Weißen bestehendes Gericht in Paterson verurteilt Carter 1967 zu lebenslanger Haft. Seitdem hat sein Fall nicht nur Richter und Journalisten beschäftigt. sang in den Siebzigern die Moritat vom zu Unrecht verurteilten Hurricane Car- ter. Jetzt erzählt der Regisseur , 73, Carters Leidensgeschichte auf der Leinwand – in der Titelrolle , der dafür bei der Berlinale einen Silbernen Bären gewann und für den Oscar nominiert ist (siehe Interview). „Hurricane“ aber bleibt unnötig schwer verständlich, weil er in hektischen Zeit- sprüngen zwischen Boxring, Gefängnis und Gerichtssaal hin und her zappt. Und aus

CINETEXT dem widersprüchlichen Rubin Carter zau- „Hurricane“-Darsteller Washington, Regisseur Jewison: Strahlender Held bert Hollywood einen strahlenden Helden. „Ich wusste gar nicht, dass ich mal so toll ausgesehen habe“, flachste Carter bei einer FILM Vorführung des Films für Präsident Clinton im Weißen Haus. Der inzwischen 62-Jährige stammt aus Häftling Nummer 45472 der schwarzen Unterschicht. Patersons Po- lizei kannte Rubin Carter seit seiner Kind- Norman Jewisons Kinofilm „Hurricane“ beruht auf einem heit. Seine Eltern hatten ihren stotternden, zu Gewaltausbrüchen neigenden Sohn spektakulären Kriminalfall: Eine rassistische schon mit neun Jahren den Behörden über- US-Justiz schickte den Boxer Rubin Carter für 19 Jahre hinter Gitter. geben, weil sie ihn nicht bändigen konnten. Als Jugendlicher wird Carter wegen n den frühen Morgenstunden des dorthin aufbrechen und ein paar von den Diebstahls und Körperverletzung verurteilt. 17. Juni 1966 stürmen zwei schwarze Polizisten umlegen“, zitierte die Zeitung Er flieht aus der Haft. Die Armee nimmt ihn IMänner in die schäbige „Lafayette Bar“ den Boxer, „ich weiß, dass ich vier bis fünf als Freiwilligen. Der Soldat beginnt zu bo- in Paterson, New Jersey. Sie feuern mit von denen fertig machen kann, ehe sie xen und gewinnt den Weltergewichtstitel Pistolen auf die letzten Nachtschwärmer mich erwischen.“ der in Europa stationierten US-Streitkräfte. in dem von Weißen besuchten Lokal. Im Solche Worte werten die Cops im von Bei seiner Rückkehr nach Paterson neh- Kugelhagel sterben der Barkeeper und ein Rassenunruhen erschütterten Amerika der men rachsüchtige Cops Carter fest. Er muss Gast sofort; eine Frau erliegt später ihren sechziger Jahre als Kriegserklärung. Wohin seine Reststrafe abbüßen, nutzt die Haftzeit Schusswunden, und ein weiterer Gast wird immer Carter in den Vereinigten Staaten zu fanatischem Fitness-Training und wird schwer verletzt. Weil kurz zuvor in Pater- reist – überall lauern Polizeibeamte. Sie nach seiner Entlassung Profi. son ein schwarzer Barmann erschossen wollen seine Papiere sehen, führen ihn un- In seinem 22. Fight schlägt Carter 1963 worden war, wird Rache als Tatmotiv an- ter fadenscheinigen Gründen zur Wache. den Weltergewichts-Weltmeister Emile genommen. Zur Strecke bringen ihn New Jerseys Griffith in einem Nicht-Titelkampf in der Nach dem Blutbad fahnden Streifenwa- Behörden vier Monate nach dem Bar- ersten Runde k. o. Ein Jahr später verliert gen nach zwei Schwarzen in einem weißen Überfall: Sie verhaften Carter erneut und er den Kampf um die Mittelgewichtskrone Straßenkreuzer. Polizisten nehmen den Bo- klagen ihn des dreifachen Mordes an. Denn gegen den Champion über xer Rubin Carter fest, der zusammen mit nun bezeugen zwei stadtbekannte Krimi- 15 Runden nach Punkten. Der Giardello- einem Freund in seinem Dodge Polara nelle, sie hätten den Fighter und seinen Fight bleibt Carters einziger Titelkampf. durch die Stadt kurvt. Doch die Beamten Freund am Tatort gesehen. Ein nur aus Als er 1966 im Kerker verschwindet, hat er müssen die Verdächtigen wieder laufen las- nur vier seiner letzten zehn sen. Der schwer verletzte Gast hat bei ei- Kämpfe gewonnen. Entge- ner Gegenüberstellung im Krankenhaus gen der im Film aufgewärm- signalisiert, dass Carter und sein Kumpel ten Legende war Carters nicht die Täter waren. große Zeit als Boxer vorbei. Die Polizisten sind enttäuscht. Denn sie Doch nun zeigt er andere hassen den Ex-Sträfling Carter, seit der sich Fähigkeiten: Carter studiert als erfolgreicher Fighter modische Anzüge juristische Fachbücher, um und schnelle Wagen leisten kann und so seinen Fall aufzurollen; er ähnlich redet wie der Schwarzen-Auf- liest Romane und philoso- wiegler Malcolm X. phische Schriften. Die Ver- Carter, den die Fans wegen der über- legerin Linda Yablonsky fallartigen Wucht seiner Attacken „Hurri- entdeckt in Carters Briefen cane“ nennen, führe neben seinen Ring- sein Schreibtalent und pu- schlachten auch einen „Privatkrieg gegen bliziert seine Autobiografie: die Gesellschaft“, hatte das Wochenblatt „Die 16. Runde – vom Her- „Saturday Evening Post“ berichtet. So ausforderer Nummer eins habe er zum Eingreifen aufgerufen, als die zur Nummer 45472“.

Polizei in Harlem einen Aufstand nieder- PRESS / CORBIS PICTURE BETTMANN Carter schickt ein Exem- schlug: „Wir sollten uns Waffen besorgen, Boxer Carter (r., 1963): Fanatisches Training im Knast plar seines Buches an den

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„white brother“ Bob Dylan. Der Musiker der Polizei ausgesagt hätten: 1976 wird der Dieser Teil der Story steht im Mittel- ist beeindruckt. Er besucht den Häftling dreifache Mord wieder aufgerollt; doch das punkt des Films, in dem Schlüsselfiguren im Knast, schreibt mit dem Song „Hurri- Revisionsverfahren scheitert, weil beide wie die Verlegerin Yablonsky und der Re- cane“ einen seiner größten Hits. Beim vier- Zeugen ihren Widerruf zurücknehmen. porter Raab nicht vorkommen. Aber so kin- stündigen Benefizkonzert „Night of the Carter fällt in tiefe Depression; er bricht topphaft das Happy End mit dem schwar- Hurricane“ in New York treten 1975 zahl- alle Beziehungen zur Außenwelt ab. 1980 zen Teenager Lesra und seinen weißen reiche engagierte Musikstars auf. Muham- hat sich die Protestbewegung für Hurricane Freunden wirken mag: Die Zufallshelfer mad Ali widmet dem eingekerkerten Car- aufgelöst. Da bekommt ein 16-jähriger Ghet- aus Kanada waren Carters Rettung. ter einen Titelkampf. to-Junge namens Lesra aus Car- Nachzutragen wäre das: Rubin Carter Bewegung in seinen Fall bringt freilich ters Autobiografie in die Hand. Er mobili- lebt heute in Kanada. Er hatte Lisa Peters, erst die hartnäckige Arbeit des „New York siert eine Gruppe kanadischer Bürger- eine Frau aus der Bürgerrechtsgruppe, ge- Times“-Reporters Selwyn Raab. Der hat rechtler. Sie ermutigen Carters Verteidiger, heiratet, sich später aber von ihr getrennt. die beiden Belastungszeugen gegen Car- mit neuen Indizien noch einmal vor Gericht Heute arbeitet er in einer Initiative für ter aufgespürt und bearbeitet. „Ich habe zu gehen. In diesem Wiederaufnahme- unschuldige Gefangene. Hurricane liebt gelogen, um meine Haut zu retten“, ge- verfahren urteilt Ende 1985 nicht mehr die immer noch auffallende Kleidung und steht Arthur Bradley. Ihm und seinem voreingenommene Justiz des Staates New fährt einen Mercedes. Zur Entspannung Komplizen hätten langjährige Gefängnis- Jersey, sondern ein Bundesrichter. Nach arbeitet der Beinahe-Weltmeister im strafen gedroht, wenn sie nicht im Sinne 19 Jahren Haft ist Hurricane Carter frei. Garten. Hans Hielscher

spiel eine Szene mit Rubin als elfjährigem Jungen. Darin attackiert er einen Mann, „Es könnte heute geschehen“ der einen seiner Freunde belästigt hat. Im Drehbuch stand nur „Er sticht auf ihn Hollywood-Star Denzel Washington, 45, über Schwierigkeiten ein“, aber nicht, wohin und wie schlimm. mit Filmstoffen aus der Realität und das Rassismus-Lehrstück „Hurricane“ Im Film sieht man jetzt, wie Rubin dem Mann mit einem Klappmesser eine Wun- prompt heftige Kritik, weil der Film sehr de am Arm zufügt. frei mit den Fakten umgeht. Verstehen Sie SPIEGEL: Tatsächlich war es wohl so, dass den Unmut? er den Mann fast umgebracht hat. Washington: Es waren nicht die Zuschau- Washington: Wissen Sie das so genau? Je- er, die den Film kritisierten, sondern nur denfalls war es die Entscheidung des Re- ein paar Journalisten, die geschrieben ha- gisseurs, die Szene so zu inszenieren. ben, dass Rubin seine Freilassung viel- SPIEGEL: Kannten Sie Carters Fall, ehe Ih- leicht anderen Leuten zu verdanken hat, nen die Rolle angeboten wurde? als der Film es zeigt. Washington: Nein, ich wusste nichts dar- SPIEGEL: „Hurricane“ stellt es so dar, als über, bis mich einer der Produzenten 1992 hätte sich jahrelang nur eine Gruppe von ansprach. Dann habe ich mich mit ihm ge- Kanadiern für Carter eingesetzt, und ig- troffen und bin nach geflogen, um noriert die Arbeit seiner Rechtsanwälte Rubin und seine kanadischen Freunde und anderer Freunde. kennen zu lernen. Aber vorher hatte ich Washington: Das ist einfach eine der noch nicht einmal das legendäre Lied von Schwierigkeiten, wenn man versucht, ei- Bob Dylan gehört. nen Spielfilm aus einer realen Biografie SPIEGEL: Glauben Sie, dass Fälle wie der zu machen. Man muss Figuren verschmel- Rubin Carters heute noch passieren?

AFP / DPA zen und Ereignisse zusammenfassen, da- Washington: Ja, selbstverständlich. Es gibt Washington (mit Silbernem Bären) mit nicht 200 Leute über die Leinwand hunderte, wenn nicht tausende von fälsch- „Unglaubliche Entwicklung“ marschieren. Der Zuschauer muss einige lich Verurteilten, von denen niemand et- Figuren kennen lernen, um ihre Ge- was weiß, weil sie nicht Rubins Bekannt- SPIEGEL: Mr. Washington, Sie spielen schichte verfolgen zu können. heitsgrad haben. zum dritten Mal – nach dem südafrikani- SPIEGEL: Der Film lässt auch einige uner- SPIEGEL: Rubin Carter wurde Opfer des schen Freiheitskämpfer Steve Biko und freuliche Details aus Carters Leben weg, Rassismus. Hat sich in den USA die Lage dem US-Bürgerrechtsführer Malcolm X – etwa die Tatsache, dass er als junger Mann in den letzten 30 Jahren verbessert? eine reale Figur, den Boxer Rubin Carter. wegen einiger Überfälle vier Jahre im Ge- Washington: Ich weiß, dass das, was Rubin Macht es Ihren Job als Darsteller schwe- fängnis saß. Wäre „Hurricane“ nicht viel- damals widerfahren ist, heute noch ge- rer, gegen ein historisches Vorbild anzu- schichtiger geworden ohne diese Beschö- schehen könnte. Ich weiß, dass heute spielen? nigung? ein Drittel aller jüngeren schwarzen Män- Washington: Nach Malcolm X wollte ich Washington: Da will ich Ihnen nicht wi- ner in den USA mit dem Gefängnissystem eigentlich nie wieder eine authentische Fi- dersprechen. in Berührung gekommen sind – was in gur verkörpern. Es hat acht Jahre gedau- SPIEGEL: Hatten Sie Einfluss darauf, wie den sechziger Jahren nicht der Fall war. ert, bis ich die Rolle des Rubin Carter „Hurricane“ seinen Helden porträtiert? Aber ich weiß auch, dass es viele Verbes- übernommen habe. Der Druck ist einfach Washington: Ja, aber wir hatten schon ei- serungen gegeben hat. Ich möchte gern größer. Man ist empfindlicher gegenüber nen zweieinhalb Stunden langen Film – glauben, dass es heute größere Chancen Kritik, denn jeder Zuschauer hat seine ei- man kann nicht alles zeigen. Ich habe mich gibt, gegen Diskriminierung zu protestie- gene Auffassung, wie der Betreffende war dafür eingesetzt, dass wir etwas mehr von ren. Unser Film ist ein Beispiel dafür. Ich und wie sein Leben verlaufen ist. Rubins dunkler Seite aufnehmen, um her- glaube nicht, dass ein Film wie „Hurri- SPIEGEL: Tatsächlich gab es für Ihre Lein- vorzuheben, welche unglaubliche Ent- cane“ vor 30 Jahren hätte gedreht werden wandbiografie „Hurricane“ in den USA wicklung er durchmacht. Es gibt zum Bei- können. Interview: Susanne Weingarten

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