverhältnis nicht aufzu- Zeitpunkt zu abgestimmten Standpunkten zu kommen. lösen ist und dass wir Prioritäten zu setzen haben. Im Dazu gehört möglicherweise, einen bestimmten Zeit- Sinne der Priorität, denke ich, müssen sowohl der punkt als Deadline zu setzen; denn der Bund wäre Bund als auch die Länder ein Interesse daran haben, sonst nicht in der Lage, Position zu beziehen. An die- dass wir unseren Einfluss in Brüssel möglichst gut gel- tend machen. Wenn das nicht geht, ohne dass wir ge- ser Stelle, denke ich, müssten auch die Länder ein Inte- wisse Abstriche bei den demokratischen und föderalen resse daran haben, das zu verstehen, was ich unter an- Elementen machen, dann müssen wir das tun. Um das derem den Worten von Herrn Hoffmann entnommen Bild von Herrn Böhmer aufzugreifen, der von einem habe, nämlich dass das die Brücken sein könnten, über Spiel gesprochen hat: Es kommt darauf an, dass wir in die wir gehen. Es sollten konkrete Vorschläge gemacht Brüssel Tore schießen, und nicht darauf, dass wir werden, wie die Mitwirkungsmöglichkeiten der Län- schön spielen. Wenn beides inkompatibel ist, dann der in den verschiedenen Phasen und Bereichen festge- muss man sich also auf das Toreschießen und darf man legt werden können. sich nicht auf das Schönspielen konzentrieren. Ich bin allerdings der Meinung, dass es in Bezug auf Nun bedeutet das nicht, dass man das zweite Ele- die Subsidiaritätsfragen – Frühwarnsystem und ent- ment des Spannungsverhältnisses, die föderale und die sprechende Rüge – sinnvoll wäre, wenn Bundestag demokratische Struktur, die wir zu beachten haben, (B) und Bundesrat zusammenarbeiteten, wobei ich darun- völlig vernachlässigen sollte. Ich denke, dass der Vor- (D) ter nicht einen gemeinsamen Ausschuss verstanden schlag von Herrn Scholz – das kann man auch etwas wissen will; denn diesbezüglich habe auch ich die al- anders sehen; das ist gar keine Frage – in die richtige lergrößten Bedenken. Wenn man sich aber vor Augen Richtung zeigt; denn die Effizienz der Vertretung führt, dass einer in Bezug auf Subsidiaritätsfragen er- hängt nicht von unserer Organisation, sondern von den teilten Rüge nur dann nachgegangen werden muss, Entscheidungsbedingungen ab, die in Brüssel geschaf- wenn sich ein Drittel der Parlamente dazu äußert, dann fen werden. Wie wird in Brüssel entschieden? Wie ist wird klar, dass man schon ein Pfund gewonnen hätte, das Verfahren? Wie lange dauert es? Es ist doch evi- wenn Bundesrat und Bundestag gemeinsam entspre- dent, dass – erstens – eine Kontinuität der Vertretung chend Position beziehen würden oder wenn zumindest notwendig ist, damit überhaupt etwas erreicht werden jedes Haus für sich dies tun würde. In diesem Sinne kann, dass es – zweitens – kein striktes imperatives habe ich meine Aussage gemeint, dass wir hier die Mandat geben kann – sonst ist man bei 25 Mitglied- Chancen ergreifen sollten. staaten verloren – und dass – drittens – nicht verhindert werden kann, dass in Brüssel Paketlösungen gefunden Der Herr Vorsitzende Müntefering hat darauf hinge- werden, dass also über unsere föderalen Kompetenz- wiesen, dass wir im Bundestag begonnen haben, über grenzen hinweg agiert wird. Das bedeutet, dass ständig Strukturen nachzudenken, die uns in die Lage verset- jemand dort sein muss. Das kann eigentlich nur ein zen, eine Rüge in Bezug auf Subsidiaritätsfragen vor- Vertreter des Bundes sein. Insofern – ich glaube, darin zubereiten. Herr Minister Eichel hat natürlich völlig sind sich alle Sachverständigen einig – ist das die eine Recht: Es nutzt nichts, dass uns alle Dokumente zuge- Seite der Medaille, die Bedingung für eine effektive leitet werden, wenn wir nicht die entsprechenden Vertretung in Brüssel. Strukturen zur Verfügung haben, die eine politische Die andere Seite, das föderale und das demokrati- Bewertung zulassen und uns in die Lage versetzen, sche Element in der internen Willensbildung bei uns, eine begründete Stellungnahme abzugeben. Insoweit lässt sich so organisieren – das hat der Vorschlag von sollten wir die Chancen, die uns eine neue europäische Herrn Scholz gezeigt –, dass man im Sinne der Aus- Verfassung bietet, nutzen, statt um einen Punkt zu führungen von Herrn Grimm den Geschäftsordnungs- kämpfen, an dem die Handlungsfähigkeit des Gesamt- charakter beseitigt und die Prinzipien, also keineswegs staates – bezogen auf die Zukunft – eher beeinträchtigt alles, in der Verfassung festlegt. Dann hätte man eine wird, ohne dass die Mitwirkungsmöglichkeiten wirk- Lösung, auf die sich beide Seiten verständigen könn- lich genutzt werden. Diesbezüglich, glaube ich, haben ten. Herr Ministerpräsident Stoiber, Sie haben den wir andere Möglichkeiten. symbolischen Charakter des geltenden Art. 23 für den

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Sachverständiger Prof. Dr. Hans Meyer (A) Bundesrat hervorgehoben. Wenn man es annähernd so für, dass wir uns Gedanken darüber machen, ob das (C) realisierte, wie Herr Scholz es vorgeschlagen hat, dann Grundgesetz geändert werden muss, und widerspreche würde aus dem symbolischen ein sehr realer Charakter. all denjenigen nicht, die sagen, dass darüber nachge- Ich denke, das müsste für Sie wertvoller sein als das dacht werden muss; das ist vielleicht sogar sinnvoll. andere. Aber ich glaube, die eigentlich entscheidende Frage wird sein, ob wir den politischen Alltag bestehen, ob Ich meine, dass wir in kleinen Gruppen – es wird ja wir rechtzeitig verstehen, wie es sich damit in Zukunft jetzt vernünftigerweise in kleinen Gruppen gearbeitet – in Europa verhalten wird, und wie wir als Bundestag darüber nachdenken sollten, ob ein solcher Kompro- im Zusammenwirken mit den Ländern und wie die miss tragfähig ist und eine Zweidrittelmehrheit in bei- Länder im Zusammenwirken mit uns die deutschen In- den Kammern findet. teressen in Brüssel wahrnehmen. Das können die Men- Vielen Dank. schen in unserem Land von uns erwarten. So sehe ich den Zusammenhang. Vorsitzender Franz Müntefering: Ich bitte vor allem diejenigen, die den konzeptionel- Vielen Dank, Herr Professor Meyer. Vielen Dank al- len Gesamtzusammenhang sehen, daran zu arbeiten len, die sich an der Diskussion beteiligt haben. Ich und uns Ratschläge zu geben, worauf dabei eigentlich fand, das war gute Arbeit der Kommission. Zu Punkt II zu achten ist, damit wir in der Flut der Informationen erteile ich gleich Herrn Kröning, Herrn Gerhards und und der Entscheidungsprozesse, in denen wir uns be- Herrn Eichel das Wort. finden, nicht die Übersicht verlieren; das wäre nicht Ich möchte zum ersten Teil kurz Folgendes anmer- gut. Das passiert heute manchmal schon. Ich denke nur ken: Stellen wir uns einmal vor, dass es – aus welchen daran – das ist die schlichte Wahrheit –, in welcher Gründen auch immer – nicht möglich wäre, das Weise der Deutsche Bundestag heute mit der Politik in Grundgesetz entsprechend zu ändern, weil es sozusa- Europa konfrontiert ist. Es ist ja nicht Unfähigkeit oder gen die leichteste Lösung wäre, wenn alles so bliebe, böser Wille, sondern schlichtweg die Menge der Infor- wie es ist. Dann würde sich die Frage stellen, ob damit mationen, die es nicht immer leicht macht, den Über- eigentlich das Problem gelöst wäre. Wir alle sind uns blick zu behalten und zu entscheiden, was wichtig ist, einig, dass das nicht der Fall wäre. Das heißt, es worauf man wann wie reagieren muss und was man kommt – deshalb war mir das, was Herr Grimm eben nicht wissen muss, weil es unwichtig ist. Die Fragen gesagt hat, sehr sympathisch – in hohem Maße auf die der Abwicklung sind, glaube ich, außerordentlich Lebenswirklichkeit, auf die Praxis der Politik sowohl wichtig. – So weit dazu. (B) in Brüssel als auch im Bund und in den Ländern an, Jetzt beginnt Herr Dr. Geiger. Anschließend hat (D) also darauf, wie wir uns praktisch darauf einstellen. Herr Kröning das Wort. Bei allem Respekt vor den unterschiedlichen Erwar- tungen an eine Grundgesetzänderung, über die disku- Staatssekretär Prof. Dr. Hansjörg Geiger (BMJ): tiert wird, ist für mich die zentrale Frage: Wie funktio- Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Wir alle wissen, niert das eigentlich vor dem Hintergrund der neuen dass Deutschland bei der Umsetzung von EU-Recht Verfassung und des Verhältnisses, das wir untereinan- nicht zu den Glanzlichtern zählt. Ministerpräsident der haben? Wir müssen angesichts des Spannungsver- Beck aus Rheinland-Pfalz hat in einer Unterlage, die hältnisses, das vernünftigerweise zwischen Bund und verteilt worden ist, den Platz genannt, den Deutschland Ländern besteht, darauf achten, dass wir unsere natio- einnimmt: Wir befinden uns auf Platz drei, allerdings nalen Interessen in Brüssel wahrnehmen können. Da- nicht von oben, sondern von unten. Dafür gibt es ver- für muss man nicht die Bakken aufblasen; denn es han- schiedene Gründe. Einer der Gründe ist die Kompe- delt sich um eine normale Aufgabe, die wir tenzverteilung zwischen Bund und Ländern. wahrzunehmen haben. Dabei geht es um ganz prakti- sche Dinge. Herr Huber hat es angesprochen. In den Das zeigt sich am Beispiel des Umweltrechts beson- Ausführungen von Frau Schwall-Düren kam es eben- ders deutlich. Brüssel pflegt einen medienübergreifen- falls vor. Wenn das Subsidiaritätsprinzip gilt und wenn den Ansatz zu wählen. Das heißt, das Brüsseler Um- die nationalen Parlamente in Zukunft sechs Wochen weltrecht kann Luft, Wasser und Boden gleichzeitig Zeit haben, auf die Mitteilung der Europäischen Kom- betreffen. In Deutschland sind diese Regelungsmate- mission, dass es eine Richtlinie bzw. ein Gesetz geben rien völlig unterschiedlichen Kompetenzfeldern zuge- wird, zu reagieren, dann ergeben sich daraus ganz ordnet. Das hat beispielsweise bei der Umsetzung der praktische Fragen: Wie funktioniert das eigentlich? UVP-Richtlinie, die medienübergreifend diese drei Be- Wie verhält sich das zu der üblichen Art und Weise, reiche betrifft – es waren die Rahmengesetzgebungs- wie wir Politik im Deutschen Bundestag machen? Wie kompetenz, die konkurrierende Gesetzgebung und verhält sich das in Bezug auf das Zusammenwirken auch Länderkompetenzen berührt –, zum einen dazu von Bund und Ländern? geführt, dass in den Ländern voneinander abweichende UVP-Regelungen geschaffen worden sind, und zum Meine Bitte ist, dass sich alle, die sich damit aus- anderen dazu, dass das gesamte Verfahren lange ge- kennen, Gedanken darüber machen – „untergesetzlich“ dauert hat. nennen die Juristen das –, was es in diesem Zusam- menhang eigentlich zu berücksichtigen gilt. Ich Unterschiedliche Regelungen begünstigen nicht ge- glaube, hierin liegt letztlich die Wahrheit. Ich bin da- rade die Ansiedlung von Unternehmen. Deshalb ist es

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Staatssekretär Prof. Dr. Hansjörg Geiger (BMJ) (A) ein Thema, über das wir in diesem Zusammenhang bleiben – genügt es, zu berichten, dass wir heute Mor- (C) diskutiert haben, gegebenenfalls die Aufgabe der Rah- gen die Ausgangspositionen, die Bund und Länder bis- mengesetzgebungskompetenz und dann eine entspre- her eingenommen haben, das heißt den Streitstand, und chende Zuordnung auf die Länder vorzunehmen. auch die entsprechenden Argumente haben Revue pas- sieren lassen. Wir haben – jedenfalls tendenziell – eine Ein weiterer Lösungsansatz, über den hier in den grundsätzliche Einigung darüber erzielt, dass zumin- vergangenen Monaten diskutiert worden ist und den dest Klarstellungsbedarf, also nicht nur Klärungsbe- die Bundesregierung mit Interesse zur Kenntnis ge- darf – ich nenne das schlicht Regelungsbedarf –, in Be- nommen hat, ist die so genannte Vorgriffsgesetzge- zug auf die Verfassung besteht. Das gilt für alle drei bung bei EU-Vorhaben. Zur wirksamen und vor allem Teilthemen, mit denen wir uns beschäftigt haben, näm- fristgerechten Umsetzung von EU-Recht sollte der lich die EU-Zwangsgelder, die EU-Anlastungen und Bund demnach die Befugnis erhalten, Regelungen zu auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für treffen, für die an sich die Länder zuständig sind. Er Menschenrechte. sollte also insoweit auf Länderkompetenzen zugreifen dürfen. Soweit der Bund das tut, müssen die Länder Vielen Dank, Herr Vorsitzender. selbstverständlich das Recht haben, das vorgreifende Bundesrecht durch eine eigene Landesregelung zu er- Vorsitzender Franz Müntefering: setzen – nicht lediglich zu ergänzen! –, weil sonst Vielen Dank auch Ihnen. – Herr Gerhards, dann nachhaltig in die Gesetzgebungsautonomie der Länder Frau Tillmann. eingegriffen würde. Die Vorgriffsregelungen müssten also für Landesrecht geöffnet sein. Das ist ein Fall, bei dem ich mir die Schaffung eines Rechts des Zugriffs Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfa- auf Länderkompetenzen sehr gut vorstellen kann. len): Ich kann nur eine eingeschränkte Länderposition Wenn wir über die Verteilung von Verantwortung schildern, weil in der Arbeitsgruppe zu diesem Thema sprechen, und zwar auch in Bezug auf die Fälle, in de- noch nicht in allen Punkten Klarheit oder Konsens er- nen Kompetenzen unterschiedlich wahrgenommen zielt worden ist. Daher will ich daraus Thesen ableiten, werden, dann stellt sich natürlich sehr schnell die Frage die sich jedenfalls für Nordrhein-Westfalen im Mo- der Haftung. Wer haftet für die nicht ordnungsgemäße ment sehr überzeugend anhören. Ich hoffe, dass auch Umsetzung von europäischem Recht? Es ist klar, dass Sie das nachher so sehen werden. die innerstaatliche Verantwortung bei demjenigen – ge- gebenenfalls bei dem betroffenen Land – liegen muss, Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist, dass sich (B) der EU-Recht verletzt. Diese Selbstverständlichkeit die Umsetzung von EU-Recht nach der innerstaatli- (D) sollte nach Auffassung der Bundesregierung auch in chen Kompetenzordnung richten sollte. Das sollte der der Verfassung klargestellt werden, damit die Diskus- Grundsatz bleiben. Dort, wo der Bund aufgrund der in- sionen und die Streitigkeiten, die es derzeit gibt, nicht nerstaatlichen Kompetenzordnung nicht zur vollständi- fortgeführt werden. Hierzu wird Minister Eichel nach- gen EU-Rechtsetzung befugt ist – das ist insbesondere her sicherlich noch deutliche Worte sagen. im Bereich des Umweltrechts der Fall –, wo er also nur die Rahmengesetzgebungskompetenz nach Art. 75 hat, Vielen Dank. könnten die Länder bereit sein, die innerstaatliche Kompetenzordnung im Interesse der Europatauglich- Vorsitzender Franz Müntefering: keit anzupassen, indem die für diesen Bereich in Vielen Dank auch Ihnen. – Herr Kröning, dann Herr Art. 75 genannten Sachgebiete einer neuen Gesetzge- Gerhards und Frau Tillmann. bungskategorie – ich will jetzt keinen Namen nennen – zugeführt werden, die sich dadurch auszeichnet, dass Volker Kröning, MdB (SPD): Bund und Länder zur Gesetzgebung im Sinne einer Ich möchte das nur kurz ergänzen; denn die allge- Vollkompetenz befugt sind, dass die Bundesgesetzge- meine Frage der Umsetzung von EU-Recht, die bisher bung dabei nicht an die einschränkenden Vorausset- nach dem Gedanken der innerstaatlichen Kompetenz- zungen der Erforderlichkeitsklausel nach Art. 72 ordnung beantwortet wird, wird uns noch einmal be- Abs. 2 des Grundgesetzes gebunden ist und dass als schäftigen, wenn wir uns über eine neue Abgrenzung Kompensation dafür und für die neue Vollkompetenz der Kompetenzen klar werden. Dazu liegen unter- des Bundes das Landesrecht dem Bundesrecht – das ist schiedliche Vorschläge vor. Es gibt eine erste Andeu- wichtig – in der Anwendung vorgeht, wobei EU-Vor- tung vonseiten der Bundesregierung. Das möchte ich gaben immer zu beachten sind; denn sie gelten sowohl im Augenblick nicht weiter behandeln. für den Bund als auch für die Länder. Das ist also mehr eine Anwendungsvorrangregel. Damit können die Über die zentrale Frage, nämlich die Haftung für Länder im politischen Ideenwettbewerb eigene ganz eine nicht rechtmäßige, nicht rechtzeitige oder rechts- oder teilweise von der Regelung des Bundes abwei- fehlerhafte Umsetzung von EU-Recht im innerstaatli- chende Gesetze beschließen. Ein bloßer Anwendungs- chen Verhältnis – auf welcher Ebene auch immer –, ist vorrang – statt einer echten Verdrängungswirkung, schon heute Morgen in der Arbeitsgruppe „Finanzen“ wie wir sie normalerweise aus dem Kompetenzkata- diskutiert worden. Ich glaube, im Hinblick auf die an- log kennen – berücksichtigt, dass auch EU-Recht, um deren Tagesordnungspunkte – der Punkt „Nationaler dessen Umsetzung es hierbei allein geht, seinerseits Stabilitätspakt“ sollte nicht wieder unberücksichtigt entgegenstehendes nationales Recht nicht verdrängt,

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Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfalen) (A) sondern diesem nur in der Anwendung durch Behör- Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfa- (C) den und Gerichte vorgeht. Genau darauf zielt im Übri- len): gen das Schreiben von Ministerpräsident Steinbrück Ich hoffe, überzeugungsstark. vom März dieses Jahres ab. Um diesen Anwendungsvorrang des EU-Rechts Vorsitzender Franz Müntefering: – nicht die Verdrängung der Gesetzgebungskompe- Frau Tillmann. tenz – gegenüber nationalem Recht und die Umset- zungsakte des Bundes zu sichern, kann man des Weite- Antje Tillmann, MdB (CDU/CSU): ren daran denken, im Grundgesetz zu bestimmen, dass Nach diesen einfachen Worten greife ich den Teil Landesrecht im Falle eines Verstoßes gegen EU-Vorga- auf, der heute Morgen in der Arbeitsgruppe eine Rolle ben unwirksam ist, sodass in solchen Fällen der An- gespielt hat, nämlich die Haftung bei der Umsetzung wendungsvorrang des Landesrechts gegenüber dem von EU-Recht. Ich bin froh, dass Herr Gerhards – ähn- Bundesrecht entfällt. Das bedeutet in der Praxis: Die lich wie heute Morgen – Kompromissbereitschaft si- Haftung im Rahmen des EU-Rechts für legislatives gnalisiert hat, indem er bei den verschiedenen Haf- Unrecht seitens der Landesgesetzgeber könnte damit tungsformen die Anwendung des Verursacherprinzips entfallen, weil mit der Feststellung zum Beispiel durch auch auf die Länder nicht infrage gestellt hat. das Bundesverfassungsgericht oder den EuGH, dass Landesrecht gegen EU-Recht verstößt, zugleich die Ich habe den Eindruck, dass wir heute Morgen eine Anwendung des Bundesrechts – wir unterstellen ein- Linie aufzeigen konnten, die es ermöglicht, in das mal, dass es EU-konform ist – durch die normierte Un- Grundgesetz aufzunehmen, dass auch die Länder zu- wirksamkeitsklausel auch für das entsprechende Land mindest im Hinblick auf Anlastungen, Zwangsgelder wieder auflebt, sodass eine Verurteilung der Bundesre- und Schadenersatzansprüche Verantwortung tragen. publik durch den EuGH jedenfalls für die Zukunft aus- Ich gebe aber zu, dass ich mit ähnlicher Begeisterung scheidet. Allenfalls ex post kann es dann noch ein Haf- die Länder gerne am nationalen Stabilitäts- und tungsproblem geben. Wachstumspakt beteiligt hätte. All jenen, die jetzt schmunzeln, geben ich eines zu bedenken: Wenn wir Sollte der Bund für EU-rechtswidriges Handeln von hier das Verursacherprinzip anwenden, dann stellt sich Landesbehörden oder Landesgerichten – auch das ist meiner Ansicht nach schon die Frage, ob Verursacher denkbar – in Haftung genommen werden, bemisst sich derjenige ist, der die Schulden macht, oder ob es derje- die innerstaatliche Haftung von Bund und Ländern nige ist, der die Rahmenbedingungen schafft. Ich habe nach dem Verursacherprinzip. Dies entspricht dem viel für die Länder übrig, die argumentieren: Der Bun- Grundgedanken des Art. 104 a Abs. 5 des Grundgeset- (B) desgesetzgeber ist derjenige, der die wirtschaftlichen (D) zes. Die Haftung gegenüber Dritten aufgrund rechts- und die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen schafft, widrigen Verwaltungshandelns wegen etwaiger EU- während die Länder nur in erheblich geringerem Um- rechtswidriger Landesgesetze richtet sich nach den all- fang Möglichkeiten haben, ihre eigene Verschuldungs- gemeinen Staatshaftungsregeln. Insoweit ändert sich quote in den Griff zu bekommen. Ich wäre Herrn an dem heutigen Rechtszustand nichts. Eichel sehr dankbar, wenn er mir anschließend Argu- Bei einer solchen Konstruktion ist zu prüfen, ob mente liefern würde, die mir als Bundestagsabgeord- weitere Sachgebiete aus anderen Kompetenzkatalogen nete klar machten, warum die Länder auch in diesem wegen ihrer intensiven EU-Besetzung – hier verweise Punkt in Haftung genommen werden sollen. Aber im ich auf die Arbeitsunterlage 43 des BMJ – sinnvoller- Moment – das muss ich zugeben – sind mir die Argu- weise in die neue Gesetzgebungskategorie des Anwen- mente der Länder wesentlich näher. dungsvorrangs überführt werden sollten. Dazu können auch Sachgebiete gehören, für die der Bund derzeit Vorsitzender Franz Müntefering: keine Kompetenz hat. Ich nenne als Beispiel Herr Dr. Tidick. Art. 74 Abs. 1 Nr. 23, wonach Bergbahnen ausdrück- lich ausgeschlossen sind. Das ist das berüchtigte Bei- spiel aus Mecklenburg-Vorpommern, das – weil der Staatssekretär Dr. Frank Tidick (Mecklenburg- Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat – ein Gesetz Vorpommern): für einen Vorgang erlassen musste, der dort gar nicht Ich möchte noch einmal auf die Frage der Gesetzge- vorkommt. Ich erwähne das ebenfalls, weil dem Bund bungskompetenzen zurückkommen. Herr Gerhards hat durch die Zusammenfassung von Gesetzgebungsmate- darauf hingewiesen, dass die eingesetzte Arbeits- rien, die heute nicht oder nur zum Teil in seine Zustän- gruppe ihre Arbeit noch nicht beendet hat, und er hat digkeit fallen, die Möglichkeit gegeben werden kann, die Position von Nordrhein-Westfalen dargestellt. Es ein eigenes Umweltgesetzbuch zu schaffen, wenn man gibt auch andere Positionen. Ich möchte andeuten, dass das Ganze einer Anwendungsvorrangregel unterwirft. man meiner Vorstellung nach mehr in Richtung einer Umsetzungskompetenz des Bundes gehen sollte, aller- Ich belasse es einmal dabei. dings unter bestimmten Rahmenbedingungen. Das heißt, der Bund sollte die Kompetenz erhalten, Richtli- Vorsitzender Franz Müntefering: nien, die auf europäischer Ebene erlassen werden – es Das war ja einfach. geht nur um Richtlinien und nicht um Verordnungen; denn nur bei Richtlinien besteht die Notwendigkeit zur (Heiterkeit) Umsetzung –, eins zu eins umzusetzen. Die Länder ha-

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Staatssekretär Dr. Frank Tidick (Mecklenburg-Vorpommern) (A) ben dann die Möglichkeit, die Lücken, die sich bei der Bundesminister Hans Eichel (BMF): (C) Umsetzung der Richtlinie ergeben, selbst auszufüllen. Ich will versuchen, es möglichst kurz zu machen. – Das würde im Wege des Zugriffsrechts geschehen. Da- Erstens: Was ist der Unterschied zwischen einem Zen- mit wäre auch die Haftungsfrage relativ leicht geklärt: tralstaat und einem Bundesstaat? Der Unterschied ist Wenn der Bund bei der Eins-zu-eins-Umsetzung Feh- eine andere innere Verfassung. Das Defizit aber ist je- ler macht, dann haftet er. Wenn die Länder Fehler bei weils ein gesamtstaatliches. der Zugriffsregelung machen, dann haften sie. Zweitens: Wie kommt es zustande? – Da will ich Vorsitzender Franz Müntefering: gern auf Ihre Frage zurückkommen. – Die Einnahme- seite wird in einem unglaublich großen Umfang – das Mir liegen zu diesem Komplex keine weiteren wissen wir alle – durch die Bundesgesetzgebung be- Wortmeldungen vor. Wir machen daher noch einen stimmt, die aber der Zustimmung des Bundesrates be- Sprung zum Abschnitt III: Nationaler Stabilitätspakt. darf. Das unterscheidet die Bundesgesetze, die Steuer- Dazu liegen mir bisher Wortmeldungen von Herrn gesetze, von vielen anderen. Aufgrund dessen gibt es Schäfer und Herrn Eichel vor. aus meiner Sicht überhaupt keine andere Möglichkeit, als dass die Mitverantwortung für das Einhalten der Axel Schäfer, MdB (SPD): Verschuldenskriterien übernommen wird. Herr Vorsitzender, angesichts der fortgeschrittenen Zeit möchte ich zu dem Thema mehr stichpunktartig Dann würde sich als Nächstes die Frage stellen, wie vortragen. man „Mitverantwortung“ verteilt. Da kommen wir al- lerdings in große Schwierigkeiten. Die Frage ist – ich Wir wissen, dass nach Art. 104 des EG-Vertrages sage das jetzt eher kritisch in Richtung der Länder –, und nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt das De- ob es eine Chance gibt, eine Einzelanlastung in Bezug fizit den Referenzwert von 3 Prozent des Bruttonatio- auf die Länder vorzunehmen. An dieser Frage ist übri- naleinkommens nicht übersteigen darf. Die Frage, die gens schon Theo Waigel gescheitert. Wir beide erin- sich uns dabei stellt, ist, inwieweit allein die Finanzpo- nern uns daran, damals auf der Länderseite. Das ist litik des Bundes die Einhaltung der europäischen Vor- – ich will pragmatisch argumentieren – aufgrund der gaben sicherstellen muss; denn der Bund ist, wie wir unterschiedlichen Interessenlagen nicht zusammenzu- wissen, inklusive Sonderrechnungen nur für circa bringen: Die finanzschwächeren Länder führen das Ar- 47 Prozent des öffentlichen Gesamthaushalts verant- gument an, dass sie, weil sie finanziell schwächer sind, wortlich; diese Fragestellung haben einige Gutachter möglicherweise gar nicht umhinkommen, die Ver- dankenswerterweise aufgegriffen. Wir müssen über die schuldung zu erhöhen, und weisen darauf hin, dass (B) Konsequenzen reden, nämlich zum einen darüber, in- sich ihre Position, würden sie dafür auch noch bestraft, (D) wieweit die Länder verpflichtet wären, sich an etwai- weiter verschlechtern würde. Die wohlhabenderen gen Sanktionszahlungen der EU aufgrund des Vertra- Länder argumentieren umgekehrt: Weil wir die Wohl- ges zu beteiligen, und zum anderen darüber, welche habenderen sind, müssen wir im Zweifelsfall auch das konkreten Empfehlungsmöglichkeiten des Finanzpla- Recht haben, mehr Schulden zu machen. – Das heißt, nungsrates es auch an einzelne Länder gäbe. der Streit unter den Ländern ist schon an der Stelle Daran schließt sich insbesondere die Frage an, in- nicht lösbar, an der es darum geht, welchen Anteil an wieweit man entsprechende Regelungen in der Verfas- der Verschuldung man haben dürfte. sung treffen müsste und ob es denkbar ist, Defizitober- Ich persönlich sehe für den Fall, dass man es über- grenzen auch für Einzelländer festzulegen. Die haupt versuchen wollte, nur eine einzige Chance, näm- Aufnehme von Regelungen in die Verfassung halte ich lich indem man erstens akzeptiert, dass es aufgrund der für notwendig. Die Festsetzung von Defizitobergren- Kompetenzverteilung im Grundgesetz auf der Einnah- zen für Einzelländer halte ich wiederum nicht für not- meseite eine gesamtstaatliche Verantwortung gibt, dies wendig. Das würde, glaube ich, der realen Situation einzuhalten, und zweitens ein Kriterium schafft, das nicht entsprechen. – Die Gutachter haben einige Vor- für alle gleichermaßen gilt. Ich glaube nicht, dass das schläge gemacht, wie man im Einzelfall vorgehen Kriterium des Bruttoinlandsprodukts das geeignete ist; sollte. Ich will aufgrund der fortgeschrittenen Zeit da- denn es spiegelt nicht die tatsächlichen Finanzverhält- rauf nicht im Einzelnen eingehen. Ich hoffe, dass an- nisse wider, sondern die Finanzverhältnisse vor dem dere das noch ausführen werden. Länderfinanzausgleich. Ich meine schon, dass man Ich glaube aber, dass wir die Diskussion über den auch ihn einbeziehen muss. Daher geht der Weg eher europäischen Stabilitätspakt, die in Deutschland nicht dahin, Einwohnerzahlen zugrunde zu legen, mögli- nur mit Blick auf die 3 Prozent, sondern auch sehr ex- cherweise in einer etwas modifizierten Form; das zessiv unter dem Gesichtspunkt „3,0 ist 3,0“ erfolgt, in müsste man sich ansehen. Das ist aus meiner Sicht die Zukunft nicht mehr so werden führen können, dass einzige Chance, um an dieser Stelle zurechtzukom- man nur in Richtung Bund schaut. Vielmehr müssen men. die Länder und der Bundesrat insoweit verstärkt zur Innerstaatlich hätte ich dann gerne etwas Ähnliches Verantwortung gezogen werden. wie das, was wir auf Brüsseler Ebene haben, weil es natürlich schon einzelne Verursacher gibt; das will ich Vorsitzender Franz Müntefering: überhaupt nicht bestreiten. So könnte zum Beispiel Vielen Dank. – Herr Eichel. dem Finanzplanungsrat – das ist, wie ich gern zugebe,

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Bundesminister Hans Eichel (BMF) (A) noch nicht ganz durchdacht; es hat ein paar Haken – Darüber hinaus bitte ich darum – da wir ohnehin (C) eine ähnliche Zuständigkeit gegeben werden, wie sie eine sehr schonungslose Auseinandersetzung in fi- auf europäischer Ebene der Ecofin-Rat hat. Ihm könnte nanzpolitischen Fragen führen und das auch nicht zu also die Möglichkeit gegeben werden, einzelnen Län- scheuen brauchen –, uns über das Defizit und die Auf- dern oder auch dem Bund Empfehlungen hinsichtlich teilung des Defizits im Jahre 2003, auch gemessen an einer angemessenen Politik zu geben und diese gege- den EU-Maßgaben und den im Rahmen des Nationalen benenfalls auch zu sanktionieren. Stabilitätspaktes getroffenen Vereinbarungen, zu be- richten. Wie gesagt: Das hat ein paar Haken, weil der Fi- nanzplanungsrat bei uns nicht so deutlich definiert ist. Vielen Dank. Aber ich komme bei der Frage, ob wir mit Blick auf die Vorgeschichte, die bis in die erste Hälfte der 90er- Vorsitzender Franz Müntefering: Jahre zurückreicht und in der die Bemühungen erfolg- Gibt es noch Wortmeldungen? – Das ist nicht der los waren, überhaupt eine Chance haben, zu einer Lö- Fall. Dann will ich die Diskussion hier auch unvermit- sung zu kommen, in einer ersten Näherung zu keinem telt abbrechen und mich noch einmal bei Ihnen bedan- anderen Ergebnis. ken. Als wir mit dieser Kommission begonnen haben Vorsitzender Franz Müntefering: – ich kann mich an die erste Sitzung erinnern –, stand Vielen Dank. – Möchte dazu noch jemand etwas sa- das Thema Europa meinem Eindruck nach eher am gen? – Bitte schön, Herr Kröning. Rande. Ich glaube aber, dass im Laufe der Debatten das Bewusstsein dafür gewachsen ist, wie wichtig das Ganze ist. Sicherlich ist mit dem konkreter und größer Volker Kröning, MdB (SPD): werdenden Europa die Stimmung nochmals angeheizt Herr Vorsitzender, ich habe die Schwingung in Ihrer worden, sich Gedanken darüber zu machen. Stimme erkannt. Heute ist ganz sicher nicht die Stunde gewesen, um (Heiterkeit) zu Entscheidungen zu kommen. Ich glaube aber, dass wir – abgesehen von vielen anderen Dingen, bei denen Ich will die zur Verfügung stehende Zeit auch keines- uns längst bewusst ist, dass sie dringend entschei- wegs ausschöpfen. dungsbedürftig sind – an einer sehr wichtigen Stelle In der Anhörung der Sachverständigen ist deutlich sind. Darauf wird bei anderen Gelegenheiten zurück- zukommen sein. (B) geworden, dass die Sachverständigen nur sehr zöger- (D) lich an die Frage herangehen und, soweit erkennbar, Wir sehen uns am 10. Juni wieder; das ist, von ges- auch unterschiedlicher Meinung darüber sind, ob wir tern an gerechnet, in vier Wochen. Dann sind wir im – lassen Sie es mich so ausdrücken – eine Umsetzung Bundesrat. Thema werden die Finanzbeziehungen von des EU-Rechts, des Art. 104 des EG-Vertrages bzw. Bund und Ländern sein. des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes, im Verfassungsrecht brauchen. Auf der anderen Seite Herr Stoiber und ich haben, während wir hier heute ist ganz offenkundig, dass der Nationale Stabilitäts- getagt haben, einen Brief an Sie alle geschrieben – Sie pakt, ein Beschluss des Finanzplanungsrates, ebenso werden also Post von uns bekommen –, in dem wir jung wie tot ist. Wenn das unsere Ausgangslage ist, noch einmal erläutert haben, wie es sich mit den Pro- müssten wir bei diesem gerade im nächsten Viertel- jektgruppen verhält. Ich glaube, dass wir das verständ- bzw. halben Jahr besonders schwierigen Thema Re- lich haben darstellen können. Darin ist auch beschrie- chenschaft darüber ablegen, was wir tun. Die heutigen ben, zu welchen speziellen Punkten das möglich ist. Beiträge können dabei sicherlich ein Stückchen weiter- Damit es kein Missverständnis gibt: Die Projektgrup- führen. Aber in der Finanzklausur wird man sich dazu pen beschäftigen sich nicht flächendeckend mit allen noch intensiver austauschen müssen. Das ist ja auch Themen, sondern sind auf bestimmte Problempunkte angemeldet. Daher können wir uns heute kurz fassen. und -bereiche ausgerichtet. Es handelt sich mehr um ein Berichterstatterprinzip, nachdem das Ganze vorbe- Ich bitte die Bundesregierung aber doch, Herr Vor- reitet worden ist. Niemand muss Sorge haben: Alles sitzender, uns einen kurzen Bericht zu den Erfahrun- kommt in die Arbeitsgruppen und dann auch wieder in gen mit dem Nationalen Stabilitätspakt, also dem Be- die Kommission. schluss des Finanzplanungsrates vom März 2002, zu Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und geben, möglicherweise auch mit dem noch nachträg- schließe die Sitzung. lich mit arg schlechtem Gewissen vorzeitig in Kraft gesetzten § 51 a des Haushaltsgrundsätzegesetzes. (Schluss: 18.42 Uhr)

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(A) (C) Berichtigung 5. Sitzung (Kommissionsprotokoll 5, Seite III): In der Anwesenheitsliste ist zu ergänzen: Bundes- tag: SPD: Stellvertreter Bernd Scheelen

(B) (D)

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