DIE GRÜNEN – 11. WP Fraktionssondersitzung: 15. 10. 1987

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15. Oktober 1987: Fraktionssondersitzung

AGG, B.II.1, 2138. Überschrift: »Ergebnisprotokoll der Sondersitzung der Fraktion DIE GRÜNEN am 15. 10. 1987«.

Anwesend:1 Abgeordnete: Beer, Brahmst-Rock, Briefs, Daniels, Ebermann, Flinner, Garbe, Häfner, Hüser, Kelly, Knabe, Kreuzeder, Lippelt, Mechtersheimer, Nickels, Oesterle-Schwerin, Rust, Saibold, Schilling, Schily, Schmidt-Bott, Schoppe, Sellin, Stratmann, Teubner, Trenz, Unruh, Vennegerts, Vollmer, Volmer, Weiss, Wilms-Kegel, Wollny

Auf Antrag eines Sechstel der Fraktion fand eine Sondersitzung zum Thema »Verhalten der Fraktion zu den Äußerungen von Jutta Ditfurth zum Thema Terrorismus« statt.2 Nach langer Diskussion gab es folgende Vorschläge für ein Verhalten der Fraktion: Christa Nickels u.a.: Die Fraktion sollte einen offenen Brief an Jutta Ditfurth schreiben. Christa Vennegerts u.a.: Die Fraktion sollte eine öffentliche Erklärung zu den Äußerungen von Jutta Ditfurth abgeben. Abstimmung: Für eine Erklärung stimmten 16 Mitglieder der Fraktion, für einen offenen Brief stimmten 10 Mitglieder der Fraktion. Es standen drei Anträge für eine Erklärung zur Verfügung: Vorschlag Wilhelm Knabe (Anlage 1) Vorschlag Gerald Häfner (Anlage 2) Vorschlag Peter Sellin (Anlage 3)3 Gerald Häfner zieht seinen Vorschlag zurück, Antrag Vorschlag Peter Sellin zum Leitantrag zu machen, Änderungen sollen eingearbeitet werden. Für den Vorschlag Peter Sellin als Leitantrag stimmen 15 Mitglieder der Fraktion, für den Vorschlag, Wilhelm Knabe als Leitantrag zu betrachten, stimmt 1 Mitglied der Fraktion, es gibt 7 Enthaltungen. Änderungsanträge zum Leitantrag Peter Sellin ergeben sich nicht, in der Schlußabstimmung stimmen 16 Mitglieder der Fraktion für eine Erklärung der Fraktion entsprechend dem Vorschlag Peter Sellin.4 Es gab 9 Gegenstimmen.5 Protokoll: Maria Heider

1 Informationen über anwesende Fraktionsmitarbeiter liegen – abgesehen von der Protokollführerin Heider – nicht vor. 2 Vgl. dazu Dok. 33, bes. Anlage B. 3 Vgl. hier die Anlagen A, B und C. 4 Vgl. hier Anlage C. 5 Zur Nachwirkung vgl. auch Anlage D.

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Anlage A

15. Oktober 1987: Vorschlag des Abgeordneten Wilhelm Knabe für eine Erklärung der Fraktion DIE GRÜNEN. AGG, B.II.1, 2138.

Die Bundestagsfraktion der GRÜNEN erklärt: DIE GRÜNEN haben sich immer gegen jede Art von Gewalt ausgesprochen. Jutta Ditfurths Erklärung zu »10 Jahre Stammheim« hat diesen Grundansatz grüner Politik nicht wiedergegeben. Ihre Wortwahl hat unterstellt, der Staat brauche nichts so sehnsüchtig wie den Terror. Das ist nicht richtig. DIE GRÜNEN im haben dagegen die Terrorismusdebatte in zwei Fraktions- sitzungen verantwortungsvoll und differenziert geführt. Wir müssen beides, den Terrorismus überwinden und den Staat davon abhalten, Gewalttäter zur Einschränkung von Grundrechten und zum Ausbau des Polizeiapparates zu nutzen. Wir betonen, daß wir jede Form von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung ablehnen.

Anlage B

15. Oktober 1987: Vorschlag des Abgeordneten Gerald Häfner für eine Erklärung der Fraktion DIE GRÜNEN. AGG, B.II.1, 2138.

Die Vorgänge der letzten Tage sind für die Fraktion DIE GRÜNEN IM BUNDESTAG Anlaß zu folgender Klarstellung: 1. DIE GRÜNEN haben sich prinzipiell für den Weg einer gewaltfreien Veränderung der Gesellschaft entschieden. 2. Die Fraktion DIE GRÜNEN IM BUNDESTAG unterstützt deshalb auch nachdrücklich die Bemühungen von und Christa Nickels, die Spirale der Gewalt zu beenden (und Erleichterungen mit dem langfristigen Ziel, eine Amnestie für die Gefangenen der RAF zu erreichen). 3. Auf diesem Hintergrund halten wir die Erklärung von Jutta Ditfurth für falsch. Die politischen Auffassungen, die in dieser Erklärung zum Ausdruck kommen, können wir an zahlreichen Punkten nicht teilen. 4. Für verlogen halten wir allerdings die Versuche, insbesondere der Unionsfraktionen, die GRÜNEN in schamloser Weise in die Nähe der politischen Gewaltanwendung zu rücken.

Anlage C

15. Oktober 1987: Vorschlag des Abgeordneten Peter Sellin für eine Erklärung der Fraktion DIE GRÜNEN. AGG, B.II.1, 2138.

Die Presseerklärung von Jutta Ditfurth zu »Zehn Jahre deutscher Herbst« vom 6. 10. 1987 ist politisch unhaltbar und falsch. Der Staatsbegriff in dieser Erklärung zeigt, daß

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Jutta Ditfurth kein positiv entwickelt formuliertes Staatsverständnis bisher hat. Der Verschwörungsgedanke in Jutta Ditfurths Erklärung: »Dieser Staat brauchte und braucht wieder fast nichts so sehnsüchtig wie den Terror, den Schrecken«, zeigt die gedanklich fatale Konstruktion eines den Terror überlegt und absichtlich planenden Staates. Diese Gedankenfolge verwechselt Opfer und Täter der kriminellen Straftaten von Terroristen, wie zum Beispiel Mord, Geiselnahme oder Bombenanschlag. Politisch unhaltbare Verhältnisse, die für strukturelle Gewalt gegen Menschen stehen, erfordern gewaltfreie Strategien für ihre Veränderung. Dieser politische Grundwert der Partei DIE GRÜNEN wird durch Jutta Ditfurths Erklärung unglaubwürdig und in Frage gestellt. Jutta Ditfurth würde sich als politisch lernfähig erweisen, wenn sie ihre Erklärung nicht interpretiert, sondern zurücknimmt.

Anlage D

1. November 1987: Vorlage der Abgeordneten Erika Trenz für die Fraktion DIE GRÜNEN. AGG, B.II.1, 2138.

VERSUCH, UNSERE POLITISCHE KULTUR WIEDERZUFINDEN, ODER EIN- FACH NUR NABELSCHAU Weil ich mir schon seit Tagen vorstelle, welches Debakel auf unserer Fraktionssitzung am 3. 11. 1987 zu erwarten ist, möchte ich im Voraus versuchen zu klären, welchen Mechanismen wir neben unseren inneren Widersprüchen erneut zu erliegen drohen. Ich gehöre zu den »Acht Abgeordneten«, die sich nicht von Jutta Ditfurth distanziert haben und sich aus diesem Grunde nach der letzten außerordentlichen Fraktionssitzung 6 am 16. 10. 1987 wiederum von der Distanzierung der anderen Fraktionsmitglieder distan- zierten (solche perversen Situationen sind bei uns entstanden). Während ich danach einige Tage im Saarland war, wurde ich dort mehrfach gefragt: »Gehörst Du zu den acht Abgeordneten oder gehörst Du zur Fraktionsmehrheit?« Nachdem mir das dann einige Male passiert war, aber niemand sich für meine inhalt- lichen Beweggründe interessierte, bin ich wütend geworden. Im Saarland – wie auch in Bonn – hatten [sie] sich einmal mehr lediglich für oder gegen Personen, aber nicht für oder gegen inhaltliche Positionen entschieden. Seit Monaten erlebe ich diese typischen Situationen in Bonn: Ausgrenzungen, Diffamierungen, persönlichste Angriffe und andere differenziertere Manöver bestimmen unseren Alltag. Ich habe mich nicht von Jutta [Ditfurth] distanziert, da ich ihre Aussage im wesent- lichen teile. Trotzdem ist das nur die halbe Wahrheit. In Jutta [Ditfurths] Position hätte ich mich gefragt, für wen und mit welchem Ziel ich eine solche Presseerklärung verfasse. Schreibe ich für diejenigen, die von den GRÜNEN nichts anderes erwarten, daß diese der »reinen« Lehre wegen radikale Positionen beziehen, hätte ich mich ähnlich geäußert. Ist es aber vorrangig mein Ziel in dieser Sache, durch eine Gegenöffentlichkeit die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen zu verbessern, die Amnestiefrage zu problematisieren und die seit Jahren praktizierten Methoden der jeweiligen

6 Die Sitzung fand am 15. Oktober 1987 statt.

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Regierungen, »Im Namen des Volkes, gegen den Terror« auf massivste Art und Weise demokratische Rechte einzuschränken, breitere Bevölkerungsteile zu sensibilisieren, hätte ich mich um differenziertere Aussagen bemüht. Und dieses Ziel hätte ich unterstützt. Noch eins, Jutta [Ditfurth] muß sich in diesem Zusammenhang fragen lassen, warum sie ihre Presseerklärung eine Woche vor der Fraktionssitzung zum Thema Stammheim abgegeben hat. Trotz alledem bin ich nicht Mitglied dieser Partei, um am allgemeinen Ausgrenzungs- karussell mitzuwirken. Ich habe es satt. Der innere Zustand der Partei wie auch ihre Wirkung nach außen ist meiner Meinung nach deshalb so desolat, weil wir alle (auch diejenigen, die schweigen) es nicht mehr verstehen, mit unseren schon seit der Parteigründung existenten inhaltlichen Widersprüchen auch inhaltlich fertig zu werden. Wenn wir uns auch selbst in zwei Flügel einteilen, uns selbst als Reala/o oder bezeichnen, uns in Schubladen stecken, aus denen frau/man nicht mehr herauskommt, und sich diese Art von dümmlicher Auseinandersetzung auf die formellen und informellen Vertreter dieser »Kasten« zuspitzt, führt das nicht zur Lösung der Widersprüche, sondern zum völligen Erstarren der Blöcke. Wie unglaubwürdig wirken wir damit bei den Menschen vor Ort, wenn wir einerseits zur Blockabschaffung und Blockfreiheit in der Friedenspolitik aufrufen und andererseits bei uns selbst nur Blockunfreiheit und völlig verkrustete Lager schaffen. Wie dieser Mechanismus im Einzelnen abläuft, hat das letzte Beispiel mit Jutta Ditfurth gezeigt: Wer von den Menschen in der Fraktion, die sich in der Sondersitzung für eine Distan- zierung von Jutta [Ditfurths] Äußerungen ausgesprochen haben, hat denn ein wirk- liches Interesse an einer inhaltlichen Diskussion in der Fraktion und ohne Fernseh- kameras über diese Äußerungen? Für diese Art von Auseinandersetzungen gibt es seit Februar diesen Jahres genügend Beispiele. Eines davon ist die Presseerklärung von , die vor einigen Wochen für Wirbel sorgte: »die GRÜNEN sind irreal, ihre NATO-Austrittsforderung ist nicht realisierbar...« Ganz abgesehen davon, daß diese Forderung noch vor einem Jahr von der Mehrheit der Bundesdelegierten beschlossen wurde, daß andererseits niemand für »Denkverbote« sein kann, tragen diese Art von Presseerklärungen dazu bei, daß eben keine Diskussion stattfindet. Solche Äußerungen sollten diskussionsanregende Denkanstöße sein, um durchaus auch Beschlüsse einer Bundesdelegiertenkonferenz auf allen Parteiebenen diskutieren zu können und nicht Auslöser für den automatisch ablaufenden Mechanismus sein: Die GRÜNEN, die hinter der NATO-Austrittsforderung stehen, fühlen sich angegriffen und blasen zum Abwehrkampf. Einige fühlen sich dann berufen, die Partei zu »retten« und distanzieren sich per Presse von Otto [Schily]. Die inhaltliche Diskussion, um die es uns allen gehen müßte, findet nicht statt, es interessiert weder Otto [Schily] noch die Befürworter der NATO-Austrittsforderung, was richtig oder falsch ist. Niemand kommt auf die Idee, Ausstiegsszenarien zu entwickeln, um die Diskussion auch in der Öffentlichkeit weiter voran zu treiben und selber sicherer in Diskussionen mit dem politischen Gegner (zum Beispiel Lafontaine) zu werden. Was bleibt – es wurde sich wieder einmal erfolgreich distanziert, die eine Seite ist zufrieden (für kurze Zeit), die andere sinnt auf den nächsten Coup.

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Diese Art von Auseinandersetzung kostet Kraft. Sie geht auf Kosten unserer politischen Programmatik, sie führt zur Ausgrenzung von Menschen, jeder Einzelne (auch wenn er sich aus dieser Auseinandersetzung heraushält) verbraucht unnötige Energien und die Politik für die Menschen, für die wir angetreten sind, kommt zu kurz. Diese Herangehensweise von uns allen bringt uns nicht nur keinen Schritt weiter, sie findet statt im geschichtslosen Raum, so als hätten wir alle keine Erfahrungen gemacht in der Vergangenheit, so als wären wir nicht von unserer Vergangenheit geprägt, hätten nichts daraus gelernt. Als Martin Walser auf der Stammheimfraktionssitzung sinngemäß sagte: Wir als Teil dieses Staates sind auch für die Taten der RAF und des Staates verantwortlich, auch wenn wir immer dagegen gewesen sind. Dieser Satz hätte uns eigentlich zum Nachdenken bringen müssen. Zu großen Teilen setzt sich unsere Fraktion aus einer Generation zusammen, die sich mit dem Faschismus in Deutschland, mit der Rolle ihrer Eltern dabei auseinandersetzen mußte. Bei vielen hat das dazu geführt, daß sie sich politisch engagiert haben. Viele von uns haben an ihre Eltern unbequeme Fragen gestellt und konnten nicht verstehen, warum sie geschwiegen haben. Zurück zum deutschen Herbst: Einige von uns haben damals mit dem Gedanken an eine Revolution in Deutschland geliebäugelt (natürlich eine Revolution der Arbeiterklasse). Als die RAF dann ihre »Sechs gegen sechzig Millionen Revolution« anfing, haben wir uns nach dem ersten Schrecken dann »ordentlich« politisch distanziert und letztendlich geschwiegen, aus lauter Angst zu Sympathisanten gemacht zu werden. Nur ganz wenige hatten noch den Mut, wie zum Beispiel Böll, in der Öffentlichkeit differenzierte Positionen zu äußern, wenige haben über sich selbst nachgedacht, die Mehrheit grenzte sich ab und viele von ihnen verließen die politische Landschaft für immer. Andere haben laut der Regierung Beifall geklatscht und dabei nicht einmal mitbekommen, daß in der Folge nicht nur die Gefangenen in Stammheim menschenunwürdig behandelt wurden, sondern ihre eigenen demokratischen Rechte massiv eingeschränkt wurden. Und heute – 10 Jahre Stammheim – und wir wiederholen uns nur, wir grenzen Menschen aus, seht ihr die Ähnlichkeit der Mechanismen? Wenn heute Töpfer in einem Radiointerview sagen kann, die Bundesregierung hat mit ihrer Umweltpolitik 400 000 Arbeitsplätze geschaffen, wird mir klar, wie sehr wir unsere Kraft brauchen, neue Themen zu problematisieren und herauszustellen, unsere Kraft brauchen, mit Lösungsansätzen Bewußtsein zu vermitteln, statt dessen vergeuden wir unsere Zeit und Kraft mit sinnlosen Angriffen und Gegenangriffen, anstatt Methoden zu entwickeln, wie wir wieder lernen können, verlorengegangene politische Kultur wiederzufinden. Gerade jetzt und heute, wo die Altparteien unsere Politik zu ihren Formeln machen, ist es mehr denn je notwendig auch in der inhaltlichen Aussage neue Wege zu finden, aber gemeinsam. Für dieses Ziel wäre es am befruchtendsten, wenn wir es schaffen, unsere gegensätzlichen Positionen wieder zu diskutieren und dabei zu lernen, einander noch überzeugen zu wollen. Denn wie sollen wir es denn jemals schaffen, das Bewußtsein der Mehrheit der Bevölkerung zu verändern, wenn wir uns gegenseitig gar nicht mehr überzeugen wollen.

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