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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN J. H. DARCHINGER J. spiegel-Empfang im Bonner „Haus der Geschichte“

Hausmitteilung Betr.: SPIEGEL-Jubiläum

er spiegel wurde 50, und er tat es kund: Donnerstag letzter Woche er- Dschien zu diesem Jubiläum ein Sonderheft, das nun auf dem Markt ist; tags zu- vor fand im Bonner „Haus der Geschichte“ ein spiegel-Empfang mit rund 800 Gä- sten statt. Bonner Minister waren gekommen und etliche Landesherren, Diploma- ten und Parlamentarier aller Parteien, Leitende aus den Medien und aus der Wirt- schaft. Überraschungsgast: Jelzin-Gegenspieler und General a. D.Alexander Lebed, der während seiner Deutschland-Tournee vorbeikam und sagte: „Bis jetzt kannte ich von Deutschland nur den spiegel, nun möchte ich den Rest sehen.“ Anspra- chen hielten Herausgeber sowie Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau – und Roman Herzog, das Staatsoberhaupt. Aus der Rede des Bundespräsidenten:

Meine Damen und Herren, vor allem aber: Lieber Herr Augstein!

Sie haben bemerkt, wie lange ich nach Ihrer Auffor- derung sitzen geblieben bin, denn der Applaus hat Ih- nen gegolten. Und ich wollte nicht gern im nächsten spiegel lesen, ich sei hier schon mit Applaus begrüßt worden. Aber das muß ich sagen, ein Stilbruch ist das schon. Wir haben uns über 50 Jahre daran gewöhnt, daß spiegel-Tag der Montag ist. Und dann findet die Jubi- läumsfeier an einem Mittwoch statt. Das öffnet Ihnen freilich die Pforten des Hauses der Geschichte. Denn Herzog was am Montag in der Zeitung steht, ist am Mittwoch tatsächlich oft schon Geschichte … Gott sei Dank ist es ja nur ein kurzer Fußweg von der Villa Hammerschmidt hier- her. Offenbar kurz genug, daß Sie ihn mir zugetraut haben, denn ich habe nicht ver- gessen, daß mir im Frühjahr 1994 attestiert hat: „Der korpulente Kan- didat neigt zum Watschelgang.“ Aber vorsichtshalber bin ich dann doch mit dem Wagen hier vorgefahren. Montags also – wie gesagt – erscheint der spiegel. Häu- fig hat er am Wochenende schon mit Vorabmeldungen neugierig gemacht. Die Fol- ge sind im politischen Bonn seit jeher montagmorgendliche Lähmungserscheinun- gen. Vor zehn erreicht man niemand von halbwegs bedeutender Statur, weil sich alle über Ihr Magazin beugen. Ich sage bewußt: niemand von halbwegs bedeutsamer Statur. Denn über diesem Politik-Mittelfeld wölbt sich ja die Schar derer, die über das eigentliche Statussymbol der politischen Klasse in unserer Republik verfügen. Sie sind Empfänger eines Vor- ab-Exemplars des spiegel. Für diese Ehre verzichten sie sogar auf jenes sonntäg- der spiegel 4/1997 3 Hausmitteilung liche Vergnügen, das sich aus einem Tag ohne jede Politik gewinnen ließe. Nun ist der wöchentlich frühe Besitz des spie- gel das eine, der regelmäßige Genuß das ande- re. Unter den Politikern gibt es dabei vor allem Verlierer. Sie unterteilen sich wiederum in zwei Gruppen. Erstens in die kleine Schar derer, die dem spiegel überhaupt eine Erwähnung wert sind. Der spontane Stolz darüber zerrinnt meist sofort bei der Lektüre des Zusammenhanges. Denn der spiegel ist bekanntlich, und ich sage das jetzt positiv gestimmt, und bitte hören Sie die ernsten Töne bei meinen fröhlichen Darlegungen, denn der spiegel ist ja bekanntlich nicht zim- perlich in seiner Kritik.Wer erwähnt wurde, muß für den Rest der Woche im Parlament, bei Abend- gesellschaften, ja sogar im Fahrstuhl tröstenden Spott, oder soll ich sagen, spöttischen Trost über M. DARCHINGER Herzog, Augstein, Aust, von Weizsäcker sich ergehen lassen. Dieses „Leiden durch Er- wähnung“ wird allerdings noch übertroffen durch den Schmerz der Nichterwähnten. Sie grämen sich, weil sie wieder einmal ihre Unwichtigkeit in der Nachrichten-Konjunktur erfahren. Und wer sich sieben Tage in der Woche immer wieder selbstquälerisch die Frage stellen muß: „Warum finde ich montags nicht statt?“, der nimmt auf die Dauer Schaden an seinem politischen Ego. Schmerzfrei bleiben eigentlich nur die Politiker, die den spiegel völlig ignorie- ren. Sie sind allerdings von besonderer Singularität. Manche haben sogar das Zeug zu höchsten Staatsämtern. So erleben wir seit Jahrzehnten eine aus Hamburg – und ich sage es jetzt wie- der ohne jede Ironie – mitgesteuerte Republik, deren Zeittakt nicht nur durch Ka-

M. ZUCHT / DER SPIEGEL lendermonate oder Parlamentswochen vorgegeben wird, sondern auch durch die Augstein, Nolte Redakteure des spiegel. Kein Wunder, daß diese von einer Aura umgeben sind, wie man sie sonst nur von Steuerfahndern kennt. Jeder sagt sich: Zu denen bloß freundlich sein, sich bei nichts erwi- schen lassen. Und das ist ja eine wichtige Funktion eines Blattes. Und manch einer sagt sich, zumindest ab und zu, durch einen dezenten Tip die Aufmerksamkeit dieser Leu- te auf andere lenken. Der spiegel, so sagt man zu Recht, ist eine Institution, weil er nicht nur beschreibt, sondern weil er auch aufdeckt. Er hat in viele Schmuddelecken dieser Republik geleuch- tet, und er hat uns Deutschen geholfen, nicht nur von De- mokratie zu reden, sondern Demokraten zu sein. Von ei- ner spiegel-Affäre zu sprechen, wie es tatsächlich gesche- hen ist – die Älteren unter Ihnen erinnern sich noch – , das war in der Sache Unfug, denn es ordnete das Scandalon falsch zu. Aber unter PR-Gesichtspunkten war es natürlich M. ZUCHT / DER SPIEGEL genial. Es war die Geburt eines Mythos, der über dreiein- Waigel, Wild, Preuß, Böhme halb Jahrzehnte nachwirkt. Auch bei denen, die nur noch wissen: Da muß doch mal was gewesen sein. Immer wieder hat der spiegel Übel aufgespürt und diese Übel ans Licht gezerrt. Die Republik ist durchaus dadurch nicht keimfrei geworden. Das wäre ja das Allerschönste.Aber manches hat doch wie eine Art Saunagang gewirkt, als gute Prophylaxe … Beim spiegel scheitert angeblich auch die aufwendigste Recherche nie am Geld. Das ist oft genug ein Segen. Nur, wenn es Informationen gegen Bares gibt, liegen Wohl und Wehe oft auch nahe beieinander. Das muß man sagen. Dann gerät man leicht, nicht automatisch, aber leicht in Tuchfühlung zur Korruption. Gelegentlich schafft man vielleicht auch einen Teil des Sumpfes selbst, den man eigentlich M. DARCHINGER Markwort, Seikel trockenlegen will. Rudolf Augstein hat vor einigen Tagen im Fernsehen erklärt: In

4 der spiegel 4/1997 einer Affäre mit einem zweifelhaften Informanten habe er kalte Füße bekommen. Und ich kann mir vorstellen, in welcher Lage man in so einem Fall ist. Vielleicht sollten wir in Zukunft, Herr Augstein, manchmal Ihren Füßen etwas mehr Beach- tung schenken … Nun will ich heute nicht zuviel über das Wirken und die Verantwortung der Pres- se sinnieren. Sie sind ohnehin auch ein Stück Wechselwirkung von Eitelkeiten zwi- schen Politik und Medien. Naiv wäre freilich, das sage ich auch, die Vorstellung, es gehe immer nur um die Sache. Solche hehre Absichten bestreitet die Presse, und nicht ganz zu Unrecht, oft den ersten drei Gewalten. Aber warum sollte es ihr als der, wie manche sagen, „vierten Macht“ im Staate anschließend bessergehen? Und ich finde auch, der persönliche Antrieb, der in der Tätigkeit der Presse steckt, ist etwas völlig Legitimes. Es geht im Leben keines Menschen immer nur um die Sa- che. Er will auch etwas bewirken. Er will auch selber gut herauskommen. Und die- M. DARCHINGER Kinkel, Schröder ses ist dem spiegel, das sage ich wiederum mit voller Überzeugung, in den 50 Jah- ren seiner Existenz in vollem Umfang geglückt. Und das ist legitim … Rein äußerlich hat sich der spiegel zum Jubiläum sogar behutsam, es ist bereits angesprochen worden, modernisiert bis hin zu der Erkenntnis, daß die Technik in- zwischen den Druck bunter Fotos erlaubt. Mir reicht schwarz-weiß. Ich will mich informieren, ich will mich freuen, ich will mich ärgern. Dazu brauche ich keine bun- ten Bilder. Aber es hat doch seinen Vorteil. Und vielleicht ist das ja auch der Aus- druck der Furcht, daß andere nicht nur jünger, sondern vielleicht sogar auch noch schöner sein könnten. Wie dem auch sei, ich will jetzt keine Namen nennen. Konkurrenz tut immer gut. Sie tut immer ein segensreiches Werk. Den Lesern und auch der Republik schadet es nicht, wenn man die Welt nicht nur im spiegel betrachten kann. Arm dran ist wiederum nur einmal die Politik, weil die jetzt gleich zwei Montags-Magazine wahrnehmen muß. Und ich weiß nicht, ob das am Montag bis 10.00 Uhr geleistet werden kann. Also davon bin ich nicht unterrichtet. Da haben es die Amerikaner leichter, deren zwei große Nachrichten-Magazine so dünn sind, daß man sie für die

Beilage in der richtigen Zeitung halten könnte.Wer hingegen in den spiegel schaut, M. ZUCHT / DER SPIEGEL der muß schon ein bißchen Zeit mitbringen. Lebed Aber der spiegel entschädigt dann eben auch – horribile dictu – durch Lesevergnügen … Ich gestehe freimütig, im spiegel lese ich manchmal – und um ganz ehrlich zu sein: sogar überwiegend – Ar- tikel zu Themen, die mich zunächst gar nicht interessieren. Und durchaus mit Gewinn. Denn genau der Bericht über unbekannte Fel- der unseres gesellschaftlichen Lebens erweitert ja nicht nur den Blick, sondern er verschafft auch besonderes Vergnügen. Was die Blickerweiterung betrifft, ist das ganz besonders wichtig, weil wir ja mit einer Medienlandschaft zu tun haben, die unterschiedliche Po- sitionen, aber immer zu den gleichen Themen bringt. Und man weiß von vornherein, was die süddeutsche und was die faz und was die welt und was die rundschau usw. dazu schreiben werden. Das ist wie auf dem Fußballplatz mit Mittelstürmer und Linksaußen und Rechtsaußen und Halblinks und Halbrechts. Andere Felder begehen, das hat lange Zeit vorwiegend der spie- gel getan. Und ich bekenne mich auch zu dem besonderen Vergnü- M. DARCHINGER gen, das ich daraus ziehe, wenn das auch etwas bekenntnishaft schei- Von Weizsäcker, Voscherau, Augstein nen mag. Ich oute mich Ihnen gegenüber als gelegentlicher Lust-Leser, den ich streng Die SPIEGEL- vom montäglichen Pflicht-Leser unterscheiden muß. Das werden Sie mir nachsehen. „Sonderausgabe Zuallererst aber ist der spiegel natürlich ein Blatt, das man um seines politischen 1947 – 1997“ Gehaltes willen liest. Ein kämpferisches Blatt, ein investigatives Blatt, notorisch un- (mit einem bequem. Es vermittelt auch nicht nur Wissen, wie jeder weiß, sondern es transpor- Reprint des tiert Meinungen unverblümt, immer ein Stück respektlos, aber stets mutig. Und so ersten SPIEGEL würzt er unseren politischen Alltag. Und Rudolf Augstein tut das mit seinen Kom- vom 4. Januar mentaren ganz besonders. Ob als König über seinem Redaktionsvolk oder mit ihm 1947) ist zum oder neben ihm. Das weiß ich allerdings nicht. Und es hat mich auch nicht zu in- Preis von 7,50 Mark an den teressieren. Entscheidend ist, daß uns eine Qualität bleibt, Orientierungswissen zu üblichen Verkaufsstellen im erhalten, das wir im Gestrüpp des immer Unübersichtlicheren brauchen. In- und Ausland erhältlich

der spiegel 4/1997 5 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Wer profitiert von Waigels Steuerreform?...... 22 spiegel-Gespräch mit US-Ökonom Ist die PDS verfassungsfeindlich? Seite 56 Arthur Laffer über Schwächen des Für pure „Geldverschwendung“ hält PDS-Chef die Pläne des Berliner Bonner Modells ...... 33 Innensenators Jörg Schönbohm (CDU), den Verfassungsschutz auf die SED-Nach- folgepartei anzusetzen. Im spiegel-Streitgespräch wirft Schönbohm dem PDS-Vor- Deutschland sitzenden vor, seine Partei rufe „offen zur Gewalt auf“. Bisky widerspricht ent- Panorama: Kohls „private“ Weihnachtsflüge; schieden: „Uns droht eine Sonderbehandlung, weil wir politisch anders denken.“ Atomlobby plant drei neue Reaktoren in Deutschland ...... 16 Umzug: Kohl bangt um den pünktlichen Einzug ins Berliner Kanzleramt ...... 36 Verkehr: Die Chancen für den Transrapid Bitterer Abschied von Mercedes Seite 84 schwinden...... 37 Scientology: Interview mit dem „Einen Rentner Helmut Werner Schriftsteller Jurek Becker über die Solidarität wird es noch nicht geben“, sagt von US-Prominenten mit der Sekte ...... 38 der scheidende Mercedes-Chef Parteienwerbung: Die SPD wechselt im Interview mit dem spiegel. die Agentur...... 40 Konkrete Pläne für einen neu- Sozialdemokraten: Wolfgang Thierses en Job hat Werner bislang nicht. Konflikte mit den eigenen Genossen ...... 46 Erst muß er einige Auswüchse Politisches Buch: Rudolf Augstein über die Aufzeichnungen des russischen Diplomaten des Machtkampfs bei Daimler Oleg Grinewski zur Annäherungspolitik verkraften, die „ärgerlich und während des Kalten Krieges ...... 48 unnötig“ waren. Werner über

Parteien: spiegel-Streitgespräch zwischen VARIO-PRESS seinen Rücktritt: „Das war Berlins Innensenator Jörg Schönbohm und Werner schon ein trüber Tag.“ PDS-Chef Lothar Bisky über den Einsatz des Verfassungsschutzes gegen die PDS...... 56 Krankenhäuser: Umstrittene Tests mit Psychopharmaka ...... 64 NS-Verbrechen: Das abenteuerliche Leben des SS-Offiziers Karl Hass ...... 70 Die vielen Leben des SS-Offiziers Hass Seite 70 Extremisten: Wie Rechtsradikale mit der DDR Propaganda machen...... 74 Der frühere SS-Sturmbannführer Karl Hass galt als tot, obwohl er in Filmen mitspielte Arbeitslose: Wirtschaftsprofessor Ullrich und für die Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Italien arbeitete. Geheimdienste deck- Heilemann über die Konkurrenz deutscher ten den Täter, der beim Geiselmord der SS in den Ardeatinischen Höhlen dabei war und ausländischer Arbeitskräfte...... 75 („Ich habe zwei Menschen erschossen“). Jetzt wartet Hass in Rom auf seinen Prozeß. Ausländer: Visumpflicht für türkische Kinder.. 76 Gegendarstellung ...... 77 Sexualverbrechen: Tötete der Mörder von Kim Kerkow weitere Kinder?...... 80

Wirtschaft Frauenhandel: „Wie Tiere im Käfig“ Seite 98 Trends: Schmiergeldaffäre bei VW; Der Der Kampf gegen Schlepper- Babcock-Chef muß gehen...... 83 banden, die Tausende von Frau- Konzerne: Interview mit Mercedes-Chef en nach Deutschland schleusen, Helmut Werner über seine Niederlage ...... 84 damit sie hier als Prostituierte Affären: Erste Verhaftungen im Skandal um arbeiten, ist nach Ansicht von die ehemalige Treuhand-Firma WBB ...... 86 Luftfahrt: Preiskampf im innerdeutschen Ermittlern längst verloren. Die Flugverkehr ...... 87 Arbeitsbedingungen in der Medien: Deutsche Produzenten verlassen Branche (Jahresumsatz: 70 Mil- Hollywood; Die merkwürdigen Werbe- liarden Mark) werden immer methoden der Autofirma Daewoo...... 88 brutaler. Doch nur selten ge- Manager: Warum der Boß von Boss die lingt es Polizei und Justiz, Men- Bekleidungsfirma verläßt...... 90 schenhändler und Zuhälter vor Rundfunkanstalten: Schwieriger Umbau Gericht zu bringen. Denn kaum des Groß-Senders WDR ...... 91 eines der Opfer sagt aus. Ein Computer: Der Apple-Sanierer holt sich Fahnder: „Die werden gehalten Hilfe vom Gründer ...... 92

C. SCHULZ / PAPARAZZI wie Tiere im Käfig und sind Werbung: Springer & Jacoby auf der Suche nach der alten Kreativität ...... 96 Polnische Prostituierte in Berlin starr vor Angst.“

Gesellschaft Frauenhandel: Die Milliardengeschäfte der Schlepperbanden...... 98 Die Leiden der jungen Bulgarin Anna...... 100 Reich-Ranickis Zorn auf Kulturmacher Seite 170 Interview mit dem polnischen Zuhälter Piotr Ruso¬ ...... 106 Zuschauerflucht, Mittelmaß und Politikerzank markieren Frankfurts umstrittene Kul- Tourismus: Weltweiter Wettstreit um turpolitik. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki bezichtigt die faz-Kollegen der Mit- immer gigantischere Hotelprojekte ...... 110 schuld an der „Katastrophe“, fordert für Oper und Theater auch in anderen Städten Ernährung: Dicke Kinder sollen in mehr Publikumsnähe – und geißelt den „ärgerlichen Unsinn“ der Regie-Willkür. Schweizer „Diät Clubs“ gesunden...... 111

8 der spiegel 4/1997 Stars: Martina Gedeck als „Die Kriminal- psychologin“ auf den Spuren des britischen TV-Helden „Fitz“ ...... 114

Ausland Panorama Ausland: Kriegsspiele des Pentagon; Südafrika will Syrien aufrüsten..... 115 Israel: Abzug aus Hebron ...... 116 Uri Avnery über den Wandel von Benjamin Netanjahu...... 118 Serbien: Interview mit Oppositionsführer Vuk Dra∆koviƒ über den Kampf gegen das Regime...... 120 Bulgarien: Aufruhr im Armenhaus Europas.. 122 Rußland: Interview mit dem Vizesekretär des Sicherheitsrats, Boris Beresowski, über seinen Einsatz in Tschetschenien ...... 125 EU-Kommission: Martin Bangemanns Irrungen und Wirrungen...... 126 Kambodscha: Die Todesmaschinerie der

REUTERS Roten Khmer...... 130 Abrückende Besatzungsmacht, Palästinenser Portugal: Schießwütige Polizei...... 140

Sport Tennis: spiegel-Gespräch mit Hebron – Pakt des Mißtrauens Seiten 116, 118 Martina Hingis über Pubertät, Steffi Graf und den Generationswechsel...... 144 Unter Druck der USA haben die Israelis Hebron weitgehend an die Palästinenser Eiskunstlauf: Mandy Wötzel und Ingo übergeben. Doch das Abkommen ist eher ein Pakt des Mißtrauens als ein Zeichen Steuer auf den Spuren von Kilius/Bäumler ... 147 der Aussöhnung. In Israels Premier Netanjahu sehen viele seiner Anhänger einen „Verräter“; der Publizist Uri Avnery hält es für möglich, daß der Regierungschef ein Kultur zweiter Menachem Begin wird, der 1979 Frieden mit Ägypten schloß. Szene: Wilhelm Genazinos neuer Prosaband; Eine Bonner Ausstellung präsentiert bizarre Särge aus Afrika ...... 151 Fernsehen: Das Geschäft mit täglichen Seifenopern boomt...... 154 Wie die Berliner Firma Grundy-Ufa den Das Phantom Seifenoper Seiten 154, 159 Markt der Fernseh-Soaps bedient...... 159 Kunst: Das Werk des russischen Symbolisten Schöne Menschen durchleben Michail Wrubel in Düsseldorf...... 162 schlichte Konflikte um Herz, Film: Helmut Dietls witzig-brillante Schmerz und Intrigen: Die täg- Sittenkomödie „Rossini“...... 164 lichen Soaps haben sich im Bestsellerautor Patrick Süskind über die Fernsehen zu Erfolgsprodukten Arbeit am „Rossini“-Drehbuch...... 166 entwickelt. 14 Millionen vor Bestseller...... 169 allem junge Zuschauer folgen Kritiker: Marcel Reich-Ranicki über die den kunterbunten Endlosge- Misere der Frankfurter Kulturpolitik ...... 170 schichten. TV-Dauerwürste wie Zeitgeschichte: Die ZDF-Erfolgsserie „Hitlers Helfer“ – viel Werbewirbel um „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ wenig Neues zur Nazi-Zeit...... 173 oder „Marienhof“ etablieren Fernseh-Vorausschau ...... 198 neue Generationsmuster: Die ARD Jugend lebt ihr eigenes Leben. Soap-Darsteller aus „Marienhof“ Wissenschaft + Technik Prisma: Malariamücken landen in Deutschland; US-Hungerhilfe für Mir-Kosmonauten ...... 175 Max-Planck-Gesellschaft: spiegel- Seite 176 Gespräch mit Präsident Hubert Markl über Deutsche Forschung auf Talfahrt das Elend der deutschen Forschung...... 176 Industrie und Universitäten schließen Automobile: Formel-1-Rennmotor für Forschungslabors, rund 100 000 Wis- die C-Klasse von Mercedes ...... 183 senschaftler und Ingenieure sind schon Medizin: Verbot für riskante arbeitslos. Mit einer verfehlten Spar- Frischzellen-Kuren ...... 186 politik – und „übertriebenen Ängsten, Umwelt: Elf Vorschläge zur Entsorgung der Ölplattform „Brent Spar“ ...... 188 Neues zu wagen“ – brächten sich die Tiere: Wildhunde – die erfolgreichsten Deutschen um ihre Zukunft, urteilt im Jäger Afrikas ...... 190 spiegel-Gespräch Hubert Markl, Präsi- dent der Max-Planck-Gesellschaft und Mitunterzeichner eines Manifests ge- Briefe ...... 10 gen den Forschungskahlschlag. „Wenn Impressum ...... 15, 192

M. WOLF / VISUM es so weitergeht, werden wir unseren Register...... 194 Genforschung am Max-Planck-Institut Lebensstandard nicht halten können.“ Personalien ...... 196 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 202

der spiegel 4/1997 9 Briefe zuschreiben, ohne die Beschuldigte selbst Stellung nehmen zu lassen. Frau Stein- „Verkannt – Verlacht – beck-Klose, deren Patient auch ich bin (ohne HIV-positiv zu sein), ist eine exzel- Vergöttert. Meine Hochachtung lente Ärztin, die mit Mitteln der Natur- vor Boris Becker.“ heilkunde gute Heilerfolge erzielt. Bonn Timo Jochens Werner Wiegand aus Besigheim (Bad.-Württ.) zum spiegel-Gespräch mit Boris Becker über das Karriereende, seine Heldenrolle und den Ärger mit den Steuerfahndern Frau Steinbeck-Klose sollte sowohl die Zu- lassung als Naturheilkundlerin als auch das Faxgerät entzogen und Herr Klose wegen Safer Sex unterlaufen. Unabhängig davon, Amtsmißbrauchs zur Verantwortung ge- Verfrühter Enthusiasmus welche Behandlungsmöglichkeiten sich aus zogen werden. Herr Rüttgers wiederum (Nr. 2/1997, Titel: Neue Aidsmedikamente neuen Therapien ergeben, muß das Gesetz sollte einen Eimer des Johanniskraut-Suds wecken Hoffnung auf Heilung; Bonner Lobbyarbeit des Handelns beim Individuum bleiben: zu trinken bekommen, damit die allgemein für umstrittenes Johanniskraut; der Der einzelne Mensch kann die Übertra- bekannte beruhigende, angst- und depres- Neuropathologe Mahlon Johnson über seinen Selbst- gung des HI-Virus durch präventive An- sionslösende Wirkung des Johanniskrauts versuch, das Virus zu besiegen) strengungen und damit gleichzeitig alle ihn davon abhält, sich voreilig als „Mund- Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie damit aus- Folgen der Verschlechterung der Lebens- schenk des Zeus“ zu betätigen. lösen? Der heterosexuelle Normalo liest qualität am effektivsten verhindern. Bad Oldesloe Andrea Richter am Kiosk das Titelblatt, aber niemals den Zürich Claudio Luigi Ferrante kompletten Artikel. Also fühlt er sich be- Aids-Hilfe Schweiz Dr. Mahlon Johnson hat durch seinen enor- stätigt, daß Aids sowieso kein Thema mehr men Ehrgeiz und Lebenswillen dazu bei- ist. Dieser Aufmacher ist absolut verant- In der Tat, die Stimmung hat sich geän- getragen, daß an ihm ein Wunder vollbracht wortungslos, das ist nicht nur meine Mei- dert. Weniger unter den Infizierten – die werden konnte. Und es ist ein Wunder, daß nung, sie wird von vielen Be- noch jedesmal letztlich ent- er unter solchen Umständen sich selber ana- treuern in der Aidsszene ge- täuscht wurden – als unter lysieren, sich selber untersuchen und testen teilt. Sie unterstützen damit den Virusfreien. Aus Panik konnte und darüber hinaus ein Buch über die allgemein herrschende wurde optimistische Aggres- sein Leid verfassen konnte. Das macht Mut Ignoranz, besonders von He- sion, ohne daß sich an der – Mut für manche Menschen, deren Pro- terosexuellen, die sich auf Notwendigkeit, mit dem Vi- bleme vergleichsweise nichtig dagegen sind. der sicheren Seite fühlen. Ich rus und den Krankheiten, die München Angela Riedel weiß, wovon ich rede, denn Aids mit sich bringt, sowohl ich sitze bei den Sterbenden, als Individuum wie auch als denen die Kombitherapie Gesellschaft zu leben und Sehr angerührt nicht zurück aufs Surfbrett umzugehen, etwas geändert (Nr. 49/1996, Rußland: Christian Neef über geholfen hat. hätte. Goldgräber und den Gulag in Fernost) Hamburg Rita Hammer Berlin Jochen Steinert Die Geschichte der in Stalins Gulag gefan- Leider kann nicht so dezi- der spiegel 2/1997 Sollte die Wissenschaft ir- gengehaltenen Lettin Nina Weischwilene, diert vom Ende des Leidens gendwann einmal diese erste deren Tochter im Lager Magadan zur Welt und Sterbens gesprochen werden, wie das Schlacht gegen das Virus gewonnen haben, kam und nun verzweifelt ihren Vater sucht Ihr Titel behauptet. Die neuen Thera- und es steht ein wirksamer Impfstoff zur – den deutschen Wehrmachtsangehörigen piemöglichkeiten stellen mit Sicherheit ei- Verfügung, dann beginnt der nächste Karl Rampelberg – hat mich sehr angerührt, nen bedeutenden Schritt in der Behand- Kampf. Dieser wird dann darum gehen zu da ich ihn gekannt habe: Er war 1959/60 lung von HIV und Aids dar, sind jedoch verhindern, daß aus der ehemaligen „Ho- mein Kompaniechef in einem Panzerba- keinesfalls als Wunder zu bezeichnen, die mosexuellenpest“ eine Armenseuche wird. taillon der Bundeswehr in Wetzlar. Ram- das Ende des Leidens bedeuten. Die Ne- Salzwedel (Sachsen-Anhalt) Martin Köppen pelberg stammte aus dem Gebiet Eupen- benwirkungen können erheblich ausfallen, Malmedy, das Hitler 1940 annektierte. Er die Gefahr von Resistenzen gegen die neu- Wer heute Entwarnung gibt, gräbt damit wurde Leutnant in der Wehrmacht und en Wirkstoffe besteht, und die Diskrimi- der Deutschen Aids-Stiftung, den Aids-Hil- dafür in Belgien zum Tode verurteilt. Nach nierungen in zahlreichen Lebensbereichen fen und anderen Beratungseinrichtungen der Kapitulation der Kurlandarmee tauch- (Arbeitsplatz, Sozialversicherungen,Woh- notwendige Spenden- und Fördergelder ab. te er in Lettland unter und spielte eine nen) existieren nach wie vor. Das Titelbild Köln Jörg Feierabend führende Rolle in der „Grünen Armee“ der suggeriert, daß die Mediziner das HI-Virus Schwulenverband in Deutschland baltischen Freiheitskämpfer. 1949 wurde er im Griff haben und das individuelle Han- von den Sowjets verhaftet, zum Tode ver- deln nicht mehr von Bedeutung ist. Damit Ich halte es für äußerst unfair, einer Ärz- urteilt, dann zu 25 Jahren Zwangsarbeit wird die zentrale Präventionsbotschaft des tin den Tod eines ihrer Patienten quasi zu- „begnadigt“ und nach Fernost verbannt. Moskau lieferte ihn auf belgischen Wunsch 1955 über Deutschland aus. Nach einem Vor 50 Jahren der spiegel vom 18. Januar 1947 Selbstmordversuch in einer Grenzstation bei Aachen erhielt Rampelberg politisches Kundgebung der SPD in München Auch von rechtsstehenden Bayern Asyl. Dieser Vorgang führte später zu einer stürmischer Beifall für . John Hynd, für die Durch- Gesetzesnovellierung im , wo- setzung der Entschlüsse der britischen Regierung zuständiger nach sich alle ehemaligen Wehrmachtsan- Minister, in Hannover Stärkere Freigabe von Wohnraum verlangt. gehörigen bei ihrer Rückkehr deutschen Krach bei dem Berliner FDGB gegen SED-Soldaten an der Behörden vorzustellen hatten. 1956 kam Spitze. Bremen wird eigenständiges Land unter amerikanischer Rampelberg zur Bundeswehr, er soll in den Verwaltung 100000 Wesermünder, früheres Bremerhaven, kommen siebziger Jahren verstorben sein. hinzu. Max Schmeling für unbelastet erklärt Comeback ungewiß. Geltow (Brandenburg) Werner von Scheven Generalleutnant a.D.

10 der spiegel 4/1997 strahlung und Größe wie er, was durch die- Schmerz und Schaden verursacht ses spiegel-Interview wieder einmal be- (Nr. 2/1997, Prozesse: Neuer Versuch der Justiz, legt wird. Durch ihn haben viele viel Geld Markus Wolf hinter Gitter zu bringen) verdient, und er allemal zu Recht. Heiligenstadt (Thüringen) Christina Funke Selbstverständlich weiß Wolf, daß „Frei- heitsberaubung,Verschleppung, Nötigung, Zu dem Ausspruch von Boris Becker („Ich Körperverletzung“ nicht zum Repertoire muß mein eigenes Kreuz tragen“) würde von Nachrichtendiensten in Rechtsstaaten unsere Tochter sagen: „Eine Runde Mitleid wie der Bundesrepublik gehören, und nie- mit Boris.“ mand – außer Wolf – behauptet dies. Ein Wasserburg am Bodensee Klaus Strodel durchsichtiges Manöver: Von der versuch- ten Einebnung des Unrechtsgefälles zwi- Es war für mich sehr frustrierend und be- schen den DDR-Geheimdiensten und den eindruckend zugleich, aus der Sicht von Nachrichtendiensten der Bundesrepublik Boris Becker einen Spiegel unserer Gesell- verspricht er sich Prozeßvorteile. schaft vor Augen geführt zu bekommen. Köln Dr. Peter Frisch Ich habe mich geschämt über die Verhal- Bundesamt für Verfassungsschutz tensweise des Finanzamtes in München. Leben wir noch in einer freiheitlichen De- Die Bevölkerung der DDR hat 1989 aner- mokratie, oder reißen da schon Polizei- kannt, daß der Rückzug der alten Macht- staat-Methoden ein? Natürlich muß Kon- haber geordnet und unblutig verlief, und trolle sein, jeder vernünftige Mensch wird akzeptiert, wenn die Genossen bei politi- das einsehen, aber muß das auf diese Art scher Enthaltsamkeit eine bescheidene wie im Falle Becker geschehen? Wo bleibt Rente genießen.Wenn aber die altbundes- die Glaubwürdigkeit unserer Behörden, deutsche Justiz als außenstehende, in- wenn sie derart mit Bürgern umspringen. kompetente Instanz in juristischer Selbst- Karlsruhe Willi Kaiser befriedigung einen Mammutprozeß gegen Wolf veranstaltet, der wie das Hornberger Die Deutschen verdanken Boris viel. Bo- Schießen ausgehen wird, dann fühlt sich ris ist dabei auch nicht schlecht wegge- der Ostdeutsche verhöhnt. kommen. Jetzt sollen die Deutschen die Leipzig Klaus Kreyßig Kuh, die sie melken wollen, nicht schlach- ten, sagt er, sonst haut er ab! Frage: Wer Sollte es den „Siegern der deutschen Ein- melkt hier wen? heit“ tatsächlich um „Rache und Vergel- Ennepetal Hans-Wilhelm Kundrun

Tennisprofi Becker (in Hannover 1996): Wer melkt hier wen? tung“ gehen, wie Wolf glaubt, so impli- Ehre, wem Ehre gebührt ziert er damit auch, daß sein Apparat genü- (Nr. 2/1997, Bücher: Die kuriosesten gend Schmerz und Schaden verursacht hat, Begebenheiten des Jahres 1996) um dieses Bedürfnis zu wecken. Basel (Schweiz) Gabor von Zoltan Ehre, wem Ehre gebührt. Das ist in diesem Fall nicht der Nachahmer Paul Sussman, sondern das verdienstvolle Satireblatt Eine Runde Mitleid private eye, dessen Kolumne „Funny Old (Nr. 2/1997, Tennis: spiegel-Gespräch mit Boris World“ schon seit langem Fundstücke aus Becker über das Karriereende, seine der Presse aller Kontinente zur Erbauung Heldenrolle und den Ärger mit den Steuerfahndern) und Belehrung der Leser bereithält. Darun- ter auch die Geschichte mit der Pappröhre Es ist ganz einfach: Ohne Boris Becker im After, der Wüstenspringmaus und dem wird Tennis in Deutschland nicht mehr die durch ein Streichholz entzündeten Furz. Bedeutung haben. Kein Sportler hat Aus- Essen Thomas C. Knodt

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Werbeseite Briefe REUTERS Fehlgeleiteter Elefant, Nashorn: Analogie zum Menschen

ders reagieren als mit Aggressivität und Zer- Schwerste Verlusttraumata störungswut? Diese Analogie zum Men- (Nr. 2/1997, Tiere: Rätselhafter schen sollte durchaus in Erwägung gezogen Nashornmord durch Elefanten) werden. Schönau (Bayern) Henner J. Schülein Daß Elefanten eine hochentwickelte Sozi- alstruktur haben, ist seit Jahrzehnten be- kannt. Unglaublich, daß die für die Reser- Klappern, zirpen und knarren vate Verantwortlichen nicht die Konse- (Nr. 2/1997, Automobile: Pannen plagen Opel-Fahrer) quenzen zogen und weiterhin einzelne ältere Tiere herausschossen und auf diese Unser Astra Caravan stammt aus einer der Weise Familienverbände zerstörten und bei ersten Serien (Baujahr 1992). Im Stich ge- den Hinterbliebenen für schwerste Verlust- lassen hat er uns bisher noch nie, und auch traumata sorgten. Der Internationale Tier- vom Rost ist zumindest von außen keine schutz-Fonds (IFAW) hat gehandelt und in Spur zu entdecken, obwohl das Auto nur den letzten Jahren zur Vermeidung von minimal gepflegt wird. Der Vorgänger mei- „Culling“-Aktionen in Uganda und Süd- nes jetzigen Corsa (Corsa Sport 1.4 Si) ret- afrika mehrere Umsiedlungsaktionen aus- tete mir im vergangenen Jahr bei einem schließlich ganzer, intakter Familienver- unverschuldeten Frontalzusammenstoß – bände finanziert und organisiert. Das ab- dank Airbag und Gurtstrammern – das Le- norme Verhalten der Elefanten beruht aber ben. In einem Punkt sind die Klagen über nicht nur auf Culling. Die Elefanten stehen Opel-Produkte allerdings berechtigt: Die auch unter Streß, weil die Parks teilweise zu Autos klappern, zirpen und knarren mehr klein und zu stark besucht sind. Teilweise oder weniger von Anfang an, vor allem die stimmt auch die Struktur nicht. So weist Schiebedächer, die Armaturenbretter und das Pilanesberg-Reservat eine überpropor- die Kofferraumabdeckungen, gleichgültig, tional hohe Nashorn-Dichte auf. Vor weni- welchen Typ man nimmt. Deutlich besser gen Monaten stellte IFAW der südafrikani- in der Qualität ist aber mein jüngster Cor- schen Nationalpark-Behörde rund 4 Millio- sa, der aus dem Werk Eisenach kommt. nen Mark zur Verfügung. Mit dem Geld sol- Kronberg im Taunus Claus Harbers len im Rahmen eines Fünfjahresprojekts Lebensräume für Elefanten im Addo-, Krü- ger- und Marakele-Nationalpark gesichert oder durch Landzukauf erweitert werden. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe Im Gegenzug hat sich die Behörde ver- für Panorama, Sozialdemokraten, Krankenhäuser, NS- pflichtet, keine Elefanten mehr zu töten. Verbrechen, Extremisten, Sexualverbrechen, Frauenhan- Hamburg Ulrich Schnapauff del: Ulrich Schwarz; für Titelgeschichte, Verkehr, Trends, Internationaler Tierschutz-Fonds (IFAW) Konzerne, Affären, Luftfahrt, Medien, Manager, Rund- funkanstalten, Computer, Werbung: Armin Mahler; für Umzug, Parteienwerbung, Parteien,Arbeitslose,Ausländer: Da Elefanten sensible und intelligente Tie- Dr. Martin Doerry; für Scientology,Tourismus,Ernährung, Stars, Szene, Kunst, Film, Bestseller, Kritiker, Zeitge- re mit einem enormen Gedächtnis sind, schichte, Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Pan- könnte die Gewalttätigkeit der jungen Bul- orama Ausland, Israel, Serbien, Rußland, EU-Kommission, len sehr wohl aus dem unverarbeiteten Portugal: Dr. Romain Leick; für Tennis, Eiskunstlauf: Alfred Weinzierl; für Prisma, Max-Planck-Gesellschaft, Schockerlebnis der Tötung ihrer Herden re- Automobile, Medizin, Umwelt, Tiere: Johann Grolle; für sultieren.Wie sollte ein junger Elefant, dem namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, man aus ihm unbekannten Gründen den Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Familienverband zusammengeschossen hat, (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) der für ihn eine Existenzbedingung ist, an-

14 der spiegel 4/1997 Fadenscheinige Begründung (Nr. 2/1997, Panorama: Sozialpolitik – Keine Kuren für Mütter)

Es ist ein Skandal, daß der Gesundheitsre- form gerade die Menschen unserer Ge- sellschaft zum Opfer fallen, die sowieso keine Lobby in unserem Staat haben. Wenn den Müttern – oft alleinerziehend mit mehreren Kindern – die Möglichkeit genommen wird, aus dem Alltagsstreß her- auszukommen und Vorsorgekuren oder Wiederherstellungskuren in Anspruch zu nehmen, werden wir in der heranwach- senden Generation irreparable gesund- heitliche Schäden bei Müttern und in der Folge auch bei den Kindern vorfinden. Ich protestiere schärfstens gegen die Politik der Krankenkassen, zumal die Kosten für eine Mutter-Kind-Kur vergleichsweise ge- ring sind. Lüdenscheid Hartwig Putz

Es hat den Anschein, als ob die Verant- wortlichen in der Politik völlig ihre Ver- J. PEEL J. Kinderreiche Familie Irreparable Schäden bei Müttern antwortung für die sogenannten Schwa- chen der Gesellschaft, die Kinder und Müt- ter, aus den Augen verloren hätten. Leider verhalten sich die Verantwortlichen der So- zialverbände und Krankenkassen nicht an- ders, sondern bringen die gesamte Mutter- Kind-Kur-Angelegenheit noch zusätzlich in Existenzverlegenheiten, indem sie unter Wahrung ihrer Eigeninteressen und ihrer Lobby zum Beispiel – wie geschehen – ei- nem Kurhaus eines freien Trägers auf der Nordseeinsel Borkum, welches seit 12 Jah- ren mit Erfolg Mutter-Kind-Kuren durch- führt, mit einer fadenscheinigen Begrün- dung die gesamtvertragliche Anerkennung versagen. Und das trifft ein Haus, das für 1997 aufgrund der bisher möglichen Ein- zelverträge mit den Krankenkassen voll ausgebucht ist. Mit dieser Nichtanerken- nung werden nicht nur Hunderte von Müt- tern mit ihren Kindern getroffen, sondern auch viele Arbeitsplätze gefährdet. Siegen Jürgen und Else Schumann

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen.

Eine Teilauflage dieser spiegel-Ausgabe enthält eine Beilage des Weltbild Verlages, Augsburg.

der spiegel 4/1997 Panorama

KANZLERFLÜGE Meilen und mehr as Bonner Kanzleramt verweigert die Auskunft darüber, Dwer für vorweihnachtliche Helikopter-Betriebsausflüge Helmut Kohls und seiner Entourage aufkommt. Der kostspieli- ge Flug des Kanzlers mit mehreren Ministern und engen Vertrauten wie Geheimdienstkoordinator und Kohls Büroleiterin Juliane Weber nach Franken am 20. De- zember vorigen Jahres mit zwei Hubschraubern des Bundes- grenzschutzes werde, erklärte Kohl-Sprecher Andreas Frit- zenkötter dem spiegel, „privat“ und „nicht aus der Staatskas- se“ bezahlt. Das gelte auch für den Bus, der die Kanzlerrunde anschließend zum Diner in ein Nobelrestaurant in der Nähe Frankfurts transportierte. Wer sich hinter „privat“ verbirgt, läßt Mitflieger Fritzenkötter im dunkeln. Ein noch größeres Rätsel ist die Finanzierung des seit Kohls Amtsantritt zur Tradition gewordenen Weihnachtsfluges zur Be- nediktinerabtei Münsterschwarzach bei Kitzingen, zum Beispiel im Jahr 1995. Fritzenkötter: „Wir sind nicht geneigt, die Hub- schrauber-Flüge des Kanzlers in den letzten 14 Jahren aufzudrö- seln.“ Nötig wäre es, bleibt so doch offen, ob auch diese Be- triebsausflüge „privat“ oder aus der Staatskasse bezahlt wurden. Am 19. Dezember 1995 flog der BGS laut amtlichen Listen mit „Fluggast BK Kohl“ und weiteren elf Personen vom Kanzleramt nach Kitzingen. Flugdauer: 1:30 Stunden. Kosten: 10544,40 Mark. Dazu kamen 1757,40 Mark für den 15minütigen Anflug des Heli- kopters von seinem Standort Bonn-Hangelar bis zur Regie- rungszentrale. Eine zweite Maschine für ebenfalls zwölf Passagiere forderte da- mals Kanzleramtsminister an. Die Kosten für den Bohl-Hubschrauber: 22 260,40 Mark. Gesamte Flugkosten des Betriebsausflugs: 35733,80 Mark. In der BGS-Statistik wird als „Bedarfsträger“ das „Bundeskanzleramt“ ausgewiesen.

Bereits früher war Kohl einmal wegen angeblich privater Lei- L. CHAPERON / LASA stungen in die Bredouille geraten. Im Jahre 1987 hatte der CDU- Kohl beim Verlassen eines Grenzschutz-Hubschraubers Vorsitzende wegen eines heftigen CDU-internen Streits um die Steuerreform allen Parteimitgliedern einen persönlichen Brief konnte ich glücklicherweise in einer anderen Weise zusammen- geschickt, mit dem Absender Bundeskanzleramt. Für die Porto- bringen.“ kosten von mehr als 700000 Mark kamen seinerzeit offiziell we- Im Jahr 1995 deckte der spiegel die Herkunft des Geldes auf: Es der Partei noch Kanzleramt auf. kam aus einem Vielzwecktitel „Sonstige Einnahmen“, den Kohl verwies schließlich auf eine unbekannte dritte Quelle: der Frankfurter CDU-Wirtschaftsprüfer Horst Weyrauch führte „Das Geld ist ja nicht aus dem normalen Etat gekommen. Das (spiegel 24/1995).

ATOM fahren mit geringer Aussagekraft für die Genehmigungsfähigkeit des Meilers an Genehmigung auf Vorrat einem bestimmten Ort. Außerdem wollen die Bayern den Antrag erst dann stellen, ach Plänen von Umweltministerin An- wenn RWE und PreussenElektra in zwei Ngela Merkel (CDU) sollen in den näch- anderen Bundesländern ebenso handeln. sten drei Jahren Genehmigungsverfahren Die beiden anderen Genehmigungen sollen für neue Atom-Kraftwerke anlaufen. Bei in Baden-Württemberg und Mecklenburg- einem Treffen mit den Vorstandsvorsit- Vorpommern beantragt werden. Die zenden der Energieversorgungsunterneh- Prozedur dient vor allem einem Zweck: men in der vorigen Woche versprach der Sie soll glaubhaft machen, daß in Bayern Chef des Bayernwerks, Otto Majewski, nicht heimlich doch schon eine konkrete nach den bayerischen Landtagswahlen Gemeinde als Standort ausgeguckt ist 1998 das Genehmigungsverfahren zum Bau und Proteste der Atomgegner ins Leere eines 1500-Megawatt-Atommeilers einzu- laufen lassen. leiten. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Reaktoren Beantragt wird die Genehmigung für die je gebaut werden, ist dennoch gering. Nach deutsch-französische Gemeinschaftsent- wie vor gilt, daß eine Bauentscheidung wicklung eines neuartigen, höheren Si- nicht vor dem Jahr 2010 fällt. Und nach cherheitsanforderungen genügenden Re- wie vor haben PreussenElektra und RWE

aktortyps. Es handelt sich jedoch nur um AP Zweifel an der Wirtschaftlichkeit eines ein abstraktes, standortungebundenes Ver- Merkel Neubaus.

16 der spiegel 4/1997 Deutschland

KABINETT sei. erteilte daraufhin seinem Am Rande Kanzleramtsminister Friedrich Bohl die Lebed meiden Weisung, allen Bundesministern Treffen mit dem jetzigen Widersacher des Kohl-Freun- uf Geheiß des Kanzlers wurde das ge- des Jelzin zu untersagen. Verteidigungs- Pinneberger Modell Asamte Bundeskabinett vorige Woche minister Volker Rühe hielt sich zwar an mit einer Kontaktsperre belegt. Außenmi- die Order, erfüllte Lebed aber eine per- s gibt in der neuen Bundesrepublik nister hatte angefragt, wie sönliche Bitte: Der Verteidigungsminister Enicht nur ein „Unrechtsbereini- Alexander Lebed, dem ehemaligen Berater erlaubte dem ehemaligen General den gungsgesetz“, mit dessen Hilfe die Op- des russischen Präsidenten Boris Jelzin, bei Besuch einer Bundeswehr-Kaserne in fer des SED-Terrors entschädigt wer- seinem Deutschland-Besuch zu begegnen München. den, sondern auch ein „Kreislaufwirt- schafts- und Abfallgesetz“, das die Ent- sorgung von Müll regelt. Auf eine me- HAUPTSTADT Bundesbauministers Klaus Töpfer. Statt taphysische Weise hängt das eine mit dessen seien die Ministerialen dazu über- dem anderen zusammen, auch wenn Aufgeblähter Apparat gegangen, moniert der Rechnungshof, die Frage „Wohin mit dem Müll?“ in „mehr oder weniger offen zusätzliche der öffentlichen Debatte derzeit be- er Bundesrechnungshof warnt vor Ver- Personalforderungen“ zu stellen. So habe vorzugt behandelt wird. Und da hat Dzögerungen beim Regierungsumzug ein Bonner Ministerium für seinen Ber- ausgerechnet die Kreisverwaltung in nach Berlin. In einem elfseitigen Zwi- liner Dienstsitz bereits 62 neue Stellen Pinneberg die Nase vorn, wo das Ab- schenbericht mahnten die Prüfer jetzt, den gefordert. fallgesetz noch konsequenter prakti- Umzug sparsamer, koordiniert und „ohne Völlig im argen liegen nach den Erkennt- ziert wird als andere norddeutsche weiteren Verzug“ zu organisieren. Sonst nissen der Prüfer des Bundesrechnungs- Bräuche. sei eine „Beeinträchtigung des vorgesehe- hofes auch die zeitlichen und personellen Müllkontrolleure schreiten Mülltonnen nen Umzugszeitraums nach Berlin – Mitte Planungen für den Berlin-Umzug der ab und überprüfen, ob korrekt getrennt bis Ende 1999 – nicht auszuschließen“. Ministerien. Nur Verteidigungs- und wurde, ob nicht zum Beispiel Papier in Im Februar vergangenen Jahres hatte Finanzministerium haben sich bislang der Biotonne gelandet ist oder ein wel- nämlich das Kabinett beschlossen, vor Termine gesetzt. ker Salatkopf im Restmüllbehälter. dem Umzug die Orga- Werden die Fahnder fündig, markieren nisationsstruktur aller sie die Tonne mit einer gelben Karte. Ministerien zu überprü- Wiederholungstäter müssen mit Geld- fen, um Personal einzu- bußen bis zu 10000 Mark rechnen. sparen. So weit, so gut. Nur daß die gelbe Kar- Doch mit Ausnahme des te bei einigen ungute Assoziationen Finanzministeriums, so hervorruft. Von „Schnüffelei“ ist die stellten die Prüfer fest, Rede, manche Bürger fühlen sich an hat nicht ein Ressort „Gestapo-Methoden“ erinnert. die verlangte „grundle- Doch das ist zu kurz gedacht. Wie üb- gende Überprüfung“ ab- lich bei der Einführung neuer Regeln geschlossen. Acht Mini- werden die positiven Aspekte nicht sterien haben die Auffor- genügend berücksichtigt. derung sogar komplett Zum einen werden vermutlich Ar- ignoriert. Und kein Res- beitsplätze geschaffen, Menschen be- sort hat seine Spitze kri- schäftigt, die sonst nur die Arbeitslo- tisch auf Einsparungen senstatistik belasten würden. Zum an- hin durchleuchtet – nicht deren wird ein Potential sinnvoll ein-

einmal das Haus des VISION-PHOTOS gesetzt, das – ließe man es ungenutzt – Umzugsbeauftragten und Töpfer (am Potsdamer Platz) auf die Dauer größeren Schaden an- richten könnte. Manchen Menschen ist es eben ein dringendes Bedürfnis, Ge- BEAMTE ter von Länder-Ministerpräsidenten, Land- setzen den nötigen Respekt zu ver- räten und Oberbürgermeistern. schaffen. Im Dritten Reich und in der Rache für Spar-Appelle Diese Koppelung ist nicht nur verfas- DDR gab es dazu viele großartige Ge- sungsrechtlich bedenklich, sie verärgert legenheiten, in der Bundesrepublik ie deutschen Beamten, Richter und auch viele Abgeordnete: Als Bonner Par- mußten sich depressive Rentner damit DSoldaten müssen weiter auf höhere lamentarier im vorigen Jahr ihre Diäten zufriedengeben, Falschparker bei der Gehälter warten.Vergangene Woche schei- anheben wollten, hatten sie sich hämische Polizei anzuschwärzen und die Autos terten im Bundestag erneut die Versuche, Spar-Appelle von Landespolitikern an- abschleppen zu lassen. Jüngere, noch einen Kompromiß für das erforderliche Ge- hören müssen, die jetzt Begünstigte des im Berufsleben stehende Menschen da- setz und die geplante Anhebung der Be- umstrittenen Gesetzes wären. gegen hatten es schwer, Arbeit und züge um 1,3 Prozent zu finden. Während die SPD auf Druck ihrer Abge- Sinnerfüllung zu verbinden. Die Fraktionsführungen von CDU/CSU, ordneten inzwischen für besserverdienende Das Pinneberger Modell wird Schule FDP und SPD hatten im vorigen Dezember Beamte die Anhebung auf rund 140 Mark machen. Schon weil es neue Formen einen vom SPD-Parlamentarier Peter Con- begrenzen will, pocht CDU/CSU-Frak- des Widerstands ermöglicht. Auf die radi angeführten Aufstand einfacher Ab- tionschef Wolfgang Schäuble auf unverän- Frage „Was hast du damals gemacht, geordneter ausgelöst, als sie das Gesetz derte Verabschiedung des alten Entwurfs. Opa?“ wird in 50 Jahren mancher cou- ohne Aussprache im Plenum durchpauken „Wenn ihr das macht“, warnte SPD-Mann ragierte Reihenhausbesitzer antworten wollten. Denn das Besoldungsgesetz des Conradi die Unionspolitiker im Innenaus- können: „Ich habe einen Joghurt-Be- Bundes regelt automatisch auch die Gehäl- schuß, „fahrt ihr noch mal an die Wand.“ cher in der Biotonne entsorgt.“

der spiegel 4/1997 17 Panorama

RAUMFAHRT Rüttgers fordert Umdenken er Bundesforschungsminister legt sich mit der DRaumfahrtlobby an. Jürgen Rüttgers (CDU) will die Raumfahrt nicht länger als „Selbstzweck“ fördern und verlangt eine mehr „kommerzielle Ausrichtung“. Ein neues Strategiepapier, im Rüttgers-Ressort noch unter Verschluß, geht hart mit heimischen Firmen wie der Daimler-Benz Aerospace ins Gericht. Seit Mitte der sechziger Jahre hätten sie zwar rund 30 Milliarden Mark kassiert.Viel mehr als „innovative Prototypen und Einzelsysteme“ seien aber nicht entstanden. Anwendung und weltweite Vermarktung von Raumfahrttechnolo- gie habe die deutsche Industrie verschlafen: „Das eigentliche Geschäft mit Folgeprodukten“ – ge- meint sind etwa Satellitenkommunikation, Bil- der aus dem Weltraum und Navigationsgeräte mit Hilfe von Satelliten – „haben andere ge- macht.“

Nun fordert Rüttgers einen „Umbruch im Den- IMO ken“: Ehe Staatsgeld fließe, müßten Firmen Rüttgers, DLR-Chef Kröll (mit Modell eines Raumtransporters) und Einrichtungen wie die Deutsche Forschungs- anstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) erst schlüssige Konzepte station zur Verfügung stellen, aber nicht für „bemannte Trans- für „Anwendung und Nutzung“ liefern – samt finanzieller portsysteme“ oder gar „bemannte Explorationsmissionen“ zu „Eigenbeteiligung“ an den Projekten. anderen Planeten. Begründung: Es sei „für Deutschland weder Besonders skeptisch sieht Rüttgers die bemannte Raumfahrt. vordringlich noch zeitkritisch“ zu klären, ob es anderswo im Uni- Zwar will er weiter Geld für die geplante internationale Raum- versum „intelligentes Leben“ gebe.

Interview GRÜNE BSE eben keine einzige in Sachen Rinderwahn- sinn. Der britische Chefveterinär Keith Mel- Fundis jagen „Bedenken ignoriert“ drum hatte sich jede Kontrolle verbeten. SPIEGEL: Und die derzeitige Kommisson? Hat ie Fraktion der nordrhein-westfäli- Christdemokrat Reimer Böge, 45, Vorsit- sie den Verbraucherschutz hochgehalten? Dschen Grünen steht vor der Spaltung. zender im BSE-Untersuchungsausschuß BÖGE: Nein, auch die Aufhebung des Ex- Anfang dieses Jahres hatten vier grüne des Europaparlaments, über den Umgang portverbots für Gelatine war rein politisch Fundis, die gleichzeitig Mitglieder der mit verseuchtem Fleisch motiviert. Nur weil man den Briten entge- Landtagsfraktion sind, eine Bilanz der rot- genkommen wollte – sie drohten mit ei- grünen Regierungsarbeit gezogen und in- SPIEGEL: Hat die Europäische Kommission nem Boykott in den europäischen Ent- direkt zur Beendigung der Koalition auf- genug getan, um die Ausbreitung von BSE scheidungsgremien –, wurden die Beden- gerufen. zu verhindern? ken der Wissenschaftler ignoriert. Jetzt schlagen die Realos zurück: In BÖGE: Erst mal tragen die Briten die Haupt- SPIEGEL: Kommen denn jetzt auf die Kom- einem internen Papier aus der Partei- schuld an der Seuche. Sie haben bereits mission Schadensersatzforderungen zu, spitze heißt es, die Gegner der Zusam- 1990 im Ministerrat getrof- weil sie in ihrer Kontroll- menarbeit mit der SPD sollten aus ihrer fene Beschlüsse zur Ein- pflicht versagt hat? Haltung die Konsequenzen ziehen – eine grenzung dieser gefährli- BÖGE: Das ist gut möglich. Aufforderung, zumindest die Fraktion zu chen Seuche nicht umge- Chancen sehe ich aber weni- verlassen. setzt. Und viele Maßnah- ger für die fleischverarbei- Ein Scheitern der NRW-Koalition ma- men kommen zu spät. Erst tende Industrie, die schwere che auch den Machtwechsel in Bonn seit Oktober dürfen in Eng- Einbußen erlitten hat, als für unmöglich, heißt es in der Vorlage, und lands Schlachthöfen nicht die Familien, die einen An- würde die Partei in eine existentielle mehr die letzten Fleisch- gehörigen durch die Übertra- Krise führen. Anfang vergangener Woche fetzen von den Knochen gung des BSE-Erregers ver- hatte die Mehrheit der Fraktion die abgeschlagen werden. Da loren haben. Bilanz der vier Fraktionäre, darunter zwei ist wahrscheinlich so man- SPIEGEL: Hat das Europäische Vorstandsmitglieder, verurteilt. Zwar cher womöglich verseuchter Parlament denn überhaupt konnte sich die Mehrheit nicht zu einer Knochenmarkfetzen in den die Macht, der Kommission Abwahl der Vorständler durchringen, doch Beefburger gelangt. strengeres Handeln vorzu- ab sofort, so ein Spitzengrüner, „werden

SPIEGEL: Und die Kommis- DPA schreiben? die Fundis gejagt. Die haben keinen Schuß sion, die Hüterin des Bin- Böge BÖGE: Wir könnten derzeit mehr frei“. nenmarktes, hat zugesehen? allenfalls die gesamte Kom- Deshalb müßten vor allem die Grünen aus BÖGE: Sie hat jahrelang abgewartet, daß die mission entlassen – das aber ginge zu weit. dem Ruhrgebiet, die eng mit der PDS zu- Engländer etwas tun. 1992, als es schon Das Parlament braucht dringend die Mög- sammenarbeiten und gegen den Bonner 100000 BSE-Fälle gab, hat sie immerhin 37 lichkeit, auch einzelne Kommissare per Fraktionssprecher ein Auf- Inspektionen in England zur Fleischhygie- Mißtrauensvotum ihres Amtes entheben trittsverbot verhängten, auch in der Ge- ne und Volksgesundheit durchgeführt, aber zu können. samtpartei als Minderheit isoliert werden.

18 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Panorama

HOCHSCHULEN Rechter Bodensatz Der Professor für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr in Ham- burg Wolfgang Gessenharter, 54, über den Wahlerfolg der Republikaner an der Uni- versität Marburg

SPIEGEL: Bei den Wahlen in Marburg haben bundesweit erstmals die Republikaner mit 3,7 Prozent der Stimmen zwei Vertreter in ein Studentenparlament gebracht. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg? GESSENHARTER: An den Hochschulen gibt es schon seit längerer Zeit einen gravieren- den rechten Bodensatz. Dieses Potential wird in Zukunft um die zehn Prozent um- fassen wie in der übrigen Gesellschaft auch.

F. BLICKLE / BILDERBERG F. SPIEGEL: Besonders viele Stimmen erhiel- Montage von Sonnenkollektoren ten die Republikaner in den Fächern Jura und Wirtschaftswissenschaften. SOLARSTROM SPD-Umweltsenator Peter Strieder nun GESSENHARTER: Viele konservative Juri- „einen enormen Innovationsdruck in die sten wollen, daß der Staat nur das Eigen- Sonnige Aussichten Szene hinein“ bewirken. Laut Vertrag tum garantiert, aber nicht auch durch gewährt die Bewag privaten Betreibern Umverteilung für sozialen Ausgleich sorgt. nlagen zur Erzeugung von Strom aus einen Investitionszuschuß von bis zu 50 Viele Studenten ASonnenenergie werden künftig in Prozent. der Betriebs- Berlin besonders großzügig gefördert – Obendrein nimmt die Bewag den gesamten wirtschaft sehen und damit auch für private Bauherren in- produzierten Solarstrom ab und zahlt dafür den Markt aus- teressant. den Preis, zu dem die jeweils modernsten schließlich als Ein bundesweit einmaliger Kooperations- Anlagen produzieren – derzeit etwa 1,60 Ort sozialdarwi- vertrag, den der kommunale Stromversor- bis 1,80 Mark pro Kilowattstunde. Bisher nistischer Ausle- ger Bewag und der Senat am Montag die- zahlen die Energieversorger ungefähr acht- se. Das ist sehr ser Woche unterzeichnen wollen, soll laut bis zehnmal weniger. nahe an neu- rechten Gedan- kengängen oder EUROFIGHTER jährliche Inflationsausgleich. Die Kosten- gar rechtsextre- senkung ist Schönfärberei: Sie entsteht men Ideen.

Abgespeckter Jet hauptsächlich dadurch, daß die Hardthöhe SPIEGEL: Die bei- / ARGUS R. JANKE den ursprünglich von ihr selbst auf 40 Prozent den gewählten Gessenharter erteidigungsminister Volker Rühe festgesetzten Systemzuschlag willkürlich auf Republikaner V(CDU) hat für seinen neuen Parla- 25 Prozent verringert hat. Rühe will den Ver- sind Mitglieder von Verbindungen. Sam- mentarischen Staatssekretär Klaus Rose trag über die Vorbereitung der Serienpro- melt sich dort das rechte Lager? schon eine Aufgabe parat. Er soll helfen, duktion für den abgespeckten Jet mit den GESSENHARTER: Die Burschenschaften sind den umstrittenen Eurofighter/Jäger-90 Partnerländern Großbritannien, Italien und in den letzten Jahren verstärkt zu einem durchs Parlament zu bringen. Spanien schon im März abschließen. organisatorischen und ideologischen Weg- CSU-Mann Rose kennt alle Tricks: Er saß Offen ist aber noch, ob Finanzminister bereiter rechter Ideen an den Hochschulen jahrelang im Haushaltsausschuß des Bun- bei der Zusage bleibt, für geworden. Sie werden intensiv unterstützt destages, ehe er dann 1994 Vorsitzender 1998 bis 2001 rund eine Milliarde Mark zu- vom Umfeld der Zeitung junge freiheit, des Verteidigungsausschusses wurde. sätzlich für den Jäger bereitzustellen. die immerhin vom Verfassungsschutz In Verhandlungen mit Nordrhein-Westfalens als rechtsextremi- dem Rüstungskonzern stisch eingestuft wird. Daimler-Benz Aerospa- SPIEGEL: Warum sind rechte Studenten ge- ce hat die Hardthöhe rade jetzt erfolgreich? den Systempreis von GESSENHARTER: Das ist einerseits eine Re- mehr als 140 Millionen aktion auf übertriebene Political Correct- Mark pro Flugzeug auf ness. Andererseits läßt der Druck der kri- 125,4 Millionen Mark tischen Studenten gegen rechts nach. Ent- gedrückt. Darin sind die scheidend ist jedoch, daß die Botschaf- Mehrwertsteuer und ein ten aus dem rechten Lager längst in der „Systemzuschlag“ für Mitte des politischen Spektrums ange- Ersatzteile und Boden- kommen sind, wenn man nur bedenkt, geräte von rund 25 Mil- was in den letzten Jahren auch in großen lionen Mark enthalten, Parteien zu Themen wie „Nation als

nicht aber die Kosten für IMO Schicksalsgemeinschaft“ daherschwadro- Bewaffnung und der Eurofighter niert wurde.

20 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Titel Milliarden für Millionen Durchbruch in Bonn: Die Regierung will die Steuersätze drastisch senken. Allerdings: Das Milliardengeschenk wird auch durch neue Steuererhöhungen finanziert. Der Republik steht eine Debatte über Gewinner und Verlierer bevor.

m Anfang stand die Angst. die von Anfang an befürchteten Den Reformern in Bonn war Ungleiche Entlastung Probleme: Amehr als mulmig. Der Steuertarif sinkt, aber die Spitzenbelastung greift früher πDie Mehrwertsteuer, so das Unter vier Augen sprachen sich Kommissionsergebnis, wird um Unions-Fraktionschef Wolfgang STEUERBELASTUNG* mindestens einen Prozentpunkt Schäuble und Finanzminister Theo IN PROZENT erhöht, womöglich auch um zwei. Waigel gegenseitig Mut zu. Beide 50 Geltendes Recht Das bringt dem Staat pro Punkt fürchteten, daß jeder Plan für eine 2 linear progressive rund 16 Milliarden Mark zusätz- große Steuerreform das Land spal- Tarifzonen bis 53% lich in die Kasse. Höchststeuersatz ten würde. „Damit könnten wir die πFür rund 30 bis 34 Milliarden Wahl verlieren“, warnte Waigel. 40 Mark will die Regierung Steuer- Schäuble teilte die Bedenken. Steuermodell 1999 vorteile und -vergünstigungen für Auch er sehe „die ungeheure poli- linear progressiver Arbeitnehmer, Freiberufler und tische Gefahr, daß wir das nicht 30 Tarif bis 39% Betriebe streichen – oder zumin- Höchststeuersatz richtig hinkriegen“. BISHER dest einschränken. Eine Alternative zu der bevorste- EINKOMMEN IN MARK STEUER SATZ π Dabei sollen auch Renten härter henden Generaldebatte über Steu- besteuert werden, und selbst die 20 12 400–58 600 25,9–34,3% ern, Arbeitsplätze und die soziale 58 600–120 000 34,3–53% Lohnersatzleistungen wie Kran- Gerechtigkeit im Lande fiel ihm al- kengeld, Arbeitslosengeld und lerdings nicht ein. Schäubles Schluß- KÜNFTIG Arbeitslosenhilfe will der Fiskus folgerung: „Wenn wir die Steuerre- 10 EINKOMMEN IN MARK STEUER SATZ womöglich einer Besteuerung un- form nicht machen, verlieren wir 13000–80000 19,5–39% terziehen. die Wahl ganz sicher.“ ab 80000 39% Unvermeidlich kommt so zum Fast ein Jahr lang haben Schäuble Milliardengeschenk eine große Um- 0 und Waigel gemeinsam mit Politi- verteilungsaktion. Die Debatte 0 20 40 60 80 100 120 *Grenz- kern der Regierung und Experten ZU VERSTEUERNDES EINKOMMEN IN TAUSEND MARK belastung über Gewinner und Verlierer wird aus Wirtschaft und Verwaltung den das Land in Aufruhr versetzen.Wie- Plan für das Jahrhundertwerk aus- viel Prozent sind genug? Welchen getüftelt. Das Ziel war stets klar: Das chao- Grundpfeiler standen schon zum Wochen- Anteil von Lohn und Vermögen darf der tische deutsche Steuerrecht soll einfacher ende fest. Das Ergebnis wird für Aufre- Staat beim Bürger kassieren? Vor allem und gerechter werden, die Steuerlast dra- gung sorgen: aber: Wer profitiert? Und wer zahlt drauf? stisch sinken, damit Bürger und Betriebe π Der Einkommensteuertarif wird im Rentner, Pendler und Nachtarbeiter wieder Lust zu neuer Leistung kriegen. Jahr 1999 so kräftig abgesenkt wie noch werden in jedem Fall protestieren, weil sie Der beim Bundesparteitag der CDU nie in der Geschichte der Bundes- womöglich mehr zahlen als heute. Die Ver- im Oktober 1996 in Hannover beschlossene republik. Er beginnt mit einem Satz von sicherungsbranche und die Bauwirtschaft Leitantrag verhieß den ganz großen Wurf: 19,5 Prozent bei den kleineren Ein- werden mäkeln, Gewerkschaften und SPD künften oberhalb des Existenzmini- sowieso opponieren. Wir streben an, das deutsche Steuerrecht mums (heute: 25,9) und steigt bis Mit höheren Mehrwertsteuern „50- grundlegend zu verbessern und dem auf einen Spitzenwert von 39 Prozent Mark-Scheine einzusammeln“, wütete Grundsatz „niedrige Steuersätze und we- (heute: 53). SPD-Fraktionsvize Rudolf Dreßler schon nige Ausnahmen“ zum Durchbruch zu π Körperschaft- und Einkommensteuer für vorsorglich, „um 1000-Mark-Scheine für verhelfen. Unsere Reformziele sind eine gewerbliche Einkünfte sollen in einem die Senkung des Spitzensteuersatzes zu deutliche Nettoentlastung der Steuer- ersten Schritt schon 1998 gesenkt, ein verschleudern“, komme nicht in Frage. pflichtigen und eine drastische Vereinfa- Jahr später dann auf 35 Prozent redu- Auch die Garde deutscher Steuerexper- chung des Steuerrechts, die den Aufwand ziert werden. ten und Ökonomen kann mit der Steuer- für Bürger, Unternehmen und Finanzver- π Für Gewinne, die im Unternehmen blei- reform so nicht zufrieden sein. Denn: Eine waltung spürbar reduziert. ben, soll der Satz sogar auf 25 Prozent Chance wurde vertan, das deutsche Steu- fallen. errecht gründlich zu entrümpeln. Der Schwarzarbeit soll sich nicht mehr lohnen. Durch eine so radikale Steuersenkung Wunsch der Radikalreformer, eine Steuer- Es ist unser Ziel, den Eingangssatz der fehlen dem Staat Einnahmen von rund 60 erklärung per Postkarte, wird auf abseh- Einkommensteuer von derzeit 25,9 Pro- Milliarden Mark bei der Einkommen- und bare Zeit ein Wunsch bleiben. zent auf einen Wert unter 20 Prozent und weitere 10 Milliarden Mark bei der Kör- Das Steuersystem wird einfacher – aber den Spitzensteuersatz von derzeit 53 Pro- perschaftsteuer. Nur 20 bis 24 Milliarden nur minimal. Die Steuerlast in Deutsch- zent auf einen Wert um 35 Prozent zu Mark davon sollen als echte Entlastung in land wird schrumpfen – für die meisten senken. den Taschen der Bürger bleiben. Den über- durchaus spürbar.Aber so manche im Mit- Letzte Details der Reform werden erst wiegenden Teil will Waigel an anderer Stel- telbau der Gesellschaft zahlen drauf – und Mitte dieser Woche beschlossen. Doch die le wieder kassieren – und damit beginnen das kräftig.

22 der spiegel 4/1997 * derzeitiger Standin M. DARCHINGER der Reformkomission Bonner Streicheinheiten gänzend sollen bislang steuerfreie Kapitalverträge gänzend sollenbislangsteuerfreie der steuerpflichtige Ertragsanteil vonPrivatrenten der steuerpflichtigeErtragsanteil soll von27%auf30%steigen,alternativoderer- Abschreibung vonAnlagegütern/Immobilien 5% imerstenJahr gekürzt,beiImmobilienauf bei Anlagegütern wird dieAbschreibungum bei Anlagegütern Geplanter Abbau von Steuerprivilegien abgabepflichtig werden, gesetzlicheRenten Senkung der steuerfreien PauschaleSenkung dersteuerfreien von die HalbierungdesSteuersatzesentfällt der spiegel der spiegel Nacht,- Sonn-undFeiertagsarbeit Abfindungen undFirmenverkäufe Zuschläge werden steuerpflichtig, ein weicherÜbergang istgeplant Einschränkung derSteuerfreiheit Renten, Lebensversicherungen werden zurHälftesteuerpflichtig lungen werden besteuert, wahr- lungen werden besteuert, Krankengeld undähnlicheZah- scheinlich abernurzurHälfte 2000 auf1300MarkimJahr betrieblicher Rückstellungen Arbeitslosengeld,- undHilfe, durchgängig 3bis 4Prozent bar, undnur,wennderWeg 0,40 DMsteuerlichabsetz- statt 0,70künftignurnoch länger als15Kilometerist Pauschalbesteuerung nur Arbeitnehmerpauschale noch beikleinerenHöfen Lohnersatzleistung Rückstellungen 4/1997 Weg zurArbeit Landwirte * i aüe ah Kapitalgewinne zube- sie darübernach, zeitig dieMehrwertsteuer? Warum denkt genfinanzierung“ unbegreiflich: Deutschland geführte Debatte umdie„Ge- findet schondieseitMonaten in gan, Steuerreform von Präsident RonaldRea- Architekt der Ökonom Arthur Laffer, ZumindestUS- Jubelstimmung auslösen. wohl kaumeine offiziell verkündet wird, dasamDonnerstag der Steuerkommission, berechnen undbeurteilenwürden.“ vestitionen alleinnachdenSteuersätzen „daßsiedieNettorendite von In- Mitschke, sagt die Unternehmendenndochnicht“, „Sounbedarftsind her kaumzuerwarten. chen. größtenteils ausgegli- den Rückstellungen, zum Beispielbei Steuervergünstigungen, sätze werden durch dieStreichung von Dennsinkende Steuer- schung groß sein. Nunwird dieEnttäu- Steuersätze gefreut. mehr private Nachfrage undgünstigere für dieBürger unddieUnternehmen. Schlecht trotz Steuerreform nichtwerden. Undvielweniger wird esauch zialkassen. direkt indenSteuersäckel oder indieSo- andenStaat, in Deutschlandverdient wird, ten. GeldundEinfluß verzich- Staatsaufgaben, niemand inBonnwollte ernsthaftauf Doch weniger Steuergeld ausgekommen. wäre womöglich mit als bisherprivatisiert, der Aufgaben stärkerverschlankter Staat, Ein wirtschaftsprofessor Joachim Mitschke. urteilt Volks- Start dieFlügel gestutzt“, ben hochfliegenden Plänenschonvor dem baut: „DieErfinder derSteuerreform ha- beitsplätze entstehen? len dadiezusätzlich versprochenen Ar- de Konjunktur auf Trab kommen? Wie sol- nicht halten:Dennwiesollsodielahmen- Leitantrages kanndieRegierungdamit gehört. blieb un- Wachstum spürbarstimulieren, richtig vielGeldzurückgeben undsodas die Regierungmöge denBürgern doch Bürger. härteren Zugriffs aufdieEinkommen der als eineBringschuldnachJahren immer erfüllt dieRegierungdamitnichtmehr Unddoch Staatshaushalt verkraften kann. was der runter –bisandieGrenze dessen, tastet. zu viele–Steuervorteile bleiben unange- Aberviele–all- da andenBesitzständen. kappten hierund re zwar aneinige Tabus, Zinsen wiedieMieten. die nauso wiedenLohndesBauarbeiters, zu behandeln:denErtrag desBauernge- Einkommen gleich–unddamitgerecht – „Warum erhöhtdieRegierung gleich- Vor allemim Ausland wird dasErgebnis Impulse fürdie Volkswirtschaft sindda- Denn auchdiehatten sichschonauf die Derzeit fließt fast jedezweite Mark, Der Fehler war von Anfang aneinge- Das zentrale Versprechen desCDU- Die Forderung zahlreicher Ökonomen, Die Reform drücktdieSteuernkräftig Mutig wagen sichdieSteuerkommissa- endlichalle Verpaßt wird dieChance, 23 Titel T. ERNSTING / BILDERBERG T. Reformopfer Nachtarbeiter: Das Streichpaket steht unter dem Verdacht der sozialen Ungerechtigkeit steuern? Warum schafft sie nicht end- trauen zu ihren eigenen Argumenten. Die Wohlhabenden und im Unternehmenssek- lich die Gewerbekapitalsteuer ab, diese irrige Annahme, der Staat könne durch tor eingesammelt, heißt es. Nur etwas über kranke und unsinnige Vermögensteuer Steuern alles steuern, wird nur zum Teil re- 20 Milliarden sollen bei den Arbeitneh- auf Unternehmen. Das sind furchtba- vidiert. So bleibt der Dschungel der Steu- mern gespart werden.Waigel ist überzeugt: re Folterinstrumente, die den Effekt ergesetze das, was er seit langem ist: ein „Die Reform ist sozial ausgewogen.“ der Reform gefährden könnten. Ich Paradies „für Trickser und Hinterzieher“, Doch Zweifel drängen sich auf: Die an- begreife das nicht“ (siehe spiegel- so der Steuerpapst Joachim Lange. Die gekündigte Besteuerung der Gewinne, die Gespräch Seite 33). Forderung des Steuerrichters Paul Kirch- wohlhabende Bürger beim Verkauf von Wieder einmal, so hof vom Bundesverfas- Aktien, Häusern oder Grundstücken aus scheint es, sind deutsche Rentner sungsgericht, ein komplett dem Privatvermögen einstreichen, wurde Steuerreformer an sich neues Steuergesetzbuch zu ganz schnell wieder vergessen. selbst gescheitert. Die 26 400 erarbeiten, fand in Bonn Außer einer wirkungslosen Verlänge- Angst vor den Verbänden Jahreseinkommen kein Gehör. Das entstande- rung der Spekulationsfrist wird nichts ge- und ihren Funktionären in Mark ne Stückwerk schafft nun schehen – ein eklatanter Verstoß gegen das war so groß, daß wirklich politische Legitimations- Prinzip der Besteuerung nach individuel- Epochales sich niemand an- STEUERBELASTUNG probleme. ler Leistungsfähigkeit. zupacken traute. vorher nachher Differenz Denn die Kohl-Regie- Die FDP-Kommissare begründeten das Die Ausnahme bleibt ledig rung muß jetzt Pendlern, Einknicken pragmatisch. Eine Steuer auf weiter die Regel – die Kilo- Nachtarbeitern und Steu- Wertpapiertransaktionen hätte nicht viel meterpauschale wird nicht 0 0 0 ersparern erklären, warum Sinn gehabt, die Anleger nur in die Steu- abgeschafft, nur reduziert. sie ausgerechnet ihnen et- eroasen getrieben. Auch die Möglichkeit der verheiratet, Ehefrau 21 600 Mark was wegnimmt und ande- Der erste Verzicht machte den zweiten Unternehmen, steuerfreie 0 0 0 ren nicht. Weil die Koali- zwingend. Zwar kann der Immobilienver- Rückstellungen zu bilden, tion den Kahlschlag der käufer seine Aktivitäten nicht ins Ausland sind nicht gekappt, nur be- Rentner Vergünstigungen für alle verlagern. Aber eine Ungleichbehandlung grenzt. Gruppen nicht riskierte, von Einnahmen aus Aktiengeschäften und Selbst die Landwirte, 84 000 steht ihr Streichpaket un- Häuserverkäufen hätte vor dem Verfas- bisher nur milde besteuert, 36 000 dazu 24 000 Einkünfte ter dem Verdacht sozialer sungsgericht keinen Bestand. Also war müssen das Schlimmste aus Lebensversicherung Ungerechtigkeit. auch diese Steueridee zügig vom Tisch. 24 000 Zinsen aus Erspartem nicht mehr fürchten. Zu- Die Kommission will die- Zwar sinkt für alle Steuerzahler der Ta- mindest die kleinen Höfe Jahreseinkommen in Mark sen Vorwurf entkräften. rif. Doch davon profitieren nicht alle dürfen weiter wirtschaften ledig Von den knapp 50 Milliar- gleichmäßig. Die Wohltat der Steuersen- wie bisher. Nur die großen den Mark, die das Weg- kung wird für einige ganz, für andere teil- zahlen mehr. Der Druck 5743 6529 +786 schneiden von Steuervor- weise durch den Verlust von Steuervortei- des Bauernverbandes zeig- teilen – berechnet nach len aufgezehrt. te Wirkung. verheiratet dem „alten Tarif“ – brin- Wer zum Beispiel sein Nettoeinkommen Die Reformer hatten of- 646 2113 +1467 gen soll, würden fast 30 bisher mit dem Kilometergeld aufbesserte, fenbar kein rechtes Zu- Milliarden Mark bei den steht nun mit deutlich weniger da. Statt 70

24 der spiegel 4/1997 Pfennig pro Kilometer Entfernung zwi- schmelzung der steuerfreien Gehaltsteile schen Wohnort und Arbeit erkennt der Fis- erträglicher gemacht werden soll. kus künftig nur noch 40 Pfennig an. Und Doch die Gewerkschaften werden so das auch nur, wenn die Strecke länger als oder so protestieren. Sie fragen sich zu 15 Kilometer ist. Sonst gibt es gar nichts. Recht: Warum soll das hehre Prinzip bei Auch hier milderte die Kommission den den Druckern bis an die Schmerzgrenze radikalen Ansatz des CDU-Parteitags. Die durchgehalten werden? Warum ist die Re- Delegierten wollten lediglich 20 Pfennig gierung bei Aktiengewinnlern und Immo- pro Kilometer bewilligen. Das hat die CSU bilienspekulanten soviel weniger konse- aus Angst um Wählerstimmen der Pendler quent? abgeblockt. Trotz dieses Sündenfalls, verteidigen Ob Bayerns Ministerpräsident Edmund sich Kommissionsmitglieder gegen den

Stoiber der milderen Version zustimmt, ist / ARGUS H. SCHWARZBACH Vorwurf der sozialen Unausgewogenheit, noch immer unklar. Bei der CSU-Klausur- Reformopfer Rentner habe man auch bei den Wohlhabenden tagung in Wildbad Kreuth ließ er sich von „Politisch der heikelste Punkt“ Mut und Härte gezeigt. Der Beweis: Die Waigel nicht festlegen: „Das ist für Bayern Waigel-Truppe habe ein besonders ärger- ein ungemein wichtiges Thema“, sagte Der Plan provozierte dennoch bereits liches Privileg gekippt, den Paragraphen Stoiber. im Vorfeld einen Sturm der Entrüstung. 34 des Einkommensteuer- Schwierig und bis zum vergangenen Wo- Bis zuletzt gab es in der Kommission im- gesetzes. 805 chenende umkämpft war auch die Absicht, mer wieder Vorstöße, die umstrittene Idee Der erlaubt Fußballtrai- Renten, Arbeitslosengeld und -hilfe sowie ganz fallenzulassen, so richtig sie steuer- nern und Managern, Mil- Krankengeld etwa zur Hälfte dem Zugriff systematisch auch sein mag. Doch seltsam: lionenabfindungen mit des Fiskus zu unterwerfen. CSU-Landes- Anders als bei den Veräußerungsgewin- dem halben Steuersatz gruppenchef sieht hier nen, erlebte der Pragmatismus hier eine von nur reichlich 26 Pro- für die Schlußverhandlungen „politisch Niederlage. zent zu versteuern. den heikelsten Punkt der gesamten Entschlossen wagt sich die Kommission Die begünstigten 664,8 Operation“. an ein anderes heftig verteidigtes Arbeit- Millionäre zahlen Die Besteuerung der Rentner klingt nehmerprivileg: Die bisherige Verschonung auf solch riesige dramatisch – ist aber relativ harmlos. Nur der Zuschläge für Nacht- und Schichtarbeit Einkommens- etwa eine Million Rentner von insgesamt und der Feiertagszuschläge ist steuer- 21 Millionen müßten zusätzlich Steuern rechtlich nicht zu begründen. Doch für die- 570,8 zahlen. se Art der Logik dürften die Betroffenen Die überwiegende Mehrheit der Ruhe- wenig Verständnis zeigen. ständler, die nur von der gesetzlichen Ren- Immerhin bringt das Streichen die- te zehren, kämen wegen der hohen Frei- ser Vergünstigung einige Arbeit- beträge auch weiterhin ungeschoren da- nehmergruppen wie Druckern von. Zahlen müßten vor allem Rentner mit oder Krankenschwestern, die ansehnlichen Betriebsrenten und Kapital- nicht zu den Besserverdienen- einkünften (siehe Grafik Seite 24). den zählen, um beachtliche 395,2 Auch die Arbeitslosen werden in der Re- Teile ihres Einkommens. Die gel nur dann zusätzlich Steuern zahlen, Kommission berät noch, ob wenn sie weitere Einkünfte haben. Des- der schmerzliche Eingriff halb trägt die Renten- und Arbeitslosen- nicht über eine zeit- steuer auch nicht viel zur Finanzierung der lich verzögerte, Reform bei. stufenweise Ab- gesamtes Steueraufkommen

227,0

232,1 Öffentlicher Greifarm 258,9 264,5 Steueraufkommen von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland Lohn- und 238,0 seit der Währungsreform Einkommensteuer 71,5 131,1

Alle Angaben in Milliarden Mark 178,5 zu Preisen von 1996; 146,2 ab 1991 einschließlich 56,7 Ostdeutschland 16,9 90,4 14,9 55,8

0,3 28,1 8,8 33,5 41,8 68,0 4,1 24,6 Mehrwertsteuer 5,2 40,8 43,7 46,9 46,5 21,6 Mineralölsteuer 0,4 28,9 3,6 33,4 36,4 7,4 Gewerbesteuer 1949 7,3 30,5 Körperschaftsteuer 60 7,7 9,0 70 80 Vermögensteuer 90 96

der spiegel 4/1997 25 aufschläge nach geltendem Recht nur die gleiche Steuer, die das Finanzamt einem Arbeitnehmer knapp über dem Existenz- minimum abfordert. Steuerwissenschaftler wie der Stuttgar- ter Peter Bareis sind seit jeher gegen die- se Klausel. Jetzt soll sie endlich fallen – aber nicht so ganz. Schon macht sich in der Kommission wieder Kleinmut breit. Einige schlagen lange Übergangsfristen vor, andere denken bereits über Ausnah- men nach – gewiß kein Beitrag zur Steu- ervereinfachung. Auch den Vorsatz, die Bauern nicht un- gerupft zu lassen, rechnet sich die Kom- mission als tapfere Tat an. Einige hundert Millionen Mark will sie beim Landvolk ein- sammeln. Viele Bauern zahlen Steuern auf ein fik- tives Durchschnittseinkommen, das weit unter ihrem tatsächlichen Gewinn liegt. Damit soll nun Schluß sein – zumindest teilweise. Die größeren Landwirte wer- den künftig zur Buchführung und damit zu einer realistischen Steuerzahlung ge- zwungen. Doch warum nicht die kleinen Bauern auch, warum wieder diese Halbherzigkeit? Schon ab 80 000 Mark soll der volle Höchstsatz kassiert werden Jeder Inhaber eines Tante-Emma-Ladens wird ganz normal besteuert.Abschläge für die schlechte Situation der Einzelhändler gibt es hier nicht. Die Summe von 20 bis 24 Milliarden Mark Entlastung, das wird bald überdeut- lich, ist zu gering, um alle Steuerzahler zu Profiteuren der Reform zu machen. In Ver- bindung mit dem neuen Tarif besteht sogar die Gefahr, daß ausgerechnet die Gruppe der Facharbeiter und Angestellten mit Jah- reseinkommen zwischen 55000 Mark und 70000 Mark kaum etwas gewinnt. In Einzelfällen könnten sie sogar schlechter abschneiden als nach geltendem Recht. Genau diesen Mittelstand aber woll- te die Koalition besonders entlasten. „Ich habe das problematisiert“, sagt Schäubles Steuerexperte Hans-Peter Repnik: „Wenn sich die Dinge so entwickeln sollten, bin ich in Sorge.“ Doch Waigel will ein größeres Milliar- dengeschenk nicht riskieren. Sein Haus- halt ist seit Jahren hoch defizitär. Der Fi- nanzminister will den Steuerausfall in Grenzen halten. So verfiel er auch auf die Idee, den neuen Spitzensteuersatz von 39 Prozent schon auf deutlich niedrigere Ein- kommen zu erheben. Heute wird erst bei einem Einkommen von 120000 Mark pro Jahr der Spitzenta- rif gezahlt. Künftig soll schon bei 80 000 Mark, zumindest aber bei 90000 Mark der Höchstsatz kassiert werden. Für Verheira- tete gilt die doppelte Summe. Zwangsläufig ist der Anstieg der neuen Steuerkurve damit steiler, bei Einkommen zwischen 55 000 und 80000 Mark kommt

der spiegel 4/1997 Titel

Internationale Mittelklasse Abgabenbelastung einer vierköpfigen Familie in Deutschland und ausgewählten Ländern

Bei einem Brutto-Jahreseinkommen von... 30 000 Dollar (ca. 46 600 Mark) 60 000 Dollar (ca. 93 300 Mark) 150 000 Dollar (ca. 233 200 Mark) 01020 30 40% 0 10 20 30 40 50% 0 10 20 30 40 50 60% Schweden Schweden Belgien Belgien Belgien Schweden Italien Niederlande Niederlande Niederlande Italien Italien Deutschland Deutschland Deutschland Großbritannien Großbritannien Spanien Frankreich Frankreich Luxemburg Spanien USA Frankreich USA Spanien USA Japan Luxemburg Großbritannien Schweiz Schweiz Schweiz Luxemburg Japan Japan Quelle: The Economist sie dem alten Tarif sehr nahe (siehe Grafik lifizierung entlasten. Da- bestehende System von Seite 22). Wenn ein Arbeitnehmer in die- durch soll der Beitrag von Lehrer hohen Steuersätzen und ser Einkommenszone bislang große Vor- 6,5 Prozent auf 5,5 Prozent Hunderten von Ausnah- teile genossen hat, etwa durch steuerfreie sinken. Die Umschulung 84 000 men sei „widersprüch- Jahreseinkommen Zuschläge, macht ihn der Wegfall rasch soll künftig der Staat be- in Mark lich und undurchsichtig“, zum Verlierer. zahlen. Das kostet reichlich kritisierte Kirchhof immer Dem Dilemma könnte der Finanzmini- 15 Milliarden Mark, ein STEUERBELASTUNG wieder. ster durch ein weiteres Absenken der Steu- Punkt Mehrwertsteuer vorher nachher Differenz Nur noch 50 Prozent des ersätze entkommen. Das wollte Waigel ur- wäre damit verplant. Volkseinkommens wurden sprünglich auch. Bezahlt werden sollte der Für Michael Glos, den ledig 1996 regulär versteuert. 25 Steuerausfall durch eine Anhebung des CSU-Landesgruppenchef, Arbeitsweg 0 km Prozent bleiben – legal – Mehrwertsteuersatzes von 15 auf 17 Pro- ist diese Aufteilung „ein 21 167 19 766 –1401 vom Fiskus verschont. zent. Dazu wird es möglicherweise sogar fauler Kompromiß“. Er Weitere 25 Prozent wur- kommen. Aber Waigel darf dann nur die nennt die Verbindung von ledig den illegal am Fiskus vor- Hälfte der Einnahmen von 32 Milliarden Steuern und Lohnersatz- Arbeitsweg 30 km beigeschleust, auf den für seine Tarifsenkung verplanen. Die an- kosten „volkswirtschaftlich 20 070 19 766 –304 boomenden Schwarzmarkt dere machen ihm starke Kräfte der CDU falsch“. oder auf Luxemburger streitig – vor allem die Sozialpolitiker. Finanzminister Waigel verheiratet, zwei Kinder Konten. Die wollen die Arbeitslosenversicherung ist sicher, die Verwendung Arbeitsweg 0 km Der heillos verschuldete von den Kosten für Umschulung und Qua- der Mehrwertsteuer zur 13 968 12 112 –1856 Staat reagierte auf den Ent- Entlastung der Sozialkas- zug von Steuergeld mit im- sen verhindern zu kön- verheiratet, zwei Kinder mer neuen Steuer- und Ab- nen. Sein Argument: Von Arbeitsweg 30 km gabeerhöhungen, fast 20 einer höheren Mehrwert- 13 156 12 112 –1044 seit 1990. Das machte das steuer profitierten auch Tricksen und Täuschen im- die Bundesländer, die mer populärer. „Die Lust würden das einmal kassierte Geld am Steuersparen“, spottete der bayerische doch ohnehin dem Bund nie zur Sanie- Finanzminister Erwin Huber, „ist in rung der Sozialkassen zurückgeben. Den Deutschland ausgeprägter als der Fort- Vorschlag der Sozialpolitiker hält er daher pflanzungstrieb.“ für illusionär. Das politische Establishment, die Bon- Kommt es gleichwohl gegen den Wi- ner Opposition inklusive, reagierte hilflos. derstand von FDP und Teilen der CSU zu Die spektakulärsten Schläge gegen die dieser Aufteilung, schmilzt die steuerliche staatliche Steuergier landete Kirchhof mit Nettoentlastung der Bürger weiter dahin. den Urteilen über die steuerliche Freistel- Bei einer Mehrwertsteuer von 16 Prozent lung des Existenzminimums und zur Ver- bleiben ihnen 20 bis 24 Milliarden, bei ei- mögensteuer. ner Mehrwertsteuer von 17 Prozent indes Obwohl da nur ein Votum zu dieser nur noch 4 bis 8 Milliarden Mark. Die Zahl Ministeuer verlangt war, verwies das der Reformverlierer würde dramatisch Gericht den Steuerstaat gleich generell steigen. in die Schranken – ein Vorgang ohne Schon die Vorgeschichte der „Jahrhun- Beispiel in der Geschichte der Bundes- dertreform“ verlief mehr als merkwürdig. republik. Die Kohl-Regierung mußte zum Handeln Der Gesetzgeber, so das Verdikt aus regelrecht gedrängt werden. Karlsruhe, müsse dem Bürger ungefähr

J. GUYAUX J. Vor allem die Verfassungsrichter unter die Hälfte seines Einkommens belassen. Steuerharmonisierer Monti Führung von Steuerexperte Paul Kirchhof In einer kühnen Begründung wird Einheitliche Sätze in ganz Europa? machten mächtig Druck auf Bonn. Das auf Grundgesetz Artikel 14 verwiesen,

der spiegel 4/1997 27 Titel wonach der Eigentumsgebrauch Einkaufschef Abteilungsleiter Führung, auf der Tagesordnung „zugleich dem Wohle der Allge- großer Handelsbetrieb Industrie nach oben. meinheit“ dient. Nach dem Parteitag in Hanno- Das Wort „zugleich“ wertete ein 240 000 140 000 ver ging eine Steuerkommission, mutiger Kirchhof als Obergrenze Jahreseinkommen Jahreseinkommen der Experten von CDU, CSU und für staatliche Eingriffe: Wenn der in Mark in Mark FDP angehörten, an die Arbeit.Al- Gesetzgeber so eklatant funda- les wurde diskutiert, wochenlang. mentale Gerechtigkeitsmaßstäbe STEUERBELASTUNG STEUERBELASTUNG Immer neue Berechnungen krei- im Steuerrecht verfehle, wie dies vorher nachher Differenz vorher nachher Differenz sten um die entscheidenden Fra- in Deutschland seit langem der Fall ledig ledig gen, von denen Erfolg oder Mißer- sei, dürfe das Bundesverfassungs- Arbeitsweg 0 km Arbeitsweg 0 km folg dieser Reform abhängt: gericht weiter vorpreschen als nor- Soll der Spitzensteuersatz von mal, rechtfertigte er das für Bonn 101 139 80 090 –21049 48 164 41 090 –7074 heute 53 doch nur auf 40 oder wie schockierende Urteil. ledig ledig beschlossen auf 35 Prozent abge- Seither ist vom Verfassungsge- Arbeitsweg 30 km Arbeitsweg 30 km senkt werden? Und was passiert im richt als „oberstem Steuergesetz- deutschen Osten, beim Wohnungs- geber“ (handelsblatt) die Rede. 99 708 80 090 –19618 46 704 41 090 –5614 bau und in der Schiffahrtsindustrie, Immer wieder haben die Richter in verheiratet, zwei Kinder verheiratet, zwei Kinder wenn im Gegenzug die Steuer- den vergangenen Jahren die Steu- Arbeitsweg 0 km Arbeitsweg 0 km sparmodelle gekappt werden? ergesetze des Bonner Finanzmini- Und natürlich mußten auch die sters korrigiert und kassiert. 76 256 67 086 –9170 32 376 29 292 –3084 politischen Fragen bedacht (und Der Regierung blieb zuletzt kei- verheiratet, zwei Kinder verheiratet, zwei Kinder berechnet) werden: Wer profitiert, ne andere Wahl mehr: Kohl und Arbeitsweg 30 km Arbeitsweg 30 km wer verliert, wenn Nachtarbeiter- Waigel wurden zu Reformern wi- zuschlag und Kilometerpauschale der Willen.An große Entwürfe war 74 872 67 086 –7786 31 402 29 292 –2110 nicht mehr gewährt werden? Zah- zunächst nicht gedacht. Mit immer len am Ende gar die Schlechtver- neuen Steuerrechtsänderungsgesetzen einem Murren im Mittelstand begann, diener die Tarifsenkung der Reichen und versuchte vor allem Waigel – zuletzt im schrieb das US-Wirtschaftsmagazin bu- Superreichen? Welche Lobby wird wie Jahr 1996 – der Rundumerneuerung zu siness week, entwickelte sich zu einer Be- stark gegen die Pläne mobil machen? entgehen. wegung für tiefgreifende Veränderungen. Sofort tauchte die Frage der Finanzie- Doch die Kritik wurde lauter: „In der Fi- Vor allem die Steuersätze in rung auf. Denn der Maastricht-Vertrag, der nanzpolitik gibt es ein erschreckendes seien Sky-high, himmelhoch, und deshalb eine gemeinsame Europa-Währung zum Mißverhältnis zwischen den dauernden unakzeptabel. Dies habe auch die Regie- Ziel hat, läßt eine steigende Neuverschul- Ankündigungen und dem Zurück- rung eingesehen: „Reform at last?“ über- dung der ohnehin ins Schuldenchaos ab- schrecken vor konkreten Maßnahmen“, schrieb das Blatt im September vergange- gerutschten Bundesrepublik nicht mehr zu. urteilte ein ungnädiger Rolf Peffekoven, nen Jahres seine Titelgeschichte. Auch das Also: Wie sollen die Steuersenkungen einer der Fünf Weisen. wall street journal machte hoffnungs- im Haushalt ausgeglichen werden? Wird Obwohl die Weisen per Gesetz ange- froh eine „Steuersenkungsbewegung“ aus. die Reform wie von selbst zu mehr Wachs- wiesen sind, der Regierung keine „Emp- So wurde das Feld bereitet für die Re- tum und damit auch zu üppig sprudeln- fehlungen“ zu geben, wurden die Wissen- formertruppe um den Hamburger Bun- den Steuereinnahmen führen? Oder klafft schaftler immer deutlicher: Sie forderten destagsabgeordneten, den CDU-Parla- da künftig ein Milliardenloch, das bald am Ende ganz unverhohlen eine „umfas- mentarier . Der bis dahin schon durch neue Steuererhöhungen ge- sende Einkommensteuerreform“. unbekannte Steuerexperte setzte das schlossen werden muß? Und werden die, Auch die Industrie leistete Hilfe. Keine Thema, zur Überraschung der Bonner wenn sich EU-Kommissar Mario Monti mit andere Forderung wird in der Standortde- seinen Vereinheitlichungsplänen durch- batte so laut, zuletzt fast schrill, wiederholt setzt, überhaupt noch möglich sein? wie die nach einer Steuerreform. Was mit 25% Die Kommission hat sich schnell im legal vom Fiskus Klein-Klein des Steuerrechts verheddert; freigestellt vor allem die Frage der Finanzierung ge- Legal, illegal,... wann an Gewicht. So wurde – zum Ent- 50% •Schiffs- setzen des Publikums – wochenlang vor Von allen in Deutschland erzielten Einkommen werden... beteiligungen allem über Steuererhöhungen debattiert. legal •Freibeträge Es ist nicht das erste Mal, daß in versteuert •Ost-Immobilien Deutschland ein Programm zum radika- •Steueroasen len Steuerumbau scheitert. Die Geschich- zu versteuerndes Anteil der Anteil am (Verlagerung des Wohnortes) te der Steuerreformer ist eine Geschichte Einkommen pro Jahr Steuer- Steuer- der Niederlagen. Stets waren die Erwar- in Mark pflichtigen aufkommen tungen der vom gierigen Staat Geschröpf- ten groß. So groß wie die Enttäuschung, über 120 000 4,1% 37,6% die sich bisher nach jeder „Jahrhundert- 25% reform“ einstellte. 60 000 hinterzogen Der erste moderne Neuerer war der bis 120 000 20,1% 33,5% Freiherr vom Stein. Als preußischer Wirt- schafts- und Finanzminister propagierte er 30 000 am Anfang des 19. Jahrhunderts die Ein- bis 60 000 32,2% 24,2 % führung einer allgemeinen Einkommen- steuer. Die Einkommensteuer schien ihm 12 000 bis da von allen die „gleichförmigste und ein- 30 000 43,5% 4,7 % träglichste Abgabe“. Bis dahin hatten die deutschen Fürsten Quelle: BMF/IW Stand 1995 Schätzung: Sachverständigenrat der Bundesregierung ihre Kassen vornehmlich mit Abgaben auf

28 der spiegel 4/1997 M. WOLF / VISUM Reformprofiteure Besserverdiener*: Eine Generaldebatte über die Kluft zwischen Arm und Reich steht bevor

Branntwein, Bier und Salz gefüllt. Vom über hohe Steuern, wenn Einkommensmillionär nige Jahre später wurde die Stein wollte die Bürger Preußens erstmals man sie nur gerecht fin- Steuer wieder gekappt. nicht nur hauptsächlich nach ihrem Kon- det.“ Doch auch Miquel ge- Nach dem Zweiten Welt- sum, sondern auch nach ihrer Leistungs- lang es nicht, die Wohlha- 1 000 000 krieg blühten dann die Pri- fähigkeit besteuern. benden wirklich zur Kasse Jahreseinkommen vilegien der Begüterten so Der Superminister scheiterte. Übrig zu bitten. in Mark richtig auf. Zwar waren die blieb von seinen Reformplänen nur eine Der Spitzensteuersatz Steuersätze extrem hoch, Klassensteuer, die zu großen Teilen von betrug bei 100 000 Mark STEUERBELASTUNG die Abschreibungsmöglich- den unteren Ständen aufgebracht wurde. Einkommen nur vier Pro- vorher nachher Differenz keiten aber gewaltig. Der zent. Die maßgeblichen ledig wirtschaftliche Wiederauf- Einkommen wurden nicht bau Deutschlands war das Zum Volkssport der von Finanzbeamten, son- 501 820 374 656 –127164 große politische Ziel, mit Nachkriegsdeutschen wurde die dern von Bürgerkomitees dem sich eine Vielzahl von Kunst der Steuervermeidung eingeschätzt. Die kleinen verheiratet, zwei Kinder Vergünstigungen politisch Leute zahlten und zahlten, 473 634 359 313 –114 321 rechtfertigen ließ. Es dauerte Jahrzehnte, bis es unter der die Reichen blieben reich. Zehn Millionen Vertrie- Herrschaft von Kaiser Wilhelm II. zu einer Auch der Ehrgeizigste bene mußten unterge- Änderung dieses ungerechten Steuersy- unter ihnen, Matthias Erz- Bürokaufmann bracht werden – der Staat stems kam. berger, Finanzminister in half mit kräftigen Steuer- Dessen Finanzminister, der Liberale Jo- der Weimarer Republik, geschenken an Wohnungs- hannes von Miquel, führte 1891 erstmals in konnte nur mäßigen Erfolg 40 000 bauer. Die Unternehmen Deutschland die progressive Einkommen- verbuchen. Zwar schuf der Jahreseinkommen sollten neue Arbeitsplätze steuer ein – die Reichen sollten einen Zentrumspolitiker eine in Mark schaffen – deshalb wurde höheren Anteil ihres Einkommens ab- schlagkräftige Finanzver- STEUERBELASTUNG ihnen die Steuerfreiheit für führen als die Kleinverdiener. Miquel er- waltung, er faßte die Steu- reinvestierte Gewinne ge- vorher nachher fand auch das steuerfreie Existenzmini- ergesetze der 26 Länder zu- Differenz währt. Der Export-Wirt- mum, damals 900 Mark im Jahr, und die sammen und erfand den Fi- ledig schaft fehlte eine Handels- Kinderfreibeträge. nanzausgleich. Doch das Arbeitsweg 5 km flotte – also lenkte der Das Volk werde es begrüßen, wenn die gerechtere Abkassieren 6094 5137 –957 Staat Milliarden steuerbe- Steuerlast gleichmäßig verteilt werde, warb wollte ihm nicht gelingen. günstigt in den Schiffbau. der Politiker für seine revolutionäre Re- Den Spitzensteuersatz verheiratet, zwei Kinder Die deutsche Teilung bela- form: „Man beschwert sich nicht so sehr erhöhte er drastisch auf 60 Arbeitsweg 5 km stete die Wirtschaft in Prozent. Doch das große 1468 1392 –76 West-Berlin und die Ge- * Beim Derby in Hamburg-Horn. Geld floh ins Ausland. We- biete an der innerdeut-

der spiegel 4/1997 29 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel schen Grenze – steuerliche Vergünstigun- achtziger Jahre in drei Etappen die Lohn- Anlegern weit überteuerte Objekte an- gen glichen die Nachteile aus. und Einkommensteuer. drehen.Viele Milliarden flossen so in wirt- Doch auch als die Bundesrepublik be- Alle mußten weniger abführen, am mei- schaftlich sinnlose Projekte. „Eine unge- reits prosperierte, blieben Subventionen sten gewannen freilich die Spitzenverdie- heure Verschwendung“, klagt Norbert Wal- vom Finanzamt erhalten. „Warum werden ner. Deren Satz ermäßigte sich von 56 auf ter, der Chefvolkswirt der Deutschen die Steuerverstecke weiter geduldet?“ 53 Prozent. Hinzu kam ein neuer Tarif, der Bank. fragte der spiegel schon im Jahr 1958 den im Fachjargon linear-progressiv heißt. Er Die Regierungskommission schlägt nun damaligen Finanzminister Franz Etzel. Der bewirkte, daß der bis dahin drastische An- vor, die geltende Investitionsförderung in kündigte an, die immer mehr um sich grei- stieg der Belastung mit zunehmenden Ein- den neuen Ländern über Steuerbegünsti- fende Abschreibungsartistik werde „kein kommen abgemildert wurde. gungen komplett einzustellen. Sie sollen Dauerzustand“ bleiben. Doch nichts pas- Eine wirkliche Reform brachte aber als direkte Investitionszuschüsse, also als sierte. auch Stoltenberg nicht zustande. Dem Ziel offene Subventionen, gezahlt werden. Während sich die Demokratie kräftig einer gleichmäßigen und lückenlosen Be- Der Nachteil: Das kostet Waigel etwa entwickelte und die Wirtschaft florierte, steuerung aller Einkünfte zu deutlich nied- 10 Milliarden Mark. Schon jetzt klafft im begann der Steuerstaat sein eigenes Leben rigeren Sätzen kam er nicht näher. Der Jahr 1999 eine Lücke von 44 Milliarden zu führen. Die Zahl der Schlupflöcher Steuerdschungel blieb undurchdringlich. Mark. wuchs, Spesenrittertum und die Kunst der Sondervergünstigungen im Volumen von Überhaupt sind für Waigel die Risiken Steuervermeidung wurden zum Volkssport 18 Milliarden Mark wurden gestrichen – enorm.Wie die Bundesrepublik, die im ab- der Nachkriegsdeutschen. volkswirtschaftlich ein Minibetrag. gelaufenen Jahr das Maastrichter Ver- Der Mangel an Steuer- Mit der deutschen Ein- schuldenskriterium kraß verfehlte, die Ein- gerechtigkeit wurde immer Meister heit wurde dann endgültig stiegsbedingungen für die Euro-Währung auch als Mangel empfun- Industrieunternehmen das Chaos zum Prinzip schaffen will, ist nun völlig unklar. den. Doch die Regierungen deutscher Steuerpolitik. Im beginnenden Streit um die Finanzie- fanden längst keinen Aus- 67 000 Die Vermögen- und die Ge- rung des Milliardengeschenks hat die Re- weg mehr aus dem Dickicht Jahreseinkommen werbesteuer wurden erst gierung keinen Spielraum mehr. Jeder der Steuergesetze. Mit in Mark gesenkt, dann wieder er- Steuernachlaß auf Pump ist derzeit ausge- neuen Gesetzen sollte das STEUERBELASTUNG höht; ein Solidaritätszu- schlossen. alte Übel bekämpft wer- vorher nachher Differenz schlag zur Einkommen- Eine Generaldebatte über Steuern, Löh- den. Die Folge: Der Steu- steuer erst eingeführt, dann ne und die wachsende Kluft zwischen Arm erstaat wucherte und wu- ledig abgeschafft, dann wieder und Reich steht der Republik bevor. Die cherte. Arbeitsweg 0 km eingeführt; die Eigenheim- Rekordarbeitslosigkeit und eine wachsen- Längst versteht kaum 14 762 13 452 –1310 förderung erst kräftig aus- de Furcht vor dem Exitus weiterer Jobs noch ein Experte den Wirr- geweitet, dann schrittweise haben das Land aufgeschreckt. Die Steu- warr an Gesetzen und Aus- ledig zusammengestrichen. erreform ist nun keine Sache mehr allein nahmen. Auch die Gerech- Arbeitsweg 30 km Vor allem im deutschen für Experten. tigkeit bei der staatlichen 13 808 13 452 –356 Osten gab es viel Neues – Die Funktionsfähigkeit des Sozialstaates Lastenverteilung blieb auf zumindest für Steuertrick- steht zur Debatte: Wieviel Gerechtigkeit der Strecke. verheiratet, zwei Kinder ser. Mit dem „Gesetz über kann die Regierung im Zeitalter globaler Am Ende hatten die Gut- Arbeitsweg 0 km Sonderabschreibungen und Märkte noch organisieren? Welche Ver- verdienenden stets größere 8598 6803 –1795 Abzugsbeträge im Förder- antwortung müssen Vielverdiener und die Gestaltungsmöglichkeiten gebiet“, das der Bundestag Unternehmen tragen? Wieviel ist ihnen als die einfachen Bürger. verheiratet, zwei Kinder im Juni 1991 erließ, ent- überhaupt zumutbar, ohne daß sie gleich Die einst als so fortschritt- Arbeitsweg 30 km stand die Steueroase Ost- mit Flucht ins Ausland drohen? lich empfundene Einkom- 7828 6803 –1025 deutschland mit Ausnah- Helmut Kohl ahnt die Gefahr, die ihm mensteuer wurde endgültig meregelungen ohne Bei- und seiner Regierung droht. Und siehe da: zur „Dummensteuer“ – zu spiel. Vorsichtig geht der Kanzler auf Distanz zu zahlen hat sie nur, wer Druckereifacharbeiter Wer in den neuen Bun- den Plänen der Regierungskommission. nicht besser beraten war. desländern oder Berlin bis Die seien nicht mehr als „ein Vor- Das Steuerdickicht zu 60 300 zum Ende des vergangenen schlag“. Den würden die drei Koalitions- lichten wollte auch dem Jahreseinkommen in Mark Jahres baute, konnte die parteien – „jede für sich“ – erst einmal 10% davon aus Sonntags- Sozialdemokraten Willy und Nachtzuschlägen Hälfte der Herstellungsko- „intensiv beraten“. Dann sei genug Zeit Brandt, dem selbsternann- sten sofort als Sonderab- für eine „breite öffentliche Diskussion“. ten „Kanzler der inneren STEUERBELASTUNG schreibung von seinem zu Und erst „am Ende dieses Prozesses“, Reformen“, nicht gelingen. vorher nachher Differenz versteuernden Einkommen beruhigte der Kanzler, „fallen die Ent- Die Reform seines Finanz- absetzen. Wer 200000 scheidungen“. ministers Alex Möller blieb ledig Mark im Jahr verdiente So soll das Wahlvolk beruhigt werden. Stückwerk. Auch spätere Arbeitsweg 0 km und sich in Leipzig oder Doch in Wahrheit plant die Kohl-Regie- sozialliberale Regierungen 10 296 11 167 +871 Dresden eine Wohnung für rung den Durchmarsch. wagten es nicht, den großen 340000 Mark zulegte, dem Was die Kommission in dieser Woche Wählergruppen liebgewor- ledig spendierte der Fiskus fast vorlegt, so informierte Waigels Staats- dene Privilegien zu strei- Arbeitsweg 30 km 80000 Mark. sekretär Hansgeorg Hauser den Bundes- chen. 9607 11 167 +1560 Hunderttausende West- tagsfinanzausschuß, soll ganz schnell Die bislang letzte große deutsche griffen beherzt zum Gesetzentwurf werden – in acht Steuerreform, ebenfalls als verheiratet, zwei Kinder zu. Nun stehen überall Wochen schon. Der werde dann bereits „Jahrhundertwerk“ annon- Arbeitsweg 0 km Wohnungen, Hotels und im Mai dem Parlament vorgelegt und soll ciert, bescherte Finanzmi- 4692 5171 +479 Büros leer, die Mieten lie- nach der Sommerpause im Bundesgesetz- nister gen weit unter dem erhoff- blatt stehen. den Deutschen. Nach dem verheiratet, zwei Kinder ten Niveau. Widerspruch aus den Reihen der Regie- Vorbild des US-Präsidenten Arbeitsweg 30 km Windige Geschäftema- rungsparteien ist nicht vorgesehen. Nur Ronald Reagan senkte der 3990 5171 +1181 cher konnten den aufs noch über Details könne geredet werden, Christdemokrat Ende der Steuersparen versessenen so Hauser – „aber der Rahmen steht“.

32 der spiegel 4/1997 FOTOs: M. MONTFORT FOTOs: Wirtschaftsexperte Laffer: „Der Spitzensteuersatz muß runter, ganz weit“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Machen Sie die Armen reich“ US-Ökonom Arthur Laffer über die Vorteile einer Steuerreform, die Gefahren des Bonner Modells und die Folgen der Reagonomics

SPIEGEL: Professor Laffer, Sie haben den springt die Wirtschaft an, die Arbeitslosen US-Präsidenten Ronald Reagan überzeugt, Arthur Laffer verschwinden von den Straßen, und die die Steuern zu senken. Die britische Pre- gilt als der Mann, der die Steuer- Staatskassen füllen sich. mierministerin Margaret Thatcher folgte reform des US-Präsidenten Ronald SPIEGEL: Auf diese Idee ist die Regierung Ihren Empfehlungen, jüngst predigten Sie Reagan am stärksten beeinflußt hat. schon ohne Rat aus Amerika gekommen. Ihre Ideen den Franzosen. Hat Sie die Der Ökonomieprofessor, der unter Ab 1999 sollen Spitzenverdiener nur noch deutsche Regierung schon um Rat gefragt? anderem an der Universität Chicago 39 Prozent zahlen. LAFFER: Nein, bisher noch nicht. lehrte, entwickelte Mitte der siebziger LAFFER: Das ist sehr gut. Aber warum er- SPIEGEL: Was würden Sie den Regierungs- Jahre die sogenannte Laffer-Kurve, höht die Regierung gleichzeitig die Mehr- strategen in Bonn vorschlagen? die er angeblich erstmals in einem wertsteuer? Warum denkt sie darüber LAFFER: Ich würde ihnen sagen: Ihr habt Washingtoner Restaurant auf eine nach, Kapitalgewinne zu besteuern? War- eine großartige Chance. Ihr habt wunder- Serviette zeichnete. Laffers Theorie um schafft sie nicht endlich die Gewerbe- bare Arbeiter, bestens ausgebildet und besagt, daß der Staat durch Steuer- kapitalsteuer ab, diese kranke und unsin- motiviert. Ihr habt gerade Ostdeutschland erhöhungen nur bedingt mehr Geld nige Vermögensteuer auf Unternehmen? dazubekommen mit Millionen von ar- einnehmen könne. Steigen die Steuer- Das sind furchtbare Folterinstrumente, die beitswilligen Menschen. Ihr habt großarti- sätze zu sehr, sinken die Gesamtein- den Effekt der Reform gefährden könnten. ge Unternehmen, die hochproduktiv sind. nahmen des Fiskus wieder, weil den Ich begreife das nicht. Und ihr betreibt eine vorbildliche Geld- Bürgern die Lust an der Arbeit ver- SPIEGEL: Wie soll denn sonst das Milliar- politik. Ihr könntet eine blühende Wirt- geht. Gestützt auf Laffers Annahmen, denloch gestopft werden, das die Reform schaft haben ... senkte Reagan 1981 den Spitzensteuer- reißt? SPIEGEL: ... wenn ihr nur die Steuern senkt. satz von 71 auf 50 Prozent. Laffer, 56, LAFFER: Auf jeden Fall nicht durch Steuer- LAFFER: Und zwar dramatisch. Der Spit- arbeitet heute als Finanzberater in San erhöhungen. Als Jacques Chirac in Frank- zensteuersatz muß runter, ganz weit. Das Diego, Kalifornien. reich vor einiger Zeit die Mehrwertsteuer muß ein spektakuläres Signal geben. Dann erhöhte, um mehr Geld in die Kassen zu

der spiegel 4/1997 33 Titel bekommen, geschah das Gegenteil. Frank- Lethargie.Wer Geld hatte, versuchte es ir- ten sich zurück, weil sie genau wissen: In reichs Defizit wurde noch größer. gendwo zu verstecken, um ja keine Steu- zwei Jahren habe ich viel mehr von meiner SPIEGEL: Nach Ihrer Theorie steigen ern zu zahlen, genau wie heute in Deutsch- Arbeit, dann bleibt mir mehr von meinem die Staatseinnahmen, auch wenn der land. Wir hatten Streiks, Rassenunruhen, Profit. Mit solchen Plänen riskiert die Re- Fiskus die Steuersätze senkt. Das klingt keiner hatte Lust zu investieren. Es ging gierung erst recht eine Rezession. paradox. abwärts mit dem Land, und zwar rapide. SPIEGEL: Die Bonner Regierung argumen- LAFFER: Ist es aber nicht. Die Deutschen Dann kam Reagan, und ich gebe zu, wir tiert, sie könne sich die Reform früher nicht zahlen die höchsten Steuern Europas. Das haben entsetzliche Fehler gemacht, vor al- leisten. würgt die unternehmerische Initiative ab, LAFFER: Das ist doch furchtbar. Sie müssen die Menschen haben weniger Lust, sich „Deutschland ist nicht mehr die Steuern runterbringen, und zwar furchtbar anzustrengen. Senken Sie die schnell. Sie sollten niemals eine Steuerre- Steuern, brummt der Laden plötzlich, Fir- wettbewerbsfähig form für das übernächste Jahr ankündi- men investieren, neue Betriebe entstehen. in einer globalen Wirtschaft“ gen. Das kostet die Regierung am Ende Stellen Sie sich vor, die Arbeitslosigkeit in viel mehr. Ich verstehe es nicht: Das Mil- Deutschland würde sich halbieren. Statt lem am Anfang. Die haben das Defizit sehr lionenheer der Arbeitslosen wächst, das Arbeitslosenhilfe zu zahlen, würde der vergrößert. Land verschleudert seine Talente, die Men- Staat plötzlich Steuern einnehmen. Stellen SPIEGEL: Welches war der teuerste Fehler? schen leiden, weil sie arbeiten wollen, und Sie sich die Milliarden vor, die eine boo- LAFFER: Wir haben die Steuerreform zu die Regierung zögert. Deutschland ist da- mende Wirtschaft der deutschen Staats- lange hinausgezögert. Wir haben 1981 eine bei, sich selbst zu zerstören. kasse einbringen würde. Eine solche Re- Steuersenkung um 30 Prozentpunkte be- SPIEGEL: Ihr Enthusiasmus in Ehren. Aber form bezahlt sich von allein. schlossen, die Umsetzung aber bis 1983 hin- es ist zweifelhaft, ob eine Steuersenkung SPIEGEL: Das haben Sie Anfang der achtzi- ausgezögert. Ich weiß noch genau, wie mich allein ein Wirtschaftswunder entfacht. ger Jahre auch dem US-Präsidenten Rea- Präsident Reagan im August 1981 anrief und LAFFER: Es wäre die Zündung. Deutschland gan versprochen. Das Ergebnis war das jubelte: „O Gott, wir haben das Steuergesetz hat sich in eine sehr gefährliche Situation manövriert. Es ist heute nicht mehr wett- bewerbsfähig in einer globalen Wirtschaft. Die deutschen Unternehmen bauen immer mehr Fabriken in Frankreich, England oder Amerika, aber nicht in der Heimat.Warum nicht? Weil sich Geldverdienen dort nicht lohnt, weil die Steuern völlig überzogen sind und die Initiative abwürgen. Und dazu müssen sie noch all die Steuerberater und Anwälte bezahlen, weil das System so kompliziert ist. Es ist nun mal so: Der Mensch braucht Anreize, sonst arbeitet er nicht. SPIEGEL: Es sind doch nicht allein die hohen Steuern, die Investoren abhalten. In vielen Nachbarstaaten Deutschlands sind die Löhne niedriger, die Arbeitsgesetze nicht so rigide, die Sozialabgaben geringer. LAFFER: Natürlich ist vieles starr in Deutschland. Aber das wird sich langsam ändern. Die Steuern können Sie sofort runtersetzen, und es kostet den Staat fast nichts, weil die Wirtschaft sofort anspringt. In Amerika gingen die Staatseinnahmen 1983 leicht zurück. Aber schon im näch- Laffer (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Die Reform bezahlt sich von allein“ sten Jahr stiegen sie wieder, im gleichen Tempo wie zuvor. Deutschland ist heute höchste Budget-Defizit in der Geschichte durchgeboxt. Ist das nicht großartig, Art?“ da, wo Amerika 1980 war, mitten in der Amerikas. Ich antwortete: „Sir, ich bin sehr besorgt. Katastrophe. Sie haben die Chance, einen LAFFER: Und ein einmaliger Wirtschafts- Wieviel würden Sie in einem Supermarkt großen Boom zu entfachen, von dem alle boom. Unter Präsident Reagan entstanden ausgeben, der gerade einen großen Ausver- profitieren. 18 Millionen neue Arbeitsplätze. Die Ar- kauf für den nächsten Monat angekündigt SPIEGEL: Kritiker halten Ihnen vor, eine beitslosigkeit sank auf rund 5 Prozent.Wir hat? Nicht sehr viel.“ Ich hatte recht: 1981 massive Steuersenkung fördere lediglich hatten Wachstumsraten von bis zu 6,2 Pro- und 1982 hatten wir die schlimmste Rezes- den Konsum: Die Menschen würden sich zent. Die Aktien stiegen in nie gekannte sion seit den dreißiger Jahren, weil alle auf teurere Autos kaufen oder Luxusferien ma- Höhen ... die Reform warteten und niemand inve- chen. Zu neuen Investitionen in Zukunfts- SPIEGEL: ... und ebenso die Schulden. Noch stierte. Anfang des Jahrhunderts war es technologien käme es nicht. heute leiden die USA unter der Erblast schon mal so gewesen. Die US-Regierung LAFFER: Das ist falsch. Es geht nicht um aus dieser Zeit. Herbert Stein, ehemals beschloß 1921, die Spitzensteuersätze von 78 Geld, sondern um Psychologie. Wenn Sie Chefökonom von Richard Nixon, sagt: Wir auf 25 Prozent zu senken. Aber die Reform die Steuern senken, geben Sie den Men- können uns einen Reagan nur einmal lei- trat erst 1924 in Kraft. In der Zwischenzeit schen, die am ehesten bereit sind zu inve- sten und dann nicht wieder. sackte das Land in tiefe Depression. stieren, große zusätzliche Anreize. So ent- LAFFER: Das mag sein. Aber wir mußten SPIEGEL: Die Deutschen diskutieren seit ei- stehen Hunderte von neuen Unternehmen ihn uns leisten. In Amerika herrschte nem Jahr über die Reform, runter mit der und massenhaft Arbeitsplätze. Steuer geht es nicht vor 1999. Zu spät? SPIEGEL: Womöglich wirkt die Psychologie * Mit Redakteuren Werner Meyer-Larsen und Mathias LAFFER: Das ist sehr gefährlich.Was wird bis in den USA besser: Die Amerikaner sind Müller von Blumencron. dahin passieren? Alle warten ab und hal- risikofreudiger als die Deutschen, optimi-

34 der spiegel 4/1997 gleichzeitig den Staatshaushalt zu sanie- ren. Aber kaum einer wollte ihm glauben. Steuern runter und Schulden runter funk- tioniere nicht, sagten die Ökonomen. LAFFER: Natürlich funktioniert es, aber nicht immer. Doles Plan hatte Fehler und kam zur falschen Zeit. Die Steuern waren schon recht weit unten, die Wirtschaft florierte. SPIEGEL: In Amerika profitierten in den ver- gangenen Jahren die Reichen. Während sich ihre Einkommen vervielfachten, ver- dient ein Arbeiter heute noch das, was sein Vater in den sechziger Jahren bekam. LAFFER: Zunächst einmal: Das durch- schnittliche Haushaltseinkommen ist in den vergangenen 20 Jahren um rund 24 Prozent gestiegen ... SPIEGEL: ... weil auch Ehepartner und oft selbst die Kinder arbeiten mußten, zu Löh- nen von fünf Dollar die Stunde. LAFFER: Aber sie haben Arbeit. Die beste Methode, Ungleichheit zu beseitigen, ist, Arbeitslosen Arbeit zu geben. Nicht alle werden reich. Aber alle erhalten die Chan- ce. Das deutsche Steuersystem verhindert, daß Millionen Menschen Arbeit finden, und Sie wollen mir erzählen, es sei gerechter. SPIEGEL: In England, wo Margaret Thatcher Ihnen gefolgt ist, sieht es noch düsterer aus. Die Arbeitslosigkeit ist kaum niedriger als in Westdeutschland, Straßen und Ei- senbahnen sind vernachlässigt, Millionen sind in Armut abgesunken. LAFFER: Vergessen Sie nicht, wie es in Eng- land vor Maggie Thatcher aussah.Aber ich bin nicht mit allem einverstanden, was dort passiert ist. Ich bin kein Liberalist, ich bin nicht gegen den Sozialstaat und auch nicht gegen Staatsausgaben. Das soziale System hat Deutschland viel Stabilität gebracht, bewahren Sie es bloß. Und Sie können es retten, indem Sie die Steuern senken. SPIEGEL: Sie haben eine eigenartige Vor- stellung von Gerechtigkeit. Das Optimum wäre, so sagen Sie, ein einheitlicher Steu- ersatz von zwölf Prozent für alle. LAFFER: Ohne Schlupflöcher und Vergün- stigungen. Und das Entscheidende ist: Die US-Regierung würde genausoviel Geld Politikpartner Laffer, Reagan: „Nicht alle werden reich, aber alle erhalten die Chance“ einnehmen wie vorher. In Deutschland denken Sie noch immer so altmodisch. Sie stischer und viel eher bereit, sich als Un- LAFFER: Die Steuersätze sind immer noch wollen die Welt mit Steuern gerechter ma- ternehmer zu betätigen. niedriger als am Anfang der Achtziger. chen. Das funktioniert nicht. Sie können LAFFER: Diesen Sermon kenne ich, aber an- Clinton, gegen den ich wenig habe, profi- mit Steuern nicht die Verteilung von Ein- dersherum. Als wir 1980 die Steuerrefor- tiert außerdem von der Dynamik, die Rea- kommen beeinflussen. Wohl aber hat es men diskutierten, argumentierte Reagan: gan in Gang gesetzt hat. der Fiskus in der Hand, ob es den Men- Seht euch die Deutschen an, da hat es SPIEGEL: Wollen Sie uns erklären, daß der schen in einem Land gutgeht. Reichtum ist funktioniert. Die haben soviel Initiative, heutige Wirtschaftsboom in den USA auf wundervoll, Armut entsetzlich. Machen eine hohe Arbeitsmoral. Und wir Ameri- Reagans Politik zurückzuführen ist? Sie die Armen reich, nicht umgekehrt. kaner sind faul, träge und warten, daß der LAFFER: Reagan hat das Signal gegeben, das SPIEGEL: Ihre Familie stammt aus Ost- Staat uns die Miete zahlt. Ich frage mich: Ruder herumgerissen. Sein Nachfolger preußen. Haben Sie jemals daran gedacht, Haben die Deutschen ihre Geschichte ver- Bush dagegen war ein Lügner, ein schlim- nach Deutschland zurückzukehren? gessen, haben sie verges- mer Verräter. Er trat an als Erbe Reagans, LAFFER: Ich würde gern. Ich bin sehr stolz, sen, haben die Menschen im Wirtschafts- ließ sich wählen und setzte prompt die Deutschamerikaner zu sein, alle meine wunderland vergessen, wie sie zur führen- Steuern rauf. Kein Wunder, daß es unter Kinder sprechen ein bißchen Deutsch. den Wirtschaftsnation Europas wurden? Es seiner Regierung zur Rezession kam.Aber SPIEGEL: Was hindert Sie? ist eine Tragödie. die Wirtschaft hat ihn verkraftet, wie sie LAFFER: Warum sollte ich in eine Gegend SPIEGEL: Die Präsidenten Bush und Clinton auch Clinton verkraftet. ziehen, wo ich bankrott gehe. Warum? Na haben die Steuern heraufgesetzt – und SPIEGEL: Der Clinton-Herausforderer Bob ja, ich könnte ein Mönch werden. trotzdem brummt die Wirtschaft. Offen- Dole versprach im vergangenen Wahl- SPIEGEL: Herr Laffer, wir danken Ihnen für bar wirken da noch andere Kräfte. kampf, die Steuern wieder zu senken und dieses Gespräch.

der spiegel 4/1997 35 Deutschland Nach dem Abgang von Wallmann-Nach- vorigen Dienstag in einer gemeinsamen UMZUG folger Wolfgang Brück (CDU) als Ober- Sitzung in Berlin gegenüber einem Vertre- bürgermeister im Jahre 1989 ließ der neue ter des Kanzleramtes die Rechtmäßigkeit SPD-OB den Dezernenten des Kohl-Wunsches in Zweifel: Nach der Erst feuern, abwählen. Vertragslage sei es nicht zulässig, die Ge- Hauff wollte in der von Korruptions- schäftsführung einfach um einen Außen- skandalen geschüttelten Main-Metropole stehenden zu erweitern. dann heuern aufräumen. Haverkampf mußte damals ge- Der SPD-Bundestagsabgeordnete und hen, weil er den Magistrat nicht über einen Architekt Peter Conradi argwöhnt, der Ein geschaßter Baudezernent wegen Unterschlagung zu Lasten der Stadt Kanzler wolle „einen willfährigen Mann“ soll dafür sorgen, daß verurteilten SPD-Stadtverordneten infor- in der Baugesellschaft unterbringen, um miert hatte. Außerdem soll der Baudezer- so „auf direktem Weg in die Geschäfte der Kohls Kanzleramt in Berlin nent versäumt haben, weitere städtische BBB hineinzuregieren“ – ob es nun darum pünktlich fertig wird. Aufträge an den Mann zu unterbinden. gehe, die Bauleute „unter Zeitdruck“ zu Die BBB verbaut in Berlin für Parlament setzen oder „persönliche Gestaltungs- enn alles nach Plan läuft, dann und Regierung rund 2,9 Milliarden Mark, wünsche“ unauffällig zu plazieren. bezieht der Kanzler spätestens davon 400 Millionen für das neue Kanzler- Als Mitglied der Baukommission des WAnfang des Jahres 2000 sein neu- amt, das die Architekten Axel Schultes und Bundestages appellierte Conradi in einem es Domizil am Berliner Spreebogen. Und Charlotte Frank entworfen haben. Die BBB Brief an Bundestagspräsidentin und BBB- da Helmut Kohl Risiken grundsätzlich erhält dafür insgesamt 84,4 Millionen Mark Aufsichtsrätin Rita Süssmuth, „keinen nicht schätzt, soll dieser Plan auch notfalls Honorar bis zum Jahre 2002. Die Bauge- Änderungen in der Geschäftsführung, mit unkonventionellen Methoden erfüllt sellschaft war 1993 nach den schlechten Er- Struktur und Aufgabenzuweisung der werden. Kohl: „Ich will eine pragmatische fahrungen mit der Bundesbaudirektion ge- BBB zuzustimmen“, ohne vorher Älte- Lösung.“ gründet worden, um die Prestigeprojekte stenrat und Haushaltsausschuß des Bun- Die glaubt der Kanzler nun in Gestalt Kanzleramt und Parlament effizienter und destages „informiert und konsultiert“ zu des früheren Frankfurter Baudezernenten zügiger durchzuziehen. haben. AP J. P. BÖNIG / ZENIT P. J. Baudezernent Haverkampf (1987), Kanzleramtsarchitekt Schultes (mit Modell): Planerfüllung um jeden Preis

Hans-Erhard Haverkampf gefunden zu ha- Nun will Kohl – gegen Widerstand aus Um die zahlreichen Kritiker zu be- ben. Für ein Jahreshonorar von rund 250000 Bundestag und Verwaltung – den Neubau sänftigen, wird jetzt im Kanzleramt ein Mark darf der einst am Main geschaßte aus der gemeinsamen BBB-Planung mit Scheinkompromiß angestrebt: Haverkampf Baumanager an der Spree in Aktion treten den Parlamentsneubauten und dem Um- könne in der Gesellschaft „unterhalb der – vorausgesetzt, Kohl setzt ihn durch. bau des Reichstages herauslösen. Der Geschäftsführung“ angesiedelt werden, Per Werkvertrag, so die ursprüngliche Kanzler fürchte, so heißt es in seiner Um- jedoch mit „Weisungsbefugnis“ und eige- Planung des Kanzleramtes, soll Haver- gebung, die neue Regierungszentrale kön- nem Vortragsrecht gegenüber dem Auf- kampf als dritter Geschäftsführer in die ne von Verzögerungen bei den Bundes- sichtsrat. 1993 von Bundesregierung und Bundestag tagsprojekten „Dorotheenblöcke“ und Der Aufsichtsratsvorsitzende Klein kün- gegründete „Bundesbaugesellschaft Ber- „Alsenblock/Luisenblock“ betroffen sein. digte intern jedoch bereits Widerstand ge- lin mbH“ (BBB) eintreten. Haverkampf Kohl selbst müßte dann damit rechnen, im gen die neue Kohl-Variante an. Er könne wurde dem Kanzler von BBB-Aufsichts- Wahlkampf 1998 dafür politisch verant- sich nicht vorstellen, daß der Aufsichtsrat ratsmitglied (CDU) emp- wortlich gemacht zu werden. dem Freiberufler Haverkampf dieses Maß fohlen. Die BBB-Geschäftsführer Winfried Rüt- an Selbständigkeit gewähren dürfe. An- Der heute in Berlin ansässige „selbstän- ter und sowie der dernfalls würde er die gesetzliche Verant- dige Projektentwickler“ war länger als BBB-Aufsichtsratsvorsitzende, Professor wortlichkeit der beiden Geschäftsführer zehn Jahre Frankfurter Baudezernent. Günter Klein aus Düsseldorf, zogen am untergraben. ™

36 der spiegel 4/1997 VERKEHR Hauch einer Chance Bonn bereitet den Rückzug vor, die Industrie sucht neue Investoren: Das Projekt Transrapid wackelt.

er Verkehrsminister gab sich ganz arglos, beseelt von gesundem Men- Dschenverstand. Keineswegs sei er vom Projekt Magnetschwebebahn ab- gerückt, sagte . Er habe nur die Industrie daran erinnert, daß sie ihre Aufgaben für den Transrapid erledigen müsse. „Das ist doch“, so Wissmann, „eine Selbstverständlichkeit.“ Natürliches Ende Süddeutsche Zeitung Schön wär’s ja. Selbstverständlich war bislang nur die brutale Art, mit der Wiss- Verkehrspolitischer Unfug ist der Bau die private Wirtschaft jetzt völlig neue Be- mann, immer freundlich lächelnd, jedes der Trasse Berlin–Hamburg vor allem des- rechnungen anstellt. sachliche Argument gegen den Bau der halb, weil es eine Schienenstrecke bereits „Die Ampeln stehen nun auf Gelb“, be- Transrapid-Strecke zwischen Hamburg gibt und die Bahn durchaus in der Lage urteilt Eckhard Rohkamm, Vorstandsvor- und Berlin beiseite wischte. wäre, eine sehr schnelle Verbindung zwi- sitzender der Thyssen Industrie AG, die So horchten Freunde und Gegner des schen den beiden Städten herzustellen, die das Projekt Transrapid koordiniert, nun umstrittenen Projekts auf, als sich am Mitt- allen Bedürfnissen genügt. Diese Lösung die Zukunftschancen des ehrgeizigen Vor- woch vergangener Woche die Nachricht wäre weitaus billiger als der Bau einer völ- habens. „Ich bin Realist genug, um zu wis- verbreitete, der Verkehrsminister ziehe die lig neuen Strecke, und der oft zitierte Zeit- sen, daß mit einer reduzierten Fahrgast- Notbremse. Einen „Transrapid um jeden vorteil des Transrapid schwindet ohnehin, prognose das Projekt nicht auf die sichere Preis“, so hatte Wissmann vor dem Ver- wenn er – wie geplant – mehrfach unter- Seite befördert wird.“ kehrsausschuß des Bundestages erklärt, wegs haltmachen soll. Und die Prognosezahlen sind reduziert. werde es nicht geben. Freunde des Verkehrsministers meinen, Auch der Minister gibt zu, daß nach neu- Genau diesen Eindruck aber hat der Mi- der Mann sei vergangene Woche mißver- esten Berechnungen die Reisenden zwi- nister mit seinen feurigen Plädoyers für standen worden. Er habe doch nur sagen schen Berlin und Hamburg allenfalls noch den Transrapid bislang immer erweckt – wollen, so Dirk Fischer,Verkehrspolitischer 2,6 bis 3,5 Milliarden Kilometer pro Jahr daß die Strecke zwischen den beiden größ- Sprecher der Union, daß Bonn nicht bereit zurücklegen werden; bislang hatten Wiss- ten deutschen Städten Hamburg und Ber- sei, zusätzliche Kosten zu tragen. Auch mann und seine Unionskollegen mit rund lin auf jeden Fall gebaut werde. Einwände Fischer jedoch räumt ein, daß die am 4,1 Milliarden Personenkilometern pro von Verkehrsexperten, von Technikern und Projekt beteiligten Industrieunternehmen Jahr gerechnet. Umweltschützern begegnete er stets mit an bisherigen Vereinbarungen rütteln und Genaue Zahlen zum Verkehrsaufkom- dem Totschlagargument, die Wirtschaft Modelle diskutieren, die den Steuerzahler men kann auch Rohkamm noch nicht brauche den Transrapid als Beweis ihrer weiter belasten würden. vorweisen. Eins aber ist ihm jetzt schon Exporttüchtigkeit. Insofern aber ist Wissmann eben nicht klar: „Wir werden den Teufel tun, in ein Die Sorgen der Menschen, an deren mißverstanden worden: Er baut eine Rück- Projekt zu investieren, bei dem wir kei- Häusern der Hochgeschwindigkeitszug mit zugsposition auf; das so hartnäckig ver- nen ausreichenden Return on Investment großem Lärm vorbeirauschen soll, zählen fochtene Unternehmen Magnetschwebe- bekommen.“ für Wissmann ohnehin nicht. Wer die bahn könnte doch noch scheitern, wenn Thyssen und die übrigen beteiligten Fir- Schwebebahn ablehnt, wird zum Gegner men sind vor allem daran interessiert, noch des technischen Fortschritts erklärt, scha- weitere private Investoren für die riskante det mithin der Wirtschaft, damit dem Ge- Unternehmung im Schwebezustand zu fin- meinwesen und sich selbst und verwirkt den. „Das ist für uns entscheidend“, sagt folglich sein Recht, als Bürger ernst ge- Rohkamm. nommen zu werden. Wie der Verkehrsminister meinen auch Der Transrapid ist in einer Zeit geplant die beteiligten Herstellerfirmen, daß sich worden, als die Techniker der Eisenbahn – der Transrapid nur verkaufen läßt, wenn Rad-Schiene-System nennen das die Fach- die Stelzenbahn quer durch Mecklenburg leute – nicht zutrauten, daß sie in abseh- und Schleswig-Holstein gezogen wird. barer Zeit weit schneller als 200 Stunden- Sonst gebe es „nicht den Hauch einer kilometer fahren könnte. Chance zum Export“. Der französische TGV und der deutsche Und dann? Thyssen werde, so Roh- ICE haben das längst widerlegt. Inzwi- kamm, in diesem Fall die Entwicklungsar- schen haben sich die europäischen Staaten beiten am Transrapid beenden. „Wir wer-

auf ein Netz von Hochgeschwindigkeits- PRESS ACTION den versuchen, unser Know-how an einen strecken verständigt, das die Länder her- Verkehrsminister Wissmann (im ICE) ausländischen Partner zu verkaufen. Das vorragend verbinden wird. „Nicht um jeden Preis“ war’s dann.“ ™

der spiegel 4/1997 37 Deutschland

SCIENTOLOGY „Nicht ganz bei Troste“ Interview mit dem Schriftsteller Jurek Becker über den Versuch amerikanischer Hollywood-Größen, die Scientology- Sekte gegen deutsche Kritik in Schutz zu nehmen

die Minderheiten darin spielten. So kommt es, daß in kaum einer demokratischen Gesellschaft Minderheiten auf dem Papier so geschützt sind wie in der amerikani- schen, egal um was für Minderheiten es sich handelt: Bibelforscher, Amish People, Indianer, Milliardäre, Kleinkaliberschüt- zen, Scientologen. SPIEGEL: Also Freiheit auch für Feinde der Freiheit? BECKER: Ja, Hauptsache, sie haben nichts mit Sozialismus am Hut. Im Fall der Scien-

A. REISER / BILDERBERG tologen kommt hinzu, daß ein paar Leute mit Star-Status zu ihnen gehören, in den Anzeige von Scientology-Unterstützern* Jurek Becker Augen der meisten Amerikaner Leute mit „Monströs lächerlicher Vergleich“ wurde in Lódz´ geboren und verbrach- Glamour, und für Dustin Hoffman und te seine Kindheit im dortigen Ghetto seine Mit-Briefschreiber Kollegen, die wie er täglich auf uns lauert. Im übrigen sowie in den Konzentrationslagern man nicht im Regen stehen lassen darf. sehe ich weit und breit nichts, womit sich Ravensbrück und Sachsenhausen. Der Ein Akt von Solidarität auf der Basis von die Sekte einen solch unendlich ehrenvol- 59jährige veröffentlichte zuletzt die Uninformiertheit. len Vergleich verdient hätte. Aufsatzsammlung „Ende des Größen- SPIEGEL: Aber in letzter Zeit hört man in SPIEGEL: Die deutschen Politiker haben Ihre wahns“. Deutschland tatsächlich Äußerungen von Zustimmung? Politikern, die den Scientologen nichts BECKER: Ausnahmsweise. Man will die SPIEGEL: Herr Becker, was war Ihr erster Gutes verheißen. Sekte offenbar dahin bringen, ihre Ak- Gedanke, als Sie den offenen Brief promi- BECKER: Dennoch ist der Vergleich von tivitäten als das zu deklarieren, was sie nenter US-Künstler an Helmut Kohl lasen, Aktionen gegen die Scientology-Sekte mit sind: als Geschäfte. Und das finde ich in dem die Behandlung der Scientology- der Judenverfolgung der Nazis geradezu in Ordnung. Wenn es Bestrebungen gäbe, Sekte im heutigen Deutschland mit Hit- monströs lächerlich. die Scientologen in Lager zu stecken lers Judenverfolgung verglichen wird? SPIEGEL: Die Argumentation der amerika- oder gar physisch zu vernichten, sollten BECKER: Ich habe gedacht, die sind nicht nischen Scientologen-Verteidiger lautet Sie mal hören, was für ein ungeheuerli- ganz bei Troste. Und dann dachte ich, aber: Die Repression gegen die Juden hat cher Proteststurm losbräche – ich wäre Dustin Hoffman war nicht nur deshalb auch klein angefangen. sofort dabei. Aber Hoffman und seine beeindruckend in dem Film „Rain Man“, BECKER: Eine solche Befürchtung kann man Leute tun so, als würde genau das jetzt weil er sich so tief in die Rolle eines bei jeder sich anbahnenden Repression losgehen. Autisten versetzen konnte, sondern weil äußern, ausnahmslos bei jeder. Aber es ist SPIEGEL: Viel Lärm um nichts? er tatsächlich schwere Probleme mit der wenig sinnvoll, andauernd die größte Ar- BECKER: Um nichts würde ich nicht sagen. Wahrnehmung von Wirklichkeit hat. gumentenkeule hervorzuziehen, die die Eher: falscher Lärm um etwas.Wie würden SPIEGEL: Warum setzen sich Ihrer Meinung Weltgeschichte zu bieten hat, und die die Briefschreiber reagieren, wenn etwa nach viele Amerikaner derart vehement Ermordung von Millionen von Juden als der Vorwurf erhoben würde, die ame- für Scientology ein? einen Schrecken an die Wand zu malen, rikanische Invasion Grenadas erinnere an BECKER: Zum Teil hat es mit ihrer Ge- Hitlers Einmarsch in Polen? Das wäre ge- schichte zu tun, mit der wichtigen Rolle, * In der international herald tribune vom 9. Januar. nauso hirnrissig. ™ HALSTEAD / GAMMA STUDIO X HALSTEAD PRESS ACTION APESTEGUY / GAMMA STUDIO X F. PRESS ACTION MARKEL / GAMMA STUDIO X Briefunterzeichner Larry King, Tina Sinatra, Dustin Hoffman, Goldie Hawn, Oliver Stone: „Solidarität aus Uninformiertheit“

38 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

PARTEIENWERBUNG Frisch gestylt Die SPD läßt sich für die Bundestagswahl 1998 etwas Originelles einfallen – sie wechselt die Werbeagentur.

laf Schnakenberg und Detmar Kar- pinski haben schon für allerlei OProdukte geworben. Mit ihrer Agentur KNSK/BBDO ließen sie den Weißen Riesen wiederauferstehen, dem profillosen Spülmittel Somat verpaßten sie ein flottes Image. Kaum fiel die Mauer, lehrten sie die Ostdeutschen, daß die ihre sperrigen Sehhilfen beim Discount-Opti- ker Fielmann gegen eine schnittige West- Brille tauschen konnten. Ohne Zuzahlung, begrüßungsgeldschonend. „Angst“, sagt Schnakenberg, 46, „habe ich vor keinem Auftrag.“ Karpinski, 37, nickt entschlossen.

Etwas befremdet waren die Rekla- KEYSTONE memänner indes, als ein Kollege zum Ge- Wahlkämpfer Brandt (1961): Traumpartner der Kampagnenmacher winn des neuen großen Etats mit unge- wöhnlich bitteren Zeilen gratulierte. „Auf Euch kommen Blut, Schweiß und Tränen zu“, schrieb Werber Werner Butter. In den vergangenen acht Jahren hatte sich Altmeister Butter die SPD-Werbung ausgedacht; der undankbare Auftrag ist nun an die KNSK/BBDO übergegangen. Mit dem Etat von 40 Millionen Mark sollen die fixen Hamburger 1998 einem Sozialdemo- kraten zur Kanzlerschaft verhelfen. Und damit haben Schnakenberg und Karpinski schon das eigentliche Problem: Sie müssen eine Kampagne für einen Kandidaten ent- werfen, den es noch gar nicht gibt. Weder mit Wahlwerbung noch mit So- zialdemokraten hatten die Neuen bislang viel zu tun. Schnakenberg erarbeitete in den sechziger Jahren mal die Kampagne für eine Schulsprecherwahl, Karpinski be- gegnet dem ehemaligen Hamburger Bür- germeister Klaus von Dohnanyi gelegent- lich beim Brötchenholen. Immerhin hat das Duo die Kampagne über die hehren Unternehmensziele für den Mineralölkon-

zern Shell – „Das wollen wir ändern“ – er- KNSK funden. Die wurde jedoch eingestellt, als KNSK-Vorschlag für SPD-Wahlplakat: Lieber spießig als spielerisch der öffentliche Konflikt um die Ölplatt- form „Brent Spar“ ausbrach. klassische Produktreklame den werbege- für nichtausbildende Betriebe bekräftigt, Die ersten Besuche der Werbeleute, im wohnten Menschen inzwischen in einen ist für den Wahlkampfstrategen Harry Wal- standesgemäßen Streifenhemd mit dyna- witzigen, provozierenden, skurrilen oder ter, einen bekennenden Sozialdemokra- misch hochgerollten Ärmeln, verbreiteten spielerischen Scheindialog verwickelt, ten, schlicht „eine Katastrophe“. immerhin Mut im Bonner Erich-Ollenhau- funktioniert Wahlwerbung eher nach Walter, 67, führte mehr als 80 Wahl- er-Haus. Der für Reklame zuständige Bun- althergebrachten Mustern. Damit sie von kämpfe, etwa für den damaligen Jerusale- desgeschäftsführer Franz Müntefering möglichst jedem richtig verstanden wird, mer Bürgermeister Teddy Kollek oder für frohlockte: „Wir haben eine der besten soll Parteienreklame ruhig einen Hauch Schimon Peres. Für insze- Agenturen Deutschlands gewonnen.“ Spießigkeit mit sich führen. nierten Walter und seine Agentur Are den Tatsächlich wird KNSK in der Hitliste Wie kläglich eine ulkig gemeinte Zeile Wahlkampf nach US-Vorbild. Weil Tests des Fachblatts horizont unter der Rubrik scheitern kann, zeigte die jüngste Kampa- ergaben, daß die Farbe Orange frischer „Kreativität“ auf Rang sechs geführt. Doch gne der Jusos. Der Spruch „Wer nicht aus- und jünger wirkt als das kommunistische ist Einfallsreichtum in der politischen bildet, wird umgelegt“, mit dem der SPD- Rot, veränderte Walter 1969 die Optik der Werbung nicht so wichtig. Denn während Nachwuchs seine Forderung nach Strafen Partei.

40 der spiegel 4/1997 „Meine Partei gibt es nicht. Das heißt für bayerischer Ministerpräsident stracks ins mich: das kleinste Übel wählen. Und das ist Kanzleramt strebte. Weil Gerhard Schrö- für mich die SPD.“ der vor allem sich im Charakterdarsteller Mit dieser Trotzdem-Taktik hatte Walter wiederentdeckte, „hat es ihn vor Begei- eines der größten Probleme der Wahlwer- sterung aus dem Sessel gehoben“, berich- ber gelöst. Selbst negative Meldungen aus ten Teilnehmer der Werbungssitzung. der Partei wurden so abgefedert. Dankbar verwandte er sich nachher dafür, Willy Brandt war der Traumpartner der KNSK zu verpflichten. Man kennt sich ja Kampagnenmacher. Er hatte keine Beden- auch, die Agentur wirbt schon länger für ken, den Stil Kennedys auf Deutschland die Expo 2000, Schröders Renommier- zu übertragen. Im Frühjahr 1961 ließ er projekt in Hannover. sich im Cabrio 40000 Kilometer durch die Weil die Kandidatenkür frühestens An- Provinz schaukeln. Jeden Tag hörten bis zu fang 1998 ansteht, arbeiten die Hamburger 50 000 Menschen die Botschaft: „Wohl- und Münteferings Strategen notgedrungen stand ist für alle da.“ an einem Universalkonzept für 1998, das Brandts Enkel verspüren weniger Spaß auf jeden Kandidaten anzuwenden ist. an Reklame. Lange mußte Kanzlerkandi- Als Vorbild dient der Clinton-Wahl- dat 1994 bearbeitet wer- kampf 1992, der unter Experten als Mei- den, bis er einsah, daß ein Fototermin für sterleistung gilt. Die Ausgangslage ist ein millionenfach geklebtes Plakat eben- der deutschen von heute halbwegs ver- soviel Zeit beansprucht wie die Rede vor gleichbar: George Bush, nach acht Jahren einer Handvoll Menschen. als Vize und vier Jahren als Präsident wollte sich gar nicht verbraucht, wurde im rezessiven Amerika erst überzeugen lassen. Als der Troika-Spot mit Wirtschafts- und Steuerthemen zu im Spätsommer 1994 gedreht wurde, in permanenter Verteidigung gezwungen. dem Schröder, Scharping, Lafontaine durch Zugleich lieferte das Clinton-Team dem einen Säulengang tollen, verabschiedete Kandidaten jene Textbausteine, aus denen sich der Saarländer nach dem sechsten Ver- er seine Ansprachen bastelte: „Zuerst die such, nach nur 20 Minuten, mit den Wor- Menschen!“ – „Zusammen bauen wir ten: „Ich muß zum Flieger.“ Das Filmteam, Amerikas Zukunft!“ – „Wir können es lange Drehtage mit geduldigen Models ge- besser!“ hämmerte Bushs Rivale den wohnt, war verzweifelt. Wählern unablässig ein. Ein hoher Sozialdemokrat attestiert den Nach diesem Muster orchestriert auch Genossen „eine Antikultur der politischen der vermutlich künftige britische Regie- Kampagnenfähigkeit“. Und selbst Ge- rungschef, der Sozialdemokrat Tony Blair, schäftsführer Müntefering bemängelt, daß seinen Wahlkampf. Sicherheitshalber hat es den Genossen reiche, im Besitz guter sich der Brite einen von Clintons Chef- Ideen zu sein. „Aber wir müssen die doch strategen, George Stephanopoulos, nach auch an den Mann bringen.“ London geholt. Den neuen SPD-Werbern erschließt sich Daß er sich für einen etwaigen Kampf nur langsam, wie eigenwillig die 800000 gegen Kohl 1998 ebenfalls amerikanischer Sozis ticken. Von immenser Wichtigkeit, wurde ihnen bedeutet, sei etwa die mo- natliche Wandzeitung für die Schaukästen der Ortsvereine. Daß die Neuen so wenig von ihrer Auf- gabe wissen, hält Müntefering allerdings für einen Vorteil. Gerade „die Unbefan- genheit“, das Nichtwissen um Pöstchen- hubereien und Empfindlichkeiten, befähi- ge KNSK zu einer wirklich neuen An- sprache an den Wähler. Wenig Rücksicht auf Eitelkeiten ließen die Hamburger schon bei der Präsentation

KNSK ihrer Kampagne im Bonner SPD-Haupt- M. HORACEK KNSK-Werbefilm für die SPD* quartier erkennen. „Wenn Sozialdemo- SPD-Werber Karpinski, Schnakenberg Neue Ansprache an den Wähler kraten die Wahl haben zwischen Macht- Wandzeitung für die Ortsvereine haben und Rechthaben“, analysierte das Er ließ Peter Frankenfeld, Hans Joachim Duo kühl, entschieden sie sich meist fürs Werbehilfe bedienen könnte, will Schröder Kulenkampff und Horst Tappert in An- Rechthaben. Das Fazit für die nächste Bun- nicht ausschließen. Mit einem Mann wie zeigen auftreten. Hohe Glaubwürdigkeit destagswahl: Dem Bundesbürger, der „Si- Dick Morris, Clintons gnadenlosem Bera- erreichten die Prominenten, weil sie nicht cherheit, Ordnung, Führung“ wolle, müs- ter, der wegen einer Callgirl-Affäre gehen die bollerigen Wir-sind-die-Größten-Slo- se klargemacht werden, daß die SPD den mußte, würde sich der Niedersachse „ger- gans der Union kopierten, sondern erst- unbedingten Willen zur Macht habe. ne mal länger unterhalten“. mals leise Zweifel als Stilmittel einsetzten. Der Slogan „Wir sind bereit“ trieb Hei- Ob das hilft? Walter hat seine Zweifel. So bekannte Showmaster Frankenfeld: demarie Wieczorek-Zeul jedoch zu der Sor- Für eine erfolgreiche Kampagne, sinniert ge, der Spruch werde in der Öffentlichkeit der Werbeveteran, brauche die SPD vor * Kurt Schumacher in Hamburg 1946; Willy Brandt in spontimäßig auf „Wir sind breit“ reduziert. allem eines – „ein unverbrauchtes Gesicht, Warschau 1970; erhält 1974 von Bun- despräsident die Ernennungsurkun- Höhepunkt der Eineinhalb-Stunden- einen coolen Macher mit Wirtschaftskom- de zum Kanzler; Schauspieler Michael Douglas in Show war ein fiktiver Werbespot, in dem petenz“. Dafür, sagt Walter, „eignet sich „Wall Street“. Hollywood-Mime Michael Douglas als am ehesten Wolfgang Clement“. ™

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SOZIALDEMOKRATEN Angriff auf den Ober-Ossi Der SPD-Vize tritt für differenzierten Umgang mit ehemaligen SED- Mitgliedern ein. Nur so könne die SPD auch im Osten eine Volkspartei werden. Diese Überzeugung bringt Thierse in Konflikt mit den eigenen Genossen.

echs Jahre ist er nun schon Berufs- politiker, länger als er es sich je hat- Ste träumen lassen. Aber eines kann Wolfgang Thierse bis heute nicht: Er kann sich nicht in Pose werfen. Er kann nicht cool wie Gerhard Schröder in die Kamera schauen, wenn er im Inner- sten wütend ist, nicht wie der Genosse Man- fred Stolpe aus Potsdam mit einem landes- väterlichen Brummton Vertrauen wecken, selbst wenn alles Vertrauen aufgebraucht ist. Thierse tobt, wenn ihm danach ist. Jetzt fühlt sich Thierse, 53, getroffen wie noch nie. Daß einige Genossen ausgerech- net ihm Nachhilfe im Umgang mit der PDS erteilen wollen, erregt ihn aufs äußerste. „Als Frechheit“ empfindet er, daß ihn An- gelika Barbe, gerade erst von der SPD zur CDU gewechselt, als „Obereinfädler“ der PDS-Connection beschimpft. Schließlich war es Thierse, dem die PDS 1994 ganz gezielt als Gegen- kandidaten in seinem Berliner Wahlkreis entgegensetzte. Und daß der Schriftstel- ler, 83, dem Literaturwissenschaftler das Bonner Direktmandat abjagte, hat Thierse erheblich geschwächt. Schon deshalb, glaubt der ranghöchste Ostdeutsche der SPD, müßten ihm die Ge- nossen Lauterkeit der Motive abnehmen, wenn er immer wieder für einen „diffe- renzierten Umgang“ mit der Gysi-Truppe plädiert. Daß die Parteikollegen ihn nicht verstehen oder verstehen wollen, ent- täuscht ihn, daß ihm einer gar Verrat vor- wirft, legt seine Nerven bloß. „Sie stellen mir schon dieselben Fragen wie Pfarrer Hintze“, ranzt er Journalisten an, während er sich vergebens müht, die zu Berge stehenden Haare glattzustreichen. Das mag nicht sehr professionell sein.Aber in diesem Sinne hat es Thierse längst auf- gegeben, Politprofi zu werden. „Mit über 50“, sagt er, „werde ich mich nicht mehr ändern.“ Nie habe er gedacht, daß die Notizen, die er für ein Treffen der ostdeutschen SPD-Chefs Mitte Dezember zu Papier ge- bracht hatte, so einen Wirbel verursachen würden. Dabei hat er nicht viel mehr ge- tan, als das „Dilemma“ der SPD im „Um- gang mit der PDS“ zu beschreiben. Denn die SPD hat in mehreren ostdeutschen Ländern nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Große Koalition mit der CDU oder

* Vor der Statue Willy Brandts in der Berliner Partei- GLASER P. zentrale. SPD-Politiker Thierse*: „Ich werde mich nicht mehr ändern“

46 der spiegel 4/1997 Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolge- In der FDP sagt der Name Westerwelle al- Jetzt rächt sich, daß Thierse 1992 nicht partei, die unweigerlich eine neue „Rote- les, einen Ostler hat der nie gebraucht. Die den Vorsitz der Berliner SPD übernahm, Socken-Kampagne“ der CDU heraufbe- CDU hat den dynamischen Aufsteiger aus sich nicht so jene Hausmacht verschaffte, schwören würde. Sachsen, Heinz Eggert, schnell fallenlas- die ihm nun fehlt. In der vereinten und Doch das Papier des Genossen Thierse sen, Bündnis 90/Grüne hat die bedächtige doch noch immer geteilten Stadt Berlin blieb nicht in dem vertrauten Kreis. Daß es verschlissen. hätte er umsetzen können, was er immer einer der zehn Ostgenossen unter der Längst gilt auch Thierse nicht mehr als predigt. Oft bleibt Thierse nur die Funkti- Hand öffentlich machte, läßt die auch von Polit-Entdeckung wie in den ersten Jahren on als Moderator – oder als Prügelknabe. Thierse vielbeschworene Ossi-Solidarität seiner Amtszeit, als die Westler noch staun- Dabei hat der Bärtige vom Prenzlauer als Wunschdenken erscheinen. ten, wie sprachbegabt ein Ostler sein kann, Berg im vergangenen Jahr ein zweites po- Aus dem „Non-Paper“ wurde so ein und als viele Ostler erleichtert waren, daß litisches Standbein entwickelt. „Ossi zu „Strategiepapier“ (frankfurter rund- da einer so leidenschaftlich für sie warb. sein“, sagt er selbst, „ist auf Dauer keine ausreichende Qualifikation.“ Thierse hat „umgeschult“ auf Sachpoli- tik: Er leitet den Arbeitskreis „Innovative Industriepolitik“, die in Krisengebieten des Ostens Banker,Wissenschaftler und Politi- ker an einen Tisch bringt. Er arbeitet in der SPD-Kommission „Fortschritt 2000“, leitet die Projektgruppe „Informationsge- sellschaft“ der Fraktion, ist Mitglied der Medienkommission der SPD. Als Fraktionsvize zuständig für Bildung und Forschung, fordert er im Bundestag zum Staunen der Regierungsfraktionen ein „Innovationsministerium“ und attackiert vehement den sogenannten Zukunftsmi- nister der Union. In der frankfurter all- gemeinen schreibt er über die „neue Me- dienordnung“.

M. DARCHINGER Doch mit diesen Themen hat es Thierse SPD-Politiker Stolpe, Höppner: Konkurrenz für den Genossen schwer, in die Schlagzeilen zu kommen. Vielen Journalisten gilt der kantige Mann schau), das altbekannte Thierse-Gegner Ein Grund dafür liegt in der Entwicklung nur als Experte fürs ostdeutsche Jammer- auf den Plan rief. Daß der Nichtdissident, der neuen Bundesländer: Die Unterschiede wesen, der höchstens am Tag der deut- Nichtprotestant und Nichtpfarrer vor Jah- zwischen den Ostdeutschen wachsen, schen Einheit angerufen wird. „Leider“, ren an ihnen vorbeigezogen ist, haben sie einer kann nicht mehr für alle sprechen. sagt Thierse selbstironisch, „falle ich nicht nie verwunden. Thierse hat sich nicht krampfhaft an die durch eine Scheidung auf.“ „Es sei schon gut, mal zu wissen, was an- Rolle als ostdeutscher Alleinunterhalter So bleibt nur der Streit mit der oder um dere denken“, tönte der Bundestagsabge- geklammert. Als die Bundestagsfraktion die PDS, der ihm öffentliches Gewicht ver- ordnete , Ex-Pfarrer und die Querschnittsgruppe „Deutsche Ein- leiht. Und da gebe es keinen Grund -Außenminister der DDR; „eine unwürdi- heit“ schuf, hat er nicht verhindert, daß zurückzustecken. „Im Unterschied zu an- ge Sache“ sei der Text, schimpfte der Pa- der Sachse Schwanitz den Vorsitz über- deren“, sagt er mit einem deutlichen Sei- storensohn und Bundestagsabgeordnete nahm. Als die SPD das „Forum Ost- tenhieb auf einige zur CDU gewechselte Stephan Hilsberg. deutschland“ ins Leben rief, hat er es ab- Bürgerrechtler, „habe ich weder eine SED- Und Rolf Schwanitz, Fraktionskollege gelehnt, dafür auch noch den Vorturner zu Vergangenheit noch eine Vergangenheit in aus Sachsen, schwang sich auf, um ein Ge- machen. Der Brandenburger Ministerprä- der Ost-CDU abzuarbeiten.“ genpapier zu verfassen, in dem er dem sident Stolpe übernahm den Vorsitz. Thierse plädiert weiter für Differenzie- Parteivize Naivität und Verrat an den Für seine Zurückhaltung zahlt Thierse rung, für Öffnung gegenüber ehemaligen Grundwerten der Sozialdemokratie vor- jetzt den Preis – die anderen machen ihm SED-Mitgliedern. Wenn man die SPD im hielt. Ein schwerer Vorwurf gegen einen den Platz in der politischen Arena streitig. Osten zur Volkspartei machen wolle, davon Mann, der Chef der Grundwertekommis- „Was die Querschnittsgruppe Deutsche ist er überzeugt, müsse man ins PDS-Mi- sion seiner Partei ist. Jetzt muß er damit Einheit entwickelt, will sie auch selbst ver- lieu einbrechen. Und dazu, glaubt er, müs- rechnen, abgestraft zu werden. Es stehen treten“, sagt Schwanitz. Als Chef dieser se bei der Mitgliederaufnahme das „Rein- Wahlen an, im März zum Fraktionsvor- Arbeitsgruppe demonstriert er den An- heitsgebot“ aufgegeben werden. stand und im Dezember für die Partei- spruch, zu Ost-Themen im Bundestag für Was das bedeutet, haben offenbar die ei- spitze. Und Thierse, der Fraktions- und die SPD das Wort zu ergreifen. genen Genossen viel weniger begriffen als Parteivize, will für beide Posten erneut Daß der Sachse vom die Strategen der PDS. Deren Wahlkampf kandidieren. den linken Thierse als Ober-Ossi der Frak- gegen den ersten Ostler der SPD offen- In einem Brief an Parteichef Oskar La- tion gern beerben würde, gilt seit dem Anti- barte die ganze Demagogie der Gysi-Trup- fontaine fordert der Chefideologe des rech- Thierse-Papier als unzweifelhaft. „Der pe, die stets behauptet, sie treibe die SPD ten sozialdemokratischen „Seeheimer Schwanitz könnte das bestimmt so gut wie nach links: Indem die PDS Thierse Kreises“, der Abgeordnete Karl Hermann Thierse“, läßt Richard Schröder verlauten, schwächte, drängte sie die SPD nicht nach Haack, Konsequenzen für Thierse. Der Theologieprofessor und 1990 SPD-Frakti- links, sondern allenfalls westwärts. Inso- habe eine Diskussion „über das größte onschef in der DDR-Volkskammer. fern wäre ein Scheitern Thierses an der Spalterthema“ vom Zaun gebrochen. Mar- Derweil machen die SPD-Ministerpräsi- SPD-Spitze auch ein Sieg der PDS. kig fordert Haack „politische Charak- denten Stolpe und Reinhard Höppner dem „Ich dachte immer“, schimpft Reinhard terfestigkeit und Zuverlässigkeit der Ober-Ossi Konkurrenz. Sie haben die Kraetzer, der über den Krach unter den Führungspersonen“ ein. Macht, Fakten zu schaffen, sei es im Kampf Ost-Sozis verärgerte SPD-Bürgermeister Im Vergleich zu den Ober-Ossis anderer mit der Bonner CDU, sei es im Umgang von Prenzlauer Berg, „zum Selbstzerflei- Parteien hat Thierse lange durchgehalten. mit der PDS. schen sind wir im Osten zu wenig.“ ™

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POLITISCHES BUCH Der Schuh aus dem Kreml Rudolf Augstein über den Bericht eines Zeitzeugen des Kalten Krieges

Oleg Grinewski, 66, derzeit Botschafter Im Mittelpunkt dieser gefährlichen Jahre Verlierer war, als den wir ihn damals ge- der Russischen Föderation in Schweden, von 1958 bis 1964 stand Nikita Sergejewitsch sehen haben. Von zwei wichtigen Zielen war während der Regierungszeit Nikita Chruschtschow,Jahrgang 1894, der sich kei- hat er eines erreicht. Ohne ihn hätte das Sergejewitsch Chruschtschows (1958 bis neswegs, wie im Westen meist angenom- Experiment des Fidel Castro in Kuba ein 1964) dessen Redenschreiber und Berater men, unlogisch verhielt, zumindest aus klägliches Ende genommen. Dr. Castro ver- in Abrüstungsfragen. Grinewski hat in ei- Moskauer Sicht nicht, wohl aber ignorant. dankt es den Herren des Kreml, daß er ner Mischung aus Quellenmaterial und ei- Sein Gegenspieler war zuerst Präsi- kürzlich den Papst besuchen durfte. Hätte genen Erlebnissen die Geschichte der dent Dwight D. Eisenhower und später die Sowjetunion stillgehalten, wäre Kuba Annäherung der Supermächte USA und dessen Nachfolger John F. Kennedy, zweifellos von Amerika überfallen wor- UdSSR erzählt, die eine Geschichte von beide Anhänger der nach dem Präsiden- den, und zwar mit Zustimmung Eisen- Mißverständnissen ist. ten James Monroe benannten Doktrin. howers wie auch später Kennedys. Noch Chruschtschows Washingtoner Botschaf- der aus dem Amt geschiedene Eisenhower ie sieben Tage der Kuba-Krise im ter Anatolij Dobrynin muß sie gekannt ha- machte seinem Nachfolger den verächtli- Oktober 1962 galten damals und ben, Chruschtschow nicht unbedingt, und chen Vorwurf, daß er bei der gescheiterten Dgelten heute als Menetekel für den welcher Erste Mann hört schon auf seinen Landung der Exilkubaner in der Schwei- Untergang der Menschheit Botschafter. Der Kreml-Herr nebucht nicht die US-Luftwaffe eingesetzt oder doch wenigstens der un- verstand nichts von Völker- habe. Beide waren sie friedliche Menschen. geheuerlichsten, von Men- psychologie. Es begann ironischerweise mit einem Ul- schen betriebenen Katastro- Kein US-Präsident konnte, timatum. Am 27. November 1958 forderte phen. Wie nah allerdings die right or wrong, Sowjetraketen Chruschtschow ein Abkommen über den Katastrophe schon gerückt auf Kuba zulassen. Um Haa- Status von West-Berlin (den übrigens ja war, ist bis heute nie so recht resbreite und unter äußerster auch Eisenhower für unhaltbar hielt). An- wahrgenommen worden. Anspannung der kollektiven dernfalls werde er mit der DDR, so droh- Es ging um ganze 13 Stun- Vernunft ging der Kelch eines te Chruschtschow, einen Friedensvertrag den, und Unausdenkbares unberechenbaren Atomkriegs schließen. Die Verantwortung für die Zu- wäre geschehen, weil die bei- an der Menschheit vorbei. fahrtswege in die „freie Stadt“ West-Ber-

den nominellen Chefs von ih- FOCUS MODRAK / INA AGENTUR J. Bislang unbekannte Auf- lin müsse dann die DDR übernehmen. rer jeweiligen Gefolgschaft na- Grinewski schlüsse enthält ein schon auf Daß der Westen diesen Plan nicht rund- hezu überrollt worden waren. deutsch, aber noch nicht im um akzeptieren konnte, muß ihm klar ge- Wie in so vielen Kriegen zuvor wäre auch Englischen vorliegendes Buch des Bot- wesen sein, wenn er, wie Grinewski glaub- das psychologische Moment entscheidend schafters der Russischen Föderation in haft beschreibt, mit den USA nach guter gewesen, die Unfähigkeit der zweiten Stockholm, Oleg Grinewski, Jahrgang 1930, Moskowiter Art ins Gespräch kommen Führungsmacht Sowjetunion, die Ideologie deutscher Titel: „Tauwetter“*. wollte. der ersten Führungsmacht USA zu verste- Wir können dem Werk entnehmen, daß Hatten die Amerikaner nicht, woran hen; und umgekehrt auch die Obsession Chruschtschow keineswegs der einseitige Chruschtschow sich auch noch Verdienste der US-Amerikaner, in ihrem Hinterhof zuschreibt, 1956 London und Paris mit Ra- Mittelamerika keinerlei Umsturz der Ge- * Oleg Grinewski: „Tauwetter. Entspannung, Krisen und ketendrohungen derart unter Druck ge- sellschaftsordnung zu dulden, bei Strafe neue Eiszeit“. Siedler Verlag, Berlin; 528 Seiten; 59,80 setzt, daß diese beiden Mächte und Israel des Untergangs aller. Mark. das gemeinsam begonnene Suez-Aben- AP Berliner Mauer 1962, SPIEGEL-Titel 29/1957 „Leb besser, Genosse!“, getötete Exilkubaner in der Schweinebucht 1961: Die Katastrophe

48 der spiegel 4/1997 UPI / BETTMANN Uno-Redner Chruschtschow 1960: Auch schon mal mit dem Schuh auf das Pult gehämmert

teuer aufgeben mußten? Chruschtschows Ihm, der als einziger Kreml-Herr ein spanischen Außenministers Fernando zweites Anliegen während der Kuba-Krise Bergmannssohn und Maschinenschlosser Castiella vor Augen. Er wechselte das war utopische Ideologie. Er wollte den gewesen war, ein „Werktätiger“, der die Thema und fiel über das Regime des westlichen Kapitalismus, bildlich gespro- Bevölkerung also hätte kennen müssen, Generals Franco her, dort würden den chen, „begraben“, wollte mit der westli- auch ihm verstellten Marx und Lenin den Söhnen des spanischen Volkes die Köpfe chen Vormacht USA zumindest gleichzie- Blick. Auch er kannte sein Land nicht. abgeschlagen. hen. Wer in seiner Umgebung hätte ihm In diesen Kontext gehört Chru- Der irische Vorsitzende Frederik Boland das ausreden können, war doch soeben ein schtschows „Eroberung Amerikas“, gehört unterbrach ihn und forderte ihn auf, sich sowjetischer Sputnik in die Erdumlaufbahn der Abschuß des amerikanischen Spiona- persönlicher Angriffe auf Staatsoberhäup- gebracht worden. geflugzeugs U-2 – ein Tiefpunkt in der Di- ter zu enthalten. Doch das brachte plomatie Washingtons –, gehört Chru- Chruschtschow nur noch mehr auf, er be- schtschows allzu hitziges Temperament, schimpfte Franco noch maßloser. das ihm mehr im Wege war, als daß es ihm Natürlich durfte nun der spanische nützte. Unvergeßlich, wie er in der Voll- Außenminister mit dem „abscheulichen versammlung der Uno 1960 mit dem Schuh Gesicht“ antworten. Der tat maßvoll seine auf das Pult hämmerte. Pflicht, was Chruschtschows echte oder ge- Dies war derselbe Mann, der mit Eisen- spielte Wut noch weiter steigerte. hower einen Briefwechsel geführt hatte, Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Platz, der den Besuch Eisenhowers in der So- er stand auf, er explodierte förmlich, nun wjetunion vom 10. bis 19. Juni 1960 fest wohl für ihn selbst unerwartet. vereinbart hatte und der schon dabeige- Der spanische Außenminister mußte wesen war, einen Golfplatz für den Besu- vom Rednerpult an Chruschtschow vor- cher anlegen zu lassen, und sogar selbst bei. Der sprang auf und stürzte sich, die Golfstunden genommen haben soll, dieser Fäuste bedrohlich schüttelnd, auf den Mann rastete in den Uno-Sitzungen völlig ebenso kleinen, aber halb so dicken Dele- aus. gationsleiter Fernando Castiella. Der Spa- Bereits während einer Routinerede am nier hob seine kleinen Fäuste und ging in 1. Oktober zwecks „Wiederherstellung der Boxerstellung. Der Uno-Sicherheitsdienst gesetzlichen Rechte der Volksrepublik Chi- eilte herbei und trennte die Kontrahenten. na in der Uno“ (die er in Wahrheit nicht Niemand hatte gelacht.

GAMMA / STUDIO X wollte) tobte Chruschtschow sich in Dieser Ausbruch wird von Grinewski rückte näher Rage. Ihm kam das verhaßte Gesicht des mit der spektakulären Schuh-Szene

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland Neu für den Leser dürfte sein, daß leicht auch deutsche Staatsmann gar nicht Chruschtschow und Eisenhower sich im so ungern sah. Laufe eines zweiwöchigen Chruschtschow- Chruschtschow konnte und wollte, bei Besuchs in Amerika näherkamen, minde- aller Überschätzung seiner Kräfte, West- stens so nah, daß beide hinterher vom Be- Berlin nicht einnehmen. Aber er sah hier nehmen des jeweils anderen enttäuscht wa- die Möglichkeit, mit den Amerikanern mit ren. Beide agierten dabei aber ziemlich auf Hilfe der deutschen Frage, die Berlin ein- eigene Faust und somit gewissermaßen schloß, ins Gespräch zu kommen. ohne Unterleib, da sie ihre Basis zu weit Allerdings, auch der Kalte Krieger des hinter sich ließen. „Roll-back“, John Foster Dulles, stand in Chruschtschow war, was die Amerikaner dem Ruf, er könne noch im Gerichtssaal eine „lahme Ente“ nennen. Er lähmte sich die Partei wechseln. So hatte er auch für selbst, weil er zunehmend versäumte, auf Berlin etwas in der Hinterhand, was den die Stimmung zu Hause zu achten, die auf Sowjets erlauben würde, „ihr Gesicht zu Entspannung nicht erpicht war. wahren“. Nur wollte er, aus verständlichen Eisenhower hatte nur noch 16 Monate zu Gründen, eine Konferenz der Außenmini- amtieren, da er laut Verfassung nicht wie- ster. Chruschtschow hingegen hatte es, dergewählt werden durfte. ebenso verständlich, auf eine Begegnung Klar erkennt der Autor, was entschei- der Staats- und Regierungschefs der

AP dend war. Beide Seiten waren keineswegs UdSSR, der USA, Großbritanniens und Castro, Chruschtschow 1960 auf die Neuorientierung vorbereitet. Ein Frankreichs abgesehen. Beide Seiten Papstbesuch zu verdanken spektakulärer Zwischenfall mit dem Spio- schimpften auf Bundeskanzler Konrad nageflugzeug U-2, bemannt mit dem – so Adenauer, dem nun wieder Dulles klarge- während der damaligen Uno-Sitzungen Grinewski – CIA-Agenten Francis Gary macht hatte, man müsse wegen Berlin auch verwechselt. Die nämlich fand am 12. Ok- Powers, überdeckte die objektiven Wider- einen Atomkrieg riskieren. Das Gezeter tober statt, als der philippinische Dele- stände, die erst durch die Kuba-Krise des des Alten nervte beide Seiten. gierte Sumulong forderte, die sowjetische Oktobers 1962 abgemildert wurden. Der Tod von John Foster Dulles erleich- Resolution gegen die Kolonialherrschaft Unser Autor geht sogar so weit, dem terte Chruschtschows Bemühungen. Er auch auf osteuropäische Völker auszudeh- Kreml vorzuhalten, er habe nicht erkannt, strebte in die USA, um der dortigen Be- nen. Im Verlauf dieser stürmischen Sitzung wie dringend die Amerikaner auf Spiona- völkerung die ungeheuren Errungenschaf- beschimpfte Chruschtschow den philippi- geflüge über russischem Gebiet angewie- ten des Sowjetregimes nahezubringen. Er nischen Politiker als „Knallkopf“ und „Im- sen waren. Chruschtschow ahnte 1958 viel- wollte Eisenhower persönlich treffen, des- perialistenknecht“. leicht, aber er wußte nicht, daß sein Land sen Waffenbruder er als Generalleutnant Er setzte sich wieder und hämmerte sich bereits in der Defensive befand. während des Großen Vaterländischen Krie- wild auf sein Pult. Die Uhr sprang ihm So fing es wieder einmal, wie schon ges schließlich gewesen war. vom Handgelenk. Er bückte sich, um sie 1948, mit Berlin an. Noch auf dem Toten- Ein gewisses Verdienst hatte Chru- unter dem Tisch zu suchen, sein Bauch hin- bett hatte John Foster Dulles seinem schtschow, weil er die treibende Kraft bei derte ihn. Er fluchte, und anstatt an die engsten Mitarbeiter anvertraut: „Wenn der nicht ungefährlichen Ausschaltung und Uhr gelangte seine Hand an seinen Slipper. die Vereinigten Staaten bereit sind, für Ber- Hinrichtung des nach Stalin gefährlichsten Chruschtschow zog ihn aus und klopfte lin zu kämpfen, wird es keinen Krieg Sowjetmenschen, Lawrentij Berija, gewe- mit ihm heftig auf das Holz. geben.“ Das war sicher richtig, aber sen war. Ebenso verband sich mit seinem Die Szene in der Uno war nur der sicht- ebenso sicher war auch, daß die Sowjets Namen der dann bald wieder gestoppte bare Höhepunkt eines vier Jahre dauern- wegen Berlin keinen Krieg hätten beginnen Prozeß der Entstalinisierung. Selbstüber- den Ringens zwischen den USA und der können. schätzung und Minderwertigkeitskomple- Sowjetunion, zwischen Präsident Eisen- West-Berlin eignete sich als Köder und xe vereinte unser Nikita auf unnachahm- hower, später dann Kennedy, und dem für Sticheleien. Chruschtschow strebte für liche Weise. Parteichef und gleichzeitigen Minister- das von Stalin eroberte Territorium feste Er betrachtete seinen Besuch in den präsidenten Chruschtschow. und sichere Grenzen an. Da störte Berlin, USA im Jahr 1959 als einen persönlichen Autor Grinewski setzt die Akzente an- weil die DDR durch die Rechte der west- Triumph (schließlich hatte kein Zar und ders, als wir es bisher gewohnt waren. Er lichen Alliierten geschwächt wurde. Die auch kein roter Zar den Fuß jemals auf versucht, die Ereignisse, beginnend mit Mauer von 1961 war ein Notbehelf gewe- amerikanischen Boden gesetzt), hatte aber Chruschtschows Berlin-Ultimatum vom 27. sen, den so mancher westliche und viel- vor jeder eventuellen Demütigung Angst. November 1958 und endend mit dem Höhepunkt und Ausklang der Kuba-Krise 1962, aus den damaligen Verhältnissen her- aus zu erklären. Eine bessere Beschreibung des in seiner eigenen Rhetorik und Unbil- dung gefangenen Chruschtschow wird man wohl nirgends finden. Auch der Außenmi- nister Andrej Gromyko wird uns plastisch vorgeführt. Obwohl westlicher Haltung und Gesin- nung mehr zugeneigt als der sowjetischen, läßt der Autor uns nicht im Zweifel über das grobe Benehmen der Amerikaner, de- ren Präsident, obwohl respektabel und re- spektiert, keine besonders glückliche Fi- gur abgibt. SÜDD. VERLAG * Vor dem Obersten Sowjet mit einem Foto der im Flug- US-Pilot Powers, Chruschtschow 1960* zeugwrack gefundenen 24 Goldmünzen. ULLSTEIN Tiefpunkt der Diplomatie 52 digen Kavallerieangriffs bei „Ike“ nicht verfing. Das Wort „Ultimatum“ störte. Man rutschte dennoch in eine familiäre Atmosphäre. Die ganze Familie Eisen- hower wurde nach Rußland eingeladen. Freilich, als sich ein Enkel den Roten Stern, den ihm Chruschtschow geschenkt hatte, anstecken wollte, wurde ihm das von sei- nem Vater John streng verboten: „Wenn Chruschtschow uns erobern könnte, denk mal nach, welche Familie er dann als erste erschießen lassen würde?“ Da war sie, die Atmosphäre des Kalten Krieges. Man versuchte es mit Spazier- gängen. Der Präsident gab schließlich zu, daß die Lage in Berlin nicht normal sei. Er wolle sogar einen Teilabzug der in West- Berlin stationierten alliierten Truppen er- wägen, wolle auch die Einstellung der feindlichen Propaganda und die Spiona- getätigkeit gegen die DDR erörtern. Nur, das Ultimatum! Ja, erwiderte Chruschtschow, im Ge- genzug wolle er das Ultimatum aufheben, auch der Friedensvertrag mit der DDR, mit Folgen für West-Berlin, könne noch et- was warten. Darauf Eisenhower: Amerika wolle nicht für immer in Berlin bleiben. Das Besatzungsregime dort könne nicht für die nächsten 50 Jahre aufrechterhalten werden. Als Termin für die Konferenz der vier Mächte schlug Chruschtschow den No- vember oder Dezember 1959 vor; der Ge- genbesuch Eisenhowers könne dann im Mai oder Juni 1960 stattfinden. Die Stim- mung schlug um, die Wende schien da. Man erlebte einen geduldigen Chru-

BPK schtschow, der Eisenhower auseinander- USA-Touristen Nikita und Nina Chruschtschow 1959*: Disneyland und Hollywood setzte, öffentlich könne er nicht erklären, daß sich die sowjetische Position verän- Die in Genf laufenden Atomteststopp-Ver- kamen Bedenken, bis auch Eisenhower dert habe, ohne seine Kollegen in der so- handlungen hatte er durch sein ultimatives einstieg. Eisenhower wollte Chruschtschow wjetischen Führung zu informieren. Er, Auftreten 1958 nicht gerade gefördert. Hin- das Gewimmel der Autos zeigen, und dar- Chruschtschow, werde dies nach seiner gegen, wenn Eisenhower alle von seinen um flog der Pilot recht niedrig. Rückkehr von Moskau aus bestätigen. Die Leuten erhobenen Einwände durchging, Bis zum Treffen in Camp David Ende Amerikaner willigten ein. dann blieb Berlin letztlich das einzige Feld, September chauffierte man Chruschtschow Die Berlin-Krise war nun entschärft, und auf dem eine Einigung möglich schien. und seine Begleiter an die Westküste, wo dafür hatte Chruschtschow seine Vier- Hatte nicht selbst der verstorbene Dulles er darauf bestand, Disneyland und Hol- mächtekonferenz so gut wie im Sack. Dem hier Möglichkeiten gesehen? lywood zu besuchen. Er wurde nicht über- Kommuniqué konnte man entnehmen, daß Diplomatie hätte den Graben über- all gemocht, ganz im Gegenteil, aber die es mit der „Position der Stärke“ (Dulles) brücken können, er war nicht gar so tief. new york times schrieb: „Er gehört zu nun zu Ende sein sollte. Letztendlich wäre auch Adenauer über- der Art von Kämpfern, die man niemals Die Vierer-Konferenz würde nicht zu- rollt worden. Aber die Diplomatie allein umwerfen kann.“ Seine Mitarbeiter such- stande kommen, und Eisenhower würde tut es auch nicht. Chruschtschow reiste, ten ihn zu bremsen, vergebens, er schrie die Sowjetunion nicht besuchen. Aber die und Berlin blieb unbehelligt. dann nur lauter. beiden Spitzenpolitiker schienen begriffen Am Morgen des 15. September 1959 hob Zu Beginn seiner Reise während seiner zu haben, daß der Rüstungswettlauf und die riesige TU-114, das damals größte Flug- Rede vor der Uno am 18. September 1959 die sinnlose Geldverschwendung beendet zeug der Welt, bei Moskau ab mit Kurs hatte Nikita die Schuhe noch anbehalten werden mußten. Beide klagten einander nach Amerika. Hauptziel: engere Kontak- und sein berühmtes Programm zur allge- ihr Leid, weil sie sich beide als Opfer der te. Diese Reise durch Amerika war zum meinen und vollständigen Abrüstung bin- Militärs und der Rüstungsindustriellen Teil eine Lachnummer, aber nur zum Teil. nen vier Jahren verkündet. Die Versamm- fühlten. Eisenhower sprach von dieser Eisenhower empfing den Gast im Oval Of- lung applaudierte damals einmütig. Der sinnlosen und ruinösen Rivalität, und fice des Weißen Hauses (Chruschtschow: Erzbischof von Canterbury, Jerry Fisher, Chruschtschow nickte Zustimmung. „Warum heißt dieses Haus ‚Weißes ließ verlauten: „Kein Christ kann einen Sie rasten zurück nach Washington.Auf Haus‘?“) und eröffnete ihm, er werde die besseren Plan vorbringen als diesen.“ den Stufen des Blair House drückten sie Berlin-Frage ansprechen. Von deren Lö- Gegen Schluß der Reise mußte Chru- sich (zum letztenmal in ihrem Leben) die sung hänge es ab, ob ein Treffen der schtschow dann die Erfahrung machen, Hand. Chruschtschow sagte, er erwarte „großen Vier“ zustande kommen würde. daß die von ihm geliebte Taktik des schnei- den Präsidenten im Frühjahr. „Ich bringe Der Gast sollte in einem Hubschrauber die meine ganze Familie mit“, versicherte Hauptstadt Washington überfliegen. Ihm * Mit Shirley MacLaine und Frank Sinatra. der. Beide nannten einander Freunde. ™

der spiegel 4/1997 53 Werbeseite

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PARTEIEN „Volk zu den Waffen“ Ist die PDS verfassungsfeindlich? Ihr Vorsitzender, Lothar Bisky, wehrt sich im Streitgespräch mit Berlins Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) gegen Pläne, die SED-Nachfolgepartei vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen.

SPIEGEL: Herr Schönbohm, Sie lassen der- zurückgeht. Und ich nehme nicht an, daß zeit prüfen, ob die PDS in Berlin vom Ver- Sie dem auch verfassungsfeindliche Moti- fassungsschutz kontrolliert werden soll. Ist ve unterstellen. Außerdem wollen wir ja Herr Bisky ein Verfassungsfeind? nicht zurück zu einer staatlichen Inter- SCHÖNBOHM: Um das zu beurteilen, kenne vention in allen Fragen. Aber bis zu einer ich ihn zuwenig. Er ist jedenfalls der Vor- politischen Einmischung, wie sie schon sitzende einer Partei, die Ziele verfolgt, Ludwig Erhard gewollt hat, kann man wohl die mit der Verfassung nicht überein- gehen. stimmen. SCHÖNBOHM: Davon abgesehen, daß Lud- BISKY: Das ist die typische CDU-Propa- wig Erhard schlecht als Kronzeuge für die ganda. Die PDS lebt auf der Grundlage Wirtschaftspolitik der PDS taugt, kann ich des Grundgesetzes der Bundesrepublik mich nicht entsinnen, daß er beispielswei- Deutschland, ihre Ziele sind absolut de- se das staatliche Gewaltmonopol in Frage mokratisch. Es ist mir schon peinlich, das gestellt hätte. Die PDS ist nach meiner dauernd wiederholen zu müssen. Was er- Kenntnis die einzige Partei in Deutschland, warten Sie von mir, soll ich nun jeden Mor- deren Abgeordnete offen zur Gewalt auf- gen einen heiligen Eid aufs Grundgesetz rufen. schwören? BISKY: Ich muß wohl mal daran erinnern, SCHÖNBOHM: Sie haben 1994 einen Ver- daß wir in Brandenburg die Landes- fassungsentwurf vorgelegt, in dem Sie verfassung nicht nur ganz energisch ver- Vorschläge machen, die mit dem Grund- teidigen, sondern sie sogar als verfas- gesetz klar kollidieren. Sie wollen eine Art sunggebende Partei mit ausgearbeitet Räterepublik einführen, Sie wollen das Ei- haben. Daß wir da das staatliche Ge- gentumsrecht reduzieren, und Sie wollen waltmonopol bejahen, versteht sich von dem Staat eine stark wirtschaftslenkende selbst. Aufgabe übertragen. Das erinnert alles SCHÖNBOHM: Und wie verträgt sich dieses doch sehr deutlich an das alte DDR- Bekenntnis mit den Ansichten von Angela System. Marquardt, die bis zum Wochenende Ihre BISKY: Sie verkennen dabei, daß unser Ent- stellvertretende Bundesvorsitzende war wurf auf ein Papier des Runden Tisches und bekanntlich all jene für „blauäugig“ hält, die Gewaltfreiheit proklamieren? Das Streitgespräch moderierte Redakteur Jan Fleisch- BISKY: Wenn einer aus der PDS sich hauer. mißverständlich äußert, wird das auf die

Jörg Schönbohm ist seit einem Jahr Innensenator in Ber- lin. Ex-Bundeswehrgeneral Schönbohm, 59, hatte nach der Wiedervereinigung die Nationale Volksarmee aufzulösen. Von 1992 bis Januar 1996 amtierte der Christdemokrat als Staatssekretär im

ULLSTEIN Bundesverteidigungsministerium. PDS-Kritiker Schönbohm, Polizeibeamte: „Anleitungen zum Bombenbasteln“

56 der spiegel 4/1997 Gesamtpartei verallgemeinert. In der CDU ist. Strittig ist derzeit nur, ob man seine Brandenburgs wurde kürzlich – das haben E-Mail-Adresse über einen Link auch Sie sicher mitbekommen – über die Wie- Zeitschriften wie radikal zur Verfügung dereinführung der Todesstrafe diskutiert. stellen darf, wie in dem von Ihnen ge- Ich käme deshalb doch nie auf den Ge- nannten Fall geschehen. Das muß nun ein danken, die demokratische Gesinnung der Gericht entscheiden. Unionsmitglieder in Frage zu stellen. SCHÖNBOHM: Wer Informationen weiterlei- SCHÖNBOHM: An diesem Beispiel können tet, verfolgt damit doch eine Absicht, Herr wir sehr schön den Unterschied zwischen Bisky. Wir sind genau an dem Punkt, der der CDU und der PDS erkennen. Wenn mich bei der PDS so stört: Auf der einen bei uns in einem Kreisverband einer mit Seite versuchen Ihre Mitglieder, in den solch idiotischen Vorschlägen auffällt, Parlamenten eine staatstragende Rolle für gibt’s erst Zoff, und dann ist Ruhe. Frau sich in Anspruch zu nehmen, gleichzeitig Marquardt hingegen konnte es bei Ihnen haben Sie in Ihrem Programm festgelegt, zur Führungskraft bringen und darf sich daß politische Entscheidungen außerhalb zudem unwidersprochen im Pressedienst der Parlamente zu suchen sind. der Partei verbreiten. Sie distanzieren sich BISKY: In unserem Programm steht, daß ja noch nicht einmal, wenn in Berlin wir uns parlamentarisch und außerparla- ein PDS-Abgeordneter einen Aufruf un- mentarisch betätigen wollen. Das ist nach terschreibt, in dem es heißt: „Volk zu den dem Grundgesetz erlaubt, und ich wüßte Waffen, Vernichtung der unmenschlichen auch nicht, warum das eingeschränkt wer- Bestien, die sich deine Herrscher nennen.“ den sollte. BISKY: Bei diesem Aufruf handelt es sich SCHÖNBOHM: Da wollen wir dann doch um den Nachdruck eines Textes, der von korrekt zitieren. In Ihrem Programm heißt der Sozialdemokratie um die Jahrhun- es nämlich, daß Sie und Ihre Gefolgsleute dertwende veröffentlicht wurde. Das war den außerparlamentarischen Kampf um doch jetzt als Satire gemeint. Ich hoffe, gesellschaftliche Veränderungen für ent- daß auch bei der CDU noch ein Rest scheidend halten. Und das ist genau der Satirebewußtsein vorhanden ist. eine Schritt zuviel. SCHÖNBOHM: Und wenn die stellvertreten- BISKY: Das Volk steht nun einmal außer- de PDS-Bundesvorsitzende über ihren In- halb der Parlamente. Also läßt sich zwi- ternetanschluß Anleitungen zum Bom- schen den verschiedenen politischen Arti- benbasteln verbreitet, dann ist das auch kulationsformen nicht so klar trennen, wie satirisch gemeint? Das sollten Sie mal dem Sie dies offensichtlich wünschen. Die ver- Staatsanwalt sagen, der jetzt wegen Ver- fassungsmäßig verbürgte Demonstrations- bindungen zum Terrorismus ermittelt. freiheit schließt für mich das Recht auf BISKY: Lassen Sie uns bitte bei den außerparlamentarischen Widerstand sehr Tatsachen bleiben, Herr Senator. Frau wohl ein. Marquardt hat immer wieder deutlich er- SPIEGEL: Herr Bisky verfolgt offenkundig klärt, daß sie gegen die Anwendung von grundsätzlich andere politische Ziele als Gewalt zur Lösung politischer Probleme Sie, Herr Schönbohm. Aber rechtfertigt dies eine Beobachtung durch den Verfas- * Mit Angela Marquardt (4. v. r.), (3. v. r.) und (r.) am vorvergangenen Sonntag bei sungsschutz? der Demonstration zum 78. Jahrestag der Ermordung SCHÖNBOHM: Genau das wird derzeit ge- von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin. klärt. Bislang lassen wir in Berlin sieben J. RAKETE J.

Lothar Bisky wurde im Januar 1993 als Nachfolger von Gregor Gysi zum PDS-Vorsitzenden ge- wählt und versucht seitdem, die Ex-Kom- munisten auf Koalitionskurs zu trimmen. Bis zur Wende lehrte Bisky, 55, an der Filmhochschule in Potsdam als Professor

für Film- und Fernsehwissenschaften. P / F H PDS-Vorsitzender Bisky (2. v. r.)*: „Wir gewinnen Wähler“

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Werbeseite Deutschland Arbeitsgruppen der PDS vom Verfas- dern sind heute nur noch etwa 100000 in hat, die innere Einheit zu stören, steht für sungsschutz beobachten. Im März wollen der PDS aktiv. Was ist mit den anderen? mich außer Frage. Sie braucht dieses Bio- wir in der Senatsverwaltung für Inneres Betrachten Sie die auch als Gefährdungs- top der Vergangenheitsverklärung zum dann entscheiden, ob wir die Überwa- potential für die Demokratie, einschließ- Überleben. chung auf den gesamten Landesverband lich derjenigen, die Mitglieder der CDU BISKY: Wenn die Kluft zwischen Ost und ausdehnen. Dazu müssen sich die Hinwei- geworden sind? West größer wird, liegt das an der Politik se verdichten, daß die Aktivitäten, die wir SCHÖNBOHM: Nicht jeder, der in der SED der Bundesregierung und nicht an der als verfassungsgefährdend betrachten, von aktiv war, muß deshalb schon ein über- PDS. Wissen Sie, was mich immer über- der Gesamtpartei unterstützt und getra- zeugter Kommunist gewesen sein. Die mei- rascht, Herr Schönbohm: Unser aller Kanz- gen werden. Meine Zweifel an der Bereit- sten waren Mitläufer, denen man rückwir- ler hat lauter Reformkommunisten als gute schaft der PDS, unsere freiheitliche Grund- kend schlecht einen Vorwurf daraus ma- Freunde. Er ist mit Gorbatschow per du, ordnung zu wahren und anzuerkennen, chen kann, daß sie sich angepaßt haben. der heute zu den Ehrenbürgern von Ber- haben jedenfalls in der Vergangenheit nicht Wir müssen aber klar zwischen jenen un- lin gehört. Er ist mit Jelzin befreundet, der ab-, sondern zugenommen. terscheiden, die sich heute neu besinnt Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU BISKY: Wir heißen alle Damen und Her- haben, und denjenigen, die alte Vorstel- war und mit den DDR-Realitäten wahr- ren, die beim Verfassungsschutz arbeiten, lungen mit Hilfe der PDS umsetzen wollen. scheinlich mehr zu tun hatte als ich oder herzlich willkommen. Wir haben aus Daß die PDS ein hohes Interesse daran andere aus meiner Partei. Nur im eigenen unserer Arbeit nie ein Geheimnis ge- macht, bei uns sind sogar die Fraktions- sitzungen öffentlich. Volle Öffentlichkeit ist ja auch ein Schutz. Mich ärgert nur, daß im Landeshaushalt Berlin für einen solchen Unsinn so viele Mittel bereit- gestellt werden, das ist wirklich reine Geldverschwendung. SPIEGEL: Sie fürchten durch die angedroh- te Überwachung keinerlei Nachteile? BISKY: Natürlich macht schon der Vor- schlag vielen Leuten angst, und das ist ja auch erkennbar die Absicht. Wer Karrie- renachteile in Kauf nehmen muß, weil er sich zur Mitgliedschaft in der PDS be- kennt, wird immer eingeschüchtert. Wir müssen aufpassen, daß mit dem Versuch der Ausgrenzung bei uns nicht so etwas wie eine Ghettomentalität entsteht. SCHÖNBOHM: In einem Rechtsstaat läßt sich keine Angst verbreiten, die Rechte der Bürger sind gesetzlich gesichert. Und

„Die PDS hat ein hohes Interesse daran, die innere Einheit zu stören“ Jörg Schönbohm gerade Ihre Kader, Herr Bisky, können getrost als besonders gestählt gelten. Die kann man nun mit Sicherheit nicht ein- schüchtern. SPIEGEL: Mit Ihrer Einschätzung der Ge- fährlichkeit der PDS stehen Sie bislang ziemlich allein. Daß alle anderen ostdeut- schen Innenminister auch weiterhin allen- falls Untergruppen beobachten lassen wol- len, irritiert Sie nicht? SCHÖNBOHM: Einsamkeit ist manchmal der Preis der Freiheit. SPIEGEL: Das Brandenburger Landesamt für Verfassungsschutz hält die PDS gar für eine ganz normale demokratische Partei. SCHÖNBOHM: Der Berliner PDS-Verband hat eine besondere Struktur, schließlich lebten im Ostteil der Stadt so viele Man- dats- und Funktionsträger der SED wie nir- gendwo sonst. Hinzu kamen über 35000 Stasi-Mitarbeiter, auch das macht sicherlich einen Unterschied zu Potsdam aus. BISKY: Eine Frage, Herr Schönbohm: Von den ehemals 2,4 Millionen SED-Mitglie-

60 der spiegel 4/1997 Lande will die Union die Linkssozialisten politischen Sprache der Bundesrepublik BISKY: Bei uns gilt als verbindlich, was eine partout nicht respektieren. Deutschland. Es fällt manchen einfach ein Mehrheit der Mitglieder entscheidet, genau SCHÖNBOHM: Weil es in der innenpoliti- bißchen schwer, ein Vokabular abzulegen, wie in anderen Parteien auch. Wir sind schen Diskussion um die Frage geht, wie- das sie in der DDR erlernt haben. mittlerweile fester Bestandteil des politi- viel man aus Sicht der Verfassung ertragen SCHÖNBOHM: Ich glaube nicht an einen Lap- schen Systems der Bundesrepublik, ob Ih- kann. Wenn der Landesvorsitzende der sus linguae. Ich glaube, hinter den Formu- nen das nun gefällt oder nicht. Wir gewin- PDS in Mecklenburg-Vorpommern in ei- lierungen, die Sie als Erbe der DDR klein- nen Wähler, und eines Tages werden wir nem Rundfunkinterview erklärt, nach sei- reden wollen, stehen Überzeugungen. Der auch Mehrheiten gewinnen, allen Dro- ner Auffassung müßte man das Staatswe- Trick bei der PDS ist ja gerade, daß sich hungen zum Trotz. sen der Bundesrepublik abschaffen, kön- diese Partei nicht an einem einheitlichen SPIEGEL: Ändert sich die Republik, wenn nen Sie von mir keinen Respekt erwarten. Grundsatzprogramm ausrichtet, sondern die PDS, wie von Herrn Bisky erhofft, in BISKY: Herrn Holter sollten Sie nun wirk- daß sie sich als Gesinnungspartei versteht, eine Landesregierung einzieht? lich nicht vorwerfen, ein Demokratiefeind in der die unterschiedlichsten Positionen SCHÖNBOHM: Am Beispiel Sachsen-Anhalt zu sein. Er wird in der eigenen Partei eher ihren Platz finden, für die sich dann wie- kann man andeutungsweise erkennen, was dafür kritisiert, daß er dem Staatswesen derum die Parteiführung nicht in Anspruch es bedeutet, wenn eine Regierung von der der Bundesrepublik zu nahe steht. Natür- nehmen läßt. Damit erweitern Sie natürlich PDS abhängig ist. Die Zahl der Insolven- lich hat die PDS ein Problem mit der geschickt Ihre Operationsbasis. zen hat nicht ab-, sondern zugenommen. Die wirtschaftliche Lage und der Zustand der öffentlichen Haushalte sind dort be- sonders düster. BISKY: Mal abgesehen davon, daß die PDS- regierten Kommunen im Freistaat Sachsen

„Uns droht eine Sonder- behandlung, weil wir politisch anders denken“ Lothar Bisky

besonders wenig Schulden angehäuft ha- ben, rechtfertigt der Schuldenstand einer Regierung noch keinen Einsatz des Ver- fassungsschutzes. SCHÖNBOHM: Im Falle einer regulären Koalition mit PDS-Beteiligung hätte die PDS die hervorragende Möglichkeit, öf- fentlich ganz staatstragend seriös aufzu- treten und insgeheim den alten Eliten wie- der zur Macht zu verhelfen. In der Kom- bination dieser beiden strategischen Ziele sehe ich die besondere Gefahr. BISKY: Das ist jetzt Metaphysik, Herr Schönbohm. Ich gewinne wirklich zuneh- mend den Eindruck, daß uns eine Son- derbehandlung droht, weil wir politisch anders denken. Darf man denn nicht mehr anmerken, daß eine klassenlose Gesell- schaft vielleicht erstrebenswert ist? Darf man sich nicht einmal mehr Sozialist nennen? SCHÖNBOHM: Sie können denken, was Sie wollen. Entscheidend ist, wie Sie Ihre po- litischen Ziele in die Tat umsetzen wollen. Eine Ahnung habe ich davon, wenn ich bei der Kommunistischen Plattform Ihrer Partei lese, daß sich der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft „nicht unbedingt gewalttätig vollziehen“ müsse. Na, das beruhigt mich ja sehr. SPIEGEL: Ist eine solche Äußerung nach Ih- rer Meinung verfassungsfeindlich, Herr Bisky, oder nicht? BISKY: Ich glaube, politische Änderungen müssen sich unbedingt gewaltfrei vollzie- hen. Für verfassungsfeindlich halte ich das Zitat aber nicht. SCHÖNBOHM: Für mich ist es Anlaß, dem Verfassungsschutz einen Beobachtungs- auftrag zu erteilen. SPIEGEL: Herr Bisky, Herr Schönbohm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Werbeseite Deutschland schen Dopaminagonisten mit antidepres- KRANKENHÄUSER siver Wirksamkeit“ hingewiesen. In fünf dieser Fälle taucht der Stoff im Arztbrief überhaupt nicht auf. Bei drei Pa- Patienten für die Industrie tienten wird Pramipexol beiläufig wie ein bereits zugelassenes Medikament erwähnt. An der Mainzer Universität ließ der Leiter der Psychiatrischen Viermal ist immerhin von einer „Sonder- untersuchung“ die Rede – ein Begriff, den Klinik nicht zugelassene Medikamente an es in der offiziellen Terminologie allerdings Kranken prüfen, ohne deren Hausärzte zu informieren. gar nicht gibt.

er Restaurantbesitzer aus Mainz litt zunehmend unter „niedergeschla- Dgen-trauriger Stimmungslage“ und „erheblicher Antriebslosigkeit“.Außerdem klagte der 40jährige über „wahnsinnige Schmerzen über der Stirn und Schläfe“. Ähnlich miserabel fühlte sich die 57- jährige Hausfrau aus dem südhessischen Nauheim. Sie beschrieb „Verkrampfungen im Kopf“ und berichtete von wiederholten „depressiven Einbrüchen“. Gepeinigt wur- de sie auch von „Grübelzwängen, An- triebs- und Interesselosigkeit“. Noch elender ging es einer 32jährigen Winzerfrau aus dem Rheinhessischen. Sie wurde von Selbstmordgedanken getrieben, dachte öfter daran, sich die Pulsadern auf- zuschneiden. Jahrelang schon litt sie unter Depressionen. Alle drei waren hochwillkommene Pa- tienten beim Leiter der Psychiatrischen Uniklinik in Mainz, dem Pharmakothera-

peuten Professor Otto Benkert, 56. Für S. MORGENSTERN eine von der Industrie bezahlte klinische Uniklinik in Mainz: Depressive Kranke hoch willkommen Prüfung eines noch nicht zugelassenen Me- dikaments suchten Benkert und sein vor- cher Nebenwirkungen und Spätschäden. Der Verwaltungschef der Uniklinik, nehmlich für die Testreihen zuständiger Hausärzte, so der Mainzer Pharmakolo- Thomas Müller-Bellingrodt, räumt zwar Oberarzt Hermann Wetzel gerade 30 de- gie-Professor Ignaz Wessler, stellvertre- ein, daß die Prüfsubstanzen in den Arzt- pressive Probanden. Die drei stellten sich tender Vorsitzender der rheinland-pfälzi- briefen in der Regel erwähnt werden soll- als Testpersonen zur Verfügung. Vier Wo- schen Ethikkommission, müßten über die ten. Wenn das Entlassungsdokument da- chen lang wurden sie mit dem Anti- Teilnahme ihrer Patienten an mehrwöchi- durch aber „überfrachtet“ werde, könne depressivum Pramipexol behandelt, einem gen Arzneimittelprüfungen in jedem Fall man auch mal eine Ausnahme machen. Produkt des US-Konzerns Upjohn. unterrichtet werden. Außerdem, so Müller-Bellingrodt locker, Ohne Erfolg. Die Kranken klagten im Die Verantwortlichen in Mainz haben wüßten „alle niedergelassenen Ärzte Verlauf der Therapie über zunehmende diese Regel in etlichen Fällen, in denen selbstverständlich, daß an einer Univer- Übelkeit. Erst nach der Umstellung auf Probanden wochenlang die Testsubstanz sitätsklinik entsprechende Prüfungen vor- eingeführte Medikamente ging es ihnen Pramipexol schluckten, mißachtet. Ledig- genommen werden“. besser. lich in einem von zwölf Arztbriefen wird Bei der Pharmaindustrie stehen die Als die drei Patienten nach mehr als ausdrücklich auf einen „derzeit noch nicht Mainzer Psychiater Otto Benkert und Her- zwei Monaten die Klinik verließen, erhiel- zum Verkauf zugelassenen präsynapti- mann Wetzel in bestem Ruf. Für sie ist ten ihre Hausärzte Berichte, Benkerts Klinik eine der wichtigsten in denen die Behandlung mit Adressen in Deutschland. der nicht zugelassenen Sub- Benkert gibt zusammen mit dem eme- stanz verschwiegen wurde. ritierten Münchner Professor Hanns Hip- Statt dessen ist in den Arzt- pius das Standardwerk „Psychiatrische briefen vage von „medika- Pharmakotherapie“ heraus, ein „Ratge- mentöser Behandlung mit ber für die praktische Therapie mit einem nicht-sedierenden an- Psychopharmaka“. Gute Noten in diesem triebssteigernden Antide- Medikamentenführer (Koautor: Hermann pressivum“ die Rede. Wetzel) sind für die Arzneimittelhersteller Ein seltsames Verfahren. von großer Bedeutung. Deshalb wenden Die genaue Mitteilung an sich Chemiekonzerne, die eine neue Sub- den behandelnden Arzt über stanz ausprobieren wollen, gern nach die Verabreichung von Test- Mainz. präparaten gehört zu den Zudem fügte es sich gut, daß Benkert bis Grundregeln medizinischer Februar 1996 Mitglied der auch für Psy- Sorgfaltspflicht. Denn mehr chopharmaka zuständigen Zulassungs- noch als zugelassene Medi- kommission beim Berliner Arzneimittelin- kamente bergen Prüfsub- stitut war. Ohne deren Anhörung kommt stanzen das Risiko gefährli- Psychiatriechef Benkert: Ein seltsames Verfahren kein Medikament auf den Markt.

64 der spiegel 4/1997 Der schludrige Umgang mit Prami- pexol-Patienten durch das Testteam ist of- fenbar kein Ausrutscher. Zwischen 1994 und 1995 wurde in Mainz das vom US- Konzern Lilly entwickelte Antidepressi- vum Duloxetin an mindestens zehn Kran- ken ausprobiert. In diesem Fall wurde die Prüfung in Form eines Doppelblindversuchs realisiert. Dabei wurden drei Gruppen gebildet: Eine erhielt die Prüfsubstanz, die zweite wurde mit einem zugelassenen Präparat behandelt, der dritten verabreichten die Prüfer ein wirkstofffreies Medikament, ein Placebo. Auch bei diesem Test versäumte es Ben- kert als Verantwortlicher, die behandeln- den niedergelassenen Ärzte aller betroffe- nen Patienten unterrichten zu lassen. In sechs dem spiegel vorliegenden Entlas- sungsdokumenten der Klinik wird die Teilnahme an der Arzneimittelprüfung mit keinem Wort erwähnt. In drei dieser Fälle wird Duloxetin statt dessen wie ein bereits zugelassenes Medi- kament aufgelistet – eine äußerst heikle Darstellung: Aufgrund der anonymisierten Medikation im Doppelblindversuch konn- te gar nicht bekannt sein, mit welchem Mittel die Testpatienten tatsächlich be- handelt wurden. Der fahrlässige Umgang mit solchen Da- ten ist nicht nur medizinisch-ethisch, son- dern auch rechtlich problematisch: Nach Ansicht von Kassenexperten ist das Ver- schweigen einer Arzneimittelstudie im Arztbrief ein klarer Verstoß gegen einen für alle Kliniken in Rheinland-Pfalz gel- tenden Vertrag. Nach diesem mit den Versicherern ver- einbarten Kontrakt müssen die Klinikärzte den Namen „des im Krankenhaus ver- wendeten Medikaments in der gewählten Dosierung“ angeben. Die von der Pharmaindustrie finanzier- ten Arzneimittelprüfungen sind ein lukra- tives Geschäft für deutsche Hospitäler. Die Medikamentenhersteller gaben 1995 rund 4,3 Milliarden Mark für Pharmaforschung aus, etwa 1,5 Milliarden Mark davon für die klinische Erprobung von Medikamenten. Gerd Glaeske, Leiter der Abteilung für me- dizinisch-wissenschaftliche Grundsatzfra- gen bei der Barmer Ersatzkasse in Wup- pertal, schätzt die Zahl der jährlich in Deutschland laufenden klinischen Arznei- mittelprüfungen auf 6000 bis 8000. Weit über hunderttausend Patienten sind davon betroffen. Die Branche ist ein Dschungel. Keine zentrale Stelle in der Bundesrepublik hat einen Gesamtüberblick über die laufen- den klinischen Prüfungen. Die Kontrolle ist Ländersache. Aber auch dort blickt kaum jemand durch. Glaeske fordert deshalb schon lange eine zentrale Computerdatei, in der alle Arzneimittelstudien inklusive Patientennamen erfaßt werden. Der Berliner Ärztekammerpräsident El- lis Huber spricht von einer „enormen Grauzone“: „Wir haben einen diffusen,

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Werbeseite Deutschland Die apodiktische Behauptung des Ver- waltungsdirektors ist fragwürdig. Um in eine Studie aufgenommen zu werden, soll- ten die Patienten im Idealfall unbehandelt sein. Andernfalls werden vorher verab- reichte zugelassene Medikamente teilwei- se mehrere Tage vor Testbeginn abgesetzt. Dies wird überlicherweise in einem zwi- schen kommerziellen Auftraggebern und Prüfärzten vereinbarten „Studiendesign“ geregelt. Ziel ist es, möglichst „cleane“ Prüfkandidaten und damit unverfälschte Ergebnisse zu bekommen. Während dieser „Ausschleichphase“ werden etwa depressive Patienten trotz medikamentöser Therapiebedürftigkeit nicht antidepressiv behandelt – nur um sie studientauglich zu machen. Eine depressive Patientin, die wegen akuter Probleme in die Psychiatrische Kli- nik eingewiesen worden war, blieb offen-

REX FEATURES bar zehn Tage ohne antidepressive Medi- Upjohn-Zentrale (in England): Behandlung ohne Erfolg kation, bevor sie schließlich in die Dulo- xetinstudie aufgenommen willkürlichen Forschungsmarkt.“ Projekt- wurde. entscheidungen seien „weitgehend der Da die Versicherer über Industrie unterworfen“. Huber glaubt: die Tests nicht informiert „Die Universitäten werden besonders be- werden, haben sie kaum eine stochen.“ Chance zur Kontrolle. Dabei Von 348 Forschungsaufträgen, die 1995 wären sie in der Mainzer von der rheinland-pfälzischen Ethikkom- Unipsychiatrie reichlich fün- mission überprüft wurden, ist jeder zwei- dig geworden. Neben Prami- te an der Uniklinik in Mainz bearbeitet pexol und Duloxetin erprob- worden. Die kassierte dafür von der Indu- te das Team um Professor strie mehr als zehn Millionen Mark. Benkert seit 1994 Psycho- Doch die Versicherten haben davon pharmaka wie Ciprasidon, nichts. In den Budgetverhandlungen zwi- Olanzapin (seit wenigen Mo- schen Klinik und Krankenkassen spielten naten als „Zyprexa“ zuge- die Industriemillionen bisher keine Rolle. lassen), Panamesin, Risper-

Verwaltungschef Müller-Bellingrodt: „Eine R. WIERICK don (unterdessen als „Ris- Information der Kassen über Einzelfälle Verwaltungschef Müller-Bellingrodt: Eine Ausnahme perdal“ auf dem Markt), klinischer Arzneimittelprüfungen fand Roxindol und Seroquel. nicht statt.“ Verstöße hiergegen, lautet Lipperts Insgesamt waren in der Mainzer Statt dessen habe man sich schon in den Schlußfolgerung, „können den Vorwurf Psychiatrie zwischen 1994 und 1996 nach achtziger Jahren wegen „des auch von den des Betruges zu Lasten der gesetzlichen Angaben von Müller-Bellingrodt „circa 20 Kassen erkannten immensen Aufwandes Krankenversicherung erfüllen“. Doppel- stationäre Patienten jährlich“ an Arznei- einer genauen Abgrenzung zwischen sta- finanzierungen dürfe es nicht geben: „Die mittelprüfungen beteiligt. tionärer Krankenbehandlung, ambulanter Kliniken müssen die Kosten für Arznei- Nach dem spiegel vorliegenden Infor- Behandlung und Forschung und Lehre“ mittelprüfungen und Behandlung sauber mationen waren es mindestens 120, die in auf „fixe Prozentsätze“ bei der Abrech- trennen.“ diesem Zeitraum mit Prüfsubstanzen be- nung verständigt. Davon halten der Mainzer Psychiatrie- handelt wurden, häufig wochenlang. Nach Darstellung von Insidern wurden chef Benkert und der Verwaltungsdirektor Bei einem Tagessatz von rund 430 Mark bei dieser Pauschalregelung aber lediglich der Uniklinik (über 1700 Betten, 5500 in der Psychiatrie und einer durchschnitt- jene dreistelligen Millionenbeträge für Mitarbeiter) offenbar nichts. Der Deut- lichen Testdauer von vier Wochen kann es Forschung und Lehre berücksichtigt, die schen Angestellten Krankenkasse etwa für die Krankenkassen schnell teuer wer- dem Klinikum alljährlich aus dem Lan- wurde der Klinikaufenthalt der bei ihr den, wenn sie für die Versuche der Phar- deshaushalt zufließen (1995: 112 Millionen versicherten Testpatienten komplett be- maindustrie mitzahlen. Mark). rechnet. Als „heißes Eisen“ stuft ein Mediziner Das Sozialgesetzbuch schreibt aber vor, Verwaltungschef Müller-Bellingrodt er- vom Verband der Angestellten-Kranken- daß die Kassen grundsätzlich nicht für die kennt darin keinerlei Problem. Schließlich kassen das Thema ein: „Wenn die Versi- Finanzierung kommerzieller Arzneimit- habe „die Teilnahme an einer Drittmittel- cherer für eine von der Industrie finan- telforschung herangezogen werden dür- studie ... in keinem Fall den einer Kran- zierte Studie aufkommen, ist das Betrug.“ fen. Dies ist allein Sache der Pharma- kenkasse in Rechnung gestellten sta- Allerdings sei der Nachweis im Einzelfall industrie. tionären Aufenthalt eines Patienten ver- schwer zu erbringen. In einem von dem Ulmer Juristen Hans- längert“. Den Verdacht, daß viele Kliniken nicht Dieter Lippert mitverfaßten Kommentar Gleichzeitig jedoch war er auf mehrfa- sauber abrechnen, hegen die Versicherun- zur Musterberufsordnung der deutschen che Anfrage nicht einmal in der Lage, die gen seit Jahren. Gerd Glaeske von der Ärzte heißt es lapidar: „Alle durch die Kli- Zahl der an der Universitätsklinik jährlich Barmer Ersatzkasse ist sicher, „daß sich nischen Prüfungen verursachten Kosten laufenden kommerziellen Arzneimittel- Krankenkassen schon immer an den Kosten sind vom pharmazeutischen Unternehmer prüfungen und der daran beteiligten Pa- klinischer Forschung beteiligt haben, wenn zu erstatten.“ tienten zu nennen. auch ungewollt und intransparent“. ™

68 der spiegel 4/1997 Werbeseite

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NS-VERBECHEN „Ich war wertvoll für die“ Jahrzehnte galt er als tot, doch der frühere Sturmbannführer der SS Karl Hass lebte komfortabel von Gnaden westlicher Geheimdienste. Sie ließen ihn erst 1996 hochgehen, als sein Kamerad Erich Priebke vor Gericht kam. In Rom wartet Hass nun auf seinen Prozeß.

er Film vergammelt in deutschen tinischen Höhlen nahe Rom am 24. März Begründung, sie hätten im Befehlsnotstand Videotheken. Kaum jemand will 1944. Die Vergeltung für einen Bomben- gehandelt. Dihn ausleihen, und als er zuletzt bei anschlag italienischer Partisanen in der Via Ein sechster, der frühere Hauptsturm- RTL 2 lief, saßen nur 380000 Zuschauer Rasella, der 33 Südtiroler Polizisten das führer Erich Priebke, kam im Frühjahr 1996 vor dem Fernseher. Leben kostete (die Anzahl der getöteten vor ein römisches Militärgericht. Doch die „London ruft Nordpol“ heißt das 95 Mi- Zivilisten ist umstritten), hatte Hitler tele- Richter sprachen ihn frei, obschon seine nuten lange, 1955 gedrehte Epos in Cine- fonisch anordnen lassen. Mitschuld an der Blutorgie feststeht. Sie mascope. Der Plot läßt sich, ohne hielten die Tat für verjährt und Schwierigkeiten, ganz kurz zu- werteten als entlastend, daß Prieb- sammenfassen: Deutsche Ab- ke „als guter Katholik“ nach dem wehroffiziere kapern 1943 im be- Krieg „nicht mehr kriminell auf- setzten Amsterdam den Sender fällig“ geworden sei. niederländischer Widerständler, Derzeit tobt in Rom deshalb ein schalten sich ins britische Funk- Kampf zwischen den Gerichten. netz ein und bringen die englische Die Militärjustiz will die Causa Abwehr durcheinander. Priebke der zivilen Strafjustiz zu- Selbst dem Starschauspieler schieben, die aber lehnt dankend Curd Jürgens gelang es nicht, die ab. Mittendrin steht das Verfas- müde Story herauszureißen. „Ver- sungsgericht, das sich mit Priebkes worrener Spionagefilm, der auch möglicher Auslieferung nach als Zeitbild ohne Relevanz Deutschland zu befassen hat. In bleibt“, urteilte der Rezensent des der Bundesrepublik möchte die film-dienst. Dortmunder Staatsanwaltschaft Doch da irrte der Kritiker: Der ihm den Prozeß machen. Film ist ein einzigartiges Doku- Ein derartiger Rechtsstreit könn- ment der Zeitgeschichte – wegen te Hass noch bevorstehen. Gegen des breitschultrigen, uniformier- ihn ist Anklage in Rom erhoben ten Statisten, der nach einer Stun- worden, die Fälle Priebke und de, 22 Minuten und 57 Sekunden Hass sind gleichgelagert. „Ich Spielzeit solch bedeutungsvolle habe“, gestand er, „damals zwei Sätze schnarren darf wie: „Gesicht Menschen erschossen.“ Und fügt zur Wand. Gesicht zur Wand!“ hinzu: „Kappler hat uns dazu ge- Der Mann, dessen Name im zwungen.“ Vorspann nicht auftaucht, mimt ei- Daß Hass erst gegen Ende sei- nen Gefängnisaufseher der SS. nes Lebens richtig ins Fadenkreuz Auch im wahren Leben hat er fast der Ermittler geriet, hat mit dem zehn Jahre lang eine SS-Rolle ge- Chaos und den queren Gesetz- spielt, zuletzt als Sturmbannfüh- mäßigkeiten der Nachkriegszeit rer. Sein Name: Karl Hass, SS-Mit- zu tun. gliedsnummer 117 557. Noch bevor der Krieg zu Ende Als der Statist Hass vor der Ka- war, wuchs bei den Alliierten im mera stand, war er in Deutschland Westen die Furcht vor dem Osten. gerade für tot erklärt worden – Als das Nazi-Reich untergegangen

durch ordentlichen Gerichtsbe- A. BOZZARDI war, verpflichteten ihre Geheim- schluß unter Berufung auf das Ver- SS-Täter Hass: „Ich habe zwei Menschen erschossen“ dienste zahlreiche NS-Funktionä- schollenheitsgesetz. re, die sie im Kampf gegen den all- In Italien, wo Regisseur Duilio Coletti Im Sprachgebrauch der Militärs hieß der gegenwärtigen Kommunismus als will- die meisten Szenen von „Londra chiama Vielfachmord Repressalie. Das jüngste Op- fährige Werkzeuge gebrauchen konnten. polo nord“ (Originaltitel) drehte, hätte ihn fer war erst 14, das älteste 74. Immer noch Da störte auch nicht, daß viele offiziell als jeder Streifenpolizist sofort festnehmen gilt der Racheakt in den Ardeatinischen Kriegsverbrecher gesucht wurden. müssen. Die Staatsanwaltschaft in Rom Höhlen den meisten Italienern als schlimm- Der Mann aus Kiel, Jahrgang 1912, stand suchte Hass „wegen Mittäterschaft bei Ge- stes Symbol der Nazi-Barbarei. nacheinander auf der Soldliste eines hit- walttaten und Mord“. Doch seiner habhaft Polizeiattaché Herbert Kappler, als lerdeutschen, eines amerikanischen und wurden die Juristen erst im Juni 1996. Obersturmbannführer der SS eine Stufe eines italienischen Nachrichtendienstes. Der frühere SS-Sturmbannführer wird über Hass, war 1948 als verantwortlicher Dem bundesdeutschen „Amt Blank“,Vor- beschuldigt, an einer schrecklichen Ge- Führer des Tötungskommandos zu lebens- läufer des Verteidigungsministeriums, dien- walttat beteiligt gewesen zu sein – der Er- langer Haft verurteilt worden, fünf rang- te er kurzzeitig als eine Art Verbindungs- schießung von 335 Geiseln in den Ardea- niedrigere SS-Leute kamen frei mit der mann zwischen Rom und Bonn.

70 der spiegel 4/1997 Hass war kein Spitzenagent, sondern ge- hobener Durchschnitt. Gedeckt von den Geheimen, konnte er bis zum Sommer 1996 ein Leben ohne wirkliche Verfolgung genießen. „Ich war“, so Hass zum spie- gel, „vermutlich wertvoll für die.“ Schon seine Karriere bis zum Kriegsen- de verlief ungewöhnlich.Abitur 1932, dann arbeitslos wie so viele, ein Freund vermit- telte ihm eine Anstellung im Berliner SD- Hauptamt. SD ist das Kürzel für Sicher- heitsdienst; der SD war der Nachrichten- dienst der Hitlerpartei, er galt als eine der Kaderschmieden der Nation und ging 1939 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) auf. Hass arbeitete in der Presseabteilung unter Professor Franz Alfred Six, der we- gen seiner mörderischen Tätigkeit für eine Einsatzgruppe im Rußlandfeldzug später in Nürnberg 20 Jahre Haft bekam, schon bald

wieder freigelassen wurde, sich bei der Or- PUBLIFOTO ganisation Gehlen (nachmalig: Bundes- Deutsche Razzia in Rom*: Befehle von Hitler nachrichtendienst) verdingte und dann in der Autobranche großen Erfolg hatte. Unterstützt von Dolmetscherinnen, wer- tete Hass die ausländische Presse aus, auch die verbotenen Zeitungen. Er selbst küm- merte sich, weil „ich dort mal Urlaub ge- macht habe“, um die Gazetten aus Italien. Was für die politische Führung und die Spitzen der reichsdeutschen Wirtschaft in- teressant schien, komprimierte Hass „auf sechs bis zehn hektographierten Seiten“. Im zweiten Kriegsjahr promovierte der ita- lophile Hass zum Dr. rer. pol. Zum Einsatz vor Ort kam der SS-Führer 1943 – wegen Hitlers Freund Mussolini. Nach einem Beschluß des Faschistischen Großrats war der Duce am 25. Juli vom König abgesetzt und sistiert worden. Hit- ler tobte. Er gab Befehl, seinen Spezi zu befreien und die Ratsmitglieder, die gegen Mussolini votiert hatten, festzunehmen. Den Auftrag dazu erhielten Spezialisten des RSHA-Amtes VI, des Auslandsnach- Statist Hass (l.) in Viscontis „Die Verdammten“: In Deutschland für tot erklärt richtendienstes. Für beide Kommandos wurden im ganzen Amt Männer gesucht, nen Fehlschlag. Seine alliierten Gegenspie- Italien galt den Amerikanern schon bald die der Landessprache einigermaßen ler aber waren da ganz anderer Ansicht, vor als Schlüsselland in Europa. Zum einen mächtig waren. Hass: „So kam auch ich allem ein gewisser James Jesus Angleton. wegen seiner strategischen Lage zu den zum Einsatz.“ Eine besondere Ausbildung Der Amerikaner aus Idaho, fünf Jahre jün- Erdölfeldern des Nahen Ostens, zum an- will er nicht absolviert haben. ger als Hass, war Abwehrchef des US-Ge- deren, weil dort die Kommunisten zuneh- Teil eins der Operation, Mussolinis Be- heimdienstes OSS (Vorläufer der CIA) in mend an Einfluß gewannen. Deren „Ein- freiung, gelang. Teil zwei, für den auch Italien.Von Rom aus machte der Mann mit dämmung“ hatte US-Präsident Harry S. Hass vorgesehen war, wurde gestrichen. Decknamen wie „Cadaver“, „Orchid“ oder Truman zum Prinzip amerikanischer „Die Minister festzusetzen“, sagt er, „war „Fly“ Karriere bis in die Spitze der CIA. Außenpolitik erhoben. von vornherein glatte Illusion.“ Angleton interessierte sich sehr für das SS-Führer Hass suchte beim Zusam- Nun saß er in Rom, Kappler zugeteilt. Leben der in Italien stationierten SD-Füh- menbruch des Nazi-Regimes sein Heil erst Obschon ein Greenhorn im zweitältesten rer. Einer seiner „Top-secret“-Berichte über einmal in der Flucht. „Fünf-, sechsmal“ Gewerbe der Welt, gelang es ihm schnell, „Ida“, der auch bei den britischen Kollegen wurde er nach eigenen Angaben in Südti- sich der Dienste brauchbarer Informanten im Londoner War Office landete, wurde rol und Italien festgenommen, immer wie- und V-Leute zu versichern. Als die Alliier- wenige Wochen vor Deutschlands Kapitu- der konnte er fliehen. ten von Süden anrückten und die Deut- lation wieder aus dem Akt WO 204/12798 In Rom halfen ihm die Faschisten Gior- schen aus Rom verschwanden, setzte sich entfernt – ein eigenartiger Vorgang. gio Almirante und Pino Romualdi, beide der SS-Sturmbannführer nach Parma ab – Geheimdienst-Experten halten für Gründer der neofaschistischen Partei um hier eine SD-Spezialeinheit aufzuzie- denkbar, daß die Aktenentnahme die Zu- MSI („Movimento Sociale Italiano“), mit hen. Hass gab ihr den Tarnnamen „Ida“. kunft vorbereiten sollte: die geplante Re- falschen Papieren weiter. Hass selbst be- „Ida“ organisierte Sabotageakte, schleu- krutierung geeigneten Agentenpersonals treute in jener Zeit Nazis, die via Rom und ste Agenten durch feindliches Terrain und aus deutschen Beständen. Genua nach Südamerika fliehen wollten. kommunizierte über Ultrakurzwelle mit Detailliert berichtete darüber der ame- Zuträgern, die sich im befreiten Rom ver- * Am 23. März 1944 nach dem Bombenanschlag italie- rikanische Diplomat Vincent La Vista in steckt hielten. Heute nennt Hass „Ida“ ei- nischer Partisanen in der Via Rasella. einem Report (Titel: „Investigation of ille-

der spiegel 4/1997 71 Deutschland gal emigration movements“), der erst 1984 freigegeben wur- de. Er nannte auch einen Deck- namen von Hass – „Franco“. Hass selbst beschreibt seine damalige Tätigkeit gegenüber dem spiegel so:

Ich lebte in Rom allein, isoliert. Ich hatte keine offizielle Ver- bindung mit den Deutschen. Ab und zu kamen Personen, die, sagen wir mal, aus politi- schen Gründen auswandern wollten oder mußten.

Also ehemalige Nazis?

Si, si, leider. Ich war doch, sa- gen wir mal, selbst ein Unter- seeboot, klandestin. Die wur- den mir ins Haus geschickt, von Almirante und Romualdi.

Sie waren also beteiligt am Unternehmen Odessa, der SS- Flüchtlingshilfe?

Ich weiß das gar nicht. Ich PUBLIC RECORD OFFICE habe das nie erfahren. Die SS-Führer Hass, Kappler (1944), SS-Opfer*: Schlimmstes Symbol der Barbarei kamen so an als Flüchtlinge, ich wollte sie, sagen wir mal, schnell wie- pitano der amerikanischen Armee“ gewe- meintliche Überläufer sich als Spitzel ent- der loswerden. sen. puppten. Der Mann war nicht von der Truppe, Unterdessen wuchs in Washington die Entweder spielt Hass seine Rolle herun- sondern vom CIC, der Spionageabwehr Sorge um Italiens Zukunft. Für das Früh- ter, oder aber sein Gedächtnis hat stark der US-Armee. Er machte dem gesuchten jahr 1948 waren die ersten Parlaments- nachgelassen. La Vista behauptete sogar, Kriegsverbrecher ein Angebot. wahlen angesetzt, ein Sieg der Kommuni- Hass habe die Ausschleusung gesuchter Hass erinnert sich an seine Offerte ge- sten schien wahrscheinlich. Nazis „finanziert“. nau: „Wir haben wichtigere Sachen zu tun, „Was Europa betrifft“, kabelte der Lei- 1947 begann die italienische Justiz, die als Sie immer wieder einzufangen.Wir ha- ter des politischen Planungsstabes, Geor- Morde in den Ardeatinischen Höhlen ein- ben jetzt einen gemeinsamen Kampf – den ge Kennan, an seine Geschäftsträger in gehend zu untersuchen.Während die mei- internationalen Kommunismus.“ Für den Übersee, „so nimmt Italien offensichtlich sten Todesschützen schnell ausgemacht Ex-Sturmbannführer war der plötzliche eine Schlüsselstellung ein.“ Kennan hielt werden konnten, blieb Hass unbehelligt. Frontwechsel „das große Los“. die Lage für so ernst, daß er eine militäri- sche Intervention empfahl; die CIA erhielt den Auftrag, einen Erfolg der Kommuni- sten mit allen Mitteln zu verhindern. In dem riesigen Sandkastenspiel bekam auch Hass eine Rolle. Seine Auftraggeber vom CIC schickten ihn zurück nach Rom. Hass schnüffelte fortan Kommunisten hin- terher. Er behauptet sogar, damals in die Zeugenliste für Priebke-Verfahren (Ausriß)*: Überraschung für den Staatsanwalt Pläne für einen möglichen Staatsstreich eingeweiht gewesen zu sein. Offiziell wurde er gesucht: Im österreichischen Linz an der Donau Seine Meldungen und Informationen setzte sich Hass, nun in der Uniform lieferte er den Staatsschützern des römi- Schwarze Haare, gescheitelt, kurz ge- eines Hauptmanns der amerikanischen schen Innenministeriums, vergleichbar mit schnitten. Dunkler Teint, untersetzt, breit- Armee, ans Mikrofon eines Soldaten- den deutschen Verfassungsschützern. Er schultrig, volles Gesicht, starke Backen- senders. Der strahlte gen Osten. Hass: „Ich trug nun Tarnpapiere – auf den Namen knochen, 1,82 Meter groß, liebenswürdig, forderte in deutscher Sprache alle Offi- Giustini. An den Vornamen kann er sich lispelt, gepflegt, Spaßvogel, trinkt tüchtig. ziere auf, zu desertieren und rüberzu- nicht genau erinnern: „Ich glaube, es war Am 21. Oktober 1947 schrieb ihn Staats- kommen.“ Rodolfo.“ anwalt Russell O. Pettibone, Mitarbeiter Manche folgten dem Ruf. Hass vernahm Während der Agent Giustini in der Ewi- der „Abteilung Kriegsverbrecher“ beim sie, fertigte Protokolle. „Die Intelligente- gen Stadt seiner Arbeit nachging, begann US-Hauptquartier in Österreich, zur Fahn- sten“, sagt er, „wurden zurückgeschickt.“ dort der Prozeß gegen seine alten SS-Ka- dung aus. Zu diesem Zeitpunkt gab Hass in Sie sollten über die Lage vor Ort berichten. meraden wegen der Geiselerschießung in einem Kloster bei Ascoli Piceno Studenten Die Operation wurde abgebrochen, als ver- den Ardeatinischen Höhlen. Hass stand Englisch- und Mathematikunterricht. immer noch ganz oben auf der Fahn- Nur ein paar Tage nach Pettibones In- * Oben: Särge von Erschossenen in den Ardeatinischen dungsliste. itiative tauchte bei Hass unerwartet Be- Höhlen; unten: 1995 aufgestellt von der Dortmunder Sein Geheim-Dienst endete, nach eige- such auf. Er glaubt heute, es sei „ein Ca- Staatsanwaltschaft. nen Angaben, im Jahre 1953, aber seine

72 der spiegel 4/1997 wird aufgehoben ... da der Ge- nannte noch lebt.“ In Italien klärte Hass seine deutschen Rentenansprüche. Die Außenstelle Kornelimün- ster des Koblenzer Bundesar- chivs, in der Zehntausende von Nazi-Personalakten gelagert sind, bestätigte ihm 1978, als „hauptamtlicher Führer der allgemeinen SS geführt“ wor- den zu sein. Dann zog er Mitte der acht- ziger Jahre mit seiner zweiten Frau Angela zur Tochter in die Schweiz. Der Ruhestand hätte noch lange angedauert – wenn nicht sein Kumpel Erich Prieb- ke nach fast 50 Jahren ehrbarer Bürgerlichkeit in seiner argen- tinischen Fluchtheimat San Carlos de Bariloche aufgeflo- gen wäre. Priebke, der seine Teilnah- me an den Geiseltötungen un- umwunden zugab („Wir taten, was uns befohlen wurde“), nannte zu seiner Entlastung die

SIPA Namen anderer Personen, die SS-Täter Priebke*: Kämpfe der Justiz unbehelligt geblieben seien. Hass war dabei. Camouflage hielt an. Am 8. Mai 1953, dem Offenbar vom Geheimdienst über des- neunten Jahrestag der bedingungslosen sen Aufenthalt informiert, rief der Militär- Kapitulation, stellte seine Frau Ingeborg staatsanwalt Antonio Intelisano bei Hass beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg an. Der war, nachdem er sich vom ersten den Antrag, ihn für tot zu erklären. Schreck erholt hatte, sauer auf Priebke und Sie habe, erklärte Ingeborg Hass an Ei- log Intelisano die Geschichte vor, Kamerad des Statt, letztmalig am 30. Juni 1947 ein Priebke sei zu Ende des Krieges bei der Er- Lebenszeichen ihres Mannes erhalten. Am mordung eines prominenten italienischen 13. November 1953 beschloß das Ge- Gewerkschafters dabeigewesen – ein Fall, richt: „Der Tod des Karl Hass wird fest- der bis heute nicht geklärt ist. Über seine gestellt.“ eigene Beteiligung an dem Massaker in Der Für-tot-Erklärte verdiente sich, auf den Ardeatinischen Höhlen verlor Hass Vermittlung eines Freundes, fortan sein zunächst kein Wort. Geld mit kleinen Filmrollen, etwa als na- Intelisano lud Hass als Belastungszeugen menloser SS-Mann in „London ruft Nord- gegen Priebke nach Rom. Schon auf dem pol“ oder später als ergraute SA-Charge in Flughafen Fiumicino sei ihm, sagt Hass, Luchino Viscontis „Die Verdammten“. „wegen der vielen Carabinieri und Polizi- Im Februar 1962 stellte der Militär- sten“ ganz mulmig geworden. staatsanwalt in Rom die Suche nach Hass Als ihm im Hotel jemand den Rat gab, ein – Begründung: „Bezüglich der Identi- „nicht den Aufzug, sondern die Treppe zu fizierung und Ergreifung des Angeklagten“ benutzen“, sprang er in Panik aus dem sei seine Arbeit „erfolglos“ gewesen. Fenster und brach sich das Becken. Als der Fahnder seine Entscheidung dik- Im Krankenhaus gab er die Lüge zu und tierte, arbeitete Hass gerade in Italien un- räumte ein, genau wie Priebke in den Ar- ter richtigem Namen für den Umbet- deatinischen Höhlen zwei Männer getötet tungsdienst der Deutschen Kriegsgräber- zu haben. fürsorge „als Protokoll- und Rechnungs- Für die Dortmunder Staatsanwaltschaft führer“. 1964 übernahm er für zwei Jahre kamen Täter und Geständnis völlig über- die Leitung des deutschen Soldatenfried- raschend. Hass tauchte lediglich vor zwei hofs Motta S. Anastasia nahe Catania, auf Jahren auf einer Zeugenliste für das Prieb- dem 4561 Tote begraben liegen. ke-Verfahren auf. Hinter seinem Namen Bei einem Kurztrip in die alte Heimat stand in der Akte ein Kreuz: tot – „ver- erfuhr Hass „rein zufällig“ (Hass), daß er storben am 30. 06. 1947“. für tot erklärt war. Sofort betrieb er in Nun wollen die Dortmunder dem frühe- Berlin seine Wiederauferstehung. Am 2. ren Sturmbannführer der SS den Prozeß Dezember 1962 verfügte dasselbe Amts- in Deutschland machen. Hass jedoch gericht genauso kurz und bündig wie möchte lieber in Rom vor Gericht gestellt knapp zehn Jahre zuvor: „Der Beschluß werden. „Zur italienischen Justiz“, sagt er, habe er „hundertprozentiges Ver- * 1995 in Rom im Gerichtsgebäude. trauen“. ™

der spiegel 4/1997 73 Deutschland sche national-zeitung respektvoll, sei tet Munier jetzt auch den „Generals-Eh- EXTREMISTEN „zu keinem Zeitpunkt angetastet wor- rendolch für den Schutz der Arbeiter- und den“ – ganz im Gegensatz zur Bundes- Bauernmacht“ an. Inschrift: „Überreicht republik, die von Ausländern „überfrem- vom Minister für Staatssicherheit“. Reinstes det“ worden sei. Der Versuch, National- und Realsozia- Vor allem erfreut die Kameraden die lismus auf dem Gabentisch miteinander zu Nationale Volksarmee (NVA), die „weit versöhnen, kommt an. Munier freut sich Deutschtum mehr in der deutschen Militärtradition“ über die „sehr große Kundschaft“ vor al- (deutsche national-zeitung) gestanden lem im Osten ebenso wie über Zuspruch Rechtsradikale entdecken die habe als die Bundeswehr. Bilder von NVA- alter Kameraden im Westen. Vorzüge der untergegangenen DDR Soldaten, die im Stechschritt der Preußen Filmisches aus DDR-Propagandaküchen marschieren, lassen die Herzen rechter liefert auch der Versand des rechten Mo- und nutzen realsozialistische Hardliner höher schlagen. natsmagazins nation und europa. Chef- Propagandafilme für ihre Zwecke. So präsentiert der einschlägig aktive redakteur Karl Richter, 34, hat mit der Kieler Verleger Dietmar Munier, 42, neben ideologischen Munition aus DDR-Arsena- as nostalgische Schwärmen für die Wochenschauen aus der Nazi-Zeit und der len „keine Probleme“. Für einen rot-brau- gute alte Zeit kommt ein wenig Goebbels-Rede zum „totalen Krieg“ von nen Verbrüderungskurs wirbt auch die Ost- Dsteif daher: Es werde, heißt es, „all- 1943 inzwischen auch einen Film von der Berliner Zeitschrift sleipnir, deren Ver- zuleicht vergessen“, daß das SED-System sandservice neben Soldatenliedern aus der „auch positive Elemente besaß“. Nazi-Zeit auch eine DDR-LP vom Rund- Besinnung auf die Traditionen „der un- funk-Jugendchor Wernigerode als „Klang tergegangenen Deutschen Demokratischen reinsten Deutschtums“ anpreist. Republik“ fordert unter der Überschrift Die propagandistischen Beutewaffen aus „DDR – war alles schlecht?“ nicht etwa dem einstigen Feindesland dienen rechten das einstige SED-Blatt neues deutsch- Ideologen dazu, auch ehemalige Anhän- land, der Artikel stand in der deutschen ger des SED-Staates, vor allem frühere national-zeitung des rechtsextremen Soldaten der DDR, für sich zu gewinnen. Münchner Verlegers Gerhard Frey. Der Westen habe, wettert Munier ge- Sieben Jahre nach dem Sturz des SED- schickt, „in der ehemaligen DDR alles platt Regimes entdecken Rechtsradikale die gemacht“ und damit „Traditionen unserer DDR. Im verblichenen Arbeiter-und-Bau- Nationalgeschichte mißachtet“. ern-Staat, zu seinen Lebzeiten von Neo- Rechtsextremist Munier* Mit Attacken auf die „Darstellungen nazis als „russische Kolonie“ hinter der „Alles platt gemacht“ westlicher Siegermächte“ und gegen die „Schandmauer“ gegeißelt, erkennen sie nun „Siegerjustiz“ schlagen Nationale wie Mu- einen verkannten Hort deutscher Ordnung. letzten großen NVA-Militärparade zum 40. nier eine Brücke von der DDR-Nostalgie Mit Propagandafilmen und Musik aus Jahrestag der DDR im Oktober 1989. zu ihrem Hauptanliegen, der Rehabilitie- volkseigener Produktion rüsten führen- Umrahmt von Streifen wie „Ostfront rung des NS-Regimes. de Nationalisten ihre Kameraden mora- 1944/45“ und „Verräter“ (mit der Goeb- Munier, der zahlreiche Videos über lisch auf. Den Rechten imponiert an bels-Geliebten Lida Baarova), offeriert der Großkundgebungen der NSDAP („Hitler der DDR vor allem die ethnische Rein- rechte Propagandist auch Videos über die spricht“) vertreibt, weiß freilich, daß die heit. Der „deutsche Charakter der Bevöl- „Hüter des Luftraumes“ der DDR, die Mi- DDR-Führungsspitze mit „ärmlichen Per- kerung in Mitteldeutschland“, so die deut- litärflieger der NVA. Verlagskommentar: sonen wie Honecker“ den Nationalsozia- „DDR-Propagandafilm eines Staates, der listen an rhetorischer Durchschlagskraft * Oben: auf einem Seminar des „Schulvereins zur För- sich zu seinen Soldaten klar bekannte.“ deutlich unterlegen war. Auf ein Video derung der Rußlanddeutschen in Ostpreußen“; unten: Stramme Haltung eint deutsche Käm- „Honecker spricht“ will er deshalb auch am 7. Oktober, zum 40. Geburtstag der DDR. pen. Neben allerlei NS-Devotionalien bie- künftig verzichten. ™ JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO JÜRGENS OST UND EUROPA NVA-Militärparade in Ost-Berlin 1989*: „Ein Staat, der sich zu seinen Soldaten klar bekannte“

74 der spiegel 4/1997 SPIEGEL: Die CSU fordert jetzt vor Ertei- lung der Arbeitserlaubnis eine generelle Wartezeit von fünf Jahren. HEILEMANN: Ich erwarte davon keine großen Effekte. Die Beschäftigung von Ausländern wird ja geradezu von der ökonomischen Situation erzwungen. Wenn es eine aus- reichende Zahl heimischer Arbeitskräfte für bestimmte Tätigkeiten gäbe, hätten wir das Problem doch gar nicht. SPIEGEL: Die Zuwanderung verursache „er- hebliche soziale Kosten“, heißt es in dem CSU-Papier außerdem. Stimmt das? HEILEMANN: Nach den Rechnungen des RWI leisten die Zuwanderer – nimmt man alle Ausgaben bei Bund, Land, Gemeinden, bei der Renten- und bei der Sozialversiche- rung zusammen – einen positiven Beitrag:

C. SCHULZ / PAPARAZZI Die Einnahmen des Staates durch Steuern Zuwandererjob Küchenhilfe: „Deutsche kaum noch zu gewinnen“ und Abgaben sind viel höher als die Kosten. Zuletzt hatten wir einen Über- schuß von 30 Milliarden Mark. ARBEITSLOSIGKEIT SPIEGEL: Die sozialen Kosten für Zuwan- derer haben sich laut CSU seit 1990 im- merhin verdreifacht. „Rückzug in die stille Reserve“ HEILEMANN: Sie meinen die Ausgaben für Sozialhilfe und ähnliches, die von den Interview mit Wirtschaftsprofessor Ullrich Heilemann Gemeinden zu tragen sind. Aber der Gerechtigkeit halber muß man schon das über die angebliche Konkurrenz zwischen Gesamtbild sehen, und dazu gehören auch heimischen und ausländischen Arbeitskräften in Deutschland die von den Ausländern gezahlten Ein- kommen- und Mehrwert- SPIEGEL: Herr Professor Heilemann, neh- Erfolg ist fraglich.Verheira- steuern sowie die Sozial- men Ausländer den Deutschen die Arbeit tete Frauen etwa würden versicherungsbeiträge. weg? sich dann in die stille Re- SPIEGEL: Nach früheren Be- HEILEMANN: Im Gegenteil. Die Ausländer serve zurückziehen, und die rechnungen Ihres Instituts gehen meist in Regionen und in Branchen, Jobs blieben unbesetzt. Ein haben sich Wachstum der für die Deutsche schon seit langem kaum größerer Anreiz wäre es, Wirtschaft und Einkommen zu gewinnen sind. Nur ausnahmsweise, vor deutlich höhere Löhne für der Unternehmer durch allem bei minderqualifizierten Tätigkeiten, solche Arbeit zu zahlen. Zuwanderung beträchtlich gibt es schon mal einen Wettbewerb zwi- SPIEGEL: Der Münchner erhöht. Ist es bei dieser Ten- schen heimischen und ausländischen Ar- Volkswirtschaftsprofessor denz geblieben? beitskräften. Viel größer ist die Konkur- Klaus Zimmermann hat er- HEILEMANN: In den Zeiten renz der Ausländer und Aussiedler unter- klärt, mit der Zuwanderung des Einigungsbooms wur- einander. sei der wirtschaftliche Er- den die Arbeitskräfte sehr SPIEGEL: Die hohe Zuwanderung sei ein folg der Bundesrepublik stark nachgefragt. Im Au- „maßgeblicher Faktor“ für die Arbeitslo- verbunden. Gilt das noch genblick ist es objektiv – sigkeit, heißt es in einem Arbeitsmarkt-Pa- heute? und damit auch für Auslän-

pier, das die CSU kürzlich in Wildbad HEILEMANN: Ja, wenn auch ROGNER / NETZHAUT F. der – schwieriger gewor- Kreuth vorlegte. nicht mit der gleichen Wir- den. Aber nach wie vor ist HEILEMANN: So kann man das sicher nicht kung wie etwa in den Ver- Ullrich Heilemann der Beitrag der Ausländer sagen. Richtig ist nur, daß der Anteil der einigten Staaten, wo die ist Vizepräsident des für das Wirtschaftswachs- Arbeitslosen unter den Zugewanderten südostasiatischen Flücht- Rheinisch-Westfälischen tum von großer Bedeutung. größer ist als unter der heimischen Bevöl- linge erheblich zur wirt- Instituts für Wirtschafts- SPIEGEL: Betreibt die CSU kerung. schaftlichen Dynamik bei- forschung (RWI) in Es- nur populistische Tagespo- SPIEGEL: Wo sind im Arbeitsmarkt die Ni- getragen haben. Bei uns sen. Der 52jährige lehrt litik? Oder wird die Auf- schen für Ausländer und Aussiedler? gibt es den sogenannten an der Universität Duis- nahmefähigkeit der Gesell- HEILEMANN: Vor allem in den alten Indu- Unteroffizierseffekt: Zu- burg. schaft tatsächlich überfor- striezweigen, wo große körperliche An- wanderer verrichten meist dert? strengung gefordert wird, Branchen mit die niederen Arbeiten, heimische Arbeits- HEILEMANN: Ökonomische und gesell- sehr ungünstigen Arbeitszeiten, mit ho- kräfte steigen so automatisch in höhere schaftliche Belastungen gibt es sicher in hem Arbeitsplatzrisiko bei schwacher Kon- Positionen auf. Städten mit einem sehr hohen Ausländer- junktur. Auch das Gaststätten- und Hotel- SPIEGEL: Schon heute darf eine Arbeitser- anteil. Die Zuwanderer konkurrieren aber gewerbe ist ein Bereich, den Einheimische laubnis für Ausländer nur erteilt werden, nur mit Teilen der Bevölkerung auf dem meiden. wenn Deutsche und EU-Ausländer nicht Arbeits- und auch auf dem Wohnungs- SPIEGEL: Die Deutschen drücken sich dem- zur Verfügung stehen. Wird da, wie die markt. Ein leitender Beamter kommt gar nach vor den niederen Arbeiten. Wie läßt CSU meint, zu lax geprüft? nicht in eine solche Lage. Insofern gibt das sich das ändern? HEILEMANN: Wenn das so ist, müßten die CSU-Papier einen in der Bevölkerung weit HEILEMANN: Man könnte den Arbeitslosen Verwaltungsrichtlinien überarbeitet wer- verbreiteten Eindruck wieder.Aber dieser strengere Bedingungen für die Aufnahme den. Aber man kann nicht sagen, daß ein Eindruck entspricht nicht dem, was sich zumutbarer Arbeit diktieren. Aber der signifikanter Mißbrauch getrieben wird. aus den Zahlen ablesen läßt. ™

der spiegel 4/1997 75 men, müssen schon seit 1991 Genehmi- gungen vorweisen. Bei den betroffenen Familien löste die Neuregelung größte Unsicherheit aus.Wei- nend, berichtet Kenan Kolat vom Türki- schen Bund in Berlin, hätten sich Eltern am Telefon gemeldet und gefragt, was sie denn jetzt machen sollten. Tatsächlich holten viele Väter und Müt- ter ihre in der Türkei zur Schule gehenden Kinder in die Bundesrepublik – aus Sor- ge, sie könnten sie sonst fürs erste über- haupt nicht mehr wiedersehen. Allein in Berlin flogen bis vergangenen Dienstag mehr als 500 minderjährige Türkei-Heim- kehrer ein. Kolat: „Die Leute verstehen noch gar nicht, was die neue Regelung bedeutet.“ Und die Ausländerbehörden offenbar auch nicht: Ob die Kleinen für die neue Geneh- migung persönlich im Amt erscheinen müssen, ist völlig unklar. Niemand weiß auch, in welcher Frist die ohnehin über- lasteten Behörden den nun einsetzenden Antragsansturm bewältigen werden. Zwar räumt die neue Verordnung den Betroffenen für die Beschaffung einer Auf- enthaltsgenehmigung einen Zeitraum von zwölf Monaten ein. Doch was ist, wenn eine Klassenreise ins Ausland bevorsteht oder ein Besuch in der Türkei? Ohne die neuen Papiere, fürchten viele Eltern, könn- te ihr Nachwuchs möglicherweise nicht wieder reingelassen werden. Verwirrung herrschte auch darüber, wie oft die Papiere erneuert werden müssen. Während die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Ja-

F. BLICKLE / BILDERBERG F. cobsen, von acht Jahren Gültigkeit ausgeht, Hamburger Ehepaar Demir, Tochter Dilan: „Du bist anders“ sprechen Behördenbedienstete in Hamburg nur von zwei. Auf jeden Fall, erfuhr Dilans rene Dilan dem Bundesinnenminister. Man- Vater Ismail Demir, werde aus der schon AUSLÄNDER fred Kanther (CDU) hatte zum Mittwoch vor Monaten für die Familie beantragten vergangener Woche überraschend verfügt, deutschen Staatsbürgerschaft vorerst daß ausländische Kinder künftig eine eige- nichts, denn wegen der neuen Vorschrift Reine ne Aufenthaltsberechtigung brauchen. liege dem für die Einbürgerung zuständigen Und wer noch nicht da ist, soll möglichst Beamten die Akte nicht mehr vor. gar nicht mehr kommen: Kanther ver- Der Innenminister begründet die ver- Luftnummer schärfte auch die Einreisebestimmungen. schärften Bestimmungen mit einer drama- Kinder, die jünger als 16 Jahre alt sind und tisch angestiegenen Zahl von Kindern, die Bundesinnenminister Kanther deshalb bisher ohne Visum durch die allein mit dem Flugzeug in die Bundesre- erschwert ausländischen Kindern Grenzkontrollen kamen, brauchen jetzt publik gereist seien und dann oft von den eine Einreisegenehmigung. Behörden versorgt werden müßten: Kamen die Einreise – junge Drogendealer Der Minister gab die 1994 noch 198 Jungen und werden trotzdem kommen. neue Verordnung nur einen Mädchen ohne Begleitung Tag vor ihrem Inkrafttreten ihrer Eltern ins Land, so wa- as Wort „Ausländer“ hat die kleine bekannt. Sie gilt für die ren es im vergangenen Jahr Dilan vor kurzem zum erstenmal etwa 400 000 türkischen schon 2068. Selbst ein sechs Dvon einem Spielkameraden gehört. Kinder in der Bundesrepu- Monate altes Baby, berich- Was das denn sei, hat die 7jährige darauf- blik, die bisher nur in den teten Beamte des Bundes- hin ihre Mutter gefragt, bei der Antwort Pässen ihrer Eltern ver- grenzschutzes am Frankfur- aber schon nicht mehr so genau hingehört. merkt sein mußten. Sie ter Flughafen, sei ihnen Jetzt wird Nurcan Demir, 30, ihrer Toch- betrifft aber auch Kinder schon von einer Stewardess ter das komplizierte Wort und dessen Fol- aus Teilen von Ex-Jugo- ausgehändigt worden. gen wohl genauer erklären müssen. Der slawien, Marokko und Über das Ausmaß des türkischen Geschäftsführerin einer inter- Tunesien – Länder, in denen Mißbrauchs sagen Kanthers nationalen Begegnungsstätte in Hamburg früher Gastarbeiter an- Zahlen dennoch wenig. graut schon vor der Aufgabe, „dem Kind geworben wurden. Her- Etwa 1300 der Kinder hat- das Gefühl zu geben: Du bist anders“. anwachsende anderer Na- ten Verwandte in Deutsch-

Den Nachhilfeunterricht in Sachen Aus- tionen, einige Staaten wie M. DARCHINGER land und wurden von die- grenzung verdankt die in Hamburg gebo- die EU-Länder ausgenom- Kanther sen auch empfangen.

76 der spiegel 4/1997 Deutschland Junge nach Deutschland aus- gen Deutschen Demokratischen Republik reisen konnte. Seine Eltern, nicht als erwiesen“ festgestellt. sagt Sirin,¸ seien unterge- Soweit es in der Begründung an einer taucht, ein Bruder zur PKK Stelle heißt, eine Tätigkeit sei „als nicht gegangen, ein anderer seit zweifelsfrei erwiesen anzunehmen“, hat Jahren verschollen. Auch er der Ausschuß am 28.04. 1994 beschlossen, wurde mehrmals vom türki- das Wort „zweifelsfrei“ ersatzlos zu strei- schen Militär verhört und chen. mißhandelt. Ohne gefälschte Ferner wird in bezug auf die Durchsicht Papiere, so ein kurdischer der Akten der Gauck-Behörde durch PDS- Helfer, hätte Sirin¸ niemals aus Mitarbeiter seit Oktober 1996 behauptet, der Türkei ausreisen und jetzt zum Vorschein sei u. a. die Zweitschrift ei- um Asyl bitten können. ner Stasi-internen Liste gekommen, in der Von der Visumspflicht, hinter Gysi das Kürzel „IM“ vermerkt ist. fürchten Wohlfahrtseinrich- Hierzu stelle ich fest: tungen, seien deshalb vor al- Eine Zweitschrift dieser Stasi-internen Li- lem tatsächlich Verfolgte be- ste ist bei Durchsicht nicht aufgetaucht,

F. BLICKLE / BILDERBERG F. troffen, die nicht genug Geld sondern bei der Akte befindet sich nur Asylbewerber Sirin*:¸ Vom Militär mißhandelt für professionelle Fluchthel- eine Liste, über die der spiegel bereits in fer haben. Die neue Bestim- seiner Ausgabe Nr. 8/1992 vom 17.02.1992 Die Landesregierungen müssen Kan- mung, so kritisiert die Unicef, widerspre- berichtet hatte. thers nur vorläufig gültiger Verordnung che dem „Geist der Uno-Kinderrechts- innerhalb der nächsten drei Monate zu- konvention“. Bonn, den 30. Dezember 1996 stimmen. Und die meisten werden das Auf besonders scharfe Ablehnung stieß Dr. Gregor Gysi wohl tun. Bei der Einreise Minderjähriger Kanthers Entscheidung, die Rechtsstellung sei „irgend etwas in Unwucht geraten“, im Lande geborener Kinder wie der kleinen Amtliche Antwort des Bundesbeauftrag- findet der niedersächsische Innenminister Dilan zu verschlechtern. Die Bestimmung ten für die Stasi-Unterlagen zur Anfrage Gerhard Glogowski (SPD). sei „kontraproduktiv“, weil sie „die Inte- von Annedore Havemann, wer sich hinter Manche Eltern versuchten offenbar ihre gration weiter erschweren wird“, urteilten dem Decknamen „Notar“ in den Akten Kinder über Schlepperorganisationen nach zehn CDU-Bundestagsabgeordnete in ei- Robert Havemanns verbirgt, vom 9. Juni Deutschland zu bringen, um dann später ner am Freitag veröffentlichten Erklärung. 1995: „Der Deckname ‚Notar‘ wurde in selbst nachzukommen – ein Vorhaben, das Weiteren Zulauf für Extremisten fürch- den Unterlagen des Staatssicherheits- nach dem Ausländerrecht auch bisher tet der grüne Bundestagsabgeordnete Cem dienstes geführt für Dr. Gysi, Gregor; schon keine Aussicht auf Erfolg hatte. Özdemir, 31. Wenn die Regierung den tür- Geburtsdatum: 16. 01. 1948; Geburtsort: Zudem, kritisiert Kanther, würden vor kischen Kindern immer wieder bedeute, Berlin“. Eine entsprechende behördliche allem kurdische Kinder als Drogendealer „ihr gehört nicht dazu, egal wie gut ihr Mitteilung erging auch an Frau Bärbel oder -kuriere nach Deutschland geschickt. euch integriert“, profitierten davon radi- Bohley. Nach Schätzungen der Hamburger Aus- kale Islamisten. Wer wie er gegen die fun- In der Gutachterlichen Stellungnahme des länderbehörde sind in der Hansestadt 200 damentalistischen Scharfmacher auftrete Bundesbeauftragten für die Stasi-Unter- kurdische Jungen aktiv. Die Mini-Dealer und die türkischen Jugendlichen zur Inte- lagen an den Bundestagsausschuß für werden in der Szene besonders gern ein- gration in die deutsche Gesellschaft auf- Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- gesetzt, weil Kinder strafrechtlich nicht be- fordere, gerate immer mehr ins Abseits: ordnung vom 26. Mai 1995 heißt es: „Die langt werden können. „Wir stehen da wie begossene Pudel.“ ™ vorstehenden Ausführungen mit den Sind die Jungen erst mal in den Fängen beigefügten Belegen zeigen, daß das MfS der Drogenmafia, ist ein Ausstieg aus dem Dr. Gysi die Decknamen ,Gregor‘, ,Notar‘ unbarmherzigen Geschäft kaum noch Gegendarstellung und ,Sputnik‘ zuordnete. Dr. Gysi ist möglich. Ein 16jähriger, der das in Ham- demnach identisch mit der Person, die burg 1992 versuchte, wurde von Unbe- In dem Artikel „Im Regen“ in spiegel vom MfS (HA XX/9) als ... IM ,Notar‘ ... kannten ermordet. Nr. 45/1996 auf Seite 33 wird im Zusam- bezeichnet wurde. Die Recherche hat Die neue Visumspflicht, urteilt die Ber- menhang mit einer Mitteilung über von ergeben, daß die HA XX/9 diese Deck- liner Ausländerbeauftragte Barbara John der Gauck-Behörde angelieferte Stasi-Un- namen ausschließlich Dr. Gysi zugeord- (CDU), könne „Kinder etwas besser davor terlagen behauptet, mein Stasi-Deckname net hat.“ schützen, hin- und hergeschoben und da- sei „IM ,Notar‘“ gewesen. In einem ergänzenden Schreiben an den bei auch für mehr als zweifelhafte Zwecke Hierzu stelle ich fest: Bundestagsausschuß vom 21. Juni 1995 mißbraucht zu werden“. Es gibt keine Stasi-Unterlage, wonach ich heißt es: „Eine Verwechslung mit anderen Doch Kenner der Szene zweifeln daran. als „IM ,Notar‘“ registriert worden war. Personen ist ausgeschlossen.“ Wahrscheinlich würden jetzt nur die von Ferner wird über das Votum des Bundes- Mit einem MfS-internen „Suchauftrag“ den Schleppern geforderten Preise steigen, tagsausschusses für Wahlprüfung, Immu- vom 16. Januar 1981 wurde bei der für die vermutet ein Insider in Hamburg. Schließ- nität und Geschäftsordnung berichtet und Registrierung zuständigen MfS-Zentral- lich gebe es „für ein paar Tausender behauptet: „Schon im Herbst 1993 wollte abteilung nach „Gysi, Gregor“ angefragt. Schmiergeld“ sogar gefälschte Einreisege- das Gremium sein Urteil – Tenor: Die Sta- Die Antwort auf der Rückseite des For- nehmigungen. Die Visa-Vorschrift, glaubt si-Tätigkeit Gysis sei zwar ,erwiesen‘, we- mulars: Der Gesuchte ist erfaßt unter der auch Helga Jockenhövel-Schiecke vom In- gen unvollständiger Akten aber ,nicht „Registrier-Nummer MfS 5647/80 in der ternationalen Sozialdienst in Frankfurt, sei zweifelsfrei‘ – veröffentlichen.“ Hauptabteilung XX, Operativgruppe, Mit- im Grunde „eine reine Luftnummer“. Hierzu stelle ich fest: arbeiter Lohr“. 10 000 Mark haben Verwandte für Im Tenor seines Beschlusses vom Unter dieser Registriernummer wurden Sirin,¸ 14, aufgebracht, damit der kurdische 21.10.1993 hat der Ausschuß „eine haupt- am 13. und 22. Januar 1981 an den Major amtliche oder inoffizielle Mitarbeit oder Lohr Operativgelder erstattet: * Mit einem PKK-Plakat, das ihn (vorn rechts) 1994 bei politische Verantwortung für das Ministe- „Zweckbestimmung ... Registrier-Num- einer Trauerkundgebung in der kurdischen Stadt Idil rium für Staatssicherheit / Amt für Natio- mer: 5647/80, Deckname: IM ,Notar‘.“ zeigt. nale Sicherheit (MfS/AfNS) der ehemali- –Red.

der spiegel 4/1997 77 Werbeseite

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SEXUALVERBRECHEN Tod hinterm Deich Hat der Mörder der zehnjährigen Kim Kerkow noch weitere Kinder umgebracht? Die Polizei ermittelt bundesweit.

ls Wubbo Everts aus dem ammer- ländischen Ort Jeddeloh am Don- Anerstag morgen voriger Woche im Radio hörte, der Mörder der zehnjährigen KÄSMACHER Kim Kerkow sei gefaßt, erlitt er einen Ner- PRESS ACTION venzusammenbruch. Täter Diesterweg, Opfer Kim: Halb Europa suchte einen Mörder Ganz Deutschland war erleichtert, doch Everts packte die Panik, der Mörder rer, Tankwarte und Gaststättenbesitzer be- Bild konnten zwei Bundesgrenzschützer könne auch sein Kind auf dem Gewissen teiligt. Über 1400 Hinweise gingen aus der den Täter an der dänisch-deutschen Gren- haben. Bevölkerung ein. Halb Europa suchte ei- ze identifizieren. Denen war er aufgefallen, Tagelang hatte der Techniker, 52, mit nen Mörder. Sein Phantombild war täglich weil er keinen Führerschein dabei hatte. den Eltern von Kim Kerkow mitgelitten. in den Zeitungen zu sehen. Die enorme, über vergleichbare Fälle Denn auch er hat eine Tochter, die seit Die Festnahme gelang, weil der Zeichner weit hinausgehende Anteilnahme von Me- dem 11. Juni vergangenen Jahres ver- des Landeskriminalamts in Hannover mit dien und Bürgern an dem Mord von Varel schwunden ist. Seither verfolgt der Vater Hilfe von zwei Mädchen aus Varel, die sich erklärt sich aus den Umständen der Tat, der 13jährigen Ulrike jeden Entführungs- am Tag des Verbrechens ebenfalls von Die- welche die Phantasie der Menschen erreg- fall irgendwo in Deutschland – immer zwi- sterweg bedroht gefühlt hatten, ein bril- te und die Medien zu waghalsigen Speku- schen Furcht und Hoffnung, es gebe Spu- lantes Phantombild erstellte. Nach diesem lationen verleitete. ren zu seinem eigenen Kind. Der Daß die Leiche des Mädchens Fall Kerkow erregte ihn beson- scheinbar ohne Merkmale sexu- ders, weil Varel, der Wohnort der eller Vergehen in einem Wald- kleinen Kim, nur 40 Kilometer stück bei Amsterdam gefunden von Jeddeloh entfernt liegt. Und und als Täterfahrzeug nach ei- der als Mörder von Kim Kerkow nen 200000 Mark teuren BMW verhaftete Kaufmann Rolf Die- gefahndet wurde, machte Kim sterweg, 34, ist einschlägig vor- Kerkow schnell zum Opfer bestraft. international operierender Kin- In den frühen Morgenstun- derschänder aus der Pornosze- den des Donnerstags gestand ne. Assoziationen zu dem belgi- Diesterweg, am 9. Januar schen Kindermörder Marc Du- Kim Kerkow aus Varel bei troux drängten sich auf. Und Wilhelmshaven mit Reizgas Amsterdam gilt seit Jahren als attackiert und entführt, dann eine der Kapitalen der Porno- sexuell mißbraucht und an- branche. schließend durch eine über den Im friesischen Varel bildete Kopf gestülpte und mit einem sich spontan eine Bürgerinitiati- Schal verzurrte Plastiktüte er- ve, die Unterschriften für die stickt zu haben. Danach habe Wiedereinführung der Todes- er die Leiche nach Holland ge- strafe sammelte. Der Vareler Pa- fahren und bei Amsterdam in stor Bernd Göde heizte die Stim- den Wald geworfen. mung in der Sonntagspredigt an. Mit der Festnahme Diester- Er verkündigte von der Kanzel: wegs durch ein Mobiles Einsatz- „Der, der Kim das angetan hat, kommando der niedersächsi- hat sein Leben verwirkt.“ schen Polizei endete eine dra- Um so herber die Nachricht, matische Fahndung, die nicht daß das Böse nicht aus der la- nur in Deutschland, sondern sterhaften Ferne kam, sondern auch in Holland, Belgien und der Täter einer aus dem engen Frankreich ungewöhnliches Auf- heimischen Umfeld ist. Diester- sehen erregt und große Anteil- weg stammt aus dem friesischen nahme ausgelöst hat. Dorf Horumersiel hinter dem An der Suche nach dem ver- Nordseedeich, 45 Kilometer von meintlichen Täterfahrzeug, ei- Varel entfernt. Im Haus seiner nem schwarzen BMW 850 CSi Eltern wurde der in Görges- mit Westerwälder Kennzeichen, hausen bei Limburg gemeldete hatten sich Millionen Autofah- Vermißte Ulrike Everts: Schock für den Vater Mann festgenommen. Verbin-

80 der spiegel 4/1997 Die Mordkommission in Varel, die den Fall Kerkow bearbeitet, wurde deshalb erheblich verstärkt. Deutschlandweit wer- den die gesicherten genetischen Spuren aus ungelösten Fällen nun mit Diesterwegs DNA-Material verglichen. Wubbo Everts hofft inständig, daß Die- sterweg nicht noch mehr Kinder getötet hat. Er will den Glauben nicht aufgeben, daß seine Tochter lebt. Sollte es einen Zusammenhang zwi- schen Diesterweg und dem Verschwinden von Ulrike Everts geben, käme der nie- dersächsische Innenminister Gerhard Glogowski in die Bredouille. Bereits im vergangenen November hatte Everts in einer Dienstaufsichtsbeschwerde an den Innenminister Klage über Ermittlungspan- nen der Polizei im Fall seiner Tochter ge-

REUTERS führt. Die Beamten hätten den Ort, an dem Mutter der ermordeten Kim*: Hat die Polizei versagt? seine Tochter verschwand, nicht korrekt abgesperrt, Spuren nicht gesichert und die dungen zur organisierten Kinderporno- Wir gehen seit den sechziger Jahren davon Suche nach Ulrike nur halbherzig betrie- Mafia fand die Polizei bis zum Wochen- aus, daß es sich um eine pathologische Tä- ben. In seiner Antwort versicherte Glogow- ende nicht. tergruppe handelt. Jetzt ist auch eine risi- ski zwar seine Anteilnahme, doch die Po- Statt dessen stieß sie auf Diesterwegs kofreudige und egoistische Tätergruppe lizei, so der Minister, habe „alles nur Denk- Vergangenheit: Als 16jähriger hat er schon dabei, die es interessant findet, den ge- bare und Mögliche getan. Mehr ist durch einmal ein Mädchen erdrosselt, die zwölf- sellschaftlichen Konsens zu verletzen. die Polizei nicht leistbar“. jährige Sylke M. aus seinem Heimatort. Das jedoch bezweifeln Experten. Nach- Zwei Drittel der sechsjährigen Jugend- In Bonn forderte der Vorsitzende des dem Glogowski die Landespolizei 1994 strafe wegen Totschlags saß der Täter ab. Bundestagsrechtsausschusses, Horst Eyl- durch die Vereinigung von Kriminal- und Dann wurde der ehemalige Gymnasiast, mann, am vergangenen Freitag zwar, die Schutzpolizei umgebaut hatte, bat das Ju- der während der Haft eine Kaufmanns- Zahl der Therapieplätze zu erhöhen, zu- stizministerium die Staatsanwaltschaften lehre absolviert hatte, entlassen. Er zog in gleich aber kündigte Justizminister Edzard im vergangenen Jahr um ihr Urteil über die die Limburger Gegend. Seine Kriminalak- Schmidt-Jortzig an, die Regierung werde neue Struktur. Das fiel, so ein Regierungs- te wurde gemäß den gesetzlichen Daten- im Parlament darauf dringen, die Höchst- vermerk, verheerend aus: schutzrichtlinien geschlossen, die Tat aus strafe für den sexuellen Kindesmißbrauch Bei „hohen Belastungen im Bereich der dem polizeilichen Computer gelöscht. von 10 auf 15 Jahre heraufzusetzen. Sexualkriminalität“ fehle es den Beamten Der Fall Kim Kerkow bringt die jahre- Die Therapieforderung kostet den Bund „häufig an Grundkenntnissen“ bei der Be- lang eingeübte Doktrin, daß „Therapie nichts, denn für deren Finanzierung sind kämpfung der Verbrechen. In der Qualität statt Strafe“ die Gesellschaft wirksamer die Länder zuständig. Die aber haben ihrer Arbeit habe es teils „gravierende Ver- vor Sexualtätern schützen könne, als schon jetzt kein Geld dafür: Auf 2600 zur schlechterungen gegeben, es fehle vielen an wenn der Staat die Delinquenten einfach Haft verurteilte Sexualstraftäter entfallen dem notwendigen Sachverstand“. Wo der wegschließt, erneut ins Wanken. Die Di- in der Republik nur 900 Therapieplätze. Job über Diebstahl oder Verkehrsstraftaten rektorin des kriminologischen Instituts Kaum zu sagen ist von den Therapeuten, hinausgehe, sei „die fachliche Kompetenz der Universität Kiel, Monika Frommel, wann eine Therapie als erfolgreich abge- für Ermittlungsverfahren mehr als dürftig“. glaubt, daß eine neue Tätergruppe von schlossen gelten kann. „Gnade Gott der Polizei“, so Everts Sexualverbrechern aktiv ist. Frommel in Die Ermittler interessieren sich derzeit nach der Verhaftung von Diesterweg ver- der tageszeitung: für eine ganz andere Frage: Gibt es zwi- bittert, „wenn derselbe Mann auch meine schen dem Mord an Kim und den mehr Tochter auf dem Gewissen hat. Hätte die * Mit dem Stiefvater (r.) und dem Bruder des Opfers bei als 700 gegenwärtig vermißten Kindern ir- Polizei im Juni besser reagiert, dann könn- der Beerdigung am vergangenen Freitag. gendwelche Verbindungen? te Kim noch leben.“ ™ Werbeseite

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hat. Darin verwickelt sind auch die VW- MANAGER Tochter koda sowie der Anlagenbau- und Elektrokonzern ABB. Der Skandal kam Babcock-Chef geschaßt vor kurzem ans Licht.ABB hatte für koda eine Lackiererei gebaut und von Volkswa- er Aufsichtsrat der Deutschen Babcock gen dafür eine Nachzahlung von knapp Dwill sich auf seiner Sitzung am Mon- 100 Millionen Mark gefordert. Begründet tag dieser Woche von seinem Vorstands- wurde dies mit außergewöhnlichen tech- vorsitzenden Heyo Schmiedeknecht tren- nischen Schwierigkeiten. Zudem soll ABB nen. Der Chefmanager des Oberhausener von VW-Einkäufern zu einer Schmier- Maschinen- und Anlagenbauers (Kraft- geldzahlung in Höhe von zehn Millionen werke, Kesselbau und Energietechnik) war Mark genötigt worden sein. Getarnt wur- 1990 aus dem Spitzenmanagement der de das Bestechungsgeld als Entgelt für an- Neusser Industriellengruppe Wehrhahn zu gebliche Engineering-Beratung. Der Lie- Babcock gewechselt und ferant aus Mannheim soll VW einen Deal galt dort schon bald als angeboten haben: Wenn Volkswagen die Fehlbesetzung. Schmie- gesamte Summe zahle, werde ABB auf deknecht kaufte reihen-

J. GIRIBÁS / GEGENDRUCK GIRIBÁS J. eine Klage wegen der Schmiergeldzahlung weise Firmen, doch viele von Koerber verzichten. Techniker von koda sollen in brachten Verluste ein. die Affäre ebenso involviert sein wie ABB- Nachdem etliche seiner AFFÄREN Manager. Zwei beteiligte ABB-Mitarbeiter Sanierungsversuche ge- mußten das Unternehmen bereits verlas- scheitert waren, erstellte Bestechungsfall bei VW sen. VW-Chef Ferdinand Piëch hat sofort der Vorstand Mitte 1996 die Revision eingeschaltet und ABB auf- ein Umstrukturierungs- em Volkswagen-Konzern droht ein gefordert, die Staatsanwaltschaft zu infor- konzept, für das die

Dneuer Skandal um seinen früheren mieren. Die VW-Spitze ist jedoch verär- Hausbanken bis Ende R. BRAUN Einkaufschef Ignacio López. Die Wolfs- gert über die Art und Weise, in der ABB 1997 Kreditlinien in Höhe Schmiedeknecht burger Einkaufsabteilung ist in eine über die Nachforderung verhandelte. Da von rund 600 Millionen Schmiergeldaffäre verstrickt, an der auch könne man, heißt es, schon von Erpres- Mark eingeräumt haben. Aber bereits im ein López-Mitarbeiter beteiligt sein soll. sung sprechen. ABB weist diesen Vorwurf Oktober hatte der Chefmanager dem Auf- Jetzt will die Konzernrevision von VW vor- strikt zurück. Europa-Chef Eberhard von sichtsrat eine neue Finanzierungslücke von sorglich prüfen, ob López davon gewußt Koerber: „Unsinn“. 100 Millionen Mark beichten müssen.

POST als sogenannten Nachteilsausgleich un- KREDITKARTEN entgeltlich, also geschenkt, zu bekommen. Bötsch verschachert Einen solchen Vorbehalt, wettert Post- Seltener Griff bankchef Günter Schneider in einem Brief Postbank-Anteile an Bötsch, habe es in den Verhandlungen as Plastikgeld wird allmählich als Zah- nie gegeben. Auch die FDP sperrt sich ve- Dlungsmittel akzeptiert. Fast 14 Millio- er Streit zwischen den verfeindeten hement gegen die großzügige Gabe aus nen Kreditkarten sind schon in Deutsch- DSchwestern Postbank und Post droht Bundesbesitz. Doch Zumwinkel glaubt land in Gebrauch. Damit liegen die Deut- noch zu eskalieren. Grund für die neue sich im Recht. Wird die Zusage nicht ein- schen allerdings noch weit hinter England, Verwerfung: eine Nebenabsprache zu ei- gehalten, will er einen Kooperationsver- wo weit über 30 Millionen im Umlauf sind. nem monatelang ausgehandelten Vertrag, trag nicht unterschreiben. Gleichwohl sehen die Marktforscher der den Postminister Wolfgang Unternehmensberatung Datamonitor auch Bötsch mit den beiden für die Zukunft große Wachstumschancen Staatsfirmen im November für Kreditkartenfirmen wie Eurocard,Visa geschlossen hatte. Das Pa- oder American Express. Denn noch be- pier sieht vor, daß die Post- nutzen die Karteninhaber das Plastikgeld bank weiterhin die Schalter nur zögernd.Während etwa die Finnen im der Post für ihre Geldge- Schnitt 41mal im Jahr damit bezahlen, neh- schäfte nutzen kann und men die Deutschen an der Kasse nur 22mal dafür rund 1,1 Milliarden im Jahr die Karte. Niederländer sind noch Mark an Postchef Klaus zurückhaltender und benutzen ihre Karte Zumwinkel zahlt. Zwar hat- bloß einmal im Monat. Zu einer immer te Zumwinkel 1,4 Milliarden stärkeren Konkurrenz entwickeln sich die Mark gefordert, aber im Ge- Kundenkarten, die von großen Handels- genzug erhielt der Postchef häusern wie Metro oder Karstadt ausge- die Zusage, einen 25prozen- geben werden, insgesamt sind davon etwa tigen Anteil (im geschätzten 2,5 Millionen in Deutschland im Umlauf. Verkehrswert von 1,2 Milli- Damit kann der Besitzer zwar nur bei ei- arden Mark) der Postbank ner Firma bezahlen, doch sie sind im Ge- aus Bundesbesitz kaufen zu gensatz zu den Universalkarten meist ko- können. Doch nun gefährdet stenlos. In Frankreich etwa hat das Finanz- eine bislang unerwähnte Ne- institut Cetelem, das sich auf die Heraus- benabsprache den Kompro- gabe von Kundenkarten spezialisiert hat, miß: Demnach versicherte bereits fünf Millionen Kundenkarten aus-

Bötsch dem Postchef, den MELDE PRESS gegeben – mehr als alle etablierten Kar- Anteil an der blauen Bank Postschalter mit Postbankservice tenfirmen zusammen.

der spiegel 4/1997 83 Wirtschaft

KONZERNE „Es war schon ein trüber Tag“ Der monatelange Machtkampf ist beendet, Mercedes-Chef Helmut Werner verläßt den Daimler-Konzern. Im Interview berichtet der erfolgreiche Manager über sein Verhältnis zu Daimler-Chef Jürgen Schrempp und die Hintergründe des Streits.

SPIEGEL: Herr Werner, was empfinden Sie nach dem Rücktritt: Frustration oder Erleichterung? WERNER: Der Tag, an dem ich verkünde, daß ich aus dem besten Unternehmen der Welt ausscheide, ist kein Tag der Freude. Es war schon ein trüber Tag. Aber damit muß man rechnen und fertig werden, wenn man einen solchen Job hat. Das gehört dazu. SPIEGEL: Was haben Sie am Donnerstag nach dem Rücktritt gemacht? WERNER: Der Tag war voll mit Terminen, und ich war schon froh, daß ich am Abend mit meiner Frau in aller Ruhe die Ereig- nisse Revue passieren lassen konnte. SPIEGEL: Sie wurden gerade von business week als einziger Deutscher unter die 25 besten Manager der Welt gewählt. Warum treten Sie zurück? WERNER: Die Ehrung von business week gilt ja auch dem Unternehmen Mercedes- Benz und nicht nur dem Mann an der Spit- ze. Ich trete zurück, weil in der neuen Kon- zernstruktur, die ich miterarbeitet habe, kein entsprechender Platz mehr ist, auf dem ich Entscheidendes für die Zukunft beitragen könnte. SPIEGEL: Das Aufsichtsratspräsidium und Konzernchef Schrempp haben Ihnen viele Jobs angeboten: Sie hätten das Pkw- oder das Lkw-Geschäft leiten können und zu- gleich den gesamten Automobilbereich koordinieren – war das zu wenig für den bisherigen Chef von Mercedes-Benz? WERNER: Es gab für mich persönlich zwei Voraussetzungen, um eine neue Position anzunehmen: Erstens muß ich dort einen Mehrwert für das Unternehmen schaffen können, und zweitens darf nicht eine per- manente Reibungsfläche mit dem Vor- standsvorsitzenden Schrempp program- miert sein. Die von Ihnen genannten Posi- tionen werden die dafür vorgesehenen Ma- nager Jürgen Hubbert und Kurt Lauk gut ausfüllen. Und die Koordinierung des ge- samten Fahrzeuggeschäfts muß in der Hand des Vorstandsvorsitzenden liegen. Ein Koordinator dazwischen wäre dem Unternehmen nicht gut bekommen. SPIEGEL: Spielt bei Ihrem Abschied ge- kränkte Eitelkeit keine Rolle? WERNER: Wenn Sie Jahrzehnte in Top-Ma- nagement-Positionen arbeiten und sich sie- ben Tage in der Woche um ein Unterneh- men kümmern, ist für Eitelkeiten kein W. V. BRAUCHITSCH V. W. Das Interview führte Redakteur Dietmar Hawranek. Mercedes-Chef Werner: „Ein sauberer Schnitt ist die einzig mögliche Konsequenz“

84 der spiegel 4/1997 ALTE KONZERNSTRUKTUR

DAIMLER-BENZ AG Vorstandsvorsitzender: Jürgen Schrempp Vorstandsmitglieder: H. Werner (Mercedes-Benz ), M. Bischoff (Dasa), K. Mangold (Debis), E. Cordes (Beteiligungen), M. Gentz (Finanzen+Personal), H. Weule (Forschung)

Mercedes-Benz Dasa Debis Vorstandsvorsitzender: Vorstandsvorsitzender: Vorstandsvorsitzender: Helmut Werner, Manfred Bischoff, Klaus Mangold, 9 weitere Mitglieder 4 weitere Mitglieder 4 weitere Mitglieder

KÜNFTIGE KONZERNSTRUKTUR

DAIMLER-BENZ AG Vorstandsvorsitzender: Jürgen Schrempp Vorstandsmitglieder: D. Zetsche (Mercedes-Benz Vertrieb), J. Hubbert (Mercedes-Benz Pkw), K. Lauk (Mercedes-Benz Nutzfahrzeuge), E. Cordes (Beteiligungen), M. Gentz (Finanzen), H. Tropitzsch (Personal), K. - D. Vöhringer (Forschung), M. Bischoff (Dasa), K. Mangold (Debis)

23 Geschäftsfelder direkt geführt

Pkw Nutzfahrzeuge Dasa Debis Beteiligungen 2 Geschäftsfelder 7 Geschäftsfelder 6 Geschäftsfelder 5 Geschäftsfelder 3 Geschäftsfelder A bis S-Klasse; Lkw Westeuropa; Verkehrsflugzeuge; IT-Services; Adtranz; Mikro- Smart Nutzfahrzeuge Latein- Militärflugzeuge; Finanzdienst- elektronik; MTU amerika; Nutzfahrzeu- Raumfahrt-Infra- leistungen; Friedrichshafen ge Nafta; Transporter struktur; Raumfahrt- Telekomdienste; Europa; Omnibusse Satelliten; Verteidi- Handel;

Europa; Unimog; An- gungstechnik; Immobilien- DARCHINGER F. triebsstrang Europa Triebwerke management Rivale Schrempp Gemeinsam eine Flasche Rotwein trinken?

Platz mehr. Wenn es um Eitelkeit ginge, SPIEGEL: Konzernchef Schrempp hat den habe ich scherzhaft gesagt, vielleicht bei hätte ich eine der Positionen übernehmen Machtkampf gewonnen. Können Sie mit der kleinen Eisenbahn, bei Märklin. Ich und stolz als Daimler-Vorstand herumlau- ihm noch gemeinsam ein Bier trinken? finde, ganz im Ernst, das ist eine hervorra- fen können. Aber das wäre eine Versor- WERNER: Man muß trennen können zwi- gend geführte Firma. Zu Weihnachten gungslösung gewesen. Dafür bin ich nicht schen der harten Auseinandersetzung in bekam ich dann von den Märklin-Ei- zu haben. Mercedes-Benz hat eine Ge- der Sache und dem Persönlichen. Herr gentümern und der Geschäftsführung eine schichte von 110 Jahren. Und da sind die Schrempp hat zu meinem 60. Geburtstag Lokomotive geschenkt. Mit der habe ich Manager auch Zeiterscheinungen. gesagt, er wolle auch in zehn Jahren noch viel Spaß. SPIEGEL: Warum haben Sie auch den Ihnen mit mir eine Flasche Rotwein trinken. Ich SPIEGEL: Wie sieht Ihre Bilanz nach zehn angebotenen Sitz im Aufsichtsrat abgelehnt weiß, das wird uns gelingen. Jahren Mercedes-Benz aus? – aus Verärgerung? SPIEGEL: Wie hat sich das Verhältnis WERNER: Das Unternehmen war Ende der WERNER: Ganz im Gegenteil. Ich habe jetzt Schrempp/Werner entwickelt, seit Sie bei achtziger, Anfang der neunziger Jahre in zehn Jahre lang Daimler-Benz gelebt und Daimler sind? einer sehr schwierigen Lage. Im Jahr 1993 bin so nahe am Geschehen, daß ich dem WERNER: Wir haben nicht nur zusammen wurde das durch einen ausgewiesenen Ver- Unternehmen keinen Gefallen täte, wenn gearbeitet. Wir sind zusammen Ski gelau- lust von 1,2 Milliarden Mark sichtbar. Im ich in den Aufsichtsrat ginge. Ein sauberer fen, haben Tennis gespielt, sind auf dem Jahr 1995 war Mercedes-Benz der profita- Schnitt ist die einzig mögliche Konse- Hockenheimring mit Pkw oder Lastwagen belste Automobilhersteller Europas. Und quenz. kleine Rennen gefahren. Das hat viel Spaß im vergangenen Jahr haben wir den Ge- SPIEGEL: Sie haben sich lange gegen die von gemacht. Mit dem Ergebnis war ich immer winn nochmals gesteigert. Schrempp geplante neue Konzernstruktur recht zufrieden ... SPIEGEL: Aber die C-Klasse leidet derzeit gewehrt, die eine Verschmelzung der Au- SPIEGEL: ... da haben Sie häufiger gewon- unter Absatzschwund (siehe Seite 183). tomobilfirma Mercedes mit dem Daimler- nen ... Und unter Ihrer Führung wurden Benz-Konzern vorsieht. „Ich kämpfe für WERNER: ... das waren sehr schöne Zeiten. 30 000 Arbeitsplätze bei Mercedes-Benz die Einheit der Mercedes-Benz AG – ein Aber es gab manchmal auch schwierige abgebaut. Unternehmen, eine Marke, ein Produkt“, Zeiten. WERNER: Wir haben dies ohne Entlassungen haben Sie Ihren Führungskräften gesagt. SPIEGEL: Die Auseinandersetzung in der geschafft, und es war die nötige Voraus- Warum sind Sie jetzt mit der Verschmel- letzten Zeit empfanden Sie teilweise setzung dafür, daß die vorhandenen Ar- zung einverstanden? auch als Rufmordkampagne. Sie wurden beitsplätze jetzt sicherer sind. Die enor- WERNER: Der neue Daimler-Vorstand über- für immer neue Jobs ins Gespräch men Rationalisierungsfortschritte ermögli- nimmt die Rolle, die bisher der Mercedes- gebracht, zum Beispiel als Bahn- oder VW- chen uns, neue Modelle zu sehr attraktiven Vorstand hatte: Er wird verantwortlich das Chef. Preisen anzubieten. Wir haben im vergan- Automobilgeschäft führen, und das mit WERNER: Das war sicher sehr ärgerlich und genen Jahr erstmals über 640 000 Pkw ver- vollem Einsatz. Die von mir geforderte Ein- unnötig. Aber es hatte mitunter auch lu- kauft. Mercedes dringt zudem mit der heit ist gewährleistet. Dasa und Debis spie- stige Seiten. Als das absolut falsche A-Klasse, dem Geländewagen und dem len die Rolle von Tochtergesellschaften. Gerücht aufkam, ich würde Chef der Bahn, Smart in neue Märkte vor. Und wir treiben

der spiegel 4/1997 85 Wirtschaft mit dem Aufbau der Fabriken in den USA, te. Fatalerweise schickte der Konzern Mi- Frankreich und Brasilien die nötige Inter- AFFÄREN chael Rottmann, damals Leiter Projektie- nationalisierung entscheidend voran. Auf rung einer Tochtergesellschaft, nach Berlin, diese Bilanz, die von der gesamten Mer- um die Firma zu durchleuchten. cedes-Mannschaft hart erarbeitet wurde, Unser Der Diplomingenieur erkannte seine können wir alle stolz sein. Chance: Statt für seinen Arbeitgeber ar- SPIEGEL: Gescheitert sind Sie bei der beitete er auf eigene Rechnung.Weil Rott- Sanierung des Lkw-Geschäfts in Europa. größter Fall mann jedoch „alleine keine Chance hatte“ Die Verluste erreichen im Jahr 1996 fast (Schaefgen), an die WBB ranzukommen, eine Milliarde Mark. Die Ost-Berliner Wärmeanlagenbau brachte er die Chematec AG ins Spiel. WERNER: Die Zahl stimmt so nicht. Richtig GmbH wurde von ihren West- In einer Selbstdarstellung hatte sich die ist, daß wir Probleme mit dem Lkw- Chematec der Treuhand als Gruppe von Geschäft in Europa haben. Die Nachfrage käufern systematisch ausgeplündert, sechs Gesellschaften mit 380 Mitarbeitern ist erheblich gesunken.Alle Wettbewerber vermutet die Staatsanwaltschaft. angepriesen. Eine Anfrage bei Creditre- mußten erhebliche Rabatte gewähren. Dies Fünf Manager sind in Haft. form hätte ergeben, daß die Chematec- hat das Ergebnis natürlich belastet. Aber Broschüre, so Schaefgen, „nichts mit der wir haben auf der anderen Seite eine ie Polizisten, die am 6. Juli 1995 Realität zu tun hatte“. In Wahrheit hatte enorme Verbesserung bei Transportern Ernst Dieter Schäfer einen Besuch die Firma rund 30 Mitarbeiter und war erreicht und das Omnibus-Geschäft, das Dabstatteten, interessierten nur des- „schon 1990 in Zahlungsschwierigkeiten“. jahrzehntelang eine schlimme Belastung sen Akten. Kistenweise schleppten sie Un- Am 27. Februar 1991 kaufte die Chema- für das Unternehmen war, ist auf dem terlagen aus den Büros des Münchner tec das Ostunternehmen für lächerliche richtigen Weg. Rechtsanwalts, der nach der Wende auch zwei Millionen Mark. Kurz zuvor hatte SPIEGEL: Sie waren zuletzt sehr einsam. Im Geschäftsführer der Ost-Berliner Wärme- Rottmann namens der Babcock abgewun- Daimler-Benz-Vorstand stimmten 7 zu 1 anlagenbau GmbH (WBB) war. ken, um drei Wochen später in die Ge- für die Strukturpläne Schrempps. Haben Am Mittwoch vorvergangener Woche schäftsführung der WBB zu wechseln.Von Sie es versäumt, Ihre Position durch ge- standen die Beamten um sieben Uhr in diesem Zeitpunkt an, sagt Schaefgen, „be- schickte Personalpolitik abzusichern? Mülheim/Ruhr erneut vor Schäfers Tür. gann zielstrebig die Ausplünderung“. WERNER: Bei der Auswahl von Führungs- Doch diesmal hatten sie einen Haftbe- Trickreich bauten Rottmann und seine kräften sollte die Leistung zählen und nicht fehl. Zeitgleich durchsuchten 111 Beam- Mannen ein kaum durchschaubares Im- ein Machtkalkül. So habe ich das stets ge- te im Auftrag der Berliner Staatsanwalt- perium von 17 Firmen auf, an deren Spit- halten. Im Daimler-Vorstand vertrete ich schaft Geschäftsräume an 29 Orten in ze die Briefkastenfirma Physical Chemical die Mercedes-Geschäfte. Die Kollegen Deutschland und in fünf Kantonen der Engineering (PCE) stand, gegründet im vertreten die Geschäfte von Dasa, Debis Schweiz. September 1991 im Liechtensteiner Vaduz. und so weiter. Bei dieser Konstellation ist Ergebnis der Razzia: Rottmann konnte klar, daß ich nicht die Mehrheit gewinnen Unmengen von Papie- bei seiner Konstruktion konnte. ren und fünf Verhaf- auf profunde Hilfe set- SPIEGEL: Die neue Konzernstruktur stand in tungen. Nur ein Greif- zen. Im Oktober 1991 den Grundzügen schon vor Weihnachten trupp für Michael Rott- übernahm vorüber- fest. Warum haben Sie sich erst jetzt zum mann rückte erst gar gehend eine IPR Ma- Rückzug entschieden? nicht aus. Der ehema- nagement Services WERNER: Es gab bis in die letzten Tage lige WBB-Chef und Akiengesellschaft die noch Detailverbesserungen, an denen ich Hauptverdächtige ist Geschäftsführung der mitgewirkt habe. Deshalb war jetzt der seit Frühsommer ver- PCE. Inhaber und Ge- richtige Zeitpunkt. Aber zugegeben: gangenen Jahres unter- schäftsführer: Ronald Wenn man den schönsten Job der Welt hat, getaucht. Nun ist er zur Kranz. Der Berater, fällt einem ein solcher Schritt natürlich internationalen Fahn- ebenfalls Beschuldigter, auch schwer. dung ausgeschrieben. hatte bereits in den SPIEGEL: Aber ein armer Mann werden Sie Die WBB-Affäre ist achtziger Jahren dem nicht. bild meldet: „Mercedes-Chef geht der bislang schwerste co-op-Chef Bernd Otto mit 8 Millionen“. Schadensfall der Treu- Ex-WBB-Chef Rottmann (spiegel 8/1992) beim WERNER (lacht): Ja, pro Monat. Im Ernst: hand-Geschichte (spie- Verschachteln des ge- Das ist absoluter Bullshit. gel 28/1995). „Es ist vielleicht“, glaubt der werkschaftseigenen Konzerns geholfen. SPIEGEL: Jetzt reden Sie schon wie Berliner Generalstaatsanwalt Christoph Die Rottmann-Truppe, glauben die Staats- Schrempp, der die Daimler-Zentrale als Schaefgen, „unser größter Fall von Verei- anwälte, saugte die WBB bis auf den letz- „bullshit-castle“ bezeichnet hat. nigungskriminalität.“ ten Groschen aus. So kaufte die WBB Mit- WERNER: Ich habe fast 20 Jahre geschäftlich Westmanager und alte DDR-Kader sol- te 1993 eine 50-Millionen-Mark-Beteili- Englisch gesprochen, und in dieser len nach den Erkenntnissen der Staatsan- gung an der Wolfgang Raaz KG. Die WBB Sprache kommt das Wort hin und wieder waltschaft die Ostfirma systematisch aus- sollte Kraftwerke bauen und die Raaz KG vor. Auf diesen Ausdruck kann, glaube genommen haben. 24 Beschuldigte in der finanzieren, geschehen ist nichts. ich, keiner besondere Eigentumsrechte Schweiz und in Deutschland haben die Gezahlt wurde jedoch. Mitte Juni 1993 geltend machen. Berliner im Visier, darunter auch drei Treu- floß das letzte verbliebene Geld der WBB, SPIEGEL: Haben Sie schon Zukunftspläne, hand-Mitarbeiter. Bisher gehen die Er- rund 20 Millionen Mark, auf Konten des können Sie sich einen Job in der Industrie mittler von einem Schaden von rund 160 Bankhauses Wölbern und der Dresdner vorstellen oder den neuen Posten eines Millionen Mark aus – Tendenz steigend. Bank. Empfänger: die Raaz KG. Im No- Sonderministers Helmut Kohls für die Die WBB hat jahrzehntelang Heizkraft- vember 1994 ging die WBB in Konkurs, Expo? werke und Fernwärmeleitungen in der DDR fast 1300 Arbeitsplätze wurden vernichtet. WERNER: Ich habe mich damit überhaupt gebaut. Die Firma hatte Grundstücke und Für Staatsanwalt Schaefgen ist klar, daß noch nicht beschäftigt. Es ist noch viel zu Bürohäuser in Berlin, Leipzig und . „in dem Fall noch viel Arbeit steckt“. Rund früh. Aber eines ist gewiß: Einen Rentner Zum Jahresende 1990 lagen 153 Millionen eine Tonne Unterlagen, die bei Schweizer Helmut Werner, der nur noch Tennis spielt Mark auf den Konten. Kein Wunder, daß die Behörden lagern, haben die Ermittler noch und Ski fährt, wird es noch nicht geben.™ Oberhausener Babcock AG Interesse zeig- gar nicht zu Gesicht bekommen. ™

86 der spiegel 4/1997 MANAGER Wechsel im Vatikan Der Boß von Boss geht, er hatte Probleme mit dem italienischen Eigentümer des Bekleidungskonzerns.

ergangene Woche hatte Peter Litt- mann viele lästige Helfer abzu- Vwimmeln. Dauernd riefen Perso- nalberater an, um dem Vorstandsvorsit-

zenden der Boss AG Unterstützung bei der PRESS ACTION Suche nach einem neuen Job anzudienen. Boss-Präsentation: „Sonst wäre die Marke verbrannt“ Doch Littmann, 49, hat schon im ver- gangenen Jahr einige Angebote erhalten – Mangelnden Erfolg können die Boss-Ak- „interessante Dinge“, wie er sagt. Ent- tionäre ihrem obersten Angestellten nicht schieden hat sich der Boss-Chef noch nicht. vorwerfen. Seit Littmann im März 1993 Bei ihm muß ein neuer Arbeitgeber den Vorstandsvorsitz übernahm, stiegen schon an sein „Gefühl für schöne Dinge“ Gewinn und Aktienkurs. Den Umsatz – appellieren, mit „Elektronik oder so et- angestrebt ist eine Verdoppelung in weni- was“ mag er nichts zu tun haben, nur „mit gen Jahren – hat Littmann nur um gut 15 Produkten, mit denen ich mich identifi- Prozent hochgetrieben. Der Gewinn aber zieren kann“. nahm um 50 Prozent zu, die Dividende Die Nachricht, daß Littmann spätestens wurde verdoppelt, und der Aktienkurs hat zum Jahresende Deutschlands bekannte- sich mehr als verdreifacht. sten Bekleidungskonzern verläßt, kam Stolz verweist der Boss-Chef auf eine überraschend. Aus seinem Urlaubsort Umsatzrendite von 6,5 Prozent netto. Die Sankt Moritz schickte Littmann zu Neu- Firma sei „das Juwel“ in seiner Unterneh-

jahr seine Kündigung ab, und der Auf- mensgruppe, freute sich Graf Pietro Mar- K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL sichtsrat nahm ohne sichtliches Bedauern zotto, der knapp 78 Prozent der stimmbe- Boss-Manager Littmann zur Kenntnis, daß sein Spitzenmann seinen rechtigten Aktien hält. „Ich kann mich nicht verstellen“ Vertrag – er läuft bis zum 31. Dezember Der Italiener könnte mit seiner deut- 1997 – nicht verlängern will. schen Firma zufrieden sein. Er kennt aber verbrannt“. Auch in diesem Jahr soll der Mit kärglichem Dank für die geleistete zwei Modeunternehmen, die in den letzten Absatz der Hugo-Kollektion nur um 30 Arbeit würdigte das Kontrollgremium Litt- Jahren erfolgreicher waren als Boss: Prozent ausgeweitet werden. manns Tätigkeit. Mobilität sei gut, kom- Gucci und Prada „gingen wie eine Rakete Der Grund für Littmanns Abschied liegt mentierte der Aufsichtsratsvorsitzende ab“ (Littmann). eher im atmosphärischen Bereich: Pietro Johannes Semler kühl, ein Wechsel müsse Marzottos Mann in Metzingen bei Stutt- Marzotto, so dessen Sprecher Aurelio „auch mal an der Spitze passieren“. gart hingegen setzte auf eine eher behut- Arrigo, wollte eine „menschliche Erneue- same Entwicklung der rung“ in Metzingen. Im vergangenen Jahr Marke. Unter seinen Vor- hatte sich die Beziehung zwischen dem gängern – die Firma wur- Boss-Chef und dem Grafen aus dem nord- de von den damaligen In- italienischen Valdagno eingetrübt. habern Jochen und Uwe Einer wie Littmann macht, was er für Holy geleitet – hatte für richtig hält: „Ich kann mich nicht ändern, das Unternehmen die Ge- und ich kann mich nicht verstellen.“ Ein fahr bestanden, daß seine italienischer Adliger hat andere Vorstel- Kleidungsstücke zu Mas- lungen vom Personal. senprodukten mit dem So hat sich Marzotto wohl schon im ver- Image von Sachbear- gangenen Jahr einen Littmann-Nachfolger beiter-Klamotten abge- ausgeguckt: Joachim Vogt, seit über sechs rutscht wären. Er splittete Jahren im Boss-Vorstand und verantwort- das Produkt auf drei Mar- lich für Produktion und Logistik. ken auf: Hugo für den Ob Vogt noch in diesem Jahr in Yuppie, Boss für den ge- das Chefzimmer im Vatikan – so nennen hobenen Angestellten, die Boss-Angestellten das Vorstandsge- Baldessarini für den Chef. bäude – überwechselt, ist offen. Littmann Hugo lief so gut, daß Litt- will, wenn man ihn läßt, dort bis Sylvester mann den Händlern die bleiben. Ware zuteilen mußte. Die So habe er das auch bei seiner früheren Produktion wollte er Firma, dem Teppichhersteller Vorwerk, ge- nicht schnell hochjagen, macht: Dort hat er gearbeitet „bis zum „sonst wäre die Marke letzten Tag um halb acht“. ™

der spiegel 4/1997 87 Medien Wirtschaft

WERBUNG lywood sei „ungeheuer auf- regend“, aber auch „eine Irrfahrt von Daewoo andere Welt“. Douglas und Reuther gaben bereits be- egen möglicher Irreführung hat das kannt, sie hofften auf „ein WLandgericht Wiesbaden vergangenen neues finanzielles Arrange- Freitag eine Werbekampagne von Daewoo ment“. Einst wollte das Trio gestoppt. Der südkoreanische Autoher- zwölf Filme gemeinsam her- steller hatte jedem neuen Käufer verspro- stellen, doch der Start mit chen, die Kosten für drei Jahre Wartung, „Sabrina“ (Hauptdarsteller: zwei Jahre Steuer und ein Jahr Versiche- Harrison Ford) sowie „Eine rung zu übernehmen, zusätzlich zur vier- Familie zum Kotzen“ ver- jährigen Fahrzeuggarantie. Das Angebot lief wenig verheißungsvoll. hielt nur eine Woche, dann erwirkte der Nun hoffen sie auf „Der

Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeug- CINETEXT Geist und die Dunkelheit“, gewerbe (ZDK) eine einstweilige Ver- Scriba-Produktion „Falling Down“ (mit Michael Douglas) bei dem Douglas selbst eine fügung. Die Aufklärungspflicht sei ver- Hauptrolle spielt, sowie die letzt worden, so ZDK-Geschäftsführer FILM derzeit produzierte Verfilmung des Bestsel- Ulrich Dilchert. Daewoo-Sprecherin Astrid lers „Rainmaker“. Auch Scribas früherer Rausch hingegen hatte mit dem Verbot Rückzug der Deutschen Partner, der Musicalkönig Rolf Deyhle, hat gerechnet: „Wir wußten, daß wir uns hart in Hollywood eine harte Zeit hinter sich. am Rande der Legalität bewegen, aber in ollywood ist ein schlechter Ort für Filme wie „Carlito’s Way“ seiner Capella England und der Schweiz sind solche Hdeutsche Filmproduzenten. So schied Films wurden zu Enttäuschungen, und nun Angebote üblich.“ Der Rückzug war also nun der Hamburger Filmkaufmann Bodo verabschiedete sich auch noch sein Partner, kalkuliert, und so verkündeten TV-Spots Scriba als Finanzier von Produktionen des die Luxemburger CLT, mit der er die ge- bereits am Donnerstag, nach einer ersten Filmstars Michael Douglas und dessen Part- meinsame Verleihfirma Connexion hielt. ner Steven Reuther aus. Er wolle sich von 35 Capella sei zu einer „internationalen Film- Prozent der gemeinsamen Firma Constel- verkaufsfirma reduziert“, urteilt das US- lation Films trennen, bestätigt Scriba, Hol- Fachblatt variety.

RUNDFUNK Marktführer RTL oder beim Berliner Rundfunk Anteile abgeben müssen. Insge- Ärger für CLT-Ufa samt gibt es im Radiomanagement erheb- liche Abstimmungsprobleme bei der CLT- er neue Luxemburger Medienkonzern Ufa. Die Bertelsmänner versuchen, ihren DCLT-Ufa hat im Radiogeschäft An- Einfluß gegenüber den CLT-Leuten zu wah- laufprobleme. Der Berliner Medienwächter ren, die bisher im deutschen Radiomarkt

T. RAUPACH / ARGUS RAUPACH T. Hans Hege will nicht hinnehmen, daß die wenig zustande brachten, sich in den Ver- Daewoo-Modell durch die Fusion von CLT und der Ber- handlungen mit Ufa aber die Kontrolle telsmann-Tochter Ufa entstandene Firma in über die Radiobeteiligungen sicherten.An- Abmahnung durch den ZDK, daß Daewoo der Hauptstadt bei drei Hörfunksendern – stelle eines deutschen Radiochefs, für den nun leider das Angebot nicht mehr nennen 104.6 RTL Berlin, Berliner Rundfunk und der RTL-Manager und CLT-Vertraute Bernt dürfe. Das Angebot rechnet sich für Dae- Newstalk – maßgeblich mitmischt. Das sei von zur Mühlen im Gespräch war, soll nun woo kaum, es ging dem Hersteller, der erst „problematisch, uns liegt an selbständigen ein mehrköpfiges Komitee über langjähri- seit zwei Jahren auf dem deutschen Markt Kräften“, sagt Hege. In den USA sei es ge Bertelsmann-Beteiligungen wie bei ist, um Neukunden. Und die kamen. „alltäglich“, daß nach solchen Fusionen Antenne Bayern oder Radio Hamburg Rausch: „Die Händler melden rasenden „Radiobeteiligungen verkauft werden“. Er wachen. So hoffen die Bertelsmänner, sich Zulauf.“ teilte den Gesellschaftern mit, daß sie beim einbringen zu können.

FERNSEHEN Spione als Serienstars er Münchner TV-Produzent Holm DDressler will das Image des Bundes- nachrichtendienstes aufpolieren. Für eine TV-Serie (Arbeitstitel: „Im Geheimauftrag des BND“) durfte der Ex-Produzent von „Wetten, daß …?“ mit seinem Autoren- team bis Ende Dezember bei den Pulla-

cher Geheimniskrämern recherchieren – M. WEBER W. mit Genehmigung des BND-Präsidenten BND-Zentrale in Pullach Hansjörg Geiger und des Bundeskanzler- amts. „Der Nachrichtendienst soll nicht fengeschäften über Industriespionage bis duktionsfirma HDTV seit Anfang des Jah- glorifiziert werden“, sagt Dressler, der in zur Suche nach einem Maulwurf in den ei- res mehrheitlich dem Medienkonzern Ber- fünf 90minütigen Folgen die neuen Her- genen Reihen. „Es wird keine James-Bond- telsmann gehört. Dressler will sein Exposé ausforderungen der Spione erzählen möch- Parodie. Wir bemühen uns um Authen- Sat 1 und Pro Sieben ebenso anbieten wie te: von internationalen Drogen- und Waf- tizität“, verspricht Dressler, dessen Pro- RTL und der ARD.

88 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft stellten die Briten des- LUFTFAHRT halb unrentable DBA- Starke Konkurrenz Strecken nach Paris, Flugtarife für Hin- und Rückflug inklusive Flughafengebühren in Mark Madrid oder Oslo ein. Billige Briten * * Die Großoffensive der Berlin – Düsseldorf, Köln, Stuttgart, München ; München – Köln München– Hamburg Konkurrenz für die Lufthansa: Briten könnte erstmals Alle BA-Flüge sind frischen Wind in das in- One-way buchbar Die Deutsche BA baut nerdeutsche Tarifsystem ihr inländisches Flugnetz aus. bringen. In kaum einem Lufthansa Deutsche BA anderen Land sind in- it Paul Giblin, 47, hat die Flug- ländische Flüge so teu- Tarif 1 Flexi-Ticket gesellschaft British Airways ei- er wie in der Bundesre- Business-Class, One-way keine 714 554 874 684 möglich, keine Einschränkungen Mnen erfahrenen Sanierer nach publik. Umbuchungskosten Deutschland geschickt. Seine Mission ist Die hohen Preise ha- schwierig – aber nicht unmöglich: Der ge- ben inzwischen auch das Tarif 2 lernte Chemiker soll das Monopol der Bundeskartellamt auf keine Einschränkungen, 594 754 Lufthansa im innerdeutschen Flugverkehr den Plan gerufen. In der keine Umbuchungskosten knacken. vergangenen Woche Seit dem vergangenen Herbst sitzt Gib- mahnten die Wettbe- Tarif 3 lin mit einer Handvoll Getreuer in der werbshüter die Luft- Economy-Tarif, mind. ein 484 594 Münchner Zentrale der British-Airways- hansa ab, weil sie für Wochenende Aufenthalt Tochter Deutsche BA (DBA) und tüftelt die Monopolstrecke Ber- Tarif 4 Value Ticket an einer neuen Strategie gegen den Markt- lin–Frankfurt deutlich 7 Tage Vorausbuchung; 7 Tage Vorausbuchung; führer. Jetzt ist es soweit: Der Angriff be- höhere Preise verlangt Aufenthalt über ein Aufenthalt über ein 394 324 424 354 ginnt. als für Routen, auf de- Wochenende oder Wochenende oder Von Montag dieser Woche an fliegen die nen auch Konkurrent mindestens drei Nächte mindestens drei Nächte Briten achtmal täglich von München nach DBA verkehrt. Lufthan- Hamburg und Köln. Bislang verbanden die sa-Chef Jürgen Weber Tarif 5 Supervalue Ticket 14 Tage Vorausbuchung, 14 Tage Vorausbuchung 294 224 294 224 Jets der Briten nur die neue Hauptstadt will gegen die Entschei- Aufenthalt über ein Berlin mit München, Stuttgart, Köln/Bonn dung klagen. Wochenende und Düsseldorf sowie München und Düs- Große Firmen und *plus eine Mark seldorf. Privatkunden drängen So bald wie möglich wollen die DBA- die Lufthansa-Verant- Manager auch Flüge von und nach Frank- wortlichen seit langem, ihre Tarife zu sen- Branchenkenner erwarten, daß der bri- furt anbieten. Auch auf den vorhandenen ken. Doch die stellen sich stur. „Wir ma- tische Luftfahrtpionier Richard Branson DBA-Strecken soll das Angebot erweitert chen auf unseren innerdeutschen Strecken seine belgische Tochter Euro Belgian Air- werden. Zusätzliche Kunden wollen Gib- seit Jahren Verlust“, sagt Deutschland-Ver- lines schon bald innerhalb Deutschlands lin und seine Mitarbeiter durch zeitlich be- triebschef Stefan Pichler. fliegen läßt. Mehrere skandinavische Re- fristete Sondertarife anlocken. Die Kunden dürfte das wenig interes- gionalfluggesellschaften wollen in Deutsch- Mit dem neuen Angebot will British- sieren. Für sie ist der Kurztrip zur Oma land Dependancen gründen und von dort Airways-Chef Robert Ayling seinen not- nach Berlin oder Köln neuerdings konkur- zu Flughäfen wie Paris-Orly oder ins Lon- leidenden deutschen Ableger endlich in renzlos billig (siehe Grafik). doner Zentrum fliegen. Auch der irische die Gewinnzone führen. Seit ihrer Grün- DBA-Passagiere erhalten zudem bis 8.45 Billigflieger Ryanair und die Londoner dung im Jahr 1992 bescherte die DBA dem Uhr morgens ein komplettes Frühstück mit easyJet möchten in der Bundesrepublik Mutterkonzern nach Schätzung von Bran- Brötchen und Croissants. Danach gibt es Fuß fassen. chenkennern fast 300 Millionen Mark Ver- Getränke und kleine Snacks für alle, bei Ein anderer Wettbewerber ist schon lust. Bereits in den vergangenen Monaten der Lufthansa ist das inzwischen ein Pri- da: die britische Gesellschaft Debonair. vileg für ausgewählte Kunden. Die Preisbrecher fliegen seit Juni vergan- Ab sofort fliegt die DBA innerhalb genen Jahres mit ihren 100sitzigen „Jum- Deutschlands nur noch einklassig. Damit bolinos“ zwischen München und Mön- setzen sich die Briten bewußt von der Luft- chengladbach. Bereits in den nächsten Mo- hansa ab, die Vielflieger und Touristen neu- naten wollen sie weitere innerdeutsche erdings schon beim Einchecken separiert. Verbindungen eröffnen. „Ein Zweiklassensystem macht nur auf Um mit der neuen Konkurrenz mithal- Langstrecken Sinn“, erläutert DBA-Mana- ten zu können, will die Lufthansa einen ger Giblin sein Konzept. Teil ihrer Strecken auslagern. Sie sollen Das Billigangebot der Briten hat von kleinen Airlines bedient werden, die die Lufthansa-Manager inzwischen auf- günstiger operieren können, weil sie ihren geschreckt. Schon im Dezember be- Piloten und Flugbegleitern niedrigere Löh- schlossen sie, die Preise auf den ne zahlen als die Lufthansa. Ob das Kon- neuen DBA-Strecken abzusenken. Ein zept aufgeht, ist ungewiß. Die DAG will Business-class-Ticket von München nach notfalls per Streik verhindern, daß die Hamburg ist jetzt für 874 statt 954 Mark Lufthansa weitere Routen an Fremdfirmen erhältlich. vergibt. Solche bescheidenen Preisabschläge Kommt es Ende Februar zu großange- dürften der Lufthansa nur kurzfristig Luft legten Streiks bei der Lufthansa, steht ein verschaffen. Neue Konkurrenz droht dem Gewinner schon fest: die Deutsche BA. Marktführer vom 1.April an. Dann dürfen „Wir können zwar keine zusätzlichen Ma-

A. BOHNENSTENGEL erstmals auch ausländische Fluggesell- schinen einsetzen“, meint Giblin, „aber Deutsche-BA-Manager Giblin schaften in Nachbarländern Inlandsver- unsere vorhandenen Jets wären sicher bis Angriff mit erweitertem Angebot bindungen anbieten. auf den letzten Platz besetzt.“ ™

90 der spiegel 4/1997 RUNDFUNKANSTALTEN Etwas kühl Der Journalist Fritz Pleitgen hat mit dem geplanten Umbau des Groß-Senders WDR schwer zu kämpfen.

m liebsten steht Fritz Pleitgen, 58, auf einer Zwischenbrücke im sech- Asten Stock des lichtdurchfluteten Innenhofs. Dort oben im „Arkaden“-Haus, das Mitarbeiter aufgrund seiner Architek- tur als „Alcatraz“ verspotten, hat er freie Sicht auf die gläsernen Büros. Per Zuruf kann der Intendant des West- deutschen Rundfunks (WDR) schnell ein- greifen. Anders als sein Vorgänger Fried- rich Nowottny, der in einem unwirtlichen, verschlungenen Verwaltungstrakt residier- te, setzt Pleitgen auf „Transparenz“. Sei- nen neuen Arbeitsplatz versteht er „als Signal nach innen und außen“. Solche Signale hat der WDR, mit knapp 2,2 Milliarden Mark Einnahmen im Jahr

1997 eine der größten Sendeanstalten Eu- OGANDO / LAIF ropas und der Hauptzulieferer für das Er- TV-Chefs Brender, Pleitgen*: „Jeden Stein mehrfach umdrehen“ ste Programm, dringend nötig. Seit Jahren schwinden die Werbeeinnahmen (siehe als Profitcenter bei Fremdkunden Aufträ- kafkaesk anmutende Abteilung Honorare Grafik), lasten gewaltige Kosten auf dem ge werben sollen. Von vier Projekten, un- und Lizenzen, wo Hunderte Mitarbeiter Haushalt, lähmt eine ausufernde Bürokra- ter anderem Immobilienverwaltung und nachforschen, ob freie Mitarbeiter nicht tie die Reformkraft. Eine Generalsanie- Archiv, sind 900 Mitarbeiter betroffen. zuviel für den WDR arbeiten und sich ein- rung ist überfällig – und genau damit hat Zuvor waren bereits die Berater von Ro- klagen können, will Pleitgen jedoch beste- Pleitgen schwer zu kämpfen. land Berger beim WDR. Sie checkten Ab- hen lassen: „Ansonsten hätten wir eine Der Journalist, seit 34 Jahren beim WDR läufe anhand konkreter Fernseh- und Ra- Flut von Anträgen auf Festanstellung.“ und seit anderthalb im Spitzenamt, setzt diosendungen. Das Ergebnis: Die zentrali- Mitarbeiter machen bereits Front gegen auf einen radikalen Umbau. Im großen Stil stisch organisierte Anstalt reagiert zu behä- Pleitgens Crashkurs. In einer Versammlung will er Kosten drücken, Abteilungen aus- big, überall fehlt es an Kostenbewußtsein. forderten sie den Personalrat auf, „ent- lagern, privatisieren. Motto: „Alle Poten- Nun wurde eine Hauptabteilung Kom- schieden Widerstand“ gegen eine Ausla- tiale ausloten, um Gelder für das Pro- munikation und Marketing eingerichtet, gerung von Betriebsteilen zu leisten. „Die gramm freizuschaufeln.“ die stärker für den Sender wirbt. Die zen- Maßnahmen“, so Personalratschef Wen- Bis zum Sommer überprüfen zehn Mit- trale Disposition, bei der Redakteure auch delin Werner, „laufen auf eine weitere Re- arbeiter der Unternehmensberatung Kien- den kleinsten Kameradreh umständlich an- duzierung der Planstellen hinaus.“ Pleit- baum, welche WDR-Abteilungen künftig melden müssen, fällt weg. gen bestreitet konkrete Vorgaben, ande- Die Abteilung Produktionswirtschaft be- rerseits aber dürfe es keine Tabus geben. Gesamt Ganz unten treut etwa auch die neuen TV-Studiohallen Rigoros bricht der WDR-Chef mit dem im Kölner Vorort Bocklemünd. Dort soll früheren Plan seines Senders, das vorhan- 412,3 Brutto-Werbeumsätze des West- der WDR zunehmend für private Kunden dene Programmvermögen zusammen mit deutschen Rundfunks in Millionen Mark arbeiten. Da der WDR „nicht alles selber Privatpartnern auch im Pay-TV zu ver- machen kann und will“, so Pleitgen in ei- markten. Der Sozialdemokrat, der perma- 344,1 WDR 1 WDR 2 Radio nem Rundfunkratpapier, sei er „am Aufbau nent bei der EU-Kommission in Brüssel WDR 4 eines starken Produzentenmarkts in Nord- antichambriert, fürchtet, die Politiker wür- 283,5 WDR Fernsehen rhein-Westfalen interessiert“. den dann die üppigen Gebührenmilliarden 251,4 Begeistert malt Pleitgen mit einem Blei- für ARD und ZDF in Frage stellen. 233,0 235 stift auf, wie der WDR 2000 aussieht: eine Im Rundfunkrat haben Pleitgens Stra- wendige Anstalt aus Kosten-, Service- und tegien mitunter für heftige Debatten ge- Profitcenter, mit internen Preisen statt star- sorgt. Der WDR-Intendant sehe sich als ren Kostenvorgaben. Derzeit drehe er „je- „großer Kommunikator“, warnt der Köl- den Stein mehrfach um“, sagt der Inten- ner Medienkritiker Dietrich Leder, „und ist dant. Schon bald solle sich jeder verant- doch vielleicht isolierter, als er denkt“. Sei- wortlich fürs Ganze fühlen: „Ich möchte nen Fernsehdirektor Jörn Klamroth, 52, je- davon Fernsehen viele kleine WDR im großen WDR haben.“ denfalls brachte Pleitgen im vergangenen 234,9 171,6 141,9 124,9 113,7 115 Die Personalkosten sollen dabei kräftig Herbst erst im zweiten Wahlgang durch. schrumpfen, die Zahl der Stellen könnte Erfolge hat Pleitgen vor allem im von 4500 schnell auf unter 4000 fallen. Die Hörfunk gefeiert. Dort wandelte er die fünf 1991 1992 1993 1994 1995 1996 WDR-Programme in „Wellen“ um, die Quelle: S+P/PBM geschätzt * Auf der Dachterrasse des WDR-Gebäudes in Köln. für bestimmte Zielgruppen senden – der

der spiegel 4/1997 91 Wirtschaft Jugendkanal Eins Live verdrängte an der hatten, um die Computerwelt zu revolu- Spitze die private Konkurrenz. COMPUTER tionieren. Doch im Fernsehen gelang Pleitgen bis- Plötzlich war sie wieder da, die Legen- her wenig. Zum richtigen Publikumsflop de von der Kultmaschine: von einem Com- geriet Friedrich Küppersbuschs neue Sams- Zurück in puter, der mehr ist als Plastik und Schalt- tags-Sendung „Privatfernsehen“. Die Zu- kreise, von Fans, die ihn lieben, und von schauerzahl sank von anfangs 1,6 Millionen Feinden, die ihn verachten, und der be- auf zwischenzeitlich unter eine Million. die Zukunft droht ist von mächtigen Konzernen wie Selbst das salbungsvolle „Wort zum Sonn- den Computerriesen Microsoft oder IBM. tag“ lockt vorher mehr Publikum. Pleitgen Verzweifelt versucht Apple-Chef Wie Gurus hatten Ende der siebziger will trotzdem bis Jahresende am Ex– Amelio, den angeschlagenen Jahre Jobs und Wozniak ihre Anhänger be- „Zak“-Macher Küppersbusch festhalten. geistert. Sie schraubten die ersten Perso- „Privatfernsehen“ sei „erfrischend“, habe Computerbauer zu sanieren. Der nalcomputer zusammen und später die le- aber „keinen idealen Sendeplatz“. Gründer soll ihm helfen. gendären Macintoshs: knuffige Kisten für Die Kosten von jährlich rund 15 Millio- den Wohnzimmertisch, mit der Maus kin- nen Mark schwächen Pleitgens Spielraum a stehen sie auf der Bühne, und derleicht zu bedienen. bei der Reform des maroden Dritten Pro- drunten toben 3000 Fans, trampeln, Es war „der Rechner für den Rest von gramms. Mit 4,5 Prozent Marktanteil ran- Dklatschen, jubeln. Scheinwerfer uns“ – eine intelligente Waffe gegen die gieren die Westdeutschen in der ARD zu- flammen auf, Blitzlichter flackern über ihre fetten Bosse des Establishments. „Soll IBM sammen mit dem Hessischen Rundfunk Gesichter. Die Stimmung kocht, als sei eine das Informationszeitalter beherrschen?“ und dem Ostdeutschen Rundfunk Bran- Popband auf der Bühne erschienen. hatte Jobs seine Fans gefragt. „Nein“, hat- denburg am Schluß. Verstohlen sehen sie sich an: der eine im ten die zurückgebrüllt. Fortan wehte über Eine Unterhaltungsoffensive war kläg- Schafwollpullover mit kurzgeschorenem dem Apple-Labor die Piratenflagge. lich gescheitert. Schon kurz nach dem Start Hippiebart, der andere mit Jackett, das Doch die Legende ist Historie. Der Auf- stoppte Pleitgen etwa die peinliche Spaß- Hemd artig gebügelt. Sie blinzeln sich zu, tritt der 1985 ausgeschiedenen Gründer, sendung „Die Lou van Burg seine Töchter und als sie sich endlich lächelnd die Hän- vom heutigen Apple-Boß Gilbert Amelio Show“, die aus einem Hallenbad sendete. de reichen, scheint ihr Blick zu fragen: arrangiert, war kaum mehr als ein Allein der Umbau der Schwimmhalle hat- „Mann, sind die alten Tage wieder geschickter Werbegag – zurück in die te rund zwei Millionen Mark gekostet. zurück?“ Zukunft. Bei Apple, dem fünftgrößten „Shows sind ein Hochrisikogeschäft“, Für einen Augenblick war es so, vor- Computerbauer Amerikas, ist nichts erkennt Pleitgen. Der gebürtige Duisburger vergangene Woche auf der MacWorld- mehr wie früher: Der Konzern steckt in („Ich kenne das Land wie kaum ein ande- Computermesse in San Francisco. Zum der Krise – und zwar tief. rer im WDR“) setzt nun auf Magazine und ersten Mal seit einem Dutzend Jahren Wo noch vor kurzem die Programmier- Serien aus NRW. „Insgesamt muß das et- waren Stephen Wozniak und Steve Jobs Freaks das Sagen hatten, sind Sanierer was kühle Image des Senders in den Re- wieder unter dem Logo des Compu- eingezogen. Das Regiment hat der Inge- gionen und im Land abgebaut werden“, terkonzerns Apple zusammengetroffen, nieur Amelio angeordnet, ein bulliger heißt es in einem Papier des Rundfunkrats. jener Firma, die sie vor 20 Jahren in Techniker, Jetpilot und Inhaber von 16 Pa- Der große Wurf ist das jetzt geänderte einer kalifornischen Garage gegründet tenten. Seit Februar vergangenen Jahres West-Programmschema jedoch noch nicht. So mußte eine geplante „Jugendschiene“ auf 1998 vertagt werden. Pleitgen: „Es fehlt jetzt an Leuten und an Piepen.“ Als „Wellenchef“ soll der bisherige Chefredakteur Nikolaus Brender, 47, das sieche TV stimulieren. Er hatte die einzige erfolgreiche Unterhaltungssendung mit Format im WDR, „Zimmer frei“ mit Götz Alsmann, angeschoben. Die enge Arbeit mit ihm und mit Hörfunkdirektor Thomas Roth, 45, schätzt Pleitgen auch aus einem anderen Grund: Beide haben wie er als Korrespondent im Ausland gearbeitet. Zur Chefredakteurin kürte der WDR- Intendant einen Tag vor Heiligabend über- raschend die Wirtschaftsjournalistin Mari- on von Haaren, 39. Man müsse „Gleich- stellung nicht immer nur predigen, son- dern auch anstreben“, begründete er im Verwaltungsrat die Wahl der Bonner Stu- dioredakteurin. Pleitgen („Eine erfri- schende Personalmobilisierung“) will kei- ne hierarchisch vorgegebenen „Kamin- Karrieren“ mehr, bei denen man „sich mit der warmen Luft nach oben tragen läßt“. Den Kontakt zu Journalisten läßt der eifrige Reformator nicht abreißen. Unver- drossen moderiert Pleitgen sonntags um zwölf den „Presseclub“ oder macht TV- Beiträge. Nur so, glaubt der erste senden-

de Intendant der ARD, bleibe er in dem ge- MCLEOD W. waltigen Senderapparat „unabhängig“. ™ Apple-Gründer Jobs: Wie ein Guru seine Anhänger begeistert

92 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft befehligt er die einstige Kultfirma mit star- hin ein halbes Dutzend Jahre alt und hat ker Hand. es nie zu großem Erfolg gebracht. Doch Der Apple-Fall „Wir werden angegriffen“, bleute Ame- allein die Rückkehr des Technologierebel- Umsatz in Milliarden Dollar lio dem Publikum in San Francisco ein und len Jobs entzückte die Apple-Fans. 11,1 9,8 spielte ihm zur Illustration einen Videoclip Amelio räumte dem Firmengründer ei- 9,2 aus dem Kinohit „Independence Day“ vor. nen Beraterposten ein, mehr nicht. „Wir 8,0 Eine düstere Macht – hieß sie Microsoft? – können diesen Milliardenkonzern nicht 7,1 spie Feuer und Verderben über die Erde: mit der Mentalität einer Garagenfirma „Jetzt schlagen wir zurück.“ führen“, sagt Amelios Kollege Marco Lan- Die Drohung war ernst gemeint, zum di, Chef der Computerdivision. „Viel zu Weltmarktanteile in Prozent Zittern brachte sie jedoch niemand.Viel zu lange konnte hier jeder tun und lassen, lange haben die einstigen Technikrevolu- was er wollte.“ 9,0 9,4 8,4 8,0 5,6 tionäre mit Innovationen gewartet. Was Immer bedrohlicher wurden zuletzt die Jobs einst erfand, bunte Benutzergrafik Meldungen aus dem Apple-Quartier. Fast Gewinn/Verlust vor Steuern, in Milliarden Dollar und Kommandos per Mausklick, haben 1,3 Milliarden Dollar Verlust häufte die Software-Giganten wie Microsoft längst Firma im vergangenen Geschäftsjahr an. 0,86 0,67 erfolgreich kopiert. Der Vorsprung der Qualitätsmängel und unpünktliche Liefe- 0,14 0,50 Apple-Visionäre schmolz dahin, und mit rungen kosteten den Konzern Hunderte ihm schmolzen die Profite. von Millionen. „Ein Patient mit tödlicher 1992 93 94 95 96 Nun verspricht der Apple-Chef eine Krankheit“, spottete das US-Wirtschafts- neue Revolution, neue Technik soll den magazin forbes. anteils Programme für Apple- Konzern nach vorn katapultieren. Im März Bereits im vergangenen Sommer hatte Rechner zu schreiben. Sie müssen wollen die Ingenieure ein neues Notebook ein ehemaliger Apple-Manager geunkt: das neue Betriebssystem so revo- mit einem leistungsfähigeren Prozessor auf „Das Schlimmste kommt noch. Es wird ein lutionär gestalten, daß es die Kun- –1,30 den Markt bringen, „das schnellste der Gemetzel geben, eine gottverdammte den von Microsofts Windows-Sy- Welt“, wie sie es loben. Tragödie.“ stem weglockt. Und sie müssen schneller Im nächsten Jahr, so versprechen die Das wichtige Weihnachtsgeschäft in Ame- werden: Schon drücken Apples Konkur- Techniker, wollen sie ein neues Software- rika geriet zum Desaster, die Kunden liefen renten Rechner in den Markt, die Intels Fundament legen: Ein neues Betriebssy- in Scharen davon. Der Umsatz schrumpfte Multimedia-MMX-Chip enthalten. stem mit dem Decknamen Rhapsody soll von 11,1 auf 9,8 Milliarden Dollar (siehe Amelio will dieses Kunststück mit die Apple-Rechner noch fitter fürs Multi- Grafik). Der Marktanteil, weltweit einst- Hilfe einer neuen Riege schaffen. Ein media-Zeitalter machen, Grafik,Video und mals fast ein Fünftel, sackte auf 5,6 Prozent halbes Dutzend neuer Topmanager schwor Ton beschleunigen, den Zugang zum In- ab. Als die Computerbauer vor drei Wo- Amelio in den vergangenen Monaten ternet revolutionieren und Programmierer chen einen Quartalsverlust von bis zu 150 ein, die meisten kommen aus der Chip- begeistern. „Hundert neue Software-Fir- Millionen Dollar prophezeiten, fiel der Ak- industrie. men werden blühen“, jubelt Jobs, „Millio- tienkurs um 18 Prozent. Und fast jeder vier- Die harte Gang hat wenig Sinn für Muße nen werden ihre Programme kaufen.“ te Apple-Mitarbeiter mußte in den vergan- und Rebellenromantik. Sie räumte die mil- Die Technik stammt von Apple-Grün- genen zwölf Monaten gehen – gerade noch liardenteuren Lagerbestände ab, die bis- der Steve Jobs. Ende Dezember übernahm 13000 blieben übrig. her niemanden gestört hatten. Sie kürzte der Apple-Chef kurzerhand die Jobs-Firma Will Amelio in den nächsten Monaten die Kosten um ein Drittel und will Apple- Next Software für 400 Millionen Dollar. den Aufschwung schaffen, muß ihm ein Rechner billiger auf den Markt bringen, Jobs hatte sie aufgebaut, nachdem ihn 1985 schwieriger Spagat gelingen. Er muß seine schon ab 999 Dollar. der damalige Apple-Chef John Sculley aus Ingenieure disziplinieren, ohne ihre Krea- Angeführt wird sie von Ellen Hancock, dem Unternehmen gedrängt hatte. tivität zu ersticken. 53, einer Motorradfahrerin, Jazzliebhaberin Der Kauf war vor allem auch ein Mar- Seine Leute müssen Software-Firmen und strenggläubigen Katholikin. Seit ver- keting-Coup. Die Next-Technik ist immer- überzeugen, trotz des gesunkenen Markt- gangenen Juli leitet sie als Technologie- chefin die Programmierer im Apple-Haupt- quartier im kalifornischen Cupertino – und schockte sie bereits in den ersten Wochen. Mit barscher Stimme pflegt sich die IBM-Veteranin, einst die ranghöchste Frau im weltgrößten Computerkonzern, nach pünktlicher Einhaltung von Terminen zu erkundigen, mit knappen Sätzen gibt sie ihre Anordnungen. Kaum hatte die Maggie Thatcher von Cupertino ihr Zimmer bezogen, kippte sie das hausinterne Betriebssystem-Pro- jekt mit Codenamen Copland, mit dem sich die Apple-Techniker über Jahre er- folglos abgemüht hatten. Noch ehe ihr Boß sich mit dem le- gendären Gründer Steve Jobs getroffen hatte, fädelte die resolute Dame bereits Gespräche mit dessen Software-Ingenieu- ren ein. Und kurz vor Weihnachten zog Hancock sich in eine nahe Kirche zurück und betete für den Abschluß. „Eigentlich tut man so was ja nicht“, bekennt sie,

K. KULISH / SABA „doch ich sagte mir: Wenn du nicht fragst, Apple-Chef Amelio: „Wir werden angegriffen, jetzt schlagen wir zurück“ wirst du nicht gehört.“ ™

94 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Agenturgründer Jacoby, Springer, S&J-Werbung: „In der Gesamtwertung sind wir seit Jahren immer vorn“

Millionen Mark gesteigert, die Zahl der traditionellen Grundwerte „einfach, ein- WERBUNG Kunden stieg um 4 auf 54, die der Mit- fallsreich, exakt“ einzustellen. arbeiter um 40 auf 390. Als persönliche Monatelang hatte sich das Trio beraten, Traumagentur jedoch wurde der frische, nicht zuletzt einer völlig neuen Erfahrung Zuviel Kasse freche Ableger genannt: Jung von Matt. wegen: Verschiedene Etats, darunter Luft- Ein Grund dafür waren die Kreativ- hansa, Dr. Oetker, Deutsche BA und Süd- Umbau bei Springer & Jacoby: schwächen von Springer & Jacoby im ver- milch, konnten nicht gewonnen werden, gangenen Jahr. Einigen Kampagnen, etwa obwohl einige der vorgestellten Kampa- Die Agentur, lange die für TUI und Mercedes, fehlte die S&J-üb- gnen nach eigener Einschätzung wahrlich kreativste des Landes, will liche Brillanz – trotz Tausender von Check- europäisches Format hatten und mit das neues Terrain erobern. listen, einer unvergleichlichen Firmenkultur und des einmaligen Managementsystems. weiter Sieger zu sein, das ist in dem Was war passiert? Die berühmten, von Firmen-Grundgesetz der Werbepro- Reinhard Springer und Konstantin Jacoby Zfis von Springer & Jacoby (S&J) erfundenen „vier K’s“ – Kasse, Kultur, nicht vorgesehen, und so macht Ge- Kundenzufriedenheit, Kreation – waren, schäftsführer Manfred Schüller den Sieg zugunsten der Kasse, aus dem Gleichge- der Lokal-Konkurrenz kurzerhand zum ei- wicht gekommen. Zwei Jahre, nachdem die genen: „Jung von Matt sind ein Kind von Agenturgründer 1993 die Geschäftsführung uns. Klar, daß die gut sind.“ abgegeben hatten, wurden die Kreativen Die ehemaligen Zöglinge Holger Jung müder. Da halfen weder die Freikarten fürs und Jean-Remy von Matt hatten sich 1991 Fitneßcenter noch die Agentur-Skireise, selbständig gemacht und etliche S&J-Kol- und die kostenlosen Urlaubshäuschen auf legen mitgenommen, um – etwa für den Sylt und Mallorca konnten die überarbei- Autoverleiher Sixt, für Audi und die Tier- teten Mitarbeiter ebensowenig aufheitern schutzorganisation Noah – zu schaffen, wor- wie tägliches Freiobst. Die Stimmung wur- an in der Branche keiner glauben wollte: Sie de immer gereizter. Geschäftsführer Henk verdrängten ihren einstigen Arbeitgeber in Slagman mußte schließlich gehen. der Kreativrangliste vom Spitzenplatz. Seit einem halben Jahr nun lenken Krea- Der Zustand ist gewöhnungsbedürftig: tivdirektor André Kemper, 33, Manfred Erstmals seit sechs Jahren hat eine Agen- Schüller, 46, und Finanzchef Klaus Holt- tur größeren Erfolg in nationalen und in- hausen, 39, das Unternehmen. Die beiden ternationalen Wettbewerben als Springer Gründer, die vor Jahren schon 50 Prozent & Jacoby. In der Wettbewerbspräsentation (minus einer Stimme) zum Freundschafts- für die Deutsche Bahn AG unterlagen die preis von 640000 Mark pro Prozent an ihre Lehrer ihren Schülern gar, Jung von Matt leitenden Mitarbeiter abgegeben haben, entführte den 65-Millionen-Etat von der stehen nur noch als eine Art Visionäre und Frankfurter Agentur Ogilvy & Mather ins Aufsichtsräte zur Verfügung. Aufs tägliche Hamburger Karolinenviertel. Geschäft nehmen sie keinen Einfluß mehr. „Schön“ nennt Schüller diese unge- Jacoby beschäftigt sich seither intensiv wohnte Rivalität, schließlich sei es auf Dau- mit Beratung und dem Erschnuppern hi- er öde, allein vor dem Feld herzulaufen. storischer Chancen. „Ich kann gut riechen“, Agenturgründer Konstantin Jacoby, 43, will sagt er. So wie Mitte der Achtziger, als er von Konkurrenz gar nichts hören. „Mal ist sich, zeitgleich mit dem Aufstreben der Pri- die eine Agentur kreativer, mal überholt vatsender, auf Fernsehspots spezialisierte. uns jemand in einer anderen Kategorie. Nun spürt er den Trend zur Produkti- Doch in der Gesamtwertung sind wir seit vitätssteigerung und Kostenersparnis. „Da Jahren immer vorn. Ob wir es bleiben, ist ist was fällig, auch bei Werbeagenturen“, unsere tägliche Herausforderung.“ glaubt er. Sein Kompagnon Reinhard Tatsächlich sahen 300 Entscheider in ei- Springer, 48, denkt derweil über Möglich- ner Umfrage des Branchenblattes werben keiten der Internationalisierung nach. & verkaufen Springer & Jacoby Ende 1996 Währenddessen versuchen die neuen nach wie vor als beste Agentur. Der Um- Geschäftsführer, die Agentur wieder auf Agenturgründer Jung, von Matt, Anzeigenmotiv satz wurde 1996 um zehn Prozent auf 600 die in den achtziger Jahren erfolgreichen Sieg über die alten Kollegen

96 der spiegel 4/1997 Wirtschaft Beste waren, was das Haus je geliefert hat. Die Kunden jedoch zögerten, den zum Teil gewagten Entwürfen zu folgen. Die Geschäftsführer diagnostizierten ein Vertrauensdefizit. „Werbeagenturen gelten häufig noch als fahrendes Volk“, sagt Schül- ler. „Werber benehmen sich oft wie Clowns. Ich will keiner sein – dafür sind wir auch zu teuer.Wir möchten einen Status er- reichen, wo wir als Berater der Unterneh- men zu 100 Prozent ernst genommen wer- den – auch über die Werbung hinaus.“ Deshalb setzt S&J – britischen Beispie- len folgend – nun auf kompetente Rund- umberatung: Eigens dafür wird die Firma Springer & Jacoby Marketing gegründet, die spätestens am 1. April die Arbeit auf- nimmt und als eigenes Profitcenter arbeiten soll. Die 15 Mitarbeiter sollen sich intensiv ums Neugeschäft bemühen, besonders um die exakte strategische Vorbereitung von Kampagnen und die Erstellung maßge- schneiderter Kommunikationsprogramme für einzelne Kunden, und sie sollen Markt- und Trendforschung betreiben. Auch die Grundagentur wird umge- krempelt. Galten bislang die Kreativen als das Herzstück der Agentur, so werden nun die Berater gleichgestellt, die den Kunden die Kampagnenentwürfe nahebringen sol- len. „Da schlachten wir eine heilige Kuh“, glaubt Kreativdirektor Kemper. Ausge- wählte Berater müssen sich auf einem be- stimmten Fachgebiet, etwa Sport oder Nah- rungsmittel, schlaumachen, damit ein Neu- kunde aus diesem Bereich auf der Stelle kompetent bedient werden kann. Allen Mitarbeitern wurde zudem Zwangsfortbildung verordnet, von Fachse- minaren bis hin zum perfekten Auftritt. Und um eine Krise der Kreativleistung zu verhindern, gründete das Führungstrio ein Kontrollgremium, das jede einzelne der insgesamt sechs eigenständigen Agentur- einheiten zweimal jährlich bewertet. Nur so, glaubt das Führungstrio, kann der Sprung auch ins europäische Geschäft glücken. Werber Kemper: „Laßt uns das deutsche Gehampel vergessen, laßt uns auf Europa konzentrieren. Unsere Gene- ration wird es schaffen, die deutsche Wer- bung international zu etablieren.“ Einem internationalen Netzwerk wird sich die Agentur jedoch nicht anschließen. Vergangene Woche erst verhandelte die Investorengruppe Cominterest Holding um Springer, Jacoby und Holger Uhlhorn so- gar über den Verkauf ihrer 49prozentigen Beteiligung am Network Wilkens/Interna- tional, das sie erst vor einem Jahr er- worben hatte. Finanzchef Holthausen: „Für uns wäre eher denkbar, zusammen mit einem Kunden ein Netzwerk aufzu- bauen.“ Dazu wiederum ist Vertrauen notwen- dig, und eben das soll die neue Beratungs- firma bringen. Plastisch drückt das Ralf Kober aus, der die dritte Agentureinheit führt: „Man muß über tausend Saugnäpfe mit dem Kunden verbunden sein, wir legen uns amorph um ihn herum.“ ™

der spiegel 4/1997 B. BOSTELMANN / ARGUM Polnische Prostituierte in einer Mannheimer Sexbar: Aus der Not der Heimat in die Arme der Schlepper

FRAUENHANDEL „Ich habe Angst vor Männern“ Sie werden erpreßt, verprügelt, vergewaltigt und auf den deutschen Strich verschleppt; andere lassen sich in die Prostitution verkaufen, um der Armut daheim zu entfliehen: Der Handel mit ausländischen Frauen ist ein Milliardengeschäft für international operierende Schlepperbanden und Zuhälter geworden, die sich mörderische Kämpfe um ihre Profite liefern.

ann immer sie einen roten BMW ist sie untergekrochen. Die Freunde von zwei Rollen Kleenex auf dem Nachttisch. sieht, beginnt Oxana*, 22, zu zit- einst meidet sie, aus Angst, erklären zu Dort wartete Wladimir, ein Freund von Wtern. Dann ist der Drang wegzu- müssen, warum sie schon nach drei Mona- Gerd. Er kassierte Oxanas Paß, all ihre rennen, sich zu verstecken wie ein Reflex. ten das Land, von dem hier alle träumen, Kleider und befahl ihr, rote Reizwäsche Im litauischen Klaipeda gibt es viele wieder verlassen hat. anzuziehen.Als sie sich weigerte, schlug er BMWs, auch rote. Zum Glück haben nur Ihrer Großmutter hat sie etwas von ihr ins Gesicht. Einmal genügte, die wenige ein deutsches Kennzeichen wie der, „zerschmetterten Träumen“ erzählt und 18jährige begriff sofort, was von ihr ver- in dem ihr Martyrium begann. daß sie sich schämt. Der alten Dame hat langt wurde. Gerd hieß der Fahrer, seinen Nachna- das genügt. Oxana ist ihr dankbar dafür. Oxana war nun eine von rund 200000 men weiß Oxana bis heute nicht. Sie hat Denn nichts hat gestimmt von dem, was Huren, die nach offiziellen Schätzungen in auch nie danach gefragt. Denn Gerd roch der charmante Gerd ihr im vergangenen der Bundesrepublik anschaffen. Keine nach Lagerfeld. „Ich war verblendet“, sagt Juli am Ostseestrand erzählt hatte. Fast Gruppe unter den Prostituierten wächst so Oxana, „nein, ich war gierig. Aber in Li- nichts. Immerhin, es war ihm gelungen, ihr rapide wie die der Frauen aus Osteuropa. tauen gab es nichts außer Elend, und ich in nur wenigen Tagen einen falschen Paß Mehr als ein Drittel der Profi-Huren in wollte eine Zukunft.“ inklusive Visum zu besorgen. Auch sein Deutschland, schätzen Experten, stammt Von ihrer Zeit in Deutschland erzählt Versprechen, sie mit dem roten BMW nach inzwischen aus Polen, Bulgarien, Rumäni- sie, als wäre sie vor Jahren dort gewesen. Hamburg zu bringen, löste er ein. en, Tschechien und aus den Ländern der Dabei ist sie erst seit einigen Monaten Doch den gutbezahlten Job als Bardame ehemaligen Sowjetunion. zurück in Klaipeda. Bei ihrer Großmutter in einer Nobeldisko gab es nicht, nur ein Unter den wenigen Opfern von Frauen- schmuddeliges Zimmer in einer Hoch- händlern, die das BKA registrieren kann * Name von der Redaktion geändert. haussiedlung mit einem großen Bett und (1995: 1753), halten die Ost-Huren mit 84

98 der spiegel 4/1997 Gesellschaft Prozent den Spitzenplatz, knapp zwei nen Quickie auf der Autorückbank, für die amtes stand auf der Pay-Roll der Bande. Er Drittel sind zwischen 18 und 25 Jahren alt. Nummer im Stundenhotel oder im Edel- verhinderte jahrelang, daß der seltsame Die Kalkulation der Zuhälter ist simpel: puff aus. Das Bumsgeschäft hat längst die Zustrom rumänischer Touristinnen und Der Import von jungen Frauen etwa aus Umsätze der Unterwelt mit Heroin und „Künstlerinnen“ in die Rotlichtszene dem fernen Asien oder Südamerika ist teu- anderen Drogen überflügelt. der Region allzu genau verfolgt wurde. rer und komplizierter als der kurze Trip Einem Schlepperring in Nordbaden und Dafür konnte er sich in den Banden- nach Posen, Warschau, Prag oder Buda- Rheinland-Pfalz konnten Kripo-Fahnder Etablissements zum halben Preis bedienen pest. Die Lieferzeit für „Nachschub“ aus einen Gesamtumsatz von 2,5 Millionen lassen. Tschechien oder der Ukraine liegt zudem Mark nachweisen. Die wahren Einnah- Nach zwei Monaten in Hamburg und nur bei wenigen Tagen. Zwischen einigen men, glauben die Ermittler, lagen weit dar- mehr als 300 Männern durfte sich Oxana hundert und zehntausend Mark – je nach über. zum erstenmal wieder anziehen.Wladimir Alter und Aussehen – zahlen Zuhälter den Die Chefin der Bande, eine ehemalige kam um drei Uhr morgens mit ihren Klei- Schleppern pro Frau. rumänische Prostituierte namens Rodica dern. Draußen wartete ein weißer Liefer- Oxanas erster Freier kam am frühen Jitea, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. wagen mit deutscher Firmenaufschrift. Morgen. Wladimir versteckte sich im Ne- Der Fall des Rumänenclans zeigt, wie die Oxana wurde auf die fensterlose Lade- benzimmer. Als der Mann weg war, nahm Händlerringe binnen kurzer Zeit für ihre fläche gestoßen, wo schon drei andere er das Geld, schloß sie ein und ver- Geschäfte ein gut funktionierendes inter- Mädchen kauerten. Sie schauten nicht ein- schwand. Stunden später kam er zurück, nationales Netz von Lieferanten, Abneh- mal auf, als die 18jährige sie ansprach. mit einer lauwarmen Pizza, Oxanas Stan- mern und Helfern organisieren, zum Teil „Maul halten“, brüllte der Fahrer. Oxana dardessen für lange Zeit. Das Apartment mit Unterstützung ausländischer wie auch gehorchte, soviel Deutsch hatte sie mitt- wurde ihr Käfig, an Flucht war nicht zu deutscher Behörden. lerweile gelernt. denken.Wladimir hatte den Schlüssel, den Paß und die Kleider. Im Wochenrhythmus verfrachtete er sie in immer neue Wohnungen. Die Adressen kann Oxana bis heute auswendig: Lün- kenweg, Schenefelder Landstraße, Papen- huder Straße, Sedanstraße, Kleiner Schä- ferkamp, Wandsbeker Chaussee. Jede hat sie mehr als hundertmal gehört auf den Anrufbeantwortern in den Appartements. Der Rest der Ansagen für diejenigen, die „ihre“ Annonce in der Zeitung gelesen hatten („Natascha, 18 Jahre, ganz neu“), war immer gleich, gesprochen von einer Frau, deren Stimme sich noch jünger an- hörte als die des Mädchens aus Klaipeda: „Ich machen Verkehr, griechisch und spa- nisch, französisch bis zum Schluß“. Schicksale wie das von Oxana sind längst zum Politikum geworden. Seit Jah- ren versuchen Politiker, Polizisten, Staats- anwälte und Grenzschützer mit stetig wachsendem Aufwand, international agie- renden Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Ermittler in nahezu allen Groß-

städten, an den Ostgrenzen und bei Inter- PRESS ACTION pol zerschlagen immer neue Händlerringe, Verhaftung eines türkischen Frauenhändlers*: „Da kommt Frust auf“ die bundesdeutsche Puffs mit der Ware Frau versorgen. So besorgte sich Rodica bei deutschen Vor einer schäbigen Villa am Rande ei- Vor vier Jahren erweiterte der Gesetz- Freunden zunächst Blankoeinladungen ner Kleinstadt war die Fahrt zu Ende. In- geber den einschlägigen Strafrechtspara- und gefälschte Arbeitsverträge, mit deren zwischen war es hell geworden. „Wie der graphen um den Begriff des „schweren Hilfe Komplizen bei der deutschen Bot- Ort hieß“, so Oxana, „weiß ich bis heute Menschenhandels“, um „Frauen, insbe- schaft in Rumänien Visa für die Frauen nicht, ich hatte jede Orientierung verlo- sondere aus entfernten Ländern, vor se- besorgten. Die Rumänin ließ ihre An- ren.“ An die Begrüßung durch einen Rus- xueller Ausbeutung“ zu schützen. Höchst- werber durch Temesvar und Umgebung sen, der sich als Geschäftsführer vorstell- strafe für Schlepper: zehn Jahre Haft. streifen, die Diskos und Kneipen syste- te, erinnert sie sich noch genau. „Kein Gast Aber geändert hat das kaum etwas. Der matisch nach neuen Opfern durchkämm- länger als zehn Minuten“, erklärte er, „20 Strom der Sexpendlerinnen aus dem Osten ten. Freier pro Schicht, Kost und Logis sind versiegt nicht. Die Not ihrer Familien treibt Wenn die Aufenthaltsgenehmigungen frei.“ Jede Schicht dauerte zwölf Stunden, sie in die Arme der Menschenhändler. De- der Frauen in Deutschland abzulaufen Geld gab es nie. ren Geldgier und die verzweifelte Hoff- drohten, bediente sich die Bandenchefin „Du kannst dir nicht vorstellen“, sagt nung ihrer Opfer, der Armut ihrer Heimat guter Kontakte zur rumänischen Botschaft Oxana, „was die in zehn Minuten alles mit zu entfliehen, halten einen internationalen in Bonn. Stapelweise meldete sie die Päs- dir machen.“ Mehr sagt sie nicht. Sklavenmarkt in Gang, in dem Schleuser, se der Frauen als verloren und erhielt an- Viermal noch war sie von Bordell zu Zuhälter und Bordellbesitzer alljährlich standslos Ersatzpapiere, mit denen sie bei Bordell gekarrt worden, ehe sich eine Milliardengewinne abschöpfen. der Mannheimer Ausländerbehörde die Chance ergab, ihren Peinigern zu entkom- Die Nachfrage ist beträchtlich. Nach Be- Verlängerung der Aufenthaltsgenehmi- men. Ende Oktober, nach drei Monaten rechnungen des hessischen Innenministe- gungen erreichte. riums geben Deutschlands Freier jedes Jahr Probleme waren auch dort nicht zu er- * Nach einer Razzia Mitte Dezember im Hamburger insgesamt etwa 70 Milliarden Mark für ei- warten. Ein Angestellter des Ausländer- „Starlight Club“.

der spiegel 4/1997 99 Gesellschaft „Wir finden dich überall“ Wie eine junge Bulgarin den Mut fand, gegen ihre Zuhälter vor Gericht auszusagen

ausend Mark sollte Anna* noch Deutschland lebe. Deshalb habe er auch rem Namen an einem geheimen Ort in kosten.Weil sie fürs Geschäft nicht ein exzellentes Angebot zu machen: Deutschland – und hat zusätzlich noch Ttaugte, hatte ihr bulgarischer „Komm doch drei Monate nach Deutsch- Freunde um Schutz gebeten. Anna hat Zuhälter sie einem Deutschen verspro- land und arbeite in einem Hotel.“ sich entschlossen, in den Prozessen ge- chen, der sie heiraten wollte. Eine Putz- Drüben im Westen, erklärt der Mann, gen die Menschenhändler und Zuhälter frau kommt teurer. der sich Yordan nennt, suche man vor al- auszusagen, die sie zur Hure gemacht Der Deal platzte, als die Polizei das lem Zimmermädchen und Küchenhilfen. haben und zuletzt „wie ein Stück Bordell in der süddeutschen Provinz Als Anna zögert, überzeugt er sie mit Fleisch“ verramschen wollten. „Die sol- stürmte. Plötzlich war Anna, 28, frei – aber dem Hinweis auf ein westliches Phäno- len drankommen.“ fest entschlossen zu lügen. Irgendeine men, von dem sie auch schon gehört hat: Den Mut bezahlt sie teuer. Die Gang- Geschichte wollte sie den Beamten er- „Für diese Jobs sind sich die deutschen ster haben ihr und ihrer Familie gedroht, zählen, nur nicht die Wahrheit. Sie woll- Frauen zu schade.“ Eher zum Schein bit- sie umzubringen, wenn sie im Zeugen- te keinem mehr trauen in diesem Land, in tet Anna sich noch eine Bedenkzeit aus. stand auftauche: „Wir finden dich über- dem sie ihre Ehre verloren hatte. Als Yordan nach wenigen Tagen wieder- all.“ Immer wieder läßt die Angst Anna stocken; immer wieder schlägt sie sich die Hand vor den Mund, als fürchte sie, Details verraten zu haben, welche die Killer auf ihre Spur bringen könnten. Als Yordan davon spricht, daß die drei an ihrem neuen Arbeitsplatz ruhig „ein bißchen nett“ zu den männlichen Gästen sein sollten, halten die drei Frauen das für einen Scherz. Doch der Mann am Steuer wird deutlicher. Es sei doch nichts dabei, ab und an mal mit einem ins Bett zu stei- gen: „Ziert euch doch nicht so, ihr ver- dient ja auch was.“ Die „schmutzigen Andeutungen“, sagt Anna, hätten sie an- gewidert – doch immer noch habe keine von ihnen Argwohn gespürt. Die Fahrt endet vor einer kleinen, her- untergekommenen Pension. Der Schlep- per bringt die Frauen aufs Zimmer – und schließt sie ein. Am nächsten Tag ist er wieder da, wirft Miniröcke, durchsichtige Blusen und Stöckelschuhe auf die Bet- ten: „Ihr müßt sexy aussehen, wenn ihr Sexangebote in Zeitungen und Zeitschriften (Ausrisse): „Wie ein Stück Fleisch“ zur Arbeit geht.“ Dann fährt er die Frau- en zu einer Bar am Stadtrand. Anna hielt nicht lange durch. Als bei kommt, legt er ihr einen Arbeitsvertrag Anna versteht kein Wort, die Männer den Untersuchungen der Ton der Beam- als Zimmermädchen in einem Hotel vor; an der Bar sprechen deutsch und italie- ten schärfer wurde, flossen die ersten Trä- auch ein Visum hat er besorgt. Diese nisch. Als Anna den Fernseher auf dem nen. Dann begann sie auszupacken. Die Ernsthaftigkeit überzeugt Anna endgül- Regalbrett entdeckt, der pausenlos Por- Frau, erinnert sich eine Ermittlungsbe- tig, sie empfindet „ein schönes Gefühl“. novideos abspult, wird ihr „langsam klar, amtin, habe erst aufgehört zu schluch- Die beiden verabreden Termin und Treff- was hier läuft“. Aber da ist es „zu spät“. zen, „als die ganze Geschichte raus war“. punkt für die Abreise. „Ich bin keine Hure, ich mach’ das Im Frühjahr 1993 kellnert Anna in der Zweimal stoppt Yordan den Mercedes nicht“, klagt sie, schüttelt immer wieder Bahnhofsgaststätte einer bulgarischen noch auf der Fahrt gen Westen, jedesmal den Kopf. Da zieht der Schlepper eine Kleinstadt. Eines Tages taucht ein älterer steigt eine junge Frau zu. Anna freut Pistole und verlangt 5000 Mark zurück, Herr in dem Lokal auf. Anna erinnert sich, zusammen mit Mimi und Tatjana die er in sie investiert habe. Davon, wehrt sich noch an seine „korrekt geschnittenen malt sie sich aus, wie es in diesem reichen sich Anna, sei nie die Rede gewesen. Haare und den guten Anzug“. Deutschland sein wird und wie wohl die „Zahle oder geh mit den Kerlen ins Zielstrebig setzt sich der Mann an ei- Menschen auf sie, die Fremden, reagieren Bett“, antwortet Yordan. nen der Tische, an denen Anna bedient, werden. In diesem Moment steigt Angst in sucht immer wieder das Gespräch mit ihr. Daß sich Yordan veränderte, je näher Anna hoch, eine irre Angst, die sie bis Er sei ein Bulgare, der schon lange in die deutsche Grenze kam, habe man gar heute nicht losgeworden ist. nicht richtig mitbekommen, erzählt Apathisch läßt sie sich vom Bordell- * Die Namen wurden von der Redaktion verändert, um Anna, und ihre Augen irren plötzlich un- chef einweisen, schaut erst den etablier- Annas Leben nicht zu gefährden. sicher umher. Sie lebt heute unter ande- ten Huren bei der Anmache zu. Dann

100 der spiegel 4/1997 U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL U. Mannheimer Angeklagte Bahri (2. v. l.) und Fahri E. (r.): Mit dem Flaschenhals in Richtung der Pulsader muß sie selbst ran: Erst die Gäste an- Ekel, Scham und Erniedrigung, vergaß ein Es tut sehr weh. Ich bin jetzt anders als sprechen, dann zwischen den Beinen Freier seinen Trenchcoat in ihrem Zimmer. früher. Ich verdiene es nicht, eine so gute streicheln und schließlich mit ihnen Das Fenster im Klo nebenan stand offen. Familie in Polen zu haben. Ich habe Angst im Séparée verschwinden. Die Entscheidung abzuhauen fiel in Se- vor der Zukunft, und ich habe Angst vor Was dort geschah, hat Anna weit- kunden. Nur mit Pumps, Mieder und dem den Männern. Ich möchte keine Familie gehend ausgeblendet. Sie erinnert Mantel ihres letzten Kunden bekleidet haben. Ich möchte alleine bleiben. sich nur an die verschlissenen Bezü- schaffte sie es unbemerkt bis zur nächsten ge der Liegen und die billigen Vor- Hauptstraße. Die Mitglieder des Schlepperrings, die hänge, die Trennwände ersetzten. „Ich hatte Glück“, erinnert sich Oxana, Ola nach Deutschland brachten, landeten Der Zuhälter, der sie abends nach „gleich der erste Wagen hielt an, und der auf der Anklagebank des Mannheimer der Schicht abholt und in einer Woh- Fahrer verstand auch, so schien es, was ich Landgerichts. Von 1993 bis 1995, so die Er- nung einschließt, ist nicht zufrieden. wollte: weg, nur weg.“ Doch nach nur we- mittlungen, haben die türkischen Brüder Er beschimpft sie, droht damit, ihren nigen Kilometern fuhr der Mann in einen Bahri, 35, und Fahri E., 41, zusammen mit Eltern zu erzählen, daß die Tochter Wald, wo er sich seine Hilfe mit Sex ver- drei Komplizen aus Polen und der Türkei als „billige Nutte“ in Deutschland gelten ließ. Französisch bis zum Schluß, mehrere Dutzend Mädchen aus Polen und arbeite. ein letztes Mal. anderen osteuropäischen Staaten ver- Immer nachmittags, gleich nach Oxanas Schicksal wurde niemals akten- schleppt und sie in Bordellen in Mannheim Büroschluß, füllt sich die Bar. 200 kundig. Zur Polizei traute sie sich nicht, und Schwetzingen zur Prostitution ge- Mark zahlen die Freier an der Theke, zwungen. Angelockt wurden die Frauen, von dem Geld sehen die Frauen In den Verträgen der Frauen darunter viele Minderjährige, über Zei- nichts. Während sich ihre Leidensge- tungsinserate oder in Cafés und Diskos. nossinnen langsam in das scheinbar stand „Tätigkeit in einer Um Anwerbung, Paßbeschaffung und Unvermeidliche fügen, behält Anna Bar“ und „Kontakt zu Klienten“ Reisevorbereitungen zu kaschieren, mie- einen Rest von Widerstand. Sie heult, tete Bahri, so die Ermittler, sogar eigens versucht die Zuhälter davon zu über- weder in Deutschland noch in Litauen, Büroräume in Polen, angeblich für eine zeugen, daß es den Freiern doch wohin sie es schließlich per Anhalter ge- Baufirma. Der Standard-Arbeitsvertrag, „nichts bringt, mit einer Frau zu schafft hat. „Das Geheimnis der Schlep- den die Mädchen unterschreiben mußten, schlafen, die sich vor ihnen ekelt“. perbanden“, so sagt sie, „ist ihre Bruta- erwähnte nur verschämt „Tätigkeit in einer Daß Anna beim Geschlechtsver- lität. Mafia bedeutet Angst. Du glaubst Bar“ und „Kontakte zu Klienten“. kehr den Brechreiz kaum unter- den Leuten, wenn sie sagen, daß sie dich Per Bus oder im Auto karrten die drücken kann, läßt die Men- überall finden.“ Schlepper die Mädchen in die süddeutsche schenhändler kalt. Doch als ein tür- Nur selten stehen Polizei und Staatsan- Provinz, machten sie laut Anklage mit kischer Freier Anna „zurückgibt“ und waltschaft Zeuginnen wie Ola zur Verfü- Schlägen und Drohungen gefügig und auf Rückzahlung besteht, weil er „mit gung.Vor zwei Jahren wurde das Mädchen, schickten sie mit den Freiern auf die Zim- so einer verheulten Frau nichts an- gerade 16 Jahre alt, aus der polnischen Pro- mer. Bahri habe „wahre Blutorgien“ im fangen“ kann, soll Anna verkauft vinzstadt Nidzica von einer türkischen Bordell veranstaltet, heißt es in der Ermitt- werden. Schlepperbande in ein Schwetzinger Bor- lungsakte. Mehrmals habe er Frauen mit Nach 100 Freiern ist Anna in dell geschafft. Den Eltern erzählten die Wodkaflaschen auf den Kopf geschlagen, Deutschland noch einen Tausender Frauenhändler, darunter eine Polin, Ola einmal mit dem abgeschlagenen Fla- wert – soviel wie ein durchschnittli- werde als Küchenhilfe im Hotel Falkenhof schenhals auf eine der gepreßten Huren cher Rassehund. Die weichen, femi- arbeiten. Was in dem Hotel, das sich als eingestochen, „direkt in Richtung der Puls- ninen Gesichtszüge werden hart, billiger Puff entpuppte, aus ihr wurde, ader, wobei das Mädchen stark blutete“. wenn sie über den Verlust von „Ge- schrieb Ola in kindlicher Handschrift für Was Frauen, die sich nicht fügten, noch fühl und Ehre“ spricht und darüber, die Staatsanwaltschaft Mannheim nieder: geschah, schilderte eine der Huren den daß sie jetzt vor Gericht „zurück- Mannheimer Ermittlern in allen Details. zahlen will“. Nachdem ich die Schwelle überschritten Einer der Bordellbesitzer habe sie in Ge- Der Spruch auf ihrem Pullover hatte, hat sich mein ganzes Leben geän- genwart einer anderen Prostituierten auf wirkt wie Hohn: „No risk, no fun.“ dert. Hätte ich früher gewußt, wie es dort sein Bett gezwungen, sie mit einer Pistole aussieht und was man mit den Frauen bedroht, ihr die Kleidung vom Leib geris- macht, wäre ich niemals dorthin gefahren. sen, sie mit Schnaps übergossen und am

der spiegel 4/1997 101 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft T. HIRSCHBIEGEL T. Rettungseinsatz für Schußopfer vor dem Hamburger „Blue Night“: Krieg um die Claims auf dem Kiez ganzen Körper abgeleckt, gebissen und ge- treibe eben ein Nachfolger das Geschäft: gen. Im Gegenteil: Tag für Tag müssen die schlagen. „Nehmen wir einen Puff mit sämtlichen Beamten des zuständigen Polizeireviers an Anschließend, so das Protokoll der Ver- Nutten hoch, reisen Ersatzfrauen schon am der Lerchenstraße die hämischen Grüße nehmung, fesselte und vergewaltigte er sie. nächsten Tag aus Polen oder Prag ein.“ von Zuhältern und Wirtschaftern ertragen, Das Ganze habe zwei Stunden gedauert, Vor allem in den zahlreichen Bordellen, die gleich um die Ecke bei einem Italiener notierten die Fahnder, die Frau habe ge- die von Polizeifahndern wegen der Her- essen und ihre Geschäfte erledigen. Teure weint und in ihrer Not immer wieder nach kunft der Betreiber und ihrer Kundschaft Mercedes-Limousinen, Coupés und Cabri- der Gehilfin des Vergewaltigers gerufen. schlicht als „Türkenpuffs“ bezeichnet wer- os vor der Tür, ihre Handys auf dem Tisch, Die Ermittlungen gegen die Mannhei- den, ackern fast nur noch Ost-Huren im die pausenlos fiepen. mer Angeklagten führte eine Frau: die Akkord (siehe Kasten Seite 106). Bis zu 20 „Da kommt Frust auf“, gesteht ein Re- Kriminalkommissarin Gabi Schell, 37. Freier ertragen sie pro Schicht. Frauen, die vierfahnder. „Nicht einmal mit Telefon- Während ihrer Recherchen sei sie man- überwachung“ sei den Bordelliers beizu- ches Mal den Tränen nahe gewesen, ge- Deutsche Zuhälter raunen mit kommen. „Die Zuhälter wissen, was läuft, steht die Kriminalistin, besonders bei ei- übers Handy sagen die nix.“ nem der Opfer, das von der angeklagten gewissem Neid vom Jede Rotlichtrazzia, jede Festnahme, Bande eine Woche lang wieder und wieder Reichtum der Türkenbordelle jeder gesprengte Händlerring macht die vergewaltigt wurde. Szene für die OK-Ermittler zudem meist Die meisten Kunden der Frauen, so ihre Kunden nicht binnen 15 Minuten ab- noch unübersichtlicher, als sie ohnehin Schell, „wußten über alles Bescheid“. Für gefertigt haben, müssen in manchen der schon ist. den Mannheimer Prozeß wurden erstmals Häuser Zeitstrafe zahlen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Groß- auch 80 der Freier vernommen. „Ohne Die Huren, die dort arbeiten, gelten in stadtreviere halbwegs säuberlich unter die“, sagt Schell, „würde das Geschäft gar der Szene als „abgeritten“. Die meisten deutschen Zuhältern aufgeteilt waren. nicht laufen.“ Obwohl sie vom Leid der sind zwischen 30 und 40 Jahren alt und Schon Ende der achtziger Jahre gingen die Frauen wußten, kam keiner auf die Idee, werden gehalten wie Gefangene, einge- einträglichen Claims der Sexbranche an zur Polizei zu gehen. Schell: „Die hätten sperrt im schmierigen Plüsch von Zim- Albaner, Türken und später an russische sich damit selbst bloßgestellt. Ein sozial- mern, in denen sie nicht nur ihre Kunden Banden über. Heute bekämpfen sich in demokratischer Ausländerbeauftragter befriedigen, sondern auch wohnen und den Rotlichtvierteln von Frankfurt, Ham- aus Rheinland-Pfalz war dabei und auch schlafen müssen. burg und Berlin Clans und Banden von ein ehemaliger Stadtrat von den Republi- Berüchtigt sind Etablissements nördlich Kosovo-Albanern, Kurden, Russen und kanern.“ der Hamburger Reeperbahn wie der „Club Armeniern, die nicht einmal vor Mord Die Hoffnung, die Geschäfte der Men- 77“. „Da traut sich kein Deutscher rein“, zurückschrecken, um ihren Einfluß zu schenhändler ernsthaft stören zu können, sagen deutsche Zuhälter, die mit einem ge- vergrößern. haben die meisten bundesdeutschen Er- wissen Neid vom sagenhaften Reichtum Am heftigsten tobt der Kiezkrieg um mittler längst aufgegeben. Wo immer sie der Betreiber raunen. Import-Huren in Hamburg-St. Pauli. Jüng- Zuhälter oder Schlepper zu fassen bekä- Trotz mehrerer Schießereien rivalisie- ster Höhepunkt: eine wüste Schießerei men, so ein für Organisierte Kriminalität render Ausländerbanden im und um den zwischen Albanern, Türken und Deutschen (OK) zuständiger Fahnder, tauche an der Club ist es der Polizei bislang nicht gelun- in der Bordellbar „Blue Night“, bei der nächsten Ecke eine neue Bande auf, be- gen, den Betreibern das Handwerk zu le- Anfang November vergangenen Jahres der

104 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft „Du mußt eine starke Hand beweisen“ Interview mit dem polnischen Zuhälter Piotr Ruso¬, der sich in Stettin wegen Anstiftung zur Prostitution und Frauenhandels in über 80 Fällen verantworten muß.

Piotr Ruso¬, 27, sitzt seit Herbst 1995 im gewaltigt und ihnen das Geld abge- RUSO÷: Nicht alles, die Hälfte durften sie Untersuchungsgefängnis in Stettin. An- nommen. behalten. Von meinem Anteil habe ich gefangen hat der ehemalige Soldat als RUSO÷: Die Mädchen, die das behaupten, die Unterbringung, Telefon und Kleider kleiner Lude mit drei Prostituierten in haben wohl Gründe, alles zu verdrehen. bezahlt. dem Provinzstädtchen Nowogard nahe Die sind inzwischen verheiratet und SPIEGEL: Für die polnische Polizei sind der deutsch-polnischen Grenze. Zu- haben Kinder. Die sagen das nur, um Sie schlicht einer der größten Frauen- sammen mit neun Komplizen soll er ihre Vergangenheit gegenüber der Fa- händler des Landes. für mehr als 500 Fälle von Men- milie und den Nachbarn schönzureden. RUSO÷: Die Behörden sind vielleicht nur schenhandel mit Prostituierten zwi- SPIEGEL: Über 80 Frauen, die alle die deshalb so hinter mir her, weil ich die schen Osteuropa, Deutschland und gleiche Lüge erzählt haben? Frauen ins Ausland vermittelt habe.An der Schweiz verantwortlich sein. die Prostitution hier in Polen Im laufenden Prozeß vor einem trauen sich Polizei und Gerichte Stettiner Gericht und gegenüber ja nicht heran. Aber wenn die spiegel tv stellt er seine Ge- Mädchen in Deutschland und an- schäfte heute als „normalen Job“ deren Ländern arbeiten, dann dar. wird eine große Sache daraus gemacht. SPIEGEL: Herr Ruso¬, nach Re- SPIEGEL: Haben Sie sich über- cherchen der Polizei haben Sie haupt darum gekümmert, wie seit 1992 Hunderte Frauen in Po- Ihre Opfer in den deutschen Tür- len als Prostituierte angeworben, kenbordellen behandelt wurden? ihnen falsche Versprechungen RUSO÷: Ich habe fast alles hier von gemacht und sie zur Arbeit in Stettin aus geregelt, per Telefon. deutsche Bordelle verschickt. Schließlich habe ich hier zwei Woher nehmen Sie die Über- Kinder und meine Freundin. zeugung, ein ehrbarer Kaufmann Aber mit den Türken, welche die zu sein? Berliner Häuser geleitet haben, RUSO÷: Ein Frauenhändler bin ich hatten die Frauen und ich ein jedenfalls nicht, mehr ein Mana- sehr gutes Verhältnis.Wir waren

ger, ein Vermittler. Die ersten SPIEGEL TV alle eine Familie. Jedes der Frauen, mit denen ich vor eini- Zuhälter Ruso¬: „Wir waren alle eine Familie“ Mädchen hat seine Arbeitszeit gen Jahren angefangen habe, wa- selbst bestimmt. Sie durften auch ren gute Bekannte von mir. Die wollten RUSO÷: Einige wollen sich wohl auch Freier mit extremen Sonderwünschen Geld verdienen im Westen. Und ich rächen, weil ich sie rausgeschmissen ablehnen. Ein Anruf genügte, und ich habe es ihnen mit meinen Kontakten habe. Ich habe niemals Gewalt ange- habe immer eine andere gefunden, die ermöglicht. wendet, keines der Mädchen ist verge- den Job gern erledigte. Auch Frauen SPIEGEL: Daraus scheint ein lukratives waltigt oder zur Arbeit gezwungen haben ja ihre Vorlieben. Geschäft geworden zu sein. Zuletzt ha- worden. Das ginge auch gar nicht. Die SPIEGEL: Ganz so familiär kann es wohl ben Sie immerhin vier Bordelle allein Mädels müssen schließlich bei Laune doch nicht zugegangen sein. Immerhin in Berlin beliefert. Für 500 bis 3000 gehalten werden. Wenn man da Druck haben sich Dutzende Ihrer ehemaligen Mark sollen Sie zudem Frauen bis in ausübt, schlägt das sofort auf die Stim- Prostituierten gefunden, um in den die Schweiz verkauft haben. mung, und die ist wichtig fürs Geschäft. nächsten Wochen vor Gericht gegen RUSO÷: Das mit dem Verkaufen ist Un- Nur bei einer Sache habe ich immer Sie auszusagen. sinn. Alle Mitarbeiter in den Agen- hart durchgegriffen: Alkohol und Dro- RUSO÷: Diese Sorte Frauen kenne ich turen, das Wort ist mir lieber als „Bor- gen waren tabu. Da mußt du eine star- genau. In Berlin kam so eine mal be- dell“, waren Angestellte von mir. Hät- ke Hand beweisen. trunken in mein Zimmer, morgens um te ich Frauen verkauft, dann hätte SPIEGEL: Der Zuhälter als fürsorglicher vier. Sie wollte zur Polizei, mich an- ich mich ja selbst bezahlen müssen. Saubermann? zeigen, weil ich die Mädchen verkau- Außerdem: Schauen Sie mich an, ich RUSO÷: Wissen Sie, viele polnische Frau- fen und nach Deutschland verschlep- bin kein reicher Mann, ich habe nicht en sind völlig verkommen. Die denken, pen würde. Da habe ich sie rausge- mal genug Geld, um mir einen Anwalt in Polen kann man nicht ordentlich ar- schmissen und nach Polen geschickt. zu leisten. beiten, dabei gibt es hier genug Mög- Wenig später wollte sie wieder in der SPIEGEL: Die Frauen, die bei der Staats- lichkeiten, sein Geld zu verdienen. Agentur anfangen, weil zu Hause das anwaltschaft gegen Sie ausgesagt ha- Aber die Mädchen wollen nur noch Geld nicht reichte. Natürlich glaubt ben, haben andere Erinnerungen. Sie Spaß und Luxus. Alkohol, Drogen und mir das keiner. Die wollen mir unbe- sagen, Sie hätten sie an Türkenbordel- das schnelle Geld machen sie faul. dingt was anhaben. Aber ich schwöre, le verkauft, sie gemeinsam mit den In- SPIEGEL: Deshalb haben Sie Ihren Hu- das ist die Wahrheit, beim Leben mei- habern zum Sex gezwungen, sie ver- ren das Geld abgenommen? ner Kinder.

106 der spiegel 4/1997 Handel mit Frauen aus der ehemaligen – sofortige Abschiebung, um im Prozeß Sowjetunion. Und der, so glauben Exper- eine Aussage der Opfer zu ermöglichen. ten, wird maßgeblich gesteuert von der Denn die wenigsten der Frauen, so die Er- Russenmafia, in deren Reihen Ex-Mitglie- fahrung der Staatsanwälte, kehren später der des damaligen sowjetischen Geheim- noch einmal zurück, um vor Richtern und dienstes KGB ein neues Betätigungsfeld Publikum ihre Leiden zu schildern. fanden. Die einzige Hoffnung im Kampf gegen Fälle wie dieser erleichtern es Händlern die Menschenhändler, so glaubt Willi Flor- und Luden, bei ihren Opfern Angst zu mann, OK-Cheffahnder in Münster, sei die

PANORAMA / ARD PANORAMA schüren und die Mädchen glauben zu ma- Aufklärung, die zurückkehrende Huren in Ex-Prostituierte Angelika chen, daß deutsche Polizeibeamte durch- ihren Heimatländern betreiben. In Polen Leichen im Wald weg ebenso korrupt seien wie die in ihrer etwa fänden sich selbst in Provinzstädten Heimat. Darüber hinaus filmen sie ihre „immer weniger Dummerchen“, die auf Türke Ünal Bal und der deutsche Zuhälter Opfer häufig beim Sex mit Freiern und Versprechungen der Schlepper hereinfal- Volker Lüben ums Leben kamen. Die Hin- drohen, die Filme und Fotos an die Eltern len. „Das Wissen und das Selbstbewußtsein tergründe der Bluttat blieben im dunkeln. und Verwandten daheim zu schicken. der Frauen steigt“, meint Flormann. Die Brutalität wird angeheizt durch die Um das Schweigen aus Angst vor Gewalt Im Frauengefängnis Kamién Pomorski immensen Profite, die das Sexgeschäft ab- und Schande zu durchbrechen, setzt die bei Stettin sitzt Angelika, 18 Jahre jung, wirft. In Neubrandenburg etwa hoben OK- Polizei immer häufiger auf kostspielige die sich nach den Ermittlungen der Polizei Fahnder im August vergangenen Jahres Zeugenschutzprogramme, mit denen aus- selbst verschaffte, was sie für Gerechtigkeit eine Bande von Mädchenhändlern und sagewillige Frauen bis zur Verhandlung ge- hielt. In einem von Russen kontrollierten Zuhältern aus, die jahrelang mit zahlrei- gen Schlepper und Zuhälter abtauchen Billigpuff in Hamburg hatte sie sich mo- chen Bordellen und Clubs unter anderem können (siehe Kasten Seite 100). natelang schänden lassen müssen. in Stralsund Millionen verdient hatten. Doch die Innenministerien vieler Bun- Um zu entkommen, täuscht Angelika Allein bei der Durchsuchung des „Clubs desländer verlangen von ihren Polizisten schließlich eine Schwangerschaft vor und Waldesruh“ bei Neubrandenburg, der vom den Nachweis, daß es sich bei den Tätern fährt, angeblich zur Abtreibung, nach Po- Kopf der Bande, einem 39jährigen Ham- um Mitglieder des organisierten Verbre- len. Um sie zurückzuholen, schicken ihre burger, betrieben wurde, stießen die Er- chens handelt, bevor sie den kostspieligen Zuhälter zwei Wolgadeutsche von Ham- mittler auf ein ganzes Waffenlager und Zeugenschutz genehmigen. Eine neue, burg nach Polen. Doch die junge Frau legt mehrere zehntausend Mark in bar. In den Büros des Bordellchefs und elf weiterer Mittäter entdeckten die Beamten schließlich Unterlagen über Einnahmen von rund 40 Millionen Mark. Mit dem Geld, so die Fahnder, wollte die Bande ganz legal in seriösere Geschäfte einstei- gen. Geplant waren Ferienanlagen an der Ostseeküste, auch die Entwürfe für ein lu- xuriöses Wohn- und Geschäftshaus in der Rostocker Innenstadt lagen bereits vor. Bei solchem Reichtum können sich die Gangster auch den einen oder anderen Staatsdiener leisten, der ihnen hilfreich zur Seite steht. Siegfried Schmidt, Chef des Dezernats für Organisierte Kriminalität in Frankfurt (Oder), hatte jahrelang nur Erfolge. Immer wieder schaffte er es, illegale Bordelle aus- zuheben, Zuhälter und Schlepper hinter Gitter zu bringen. Im Sommer des vergangenen Jahres en- dete seine Glückssträhne. Eine Prostitu-

ierte hatte Fahndern über intensive Kon- / BILDERBERG M. HORACEK takte des Kriminalbeamten Schmidt zum Prostituierte in Frankfurt: „Die Schutzlosigkeit der Opfer ist der beste Täterschutz“ Rotlichtkönig Peter Ruhlmann berichtet. Die Erfolge des Hauptkommissars ge- bundeseinheitliche Regelung für den Op- die beiden Männer herein. Sie macht ihnen gen die Unterwelt, so fanden dessen Kol- ferschutz, kritisiert das Innenministerium weis, sie wolle freiwillig zurückkommen. legen heraus, waren meist auf Tips seines in Rheinland-Pfalz, sei deshalb dringend Beim Treffen füllt sie die beiden mit Alko- Kumpans Ruhlmann zurückzuführen. So erforderlich. hol und Drogen ab.Wochen später werden konnte dieser zum Bordellkönig von Ost- Die SPD-Europaabgeordnete Karin Jun- die Leichen der Kriminellen in einem nahe brandenburg werden. Schmidt wurde ker fordert zudem ein begrenztes Auf- gelegenen Waldstück gefunden. dafür, so die Ermittlungen, mit Gratis- enthaltsrecht für die Opfer von Menschen- Angelika hat sich, unter Mithilfe eines diensten von Prostituierten entlohnt. händlern, die häufig gegen ihren Willen be- polnischen Freundes, für ihre monatelan- Zum Politskandal wuchs die Affäre, als reits kurz nach der Ergreifung durch die gen Leiden im Hamburger Bordell bitter bekannt wurde, daß Schmidt alias „KGB- Polizei in die Heimat abgeschoben würden. gerächt: Laut Anklage zertrümmerten die Siggi“ in der einstigen Bezirksbehörde der Diese „Schutzlosigkeit der Opfer“ sei zu- beiden mit einem Hammer die Schädel der Volkspolizei der DDR als Verbindungsof- gleich „der beste Täterschutz“. schlafenden Männer und schnürten ihnen fizier zum KGB tätig war. Damit konnte Das Problem ist den Behörden bekannt. die Kehlen mit einem Elektrokabel zu. Schmidt auf Kontakte aus alten Zeiten Städte wie Berlin, Frankfurt oder Ham- Anschließend zog Angelika ihnen zur Si- bauen: Ruhlmanns Bordell in Frankfurt burg verzichten deshalb in Einzelfällen cherheit auch noch luftdichte Plastiktüten (Oder) galt als Umschlagplatz für den schon auf die – rechtlich vorgeschriebene über die Köpfe. ™

der spiegel 4/1997 107 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft „Jeder kann an Land bauen, aber nicht Weitere Attraktionen sind Modelle der TOURISMUS in der See. Das ist das Besondere.“ Brooklyn Bridge und der Freiheitsstatue. Sohoglu ist überzeugt von der Standort- Die Scheinwelt namens „New York New lösung. Martin gibt sich etwas zurückhal- York Hotel & Casino“ bietet 2035 Zim- Wüste Paläste tender: „Die Konstruktion der Insel ist mer, 2400 Spielautomaten und Boden- eine der größten Herausforderungen. Der beläge „im Design einer authentischen Rekordjagd der Hotelplaner – Kunde wollte es so.“ Doch glaubt auch New Yorker Straße“. Und eine Kopie von auf einer künstlichen Insel der Baumanager, daß das Objekt in der Little Italy soll „ethnisches Flair“ in die See ein besseres Wahrzeichen abgibt als Wüste von Nevada bringen. vor dem Golfstaat Dubai entsteht im drögen Wüstensand des arabischen Ziemlich verwegen wirkt der Versuch, das höchste Hotel der Emirats. mit einer 100 Stundenkilometer schnellen Welt. Kategorie: sieben Sterne. Vorangetrieben wird das Multimillio- Loopingbahn „die Nostalgie von Coney nenprojekt von Dubais Regierung: ein Island“ einzufangen. Der 745-Millionen- ail Sohoglu, 50, findet nur Superla- kraftmeierisches Symbol. Mehrmals hat Mark-Koloß ist das zweite Hotel in der tive, wenn er seine Arbeitsstätte be- das Scheichtum die Investitionssumme auf- Spielerstadt, das mit einer Achterbahn Be- Nschreibt. Ganz einzigartig sei das, gestockt. „Dies ist kein Prestigeprojekt für sucher ködert. Auch um die Außenwand was da vor Dubais Küste im Persischen die Regierung. Die gesamte arabische Welt des „Stratosphere Tower“, 280 Meter über Golf wachse, schwärmt der Hoteldirektor. wird davon profitieren“, behauptet dage- der Erde, schießt ein Gefährt. Eine Herberge „für Staatsoberhäupter und gen Sohoglu. Noch bizarrer sind Erlebnislandschaf- Royalties“, ein Luxus-Logis „für die Elite Umgerechnet etwa 2700 Mark wird die ten, wie sie die Rekordjagd in Malaysia der Welt“. Projektleiter Stephen Martin Übernachtung in dem Luxushotel kosten. entstehen ließ. Im jüngst eröffneten „Sun- sieht die Sache nüchterner: „Es ist der Das segelförmige Gebilde umfaßt 200 dop- way Lagoon Resort“ nahe Kuala Lumpur Traum aller Architekten und der Alptraum pelstöckige Suiten mit bis zu 560 Qua- geht im Juni der weltweit größte „Surf- jedes Ingenieurs.“ dratmetern. Einige bieten Sauna, Bücherei Wave Pool“ in Betrieb. Auf über 10000 15 Minuten von Dubais Kamelrennbahn und Billardzimmer. Im Service inbegriffen Quadratmetern toben Zweimeterwellen, und 280 Meter vom Festland entfernt ist ein Butler für jeden Gast. Der Flug- brodeln Vulkane, rauschen Wasserfälle.Al- entsteht ein Bauwerk babylonischer Di- hafentransfer erfolgt mit der Limousine les gesäumt von einem 170 Meter langen mension. Auf einem eigens angelegten Ei- über eine Brücke – oder per Helikopter. Sandstrand. Und alles echt künstlich. land soll das „Chicago Beach Tower Hotel“ Gelandet wird auf der Hotelplattform in Selbst in der Nacht erlischt der schöne 321 Meter aus dem Meer ragen – und da- 212 Meter Höhe. Jacht-Reisende legen am Schein nicht: Star-Imitationen krakeelen mit den Eiffelturm ganz knapp übertreffen. Steg des künstlichen Strandes an. in Karaokezimmern, Partygäste tanzen im Bei der Eröffnung 1998 wird es das höch- Ob sich die Edelherberge, vollmundig „europäischen Opernballsaal“. ste Hotel der Erde sein. als „Sieben-Sterne-Hotel“ gepriesen, ren- Auch hierzulande offeriert man Gipfel- An dem Rekord werkeln 4000 Arbeiter, tieren wird, bleibt fraglich. Doch auch an leistungen. „Schwelgen Sie in totalem vergleichbar mit Europas größter Bau- Großprojekten für Massentouristen ist der- Luxus“, fordert das Berliner „Schloßhotel gruft, dem Potsdamer Platz in Berlin. Neun zeit weltweit kein Mangel. Vier Jahreszeiten“ potentielle Gäste auf. Monate lang waren Wasserpumpen im Ein- So können im amerikanischen Las Vegas Im „exklusivsten Arrangement der Welt“ satz, um Ausschachtung und Fundament Freunde von Kitsch und Künstlichkeit seit sind unter anderem Stadtbesichtigung per zu ermöglichen. Eineinhalb Meter dicke Anfang Januar ab 138 Mark in einer Imita- Hubschrauber und „zarte Violinenklänge Träger wurden 45 Meter tief in den Mee- tion der New Yorker Skyline nächtigen: bei einem romantischen Diner auf einer resgrund gerammt. Tag für Tag liefern 30 Zwölf Wolkenkratzer wurden dort nachge- Yacht“ enthalten. Zwei Nächte für zwei Schiffscontainer neues Baumaterial. baut, darunter das Empire State Building. Personen kosten 20000 Mark. ™

„Chicago Beach Tower Hotel“ vor der Küste von Dubai (Simulation): „Für die Elite der Welt“

110 der spiegel 4/1997 pen hast du zu Hause?“ Denn Bächlin hat bei übergewichtigen Mädchen einen ver- blüffenden Zusammenhang festgestellt: Je größer die Anzahl der Barbie-Pup- pen im Kinderzimmer, desto größer der Unterschied zwischen Selbstbild,Wunsch- bild und Realität. Eine Neunjährige mit 53 Prozent Übergewicht skizziert im Diät-Se- minar ihre Traumvorstellung vom eigenen Körper – sie sieht aus wie eine Bohnen- stange. Eine knapp zehnjährige Teilneh- merin mit 82 Prozent Übergewicht, deren Lieblingsspielzeug die abgezehrte Minia- turblondine ist, zeichnet sich als Barbies Ebenbild: längere Haare, lange Beine, aus- gehungerter Bauch, spindeldürre Arme. Zu Hause hat das Mädchen 25 Barbies. Insgesamt nimmt die Zahl der dicken Kinder erschreckend zu. Wie Reihen- untersuchungen an deutschen Schulkin-

A. FRAJNDLICH FOCUS / AGENTUR dern ergaben, sind schon 13 Prozent der Übergewichtige Kinder: Spott der Geschwister, Demütigungen beim Kleiderkauf 6- bis 10jährigen stark übergewichtig; nach den Allergien ist das Übergewicht bei „Jemandem, der dick ist, billigt man 13jährigen der zweithäufigste Gesund- ERNÄHRUNG keine Not zu“, sagt Psychologe Bächlin. heitsmangel (siehe spiegel 49/1996). Der Zu den Alltagssorgen von pummeligen größte Teil der dicken Kinder wird al- Kleinen gehören der Spott von Geschwi- lerdings weder ärztlich behandelt noch Klub der stern und Klassenkameraden sowie De- psychologisch betreut. mütigungen beim Kleiderkauf oder beim Zur einjährigen Eßschulung gehört auch Sportunterricht. Besonders Mädchen ha- die Mitarbeit der Eltern. Im Kochkurs des dicken Kinder ben Angst, wegen ihres rundlichen Äuße- „Diät Clubs“ lernen Eltern und Kinder ren keinen Partner zu finden. Obwohl es gemeinsam, wie sie sich sinnvoll ernähren Durch Verhaltenstraining laut Statistik fast ebenso viele dicke können. Vater und Mutter des überge- lernen übergewichtige Jugendliche Mädchen wie dicke Jungen gibt, sind wichtigen Kindes müssen sich für minde- mehr als drei Viertel der Teilnehmer an stens ein Jahr verpflichten, zu Hause kla- in einem Baseler „Diät Club“ Bächlins Abnehmprogrammen für Teen- re Eßregeln einzuhalten. Zu den wichtig- ihre familiären Probleme besser ager weiblich. sten Geboten gehören: zu verdauen. Bächlin, der sich an Baseler Schulen um π Fett- und Zuckerreduktion, Gesundheitsvorsorge kümmert, begann π am Tisch essen, nicht vor dem Fernseher, arald Schmidt, schlaksiger Star-En- 1979 mit seinem Verhaltens- π alle schöpfen selbst aus tertainer im Dienst von Sat 1, treibt training. Nicht Abnehmen ist der Schüssel, Hgern derbe Späße mit den Proble- das vorrangige Ziel, sondern π drei Haupt- und drei Ne- men übergewichtiger Kinder. „Mama, ’s zunächst die Problemerken- benmahlzeiten, Sülze hat so Stöcke“, quäken die „dicken nung. Die meisten dicken Ju- π Rituale wie Beten, Sin- Kinder von Landau“ in seiner Show, und gendlichen leiden still unter gen oder Gong vor dem die Fans lachen sich schlapp. Guido und ihrem Übergewicht. Kein Essen, Ronnie, Hauptdarsteller des frei erfunde- Teilnehmer des „Diät Club π wöchentliche Kontrolle nen Fett-Films, bringen dringende Er- Castelmont“ will sich foto- des Gewichts, nährungsanliegen zur Sprache: „Mama, ’s grafieren lassen, keiner will π keine Belohnung für das Kaba klumpt!“, „Mama, ’s Lasagne hat zitiert werden. Es hat sie Abnehmen. kein’ Becher Mehl!“ oder „Mama, ’s Jog- große Überwindung geko- Alleinerziehende Mütter gingbrot is’ weggelaufen!“ stet, überhaupt eine Thera- mit Söhnen oder Mädchen, Andres Bächlin, 54, Gruppentherapeut pie zu beginnen. Kinder, die deren Väter die Familie ver- und Kinderarzt mit Spezialgebiet Überge- älter sind als zehn Jahre lassen haben, sind typische wicht, schlägt Schmidts Humor auf den und dicker, als es gesund ist, Teilnehmer der Therapie. Magen. Der Schweizer Schularzt betreut können teilnehmen. Problematisch sind aber im Baseler „Diät Club Castelmont“ dicke „Es geht nicht um das Ge- auch Familien mit traditio- Kinder, und in der Realität ist Fettleibigkeit wicht, sondern um das Kör- nellen Rollenverteilungen weit weniger witzig als im Fernsehen. perbefinden“, sagt Andres am Eßtisch. Wie soll der Als Bächlin während eines Ferienlagers Bächlin. Denn das Minder- Sohn verstehen, daß die mit übergewichtigen Kindern in den Al- wertigkeitsgefühl, das dicke Größe der Portionen nichts pen bei Davos eine Wanderung unter- Kinder mit sich herum- mit Macht zu tun hat, wenn nahm, erzählte ihm ein Junge vom Tod schleppten, wiege oft schwe- die Mutter dem Vater aus seines Vaters. Der Papa, auch stark über- rer als die vielen Kilos. Prinzip den größten Fleisch- gewichtig, war vor den Augen des Kindes Wenn der Therapeut her- berg auf den Teller häuft? tot umgefallen – ebenfalls beim Wandern. ausfinden will, wie sehr die Selbstbedienung am Eßtisch Zu den häufigsten Auslösern von Über- Körperform des Betroffenen sei gleichbedeutend mit gewicht bei Kindern zählen einschnei- von dessen Wunschvorstel- Selbstbestimmung – und die, dende Ereignisse wie Schulwechsel, Tren- lung abweicht, stellt er den so Bächlin, sei „der Schlüs- nung der Eltern, Unfälle, Operationen Mädchen seine Standardfra- sel zu einem vernünftigen oder Tod nahestehender Personen. ge: „Wie viele Barbie-Pup- Kinderzeichnungen Eßverhalten“. ™

der spiegel 4/1997 111 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft „Der Mond ist aufgegangen“. Die gute Die Hauser-Geschichte, so stellt sich her- STARS Mondin deckt so endgültig das böse Mond- aus, ist ein fieses Komplott, geschmiedet gesicht „Fitz“ ab. So sieht hierzulande also von ehrpusseligen Großeltern, welche einst das Fernsehen die Psychologin: als müt- die leicht geistig behinderte Uma als un- Böser Mond und terliche Not-Helferin, wenn Polizisten eheliche Tochter einer 13jährigen und eines nichts zu ballern haben. doppelt so alten Mannes in die brutale Dabei ist das ZDF-Spiel keineswegs Pflege gegeben hatten. gute Mondin zahm oder zimperlich. Gezeigt wird das Der Zuschauer wohnt in diesem Film, Schicksal eines weiblichen Kaspar Hauser. den der amerikanische TV-Autor Steve Martina Gedeck, hoch gelobt für Das sprachunkundige Kind, das wegen sei- Brown („Columbo“) geschrieben und der Kino- und Fernsehrollen, nes immerzu gestammelten „Uma, Uma“ Berliner Regie-Profi und Grimme-Preisträ- auch so mit Namen genannt wird, hat ein ger Konrad Sabrautzky inszeniert hat, ei- spielt diesen Samstag im ZDF schreckliches Schicksal hinter sich.Von ei- nem klassischen „Whodunit“ bei, einer „Die Kriminalpsychologin“. ner bösen Ziehmutter, die erstochen auf- Suche nach dem Täter, aber nicht nach Mo- Ein weiblicher „Fitz“? gefunden wird, ist das Mädchen wie ein tiven – da schrumpft das Terrain für die Tier und isoliert von der Umwelt großge- Psychologin auf das Zeigen von Fürsorg- ie Figur des grimmigen Seelendok- zogen worden. lichkeit zusammen. tors – der Krimizuschauer kann sie In dem einsamen Haus finden die Psy- Martina Gedeck, derzeit Shooting-Star Dnicht vergessen. Sie rumort noch chologin und der ermittelnde Kommissar der deutschen Kinokomödie („Stadtge- in den Tiefen des flüchtigen TV-Gedächt- die Folterwerkzeuge, mit denen Uma ge- spräch“, „Rossini“) und Darstellerin der nisses, eine Ahnung vom Himmel großer quält wurde: ein Stuhl mit Exkrementen- Lea Katz, leidet sichtbar unter dem Man- Fernsehkunst, der eine perfekte Hölle war. schüssel, auf dem das Kind den Tag ver- gel an Dimensionen: Ihr fehlt in der „Kri- Die Rede ist von „Fitz“, dem von Rob- bringen mußte, ein Bett mit Fesselvorrich- minalpsychologin“ das böse Gegenüber, bie Coltrane verkörperten schweren Hel- tungen für die Nacht. das Abseitige. den der famosen englischen Se- Die perverse Ziehmutter ist rie, diesem Caliban in den So- tot – an wem soll die Gedeck zialwüsten von Manchester. ihre darstellerischen Fähigkei- „Für alle Fälle Fitz“ war ein ten auslassen? Sie, die einst als Fernseh-Höhepunkt des vergan- bucklige Hoferbin „Hölleisen- genen Jahres, vor allem aber gretl“ zwischen Stolz, Haß, Lie- eine schwarze Messe mit gesto- be und Verzweiflung aufs irri- chen scharfen Dialogen und ei- tierendste hin und her springen ner zutiefst pessimistischen Bot- durfte, muß sich also an deut- schaft: Die Polizei samt ihrem scher Sozialtherapeutenmenta- Psychojäger ist nur wenig besser lität abarbeiten: bloß noch als die Verbrecher, die kleine gußeiserne Gretl ohne Hölle. Differenz hat eigentlich den Na- „Fitz“, den Grobian, hatte das men Moral nicht verdient. Buch in eine Kollegenschar vol- Wenn die promovierte „Kri- ler spannender Konstellationen minalpsychologin“ Lea Katz auf gestellt. Für die liebe Lea blei- dem Bildschirm erscheint – an ben nur eine fades Techtel- diesem Samstag um 20.15 Uhr mechtel mit dem Kollegen (Tho- im ZDF –, kann man schon nach mas Anzenhofer) und eine ver- wenigen Szenen bemerken, wie korkste Beziehung zu ihrem fern die perfide Welt des briti- vielweiberischen Ex-Mann.

schen Albion ist. ZDF FOTOS: Der Star Gedeck hat keine „Ich bin nicht von der Polizei. Coltrane als Psychologe „Fitz“: Caliban in der Sozialwüste allzu guten Drehbuchsterne. Ich bin Ärztin. Du brauchst kei- Doch das ZDF-Stück geht nicht ne Angst zu haben“, lautet das vollständig unter: Die 13jährige sozialtherapeutische Fürchte- Luise Helm spielt die Kaspar dich-nicht, mit dem sich die Berli- Hauserin Uma hinreißend ner Psychologin Katz einem blut- glaubhaft, verschreckt und lin- verschmierten, mit einem Messer kisch, mit einer Aura der Un- bewaffneten Mädchen nähert. nahbarkeit. Die Polizei hat die Seelenhel- Sind die Gene oder Familie ferin kommen lassen – verstörte und Gesellschaft dafür verant- Kinder, die sich in einem Klo wortlich, daß jemand zum Ver- verbarrikadieren, sind Frauen- brecher wird? fragt sich Lea in sache. Außerdem, so stellt sich einer Szene, als sie vor Studen- später heraus, hat der dienst- ten doziert. Bei solcher Alterna- tuende Kommissar an der schö- tive gibt es keine Freiheit, also nen Lea bei einem früheren Ein- kein Böses, nur Opfer. satz Feuer gefangen. Folgerichtig sind in deut- Wie vorauszusehen, tut die schen Fernsehlanden, wo man Psychologin ihr mildtätiges mit den Seelenabgründen von Werk. Die deutsche Seelendame Schurken seit je ungern Um- – das Kind im Arm – singt, was gang pflegt, am Ende die Opfer deutsche Menschen so singen, schauspielerisch die Sieger. wenn sie Kinder beruhigen: Psychologen mit investigativem Mumm müssen nach England * Mit Thomas Anzenhofer. Psycho-Darstellerin Gedeck*: Deutsche Seelendame auswandern. ™

114 der spiegel 4/1997 Panorama Ausland

USA Suche nach neuen Gegnern m US-Verteidigungsministerium stehen ger als während der Hochrüstung unter IBedrohungsszenarien derzeit hoch im Präsident Ronald Reagan. Clintons Haus- Kurs. Um möglichen Haushaltskürzungen haltsdirektor Franklin Raines versicherte vorzubeugen, haben die Militärs Wissen- dennoch den Militärs: „Wir werden eure schaftler beauftragt, die Gegner von mor- Kaufkraft erhalten.“ Doch die wollen ihr gen zu identifizieren. So rät eine Geheim- Budget sogar verdoppeln. Luftwaffenstabs- studie der Luftwaffenuniversität auf der chef General Ronald Fogleman sieht dafür Maxwell Air Force Base, gegen eine neue derzeit gute Chancen: „Macht euch keine

REUTERS asiatische Supermacht mit dem Code- Sorgen um den Haushalt“, versicherte er Mandela namen „Khan“ aufzurüsten. Der Entwurf, unlängst ranghohen Stabsoffizieren, „der der derzeit in Führungskreisen der Luft- Kongreß ist uns freundlich gesinnt.“ SÜDAFRIKA waffe zirkuliert, warnt kaum verklausuliert vor einem China, das schon in der zweiten Zielgeräte für Syrien? Dekade des kommenden Jahrtausends mi- litärisch mit den USA gleichgezogen haben räsident Nelson Mandela hat den Ver- könnte. Eine andere Studie empfiehlt der Psuch der Regierung in Washington, ei- westlichen Vormacht, sich für „Gullivers nen geplanten Waffendeal Südafrikas mit Reisen“ zu wappnen. In diesem Szenario Syrien zu stoppen, als Angriff auf die Sou- müssen die USA rund um den Globus re- veränität seines Landes gerügt: „Die Fein- gionale Brandherde löschen. Damit die GIs de der westlichen Länder sind nicht unse- schneller reisen als Jonathan Swifts Ro- re Feinde“, grollte Mandela. Die US-Re- manheld, entwickelt der Rüstungsgigant gierung, die Syrien zu den terroristischen Lockheed Martin im Pentagon-Auftrag Staaten zählt, hatte damit gedroht, Hilfs- bereits ein „außeratmosphärisches Fahr- gelder in Höhe von 170 Millionen Mark zeug“, einen Weltraumrenner, der Ein- einzufrieren, falls Südafrika Feuerleitsy- greiftruppen in entlegenste Weltregionen steme und Laser zur Zielbeleuchtung für transportieren soll. Die Studien sollen Panzer an den Erzfeind Israels verkaufen Argumente liefern beim Kampf um die

sollte. Für Mandela gehört Syrien neben Verteilung von 260 Milliarden Verteidi- FOCUS / AGENTUR D. BURNETT / CONTACT Kuba und Libyen jedoch zu den Verbün- gungsdollar. Das ist nur ein Viertel weni- Pentagon in Washington deten, die seiner Befreiungsbewegung in ihrem langen Kampf gegen das Apartheid- Regime geholfen haben. Wichtiger noch FRANKREICH ka verstimmt. Als Pariser US-Diplomaten als alte Freundschaften ist der Wert der nach Hause meldeten, Chirac wolle sein syrischen Bestellung: etwa eine Milliarde Feind Amerikas Kabinett umbilden, geriet de Charette Mark. Vermittelt hat den Deal der staatli- prompt unter Beschuß. Der Sprecher des che Konzern Armscor, der in den siebziger er Clinton-Regierung und insbeson- State Department, Nicolas Burns, nannte und achtziger Jahren eng mit Israel zu- Ddere dem wohl künftigen US-Bot- den Franzosen „flegelhaft“. Die Hoffnung sammenarbeitete. Auch die jetzt so um- schafter in Bonn, John Kornblum, ist Washingtons, Chirac werde den „Feind strittenen Waffentechnologien, produziert Frankreichs Außenminister Hervé de Amerikas“ (libération) ersetzen – ame- von der Firma Denel, mit denen Syrien Charette ein Ärgernis. Der Adlige hat die rikanischer Wunschkandidat: Ex-Verteidi- seine russischen Panzer vom Typ T-72 mo- Amerikaner mit seinem Beharren auf ei- gungsminister François Léotard –, trog. Ein dernisieren will, sollen ein Resultat jener ner Europäisierung der Nato und vor allem Elysée-Beamter: „Der Präsident hält an geheimen Rüstungskooperation sein. durch Spott über das US-Interesse an Afri- de Charette fest.“

R ÄGYPTEN o t SUDAN e entscheidender Bedeutung ist. Zugleich il s M N Port stießen bewaffnete Einheiten der ara- e Sudan e bisch-sudanesischen Opposition von Islamisten unter Druck r Stützpunkten in Eritrea aus nach We- ie jüngsten Erfolge der schwarz- SUDAN sten und Norden vor, um die Straßen- Dafrikanischen Rebellenarmee SPLA Asmara und Eisenbahnverbindung zwischen Khartum bringen die islamistische Militärjunta in ERITREA Khartum und der Hafenstadt Port Sudan der Hauptstadt Khartum in Bedrängnis. zu unterbrechen. Die Offensive bewog Die mit Raketenwerfern ausgerüsteten Roseires Sudans Präsident Umar el-Baschir zu ei- Operationsgebiet Damasin Truppen von John Garang überrannten der NDA „National nem verzweifelten Schritt: Er schickte vergangene Woche mehrere Garnisonen Demokratic Alliance“ Kurmuk seinen Stellvertreter nach Ägypten, um der sudanesischen Armee nahe der Offensiven der SPLA bei dem ungeliebten Nachbarn „im In- äthiopischen Grenze. Nach dem Fall der „Sudanese People’s teresse der gemeinsamen arabischen Sa- Stadt Kurmuk setzten die Rebellen ihren Liberation Army“ ÄTHIOPIEN che“ Waffenhilfe zu erbitten. Der Erfolg Vormarsch in Richtung Damasin fort; der Mission ist fraglich: Kairo beschul- damit bedrohen sie auch den benach- Juba digt das sudanesische Regime, am At- barten Roseires-Staudamm am Blauen Torit tentat auf Präsident Husni Mubarak 1995 Nil, der für die Stromversorgung des 500 km beteiligt gewesen zu sein und ägyptische größten afrikanischen Flächenstaats von ZAIRE UGANDA Terroristen auszubilden. der spiegel 4/1997 115 Ausland A. BRUTMANN Verhandlungspartner Netanjahu, Arafat: Viel Zeit mit der Verhinderung von Zerwürfnissen verbracht

ISRAEL Flickenteppich für Arafat Erstmals hat die nationalistische Likud-Regierung unter Benjamin Netanjahu auf biblisches Stammland verzichtet. Das Hebron-Abkommen bindet den Regierungschef an den PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat, den er vor kurzem noch als Terroristen beschimpfte. braham B. Jehoschua ist einer der kommen im Januar 1997 zurück“, erfahren ren Regierungschefs Menachem Begin, der besten Schriftsteller Israels und sie vom Fremdenführer. – ebenfalls ein erzkonservativer Nationa- Asehr phantasiebegabt. Für die Zu- Nun gehört Jehoschua, 60, dem linken list – 1979 den überraschenden Frieden mit kunft hat er sich eine Idylle ausgedacht: Lager in Israel an, und deshalb beruhen Ägypten geschlossen hatte. Die 11 Minister Wenn in zehn Jahren Touristen auf ihrer seine Hoffnungen wahrscheinlich auf (von 18), die für das Hebron-Abkommen Fahrt durch den Staat Palästina in Hebron Wunschdenken. Doch als in der Nacht zum stimmten, erhielten zusätzlichen Perso- Station machen, werde sich ihnen ein Bild Mittwoch voriger Woche das Abkommen nenschutz. Israels Polizei und Geheim- des Friedens bieten. Ultraorthodoxe Juden über den Teilabzug der Israelis aus der dienst sind gewarnt: Ministerpräsident Jiz- mit Schläfenlocken und schwarzem Stadt Hebron endlich stand, war überall chak Rabin war ermordet worden, weil ein Gehrock diskutieren eifrig über eine Text- in Israel Erleichterung zu spüren. religiöser Fanatiker den Friedensprozeß stelle im Talmud, während sie zur Syn- Erstmals hatte ein Führer des rechten, für einen Verrat am jüdischen Erbe hielt. agoge „Unser Vater Abraham“ hasten, nationalen Lagers besetztes biblisches Seine eigenen ideologischen Vorbehalte mitten durch das orientalische Getümmel Stammland zurückgegeben, um Frieden hatten Netanjahu immer wieder zögern der Kasba. mit den Palästinensern zu bekommen – lassen, den nur 20 Seiten umfassenden Geschäftige Palästinenser handeln um eine gewaltige Zäsur in der Geschichte des Hebron-Vertrag abzuschließen. Erst die saure Zitronen und süßen Honig. Das Blut jungen Israel (siehe Seite 118).Weder brach Schießereien nach der umstrittenen Öff- auf dem Pflaster stammt von geschlachte- sogleich ein öffentlicher Aufruhr aus, wie nung eines archäologisch bedeutsamen ten Hühnern. Nur die unterschiedlichen viele prophezeit oder angedroht hatten, Tunnels am Jerusalemer Tempelberg im Polizeiuniformen lassen die ahnungslosen noch stürzte die Regierung des Likud- September – 15 israelische Soldaten und 60 Besucher stutzen. Das Nebeneinander is- Chefs Benjamin „Bibi“ Netanjahu. Palästinenser kamen dabei ums Leben – raelischer und palästinensischer Sicher- Lediglich Wissenschaftsminister Benja- und massiver Druck der Amerikaner heitskräfte gehe „auf ein seltsames Ab- min Begin trat zurück, der Sohn des frühe- machten dem Ministerpräsidenten klar,

116 der spiegel 4/1997 daß die Alternative zum Friedensprozeß Rückzugs wird zugleich über die Ausdeh- nur eine Spirale der Gewalt sein konnte. nung des künftigen palästinensischen In quälenden Verhandlungen wurde Staats entscheiden. Noch klaffen die israe- „mehr Zeit mit der Verhinderung von Zer- lischen und palästinensischen Vorstellun- würfnissen verbracht“ als mit der Ent- gen weit auseinander (siehe Grafik). wicklung von praktischen Lösungen, gibt Die Absicht der israelischen Nationali- Netanjahus Unterhändler Dori Gold zu. sten ist eindeutig: Jede der rund 140 Während sich die Unterhändler am Gaza- großen und kleinen jüdischen Siedlungen Grenzübergang Eres langsam näherkamen, versucht unentwegt, den umliegenden ara- mußte Netanjahu in Jerusalem um den Be- bischen Boden anzuknabbern. Beim Ab- stand seiner Regierung fürchten. schluß der Verhandlungen über die end- Die Mehrheit seiner rechtsnationalisti- gültige Aufteilung des Westjordanlands im schen und religiös-orthodoxen Koalition Mai 1999 soll für einen Staat Palästina hatte zeitweilig angedroht, das Vertrags- nicht mehr übrigbleiben als ein Flicken- werk aus grundsätzlichen Erwägungen ab- teppich. zulehnen.Vier Stunden lang ließ Netanjahu Arafat kann sich niemals mit einer Lö- am vergangenen Mittwoch die Sicherheits- sung zufriedengeben, die ihm auf solche experten der Armee und seinen wichtig- Weise aufgezwungen wird. Zudem sehen

sten Bevollmächtigten, den Jerusalemer AP die Anlagen zum Abkommen eine ent- Rechtsanwalt Jizchak Molcho, den kompli- Abbau israelischer Militäranlagen scheidende Rolle der US-Regierung vor. zierten Plan erläutern. Hebron-Gegner Be- „Rückzug in eigener Hoheit“ In Briefen an Arafat und Netanjahu si- gin verwies auf angeblich geheime Zusatz- cherte Außenminister Warren Christopher vereinbarungen, wonach den jüdischen Be- wolle er „nicht mit Gewalt kämpfen“. beiden die volle Unterstützung zu. wohnern Hebrons in Zukunft verboten sein Denn die Alternative zu Netanjahu, eine Auf diese Weise sind die Amerikaner soll, ihre Siedlung zu erweitern. Nach zwölf Regierung unter Friedensnobelpreisträger zur entscheidenden Kraft im Friedenspro- Stunden hitziger Debatte hatte der Premier Schimon Peres, sei viel schlimmer: „Bibi zeß geworden – eine eindeutige Verbesse- die Mehrheit auf seiner Seite. liebt uns doch.“ rung ihrer Position. Das Abkommen von Aber der Vertrag von Hebron bleibt ein Als „Juwel der Abmachung“ bezeich- Oslo war 1993 noch direkt zwischen den Is- Pakt des Mißtrauens. Während frühere nete Netanjahu das Recht der Israelis, den raelis und der PLO ausgehandelt worden, Abmachungen zwischen Israel und der Zuschnitt des palästinensischen Territori- heimlich und an den USA vorbei. PLO meist Ausdruck der Hoffnung waren, ums im Westjordanland selbst zu bestim- So feierten sich vorigen Mittwoch die daß Versöhnung doch noch möglich sei, men. Bis August 1998 soll sich die Armee US-Diplomaten als die eigentlichen Sie- beschäftigen sich weite Passagen des He- in drei Schritten aus weiteren ländlichen ger. Der US-Konsul in Jerusalem, Edward bron-Abkommens damit, wie die schlimm- Gebieten zurückziehen – aber „in eigener Abbington, schmauchte nach vollbrachter sten anzunehmenden Zwischenfälle ver- Hoheit“, so der Regierungschef, werde Tat mit Nahost-Vermittler Dennis Ross mieden werden können: Da wurde Vor- Israel darüber befinden, welche Teile des eine dicke Davidoff-Zigarre. sorge getroffen gegen mögliche Attacken Westjordanlandes „aus militärischen Si- Abbington hatte die edlen Stücke je- durch Scharfschützen, Autobomben, cherheitsgründen“ auch künftig beim desmal eingesteckt, wenn das Abkommen Selbstmordattentäter und aufgeheizte jüdischen Staat verbleiben. nahe schien. Irgendwann, das wußte der palästinensische Massen. Die „Israelische Das verheißt für die Zukunft viel Ver- Konsul, würde er sich „zur Belohnung das Heimatfront“ schleppte in den vergange- druß. Denn das Ausmaß des israelischen Ding ins Gesicht stecken“ können. nen Tagen Verbandszeug und Medika- mente in die Häuser der Juden, als ob Künftiger Status für das Westjordanland: Artillerieangriffe bevorstünden. Westjordanland Januar 1997 Israelische Palästinensische Hebrons 400 fanatisierte jüdische Sied- Maximalforderung Maximalforderung ler sind schwer bewaffnet; zu ihrem Schutz bleiben 20 Prozent der Stadtfläche des ara- ISRAELISRAEL ISRAEL bischen Hebron unter israelischer Militär- Dschenin Dschenin Dschenin hoheit – und damit auch 20 000 palästi- Tulkarem nensische Anwohner. Es ist klar, daß die Tulkarem Tulkarem Siedler Hebron irgendwann verlassen Nablus Nablus Nablus müßten, aber das wagt niemand in Israel zu sagen, obwohl die Juden in der Stadt

Jordan Jordan Abrahams allgemein als gefährliche Irre Jordan betrachtet werden. Für den Schutz der Palästinenser vor Ramallah Ramallah Übergriffen dieser rabiaten Minderheit sor- Ramallah gen künftig rund 400 PLO-Polizisten. Ei- Jericho Jericho Jericho nige sollen gemeinsam mit ihren israeli- schen Kollegen Streife gehen. Doch „es Jerusalem Jerusalem Jerusalem gibt keine volle militärische Sicherheit – Betlehem Betlehem Betlehem gewiß nicht in Hebron“, sagt Verteidi- gungsminister Jizchak Mordechai. Totes Totes Totes Gleichwohl gaben sich Hebrons Siedler Hebron Meer Hebron Meer Hebron Meer erstaunlich gedämpft, als die israelische Armee am Freitag morgen, gerade recht- zeitig vor Beginn des Sabbat, ihr Haupt- quartier in Hebron räumte. „Wir brauchen Jüdische Siedlungsblocks Palästinensisches Gebiet Israelisches Staatsgebiet Zeit, um das zu verdauen“, sagte ein Sied- Gebiet unter israelischer Palästinensische Städte Jüdische Siedlungen lerführer. Ein anderer dachte schon weiter: Kontrolle Gegen die Entscheidung der Regierung

der spiegel 4/1997 117 Ausland Netanjahu – ein zweiter Begin? Das Abkommen über Hebron beendet den Traum von Groß-Israel. Von Uri Avnery in kleiner Schritt für den Frieden, das Gebiet jenseits des Jordan an den ha- wählten Regierungschef Israels erkoren. ein Riesenschritt für den Likud“, hät- schemitischen Wüstenfürsten Abdallah, Die vergangene Woche brachte vielen von Ete Benjamin Netanjahu sagen kön- den Großvater des jordanischen Königs ihnen einen Schock. nen, als er vergangene Woche seinen Fuß Hussein, abgab, verlangte Jabotinsky eine Es war für sie schon schlimm genug, daß auf den Boden der neuen Wirklichkeit „Revision“ – daher der Name der Partei. Netanjahu dem „zweibeinigen Tier“ die setzte. Er hatte das Unglaubliche getan: Einen Quadratmeter dieses Landes Ara- Hand gedrückt hatte – das war vielleicht einen Vertrag geschlossen, der einen bern, also Fremden, zu überlassen, das unabwendbar. Doch nun dieses Abkom- großen Teil Hebrons, der „Stadt unserer wäre auch Jabotinsky-Schüler Menachem men, das nicht nur die heilige Stadt Hebron Väter“, des „Felsens unserer Existenz“, an Begin nicht im Traum eingefallen. Er war den „Terroristen“ übergibt, sondern die die Regierung der Palästinenser übergab. zwar bereit, den Ägyptern die ganze Sinai- Regierung auch verpflichtet, in den kom- Für einen „Revisionisten“ war das viel, Halbinsel zurückzugeben und sogar die jü- menden 18 Monaten weitere große Teile viel schlimmer als das Essen von Schwei- dischen Siedlungen dort zu zerstören, aber des Vaterlandes der „Mordorganisation“ nefleisch für einen frommen Juden oder der Sinai gehörte ja nicht zu Erez Israel. auszuhändigen: unfaßbar. Moslem. Die vor gut 70 Jahren gegründe- Zweck war damals, Ägypten als Drohung „Bibi ist ein Verräter“, steht jetzt auf te revisionistische Partei des extremen Zio- auszuschalten, um den Kampf gegen die manchen Mauern in Jerusalem. Gemäßig- nisten Wladimir Jabotinsky, deren Ab- „Araber Erez Israels“ (Palästinenser gab te Anhänger begnügen sich mit der An- kömmling der Likud ist, beanspruchte das es für Begin natürlich nicht) um so wir- nahme, daß der Ministerpräsident einfach ganze Erez Israel (Land Israel) als alleini- kungsvoller weiterzuführen. Der Feind war unter dem amerikanischen Druck zusam- ges Vaterland der Juden; die Araber sind „die Mordorganisation PLO“ und de- mengebrochen ist. Der Sohn Begins hat für sie Fremde in diesem Land. ren Führer, „das zweibeinige Tier Arafat“, die Regierung voller Verachtung verlassen. Die Grenzen von Erez Israel waren für „der Mann mit den Haaren im Gesicht“ Was ist mit Bibi wirklich passiert? Ist Jabotinsky dieselben, die nach dem Ersten (Begin). aus dem Saulus, auf dem Weg nach Da- Weltkrieg vom Völkerbund für das dama- Diese heilige Doktrin galt auch für den maskus, ein Paulus geworden? Ist er etwa lige Palästina unter britischer Verwaltung Jabotinsky-Verehrer Benzion Netanjahu, wie Rabin, ein alter Haudegen, der sich anerkannt worden waren – das Land um- „Bibis“ Vater, und noch heute glauben plötzlich zum Friedenshelden wandelte? faßte beide Seiten des Jordan. Als der bri- Hunderttausende daran. Sie haben vori- Vieles spricht dafür, daß der Minister- tische Kolonialminister Winston Churchill ges Jahr Netanjahu zum ersten direkt ge- präsident den Friedensprozeß immer noch A. REININGER / CONTACT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR A. REININGER / CONTACT / SYGMA A. TANNENBAUM Israelischer Ministerpräsident Begin mit Friedenspartner Sadat (1977), Premier Netanjahu: „Schwarzer Humor der Geschichte“

118 der spiegel 4/1997 wie eine Fortsetzung des Konflikts mit an- deren Mitteln ansieht.Aber was letzte Wo- che geschehen ist, läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Das heiligste Tabu des Likud ist gebrochen, das Dogma vom „ganzen Erez Israel“ ist offiziell aufgege- ben. Die PLO ist offizielle Vertragspartne- rin der Likud-Regierung. Das ist ein histo- rischer Vorgang. Hätten Rabin oder Peres denselben Ver- trag geschlossen, wäre die Hölle los gewe- sen. Massendemonstrationen von Siedlern und anderen Rechtsradikalen im ganzen Land, Karikaturen Rabins in SS-Uniform, Särge mit der Inschrift „Peres“ hätte es gegeben – und Bibi wäre stolz an der Spit- ze der Demonstranten marschiert. Ein linker Redner in der Knesset sprach bitter vom „schwarzen Humor der Ge- schichte“; er meinte damit das, was Hegel als „List der Vernunft“ bezeichnet hat. Lin- ke Regierungen haben es leichter als rech- te, Streiks zu brechen, rechte Regierungen haben es leichter als linke, Frieden zu schließen – so de Gaulle in Algerien, Nixon in Vietnam, de Klerk in Südafrika. Und Begin mit Ägypten. Haben die listige Vernunft oder der lie- be Gott oder die Ironie der Geschichte ge- rade diesen kontaktarmen, von Haus aus rechtsradikalen Netanjahu erkoren, den Frieden mit dem palästinensischen Volk zu erreichen? Möglich ist es. Aber wahr- scheinlich? Frieden heißt: direkter Dialog, Ver- ständnis für die Gefühle und Gedanken des anderen, Bereitschaft zum gemeinsa- men Zusammenleben. Im Krieg ist derlei nicht nötig. Für Bibi sind die Palästinenser immer noch Feinde, die man überlistet, de- nen man diktiert, was man will. Was will Netanjahu? Er hat eine negati- ve Liste: nicht zurück zur Grenze von 1967, keinen Palästinenserstaat, keine palä- stinensischen Rechte in Groß-Jerusalem, der „ewigen Hauptstadt Israels“ unter alleiniger israelischer Souveränität. Das heißt praktisch nur eine „erweiterte Auto- nomie“ für die Palästinenser in autono- men Enklaven, die jeweils von israelischen Siedlungen und Militärgebieten umzingelt bleiben. Natürlich gibt es keinen Palästinenser, der dem zustimmt. In der Theorie ist daher der Zusammenstoß unabwendbar.Aber in der Praxis sieht es wohl anders aus: Der Friedensprozeß wird von Krise zu Krise weiterstolpern, jedesmal wird Netanjahu zwischen seiner Grundeinstellung und den pragmatischen Erfordernissen hin- und hergerissen, die Amerikaner und die Ara- ber werden Druck ausüben, und am Ende wird Bibi einen Schritt vorwärts tun. Ob er will oder nicht, Netanjahu wird gezwungen sein, auf dem Weg von Oslo weiterzugehen – ohne Lust, widerwillig und daher ohne die schöpferische Kraft, die nötig ist, wenn die zwei Völker in die- sem kleinen Land wirklich nach einem Konflikt von 115 Jahren einträchtig zu- sammenleben sollen. ™

der spiegel 4/1997 Ausland

SERBIEN „Die Tücke des Systems begreifen“ Mit Hinhalten, Drohungen und Scheinzugeständnissen will der sozialistische Präsident Milo∆eviƒ dem Dauerprotest in Belgrad trotzen. Interview mit dem Schriftsteller und Oppositionsführer Vuk Dra∆koviƒ über den Kampf gegen das Regime.

SPIEGEL: Die Wahlkommission hat den Sieg DRAKOVI±: Die Organisation für Sicher- bunal und mit verläßlichen Garantien für des Oppositionsbündnisses Zajedno jetzt heit und Zusammenarbeit in Europa schlug alle Flüchtlinge, die in ihre Heimatge- auch in Ni∆ und Belgrad anerkannt. Der vor, nach der Anerkennung unseres Wahl- meinden zurückkehren möchten.Wir wol- serbische Präsident Slobodan Milo∆eviƒ siegs sofort einen Dialog am Runden Tisch len ein souveränes Kroatien und Bosnien ruft dazu auf, die Demonstrationen einzu- mit Milo∆eviƒ und seiner Regierung zu be- – aber mit durchlässigen, europäischen stellen. Haben Sie den Machtkampf schon ginnen. Dabei sollen künftige Reformen Grenzen. Warum soll es bei uns nicht so gewonnen? diskutiert werden. Das Ergebnis müßte da- zugehen wie zwischen Holland und DRAKOVI±: Nein, erst nach Anerkennung nach einstimmig vom Parlament gebilligt Deutschland, wo die Menschen die Gren- des gesamten Wahlsiegs in allen 14 Städ- werden. Nur so läßt sich die Grundlage für zen ohne Kontrollen passieren können? ten werden wir unsere Kundgebungen eine umfassende Demokratisierung Ser- Erst muß im ehemaligen Jugoslawien eine beenden. Ich befürchte, daß Milo∆eviƒ nur biens schaffen. Art Europäische Gemeinschaft im klei- mit einem Scheinmanöver Zeit gewinnen SPIEGEL: Niemand glaubt, daß Milo∆eviƒ nen geschaffen werden, damit wir uns spä- will. freiwillig die Macht abgeben wird. Aber ter der Europäischen Union anschließen SPIEGEL: Mit welchem Hintergedanken? wie will er weiterregieren, da er laut Ver- können. DRAKOVI±: Er will den interna- SPIEGEL: Wie werden Sie mit den tionalen Druck mindern und in Minderheiten umgehen? Die Al- der Zwischenzeit die Studen- baner im Kosovo verlangen ihre tenbewegung zerschlagen. Sein Unabhängigkeit. ganzes Trachten zielt auf Spal- DRAKOVI±: Ein unabhängiges tung der Opposition. Danach Kosovo wird es nicht geben. Ko- könnten Gerichte die Entschei- sovo ist eine Art serbisches Jeru- dung der Wahlkommission er- salem, ein Zentrum serbischer neut in Frage stellen. Seine Kultur und Tradition, der Ge- Sozialistische Partei hat bereits burtsort des serbischen Mythos. Widerspruch eingelegt. Sollte Gleichzeitig ist es überwiegend dies passieren, werden wir bis mit Albanern besiedelt. Deshalb zu Milo∆eviƒs Rücktritt auf den muß Kosovo innerhalb Serbiens Straßen ausharren. ein Maximum an kulturellen, po- SPIEGEL: Mit der Gefahr, daß litischen und nationalen Rechten doch noch ein Bürgerkrieg aus- erhalten, mit einem hohen Grad bricht? an Autonomie, ohne daß dafür DRAKOVI±: Milo∆eviƒ kann sei- die Rechte der dort lebenden

ne Macht nur noch auf zwei / SYGMA M. BADZIC Serben beeinträchtigt werden. Krücken stützen: das Fernsehen Milo∆eviƒ-Herausforderer Dra∆koviƒ: „Ich habe Charisma“ SPIEGEL: Prinz Alexander Ka- und die Staatsmedien sowie radjordjeviƒ bot aus seinem Exil die linke Terroristenorganisation JUL unter fassung nicht ein weiteres Mal als Präsident in London an, die Monarchie wieder zu Leitung seiner Ehefrau, die bereits Schlä- kandidieren darf? errichten und nach dem Vorbild des spa- gertrupps gegen die Bevölkerung einsetzte. DRAKOVI±: Das ist nicht ausgemacht. In nischen Königs Juan Carlos den Übergang Kirche und Armee haben dem Präsidenten einem Land, in dem es kein Recht gibt, von der Diktatur zur Demokratie zu voll- die Unterstützung entzogen. Mindestens kann man leicht einen Artikel der Ver- ziehen. Was halten Sie davon? 60 Prozent der 200000 Polizisten stehen fassung ändern. Allerdings: Sollte es bis DRAKOVI±: Ich persönlich sehe die Rolle ei- nicht mehr auf seiner Seite, in seiner eige- dahin immer noch Unstimmigkeiten we- nes Juan Carlos zwar positiv, aber das Volk nen Partei herrscht mittlerweile Chaos. gen unseres Wahlsiegs geben, werden muß befragt werden, ob es eine Monarchie SPIEGEL: Könnte es Milo∆eviƒ vielleicht wir alle Mandate im Republiks- und im oder eine Republik will. Prinz Alexander doch noch gelingen, die Opposition zu ent- Bundesparlament sowie in den Stadt- und wird natürlich wieder die serbische Staats- zweien? Die Studenten überlegen angeb- Gemeindeausschüssen zurückgeben. Die bürgerschaft erhalten und sein privates Ei- lich, den Schulterschluß mit Zajedno auf- Wahlen finden dann ohne uns statt. gentum in Serbien zurückbekommen. zugeben. SPIEGEL: Welche politischen Veränderun- SPIEGEL: Gesucht wird auch ein serbischer DRAKOVI±: Die Studenten haben wesent- gen würde ein Machtwechsel in Serbien Václav Havel, eine Persönlichkeit mit un- lich weniger Erfahrung als wir. Ihnen wur- nach sich ziehen? bestrittener moralischer Autorität, die bei de versprochen, daß der Rektor abgelöst DRAKOVI±: Wenn in Belgrad die Demo- den kommenden Präsidentschaftswahlen würde. Natürlich fand das bisher nicht kraten siegen, werden auch die Regime gegen die Sozialisten kandidiert. Fühlen statt. Sie müssen die Tücke dieses Systems in Zagreb, in Sarajevo und natürlich das Sie sich berufen? erst noch begreifen. der bosnischen Serben in Pale ganz DRAKOVI±: Das sind Anspielungen auf SPIEGEL: Selbst wenn die Opposition die schnell fallen. Erst dann kann die tatsäch- mich, weil ich Schriftsteller bin und Cha- Mehrzahl der serbischen Bürgermeister liche Verwirklichung des Friedensabkom- risma habe. Ich fliehe nicht vor dieser Ver- stellen würde: Im Parlament haben die So- mens von Dayton in Angriff genommen antwortung und würde mein Ansehen im zialisten die absolute Mehrheit.Wie wollen werden – mit der Auslieferung angeklag- Volk voll einsetzen, um den Kandidaten Sie da Reformen durchsetzen? ter Kriegsverbrecher an das Haager Tri- der Sozialistischen Partei zu besiegen. ™

120 der spiegel 4/1997 Werbeseite

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BULGARIEN Unter der Hymne des Zaren Hunger und Kälte treiben die Menschen zu Zehntausenden auf die Straße. Nach der Wende verkam der Balkanstaat zum Armenhaus Europas. Von Christian Neef

atürlich kennt Professor Jordan tischen Regierung stießen auf wenig Ge- Dantschew die alte Melodie, die aus genliebe. Das neue Kabinett kam schon Nden Lautsprechern am Portal der nach einem Jahr zu Fall, die nächsten Newski-Kathedrale klingt, über den Platz Regierungen stolperten über ihre Halbher- vor dem Rathaus hallt und sich schließlich zigkeit. an den weißen Mauern des Parlaments- Schattenwirtschaft, organisiertes Verbre- gebäudes bricht. chen, Bankenzusammenbrüche und galop- Es ist Bulgariens Hymne aus der Zeit der pierende Inflation ließen das einst von Monarchie, entstanden vor gut hundert Jah- mäßigem Wohlstand geprägte Land binnen ren in den Befreiungskämpfen gegen Türken weniger Jahre in bittere Armut abstürzen. und Serben, später aber von den Kommu- Mit dem Versprechen, die Brotpreise radi- nisten verboten. Weil der mächtige Chor in kal zu senken und neue Arbeitsplätze zu der brodelnden Menge rundherum schiere schaffen, kehrten 1994 die Ex-Kommuni- Begeisterung auslöst, singt auch Dantschew sten zurück. aus voller Kehle mit: „Es rauscht der Mit ihnen kam der Staatsbankrott. Die Maritza-Fluß – marsch, marsch, unter der Betriebe – die nie konsequent privatisiert Hymne des Zaren wollen wir den Feind wurden – arbeiten inzwischen weitgehend besiegen.“ auf Pump. Der Kurs der bulgarischen Für die 50000 Menschen, die Nachmittag Währung stürzte von einst 70 auf 682 Lewa für Nachmittag zur Patriarchenkirche im pro Dollar ab, der Brotpreis kletterte um Zentrum von Sofia strömen, steht der Feind das Achtfache. diesmal mitten im eigenen Land. Er hat sich „Ich wußte, daß die Kommunisten lü- hinter schwerbewaffneten Polizeiketten drü- gen“, sagt Dantschew, „aber die Mehrheit ben im Haus der Volksversammlung ver- hatte Angst vor dem radikalen Bruch.“ Das schanzt: die Fraktion der regierenden So- Institut für Umweltschutz an der Akademie zialisten, Nachfolger der einst allmächtigen der Wissenschaften, wo er als Professor an- Kommunistischen Partei. gestellt ist, überweist ihm monatlich 20000 „Rote Dreckskerle“, hat eben einer der Lewa, knapp 50 Mark. Redner in Richtung Parlament geschimpft, Das Gehalt für Januar blieb ganz aus; al- „eine Lumpenpartei, die unser Land in gei- lein diesen Monat muß die Regierung 130 stiger Umnachtung in den Abgrund gerissen Millionen Dollar Zinsen auf ihre Auslands- hat.“ Von den starken Worten begeistert, schulden zahlen, und die Devisenreserven schwenken die Demonstranten das blaue sind bereits auf rund 500 Millionen ge- Fahnentuch der oppositionellen Union De- schrumpft.

mokratischer Kräfte; sie haben es an Angel- Sorgfältig hatte Dantschew vor Monaten SIPA ruten befestigt. „Isbori, isbori“, braust der seine Spareinlagen auf drei vermeintlich si- Demonstranten, Polizisten vor der Newski- Ruf über den Platz: „Wahlen, Wahlen.“ chere Geldinstitute verteilt. Jetzt sind die Es ist anders als im 400 Kilometer ent- Konten gesperrt: Die aus dem einstigen früher wohlgefällig auf die ärmere Provinz fernten Belgrad. Während dort die demo- Staatsjugendverband Komsomol hervorge- herabblickenden Sofia läßt sich das Elend kratische Bewegung mit ihrem Protestma- gangenen Banker spekulierten waghalsig nicht mehr verbergen. Der Gestank der rathon um die Anerkennung ihres Siegs und schleusten hohe Summen ins Ausland. Zweitakter Trabant und Wartburg ist noch bei den Kommunalwahlen Dantschews Sohn Mom- immer allgegenwärtig. Der große Boulevard, ringt, wollen die Bulgaren Neuer Präsident Stojanov tschil ist nach seinem der wieder den Namen der früheren Za- eine Regierung verjagen, Musikstudium arbeitslos. rengattin Marieluise trägt, ist von Schlag- die sie vor zwei Jahren mit Allein ein Nebenjob des löchern zerfressen, die Fassaden bröckeln. großer Mehrheit ins Amt Professors in der Touris- Die Geschäfte sind leer, die Preisschilder berufen haben. musbranche und die Fin- weisen Dollarbeträge aus. Vor den Wech- Tierarzt Dantschew, 57, digkeit seiner bereits pen- selstuben, in denen die Bulgaren ihre glaubt, daß dieser Fehlgriff sionierten Frau halten die Währung tauschen, gehen unrasierte Schlep- schlichter Nostalgie ent- Familie über Wasser. Gat- per auf Kundenfang: Sie bieten einen bes- sprang. Zwar hatte das tin Ticha hat den Keller ih- seren Kurs und betrügen mit gefälschtem Balkanvolk schon 1989 for- rer Wohnung im Vorort Geld. mal mit dem Kommunis- Ljulin mit Kartoffeln, Boh- Auf dem Markt werden die Kartoffeln so mus gebrochen und den nen und Pilzen vollgestopft teuer wie Orangen verkauft. In endlosen Diktator Todor Schiwkow – eigene Ernte aus einem Schlangen stehen die Leute nach Öl und in den Ruhestand ge- kleinen Landstück im Rho- dem unverzichtbaren Schafskäse an; doch schickt. Doch die ra- dopen-Gebirge. selbst der ist inzwischen knapp, seit Fut- dikalen Wirtschaftsrefor- Den meisten Bulgaren termangel die Bauern zur Notschlachtung

men der ersten demokra- DPA geht es schlechter. Im zwingt. Hartnäckig hält sich in der Men- 122 den Befehl an die Polizei gehört, keine Krankenwagen ins Stadtzentrum zu lassen. Auf den Kundgebungen vor der Newski- Kathedrale beteuert die Opposition, es gehe ihr nicht um Staatsposten, sondern um eine ehrliche, tüchtige Regierung. Auch Dima- now weiß, daß das Volk weniger eine neue Partei als vielmehr glaubwürdige Männer an der Spitze haben will. Simeon II. aus dem bulgarischen Zarengeschlecht, der vo- riges Jahr für 20 Tage aus dem spanischen Exil nach Sofia kam und überall in der Stadt auf Plakaten zu sehen ist, hat abgewinkt – die Bulgaren müßten sich selber helfen. So sucht die Opposition ihre Chance in ungewohnter parteiübergreifender Einig- keit. Gemeinsam demonstrieren die 15 bis- lang heillos zerstrittenen Gruppen der Demokraten-Union vor der Patriarchen- kirche: Radikaldemokraten, Glasnost-Ak- tivisten und eine Organisation, die für den Anschluß Mazedoniens kämpft, mittendrin zunehmend von ihrer Führung enttäusch- te Sozialisten. Auch der Reformflügel der gespaltenen orthodoxen Kirche ist mit sei- nem Segen und Ikonen präsent. Nur die von der Krise besonders be- troffenen Studenten trauen der politi- SIPA schen Wende nicht. Borislaw Borislawow, Aspirant an der Sofioter Universität und Aktivist der Streikbewegung, befürchtet einen faulen Kompromiß hinter den Ku- lissen. „Beide Seiten wollen die Straßen- proteste ins Leere laufen lassen.“ Mit Kuhschellengeläut und Pfeifkonzert zie- hen er und Tausende seiner Kommilitonen täglich noch vor der Hauptkundgebung durch die Innenstadt am Sitz der Soziali- sten vorbei. Sie fordern öffentliche Ver- handlungen und Neuwahlen spätestens im Mai. Gegenüber der Parteizentrale steht das stattliche Gebäude der Zentralbank. Kaum jemand ahne, daß Bulgarien in der näch- sten Zeit allein von dort aus regiert werden wird, sagt Dantschew. Der Internationale

AP Währungsfonds als wichtigster Kreditge- Kathedrale in Sofia, Demonstrantin*: „Rote Lumpenpartei“ ber will einen „Währungsausschuß“ ein- richten, um künftig direkt über das Schick- ge das Gerücht, die Ex-Kommunisten hät- „Mein Gott, endlich wacht das geduldi- sal der Staatsbetriebe und über das Budget ten zur Aufbesserung ihrer Finanzen Ge- ge Bulgarenvolk auf“, seufzt eine Frau. mitzuentscheiden. treide und Schafe in den Nahen Osten ex- Doch die plötzliche Erhebung hat Bulgari- Daß Bulgarien inzwischen selbst den portiert. en in ein gefährliches politisches Vakuum notleidenden Russen als „Schande Osteu- In der Kirche der Heiligen Paraskewa gestürzt, das die Not in den kommenden ropas“ gilt, daß sogar Albanien vorige Wo- werden zwölf Uhr mittags die ganz Hilf- Monaten noch verschärfen könnte. che 3000 Dollar Hungerhilfe überwies, losen versorgt: Mit Milchkannen, ausge- Schon vor Weihnachten war Minister- wird als schmerzhafte Demütigung emp- dienten Danone-Bechern und alten Nes- präsident Schan Widenow zurückgetreten, funden. Aber mehr noch grämt den Pa- quik-Dosen drängen sich Rentner um weil seine Umgebung der Korruption be- trioten Dantschew, daß die Bulgaren nun einen Kessel Tomatensuppe – Sofias Bür- zichtigt wurde. Der von den Sozialisten wie geschäftsunfähige Kinder vom Inter- germeister, der der Opposition angehört, bestimmte Nachfolger, Innenminister Ni- nationalen Währungsfonds entmündigt hat die Speisung aus öffentlichen Spenden kolai Dobrew, kam gar nicht mehr ins Amt. werden. finanziert.Was Sozialarbeiterin Swetanka Nachdem das Volk am Freitag vorletzter Das Volk dürfe nicht aufhören, „an ein Jordanowa in die Gefäße löffelt, wird mit- Woche das Parlament stürmte, bezichtigen Wunder zu glauben“, sagt der neue Präsi- unter gleich in den Kirchenbänken ver- beide Lager einander, das Land ins Chaos dent Petar Stojanow, der aus der Opposi- zehrt, die restliche Zeit verbringen die al- zu stürzen. „Nein zu den Straßenpogro- tion kommt und am Mittwoch dieser Wo- ten Leute damit, sich aufzuwärmen – die men“, lauten die Schlagzeilen der Soziali- che sein Amt übernimmt. Zehntausende meisten haben, um zu sparen, zu Hause sten in ihrem Hausblatt duma. Die Ex- suchten das Wunder derweil an den Lot- die Heizung abgestellt. Kommunisten hätten die Kämpfe provo- toschaltern: Der Jackpot im Spiel „6 aus ziert, glaubt dagegen Dimitar Dimanow, 49“ war auf die unglaubliche Summe * Mit Fahndungsplakat des Ministerpräsidenten Vorsitzender der populären Gewerkschaft von 4,6 Millionen Lewa angewachsen – Widenow. „Promjana“ – Taxifahrer hätten per Funk 11500 Mark. ™

der spiegel 4/1997 123 Werbeseite

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RUSSLAND „Oh, diese Inkompetenz“ Boris Beresowski, Geschäftsmann und Vizesekretär des russischen Sicherheitsrats, über seinen Einsatz in Tschetschenien

Dem Mathematikprofessor Beresowski, andere russische Waffen, anderes russi- 50, gehören ein Autohandel sowie Anteile sches Geld. Der Nationalitätenkonflikt an einer Ölfirma, der Aeroflot und einem kam später, und zwar einzig und allein

TV-Kanal. Er leistete Wahlhilfe für Jelzin, durch ungeschicktes Verhalten Moskaus. KASSIN P. der ihn nach Lebeds Entlassung in den Oh, diese Inkompetenz, diese Unprofes- Unternehmer Beresowski Sicherheitsrat berief. sionalität – vor allem der russischen Exe- „Manche Dinge gelingen mir ganz gut“ kutive. Dort hat man bis heute nicht be- SPIEGEL: Ihre Aufgabe besteht darin, das griffen, wie man Konflikte dieser Art lösen BERESOWSKI: Ich bewege mich nur in den Verhältnis zwischen Moskau und den muß. Grenzen meiner Vollmachten. Alles, was Tschetschenen zu normalisieren. Welches SPIEGEL: Besser nach Art eines kommerzi- ich mache, ist abgestimmt: zwischen dem Resultat steuern Sie an? ellen Maklers? Sie sind ein erfolgreicher Präsidenten und Iwan Rybkin, dem Se- BERESOWSKI: Tschetschenien muß ein Teil Unternehmer – was hat Sie in den Staats- kretär des Sicherheitsrats. der Russischen Föderation bleiben. dienst gedrängt? SPIEGEL: Wenn Boris Jelzin wieder in den SPIEGEL: Das genau will ein Großteil der BERESOWSKI: Unser Land steht vor kom- Kreml zurückkehrt, wird er seine Statt- Tschetschenen nicht. Genießen Sie das Ver- plizierten Problemen, denen der Staat mit halter dann loben oder strafen? trauen der anderen Seite? Unentschlossenheit begegnet. Die For- BERESOWSKI: Entschiedener Einspruch ge- BERESOWSKI: Durchaus, und es ist schwer schung und das Geschäftsleben haben mir gen das Wort Statthalter. Alle Entschei- erarbeitet. Ich habe den Abzug der beiden Erfahrung und Entschlußkraft gegeben. dungen im Bereich des Sicherheitsrats hat letzten russischen Brigaden durchgesetzt, Meine Spezialität ist das Finden optimaler direkt der Präsident getroffen. Niemand auch die Freilassung der 21 Polizisten, die Entscheidungen. Deshalb fühlte ich mich hat an ihm vorbei regiert. an der Grenze zwischen Tschetschenien berufen einzugreifen. SPIEGEL: Auch nicht sein Kanzleichef und Dagestan gekidnappt worden waren. SPIEGEL: Macht es Ihnen Spaß? Anatolij Tschubais? SPIEGEL: Werden Morde und Geiselnah- BERESOWSKI: Ich finde es spannend, aber BERESOWSKI: Ich kenne und respektiere men dazu führen, daß Moskau zur Ge- auch wichtig, Rußland voranzubringen – Tschubais seit langem. Mit solchem Gere- waltanwendung zurückkehrt? heraus aus einer schon über 80 Jahre de wird nur versucht, den Braintrust des BERESOWSKI: Gewaltmethoden haben wir währenden tiefen Krise. Präsidenten zu zerschlagen und das Tschu- dort ausreichend getestet. Sie haben uns SPIEGEL: Konnten Sie schon etwas bewegen? bais-Team in Mißkredit zu bringen. nichts gebracht. Meine kurzen Erfahrungen BERESOWSKI: Es ist schwierig, sich selbst SPIEGEL: Streben Sie nach Erledigung Ih- als Mitglied des Sicherheitsrats haben mich Zeugnisse auszustellen. Ich tue, was ich rer Tschetschenien-Aufgabe ein anderes, überzeugt, daß wir den Friedensweg wei- für notwendig halte – und nichts gegen höheres Staatsamt an, oder möchten Sie tergehen müssen. mein Gewissen. Manche Dinge gelingen sich wieder Ihrem Wirtschaftsimperium SPIEGEL: Sie würden bei einem neuen mi- mir ganz gut. widmen? litärischen Abenteuer eher zurücktreten? SPIEGEL: Freunde wie Feinde vermuten, Ihr BERESOWSKI: Ich brauche keine hohe Staats- BERESOWSKI: Das ist mit mir nicht zu ma- Einfluß als Vizesekretär des russischen Si- funktion, nur Vollmachten, um wichtige chen. cherheitsrats sei enorm.Wie weit reicht er, Probleme besser lösen zu können – und SPIEGEL: Glauben Sie, daß Tschetschenien worauf beruht er? die habe ich jetzt. ™ in zehn Jahren noch Bestandteil der Rus- sischen Föderation sein wird? BERESOWSKI: Noch viel länger. SPIEGEL: Da müssen Sie aber noch aller- hand Überzeugungsarbeit leisten. BERESOWSKI: Am 27. Januar sind dort Wahlen. Kein Kandidat für das tsche- tschenische Präsidentenamt kann heute ein klares Ja zu Rußland sagen. Das Volk würde ihn nicht unterstützen. Es ist unse- re Aufgabe, dem einfachen Tschetschenen die Vorteile der Union mit Rußland klar- zumachen. SPIEGEL: Verfolgen Sie als Erdölkaufmann in Tschetschenien eigene wirtschaftliche Interessen? BERESOWSKI: Solche Absichten hatte ich nie, ich verfolge sie auch heute nicht. SPIEGEL: Ging es in diesem Krieg für den russischen Staat nicht auch um die Öl- Transportwege nach Westen? BERESOWSKI: Er fing als Bürgerkrieg an. Einheimische und Moskauer Wirtschafts-

Clans kämpften um Einfluß und Interes- GAMMA / STUDIO X sen: mit Rußlands Geld und Waffen gegen Russische Soldaten in Grosny (1996): „Ich habe den Abzug durchgesetzt“

der spiegel 4/1997 125 Ausland so häufig Abwesenden und bat ihn, mehr britische Versicherung wollte die Kosten EU-KOMMISSION Präsenz und Aktivität zu zeigen. Nun von 160 000 Franken nur übernehmen, droht dem lebensfrohen Schwergewicht wenn der Redner durch Krankheit oder neues Ungemach: Die Berner PR-Agentur höhere Gewalt an der Teilnahme gehin- Unpreußische Bischof klagt gegen den EU-Kommissar, dert worden sei. weil er kurzfristig seine Teilnahme an ei- Vergebens bat Lloyd’s um ein ärztliches nem Symposium in Interlaken zum Thema Attest des Kommissars. Statt dessen erklär- Tugenden „EU und Schweizer Wirtschaft“ strich. te diesmal Bangemann persönlich, seine Ab- Im Januar 1995 war Bischof nach Brüs- sage habe politische Gründe – was Bischof Neuer Ärger für Bangemann: sel gereist, um Bangemann als Redner zu nicht nur um die erhoffte Entschädigung Eine Schweizer PR-Agentur klagt gewinnen. Mit 10 000 Mark sollte dem brachte, sondern ihn auch noch kränkte. gegen den EU-Kommissar, Kommissar der Auftritt vergütet werden, Der Sitzengelassene: „Diese Arroganz! Wir Hotel- und Reisespesen für den Gast „und hatten Befürworter und Gegner eingela- weil er einen mit 10000 Mark seine Entourage“ (Bischof) selbstver- den, das sollte doch in einer Demokratie er- dotierten Auftritt absagte. ständlich extra. Im März bestätigte ein Mit- laubt sein.“ Nun will er vom Kommissar Schadensersatz einklagen, Ende Januar soll Gerichtstermin in Interlaken sein. Doch Bangemann denkt nicht daran zu zahlen. „Im Laufe seiner politischen Kar- riere“, schreibt sein Brüsseler Anwalt, habe der „über 4000 Reden gehalten, von denen er etwa 10 Prozent abgesagt haben dürfte“. Noch niemals seien an ihn deshalb An- sprüche gestellt worden. „Ebensowenig wäre es Herrn Bangemann je in den Sinn gekommen, ein zugesagtes Honorar zu be- anspruchen, wenn ein Termin vom Veran- stalter abgesagt wurde.“ Möglicherweise haben aber auch ande- re Gründe eine Rolle bei der Absage ge- spielt, denn wegen eines großzügigen Honorars war Bangemann zu jener Zeit ohnehin schon in Schwierigkeiten - ten. Im Frühjahr 1995 hatte der Landes- rechnungshof Mecklenburg-Vorpommern seltsame Gepflogenheiten bei einem Auf- tritt des EU-Kommissars aufgedeckt: Ein Freund Bangemanns, der Frankfurter PR- Berater Moritz Hunzinger, kassierte für die Vermittlung des Liberalen als Redner auf dem Greifswalder Unternehmertag die Summe von 40000 Mark. Peinlich für den teuren Gast aus Brüssel, daß diese Veranstaltung mit 100000 Mark

J. PEEL J. aus dem Landeshaushalt und aus dem Eu- Europa-Kommissar Bangemann: Mischung aus Faulheit und Genialität ropäischen Regionalfonds gefördert wor- den war. Damit interessierte sich auch der o mag er stecken? Schmökert er arbeiter Bangemanns den Termin am 16. EU-Rechnungshof für den Auftritt. Dessen am Kamin seines Landhauses Juni, dankte für die „Unterstützung“ und Präsident bestellte W„Les Loges“ im Westen Frank- nannte das Thema, über das der Kommis- Bangemann nach Luxemburg und bat um reichs? Hält er gerade vor Unternehmern sar zu reden gedachte: „Wirtschaftliche nähere Auskünfte. Kommissionspräsident eine lockere Rede über Europas Weg in Aspekte der europäischen Integration“. Santer ließ, um der EU-Behörde weitere die Informationsgesellschaft? Läßt er sich Am 30. Mai kam ein Anruf aus Brüssel: Affären zu ersparen, einen Verhaltensko- vom Peugeot-Chef persönlich die Folgen Der Kommissar, so teilte eine Sekretärin dex beschließen, der seinen 19 Kommissa- einer strengeren Abgasverordnung er- mit, wolle aus politischen Gründen an der ren vergütete Nebentätigkeit verbietet. Für klären? Oder macht der leidenschaftliche Veranstaltung nicht teilnehmen, da er eu- Friedmann war mit dieser „Lex Bange- Hobbysegler wieder einen Blitzbesuch in ropafeindliche Ausfälle befürchte. Denn mann“ der Fall erledigt. Danzig, um dort die Arbeiten an einer 37 neben Bangemann war auch der promi- Schon den früheren Kommissionspräsi- Meter langen Jacht namens „Mephisto“ nenteste EU-Gegner der Schweiz, der erz- denten Jacques Delors hatte der seit 1989 zu inspizieren? konservative Nationalrat Christoph Blo- amtierende Bangemann mit seiner un- Seit im Büro des für Industrie, Informa- cher, zu der Tagung geladen. Als Bischof preußischen Arbeitshaltung irritiert. Nahm tion und Telekommunikation zuständigen bei Bangemanns Redenschreiber Harald der Deutsche an einer der wöchentlichen EU-Kommissars die Lob zurückrief, vermutete der allerdings, Kommissionssitzungen teil, hatte er oft die sonst üblichen Terminpläne abgeschafft ein Rückenleiden sei an der Absage schuld. Akten nicht gelesen. Wenn er sich lang- wurden, wissen oft nicht einmal enge Mit- Noch am selben Abend sagte Bischof weilte, überließ er schon mal seinem Büro- arbeiter, wo sich ihr Chef gerade aufhält. das Symposium ab: „Bangemann war das chef den Platz in der erlesenen Runde. „Wahrscheinlich“, lästert ein früherer Zugpferd, damit war die Veranstaltung ge- Bangemann, als Kommissar mit einem Intimus, „standen da zu wenig dienstliche platzt.“ Ärgerlich, aber nicht katastrophal, üppigeren Amtsgehalt als der Bundes- Termine drin.“ glaubte der Schweizer PR-Mann. Denn er kanzler ausgestattet, verkörpert im multi- Kommissionspräsident Jacques Santer hatte sich bei Lloyd’s gegen den Ausfall kulturellen Milieu der Europa-Hauptstadt, sorgte sich schon um die Arbeitsmoral des der Hauptreferenten versichert. Doch die so formuliert es ein langjähriger Wegge-

126 der spiegel 4/1997 WOIJCIK / FORUM ZÜRICH M. SCHWEIZER / KEYSTONE Bau der Luxusjacht „Mephisto“ in Danzig, Bangemann-Kontrahent Bischof: Absage ohne ärztliches Attest fährte, eine „für deutsche Politiker unty- Auf über zwei Millionen Mark werden be an dem Boot offiziell niedergelegt; of- pische Mischung aus Faulheit und Genia- die Konstruktionskosten geschätzt. Ei- fenbar wollte er dem Eindruck einer Ver- lität“. Fließend spricht er Englisch, Fran- gentümer der Luxusjacht, die zunächst als quickung privater Leidenschaft mit beruf- zösisch und Italienisch, formuliert aus dem Seminarschiff vermietet werden soll, ist lichen Interessen entgegentreten. Gleich- Stegreif launige Reden, ist wißbegierig, eine Gesellschaft, der rund zehn Partei- wohl trieb es ihn immer wieder nach Dan- wenn ihn ein Thema wie die Informati- freunde oder Spezis aus Bangemanns zig zur „Mephisto“. Von zwei solchen pri- onsgesellschaft interessiert. „Wenn er et- Speckgürtel angehören. Als eine Art Ge- vatdienstlichen Reisen erfuhren die War- was will und sich anstrengt, dann ist er schäftsführer fungiert sein ehemaliger Pres- schauer EU-Vertretung, die deutsche unschlagbar“, gesteht ihm ein hoher sesprecher Lothar Mahling, der wie Mitge- Botschaft in Polen und der Bürgermeister Kommissionsbeamter zu. von Danzig erst im nachhinein, als dem Doch was will er? Ob es um die Me- Bei jedem Trip nach Danzig Kommissar jedesmal seine gepanzerte dienpolitik, Verbraucherschutz oder Um- Dienstlimousine gestohlen worden war. weltpolitik geht, der Liberale versteht sich wurde der gepanzerte Ein Schnäppchen haben die „Mephi- meist als Anwalt der Wirtschaftsinteres- Dienstwagen gestohlen sto“-Gesellschafter mit der Standortwahl sen. Industriekommissar Bangemann zeigt im billigen Polen offenbar nicht gemacht. sich so empfänglich für die Wünsche der sellschafter und Bangemann-Vermarkter Denn die Firma Vace, die auf der Wester- Unternehmer, daß ihn sogar die faz als Hunzinger eine PR-Agentur betreibt. platte in Danzig den Rumpf baute, und die „industriehörig“ bezeichnete. Zu den Boat people zählen auch drei Bangemann-Crew stritten bereits um die Dauerhaft fasziniert den sprunghaften der engsten Mitarbeiter aus dem Brüsseler Kosten. Mahling fühlte sich von der Firma Freidemokraten eigentlich nur ein Thema: Kabinett. Und beteiligt ist ebenfalls sein al- „kräftig übers Ohr gehauen“. das Boot. Wo immer sich ein leeres Blatt ter Schulfreund Dieter Eggen, den Bange- „Das Danziger Geheimnis des EU-Kom- während langweiliger Konferenzen anbie- mann drei Jahre lang als Experten von der missars“, überschrieb die polnische Lo- tet, Bangemann füllt es mit handwerklich Kommission honorieren ließ. Niemand kalzeitung wieczór wybrzeza einen Ar- gekonnten Entwürfen von Segelschiffen. wußte exakt zu sagen, wofür Eggen sein tikel über die diskreten Besuche Bange- Heute heißt das Objekt seiner Begierde Salär eigentlich bezog. manns auf der Staatswerft: „Für seine „Mephisto“, eine Jacht für zwölf Passa- Bangemann selbst hat bei einer Fete an- Trips löhnen die Steuerzahler der Eu- giere, die auf einer Danziger Werft fertig- läßlich seines 60. Geburtstags in einem vor- ropäischen Union, Polen kann daran nur gestellt werden soll. nehmen Londoner Jachtklub seine Teilha- verdienen.“ ™ Werbeseite

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KAMBODSCHA Bürokraten des Grauens Über anderthalb Millionen Menschen starben unter dem Terrorregime der Roten Khmer. Ein Forscherteam der amerikanischen Yale-Universität hat sich jetzt auf die schwierige Suche nach den Handlangern des Völkermords gemacht. Von Birgit Schwarz

u jedem Opfer gehört ein Täter, je- der Mittäterschaft bezichtigt. Das mag für befehle, selbst die Tagebücher führender der Ermordete hat einen Mörder, ihn sprechen. Gegen ihn spricht, daß die er- Kader – und Notizen Pol Pots. Zdas weiß jeder Kommissar. Doch sten Massengräber im Bezirk 105 während Den beklemmendsten Fund machten die wenn Massen von Mördern Massen von seiner Amtszeit ausgehoben wurden. Spurensucher im März vergangenen Jah- Menschen umbringen, wird es schwierig, 10 045 Skelette bargen die Reisbauern res: In den Schubladen alter Amtsstuben die Schuldigen zu überführen. Und des- von Kraing Ta Chan nach der Entmach- fanden sie bisher unbekannte Archive der halb laufen fast 20 Jahre nach dem Geno- tung der Roten Khmer aus den Lotustei- „Santebal“, der Geheimpolizei der Roten zid an über anderthalb Millionen Kam- chen, Bombentrichtern und nachlässig zu- Khmer; seither wissen sie, daß das Ge- bodschanern die Täter noch immer frei geschütteten Gräben in der Umgebung des fängnis von Kraing Ta Chan nur eines von herum. Lagers. Funde wie diese waren lange Zeit mindestens 100 Vernichtungslagern in den Ob Eab Duch ein Mörder ist, das weiß die einzigen Indizien für das mörderische Provinzen war. Von den dazugehörigen nur er. Mehr als 10000 Khmer soll der heu- Wirken von Bürokraten wie Duch. Jetzt Massengräbern haben sie bisher 8140 kar- te 50jährige auf dem Gewissen haben. Sie will ein Forscherteam der amerikanischen tographieren können. wurden erstickt oder erschlagen und oft ge- Yale-Universität die Knochen „zum Le- Einige der Erkenntnisse des „Cambo- foltert, bevor sie starben. Ihre halbverwe- ben erwecken“ und „den verstummten dian Genocide Program“ (CGP) sollen sten Leichen und gespaltenen Schädel fand Stimmen Gehör verschaffen“, in der Hoff- jetzt im Internet veröffentlicht werden man in den Kautschukplantagen, die Duch nung, daß den „Architekten des Systems“ (http://www.pactok.net.au/docs/dccam/dc in der Zeit des Massenmordens verwaltete, doch noch der Prozeß gemacht werden cam.htm). Die vollständige Auswertung des und in der Umgebung eines Vernichtungs- kann. Materials dürfte noch Jahre in Anspruch lagers, welches die Anwohner „das düstere Von Washington mit einer halben Milli- nehmen. Dennoch glauben die Forscher Gefängnis“ nannten. Den Bezirk, in dem es on Dollar ausgestattet und von Kambo- schon jetzt beweisen zu können: Die Aus- lag, hatte Duch zwei Jahre lang mitverwal- dschas Regierung ermuntert, sichten die merzung fast eines Viertels der kambo-

Kong Saman unbekannt unbekannt unbekannt Doeuk Peach unbekannt unbekannt unbekannt

tet. All das spricht gegen ihn. Und doch be- Ermordete aus dem Lager Tuol Sleng dschanischen Bevölkerung war nicht das streitet er, jemals getötet zu haben. Keiner überlebte sein Geständnis Ergebnis eines blindwütigen kollektiven In den Dörfern rund um das ehemalige Amoklaufs, sondern des am besten orga- Lager ist Duch noch heute ein gefürchte- Indochina-Kenner Ben Kiernan und Craig nisierten Verwaltungsmords seit der Ver- ter Mann. Bis zum letzten Tag hatte er Etcheson gemeinsam mit ihrem kambo- nichtung der europäischen Juden. dem Terrorregime der maoistischen Roten dschanischen Feldforscher Chhang Youk Die Nachforschungen des Recherche- Khmer gedient. Die verdankten ihre radi- seit zwei Jahren die Hinterlassenschaft ei- teams haben die Bauern von Kraing Ta kalen kulturrevolutionären Ideen einem in nes Vernichtungsapparats, der ähnlich wie Chan zum Reden gebracht. Und so kommt Paris ausgebildeten Kambodschaner mit der der Nazis vor allem eines sein wollte: es, daß Eab Duch 18 Jahre nach dem Ende dem Decknamen Pol Pot. effizient. Minutiös wie Buchhalter hatten des Pol-Pot-Regimes doch noch von seiner Duch war erst abgetaucht, als vietna- die Schergen Pol Pots die Verfolgung, Ver- Vergangenheit eingeholt wird. mesische Truppen am 7. Januar 1979 in der haftung und Hinrichtung vermeintlicher Ein Schneider und ein Frisör behaup- Hauptstadt Pnom Penh einmarschierten. Staatsfeinde in Kladden und Aktenordnern ten, Duch sei 1974 einer von drei Verant- Doch weil sich die Dschungelkämpfer trotz notiert. Als die Vietnamesen die Haupt- wortlichen für das Lager von Kraing Ta ihrer Entmachtung nie ganz geschlagen ga- stadt besetzten, flohen die Funktionäre Chan gewesen. Die beiden gehören zu den ben, weil die meisten Zeugen tot und die ohne ihre Dossiers. So sind 500000 Doku- wenigen Menschen, die den von Mili- meisten Überlebenden sprachlos vor Angst mente einer Bürokratie des Grauens er- zionären bewachten Komplex nicht als tod- waren, konnte sich Duch nur wenige Kilo- halten geblieben. geweihte Gefangene betraten: Der eine meter vom Tatort entfernt unbehelligt als Autobiographien von Gefangenen wie nähte Uniformen aus schwarzem Tuch für Reisbauer niederlassen. Handlangern des Regimes sind darunter, die Führungskader der Haftanstalt, der an- Niemand, der den Terror überlebte, hat erzwungene Geständnisse und Hinrich- dere schnitt den Kommandeuren dann und den ehemaligen Kader der Roten Khmer je tungslisten, auch Personalakten und Haft- wann die Haare. Er war Duch beim Och-

130 der spiegel 4/1997 senkauf auf dem Markt begegnet und schwört, dessen kantigen Schädel unter Tausenden wiedererkennen zu können. Wenn Duch heute seine Reisfelder ab- schreitet, die Hacke wie ein Sturmgewehr geschultert, wirkt er noch immer wie einer, der mit der Unbeirrbarkeit eines Kreuz- züglers für Volk,Vaterland und hehre Idea- le marschiert. Die Roten Khmer hatten ihn bereits zu ihrem Erfüllungsgehilfen gemacht, als er noch Weltverbesserungsträume hegte. Das war Anfang der siebziger Jahre: Kambo- dschas Staatsoberhaupt Prinz Sihanouk war mit Hilfe der CIA entmachtet worden, und amerikanische B-52 bombten die Grenzre- gion zu Vietnam in Schutt und Asche, um die Vietcong aus ihren Schlupfwinkeln in Kam- bodscha zu vertreiben. Es galt, so sugge- rierte die Propaganda der Rebellen, die Un- abhängigkeit und das Volk der Khmer zu verteidigen. Die Blut-und-Boden-Gesinnung gefiel dem damals 24jährigen. Doch irgendwann in den darauffolgen- den Jahren der Indoktrination muß Duch sein Idealismus abhanden gekommen sein – ebenso wie sein Gewissen. Zu seiner Rol- le als stellvertretender Leiter eines Bezirks befragt, der schon früh als „ideologisch vorbildhaft“ galt und der die linientreue- sten, unerbittlichsten Kader hervorge- bracht hat, gibt er immer nur soviel zu,

B. BARBEY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM B. BARBEY wie der Befrager zu wissen scheint. Kein

Knochenfunde von Kraing Ta Chan Revolutionslieder bei der Hinrichtung

unbekannt Binh Eyban Pon Ny

Wort des Bedauerns kommt über seine Lippen, allenfalls ein zynisches Lächeln und die gebetsmühlenhaft wiederholte Be- teuerung, unschuldig zu sein. Das System, dem er zu Diensten war, sei auf äußerste Geheimhaltung bedacht ge- wesen, sagt er. Lange Zeit habe auch er nicht gewußt, wer sich hinter „Angkar“ verbarg, der Organisation, die sich „so vie- ler Augen wie eine Ananas“ rühmte und die in ihrer Nichtfaßbarkeit so allgegen- wärtig und bedrohlich war wie George Or- wells „Big Brother“. Seine Order erhielt Duch von einem sogenannten Zonenko- mitee, dessen Mitglieder sich hinter den drei Ziffern 870 verbargen. Heute wissen die Yale-Forscher aus Briefen und Notizen, daß Büro 870 unter dem persönlichen Be- fehl Pol Pots stand. Lange vor der Eroberung Pnom Penhs

SIPA durch die Roten Khmer im April 1975 hat- Guerrilla-Führer Pol Pot (vorn, 1979), Führungskader: Unbeirrt wie Kreuzzügler te der geheimnisvolle kambodschanische

der spiegel 4/1997 131 Werbeseite

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Werbeseite Ausland Kommunistenführer mit der ideologi- von der gewünschten Norm nicht zugelas- haben, als nach der Eroberung Pnom schen Neuerschaffung der Welt begon- sen.Wer sich unter dem Terror nicht „nor- Penhs Hunderte deportierter Städter „im nen. Alles Alte mußte weichen: Schon mal“ verhielt, wer also nicht schwieg, wer Gänsemarsch und mit hinter dem Rücken 1972 waren die von der Guerrilla „befrei- nicht sich selbst und andere verleugnete, zusammengebundenen Händen“, so der ten“ Regionen in Zonen aufgeteilt, die wer sich nicht bedingungslos unterordne- Schneider, im Lager von Kraing Ta Chan Namen von Provinzen und Bezirken wur- te, der endete im Massengrab. verschwanden. den durch Zahlen ersetzt. Tram Kak, Das Töten hatte 1973 begonnen, erin- Für das Gefängnis habe höchste Ge- Duchs späteres Aufgabengebiet, bekam nert sich der Schneider, der Duch für einen heimhaltungsstufe gegolten, sagt Duch. die Nummer 105. der verantwortlichen Kader hält. Zunächst Anordnungen, die Gefangene betrafen, sei- Während der junge Revolutionär noch waren es nur einzelne, die verschwanden: en immer per Boten von einer ihm unbe- im Dschungel gegen „amerikanische Im- der Bauer, der seinen Ochsen geschlagen kannten höheren Führungsebene direkt an perialisten“ und ihre Verbündeten kämpf- hatte; die Bäuerin, die über Hunger klag- den Bezirkschef ergangen. Er selbst sei für te, zerstörten seine Genossen in den Dör- te; der Junge, der heimlich eigene Kartof- die Verwaltung von Lagerhäusern und fern die unter den Royalisten gebauten feln anpflanzte; der Rückkehrer, der eine nicht für die Todeslisten zuständig gewe- Schulen und Verwaltungsgebäude; farbige Kleidung wurde verboten, die ersten Ko- operativen entstanden. So planmäßig und synchron gingen die Rebellen in den von ihnen kontrollierten Gebieten vor, daß ein amerikanischer Diplomat bereits ein Jahr vor der Machtergreifung Pol Pots in einem geheimen Bericht an das State Department die Existenz einer „starken zentralen Par- tei“ vermutete, deren Programme und Be- fehle von „loyalen, disziplinierten Kadern auf Provinz- und Distriktebene“ ausge- führt würden. Da war Duch bereits stellvertretender Leiter des Bezirks 105, dem ehemaligen Tram Kak, in dem sich auch das Vernich- tungslager von Kraing Ta Chan befand. 1972 war er, inzwischen in marxistischer Rhetorik geschult, aus dem Dschungel an die Propagandafront versetzt worden. Sei-

ne Direktive lautete, Nachwuchs für die FOCUS / AGENTUR / MAGNUM B. BARBEY Revolution zu rekrutieren. Ehemaliger Lagerwärter Huy: Die Vernichtungslisten überprüft und abgehakt

unbekannt Phuy Bo unbekannt unbekannt Toet Nara unbekannt unbekannt unbekannt

Roh und rein wie „der Erde entrissene Zeitlang in Hanoi gewesen war. Ihre Lei- Diamanten“ sollten die neuen Kader sein. chen wurden nach Einbruch der Dunkel- Für die Veredelung sorgte Angkar; Duch heit in den umliegenden Reisfeldern ver- wiederholte nur buchstabengetreu, was die scharrt. Am Morgen, sagt der Schneider, Organisation ihn lehrte: „Die Städter sind deuteten nur noch Schleifspuren auf den alle Müßiggänger und Ausbeuter, sie sind Äckern auf das Geschehene hin. unmoralisch und arbeitsscheu, während Doch im Frühjahr des darauffolgenden die Bauern ein mühseliges Dasein fristen. Jahres, als der Frisör dem Bürokraten Duch Angkar wird dafür sorgen, daß das anders im Gefängnis die Haare geschnitten haben wird.“ Die Parolen, die der Bildungsschicht will, mußten die Killer das Dorf bereits des Landes schließlich zum Verhängnis mit Revolutionsliedern beschallen, damit werden sollten, gab das Zonenkomitee aus. die Bewohner die Schreie ihrer immer Sie wurden nachgebetet wie Glaubensbe- zahlreicher werdenden Opfer nicht hör- kenntnisse, denn die Führung duldete kei- ten. Und der Schneider stolperte zum er- nen Widerspruch. stenmal über ein Massengrab: Ein halb- So wurde Kraing Ta Chan, das als Schu- verwestes Knie ragte noch aus übelrie- lungszentrum für den Rebellennachwuchs chendem Schlamm. Den Anblick hat er nie begann, bereits Ende 1972 zum Umerzie- vergessen, erzählt aber hat er damals nie- hungslager für rebellische Bürger.Weil das mandem davon.

grausame Gesellschaftsexperiment Pol Duch, zum stellvertretenden Distrikts- FOCUS / AGENTUR / MAGNUM B. BARBEY Pots Vorbildcharakter für den Rest der leiter befördert, will von den Hinrichtun- Erfüllungsgehilfe Duch Welt haben sollte, waren Abweichungen gen selbst dann noch nichts mitbekommen „Auch Kader lebten in Angst“

134 der spiegel 4/1997 sen. Daß Menschen verschwanden, nahm Aber für den Funktionär war es längst zu Him Huy heißt einer der Vollstrecker, er achselzuckend hin. Und noch heute re- spät auszusteigen. Sein Vorgänger hatte be- der Tausende von Inhaftierten auf Laster det er von der Zeit der Massenexeku- reits den Argwohn des Geheimdienstes er- verlud und zu ihrer Liquidierung fuhr. Huy tionen, als sei es vollkommen normal, bei regt und war spurlos verschwunden. An- ist ein schüchterner, dürrer Mann, der ein grausamen Geschehnissen wegzusehen. geblich hatte er für die CIA und die Viet- paar Schweine und eine kleine Reispar- Daß einer, der so energisch auftritt wie namesen spioniert. Duch sagt: „Auch als zelle in der Provinz besitzt, womit er sei- Duch, Befehle nur befolgt, nie aber erteilt Kader lebten wir in Angst und Schrecken.“ ne achtköpfige Familie so gerade über die haben will, ist schwer zu glauben. Doch Der Vernichtungs- und Verfolgungs- Regenzeit bekommt. Sein Lächeln wirkt Mord kann ihm auch nicht mit Hilfe der wahn Pol Pots richtete sich gegen die ge- verlegen und wie eingefroren; es schwin- Dokumente des CGP nachgewiesen wer- samte Bevölkerung der östlichen Zone, det auch dann nicht, wenn er bereitwillig, den. Ohne Bürokraten wie ihn aber hätte seit sein Geheimdienst im Frühjahr 1976 ja fast detailversessen von dem Papierkrieg die Vernichtungsmaschinerie nicht jahre- in den dortigen Kautschukplantagen ein erzählt, den er als Chef der für den Trans- lang mit solch unbeirrbarer Präzision funk- Spionagenetz ausgemacht zu haben port der Todgeweihten zuständigen Wär- tionieren können. glaubte. Was für die Juden unter den Na- terkolonne an Hinrichtungstagen hatte. zis der gelbe Stern war, Denn das staatlich organisierte Sterben Kambodscha unter Pol Pot Zonengrenze wurde für anderthalb Mil- sollte seine Ordnung haben. bisher geortete lionen Ost-Khmer der Jede Vernichtungsliste, die Huy aus der Vernichtungslager blaue Schal: ein Brandmal, Gefängnisverwaltung erhielt, wurde mehr- THAILAND LAOS mit Massengräbern das sie tragen mußten und fach überprüft und abgehakt. Um sicher- das sie zur Ausrottung frei- zugehen, daß kein verzeichneter Gefange- NORD gab. Zwei Jahre später wa- ner entkam, hatte Huy die Namen vor Ab- ren nach Schätzung von fahrt und noch einmal nach Ankunft am

NORDOST Kiernan 250 000 von ihnen Exekutionsort einzeln aufzurufen und er- g

n auf brutalste Weise umge- neut zu notieren. Diese am Rand der „Kil- ZENTRUM o k bracht. ling fields“ verfaßten Listen gingen zurück NORDWEST e

M Doch mit dem Vernich- an die Registratur der Zentrale. Dort glich Chamcar Andong tungsfeldzug war das Re- der Buchhalter über Leben und Tod, ein WEST gime nicht nur dabei, das ei- gewisser Sous Thy, sie noch einmal mit den

G OST gene Volk systematisch aus- Originallisten ab, bevor er die Gefangenen o Pnom Penh VIETNAM l zurotten, sondern auch sich zur Exekution freigab und hinter ihre Na- fv

o Bezirk 105 selbst. 14345 Personen wur- men das Datum mit dem Vermerk „zer- n (Tram Kak) 100 km T den zwischen 1976 und Juni schmettert“ tippte. h a ila SÜD- 1978 ins Zentralgefängnis Oft warteten die Häftlinge mehr als eine n d WEST der Geheimpolizei am süd- halbe Stunde an der Seite ihrer Killer auf Region 13 Quelle: CGP/ lichen Stadtrand von Pnom den Vollstreckungsbefehl. Mechanisch wie (Takeo) B. Kiernan/M. Pitt Penh eingeliefert. In dem Gliederpuppen gingen die meisten schließ-

unbekannt Chan Kim Srun unbekannt Keo Sarun unbekannt Nguyen Thi Ba unbekannt unbekannt

Als Duch 1976 zum Herrn über vier für Ermordete aus dem Lager Tuol Sleng lich in den Tod. Ihre Folterer hatten sie ge- die Wirtschaft des Pol-Pot-Regimes unver- Lieder übertönten die Schreie lehrt, daß es Schlimmeres gab. zichtbare Kautschukplantagen nordöstlich Huy war nie, wie Duch, ein Überzeu- der Hauptstadt befördert wurde, hatte die mit Stacheldraht eingezäunten Gebäude- gungstäter; er brannte nicht darauf, die Organisation des Massenmords bereits komplex, der einst Schüler beherbergte, wa- Welt zu verbessern. Mit 20 hatten die Ro- Priorität vor der Steigerung der Reispro- ren zeitweise bis zu 1500 Menschen gleich- ten Khmer ihn in ihre Rebellenarmee ein- duktion. Fast täglich wurden mit Lastwa- zeitig eingekerkert – unter ihnen Soldaten, gezogen. Drei Jahre später marschierte er gen Menschen in die Kautschukplantage Ärzte, Lehrer, Ingenieure, vor allem aber mit den ersten Truppen Pol Pots in der von Chamcar Andong gebracht.Vielen hat- führende Parteikader und ihre Familien. Hauptstadt ein. Die Bevölkerung stand ju- te man erzählt, man brauche sie für einen Mit Stangen an ihre Mitgefangenen belnd am Straßenrand, das weiß er noch, Arbeitseinsatz, andere glaubten, im Aus- gekettet, mit einzementierten Eisen an doch dann verläßt ihn seine Erinnerung. Er tausch gegen Benzin an Malaysia verscha- den Boden ihrer Zellenschächte gefesselt, war von einem Granatsplitter getroffen chert zu werden. Sie hatten sich geprügelt, schrieben sie Hunderte von Seiten auto- worden. Als er zwei Tage später aus seiner um einen Platz auf den Ladeflächen zu er- biographischer Bekenntnisse. Einige be- Ohnmacht erwachte, war Pnom Penh gattern. Doch statt aus der Hölle hinaus teuerten lange ihre Unschuld und flehten „eine Geisterstadt“. führten die Fahrten geradewegs an den die Partei um Gnade an, andere gaben un- Was den Soldaten Huy schließlich zum Rand frischausgehobener Massengräber. ter Stromschlägen und Daumenschrauben Henkersknecht für die geheimste aller Es sei völlig ausgeschlossen, daß Duch in gleich zu, was ihre Häscher hören wollten. Operationen des Pol-Pot-Regimes machte, seiner Position als Abteilungsleiter von Nach wenigen Monaten, oft gar nur Tagen, ist wohl seine ausgeprägte Beflissenheit. Chamcar Andong nicht wußte, was ge- war jeder von ihnen des Hochverrats und Huy hatte seinen Dienst im Hochsi- schah, meint der Yale-Historiker und CGP- der Spionage überführt. Keiner überlebte cherheitsgefängnis des Santebal zu einem Projektleiter Ben Kiernan. sein Geständnis. Zeitpunkt angetreten, da die Vernich-

der spiegel 4/1997 135 Werbeseite

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Werbeseite tungsmaschinerie bereits auf Hochtouren andere, aber auch gegen sich selbst be- lief. Jedes Geständnis zog eine neue Ver- dacht. haftungswelle nach sich, denn unter der Gefühle empfand Huy erst, als Namen Folter beschuldigten die Häftlinge alle, die ehemaliger Kameraden auf seinen Listen sie jemals kennengelernt hatten. Eine auftauchten. Doch nicht aus Mitleid mit flüchtige Begegnung, ein Händedruck, ein ihnen schlief er nachts nicht mehr, son- gemeinsames Mahl reichten aus, um ins dern aus Angst um sich selbst. „Ich war si- Visier der Staatssicherheit zu geraten. cher, daß es nicht mehr lange dauern wür- Selbst Familienangehörige wurden de- de, bis auch ich erschlagen in einem der nunziert.Allein am 1. Juli 1977 ermordeten Gräben zu liegen käme“, sagt er heute. Er die von Huy mit Nachschub versorgten fing an, Gefangene auszuhorchen, was Totschläger 114 Frauen. 90 von ihnen wa- strengstens verboten war. Immer wenn er ren in der Gefängnisbuchhaltung unter der fürchten mußte, daß einer beim Verhör sei- Kategorie „Ehefrauen“ eingetragen. 74 nen oder den Namen seines Chefs erwäh- Kinder folgten ihnen am Tag darauf ins nen könnte, machte er Meldung. Was mit Massengrab. den Gefangenen daraufhin geschah, woll- „Weiter verfolgen“, hat Pol Pot persönlich te er lieber nicht wissen. am Rand eines Geständnisses notiert, das Eine Zeitlang war Chhang Youk, der die Yale-Forscher in den Archiven der Ge- kambodschanische Rechercheur des For- heimdienstzentrale fanden. Ein Verhörter schungsprojekts CGP, überzeugt, mit Huy hatte zugegeben, mit einem Verwandten ei- einen Täter gefunden zu haben, der nicht nen Umsturz geplant zu haben. Der Regie- nur Befehlsempfänger war. In den Papie- rungschef ließ sich die Kontrolle über die ren, die die Häscher bei ihrer überstürzten Verfolgung und Ausrottung des „Ungezie- Flucht im Januar 1979 in den Akten- fers in der Partei“ offensichtlich nicht neh- schränken von Tuol Sleng zurückgelassen men. Formal hatte er die Oberaufsicht über hatten, tauchte die Unterschrift Huy wie- S-21, das Vernichtungslager für die wichtig- derholt unter Haftbefehlen auf. Der Mann, sten politischen Häftlinge, jedoch seinem der sie unterzeichnet hatte, schickte Men- Verteidigungsminister Son Sen übertragen. schen in den Tod, weil sie „eigensinnig“ Der forderte im Oktober 1977 in einem waren, „die Arbeit verweigerten“ oder „zu Brief den Direktor der mörderischen selbstbewußt“ dachten. Zuchtanstalt auf, „Papier zu sparen“. Die Youk ließ die Unterschrift analysieren Verhaftungen und Hinrichtungen hatten und mit der von Huy vergleichen. Denn

sich gegenüber dem Vorjahr mehr als ver- REUTERS nur mit einem solchen Beweismittel hätte doppelt. Namenslisten wurden für die Ab- Übergelaufene Rote Khmer* der ehemalige Gefängnisaufseher vor das lage mit dreifachem Durchschlag verfaßt, Absolution vom König internationale Tribunal geladen werden

unbekannt unbekannt Kim Son unbekanntunbekannt unbekannt Siw Son unbekannt

und Geständnisse umfaßten nicht selten Ermordete aus dem Lager Tuol Sleng können, welches das CGP ursprünglich mehrere hundert Seiten.Am Ende des Jah- Die Killer hielten auf Ordnung vorbereiten sollte. Doch die Unterschriften res waren 6330 Menschen eingeliefert wor- erwiesen sich als nicht identisch, und die den. Die meisten hat Huy auf ihren letzten stätte von Tuol Sleng alias S-21 einen Be- Pläne für die gerichtliche Aufarbeitung der Weg gebracht. such abstattet. Die Rückkehr an den Ort Vergangenheit dürften an der heutigen Alle wurden sie zuvor durchnumeriert des Grauens läßt ihn ungerührt. „Ich emp- kambodschanischen Realpolitik scheitern. und abgelichtet – für die Unterlagen und finde nichts“, sagt er. Vergangenen September amnestierte damit es keine Verwechslungen gab. Zwei Wie ein Beamter, der nichts weiter als König Sihanouk einen der Führungskader Journalisten fanden später einen Teil der Einnahmen und Außenstände protokol- des Terrorregimes: Pol Pots einstigen Vi- Negative in einem Aktenschrank des Ge- liert, registrierte Huy noch bis Mitte 1978 zepremier und Außenminister, Ieng Sary. fängnisses. die Todeskandidaten. Nicht, weil er ein Der hatte während seiner Amtszeit mehr- Die Porträts hängen heute an den ein- Sadist wäre oder ein gemeiner Verbre- fach zu Säuberungskampagnen aufgeru- stigen Zellenwänden: Schwarzweißauf- cher; alles, was er tat, tat er ordnungs- fen und selbst Parteimitglieder denunziert; nahmen, schlicht wie Paßfotos, erschüt- gemäß und pflichtvergessen. Die Büro- 148 von ihm heimgerufene Diplomaten ternd wie Auschwitz-Bilder. Es sind die kratie des Mordens hatte das Morden zu und Elitekader starben in Tuol Sleng. Doch Augen, die den Betrachter nicht loslassen einem Verwaltungsakt gemacht. Und weil weil sich der Rebellenführer mit seinen wollen: Sie flehen und hassen, sie betteln die Partei von Männern in verantwor- Guerrillakämpfern von Pol Pot lossagte, und bangen. Sie drücken Stolz aus und tungsvollen Positionen wie der seinen ver- erhielt er von Sihanouk die Absolution. Verachtung, Erstaunen, Panik und Selbst- langte, unmenschlich zu sein, war er, Verantwortung für das Massensterben sei- aufgabe. Doch nicht an ein einziges dieser schon aus Selbstschutz, auf Härte gegen ner Landsleute will auch er, einer der Gesichter will der ehemalige Wärter Huy Oberkommandierenden der Mordmaschi- sich erinnern können, als er der Gedenk- * Bei der Aufnahme in die Armee im November 1996. ne, nicht übernehmen. ™

138 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Ausland tet, denen brutale Übergriffe vorgeworfen Entfernung abgefeuert worden und hatte PORTUGAL werden. Bislang konnten die Uniformier- den drogensüchtigen Araújo von hinten ten fast nach Belieben mit Bürgern um- getroffen. Erst bei seiner Vernehmung vor springen. Zwischen 1986 und 1995 wurden der Untersuchungsrichterin gab der Poli- Plötzlich unwohl nach Angaben des Innenministeriums in zist Luís Severino, 36, zu, daß er auf den 71 Fällen Polizisten wegen der Tötung eines flüchtigen Jugendlichen zwei „Warnschüs- Polizisten prügeln nicht nur, sie Menschen angezeigt. So hatte ein Beamter se“ abgegeben habe.Wider Erwarten muß- erschießen auch häufig im Juni 1994 bei Porto einem Zigeuner te er in Untersuchungshaft, zur Empörung während des Verhörs die Pistole an die seiner Kameraden. Verdächtige. Nun soll ein Zivilist Schläfe gehalten und abgedrückt. Der To- Der Fall erregt das ganze Land. Doch er- die Ordnungshüter umerziehen. desschütze wurde zu zwei Jahren und zehn staunlicherweise ergreifen viele Portugie- Monaten Haft auf Bewährung verurteilt – sen Partei für den Todesschützen. In einer m Heiligen Abend gaben die Be- und blieb im Dienst. Erklärung schrieben „Freunde der Stadt“, amten ihre Dienstpistolen für 24 Ähnliches trug sich im Mai 1996 auf der sie „dürften nicht stumm bleiben vor dem AStunden bei den Vorgesetzten ab. Wache der paramilitärischen National- Klima der Unsicherheit in Évora“. Es sei Die freiwillige Entwaffnung, an der sich garde GNR in der Lissaboner Vorstadt nicht Rechtens, daß ein Polizist, „der uns 90 Prozent der Mitglieder der Polícia de Sacavém zu. Der Revierchef erschoß dort schützt“, wegen eines Diebs bestraft werde. Segurança Pública (PSP) beteiligten, war einen Drogensüchtigen. Um seine Tat zu Seit vor vier Jahren in Portugal der Wirt- jedoch nicht als Demonstration christli- vertuschen, schnitt er der Leiche den Kopf schaftsboom abbrach und viele Mittel- chen Friedenswillens gedacht. ab und vergrub die Teile im Wald. Der Pro- ständler die Krise spüren, macht sich eine Die Polizisten protestierten, weil sie sich zeß gegen ihn steht noch aus. hysterische Angst vor Verbrechen in der verfolgt fühlten. „Der PSP ist wieder ein- Doch nach dem vorerst letzten „plötz- Gesellschaft breit. Die Vorfälle in Évora, so mal Unrecht geschehen“, unterstützte ihr lichen Tod“ auf einer Polizeiwache der kommentierte die Tageszeitung público, bewiesen, daß schon eine Welle von Be- schaffungskriminalität reiche, um die „Bür- ger an den Rand des Nervenzusammen- bruchs zu bringen“ und Selbstjustiz zu rechtfertigen. Der sozialistische Innenminister tat sich bislang schwer, der aus der Zeit der Dik- tatur noch stark militärisch orientierten Polizei rechtsstaatliche Gepflogenheiten beizubringen. Der Jurist Alberto Costa, 49, hatte als Mitglied der Kommunistischen Partei vor der Nelkenrevolution 1974 in Furcht vor den Sicherheitskräften gelebt und mußte sich ins Exil retten. Daß er nun oberster Dienstherr der Polizei wurde, sei ein „Besetzungsfehler“, diagnostiziert público. Costa hatte nach dem Wahlsieg der So- zialisten im Oktober 1995 zwar durchge- setzt, daß ein Gesetz aus der Salazar-Dik- tatur geändert wurde, wonach der Ober- kommandierende der PSP stets ein Militär sein mußte. Doch er stellte vor einem Jahr

J. SIMAO / EXPRESSO J. den Heeresgeneral Teixeira an die Spitze. Innenminister Costa, Polizeichef Teixeira: Mißhandlungen alltäglich Am liebsten tauchte Costa weg, wenn wie- der ein Polizeimord ruchbar wurde, und Chef, General Gabriel Teixeira, seine Un- Kleinstadt Évora Mitte Dezember war äußerte auch Weihnachten zunächst Ver- tergebenen. Schluß mit der Langmut der Justiz. „Au, ständnis für den Protest der Polizisten ge- Die Aktion war der Höhepunkt eines au, mein Bauch“, hatte der mit Hand- gen die Richterentscheidung. Skandals, der die Sicherheitskräfte des klei- schellen gefesselte Carlos Araújo, 21, Doch am Dreikönigstag versuchte er ei- nen EU-Landes erschüttert: Fünf unbe- immer wieder gejammert, während er nen Befreiungsschlag: Er verabschiedete waffnete Jugendliche, meist drogenabhän- sich auf dem Boden vor Schmerzen wand. General Teixeira, weil der einer „tiefgrei- gige Kleinkriminelle, starben seit Mai 1996 „Die Polizisten meinten, das sei Thea- fenden Reform“ der Polizei im Wege ge- in Polizeigewahrsam – angeblich durch „un- ter“, erinnert sich sein Freund. Zusammen standen habe, und setzte an die Spitze der beabsichtigte Schüsse“, „plötzliches Un- mit einem weiteren Komplizen hatten PSP erstmals einen Zivilisten – wenigstens wohlsein“ oder „merkwürdige Umstände“. die jungen Männer einen Jeansladen im pro forma. Denn der neue Chef, der bis- Die Gewalttätigkeit der portugiesischen Zentrum der Alentejo-Kleinstadt auf- herige Distriktskommandeur von Lissabon, Polizei sei „eine der Hauptsorgen von Am- brechen wollen. Mário Gonçalves Amaro, 56, hatte seine nesty International in Europa“, stellte Im Polizeibericht stand später, Araújo Karriere ebenfalls beim Militär begonnen Pierre Sané, Chef der Gefangenenhilfsor- habe auf der Wache über „plötzliches Un- und war 1988 zur PSP gewechselt. ganisation, jüngst fest. Und das Anti-Folter- wohlsein“ geklagt und sei auf der Toilette Im Prunksaal des Innenministeriums ge- Komitee des Europarats berichtete, daß zusammengebrochen. Im Krankenhaus lobte Amaro dennoch: „Ich werde uner- körperliche Mißhandlungen in Portugals von Évora traf er laut Angaben des klini- bittlich und streng in Sachen Disziplin sein Polizeiwachen „alltäglich“ seien. schen Direktors als „kalte Leiche, seit und nichts dulden, was den guten Ruf der Die seit Mitte März arbeitende Gene- mehreren Stunden tot“, ein. Die Obdukti- Polizei schädigt.“ Seine Mission, so der In- ralinspektion der Internen Verwaltung hat on förderte die Ursache zutage: eine Poli- nenminister, sei es, die Sicherheitskräfte 110 Untersuchungen gegen Mitglieder der zeikugel Kaliber .765 im Unterleib. Der „auf das europäische Modell“ einzu- portugiesischen Sicherheitskräfte eingelei- Schuß war aus weniger als drei Meter schwören. ™

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Mir haut niemand auf den Kopf“ Martina Hingis über die Pubertät eines Tennisprofis, Steffi Graf und den Generationswechsel

Hingis, 16, gilt als Gegenentwurf zu gescheiterten Talenten wie Jennifer Ca- priati. Ihre Mutter Melanie und ihr Manager Damir Keretic setzten – bislang erfolgreich – auf eine vergleichsweise be- hutsame und vielseitige Ausbildung des Jungstars. Hingis, die vor den Australian Open in Melbourne auf Platz vier der Weltrangliste stand, lebt in Trübbach (Schweiz) und Rozˇnov (Tschechien).

SPIEGEL: Martina, die Tenniswelt erwartet für 1997 das Duell der Nummer eins Steffi Graf mit der Aufsteigerin Martina Hingis – Sie auch? HINGIS: Ja, klar, jedenfalls wünsche ich es mir. Es gibt im Tennis ja meistens ein Duell an der Spitze der Weltrangliste, nun könnte es ruhig Graf gegen Hingis heißen. Ich trainiere jetzt seit 14 Jahren für das Ziel, Nummer eins zu werden, und so lang- sam gibt es keinen Grund mehr, warum es nicht klappen sollte. SPIEGEL: Sie sind erst 16 Jahre alt, aber Sie werden ungeduldig? HINGIS: Werde ich nicht, nein. Ich habe nur die Chance, jede andere zu schlagen, und da wäre es einfach dumm, nicht an die Nummer eins zu denken. SPIEGEL: Woher nehmen Sie die Zuversicht, Steffi Graf schon ablösen zu können? Ge- wonnen haben Sie erst einmal gegen sie. HINGIS: Es wird schwerer für sie. Damit ich nicht mißverstanden werde: Ich habe eine Hochachtung vor Steffis Erfolgen.Aber die Zukunft gehört eher mir als ihr. Ihre Knie und ihr Rücken zwicken. Die neue Be- rechnung der Weltrangliste ist nicht günstig für sie … SPIEGEL: … weil die Profis im Vorteil sind, die viele Turniere spielen … HINGIS: … und ihre Rückhand ist angreif- bar.Wer selbstbewußt gegen sie antritt und versucht, sie über den Platz zu scheuchen, hat gegen Steffi eine echte Chance. SPIEGEL: Monica Seles, die Nächstbeste, ha- ben Sie zuletzt gedemütigt. HINGIS: 6:2, 6:0. Ich bin frecher geworden und lasse mir von niemandem mehr auf den Kopf hauen. Monica hatte halt einfach keine Chance. SPIEGEL: Glauben Sie, daß Seles sich in Ihren Zweikampf mit Graf noch einmal einmischen wird? HINGIS: Ganz ehrlich? SPIEGEL: Wenn möglich. HINGIS: Ich glaube das nicht. Ich denke, daß sie es allen zeigen wollte, als sie nach REUTERS Das Gespräch führte Redakteur Klaus Brinkbäumer. Tennisprofi Hingis: „Ich will immer was Großes machen“

144 der spiegel 4/1997 AP Weltstars Seles, Graf*: „Schnell umziehen, schnell gewinnen, schnell duschen, schnell verschwinden“ dem Attentat zurückkam. Aber dann hat SPIEGEL: Sind Sie faul? ben mache und zufrieden bin. Sie meinte, sie ein paarmal verloren, und dann war HINGIS: Bequem. Ich will zwar immer was wenn ich schon Tennis spiele, dann bitte die Motivation weg. Sie war sicher mal eine Großes machen; wenn ich auf meinem schön richtig. Ich habe gelacht und sie nicht sehr gefährliche Spielerin, aber sie bringt Pferd sitze, mag ich auch nicht einfach her- ernst genommen. diese Leistung nicht mehr, weil sie ein paar umreiten, sondern muß über schwierige SPIEGEL: Aber in den vergangenen Mona- Kilo zuviel wiegt – und das Spiel ist schnell Hindernisse springen.Aber die Arbeit, die ten haben Sie drei Turniere gewonnen.War geworden. Monica ins Laufen zu bringen dafür nötig ist, stört mich. Siegen ist toll, die Krise also auch ein Neubeginn? ist nicht so schwierig. anfangen ist hart. HINGIS: Glaub’ schon. Spaß hatte ich ja SPIEGEL: Und was halten Sie von den an- SPIEGEL: Rebellieren Sie manchmal gegen selbst nicht, und dann habe ich irgendwann deren Koryphäen, Conchita Martínez oder die Trainingsmethoden Ihrer Mutter? wieder ernsthaft trainiert. Ich spiele ein- Arantxa Sánchez? HINGIS: Ich grinse über sie. Ich habe schon einhalb, manchmal zwei Stunden am Tag HINGIS: Sie sind alle sehr gut, ehrlich.Aber oft nein gesagt und gedacht: „Das können Tennis, und ich reite, wann immer es geht. sie werden älter. Die Sánchez spielt schon wir auch morgen noch machen.“ Aber Dazu kommt jeden Tag etwas anderes: Ve- ein bißchen zu langsam. Gegen ihre Vor- dann bin ich doch auf den Platz gegangen. lofahren, Rollerblading, Skifahren, Aero- hand kann man viel machen, sie hat keinen SPIEGEL: Warum? bic, Krafttraining. Und seit dem letzten richtigen Gewinnschlag. Gegen Conchita HINGIS: Aus Erfahrung. Wir sind ein Team, Jahr boxe ich. habe ich bisher zwar immer verloren; aber ich traue ihr, und wir sind weit gekommen. SPIEGEL: Gegen Menschen? Anke Huber schlägt die schon, und dann Und irgendwo tief drinnen habe ich natür- HINGIS: Nein, nein, das ist brutal, das mag müßte ich das auch schaffen. lich auch den Drang, die Beste zu werden. ich überhaupt nicht. Nur Training mit dem SPIEGEL: Im Damentennis steht also der Gegen meinen Willen würde gar nichts lau- Springseil und gegen Sandsäcke. Das Generationswechsel unmittelbar bevor? fen, das ist ganz klar. macht mich schneller und stärker. Und HINGIS: Ja, die Zeit ist reif dafür. Die Jün- SPIEGEL: Wann hatten Sie Ihre bislang größ- außerdem sind beim Boxen viele Jungs. geren kommen: Iva Majoli ist gefährlich, te Krise? SPIEGEL: Steffi Graf kritisiert öfters die Lindsay Davenport spielt unheimlich HINGIS: Im Frühjahr 1996 hatte ich nicht mangelnde Fitneß vieler Spielerinnen. schnell, Anke Huber hat ihre Ruhe gefun- mehr soviel Lust. Können Sie das nachvollziehen? den. Und dann bin ich noch da. SPIEGEL: Sie wissen, was Pubertät ist? HINGIS: Es gibt viele, die mehr aus sich ma- SPIEGEL: Vor allen anderen. HINGIS: Ich habe davon gehört: Ausbrechen chen könnten, aber sie haben halt nicht HINGIS: Ja, zuletzt habe ich wirklich gegen wollen, nein sagen. Ich mochte damals ein- diesen Willen. Darum trainieren sie eben alle gewonnen. fach nicht mehr, habe gegen Spielerinnen auch nur auf dem Tennisplatz. SPIEGEL: Sie müßten nur abwarten, bis Stef- verloren, die schlechter sind als ich. Ich SPIEGEL: Haben Sie keine Angst, Ihren Kör- fi Graf ihre Karriere beendet. habe den Ball nicht mehr getroffen. per zu überfordern? Viele andere Teenager HINGIS: So läuft es nicht. Ich stand schon SPIEGEL: Weil es Sie zu den Gleichaltrigen mußten die Karriere beenden, bevor sie einmal lange auf Platz 20 herum, habe gut in Schule und Diskotheken zog? richtig begonnen hatte. damit gelebt und gedacht: „Bisher ging es HINGIS: Na ja, die Schule stand für mich nie HINGIS: Darum mache ich ja viele, ganz un- immer nach oben, nun wird es schon so so im Vordergrund. Ich habe die Situation terschiedliche Sportarten. Mein Leben ist weitergehen.“ Aber gar nichts passierte. gar nicht als so kritisch wahrgenommen, schön. Ich kann durch die Akropolis laufen Meine Mutter mußte mich immer ein ich wollte einfach gar nichts machen und und muß nicht warten, bis sie in den Schul- bißchen zur Arbeit zwingen. meine Ruhe haben. büchern drankommt.Wenn es geht, fahren SPIEGEL: Ihre Mutter hat Sie zum Weiter- wir zu Turnieren in Länder, wo ich noch nie * Bei der Verabschiedung der zurückgetretenen Argen- machen bewegt? war, und überall kann ich reiten. Oder es tinierin Gabriela Sabatini am 18. November 1996 in New HINGIS: Sie übt keinen Druck aus, sie will zieht mich magisch zum Einkaufen. Ich York. nur, daß ich irgend etwas aus meinem Le- habe nicht das Gefühl, daß ich leide.

der spiegel 4/1997 145 Sport

SPIEGEL: Weil Sie den Ruhm genießen? SPIEGEL: Wissen Sie, wofür Graf noch spielt? HINGIS: Mark Philipoussis, der Australier. Ich HINGIS: Es ist nicht so schlecht, berühmt zu HINGIS: Ich weiß es nicht, wir anderen Spie- mag dunkle Typen. sein, im Restaurant „Planet Hollywood“ lerinnen sehen sie kaum. Steffi ist immer SPIEGEL: Graf ist 27 Jahre alt, und Sie ha- von den Gästen erkannt zu werden. Es ist gestreßt und in Bewegung, sie muß immer ben die Rolle übernommen, die sie vor schön, und es macht mich stolz. Wenn ich irgend etwas machen. Wir haben keinen zehn Jahren als Herausforderin von Mar- nicht mehr mag, höre ich halt auf, und dann Kontakt, weil sie sich immer schnell um- tina Navratilova und Chris Evert hatte. Er- bin ich kein zerstörter Mensch, das ver- zieht, schnell gewinnt, schnell duscht und innern Sie sich noch an Ihre erste Begeg- spreche ich Ihnen. schnell verschwindet. nung mit Steffi ? SPIEGEL: Gescheiterte wie Jennifer HINGIS: Die war nicht so toll. Ich Capriati reisten mit ihrem Vater um war zehn Jahre alt, Schweizer Ju- die Welt. Spielt es eine Rolle, ob die gendmeisterin, und die Zeitung Mutter oder der Vater eine Spiele- blick hatte ein Treffen und einen rin trainiert? Fototermin organisiert. HINGIS: Bestimmt. Wir sind Freun- SPIEGEL: Aber? dinnen, die über alles reden. Der HINGIS: Steffi wollte nicht. Also hat Unterschied, auch zu Steffi oder Monica Seles das Bild mit mir ge- Monica, ist, daß ich mich früher ge- macht. O Gott, ich war nervös, habe wehrt habe. Zu ein paar Turnieren zu ihr hochgeschaut, sie war der werde ich bald auch allein fahren. große Star für mich. Ich konnte SPIEGEL: Wie reagiert Ihre Mutter noch überhaupt kein Englisch und auf Ihre Selbständigkeit? habe einfach nichts gesagt. HINGIS: Ich glaube, es ist okay. Sie SPIEGEL: Haben Sie seitdem ein be- weiß schon, daß sie nach meiner sonderes Verhältnis zu Seles? Karriere Kinder trainieren will. Und HINGIS: So etwas bleibt hängen. Als darum braucht sie mich nicht so, Monica zurückkehrte, sagte sie, Iva wie viele Väter ihre Töchter brau- Majoli und ich seien die einzigen, chen, wenn sie ihren Beruf aufge- die sich über ihr Comeback gefreut geben haben. hätten. SPIEGEL: Druck entsteht auch durch SPIEGEL: Profisport ist ein kaltes Ge- Sponsoren, durch Medien. schäft. HINGIS: Kann sein, aber ich will HINGIS: Ist das nicht traurig? Ich mein Leben so, wie es ist. Ich muß habe nicht mehr gemacht, als Mo- zwar im Winter wegen meiner Ver- nica ein paar nette Worte zu sagen träge nach Tokio fliegen, und da ist und ihr zu den ersten Siegen zu gra- es dann nicht so klasse – aber das ist tulieren. doch genauso auszuhalten wie zwei SPIEGEL: Hat sich das Verhalten der Tage Werbeaufnahmen oder ein anderen Ihnen gegenüber mit Ihren Spielchen mit Kindern. Erfolgen geändert? SPIEGEL: Fürchten Sie manchmal, HINGIS: Sehr. In Wimbledon etwa auf dem Platz zu versagen? spürt man das besonders. Da gibt es

HINGIS: Eben nicht. Meine Mutter M. NÖCKER / RINGIER eine spezielle Garderobe für die be- sagt immer: „Nur die Ungeschick- Talent Hingis, Vorbild Seles (1989): „Kein Wort gesagt“ sten 16, und da ist immer eine ko- ten fallen hin.“ Ich war immer ein mische Atmosphäre. Alle beobach- vorsichtiger Typ, aber gerade Sport ten sich gegenseitig, und inzwischen hat mich selbstbewußter und muti- beobachten alle mich. Ich werde re- ger gemacht. Wenn ich auf den spektiert und höflich behandelt, es Platz gehe, freue ich mich, daß ist für sie keine Schande mehr, gegen 10 000 Menschen da sind – aber mich zu verlieren. Sie haben mich in Angst habe ich nicht.Vielleicht ver- die Gesellschaft aufgenommen. liere ich, doch blamieren werde ich SPIEGEL: Und die Turnierveranstal- mich nie, weil ich einfach was kann. ter versorgen nun Sie mit den gün- SPIEGEL: Boris Becker hat mit 17 Jah- stigsten Spielansetzungen? ren Wimbledon gewonnen … HINGIS: Noch nicht, nein. Sie sagen HINGIS: … und das versuche ich in nur immer, daß sie die jungen diesem Jahr mit 16. Schauen Sie sich Mädchen schützen wollen, aber sie Boris an: Er ist eine Persönlichkeit tun es nicht. Beim Masters in New geworden in dem Rummel, es hat York … ihm nicht so wahnsinnig geschadet. SPIEGEL: … wo Sie im Finale in fünf

SPIEGEL: Bewundern Sie Becker? A. REISER / BILDERBERG Sätzen gegen Graf unterlagen … HINGIS: Vom Aussehen her mag ich Tochter Hingis, Mutter: „Wir sind Freundinnen“ HINGIS: … hatte ich den schlech- ihn nicht so, rote Haare gefallen testen aller Spielpläne: Montag, mir nicht besonders.Aber auf dem Platz ist SPIEGEL: Kann man das Steffi Graf vor- Freitag, Samstag, Sonntag. Steffi durfte er toll. werfen? Dienstag, Donnerstag, Samstag, Sonntag SPIEGEL: Sie sagten sehr früh sehr nüch- HINGIS: Ich meine nur, daß ich das anders spielen. tern, Sie würden wegen des Geldes spielen. machen will. Ich verbringe so viele Jahre SPIEGEL: Darum hatte sie im fünften Satz HINGIS: Wenn man auf Platz 30 steht, ist mit meinen Kolleginnen, da muß ich keinen noch Kraft und gewann 6:0? Geld wichtig für die Organisation, die Rei- Streit haben und keine Feindschaft. Ich will HINGIS: Ich sage nur: Wenn man das Duell sen, das Training. Da steht man unter Kontakte, ich will mit den anderen Mädchen Graf gegen Hingis wirklich will, muß man Druck. Aber wenn man oben ist, vergißt auf der Tribüne sitzen und diskutieren, wer auch etwas dafür tun. man das Geld. Man spielt für das Glücks- der schönste Mann auf der Tour ist. SPIEGEL: Martina, wir danken Ihnen für die- gefühl, ein großes Match zu gewinnen. SPIEGEL: Wer ist es? ses Gespräch.

146 der spiegel 4/1997 stellt, und für seine Partnerin ist immerhin EISKUNSTLAUF noch ein kleiner „Starlet“ abgefallen. Doch die geringe Resonanz in der Heimat findet das Duo „ziemlich traurig“, man spüre Juan und der Bergkristall nicht, daß „die Leute ein wenig stolz auf unsere Erfolge sind“. Von den Wänden des Eissportzentrums Sie laufen schöner, als es das Traumpaar Kilius/Bäumler lächeln auf vergilbten Fotos Jan Hoffmann, je konnte. Um populär und reich zu werden, mangelt es Mandy Anett Pötzsch, Sabine Baess/Tassilo Thier- Wötzel und Ingo Steuer jedoch an Esprit und Sex-Appeal. bach, die Eiskunstlauf-Weltmeister aus der Zeit, als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt nmut? Glamour? Erotik? Arbeit, blikum in Oberstdorf treten, glauben sie, hieß. Auch Katarina Witt wird mit zwei nichts als harte Arbeit. „Und wir die Bayern mit ihrem Tanz „schier aus Postern gewürdigt. Nur Wötzel/Steuer, die Amüssen beim Malochen sogar noch dem Häuschen zu bringen“. Ob die Ge- beiden Aushängeschilder der Nachwende- ständig lächeln – das kotzt mich an.“ So schäfte von Sportlern florieren, wird Ära, sind nicht präsent. Lieblos hat jemand sieht Mandy Wötzel ihren Job. jedoch letztlich vom Zuschauer am Bild- ein blaues T-Shirt von Mandy Wötzel an die Die 150 Zentimeter große Eiskunstläu- schirm entschieden – und der konsumiert, Informationstafel am Eingang der Trai- ferin schneuzt kräftig ins Tempotuch und verwöhnt von der glitzernden Verpackung ningshalle geheftet. nimmt Anlauf zum nächsten Versuch: sportlicher Inszenierungen, ihre Darbie- Anfang der achtziger Jahre, erinnert sich Spreizsprung, dreifacher Toe-loop, Pirou- tungen merkwürdig gefühllos. „Sie sind der ehemalige Paarläufer Thierbach, „ha- ette. Mandy Wötzel, 23, hat nicht ihren einsame Spitze, und dafür“, klagt die Ma- ben alle in der DDR vor dem Fernseher ge- besten Tag. Während Ingo Steuer, 30, ihr nagerin Elfriede Eck, „ist das Interesse ent- hangen, als wir gelaufen sind“. Als Spiel- Partner beim Paarlauf, die Kombination täuschend.“ automaten-Aufsteller profitiere er noch scheinbar mühelos ins Eis der Chemnitzer Zwar hat das „Autohaus Chemnitz“ heute von seinem Namen. Trainingshalle kratzt, stolpert sie immer Steuer als Anerkennung für den Gewinn Wötzel und Steuer dagegen werden gna- wieder, einmal landet die ganz in Schwarz der Europameisterschaft 1995 einen kana- denlos weggezappt. Wer im Eislaufen po- gekleidete Läuferin auf dem Hintern. riengelben Toyota „Celica“ vor die Tür ge- pulär sein will, muß schon besondere Be- Irgendwann gelingt Wötzel die dürfnisse befriedigen – den Voyeu- 15-Sekunden-Sequenz doch noch rismus, die Erotik, die Sehnsucht fehlerfrei, erst danach probieren nach Märchen und Melodramen. die Paarläufer synchron. Und als Doch in diesem Theater beset- die Sprünge aussehen, als sei der zen die dreimaligen Deutschen eine der Schatten des anderen, ent- Meister allenfalls die Rolle der Sta- fährt der sonst so streng drein- tisten. Die blonde Wötzel und der blickenden Trainerin ein kurzes schwarzhaarige Steuer sind durch- „Wow“ – die Trainingskollegen aus nett anzuschauende Athleten, spenden Applaus. ihre Ausstrahlung wirkt aber Der spontane Beifall wandelt stumpf gegenüber der erotischen den Zwang zum Lachen in echte Aura einer Katarina Witt. Freude. Genau das ist es, was Man- Die bisweilen geladene Atmo- dy Wötzel und Ingo Steuer anstre- sphäre zwischen Wötzel und Steu- ben: „Perfektion, die totale Har- er bietet gewiß Stoff für den Bou- monie der Bewegungen“. Gleich- levard, aber wie knisternd ist die förmigkeit ist ihr Kapital, die Geschichte im Vergleich zu den Grundlage eines Sportes, in dem einstigen Jet-settern Kilius und es, wie die Eiskunstläuferin erfah- Bäumler? Natürlich streiten sich ren hat, „nur noch um Kohle geht“. Wötzel und Steuer gelegentlich mit Wötzel/Steuer verstehen sich als der Trainerin, mit Gegnern, mit „Firma“; und ihr Produkt wirft, Kampfrichtern, doch wie aufre- sportlich betrachtet, formidable gend sind solche Zwistigkeiten ge- Renditen ab. Niemand hat die bei- genüber der hollywoodreifen Sei- den in der laufenden Saison schla- fenoper um die amerikanischen gen können, und deshalb gehen sie Eisläuferinnen Nancy Kerrigan und in dieser Woche bei den Europa- Tonya Harding? meisterschaften in Paris als Favori- Jenseits des perfekt gesprunge- ten aufs Eis. Und wenn sie im März nen Salchows haben es Wötzel und als Krönung auch noch die Welt- Steuer deshalb nur zu zweifelhaf- meisterschaften für sich entschei- tem Ruhm gebracht. Als Traum- den, könnte endlich, nach 33 Jahren, paar der neuen Bundesländer ver- der Geist des deutschen Traum- suchte super-illu die beiden paares Marika Kilius und Hans-Jür- Chemnitzer aufzubauen („Sie ist gen Bäumler reanimiert werden. schön wie Bergkristall, er der In der DDR hätte eine solche dunkle Don Juan auf Kufen“). Medaillenausbeute allemal eine le- Dem größeren Publikum blei- benslange Existenzabsicherung be- ben ihre Namen nur mit zwei Miß- deutet. Doch jetzt, in der Markt- geschicken verbunden, deren öf- wirtschaft, müssen die Sachsen er- fentlichkeitswirksame Bedeutung kennen, daß ihre Perfektion allein beiden ins Bewußtsein gebracht nicht ausreicht. wurde, indem umgehend Einla-

Wenn Wötzel und Steuer in WEREK dungen des TV-Plauderers Thomas Dirndl und Trachtenhose vors Pu- Eiskunstlaufpaar Wötzel/Steuer: „Wir brauchen uns“ Gottschalk folgten. Das war ein-

der spiegel 4/1997 147 Sport mal, erzählt Mandy Wötzel, „als ich in Doch der schnelle Erfolg – in der ersten te. Denn Eiskunstlaufen lebt von der Illu- Lillehammer auf die Fresse gefallen bin“. Saison wurden sie Vize-Weltmeister – för- sion.Wenn Paarläufer auf dem Eis turteln, Im Grunde betrachtet war der Strauchler derte auch das gegenseitige Wohlgefallen. sich umschlingen und gemeinsam akroba- ein harmloser Sportunfall, der mit einer Die beiden teilten bald nicht nur die Sie- tische Verrenkungen meistern, will der Zu- kleinen Platzwunde endete. Die Beson- ge, sondern auch Tisch und Bett. Endlich schauer glauben, so etwas könnten nur Lie- derheit lag allein darin, daß der spekta- witterte das Publikum Emotionen, Gefüh- bespaare bewerkstelligen. Nun aber wur- kulär anzuschauende Sturz ausgerechnet le überall. Das ist „Sex on ice“, jubelte de dem Schauspiel von Wötzel und Steuer bei Olympia passierte – im Blickfeld eines bild, als sie ihr Kürprogramm nach der der Schleier geraubt. sport-bild und an- Millionen-Fernsehpublikums. Filmmusik von „Basic Instinct“ liefen. dere Gazetten wußten, daß nur noch „das Wie plötzlich alle, von der bild-Zeitung Das Paar merkte aber bald, daß es dem Geld sie zusammenhält“. bis zum US-Sender CBS, „sensationsgeil“ Liebesleben nur abträglich ist, wenn noch Die einst Hochgelobten fühlten sich über sie hergefallen seien, „verwunderte, „verarscht“, und sie entwickelten eine aber amüsierte“ die beiden – bis sie Gott- „Wie in einem Film müssen Strategie. „Wie in einem Film müssen wir schalk ein zweites Mal im Studio gegen- so tun, als ob wir noch oder wieder ein übersaßen. Das war just zu dem Zeitpunkt, wir so tun, als wären Paar sind“, beschreibt Steuer ihr öffent- als öffentlich wurde, daß sich die Liebes- wir immer noch ein Paar“ liches Verhalten, „diese Spannung muß beziehung zwischen Wötzel und Steuer ab- bleiben.“ gekühlt hatte. „Jetzt kannst du die Mandy unter der Bettdecke über die optimale Aus- Daß Steuer/Wötzel überhaupt in der nicht mehr so oft stemmen“, kommentier- führung von Schrittkombinationen und Lage waren, die seelischen Verletzungen te der Entertainer zotig das zerbrochene Hebefiguren diskutiert wird. Sie lösten ihre ihrer Beziehungskrise zu überwinden, ist Glück. Liaison, und es begann die Zeit, die ihnen wohl ihrer sportlichen Sozialisation zuzu- Seitdem wissen sie, daß in ihrem Sport als „echt schrecklich“ in Erinnerung ge- schreiben. Wie vielen DDR-Athleten wur- „einfach alles auf die persönliche Schiene blieben ist. de den beiden anerzogen, daß ein Problem gedrückt wird“ (Steuer). Zwischen pro- Es meldeten sich nicht nur reihenweise nur bedrohlich wird, wenn dadurch das fessioneller Eisarbeit und eigenen Ge- Psychologen zu Wort, die der tiefgreifen- sportliche Weiterkommen gefährdet ist. fühlen zu trennen hätten sie deshalb zur den Fragestellung nachgingen, ob man als „Bei uns hat Eislaufen Priorität“, sagt Steu- „Kunst entwickeln müssen“. gescheitertes Liebespaar („Wie lange geht er, „erst danach gucken wir, was fürs Le- Schon der Beginn ihrer gemeinsamen das gut?“) noch zusammen eislaufen kann. ben noch übrigbleibt.“ Karriere war hindernisreich. Die beiden Ein Heidelberger Professor erkannte per Wötzel und Steuer haben sich zur opti- kannten sich von Kind auf, gemocht hatten Ferndiagnose eine „eiternde Wunde“, die malen Vorbereitung auf Meisterschaften sie sich nie. „Was hat der für kleine fette immer wieder aufbrechen werde. im ehemaligen Aufenthaltsraum für Kader- Pranken“, wunderte sich Wötzel, als sie Schlimmer noch als solche Befunde wog, athleten des Eiszentrums wie ein Ehepaar sich vor knapp fünf Jahren erstmals in die daß die „blöden Schlagzeilen“ (Wötzel) eine Art Wohnzimmer eingerichtet: Sitz- Arme ihres jetzigen Partners begab. die Geschäftsgrundlage zu zerstören droh- gruppe, Regal mit Pokalen,Wäscheschrank Letztlich verheißt nur derartige Be- rühmtheit Profit. Schon bald seien sie „zu alt und zu gebrechlich“ für ihren Sport – deshalb müsse man „jetzt gemeinsam Geld machen“. Auch wenn sie in dieser Saison bereits rund 90000 Dollar an Preisgeldern kassiert haben, werden die dicken Beträge erst mit Werbeverträgen hereingespült. Doch ausgerechnet in ihrer bisher erfolg- reichsten Saison klemmt der Geschäfts- gang: Der Vertrag mit einem amerikani- schen Kosmetikkonzern läuft aus. So könnte demnächst, als habe es den Mauerfall nie gegeben, der Staat ihr größ- ter Sponsor sein. Offiziell stehen die bei- den als Stabsunteroffiziere bei der Bun- deswehr im Sold, Präsenzpflicht wird aber kaum verlangt. Weil sich die kleine Man- dy unter dem Stahlhelm „wie eine Schild- kröte“ fühlt, hat sie für die wenigen Übun- gen im Jahr eine „Stahlhelmbefreiung“.

D. FINEMAN / SYGMA Dieses Privileg empfinden sie als einzi- Showprofi Witt: „Mit ihrem Sex-Appeal ist sie wie ein kleiner Gott“ gen Prominentenbonus, den ihnen der Staat gewährt. Einmal fuhren sie zu einem und ein kuscheliges Plätzchen für „Maxi“. die eine den anderen als „alten Ochsen“, Trainingslager nach Oberstdorf, als ein „Das ist unser Scheidungshund mit Be- so stellt dies keine Bedrohung mehr für Stau die Autobahn total blockierte. Wie suchsrecht für Frauchen“, sagt Mandy Wöt- den Fortbestand als Eislaufpaar dar: „Wir andere Verkehrsteilnehmer machten sie zel, während sie dem Mischling, den sich schmeißen nichts weg, was wir uns in 18 sich auf den Weg zur Unfallstelle – mit das Paar einst gemeinsam angeschafft hat- Jahren aufgebaut haben.“ dem Unterschied, daß sie für die kurze te, das Ohr krault. Sicher, „so ein kleiner Gott zu werden“ Strecke Inline-Skates benutzten. Die Poli- Auch wenn die Liebschaft vorbei ist, ha- wie Katarina Witt, das schließen sie für zei erkannte die Sportler nicht, sie rea- ben sie erkannt, daß „wir einander brau- sich aus, dazu mangele es ihnen an „Sex- gierte unerbittlich: „Wegen unerlaubten chen“. Wenn heute der eine die andere Appeal“. Doch „ein Denkmal“ wie Kilius Sporttreibens auf der Autobahn“ verlor insgeheim „als blöde Kuh“ schmäht oder und Bäumler zu werden, das ist ihr Ziel. Mandy Wötzel ihren Führerschein. ™ Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Schnee auf Reisen ine verrückte Idee: Ein Mensch, der Enur sein Initial verrät, W., verteilt großzügig Erinnerungen – an Freunde und ehemalige Geliebte, an Christoph,Werner und Anna. Er gibt kleine Geschichten zum besten, Bilder aus der Kindheit. Er schil- dert Alltagsszenen in der U-Bahn oder im Kaufhaus, Miniaturen, die in ihm erwecken und wiederholen, was er dann notieren oder erzählen muß. Und merkwürdig: Während der Schriftsteller Wilhelm Ge- nazino („Abschaffel“), 53, in seinem neu- en Prosaband „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ scheinbar private und abseiti- ge Momentaufnahmen aneinanderreiht, setzt beim Leser geradezu zwanghaft ei- gene Erinnerung ein. Im Alter von neun oder zehn Jahren, berichtet W., sei er mit der Straßenbahn erstmals bis zur Endsta- tion mitgefahren und habe in der Warte- schleife, während Fahrer und Schaffner eine Zigarette rauch- Beerdigung in Ghana ten, ein nie gekanntes Gefühl der Peinlich- TODESRITEN keit erlebt. Oder: Isol- de bittet er, ihn später einmal daran zu erin- Im Benz unter die Erde nern, daß er Schnee, der auf den Dächern er Tod ist wie das Leben, nur anders. die Mitorganisatorin Iris Lenz gehören die von Eisenbahnwag- DEiche rustikal oder lieber Kiefer? Bei Leihgaben der Contemporary African Art gons liegt („Reisender der Sargauswahl setzen die Deutschen bis Collection aus der Genfer Sammlung Jean Schnee!“), ganz „un- heute auf Gelsenkirchener Barock mit Pigozzi zu den „überzeugendsten Arbeiten widerstehlich“ finde, Wulst und Schnitzerei: schwer, massiv, ver- einer neuen afrikanischen Skulptur“. Die Wilhelm Genazino und er fügt hinzu: gänglich. Ungleich lebendiger ist das Ster- Särge aus dem relativ leichten weißen Das Licht „Frag mich nicht, war- ben in Ghana. Der Schreiner Samuel Kane Wawa-Holz sollen weder surreal noch kri- brennt ein Loch um, ich weiß es nicht.“ Kwei baute dort bis zu seinem Tod 1992 tisch sein, sondern ganz direkt den sozia- in den Tag Verrückt? Angst vor Särge, die jedem Toten für das Jenseits eine len Status der Verstorbenen reflektieren. Rowohlt Verlag Verlust steckt hin- Form mitgaben, die seinem Leben im Dies- Und weil die Toten dem traditionellen Reinbek ter dieser Idee, die seits entsprach: dem Landwirt einen Sarg, Glauben nach die Hinterbliebenen nicht 128 Seiten Bruchstücke, die das geformt wie eine Kakaofrucht. Dem Sport- verlassen, sondern helfend oder strafend 32 Mark menschliche Gedächt- ler einen Turnschuh. Dem Mechaniker eine weiterbegleiten, geht es bei den Totenfeiern nis ausmachen, weg- Öldose. Dem Jäger einen Löwen. Dem Ta- entsprechend bunt zu. Die christlichen Kir- zugeben und so zu bewahren – die Furcht xibesitzer einen Mercedes-Benz. Die Söh- chen in Ghana allerdings haben ein Pro- vor der „Vorarbeit des Todes“, der „Auf- ne und Neffen Kane Kweis setzen sein blem mit der animistischen Lebensnähe lösung des Gedächtnisses“. Genazino ist Werk inzwischen fort, und eine Ausstel- des Todes: Der Priester gibt dem Verstor- ein Prosa-Kleinod gelungen, das nebenbei lung des Instituts für Auslandsbeziehungen benen zwar seinen kirchlichen Segen, aber vom Erzählen selbst erzählt: Denn was ist zeigt in der Bonner ifa-Galerie von Mitt- nur vor dessen Haus. Den Weg zum Grab Literatur im Grunde anderes als die Ab- woch dieser Woche an das lebensnahe muß der Trauerzug dann ohne seinen Bei- sicht, „Erinnerungen zu verteilen“? Werk der Todeskünstler (bis 1. März). Für stand gehen.

NACHTLEBEN Oberkörper aus Eis, circa einen Meter groß und glatte 65 Kilogramm schwer, gleitet eine sogenann- Obszöner Suff te „Kiss My Ice“-Skulptur in neue Niederungen des Entertainments. Der Eistorso (knapp 500 Mark) ere we are now, entertain us!“ – der Schlacht- ist naturgetreu mit weiblichen oder männlichen Hruf der Rockband Nirvana gilt auch Jahre nach Geschlechtsmerkmalen geformt. An denen verge- dem Tod ihres Sängers Kurt Cobain, zumindest was hen sich die Gäste in bisweilen obszöner Manier, die Suff-Synthese Diskothek/Besucher/Alkohol um auf diese abgeschmackte Weise dem Rausch betrifft. Während zu Cobains Zeiten ein wenig anheimzufallen. In jeden Eiskörper ist nämlich ein Karaoke ausreichte, vergnügungssüchtige Disko- dünner Kanal geritzt, und wenn Alkohol über den gänger glücklich zu machen, müssen sich die Tre- Rumpf gegossen wird, nimmt er jenen Weg durch senmeister der neuen Generation mehr einfallen den Gletscherleib, über den er den menschlichen lassen. Bezahlte Beihilfe leistet eine Londoner Fir- normalerweise verläßt. Nicht die einfachste Art, ma, die Klubbesitzern zeigt, was heutzutage einen sich zu betrinken, auch nicht die hygienischste – Laden offenbar so richtig cool macht. Mit nacktem „Kiss My Ice“-Skulptur aber sicher die peinlichste.

der spiegel 4/1997 151 Szene

COMPUTERSPIELE Zeugung am Monitor er Alltag mit dem Computer ist hart Dund freudlos, und wenn es besonders schlimm kommt, schmiert der Rechner auch noch ab. Mit dem Computerspiel „Creatures“ aber können sich genervte Computerfreunde jetzt ein bißchen als Schöpfergötter fühlen. Wer die CD auf seinen Rechner spielt, begleitet niedliche Softwarelebewesen durch das Spiel des Lebens: Geburt, Lernen, Suche nach Nahrung, Fortpflanzung, Alter und Ster- ben – alles in farbiger Grafik auf dem Monitor. „Nornes“ nennen die Spiele- Hersteller der Hamburger Warner Inter-

M. MASONI active Entertainment die digitalen Wesen. Schnäppchenjagd in New York Jedes hat ein eigenes Gen-Set, das es an seine Nachkommen vererbt. Selbst Infor- EINKAUFEN matiker loben „Creatures“, für rund 90 Mark im Handel, als fortschrittliche Si- Pädagogischer Steuer-Erlaß mulation künstlichen Lebens. Wenn die Nornes gut behandelt werden, leben sie ie deutschen Touristen in New York jetzt eine detaillierte Liste herausgegeben, 15 Menschenstunden – und der Spieler Derkennt man schon von weitem – an was sie unter „Clothing“ und „Footwear“ kann sich sogar mit Streicheln der Gnom- ihren Einkaufstüten mit Levi’s-Jeans, Gap- versteht (auch im Internet abzurufen un- Nasen und leichten Schlägen auf den Hemden und Calvin-Klein-Unterwäsche. ter http://www.tax.state.ny.us.). Diese al- Hintern als Erzieher üben. Die Deutschen berauschen sich in der Fer- lerdings erweist sich als reichlich rätsel- ne an den Luxuslabels, weil die in der haft: Hochzeitskleider und Handschuhe Wolkenkratzerstadt billiger sind als in der werden von der Steuer befreit, nicht aber Heimat. Und nun reduzieren sich die Radfahrerhandschuhe, Ballett- und Klet- Schnäppchenpreise sogar noch: Staat und terschuhe. Hüte gibt es ohne Aufpreis, Hel- Stadt New York verzichten diese Woche me wiederum nicht. Wer sich trotz dieser auf die übliche Verkaufsteuer – aus Verwirrung ins Gewühl werfen will, wird pädagogischen Gründen. Die New Yorker vom konservativen Bürgermeister Ru- sollen davon abgehalten werden, treulos in dolph Giuliani fürsorglich vorm Ruin be- den Nachbarstaaten New Jersey und wahrt: Es sind nur jene Stücke von der Connecticut einzukaufen, in denen keine Steuer befreit, die weniger als 500 Dollar „Sales Tax“ auf Kleidung erhoben wird. kosten. Die kostspieligeren Waren sollen Um den erhofften Konsumrausch der New die Shopper gar nicht erst in ruinöse Ver- Yorker anzuheizen, hat die Steuerbehörde suchung führen. Computergeschöpf aus „Creatures“

Kino in Kürze

„Wahlverwandtschaften“. Trotz eilig auf- nicht viel – außer daß manchmal einer be- gelegtem „Buch zum Film“: Der Film zum soffen vom Stuhl kippt. Aber wie leicht es Buch läßt nicht erkennen, was die ge- ist, das Leben durch pure Dämlichkeit zu schätzten toskanischen Regie-Brüder Paolo verpassen, wissen Buscemis traurige Pro- und Vittorio Taviani dazu verlockt haben milleritter nur allzu gut. könnte, Goethes Quartett von Liebenden in „Unter Brüdern“. In der Verlierer-Bar ihre Heimat zu verpflanzen. Es wird wenig „Trees Lounge“ wären auch Joey (Tim im Grünen gelustwandelt, viel eher vor Roth) und Tommy (James Russo) nicht fehl steifer Schokolade palavert. Lange läuft der am Platze. Der debil lächelnde Joey, ge- Film brav hinterm Roman her, dann biegt rade aus dem Knast entlassen, zieht bei er sich doch ein netteres Ende zurecht – seinem Dealer-Bruder ein, der sich sein und trotzdem denkt man sich: Wozu das Elternhaus mit Bierdosen und einer alles? schlampig-attraktiven Ehefrau (Deborah „Trees Lounge“. Fragt Bill Clinton seinen Kara Unger) eingerichtet hat. Die drei Gegner Newt Gingrich, was sie wohl tä- jämmerlichen Gestalten verstricken sich ten, wenn sie nicht in die Politik gegangen in ein klassisches B-Kammerspiel, mit be- wären. Antwortet Gingrich: „10 bis 20 Jah- deutungsschwangeren Pausen, dräuenden re absitzen.“ Ähnlich sieht der Indepen- Geheimnissen und einem Gewaltausbruch dent-Star Steve Buscemi offenbar seine am Ende. Aber weil Filmemacher Buddy Karriere. Wäre er nicht Schauspieler ge- Giovinazzo seine Figuren nicht zu bloßen worden, säße er bestenfalls in einer miefi- Bogart-und-Bacall-Nachfolgern karikiert, gen Bar als Verlierer mit dickem Schädel. kriegt die Geschichte doch die Kurve. Was Erleichtert spielt er nun diese Rolle durch nachbleibt, ist ein Geschmack von Ver-

– mit viel Zärtlichkeit für den Proletarier- PROKINO PLUS lorenheit, so schal wie das alte Bier in alltag auf Long Island. Es passiert zwar Szene aus „Wahlverwandtschaften“ Tommys Dosen.

152 der spiegel 4/1997 Kultur

Am Rande Armer Lippi, Ossikind ! arf denn gar nichts übrigbleiben? DSoll alles abgeräumt werden, was in der früheren DDR die Menschen prägte und bewegte? Von der wärmen- den Nischenkultur des Sozialismus blieb allein die weiße Bluse der Maria Magdalena der PDS, Sahra Wagen- knecht, das Radeberger Pils und der Grüne Pfeil. Und sonst? Die wochen- post – von der westdeutschen woche geschluckt. Henry Maske – durch an- gloamerikanische Intrigen ins heulende Elend eines gemeinen Rücktritts ge- trieben. Gregor Gysis bunte Truppe – inzwischen selbst vom grünen Bun- desvorstand in Acht und Bann ge- schlagen. Das Berliner Ensemble – durch eitle Wessis wie Zadek, Wuttke und Hochhuth ruiniert. Und jetzt noch das: Lippi geschaßt. Dabei gilt Wolfgang Lippert ganz zu Recht als der letzte echte Ost-Enter- tainer. Anders als dem verwestlichten TV-Schönling Karsten Speck sieht man

SPADEM, PARIS SPADEM, ihm immer noch an, daß er 1982 seinen Monet-Gemälde „Impression, Sonnenaufgang“ (1873) ersten und letzten Hit mit dem hinter- gründigen Protestsong „Erna kommt, KUNSTBÜCHER und wenn sie sagt, sie kommt, kommt sie prompt“ landen konnte. Und nun verlor er seinen allerletzten Fern- Einlaß in den Elfenbeinturm sehjob: „Glück muß man haben“ hieß die Sendung, die der MDR aus alten lutrot geht die Sonne auf – und eine ausgekommen. Galeriechef Daniel Wilden- DDR-Zeiten herübergerettet hatte. Gjunge Malerei hat ihren Namen weg. stein legt damit eine Neubearbeitung sei- Nichts entlarvt den eiskalten Zynis- „Impression, soleil levant“ nannte Claude nes zwischen den sechziger und den acht- mus der westlichen Medienkultur Monet (1840 bis 1926) seine morgendliche ziger Jahren erschienenen, bislang nur mehr als die Nomenklatur des Lippert- Hafenszene, die er 1874 im Atelier des noch antiquarisch erhältlichen Standard- schen Niedergangs: „Wetten, daß …?“ Fotografen Nadar in Paris ausstellte, „Im- werks vor. Internationaler Absatz der drei- – „Goldmillion“ – „Glück muß man pressionismus“ höhnte die Kritik. Seither sprachigen Edition (französisch, englisch, haben“ lautet der Dreisprung dieser war das Gemälde noch zehnmal deutsch) erlaubt einen Preis von Ossi-Demütigung. Pech gehabt! Frei- auf Ausstellungen zu sehen, 199,95 Mark. Das gibt man- lich ahnte Lippi bereits auf dem Höhe- viermal wechselte es den cher Kunstfreund für min- punkt seiner Karriere, als er Phil Col- Eigentümer, bevor es ins der fundamentale Bücher lins das Du anbot – „You can say you Pariser Musée Mar- aus. Neben einer lesba- to me!“ – und Paul McCartney die mottan kam; es wur- ren Monet-Biographie Schweißperlen von der Stirn tupfte: de 1985 geraubt und „Neben dem Waffenhandel und dem kehrte fünf Jahre spä- Rauschgift ist das Show-Gewerbe das ter zurück. Protokol- Monet-Gemälde härteste der Welt.“ „Auch ein Hy- le aus dem Elfenbein- „Seerosen“ (1908) drant“ könne wie Lippert moderieren, turm? Nun ist der- schmähte damals der Münchner Mu- lei Spezialinformation sikmanager Beierlein. Doch man be- auch für ein breiteres handelte Lippi schlechter als einen Hy- Publikum zur Hand: Mit winkt ihm hier die Ge- dranten: Man hob nicht bloß das Bein, einer Programm-Auswei- legenheit, die bisweilen sondern machte ihn einfach platt. tung, die laut hauseigener spannenden Einzelschicksa- Soll also gar nichts bleiben von dem, Prognose „in der Kunstbuch- le der rund 2000 Bilder Schritt was war? Aber klar doch: der Marxis- Branche Geschichte machen wird“, für Schritt zu verfolgen. Monet-Aus- mus. In der faz rehabilitiert Soziolo- traut sich der Kölner Verlag Benedikt Ta- stellungslisten und -Sammlungsbestände gieprofessor Oskar Negt, Urgestein der schen, bekannt für wohlfeile Bildbände, sind ebenfalls verzeichnet. Der Experten- Wessi-Linken, Karl Marx’ wegweisen- auf das Gebiet der wissenschaftlichen Entscheid, warum im Zweifelsfall ein de Kapitalanalyse: Noch nie war sie so Werkverzeichnisse – vereint mit dem Pa- Gemälde in den Kanon echter Monet-Wer- wertvoll wie heute. Denn es kommt riser Forschungsinstitut der Kunsthändler- ke eingeht oder nicht, bleibt zwar undisku- nicht darauf an, Glück zu haben, son- sippe Wildenstein. Nach einem „Doppel- tiert. Doch für Leser, die sich noch weiter dern recht zu behalten. Lippi dem- jumbo“ (Verlagsjargon), der für 99,95 ins Spezialstudium hineinziehen lassen wol- nächst im „Kluge“-Fenster bei RTL: Mark 130 Velázquez-Gemälde katalogi- len, hält Wildenstein allein bei „Impression, „Karl kommt – und zwar prompt“. siert, sind nun vier Bände über Monet her- soleil levant“ 47 Literaturhinweise parat.

der spiegel 4/1997 153 Soap-Ensemble von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“: „Wer, zur Hölle, ist bloß wer?“

FERNSEHEN Teddys, Turteln, Fehlgeburten Das Phantom der Seifenoper geht um: Täglich liefern Soaps private Dramen. Ob „Unter uns“, „Marienhof“, „Verbotene Liebe“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ – am Spiel mit den Jungen und Schönen verdienen die Sender. Von Nikolaus von Festenberg s war einer jener Fernsehabende, an Seifenoper auf RTL, schwelgte: herrliche mern des modernen Fernsehens: weil die denen die Welt noch grauer erscheint Zeiten. Macher begriffen haben, daß das Medium Eals sonst: Das Haushaltsloch, melde- Was machte es da, daß Klischees in ihrer den Kunden als Gewohnheitstier zu be- ten die Nachrichten, habe sich schon wie- ganzen Einfalt den staunenden Mündern dienen hat und nicht als wählerischen Kon- der ein bißchen weiter aufgetan, die DAK der jungen Darsteller entfuhren. „Das ist ja sumenten. Das TV-Popkorn Seifenoper erhöhe abermals die Beiträge – und selbst wie im Märchen“, sprach Sophie. „Es ist ein paßt ideal in jenes von den Programm- das Wetter biete wenig Trost: mies, trübe Märchen“, korrigierte der smarte Charlie. machern aufgetischte Menü am Nachmittag Suppe, Nebel. Märchenhaft sind nicht nur solche Sze- und frühen Abend, zu Talk und Boulevard. Doch auf RTL war alles anders. Welch nen, märchenhaft ist, was Wochentag für Da braucht sich niemand die Zähne an der ein Jubel, welch ein Glück, zum Heulen Wochentag zwischen 17.30 und 20.15 Uhr harten Realität der Welt auszubeißen. schön: Charlie, der liebe Junge mit bei RTL, der ARD und neuerdings auch Den Geschichtenhunger der Soaps zu be- der geerbten Schmuckkiste, führte seine bei RTL 2 geschieht: Das Phantom der Sei- friedigen, das könnte allenfalls der arabi- Sophie, das Luxusmädchen mit dem fenoper geht um in Deutschland – und schen Märchentante Scheherazade gelingen: blonden Bubikopf, in ein exotisches mehr als 14 Millionen Zuschauer, jeder Bei Tausendundeiner Nacht à acht Stunden Palais. Diener standen bereit, Musiker dritte von ihnen unter 30 Jahre alt, gucken könnte die Erzählerin in der Geiselhaft der fiedelten ergriffen den langsamen Satz aus Folge für Folge zu. TV-Tycoons 13 Jahre deutsche Dailys mit Bachs Doppelkonzert, die seidenen Die tägliche 30-Minuten-Ration Herz Stoff versorgen – nur, so ist zu fürchten, Kissen luden zum Liebesspiel. „Gute und Schmerz gehört nach Talkshows und würde die schöne Frau darüber nicht nur alt Zeiten, schlechte Zeiten“, die tägliche Boulevardmagazinen zu den Erfolgsnum- und grau werden, sondern gewiß auch irre.

154 der spiegel 4/1997 Kultur cher Fotos sicher wähnt („Gute Zeiten, schlaues Blut. Lügen haben in der Soap schlechte Zeiten“); wo Anna sich mal wie- schöne Beine und selten Erklärungen. Das der ängstigt, daß ihre heimliche Liebe zu Böse ist einfach da, wie vom Himmel ge- Lehrer Paul Schöner entdeckt wird („Ver- fallen. Es haftet gut sichtbar wie das Kains- botene Liebe“). zeichen an den Soap-Menschen. Es sind große vorletzte Fragen, die sich Manchmal kleidet es sich in ein Leo- dem Seriennutzer stellen: etwa die, ob Mar- pardenkostüm wie in „Alle zusammen – co, der sich im „Marienhof“ ins Siechbett le- jeder für sich“, der neuen Soap-Kreation gen wird, schon blaß aussieht – damit dort auf RTL 2. Pamela heißt dort die Zicke, die endlich mal „Begleitetes Sterben“, was noch mit ihrer Arroganz die Schwestern zur nicht dran war, gezeigt werden kann? Oder Weißglut treibt. Auf Namen wie Dr. Jo kommt das in „Gute Zeiten, schlechte Zei- Gerner und Dr. Bruno Freytag hören die ten“? Ach was, dort ist zwischen Charlie männlichen Soap-Schufte. Die geben sich und Sophie, unserem schönen Paar aus dem mal protzig, mal berechnend, mal finster Palais, plötzlich alles perdu: Sie langweilen und mal tückisch lächelnd, stets aber sich miteinander. Tagen des Glücks folgen bleiben sie ihrem Charakter treu: einmal lausige Zeiten. So vergänglich ist das Seri- Schwein, immer Schwein. enleben – und kann doch kaum vergehen. Die Guten und Lieben, die mit dem wei- Denn hinter den Soaps steht inzwischen chen Herzen, sind auch nicht besser – Cha- ein aufstrebender Industriezweig. Mit Sei- raktermasken, unter denen nichts anderes fenopern, so scheint es, lassen sich auf dem steckt als das, was vorn drauf ist. Die Öko- von Schwankungen stark gebeutelten nomie der Soap schließt nichts entschiede- Fernsehmarkt verläßlich Geschäfte ma- ner aus als die Ambivalenz innerhalb einer chen. Die Rechnung kann sich sehen las- Rolle. Nachtseiten zu zeigen, das Abge- sen: Ganze 5000 Mark kostet im Schnitt die spaltene, die Widersprüche einer Person – Soap-Minute (klassische Vorabendserien das alles würde viel zu große Mühe beim wie „Praxis Bülowbogen“ verschlingen das Drehbuchschreiben machen. Und den Vierfache), die tägliche Seifenladung bringt Schauspielern zuviel Kunst zumuten. aber an Werbung je nach Reichweite bis zu „Wenn die etwas stumm spielen sollen, 200000 Mark in die Kasse. brauchen sie mehr Zeit“, erklärt „Marien- Andreas Scholz, Hamburger Mediapla- hof“-Produzent Michael von Mossner. ner, nennt Soaps für die Reklamewirtschaft „Wenn ich es ausspreche, bin ich sicher.“ denn auch „extrem interessant“: Nirgends Und so wird denn in Soaps geredet und ge- sonst im Fernsehen kommt die Branche si- redet. Meist reinstes Papierdeutsch. Ist ei- cherer (und preiswerter) an den vor dem ner traurig, dann sagt er das. Ist einer lu- Bildschirm besonders flüchtigen süßen Vo- stig, ebenfalls. Im Bestreben, nichts uner-

RTL gel Jugend heran. klärt zu lassen, überzieht die Rede das Me- Kostengünstigkeit läßt sich nicht nur dium Fernsehen, als wäre es Hörfunk. Zu Schon unter der Woche fällt es schwer, durch industrielle Verhältnisse hinter den sehen gibt es wenig. den rasenden Erzählmaschinen der ver- Kameras herstellen, mit einer einge- Besonders beim Sex. So logisch es sein schiedenen Soaps zu folgen. Wer da ein- schränkten Zahl von Sets, wenig Außen- mag, daß zur Dämmerstunde schon aus fach so hindurchzappt, kann leicht ins De- drehs und einer Marschzahl von 25 zu pro- Gründen des Jugendschutzes die verbote- lirium narrans fallen und jenen totalen Ori- duzierenden Minuten täglich. Auch vor der ne Liebe nicht zur freien Liebe werden entierungsverlust erleiden, den man am Kamera regiert die Norm. Die Soap ist kein kann und der Marienhof nicht zum Kon- besten erkennt an dem verzweifelten Aus- klassisches Drama. Verwickelte Charak- takthof: Was sich im Lustsektor der Soaps ruf: „Wer, zur Hölle, ist denn bloß wer?“ terstücke mit tiefen Einblicken in die See- abspielt, gehört nicht nur nach Ansicht des All jene, die den Handlungsdurchblick in le der Personen sind nicht gefragt. Das Ab- Ausschweifungen nicht gerade fördernden einer Soap verlieren, sind fremd und ver- ziehbild ist erwünscht, die Drastik des Adolf-Grimme-Instituts „zu den trostlose- lassen unter Fremden. Holzschnitts, Klischea dell’arte. sten Diskursen dieses Jahrzehnts“. Allein um des sozialen Anschlusses wil- Bei Clarissa von Anstetten, dem Biest Hans W. Geissendörfer, seit mehr als elf len kann es höchst wichtig sein zu wissen, aus „Verbotene Liebe“, braucht kein Zu- Jahren Herbergsvater der – wöchentlich wo Corinna Herrn Heller mit pikanten schauer ins Rätselraten zu verfallen. Die Fotos erpreßt („Unter uns“); wo Dro- gekünstelte Art, das hinterfotzige Grienen 5,24 gendealer Wettstein sich trotz gefährli- – kein Zweifel, in der Adelsdame fließt nur Gute Zeiten, schlechte Zeiten RTL 4 Millionen Verbotene Liebe ARD Zuschauer 3,23 3 3,20 Marienhof ARD Gute Quoten, schlechte Quoten 2,34 2 Wie sich die rund 14 Millionen Zuschauer 1,86 Unter uns RTL auf die täglichen Soap-operas Die Wagenfelds Sat1 (eingestellt) 1 im deutschen Fernsehen verteilen Alle zusammen – Quartalswerte Jede Menge Leben ZDF jeder für sich RTL 2 (eingestellt) 0,63 0,41 II III IV I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV 1992 1993 1994 1995 1996

der spiegel 4/1997 155 Kultur FOTOS: RTL FOTOS: Liebespaare aus „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Unter uns“, „Marienhof“: Unfreiwillige Komik ausgestrahlten – ARD-„Lindenstraße“ und mit der Produktion beauftragt. Im Land der renz machen. So versucht Kogel inzwi- damit Pionier des deutschen Soap-Gewer- Känguruhs besaß man ähnlich wie in den schen sein Glück mit der Produktionsfirma bes, weiß vom Frust: „Wir haben mal ver- USA viel Erfahrung mit dem Soap-Sujet. Columbia Tristar. Die soll demnächst eine sucht, erotische Leichtigkeit zu bringen“, Aber die TV-Macher des fünften Kontinents neue Soap auf den Markt schieben. berichtet er. „Beate und Vasily durften sich waren frei vom ideologischen Ballast des Die Grundy-Ufa-Schreibstuben gleichen auf dem Boden wälzen, und Herr Beimer American dream, der mit seinem nervenden eher Zeitungsredaktionen als lauschigen kam dazu. Es war furchtbar.Wir haben alle „Du kannst es schaffen, wenn du nur Dichterkemenaten. Die Arbeitswoche dort die Krise gekriegt.“ willst“-Optimismus noch die entlegensten ist straff durchorganisiert: Montags und Gegen Sex gehen die Schönen der Sei- Episoden der US-Serienware kontaminiert. dienstags heißt es, Figuren- und Storyli- fenoper vor allem verbal an: Statt durch Das weltanschauungsneutrale und uto- nien zu entwickeln – der Rest der Woche Taten glänzen sie durch endloses Palavern piefreie Geschichtenausspinnen der Au- gehört der Fron, das Ausgesponnene in ge- über vorzeitige Ejakulation und postkoi- stralier taugte glänzend als Blaupause für naue Szenenanweisungen zu bringen. tale Depression. Und schälen sie sich dann deutsche Verhältnisse. Zunächst hielt sich Diese Anweisungen werden zu Blöcken wirklich mal aus den Designerklamotten, der renommierte Drehbuchautor Felix zusammengefaßt und an auswärtige Auto- regiert unfreiwillige Komik: Die Kamera Huby eng an „The Restless Years“, die Vor- ren versandt. Die Heimarbeit-Dichter ha- bleibt an fallenden Pullovern und Hosen lage für „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, ben die detaillierten Beschreibungen in Dia- hängen – vielleicht ein Gnadenakt, denn doch das bloße Kopieren des Fremden ver- loge zu verwandeln. Hierarchen wachen wer wollte die wurstelnden Zwangsplau- fing nicht beim deutschen Publikum. Erst darüber, daß sich die Phantasie der Schrei- dertaschen wirklich in Aktion sehen? als sich Huby frei machte („Ich hatte das ber den Produktionszwängen fügt: den Ur- Soaps kennen keine Andeutungen, kei- Vorbild nur noch im Hinterkopf“), stieg laubswünschen der Schauspieler, dem en- ne stumme Obsession. Im knallharten die Sehbeteiligung stark an. gen Kostenrahmen, dem Termindruck. Licht und der klaustrophobischen Enge der Inzwischen sind unter Anleitung der Der Blick auf das Geld und die knappe Dekoration hat so was keinen Platz. australischen Soap-Designer, die sich mit Zeit vertreibt auch Tiere und vor allem Dafür aber eine ziemlich unangenehme der Bertelsmann-Tochter Ufa zusammen- Kinder aus den Drehbüchern. Hunde, Kat- Moral. Die Seifenopern-Intendanten be- getan haben, gleich mehrere deutsche Pro- zen und andere Viecher gelten Produk- handeln Amor, als wäre der ein Sozialar- tionsmenschen als unberechenbare Chao- beiter. Mit Allerweltsweisheiten, die zu je- Der Blick aufs Geld ten. Schnell ließ vor Jahren Geissendörfer der Gelegenheit herausgequasselt werden, von dem Plan ab, ein (nichtmenschliches) würdigt die Soap Leidenschaft zu einer vertreibt Tiere und Kinder Schwein in die „Lindenstraße“ einzu- Verhandlungssache herab. Bloß nicht über- aus den Drehbüchern führen – das Vieh hätte eines Pflegers treiben! lautet die Devise – und nach die- natürlich auch am Wochenende bedurft. ser Logik folgt noch dem bescheidensten duktionsteams entstanden. Vier von den Kinder sind ebenfalls gefürchtet: Die ganz Sinnengenuß sogleich die verdiente Strafe. fünf deutschen täglichen Seifenopern Kleinen dürfen, so sehen es die gesetzlichen Was für die Erotik gilt, trifft erst recht auf stammen aus den in Köln, Hürth und Ba- Bestimmungen vor, nur zwei Stunden vor Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeu- belsberg ansässigen Grundy-Ufa-Subun- der Kamera sein. Deshalb gibt es in Soaps tung zu. So treuherzig direkt, so witzlos ternehmen. Nur „Marienhof“ wird von der mehr Fehlgeburten als im wirklichen Le- und humorfrei, so bar jeder Doppeldeutig- Münchner Bavaria produziert. ben. Ein Paradox sozialfürsorglicher Re- keit findet sich selbst im Fernsehen, wo es Beinahe hätten die Grundy-Ufa-Leute gelungswut: Ausgerechnet ein Gesetz, das seit jeher nicht viel zu lachen gibt, kaum ein ihr Volumen um einen Sat-1-Auftrag stei- Kinder schützt, sorgt für deren Verschwin- anderes Genre. Die Seifenoper ist eine gern können, denn Programmchef Fred den aus den zeitgeistprägenden Medien. bierernste seria, von buffa keine Spur. Kogel sucht nach dem Scheitern der viel zu Die da hinter den Schreibcomputern die Die erstickende Rederitis ist das Ergebnis teuren und viel zu ländlichen Soap „So ist Soap-Welt erfinden, durchweg Mittdreißiger einer industriellen Drehbuchproduktion. das Leben! Die Wagenfelds“ dringend nach aus den verschiedensten Berufen, treten auf Die Technik fabrikmäßigen Schreibens ha- dem Werbegeld-Gleitmittel Seifenoper. wie aufstrebende jüngere Angestellte, die ben die Deutschen ausgerechnet von den Doch RTL 2 kam Sat 1 zuvor – und be- genauso bei einer Bank oder einer Versi- Australiern erlernt.Als RTL 1992 mit „Gute setzte mit „Alle zusammen“ jenen 19.00- cherung sitzen könnten – und sie identifi- Zeiten, schlechte Zeiten“ die erste deut- Uhr-Programmplatz, auf den wohl auch zieren sich hundertprozentig mit dem Pro- sche Daily soap startete, hatte der Thoma- Kogel nach der Halbierung der Spielshow dukt, von Distanz oder kulturellem Min- Sender den weltweit operierenden Seifen- „Glücksrad“ aus war. Sich selbst aber dür- derwertigkeitsgefühl keine Spur. Alle, so siederkonzern des Australiers Reg Grundy fen Grundy-Produktionen keine Konkur- scheint es, haben nur einen Feind: den, der

156 der spiegel 4/1997 von Soaps zu eigenarti- offenbart zugleich ihre religiös konnotier- gen Volten oder grau- te Botschaft.“ samen Schicksalsein- Gute Zeiten, Gottes Zeiten? Es muß ja griffen zwingen. Das nicht unbedingt der Höchste sein, der sei- Zwillingsspiel mit der ne Finger in den Soaps hat. Vielleicht un- „Verbotenen Liebe“ terhält die Seifenoper doch deutlichere Be- muß im April vorüber- ziehungen zum Zeitgeist und arbeitet nicht gehend ruhen: Die vollkommen losgelöst im virtuellen Raum. Hauptdarstellerin – Ein Blick in die Geschichte des Genres wirklich keine schlech- legt nahe, daß die Trivialkunst den Geist te Idee – nimmt Schau- der Epoche spiegelt. Der Kanadier Mar- spielunterricht in New shall McLuhan („Das Medium ist die Bot- York. „Gute Zeiten, schaft“), der die Anfangsjahre der Mas- schlechte Zeiten“-Star senkultur beobachtete, notierte für die Andreas Elsholz ließ vierziger Jahre, die Pferdeopern und die sich mit einem my- Seifenopern – damals noch Fortsetzungs- steriösen Bootsunfall Hörspiele zur Unterstützung von Wasch- ohne Leiche aus der Se- mitteln – seien triviale Geschwister, Refu-

TELEBUNK rie schreiben. So blieb gien gegen die Zwänge der Industriege- die Rückkehr möglich. sellschaft: „Der Zelluloid-Western bietet es wagen könnte, im Namen von Kunst und Es wirkt wie ein frommer Wunsch, einer von mechanisierten Abläufen einge- Genialität aus den gängigen Schemata wenn Erforscher der sogenannten Me- weichten und von komplexen wirtschaftli- auszubrechen. Soap-Mozarts, Seifen-Bau- dienreligiosität wie der Mainzer Profes- chen und häuslichen Veränderungen be- delaires, nein danke. Der Tod, so die pro- sor Arno Schilson im Chaos der Serien nebelten Bevölkerung berittenen Mumm fessionelle Überzeugung, kommt für die doch ein höheres Wirken sehen: „Daß es und Persönlichkeiten von rücksichtslosem Seifenoper, sobald sie nach Höherem strebt. immer wieder selbst auf verzwickteste und überbordendem Individualismus.“ Hier, in den Nervenzentren der moder- Weise gelingt, den Faden wieder aufzu- Die Seifenoper, „arm an Handlung, reich nen TV-Unterhaltung, zeichnet sich eine nehmen und weiterzuspinnen – daß aus an dramatischen Situationen“, sei dagegen Zukunft ab, in welcher der Autor als gott- vielfältigen Fragmenten und Sequenzen das phantastische Rückzugsreich der Haus- ähnlicher Pankrator abgewirtschaftet hat. sich doch ein Ganzes formt, das seinen frauen, ihr Ersatz für soziale Kontakte. „Das Die Industrieschreibe ist die konkrete Er- Eindruck nicht verfehlt – daß im Chaos Tempo ist langsam, das Leiden intensiv und füllung dessen, was die Verfechter der De- der Beziehung sich doch noch eine in die Länge gezogen. Die Stimmen sind konstruktion von Paul de Man bis Jacques Ordnung herausbildet: das alles bezeich- bekümmert, voll Sympathie und Verständ- Derrida in akademischen Zirkeln am Bei- net den Erfolg gelungener Serien und nis. Kurz, hier ist jene Frauenwelt, die in un- spiel großer Dichter freilegen wollen. Tex- te sind mehr als ihre Schöpfer, sie entfal- ten eine Eigendynamik, und niemand kann sagen, wohin sich der Kosmos der Ge- schichten bewegt. So beobachten die Autoren von „Ver- botene Liebe“, jener Geschichte vom un- wissenden Zwillingspaar, das in Liebe ent- brennt, wie die Festlegungen der großen Linien, der „Future lines“, zu Makulatur werden. „In der konkreten Produktion ent- wickeln die Geschichten einen großen Ei- gensinn“, berichtet einer der Schreiber. Pa- radox, aber keiner der Beteiligten kann sa- gen, wer der eigentliche Urheber der Serie ist und wohin die Reise geht. Da lassen sich, wie Hölderlin sagt, Anfang und Ende einfach nicht reimen. Schwangerschaften dauern, wie einmal in der „Lindenstraße“, weil es mit den Drehbüchern nicht anders hinkam, elf Monate. Viele denken an den Seifenopern-Parti- turen mit, aber wer gibt den Ton an? Wer bestimmt, wann Schluß ist? Als wäre Geis- sendörfer nicht der strickbemützte Alt-68er Donnergott, sondern Goethes Zauberlehr- ling, dessen Werk ihm über den Kopf wächst, gibt sich der Soap-Altvater melan- cholischen Bildern hin: „Die ‚Lindenstraße‘ ist“, sagt er, „als ob Sie am Meer hocken. Da sind Wellen, die auf Sie zukommen.“ Nicht mal sicher ist sich der alte Mann am Seifenschaummeer, ob und wie er sein Kind „Lindenstraße“ jemals sterben lassen kann.

Relativ häufig sind es ausstiegsent- / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING schlossene Schauspieler, die die Handlung Studioszene aus „Alle zusammen“: Seifen-Baudelaire, nein danke

der spiegel 4/1997 157 Kultur serer Industriegesellschaft so scharf fröhliche Urhorde ist zur U-Horde der vom Berufsleben geschieden ist.“ Unterhaltungsindustrie geworden. Väter Bekümmert oder optimistisch – die braucht die nicht mehr zu töten. Sie hat Soap schaffte in den USA spielend sich einfach von zu Hause davongemacht den Übergang vom Hörfunk ins Fern- und einen Raum besetzt, der im medialen sehen. Bis in die siebziger Jahre nahm Jenseits von Kindheit und Pubertät liegt. die mit den Herz- und Schmerzge- Doch der Trip hat seinen Preis. Man muß schichten gefüllte Sendezeit deutlich nicht gleich die verbale Keule auspacken, zu. Das Genre eroberte sich ein fe- die Kritiker wie Horkheimer und Adorno stes Publikum und übertraf gelegent- im Geiste Sigmund Freuds gegen eine „po- lich die Werte beliebter Sendungen im lymorph-perverse“ Kultur schwangen, weil Hauptabendprogramm. diese sich infantil der Auseinandersetzung Als ein Forscherteam in den siebzi- mit dem Vater entziehe.Aber es fällt schon ger Jahren systematisch eine Woche auf, wie unsicher sich die jungen Erwach- lang 14 in Michigan empfangbare senen der Soaps auf dem entelterten Ter- Soaps beobachtete, offenbarte sich rain bewegen. Da werden Unsicherheiten ihm eine Bildschirmwelt ohne Politik. mit Coolness und Altklugheit überspielt, Dafür boomten Liebe und Triebe: Sie- nur die maskenhafte Freundlichkeit ver- benmal wurde in dieser einen Soap- rät, daß hier etwas nicht stimmt. Wirklich Woche eine Hochzeit vorbereitet, jung gebärden sich Soap-Junge so gut wie achtmal fremdgegangen, drei Schei- nie. Sturm und Drang? Fehlanzeige. Schil- dungen wurden zelebriert. Probleme lers „Räuber“-Kumpane wirken wie un- im Beruf kamen nur ganz selten vor, reife Kinder angesichts der Seifen-Schlauis. dafür gab es reichlich Krankheit, Mord Das wahre Erfolgsgeheimnis der schein- (zweimal) und Tod. bar geheimnislosen Soaps liegt im Zelebrie- Vor allem aber waren damals die ren kaum gebremster Körperlichkeit: Narziß Generationen noch deutlich durch- und Goldkettchen. Seifenopern funktionie- mischt. 75 Prozent der vorgeführten ren beim jungen Publikum nicht wegen Paare bestanden aus einem jungen – ihrer Handlung, vermuten Duisburger So- meist die Frau – und einem reifen Er- zialwissenschaftler, sondern durch die Zei- wachsenen. chen, die sie aussenden. Das sind Klamot- Auch in Deutschland startete die ten ebenso wie Piercing. Als für junge Zu- Seifenoper als Mehrgenerationenmo- schauer faszinierende Zeichen gelten schik- dell, kein Wunder in einer Serien- ke Wohnungseinrichtungen und die Teddys, landschaft, die mit den „Schöler- die auf den Mädchenbetten liegen, den Be- manns“, der „Firma Hesselbach“, mit trachtern ist die Choreographie der Bewe- brummeligen Vätern und Mutterbä- gungen so wichtig wie das, was die Akteu- rinnen (Inge Meysel) einschüchternde re sagen. Die Soap-Realität ist also hübsch Denkmäler gesetzt hatte. Kinder wa- polymorph – aber ist sie auch pervers? ren da immer nur die Satelliten, die Wohl kaum. Denn nichts spricht dafür, um die Alten kreisten. daß sich Jugendliche blind mit den Hel- Die „Lindenstraße“ startete 1985 den und Schurken der Soaps identifizieren, ganz im Geist der zwar nicht mehr wie es die Großeltern taten, als sie für Hei- heilen, aber vorhandenen Famile. di, Winnetou und Nesthäkchen schwärm- „Taube“ Beimer und ihr „Hanse- ten und so, ohne es zu merken, die Muster mann“ im Kreis der Kinder zu Weih- der herrschenden paternalistischen Ge- nachten, Ökofreaks gegen verstockte sellschaftsideologie übernahmen. Heutige Nazis – immer waren Jung und Alt Soap-Junkies konsumieren das Telefood, zusammen auf der Szene. um daraus Spielmaterial zu beziehen, mit Der radikale Schnitt kam mit der dem man sich sozial unterscheiden kann.

ersten Daily soap „Gute Zeiten, ARD Die Unterhaltung, so lehrt der Bielefel- schlechte Zeiten“. Das Grundy-Pro- Westernplakat, Soap-Broschüre der Soziologe Niklas Luhmann, liefert dem dukt stellte lauter junge, schöne Leu- Triviale Geschwister Pferde- und Seifenoper modernen Menschen Gelegenheit, eine te in den Mittelpunkt der Geschich- nicht konsenspflichtige Realität zu beob- ten. Die Elterngeneration mit ihrer Für- sumenten geschnitzt, wie sie die Werbung achten. Soaps sind Geschäftsauslagen für sorglichkeit und ihren Erziehungsan- liebt. Keiner weiß zwar so recht, woher Lebensmuster. Sie verpflichten nicht zum sprüchen hat sich, so scheint es, in Luft der Zaster kommt, aber beinahe alle Ak- Kauf. Man guckt hinein – und holt sich, was aufgelöst – im besten Fall sind die Er- teure der Soaps verfügen über ordentliche man haben will. Schließlich gilt für das wachsenen noch Satelliten, die den luftigen Einkommen. Als sei Deutschland eine Na- moderne Leben, was für den „Marienhof“ Kosmos der Jungen umkreisen. tion, welche die Thatcher-Revolution schon gilt. Da singt eine Band zu Anfang: „Es Der generationentrennende Schnitt traf seit Jahren hinter sich habe, begegnet der wird viel passieren. Nichts bleibt mehr den Nerv des Zeitgeistes. Auch der „Ma- Zuschauer in den Seifenopern grünen gleich.“ rienhof“, als entfernte Kopie der „Lin- Jungs und grünen Mädels, die – kaum 20 – So gibt es durchaus noch Hoffnung. denstraße“ gestartet, verjüngte sich 1995 als selbständige Boutiquenbesitzer, Knei- Auch für Charlie und Sophie, das Liebes- radikal – und beamte sich so auf die Er- piers, eigene Plattenfirmen betreibende paar aus „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“? folgsbahn. Die ARD-Soap wurde auf ein- Bandleader ökonomisch gesettelt sind. Charlie – manchmal sind Soaps so gemein mal für die Werbewirtschaft interessant. Soaps tilgen möglichst alle Spuren el- wie das Leben – ist derzeit verlassen, die Den Strategen der Reklameindustrie terlicher Fürsorge oder Unterdrückung. Ersparnisse sind geschmolzen. kommt die Illusion von Jugendlichen zu- Soap heißt: Die Jugend hat die totale Herr- Doch nichts ist in dem Genre ewig: Das paß, die als unabhängige, souveräne Grup- schaft über das Lego des Lebens. In den Fernsehen hat sich das Kinderspiel von pe auftreten. Aus solchem Holz sind Kon- Seifenopern hat Ödipus ausgedient: Die Himmel und Hölle neu erfunden.

158 der spiegel 4/1997 Aufzeichnung von „Alle zusammen“: „Wir konzentrieren uns auf Liebe, Haß, Neid und Krankheit“ G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ

Michael B. Müller, der auch das B. in seinem Namen für ein Echtheitszertifikat hält, „sonst verwechselt man mich so leicht“. Grübeln ist der Tod Das reale Vorbild der Serienwelt sind die frisch renovierten Berliner Hackeschen Höfe. Dort, schwärmt Müller in seinem Wa- Schicke Menschen, schlichte Konflikte: wie die Berliner Firma benbüro direkt über den Studios, „trifft al- Grundy-Ufa das Geschäft mit TV-Soaps betreibt. ternatives Leben auf Alteingesessene und neue Reiche“. Bei „Alle zusammen“ wird chon wieder hat Pamela sich verhas- gerade in solchen Momenten drohe Ge- dieser Ort markiert durch das Szene-Café pelt, genervt verzieht sie ihr Gesicht fahr: Der distanzierte, kritische Blick des Pinguin, ein Ballettstudio, die Kladows mit Szu einer Grimasse. Aber ihr Unge- Zuschauers ist der Tod der Soap. „Rea- ihrer Werkstatt und die neue Arztpraxis schick interessiert im Moment ohnehin nie- lismus ist ganz wichtig“, lautet Müllers unter der Leitung von Professor Dr. Baer, manden. Das Dutzend Leute, das da in Fazit. der mit seinen drei Töchtern gerade aus ihrem Zimmer rumsteht, interessiert im Mo- Deshalb spricht Müllers Assistentin von Amerika zurückgekommen ist. ment nur eins: Kirschrot oder Bordeaux? einem „Glücksfall“, wenn sie von der plei- Und damit auch das Volk im Serienhof „Die Continuity stimmt nicht“, hat ir- te gegangenen Ost-Berliner Autowerkstatt so bunt ist wie das wahre Leben, hat Mül- gendeiner in den Raum gebrüllt – es geht erzählt, die man komplett aufgekauft habe ler 1800 Leute casten lassen, aus denen 17 um Pamelas Fingernägel, die gerade für und die nun von der Serien-Familie Kladow Hauptdarsteller ausgewählt wurden. So- Szene 14 genau auf ihr bordeauxrotes Sei- betrieben wird. Und deshalb ist der Pfla- gar echte Szene-Mädchen sind darunter: dennachthemd abgestimmt wurden. Nur stersteinboden in dem Innenhof, wo regel- Daisy Dee etwa, die dunkelhäutige Hol- leider paßt die Nagelfarbe nicht zur vor- mäßig alle von „Alle zusammen“ zusam- länderin, die schon einmal als Entdeckung angegangenen Szene. Da war der Lack mentreffen, handgemalt.Alles soll aussehen gehandelt wurde und mit dem Dancefloor- nämlich feuerrot, wie Pamelas Kostüm. wie „echtes Berliner Szeneleben“, sagt Song „This Beat Is Technotronic“ so was So was passiert schon mal, wenn man 23 Szenen pro Tag auf die MAZ kriegen muß. 5 mal 22 Minuten und 25 Sekunden sind im Studio 3 und 4 der Grundy-Ufa in Potsdam- Babelsberg pro Woche abzudrehen: genau die Stoffmenge, die RTL 2 seit dem 25. No- vember wöchentlich unter dem Titel „Alle zusammen – jeder für sich“ verstrahlt. „Die Soap mit den Ärzten“, so der Un- tertitel, wird als Stückwerk produziert: Wie in der Branche üblich, reiht der Drehplan die Szenen nicht chronologisch aneinan- der, sondern möglichst ökonomisch und effizient. Der Disponent und sein Compu- ter bestimmen die Abläufe – und natür- lich der Uhrzeiger. Der zeigt an, daß man dem Plan schon wieder 40 Minuten hin- terherhetzt, und deshalb, so beschließt die Studioregisseurin, „lassen wir die Nägel jetzt, wie sie sind“. Wird wahrscheinlich sowieso keinem auffallen. Allerdings, sinniert Michael B. Müller, der Producer von „Alle zusammen“,

„spürt der Zuschauer oft bloß im Unter- 2 RTL bewußtsein, daß etwas nicht stimmt“, und „Alle zusammen“-Darsteller: Leben in der Seifenblase

der spiegel 4/1997 159 Kultur wie einen Hit hatte. Oder die Pamela-Dar- Konflikte: auf Liebe, Haß, Eifersucht, Neid, wird: Wo Grundy-Ufa draufsteht, ist auch stellerin Sandra Gerhard, die zuvor in ver- Krankheit, Geburt und Tod.“ Die Guten Grundy-Ufa drin. schiedenen Berliner Klubs und auch als kommen in den Himmel, die Bösen wer- Auch das macht die „Alle zusammen“- Model gejobbt hat. Andere, wie etwa der den gerecht bestraft. Macher so zuversichtlich, daß früher oder grauhaarige Darsteller des gutmütigen Pro- Die Frau, die dafür sorgt, daß aus den später die Quoten doch stimmen werden: fessor Baer, standen vor dem Mauerfall Konflikten Plots werden und Drehbücher, Alle Soaps brauchten mindestens ein hal- auf der Bühne des Berliner Ensembles. sitzt gleich nebenan in einem Zimmer, das bes Jahr, bis sie genügend Seifenjunkies All diesen Menschen ist durchaus anzu- ungefähr so groß ist wie eine Einzelhaft- vor dem Bildschirm versammelt hatten. sehen, mit wieviel Sorgfalt sie ausgesucht zelle, nur daß hier alles sehr neu aussieht Bis dahin hilft man sich mit kleinen Er- wurden: Die „Soap mit den Ärzten“ ist und ziemlich viele Computer rumstehen. folgsmeldungen: „In den bravo-Charts der aus lauter Prototypen gebastelt, und dar- Heike Brückner ist 33, studierte Germani- beliebtesten TV-Sendungen sind wir schon um wirken ihre Helden wie diese Compu- stin und Kunstwissenschaftlerin und fir- auf Platz 6“, berichtet Autor Brückner. terbilder von Schönheitsidealen, bei de- miert als Chefautorin von „Alle zusam- Die Firma Grundy sorgt auch dafür, daß nen mehrere Fotos übereinanderkopiert men“. Gemeinsam mit ihrem Bruder Jörg jeder im Haus weiß, wie das Endprodukt werden – wie geklont. Da hilft es auch und Peter Balke hat sie sich die Serie aus- aussieht, für das er hier schminkt, Requi- nichts, daß Müller betont, das Konzept sei gedacht und mittlerweile „Geschichten für siten beschafft oder Fußböden malt: In je- nicht am Reißbrett entstanden, sondern in gut eineinhalb Jahre im Kopf“. dem Raum steht ein Monitor, der den seinem Bauch oder Herz oder wo immer Früher hat Heike Brückner, die auch als ganzen Tag live überträgt, was im Studio so ein Producer sein Gefühl sitzen hat. Fergie-Double durchgehen würde, die vorgeht – jede Probe, jeden Umbau, je- den Versprecher. Und keiner schaltet die Endlosserie ab, selbst im hausinternen Café, in dem sich die Mitarbeiter zwi- schendurch kalte Speisen und heiße Ge- tränke („Kaffee – extra stark“) holen, läuft die Grundy-Kiste ohne Pause. Zappen ver- boten. An einem der Tische doziert gerade die Chefin der Maske über das Nagellackpro- blem: „Eine Farbe muß raus. Ich glaub’, wir bleiben beim Kirschrot. Bordeaux ist hipper, aber wirkt im Fernsehen so grau.“ Die Darsteller müssen sich um solche Details ebensowenig kümmern wie um ihr sonstiges Leben – auch darum sorgt sich Grundy-Ufa. Für nahezu alles findet sich im Vertrag der Serienhelden ein Passus: Im Urlaub dürfen sie nicht Ski fahren und nicht braun werden, und nach einem Jahr müssen sie ein weiteres Jahr zur Verfü- gung stehen – wenn RTL 2 und die Zu- schauer es wollen. Wenn nicht, sind sie frei. Sofort. Sandra Gerhard, die Pamela aus „Alle zusammen“, hält ihr Engagement dennoch für „einen ganz normalen Job“. Mit den Kollegen nebenan in Studio 1 und 2 hat sie

G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING „noch keinen Kontakt“. Dort wird „Gute Kontrollmonitore im Babelsberger Studio*: Zappen verboten Zeiten, schlechte Zeiten“ gedreht, seit fünf Jahren mittlerweile – mit tiefgreifenden Dieses Gefühl hat ihm zum Beispiel ver- Adelsschicksale in der „Verbotenen Liebe“ Folgen auch fürs Privatleben der Stars. raten, welche Erwartungen RTL 2 hegt, mitbestimmt, ihr Bruder war bei „Gute So hat die ehemalige „Gute Zeiten, also für welche Zielgruppe das Ganze ge- Zeiten, schlechte Zeiten“, Balke bei „Un- schlechte Zeiten“-Darstellerin Sandra Kel- bastelt sein muß: „Die werbetreibende In- ter uns“. Wiederholt man sich da nicht ler mehrmals in der Realität nachvollzo- dustrie hat nun mal am liebsten die Leute zwangsläufig? „Damit haben wir wenig gen, was das Drehbuch ihr vorgeschrieben von 19 bis 29.“ Und das Gefühl sagt Mül- Probleme“, sagt Brückner, „schon durch hatte: Privat wie in der Serie mit Andreas ler auch, daß man auf dem richtigen Weg die unterschiedlichen Charaktere wird je- Elsholz liiert, brach sie mit ihrem Traum- ist, obwohl die absoluten Zuschauerzahlen desmal alles ganz anders.“ mann, nachdem die Autoren sich das für „noch nicht da sind, wo wir hinwollen“: In Wahrheit ähneln sich alle Soaphand- die Serie so ausgedacht hatten. Später kam Eine Million heißt das Ziel, bislang schal- lungen zum Verwechseln, und eben das ist sie dann mit ihrem neuen Serienlover Jan ten noch nicht einmal halb so viele ein. das Geheimnis ihres Erfolgs. Das Trio der Sosniok auch real zusammen. Keller hält Sein Gefühl hat Müller auch sofort klar- „Entwicklungsautoren“ variiert nur das Sy- das eher für Zufall, „es gibt ja auch gar kei- gemacht, daß Ost-West kein Thema sein stem Grundy. Das System einer Firma, die ne Gelegenheit, andere Leute außerhalb kann, nicht hinter den Kameras („Hier ar- vier der fünf täglichen deutschen Serien des Sets kennenzulernen“, sagt sie, „man beitet jeder zwölf Stunden“) und schon produziert, mehr als elf Millionen Zu- lebt wie in einer großen Seifenblase“. gar nicht davor. „Da müßten wir ja dann schauer beliefert. Grundys Geschäft ist die Ihre Kollegin Sandra Gerhard mag sich eine Haltung dazu einnehmen“, sagt der Alchimie des modernen TV-Alltags, die derlei noch nicht mal vorstellen.Vor ihrem Producer, „und das polarisiert die Zu- Kunst, aus dem Trivialmüll vergangener ersten Seifenkuß grauste ihr, aber sie ver- schauer zu sehr.Wir konzentrieren uns lie- Tage ein Zukunftsgeschäft zu machen. Das traute auf die Diskretion der Regie: „Da ber auf die archetypischen menschlichen Serien-Hopping von Autoren wie Regis- kann man ja vorher abblenden.“ seuren innerhalb der Firma trägt dazu bei, Kein Problem – Hauptsache, die Lip- * Auf den Bildschirmen: Producer Michael B. Müller. daß stets gleichbleibende Qualität geliefert penstiftfarbe stimmt. Anke Dürr

160 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Kultur FOTOS: KUNSTHALLE DÜSSELDORF FOTOS: Wrubel-Gemälde „Sitzender Dämon“ (1890): Der gefallene Engel trotzt dem Fluch des Himmels

welt der Oper, er betörte Kunstbetrachter le, Zeichnungen und Majolika-Skulpturen KUNST durch den Sog wirbelnder Formen und aus Moskau, St. Petersburg, Kiew, Odes- durch den Perlmuttglanz der Farben.Aber sa und Kasan zeigen ihn als nervösen, li- er hinterließ, wie der Maler Alexander Be- terarisch inspirierten Ästheten mit Hang Bruchstücke nois in seinem Nekrolog formulierte, kaum zur Prachtentfaltung, einen östlichen Gei- mehr als „Andeutungen, Entwürfe, Schnip- stesbruder Gustav Klimts oder Giovanni sel, Fetzen“: Die volle Schönheit, die Wru- Segantinis*. eines Meteors bel vorschwebte, müsse man sich im Kopf Aber stärker als bei seinen mitteleu- aus den „Bruchstücken dieses niederge- ropäischen Generationsgenossen scheint Genie zwischen Vision gangenen Meteors“ zusammensetzen. sich bei Wrubel das Motiv – überraschend und Wahn: Die Düsseldorfer Genau dazu sind die Besucher der modern – immer wieder in schiere Schraf- Kunsthalle zeigt das großen Wrubel-Ausstellung aufgefordert, fur oder in reine Malerei aufzulösen; es die von Samstag dieser Woche an in der wirkt wie in ständiger Verwandlung oder Werk des russischen Symbolisten Düsseldorfer Kunsthalle zu besichtigen überhaupt erst im Entstehen begriffen. Michail Wrubel. ist. Zum erstenmal wird Wrubels Werk Tatsächlich hat der Künstler seine Arbeit außerhalb Rußlands, wo er längst den oft genug ebenso spontan abgebrochen wie uf „Höhenflug von irgendwoher Rang einer nationalen Kultfigur ein- begonnen. aus Bergesschluchten“ schien der nimmt, in all seinen Spielarten ausge- Mal triumphal vergegenwärtigt, dann AKünstler einhergeschwebt zu sein, breitet. Mehr als 200 Gemälde, Aquarel- wieder skizzenhaft verhuscht, geistert eine dann jedoch tragisch an der rauhen Wirk- schillernde Leit- und Identifikationsfigur lichkeit gescheitert und „zu kostbaren durch Wrubels Werk: ein „Dämon“ von Splittern zerborsten“; so beschrieb es ein überwältigender androgyner Schönheit. Kollege in seinem Nachruf. Denselben Le- Der Künstler hatte sein Idol in dem bensweg hatte wenige Jahre zuvor ein Kri- gleichnamigen Versepos des russischen Ro- tiker schon mit den rohen Worten nachge- mantikers Michail Lermontow vorgeprägt zeichnet: „Der dekadente Maler Wrubel ist gefunden – als gefallenen Engel, der eine übergeschnappt.“ georgische Fürstentochter im Kloster ver- Aufstieg und Fall, Genie und Wahnsinn, führt und hochmütig dem Fluch des Him- inbrünstige Verehrung und banausische mels trotzt. Auch singend, in einer Gehässigkeit – zwischen diesen Wegmar- Oper des Komponisten Anton Rubinstein, ken vollzog sich ein bewegendes Künstler- war dieser „Dämon“ ihm begegnet. Wru- schicksal der vorigen Jahrhundertwende. bel aquarellierte texttreue Illustrationen Der russische Symbolist Michail Wrubel zu Lermontow, schuf die Gestalt aber (1856 bis 1910) hatte „die Seele durch er- außerdem zu einem nietzscheanischen habene Bilder aus dem Alltag erwecken“ Übermenschen um, dem er „viel Starkes, wollen, bevor er verwirrt und blind in ei- ja Erhabenes“ zuschrieb. ner psychiatrischen Klinik endete. Er hatte Visionen aus kirchlicher Über- * Bis 13. April; ab 8. Mai im Haus der Kunst, München. lieferung geschöpft, aus Märchen- und Wrubel-„Selbstporträt mit Muschel“(1905) Katalog im Verlag DuMont; 312 Seiten; 49 (Buchhan- Mythenphantasien und aus der Bühnen- „Eine grüne Nase steht mir“ delsausgabe 128) Mark.

162 der spiegel 4/1997 nicht erhaltenen „Dämon“- Darstellungen. Ein widerspenstiger Adept, ein befremdlicher Hausge- nosse: Er stattet eine gezeich- nete Figur mit einem zusätzli- chen Handgelenk aus und besteht darauf, das sei ein Vor- griff auf die menschliche Ana- tomie der Zukunft. Einmal färbt er sich die Nase grün („Mir steht das“), ein ander- mal verabschiedet er sich mit allen Anzeichen einer ge- drückten Gemütsverfassung zum Begräbnis seines Vaters – der kurz darauf, unbestreit- bar lebend, vorbeischaut und enttäuscht ist, den Sohn nicht anzutreffen. Doch Wrubel blüht auf und Keramik „Meeresprinzessin“ mit ihm seine Kunst, als er (1899/1900) 1889 nach Moskau zieht. Er lernt aufgeschlossene Samm- ler und Mäzene kennen, vor allem den Industriellen Saw- wa Mamontow, den er groß- formatig in der gebieterischen Pose eines alten Hexenmei- sters porträtiert und der ihm einen eigenen Ausstellungs- pavillon errichtet, als 1896 die Jury der Allrussischen Aus- stellung in Nischni Nowgorod zwei Monumentalgemälde Wrubels zurückweist. In Mamontows Keramik- werkstatt lernt Wrubel töp- fern, für die Russische Privat- oper des Gönners entwirft er Bühnenbilder und Kostüme; die Sängerin Nadeschda Sa- bela wird die Frau des Malers „Ägypterin“ (1899/1900) Aquarell „Tamara und der Dämon“ (1890/91, Illustration zu Lermontow) und sein bevorzugtes Modell. Wrubel-Werke: „Andeutungen, Entwürfe, Schnipsel, Fetzen“ Andere Großbürgerhäuser in Moskau stattet Wrubel mit Sinnend thront Wrubels „Dämon“ im gnosen wechselten, aber der geistige Ver- Majoliken, Glasmalereien und symboli- Dämmerlicht vor einer Bergkulisse aus fall schritt, mit Intervallen, fort. stisch-dekorativen Wandpanneaus aus – mosaik- oder teppichhaftem Farbgewirk. Nicht allein hämische Spießer fragten Wohnkultur als Gesamtkunstwerk. Majestätisch gleitet er als Flügelwesen nach möglichen Zusammenhängen zwi- Ist es ein Menetekel, daß 1901 Wrubels durch Himmelsräume. Abgestürzt liegt er schen der exzentrischen Attitüde des einziges Kind, der nach Mamontow ge- schließlich hilflos im Geröll – Sinnbild ei- Künstlers und seiner Krankheit. Schließlich taufte Knabe Sawwa, mit einer Hasen- nes gescheiterten Lebens- und Kunstent- war der in Sibirien geborene Offizierssohn scharte zur Welt kommt? Der Maler, der wurfs? niemals ein biederer Zunftgenosse gewe- den Sohn im Jahr darauf mit großem ern- Am größten und letzten Absturz-Bild sen. Früh bangten Freunde und Familien- stem Blick und mit genau beobachteter malte Wrubel 1902 sogar dann noch täglich angehörige, weil er „trank, sehr liederlich Entstellung porträtiert, soll es so empfun- bis zur Erschöpfung weiter, als es schon in mit dem Geld umging“ und sich nur „wie den haben. Er nimmt die Arbeit am „Ge- der St. Petersburger „Welt der Kunst“-Aus- von ungefähr an die Arbeit setzte“. stürzten Dämon“ auf, sucht Zuflucht bei stellung hing. Augenzeugen erschraken, Schon bei seinem ersten größeren Auf- Propheten und Seraphim. Doch unter sei- wie „schrecklich verpfuscht“ die Szene trag – einer Beteiligung an Ikonen- und nen Händen zerstieben die heiligen Ge- dadurch wurde – zwar „die Farben schön“, Wandmalereien in Kiewer Kirchen 1884 – stalten zu Gewölk und Splitterwerk, das doch „die Figur selbst ganz unsinnig“. fällt Wrubel durch unstetes Wesen ebenso nur noch von ferne an die souveränen Zurück blieb ein auch materiell brüchiges auf wie durch Talent. Er ist imstande, ge- Formeinschmelzungen früherer Jahre er- Kunstwerk aus unzähligen Farbschichten, lungene Entwürfe alsbald wieder zu über- innert. das die Moskauer Tretjakow-Galerie des- malen und vollendete Zeichnungen wü- Zuletzt, kurz vor der völligen Umnach- wegen nicht nach Düsseldorf ausgelie- tend zu zerreißen, weil die Frau des tung, quält ihn sogar die Idee, zur Strafe für hen hat. Teamchefs Adrian Prachow, in die er sich seine Sünden müsse er es erleben, daß „Rette mich vor meinem Dämon“, verliebt hat, zögert, die Blätter als Ge- ohne eigenes Zutun obszöne Darstellun- schrieb Wrubel seiner Frau aus der Klinik, schenk anzunehmen; nicht nur Madon- gen auf seine Bilder gerieten – von der in die er wenig später zum erstenmal ein- nenbildern verleiht er die Gesichtszüge der Hand des Teufels: „Er hat sie“, graust ihn, geliefert worden war. Die ärztlichen Dia- Angehimmelten, sondern auch ersten, „alle entstellt.“ ™

der spiegel 4/1997 163 Kultur

FILM Schwabing, Schwabing über alles Zehn Jahre nach der TV-Serie „Kir Royal“ und fünf Jahre nach der Kinosatire „Schtonk“ gibt es ein neues Werk von Helmut Dietl. Das Warten hat sich gelohnt: Dietls Münchner Sittenkomödie „Rossini“ ist witzig und brillant. Von Urs Jenny FOTOS: CONSTANTIN FILM CONSTANTIN FOTOS: „Rossini“-Wirt Adorf (r.), Gäste Liefers, Landgrebe, George, Lauterbach: Ein paar süße, ein paar saure, ein paar bittere Geschichten

ndlich! Wer geriet nicht in letzter der leider eigensinnig den Sprung über den gen Sommernacht an einem einzigen Ort, Zeit in Verlegenheit, wenn die Wie- eigenen Schatten, ins Große, verweigert; dem Italo-Restaurant „Rossini“ (von dem Edergeburt des deutschen Kinos aus endlich ist er souverän: Herr über seine man sich vorstellen mag, daß es in Schwa- der Lust zur Komödie allzu vollmundig Kunstmittel und seine Welt. bing liegt), und er erzählt mit etwa einem bejubelt wurde? Denn wer wollte schon, Er ist ein Bezauberungskünstler, doch Dutzend Hauptfiguren eine Vielfalt inein- da die Kohlen doch offenbar stimmten, wie wenn’s um die Wurst geht, kommt ein als ander verzahnter Geschichten aus der Li- ein Spielverderber darauf beharren, daß Müßiggänger getarnter Hochleistungsfa- teraten- und Filmemacherwelt – ein paar dies (mit wenigen zaghaften Ausnahmen) natiker zum Vorschein: Der tiefste Grund süße, ein paar saure, ein paar bittere. ein Lacherfolg auf dem niedrigsten ge- dafür, daß er im Lauf von 25 Berufsjahren Um die Hürde noch höher zu setzen, meinsamen Nenner war – kein Witz, in so beklagenswert wenig produziert hat, ist als wäre es nicht schon schwierig genug, in dem Erkenntnis funkelt, sondern Humor wohl, daß ihm selber nur selten eine Sache Handlungsgeflecht und Figurengewimmel aus der dröhnenden Tiefe des Vorurteils? gut genug und der Mühe wert erscheint. den Überblick zu wahren, hat Dietl als Wie schön, jetzt sagen zu können: Ja, es Wenn es dann aber sein soll und muß, setzt Krönung des Übermuts sich (und seinem gibt Grund zum Lachen, seht her, diese er – gewiß auch, um herauszufinden, ob er unerschrockenen Kameramann Gernot „Rossini“-Komödie, die hat Schliff, die fun- es selbst wirklich will – die Hürde so hoch Roll) für die längste Strecke des Abends kelt, die kann sich sehen lassen. wie irgend möglich. Solchen Anspruch Kerzenbeleuchtung verordnet: Millime- Endlich, mit 52 Jahren, ist Helmut Dietl muß man sich leisten können. terarbeit also unter empfindlichsten Be- nicht mehr der ewig bewunderte Groß- Die Hürde hochsetzen: Der Film „Ros- dingungen und als Belohnung goldschim- meister der kleinen und kleinsten Form, sini“ spielt im wesentlichen in einer einzi- mernde Pracht, Sattheit der Farben, rund-

164 der spiegel 4/1997 um das, was in deutschen Filmen das rarste rauchend wie Dietl und so konsequent in Münchner Boulevardzeitungs-Klatschspal- ist: Glamour. saloppes Schwarz gewandet wie Dietl seit ten wissen, daß es ein Schwabinger Re- Das Restaurant „Rossini“, das hell in je in Weiß. George, immer verhalten, wo staurant gibt, das diesem „Rossini“ un- die Nacht hinausleuchtet, ist ein großer andere neben ihm pfauenhaft auftrumpfen übersehbar gleicht, und daß unter dessen Glaspavillon, dessen Fußboden in Knie- dürfen, führt diesen Uhu als einen Men- Stammgästen ebenso unübersehbar die höhe über Straßenniveau liegt: So präsen- schen vor, der nie gern im Zentrum steht Vorbilder für das zentrale Männerfreun- tiert es seine Gäste wie im Schaufenster und mit freundlich-zerstreutem Verlierer- desquartett im „Rossini“ zu finden sind: oder auf einer Bühne, und es sind offenbar charme darüber hinwegtäuscht, wie allein die Filmemacher Helmut Dietl und Bernd Gäste, denen das nicht mißbehagt: Show- und wie gern er allein ist. Eichinger sowie die Schriftsteller Wolf Business-Figuren, Klatschkolumnen-Pro- George berlinert auf seine Wondratschek und Patrick Süs- minente, selbstgefällige Selbstdarsteller, dezente Art, und für Dietl kind, lebensnah dargestellt von die sich in ihren Dunstkreis drängeln. wird, vielleicht gar nicht ge- Ein Bezauberer, Götz George und Heiner Lau- Aus dem „Rossini“-Wirt macht Mario wollt, zur wirksamsten Distan- alles umar- terbach sowie von Joachim Adorf mit allem Genuß an der Selbstpar- zierung gegenüber dem all- mend, verliebt Król und Jan Josef Liefers. odie einen Zerrissenen: einerseits in trom- zu Privaten der „Rossini“-Ma- Dietl enthüllt und verbirgt petender Machtfülle, wenn er Hergelaufe- terie der Verzicht auf eine in seine Spra- ihre Identität mit einem ta- ne von der Schwelle seines Tempels münchnerische Grundmelodie: che, in seine schenspielerischen Vergnügen, scheucht, andererseits in Devotheit ver- Im Dutzend der Hauptdarstel- Schauspieler, das sie zu Komplizen macht, krümmt und zu Tränen gerührt, wenn es ler ist überraschenderweise in seine denn gemeinsamer Lebensstoff um seinen liebsten, launischsten Stamm- kein Bayer, und das einzige aus den Mitt-Achtziger-Jahren gast geht, um den Filmregisseur Uhu Zi- Bild, das den Film unbestreit- Komödienlust hat „Rossini“ gefüttert: das geuner: Für den ist „Rossini“ Wohnzimmer bar in München lokalisiert, Gezerre um „Die unendliche und Büro zugleich, der läßt sich die Post zeigt in verkatertem Morgenlicht einen Geschichte“, Eichingers Versuche, Süskind dorthin schicken und dort sogar die Socken Sonnenaufgang über dem Nationaltheater. die Filmrechte an seinem „Parfum“ abzu- waschen. Er kann sich’s erlauben, denn was Schwabing als Lebensform ist nicht nur luchsen, und vor allem der Tod der ro- wäre „Rossini“ ohne Uhu und seine Spe- ein glückliches Schicksal, auch ein Fluch, mantischen Schönen, Wondratscheks wie zeln, allen voran der Filmproduzent Reiter, und Dietl hat ihm öfter zu entrinnen ver- Eichingers Favoritin, die der eine als „Car- der da jeden Abend großkotzig hofhält? sucht. Mal hat er sich, das muß um 1980 ge- men“ in einem Gedichtzyklus gefeiert hat, Und die Frauen um ihn herum! Gudrun wesen sein, monatelang im legendären dessen Manuskript und Copyright ihm Landgrebe als rotschwarze, todessüchtige Hotel „Chateau Marmont“ in Los Angeles dann der andere abkaufte – daraus stammt Möchtegern-Carmen, Veronica Ferres als eingebunkert, um dort einen kaliforni- der Film-Untertitel „Die mörderische Fra- überwältigend blonde Sahnebombe, Me- schen Film auf die Beine zu stellen, dann ge, wer mit wem schlief“.

„Rossini“-Stars Adorf, George, Ferres, Liefers, Landgrebe, Lauterbach: „Die mörderische Frage, wer mit wem schlief“ ret Becker als verspielte Kellertheater-Rat- wieder ließ er sich von seinem Produzen- In der Art, wie Dietl sich und seines- te, aber auch Hannelore Hoger, Martina ten-Freund Bernd Eichinger für das gleichen mutwillig (nämlich mutig und wil- Gedeck – der Bezauberer Dietl macht sie Großprojekt „Die unendliche Geschich- lentlich) dem Komödiengelächter preis- nicht nur so schön, sondern auch so gut, te“ gewinnen, ackerte ein Dreivierteljahr gibt, trifft sich äußerste Koketterie mit daß es eine Freude ist. lang und nahm doch – zu Eichingers Be- äußerster Ehrlichkeit – erlaubt ist das nur Bei fast allem, was Dietl für Fernsehen stürzung – kurz vor dem Countdown zum und gelingt nur, weil Dietl so alles umar- oder Kino geschrieben und gedreht hat, Drehbeginn Reißaus. „Scheiß auf die mend in sein Werk verliebt ist, verliebt in gab es eine münchnerisch-autobiogra- Weltchance“, hat Dietl damals gesagt; ihm die Sprache, in die Schauspieler, in die phisch grundierte Figur, durch die er sei- ist Schwabing (mit einem Zweitwohnsitz Komödienlust. Seht her: Da gibt es eine nen Einstieg in die Geschichte nahm (daß an der Côte d’Azur) Welt genug. kleine Gesellschaft kennenzulernen, von es sie einzig in „Schtonk“ nicht gab, erklärt Der Schriftsteller Patrick Süskind, seit 20 der man nicht sagen kann, daß sie über vielleicht dessen größere Kälte). Nie zuvor Jahren immer mal wieder und mit Lust sich selbst hinaus etwas bedeute; da spie- aber hat Dietl so ungeschönt und so durch Dietls Schreibpartner, schweigt in seinem len keine Kinder und keine Tiere mit; da und durch ironisch sich selbst ins Zentrum Werkstattbericht zur „Rossini“-Buchpu- wird kein Verbrechen begangen und keine des Schußfelds gestellt, und Götz George blikation (Auszug auf Seite 166) nobel Ehe gestiftet, auch kein Glück verheißen bewältigt diese allerheikelste Aufgabe als über die „Realität“ des Stoffs*. Leser der und nicht behauptet, daß es etwas Besse- Dietl-Double Uhu Zigeuner („Er sieht sich res als Ironie gebe, um sich in die Dinge zu ja immer in mir“) fabelhaft: graubärtig und * Helmut Dietl/Patrick Süskind: „Rossini“. Diogenes schicken.Wenn dieses Schwabing nicht die bebrillt wie Dietl, stangenweise „Gitanes“ Verlag, Zürich; 290 Seiten; 19,90 Mark. Welt ist, gibt es überhaupt keine. ™

der spiegel 4/1997 165 Kultur beschlossen wir, unser wiederholtes Schei- tern als interessante Erfahrung zu begrei- fen und das Projekt zu einem guten, mit- „Worum geht es eigentlich?“ telmäßigen oder meinetwegen mißratenen Ende zu führen, jedenfalls aber zu einem Aus dem Werkstattbericht eines Schriftstellers, der sich Ende, selbst wenn wir noch zehnmal vor ei- nem Scherbenhaufen stehen sollten und mit dem Filmprofi Helmut Dietl zusammentat, um ein Drehbuch noch zehn Jahre unseres Lebens daran- zu schreiben. Von Patrick Süskind wenden müßten. – Laß uns noch einmal am Anfang an- er Film „Rossini“ sollte – so war den Einzelgeschichten ihrer Mitglieder. fangen! die Absicht – nicht die Geschichte Gelobt sei die Prosa, verflucht sei der Film – Mit dem größten Vergnügen! Dvon ein oder zwei Individuen in ei- als erzählerisches Medium! Diese teufli- – Vielleicht wäre es nicht ganz verkehrt, ner sie umgebenden Gesellschaft erzählen, sche Wirklichkeitsvorspiegelungsmaschine wenn wir, ehe wir versuchten, dem Zu- sondern die Geschichte einer Gesellschaft kennt keinen Nebensatz und kein Kondi- schauer irgend etwas unmißverständlich selbst, oder sagen wir bescheidener: einer tional, kein „à propos“, keine Einschübe, klarzumachen … wenn wir … wie soll ich Gruppe, der Gruppe von Stammgästen nicht die simpelste rhetorische Figur, sagen ... eines Lokals nämlich. Es war also von An- keine Zeitenfolge, kein „wenn“, kein – … wenn wir uns selber klarmachten, fang an klar, daß es nicht die Hauptrolle „während“, kein „sowohl als auch“ – was wir klarmachen wollen … möglichst und die Nebenrollen geben durfte, son- nichts als dieses primitive, undifferenzier- unmißverständlich. dern viele Hauptrollen (besser: große Rol- te, grobschlächtige „Hier bin ich“ des Bil- – So ist es.Wenn wir uns die Frage stell- len) und viele kleinere Rollen geben muß- des auf der Leinwand, das nichts anderes ten: Worum geht es eigentlich in dem Film te. Wir landeten schließlich bei – je nach neben sich duldet und mit dessen plumper „Rossini“? Gewichtung gerechnet – 7 bis 10 großen, 13 Behauptungssyntax man gezwungen ist, – Interessante Frage nach anderthalb- bis 17 mittleren und 10 bis 12 kleinen Rol- unter Verwendung eines unendlich schwer- jähriger Arbeit an ebendiesem Film! Aber len sowie 45 Komparsen. fälligen dramaturgischen Hebelwerks so ich glaube, ich kann’s dir sagen: Es geht … Es war ferner klar, daß alle Haupt- und lächerlich einfache Wörtlein auszudrücken – Nicht sagen. Aufschreiben! möglichst viele der Nebenfiguren ihre ei- wie beispielsweise „immer“ oder „nie“ – Bitte sehr, auch das ist längst gesche- gene, wie immer kleine, Geschichte, ihre oder „leider“ oder „ach“! hen. Wir haben hier in der Ablage diverse eigene Entwicklung haben mußten, ihr Ach, ich weiß nicht mehr, woher wir den Fragmente von Synopsen, Treatments und Schicksal, wenn diese pompöse Bezeich- Mut genommen haben weiterzumachen! Auflistungen von Szenenfolgen. nung erlaubt ist; daß also die Geschichte Mut? Es war wohl nicht Mut, der immerhin – Das meine ich nicht. Ich meine: in drei der Gruppe zusammenzusetzen war aus ein gewisses Maß an Zuversicht voraus- oder vier Sätzen sagen, wovon der Film setzt, es waren eher Fatalismus, der gele- handelt, so, als habe man ihn schon gese- Patrick Süskind, 47, der mit dem Millionenerfolg „Das gentlich in sarkastischen Humor umschlug, hen und wolle einem Dritten davon er- Parfum“ berühmt wurde, veröffentlichte zuletzt „Drei und eine beiderseits angeborene Sturheit, zählen. Und das Ganze schriftlich, in mög- Geschichten und eine Betrachtung“ (1995). die uns bei der Stange hielten. Jedenfalls lichst einfacher Sprache. CONSTANTIN FILM CONSTANTIN „Rossini“-Dreharbeiten: „Verflucht sei der Film als erzählerisches Medium“

166 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Kultur Warum ist das Einfache so schwer zu fin- den? Warum das Offensichtliche nur unter größten Mühen zu erkennen? Von Anfang an wußten wir, daß wir einen Film über eine Gesellschaft machen wollten; täglich haben wir es uns gegenseitig eingehämmert; jedem, der uns gefragt hätte, wovon der Film handle, hätten wir wie aus der Pistole geschossen geantwortet: von Menschen in einem Lokal.Auf die am nächsten liegende Lösung, den Film mit dem Subjekt der Handlung, eben jenen Menschen im Lokal, zu beginnen, sind wir nach anderthalb Jah- ren gestoßen. Dabei lagen die Vorteile einer solchen Eröffnung, wie wir nun erkannten, auf der Hand: Durch eine gemeinsame Ein- führung der Gäste des Lokals – die durch- aus nur kursorisch, eher atmosphärisch als detailliert beschreibend zu sein hatte – war endlich der Raum geschaffen, den wir anschließend für die Einführung der diese Gruppe konstituierenden einzelnen Figu- ren brauchten. Eine gewisse Durststrecke würde dann zwar immer noch zu überwinden sein, ehe sich die Strähnen zum Zopf verflochten,

V. FERRES V. die Gefahr aber, daß sich die eine oder an- „Rossini“-Autoren Süskind, Dietl: „Kann man tiefer sinken?“ dere Figur allzusehr in den Vordergrund drängte, oder daß die eine Teilgeschichte – Sozusagen im Stil einer Fernsehpro- die andere vollkommen erwürgte, war grammzeitschrift? deutlich geringer geworden, denn man – Genau so! wüßte ja von Anfang an, oder ahnte es zu- Kann man als Autor tiefer sinken? Wohl mindest: Da sind andere, die ihr Wort noch kaum. Da wir aber nichts mehr zu verlie- zu sagen haben, da sind mehrere, die auf ren hatten, setzten wir uns hin und kno- die eine oder andere Weise noch mitein- belten einige Tage lang an verschiedenen ander zu tun bekommen werden. Fassungen von Kurzinhaltsangaben unse- Zu unserer Entlastung sei gesagt, daß res eigenen Films herum. Das begann dann wir vielleicht nicht ganz von Anfang an jeweils etwa folgendermaßen: diese Lösung hätten praktisch ausführen „Abend für Abend trifft sich eine Grup- können, da sich die Gruppe unserer Prot- pe von Stammgästen im italienischen Re- agonisten ja erst im Laufe der Arbeit kon- staurant ,Rossini‘ ...“ stituierte.Auch hat man als Autor einen oft

Oder: „Eine Handvoll Gäste haben das FILM CONSTANTIN unüberwindlichen Widerwillen gegen das Restaurant ,Rossini‘ zu ihrer zweiten Hei- Bestsellerautor in „Rossini“* Verfassen von Massen- oder Gruppensze- mat gemacht ...“ Primitivsyntax des Films nen. Die Hauptursache für unser Unver- Oder: „Sie gehen nicht nur zum Essen mögen, für dieses Mit-Blindheit-geschla- zu ,Rossini‘, sie gehen vor allem ihren ero- die Hauptsache zum Subjekt des Satzes gen-Sein, lag woanders: tischen und geschäftlichen Interessen nach, wird. Die Konzeption von Filmen geschieht in wenn sie sich Abend für Abend …“ – Warum fangen wir den Film dann Gedanken, und soweit Gedanken nicht oh- Auffallend war, daß keine einzige dieser nicht genau mit einem solchen simplen nehin schon den Kategorien von Sprache Beschreibungen so begann, wie die diver- Satz an? folgen, findet ihre erste Entäußerung un- sen bisherigen Fassungen unseres Dreh- – Hingeschrieben im Vorspann? vermeidlicherweise sprachlich statt, zu- buchs begonnen hatten. Im ersten Satz war – Nein, szenisch gezeigt im Film. Oder nächst vielleicht nur mündlich, dann aber in nicht die Rede von dem Wirt Paolo Rossi- mit zwei Sätzen. Zwei simpelsten Haupt- der geschriebenen Sprache des Drehbuchs. ni, der es schwer mit seinen Gästen hat, sätzen. Erster Satz: Hier ist das Restaurant Wohl haben Drehbücher keinen literari- oder von zwei mittellosen Schauspielerin- „Rossini“. Zweiter Satz: Hier sind die schen Wert und sind stilistisch von größter nen, die sich um eine Rolle bewerben, oder Stammgäste. Der erste Satz dauert fünf Bescheidenheit, ja Banalität, müssen es so- von einer Frau, die sich nicht zwischen zwei Sekunden und lautet szenisch: Totale des gar sein. Dennoch sind sie geschrieben. Männern entscheiden kann, sondern ganz Restaurants von außen. Der zweite dau- Das entsetzlich Schwierige beim Dreh- allgemein von den Stammgästen, von der ert etwas länger, ungefähr fünf Minuten, buchschreiben besteht nun darin, daß man, Gruppe von Gästen oder, noch anonymer, und lautet: Restaurant innen/Nacht: Die weil schreibend, zwar unweigerlich von vom Personalpronomen der dritten Person Stammgäste sitzen da und essen und trin- der immanenten Logik der Sprache, ihrer Plural sie. Mehr noch, in allen Varianten bil- ken und reden. natürlichen Selbstverständlichkeit und ei- dete dieses sie oder die Stammgäste oder – Im Plural? Alle zusammen? Gleich- ner sich daraus ergebenden „allmählichen die Gruppe von Gästen das grammatikali- zeitig? Verfertigung der Gedanken“ geleitet wird, sche Subjekt des ersten Satzes. – Ja. daß sich diese Gedankenverfertigung aber – Wieso das? – Ohne daß man sie einzeln kennt? in den meisten Fällen als viel zu komplex – Ganz logisch: weil es nach unserem – Genau. Denn einzeln kennenlernen und damit untauglich im Sinne der armse- Willen in der Hauptsache um die Stamm- wird man sie später. ligen Filmsprache erweist und man ge- gäste gehen soll; und weil, je simpler ein zwungen ist, unter Aufbietung aller Gei- Satz konstruiert ist, desto notwendiger * Joachim Król mit Martina Gedeck als Kellnerin. steskräfte eine Art intellektuellen Regres-

168 der spiegel 4/1997 sions- und Reduktionsprozeß herbeizu- Vielleicht liegt hierin der Grund dafür, führen, um, sozusagen stammelnd, den an- daß der aktive Gebrauch dieser Sprache gemessenen Ausdruck in der Primitivsyn- kaum zu erlernen und nie wirklich zu be- tax des Films zu finden. Film ist dumm, wie herrschen ist, sondern immer wieder neu ein gescheiter Mensch einmal gesagt hat. gesucht und gefunden werden muß. Der Das bedeutet keinesfalls, daß Film ein Mensch ist ein Wortwesen. Selbst der mo- künstlerisch minderwertiges Ausdrucksmit- derne Mensch, ja sogar der Analphabet, tel sei, und noch weniger bedeutet es, daß denkt und kommuniziert mit Hilfe der Wör- man sich erlauben könnte, selber dumm zu tersprache oder einem der Wörtersprache sein, um einen Film zu konzipieren. Im Ge- analogen Ausdruckssystem. Für Bilder be- genteil, man muß gescheit sein, so gescheit sitzt er nur ein rezeptives, kein produktives und intelligent und raffiniert wie nur irgend Organ, und für eine so komplizierte Ange- möglich, um in der dummen und dabei so legenheit wie das Erzählen einer Geschich- unvergleichlich einleuchtenden Sprache des te in der Sprache der Bilder ist sein Gehirn Films eine Geschichte erzählen zu können. einfach nicht simpel genug strukturiert. ™

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der spiegel 4/1997 169 Kultur

KRITIKER Wo nicht einmal Brandstiftung hilft Eine Polemik zur Misere der Frankfurter Kulturpolitik. Von Marcel Reich-Ranicki

Knapp am Eklat vorbei: Die Rede des genwelten bedürfen, die also auf Oper und Theater angewiesen Frankfurter Kritikers am vergangenen sind, hier seit einiger Zeit im Stich gelassen werden, jedenfalls Donnerstag auf dem Neujahrsempfang nicht auf ihre Rechnung kommen? Adorno urteilte streng, Frank- der Stadt, hier in leicht gekürzter Fas- furt sei eine „amusische Stadt“. Das scheint mir als Befund nicht sung, erntete neben Beifall auch erbit- richtig, doch als Warnung und Herausforderung – und so war es terte Reaktionen, Buhrufe eingeschlos- gemeint – berechtigt und heute aktueller denn je. sen. Als „reaktionärer und flegelhafter Im Frankfurter Schauspielhaus kann man sehr selten zwar, Hofnarr“ wurde Reich-Ranicki, 76, von aber hin und wieder bemerkenswerte Aufführungen sehen. Und Frankfurts ehemaligem Kulturdezernen- die Frankfurter Oper kann sich über Mangel an Echo nicht be- ten Hilmar Hoffmann beschimpft. Selbst klagen. Nur werden beide Institute schon seit vielen Jahren vom die Musikkritik der faz schonte der Red- einstigen Stammpublikum zunehmend gemieden: Auch wenn

J. ROTTGERS / GRAFFITI ROTTGERS J. ner nicht, der in früheren Jahren für die diese oder jene Inszenierung respektiert wird, verspüren viele Reich-Ranicki zeit auch Opernkritiken verfaßte. Bürger doch eine wachsende Fremdheit. Das ist nicht mehr ihre, nicht mehr meine Oper, nicht mehr ihr, nicht mehr mein Schau- spielhaus. Spricht das gegen uns, die Bürger dieser Stadt, oder ls ich 1958 nach Deutschland zurückkehrte und mich erst vielleicht gegen die Institutionen? einmal in Frankfurt niederließ, wurde ich von nicht we- An der Spitze der Frankfurter Oper standen in den vergangenen Anigen Kollegen bemitleidet. Heinrich Böll sagte mir: 20 Jahren drei Musiker, alle drei bedeutende Künstler: Michael Gie- „Frankfurt ist überhaupt keine Stadt mehr, es ist ein Hotel.“ Das len, Gary Bertini und Sylvain Cambreling. Aber Gielen erwies war ungerecht, doch ganz falsch war es wohl nicht. Ja, Frankfurt sich als ein sehr konsequenter Gegner des Kulinarischen, die Oper hatte damals keinen guten Ruf. Inzwischen hat sich viel geändert. indes ist die kulinarischste aller musikalischen Gattungen – und wer Die Stadt ist wohnlicher geworden, man kann hier gut arbeiten, das Kulinarische in der Oper für ein eher bedauerliches, wenn das ist sicher. Aber anders als München oder Hamburg läßt sich nicht gar störendes Element hält, der ist an der Spitze eines Opern- Frankfurt schwerlich lieben. hauses fehl am Platz.Von der Kritik wurde Gielen goutiert und oft Ich fürchte, diese Stadt ist ein Riesenhotel geblieben, nüchtern gerühmt, doch ein Teil des Publikums zeigte sich enttäuscht und und nützlich, ein verhältnismäßig gut funktionierendes Hotel, blieb den Aufführungen fern. Wer hatte sich hier von wem abge- doch leider ohne Atmosphäre. Oder: mit einer nicht unbedingt wandt – das Publikum vom Dirigenten und Intendanten Gielen sympathischen, nicht unbedingt liebenswerten Atmosphäre. Ob oder vielleicht doch der Dirigent und Intendant vom Publikum? das vielleicht damit zusammenhängt, daß jene Bürger Frankfurts Gielens Nachfolger wurde Bertini, ein damals über 60 Jahre – man unterschätze ihre Zahl nicht –, die der künstlerischen Ge- alter Musiker, der so gut wie nie in einem Opernhaus gearbeitet hatte. Aber jenen, die ihn engagierten, war dies offenbar gleich- * Franz Lehárs „Lustige Witwe“ in einer Inszenierung von Peter Mussbach, 1996. gültig. Bertinis Interesse an der Frankfurter Oper hielt sich von R. BRAUM Streitobjekt Frankfurter Oper*: „Die Kritiker weigern sich, den längst offensichtlichen Ruin überhaupt zur Kenntnis zu nehmen“

170 der spiegel 4/1997 Anfang an in Grenzen, das Publikum, das Gielen vertrieben hat- einmal ein Opernhaus anzünden, damit die Opernkünstler lernen, te, konnte er nicht zurückgewinnen, seine Ära war nur kurz, nie- sparsam zu arbeiten und dennoch gute Aufführungen zu machen? mand hat seinen Abgang bedauert. Nein, in Frankfurt hat auch das nicht geholfen: Ein Narr und Ver- Der dritte und vorerst letzte Musikdirektor der unglückseligen brecher hat unsere Oper angezündet, aber es ist nichts besser ge- Frankfurter Oper, Sylvain Cambreling, hat gerade seinen Rücktritt worden. erklärt. Daß er Frankfurt verlassen wird, sei „das Desaster des Jah- Und noch ein drittes Beispiel: In der „Fidelio“-Inszenierung der res“. Dies schrieb in seinem Jahresrückblick mein Kollege Gerhard Salzburger Festspiele 1996 wird der Vorhang vor dem Finale ge- R. Koch, der erste und wichtigste Musikkritiker der frankfurter schlossen. Nach einer Weile wird er wieder geöffnet und bietet allgemeinen zeitung. Ich schätze diesen Kollegen, und ich hal- einen Anblick, der mir, ich schäme mich nicht, den Atem ver- te ihn für einen glänzenden Musikkenner. Doch kann und will ich schlagen hat: Auf der nach hinten erhöhten, riesigen Bühne des nicht verheimlichen, wovon ich überzeugt bin – daß nämlich zum Großen Festspielhauses steht ein riesiger Chor, der, nach den Verfall und schließlich zum Zusammenbruch der Frankfurter Oper raffinierten Kostümen dieser Aufführung, überraschenderweise Gerhard R. Koch und somit auch die Zeitung, der ich seit 1973 ver- ganz anders gekleidet ist. Die Chorsänger tragen gewöhnliche Blu- bunden bin und der ich viel verdanke, die faz also, leider einen sen und Röcke, Pullover und Hosen, Bluejeans und T-Shirts. Sie nicht geringen, einen fatalen Beitrag geleistet haben. Daß auch die sehen aus wie die Menschen auf der Salzburger Getreidegasse frankfurter rundschau in dieser Hinsicht eine wenig rühmli- oder auf der Frankfurter Zeil, sie sehen aus wie wir alle. So wird che Rolle gespielt hat, sei nur am Rande erwähnt. schlagartig und ohne Kosten dem Publikum vor Augen geführt, Nein, nicht daß Cambreling jetzt geht, ist unser Unglück, viel- worum es in der Beethoven-Oper geht – nicht um einen Gefan- mehr, daß man ihn überhaupt hierher geholt hat. Von ihm war ja genen namens Florestan und nicht um dessen Gattin Leonore, von vornherein und deutlich genug zu hören, wie er sich die sondern um uns, um uns alle. Frankfurter Oper vorstellt. Er hat gleich angekündigt, er strebe Unsere Intendanten, unsere Regisseure und Bühnenbildner ru- erheblich längere Probenzeiten an und wolle daher die Zahl der fen unentwegt: „Mehr Geld!“ Wir sollten ihnen antworten: Mehr Vorstellungen reduzieren. Leider hat er Wort gehalten. Phantasie, meine Damen und Herren! Ich wage die Behauptung: Die Anzahl der Vorstellungen pro Saison sanken von einst 240 Mit viel Geld kann auch ein mittelmäßiger Künstler zwar keine erst auf 116, in der nächsten Saison auf 110 und in der letzten (also große Kunst, aber doch prächtige und effektvolle Bühnenbilder 1995/96) alles in allem auf 92 Vorstellungen, von machen. Heute kommt es darauf an, mit wenig denen viele überdies schlecht besucht waren. Geld gute Opernaufführungen zu liefern. Ist das Meist also blieb in der kostspieligen Frankfurter denn überhaupt möglich? Oper der Vorhang geschlossen. Wen kann es da UFFÄLLIG IST „Wer eine Ware verkaufen will, muß den Markt wundern, daß manch ein Sponsor wenig Lust hat- „A studieren.Auch der Schriftsteller.“ Dies hat nicht te, diese Institution zu unterstützen? DAS INTERESSE etwa ein Verleger oder Buchhändler gefordert, Die finanziellen Mittel der Stadt sind begrenzt, VIELER UNSERER sondern ein Dichter, einer der besten deutschen heute muß mehr denn je gespart werden – das Stückeschreiber nach 1945: der Schweizer Fried- wußte man doch damals ebenso gut, wie man es REGISSEURE AN rich Dürrenmatt. Er fügte auch gleich hinzu: Den heute weiß. Aber Cambreling wollte sich darum DER ERDAUUNG Markt beobachtend, lernt der Schriftsteller, sich nicht kümmern – man hat ihn dennoch engagiert. V listig zu äußern, nämlich „das Seine unter aufer- Wie soll man denn dies nennen? Ich denke: ver- UND IHREN legten Bedingungen zu schreiben“. antwortungslos. OLGEN Wehe den Intendanten, die sich als Befehls- Von Goethe stammt das vielzitierte Wort: „In F “ empfänger des Publikums betätigen. Aber sie der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.“ Es sollten sich auch hüten, das Publikum zu igno- gilt natürlich auch für die Oper und für das Thea- rieren. Sie wären gut beraten, sich die Opern- ter. Muß man denn gerade diejenigen Opern ins komponisten, die besten, zum Vorbild zu neh- Repertoire aufnehmen, deren Inszenierungen besonders teuer sind men: Sie haben sich allesamt die größte Mühe gegeben, damit – wie etwa „Boris Godunow“? Man kann herrliche Aufführungen ihre Ware auch verkäuflich ist. auch ohne viel Geld machen – man muß es nur wollen. Sind die War Wagner ein Opportunist, als er den Wunsch der Pariser aufwendigen Bühnenbilder, die man bisweilen in unserer Oper se- Oper erfüllte und den „Tannhäuser“ zusätzlich mit einer Ballett- hen kann, denn wirklich nötig? Einer der originellsten deutschen einlage versah? Ich jedenfalls bin glücklich, daß er diesem Wunsch, Bühnenbildner in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, Traugott der eine Bedingung war, nachgekommen ist und das Bacchanale Müller, wurde einmal, es war in den zwanziger Jahren, gefragt, was geschrieben hat. Ist Richard Strauss verächtlich, weil er nicht zö- er für seine wichtigste künstlerische Aufgabe halte. Er antwortete gerte, die Partitur seines „Rosenkavalier“ so zu überarbeiten, daß knapp: „Ich arbeite an der Abschaffung des Bühnenbildes.“ er sich auch in kleineren Häusern aufführen läßt? Otto Klemperer Der große Gustaf Gründgens sollte im Frühjahr 1948 an der verhöhnte diese Oper: „Zuckerwasser dirigiere ich nicht!“ Aber er Düsseldorfer Oper die Offenbach-Operette „Die Banditen“ in- wußte, daß es leichtsinnig, ja töricht wäre, den „Rosenkavalier“ aus szenieren. Aber er mußte wegen Erkrankung absagen. Doch nach dem Spielplan zu verbannen. Selbstverständlich hat er ihn dirigiert. einigen Tagen konnte er wieder arbeiten und gab Weisung, den ur- Haben sich also in Frankfurt die Bürger von der Oper entfernt? sprünglichen Premierentermin trotz der reduzierten Probenzahl Nein, wahr ist vielmehr, daß sie, die Bürger, aus der Oper ver- nicht zu verschieben: Er werde es schon schaffen. Unmöglich – wur- trieben wurden. Das Repertoire aller Opernhäuser auf diesem de er belehrt –, denn die Werkstätten seien nicht imstande, in so Erdball besteht zunächst und vor allem aus den Werken von vier, kurzer Zeit die Kostüme anzufertigen. Gründgens entschied rasch: nur vier Komponisten: Mozart und Wagner, Verdi und Puccini – „Wir verzichten auf neue Kostüme und drucken im Programm: Die und in Deutschland kommt eventuell noch ein Komponist hinzu: Kostüme haben sich die Banditen aus dem Fundus zusammenge- Richard Strauss. Der Intendant, der die Aufführung auch nur ei- stohlen.“ Es war, hörte ich, eine ausgezeichnete Aufführung. nes dieser fünf Opernkomponisten in seinem Haus verhindert, der Anfang 1996 ist in Venedig das Teatro La Fenice abgebrannt. mag ein guter Musiker sein, aber als Intendant ist er ein Dilettant. Auch die Bühnenbilder für die nächste Premiere, den „Don Gio- Der Dirigent Cambreling will von Verdis Hauptwerken nichts vanni“, wurden durch den Brand vernichtet. Die Premiere fand wissen und nichts von Puccini. Damit könnte man sich schon ab- dennoch, wie geplant, am 23. März statt – und zwar in einem ei- finden, wenn er aber auch als Intendant dieses Repertoire verpönt lig errichteten Zelt. Die Bühnenbilder allerdings ließen sich nicht und mit einem Bann belegt, dann wird, um es vorsichtig auszu- mehr rechtzeitig herstellen, man behalf sich daher mit einigen far- drücken, seine Unzuständigkeit offensichtlich. bigen und beweglichen Stellwänden. Ich habe, Sie können es mir Wer Puccini ignoriert und uns Lehárs „Lustige Witwe“ offeriert, glauben, selten eine so schöne und auch so überzeugende „Don der zwingt uns, an seinem künstlerischen Geschmack zu zweifeln Giovanni“-Inszenierung gesehen. Muß man denn, frage ich, erst und erst recht an seiner Vernunft. Übrigens hat die Berichter-

der spiegel 4/1997 171 Kultur statterin der süddeutschen zeitung unfreiwillig ins Schwarze ter fragte: „Wozu spielt man dieses verstaubte Zeug?“ Ähnliches getroffen. Sie rühmt diese Lehár-Aufführung mit den entwaff- – nur noch schärfer und böser formuliert – hörte ich nach der Pre- nenden Worten: „Sylvain Cambreling ist kompromißlos. In sei- miere des „Prinzen von Homburg“. Ich habe volles Verständnis ner ,Lustigen Witwe‘ wird das Publikum nicht mit Leichtem, Lu- für die so jungen wie ahnungslosen Theaterbesucher. Und es ge- stigem bedient.“ Wenn aber aus dieser Operette das Leichte und fällt mir, daß sie nicht gleichgültig reagierten, sondern entsetzt und Lustige ausgetrieben wird – was bleibt dann noch übrig? empört. Nur treffen ihre Äußerungen nicht die Stücke, sie treffen Niemand wird leugnen wollen, daß im Frankfurter Opernhaus deren Darbietung. im Laufe der letzten Jahre auch einige beachtliche Inszenierun- „Baal“ gehört zum Besten, was der junge Brecht geschrieben gen zu sehen waren. Nur keine ist so bedeutend, daß man bereit hat, Kleists „Homburg“ zu den Höhepunkten der deutschen Li- wäre, den Unsinn, wenn nicht gar den infantilen Schabernack zu teratur. Aber durch die amateurhaften und zum Teil, ob dies nun ertragen, der hier gern getrieben wird. So spielt das Schlußbild beabsichtigt war oder nicht, geradezu denunzierenden Auf- des „Figaro“ statt in einem Park, wie es Lorenzo Da Ponte und führungen hat man diese Stücke in so hohem Maße entstellt, daß Mozart wollten, in einem Kohlenkeller. Das kann man schon ma- sie schließlich der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. chen, nur sollten der Intendant und der Regisseur dann konse- Der Intendant unseres Schauspielhauses, Peter Eschberg, ist quent genug sein, um auf Mozarts Musik zu verzichten. ein erfahrener Theatermann.Warum hat er den „Homburg“, ei- Muß man darüber reden, da es sich hierbei doch um Vergan- nes unserer nicht nur schönsten, sondern auch schwierigsten genes handelt? Ja, man muß es unbedingt, denn wenn wir nicht Dramen, einer jungen Regisseurin anvertraut, die, obwohl sie scharf aufpassen, wird sich dieser Unsinn mit Sicherheit wieder- schon seit Jahren inszeniert, eine begabte Anfängerin geblieben holen. In einer besonders schlechten Inszenierung von „Samson ist und die, wie sich gezeigt hat, dem dichterischen Text über- et Dalila“ konnte man in Frankfurt urinierende Frauen sehen, ja haupt nicht gewachsen war? Der originellste Einfall dieser Re- sogar – und das immerhin ist ein Novum auf deutschen Bühnen gisseurin bestand darin, einen der brandenburgischen Offiziere – urinierende Nonnen. mitten während einer Stabsbesprechung auf dem Schlachtfeld Dies alles kann nichts an der Tatsache ändern, daß wir nach wie bei Fehrbellin – auf offener Bühne also – urinieren zu lassen. vor eine Oper dringend brauchen – aber nicht eine Oper für den Warum hat Eschberg eine solche Aufführung, an der er ver- Intendanten und Dirigenten und für die Kritiker, sondern eine für mutlich kaum weniger gelitten hat als ich, nicht verhindert? die Bürger. Cambreling hin- Auffallend ist das Interes- terläßt einen Scherbenhau- se vieler unserer Regisseure fen: ein Haus fast ohne En- an der Verdauung und ihren semble und letztlich auch Folgen, es ist ihnen beson- ohne ein Repertoire, das ders daran gelegen, dem Zu- sich mit den verbliebenen schauer die Entleerung von Sängern noch realisieren Blase und Darm vorzu- ließe. Jetzt muß man einen führen. In Molières „Geizi- professionellen Intendanten gem“ werden uns im Frank- finden und, vor allem, einen, furter Schauspielhaus kurz der den Versuch wagt, mit nacheinander beide Funk- begrenzten finanziellen Mit- tionen gleich in den ersten teln zu arbeiten.Wenn er et- Szenen geboten, und in der was leisten wird, und zwar, „Weibervolksversammlung“ anders als bisher, für das Pu- des Aristophanes läßt die blikum und nicht nur für die Regisseurin einen Mann mi- Kritiker, dann werden sich, nutenlang gegen seine Ver- ich bin dessen sicher, auch stopfung ankämpfen. Die Sponsoren finden. Szene wird zum Tribunal – Einige Kritiker, mit Ger- so hieß es früher. Heute muß

hard R. Koch an der Spitze, A. BENAINOUS / GAMMA STUDIO X es heißen, zumal in Frank- haben sich standhaft gewei- Streitobjekt Cambreling: „Unser Unglück, daß man ihn geholt hat“ furt: Die Szene wird zur gert, den längst offensichtli- Kloake. chen Ruin der Frankfurter Oper überhaupt zur Kenntnis zu neh- Vor lauter Ekel und Verzweiflung bin ich nach Hamburg ge- men, sie hielten es vielmehr für angebracht, auch noch die reist, um dort Büchners „Woyzeck“ in der Bearbeitung und schlechteste Inszenierung, wenn nicht zu preisen, so jedenfalls zu Inszenierung von Franz Xaver Kroetz zu sehen. Zu meiner rechtfertigen, ja, sie wählten, unbelehrbar und trotzig, die Frank- Überraschung gab es auf der Bühne auch einen großen Affen, furter Oper zur Oper des Jahres.Warum eigentlich? Sie haben es gespielt von einem Mitglied des Ensembles. Plötzlich wendet nicht verheimlicht: Das Engagement des Intendanten wurde ge- dieser Affe dem Zuschauerraum seinen entblößten Hintern zu lobt und, vor allem, sein Widerstand gegen die Finanzpolitik der und entleert sich ausgiebig vor den Augen des nicht einmal son- Stadt. Gerhard Koch schrieb neulich in der faz, diese Stadt habe derlich verwunderten Hamburger Publikums. Es sei, wurde mir als „Opernplatz wohl kaum noch Zukunft“. Das Gegenteil trifft erklärt, längst abgehärtet. zu: Gerade jetzt haben wir die Chance, wieder eine Oper zu er- Und an unser Schauspielhaus denkend, fragte ich mich: Ist halten, die der Tradition dieser Stadt entspricht. etwa Frankfurt überall? Wird in Frankfurt nur deutlicher und Und das Schauspielhaus – ist da ebenfalls nur noch ein Scher- schärfer erkennbar, was mittlerweile vielleicht für das ganze benhaufen? Nein, denn dort wird, immerhin, der Betrieb aufrecht- deutsche Theater gilt? erhalten, dort wird an jedem Abend gespielt, bisweilen gibt es so- Wenn wir diesem ärgerlichen Unsinn nicht endlich Einhalt ge- gar zwei Vorstellungen gleichzeitig. Auch denke ich gern an einige bieten, dann werden wir noch unser blaues Wunder erleben. Aufführungen, die ich in den vergangenen Jahren im Schauspiel- Denn unsere Regisseure sind, um auf sich aufmerksam zu machen, haus gesehen habe – so an den „Weltverbesserer“ von Thomas zu allem fähig: Über Faust nachsinnend, wird Gretchen onanie- Bernhard, so an die „Letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. ren, und Wallenstein wird seinen großen Monolog („Wär’s mög- Eine Katastrophe, vergleichbar mit jener in der Oper, gibt es lich? Könnt’ ich nicht mehr, wie ich wollte?“) auf einer Toilette im Schauspielhaus nicht – vorsichtiger gesagt: noch nicht. Aber sitzend sprechen. auch dort kann es, wenn man nicht rechtzeitig etwas unternimmt, Wie auch immer: Das Theater wird das alles überleben, auch zu einer Katastrophe kommen. Nach der Premiere von Brechts das Frankfurter Theater. Und niemandem wird es gelingen, die „Baal“ hörte ich im Foyer, wie eine etwa 20jährige ihren Beglei- Oper zu vernichten. ™

172 der spiegel 4/1997 TELEBUNK / DER SPIEGEL EHERLT TV-Historiker Knopp, NS-Paladine: Das Strickmuster der Erfolgsserie ist immer gleich

nötig, denn vor den Augen der meisten Re- nahmen von Nazi-Größen wie Eva Braun ZEITGESCHICHTE zensenten hatte die Serie keine Gnade ge- und Albert Speer gemixt und mit neu ge- funden. Von „sechsteiliger Naivität“ war drehten Szenen von Originalschauplätzen da die Rede. garniert. Da darf auch schon mal ein Fall- Papst Guido Den Geschichtsguru Knopp focht sol- schirmspringer im historischen Kostüm che Kritik nicht an. Er verteidigte eisern über Schottland – oder war es der Mainzer Voller Eigenlob zelebriert seine Generallinie von der Vermittlung po- Lerchenberg? – abspringen. Die Schaum- das ZDF seine Geschichtsreihe pulärer Fernsehinhalte in Form leicht ver- schlägerei setzt sich in den weiteren fünf ständlicher Lebensläufe. Folgen der Serie ungebrochen fort. über „Hitlers Helfer“ als Was letzten Dienstag dem staunenden Gerade von einer Auseinandersetzung Mediencoup. Kritiker sehen Publikum in dem auf 45 Minuten gekürz- im deutschen Fernsehen mit Heinrich eine Menge alter Hüte. ten Heß-Film geboten wurde, war denn Himmler („Der Vollstrecker“) hätte man auch schlicht. Die Figur Heß blieb seltsam mehr erwarten können als wunderschöne üsteres Schweigen herrscht am 29. blaß, kaum erkennbar in dem auf Hoch- Landschaftsaufnahmen und Farbmaterial November 1945 im Gerichtssaal des glanz polierten Archivmaterial. Der Zu- von einem SS-Treffen im Dom zu Qued- DJustizpalastes zu Nürnberg. Die an- schauer erfuhr vor allem, was er schon linburg, das die Leute vom ZDF im Nach- geklagten NS-Größen haben sich soeben wußte. Über die Motive des wirren Man- laß eines ehemaligen SS-Mannes gefunden einen einstündigen Film ansehen müssen: nes gab es dagegen kaum Neues zu sehen. haben. Zumal sie sonst ihr Material zu- „Nazi Concentration Camps“. Das Strickmuster der Reihe ist immer meist auf mundgerechten Listen des Bun- In den Zellen erkundigt sich am Abend gleich: Himmler, Goebbels, Göring, Speer desfilmarchivs in Berlin serviert bekamen. ein US-Gerichtspsychologe nach den und Dönitz sind die Protagonisten der wei- Im Beitrag über Hitlers Rüstungsmini- Reaktionen der Delinquenten auf die Bil- teren Folgen. In wenigen Sequenzen haken ster Speer hatte schon der Rezensent der der aus KZs. Hermann Göring ist gekränkt. die Autoren die Lehr- und Wanderjahre faz nur Klischees ausmachen können Außenminister Joachim von Ribbentrop ihrer Figuren ab. Da bleibt viel Zeit für („faustisches Verführungsmotiv“). Die an- will nicht glauben, daß Hitler oder Himm- Autoreneitelkeit: Knopp stilisiert sich und geblich neuen Dokumente, die Speers ler „derartige Dinge“ haben befehlen kön- seine Mannschaft zu erfolgreichen Spür- frühes Wissen über den Holocaust bele- nen. Hitlers Nachfolger Großadmiral Karl hunden in Sachen Archivmaterial. „Für ex- gen sollen, waren längst von der Speer- Dönitz zittert: „Was hatte ich in Gottes klusive Bilder zahlen wir schon mal 30000 Biographin Gitta Sereny und in einer Ber- Namen mit diesen Dingen zu tun?“ Mark pro Minute“, vertraut der ZDF-Mann liner Ausstellung 1995 („Krieg, Zerstörung, Die Antwort auf genau diese Frage ver- stolz der Zeitschrift tv spielfilm an. Fragt Aufbau – Architektur und Stadtplanung sucht eine großangelegte sechsteilige sich nur: für welche? 1940 bis 1960“) ausgewertet worden. Serie über „Hitlers Helfer“ in diesen Als Sahnestück der Recherchen kün- Tiefpunkt der Reihe ist der letzte Teil, Wochen zu geben, die Guido Knopp, Lei- digte Knopp für den Heß-Film vollmun- der sich mit dem Hitler-Nachfolger Karl ter der ZDF-Redaktion für Zeitgeschich- dig Besonderes an: Farbaufnahmen vom Dönitz beschäftigt. Ein Wochenschau- te, zu verantworten hat. Mit riesigem Wer- Tag der Deutschen Kunst 1939 in München. ausschnitt jagt den anderen, lediglich dra- beaufwand kündigt Mainz die Porträts Seine emsigen Mitarbeiter wollen den Film matische Musikwechsel setzen Akzente. über sechs einflußreiche Nazi-Paladine eines Amateurfilmklubs „in der hintersten Die Autorin Ursula Nellessen hat gar nicht an. Erfolg: Sechseinhalb Millionen Zu- Ecke“ des Münchner Filmmuseums aufge- erst versucht, mit filmischen Mitteln das schauer sahen am vergangenen Dienstag stöbert haben. Die Farbaufnahmen sind widerspenstige Propagandamaterial zu die erste Folge über Heß, den „Stellver- tatsächlich brillant, neu jedoch nicht, viel- bändigen. treter des Führers“. mehr seit Jahren bekannt bei Filmema- Für seine nächste große ZDF-Serie hat Was im Herbst 1996 bereits bei Arte ge- chern und Sammlern. sich Knopp fünf Oberhäupter der katholi- laufen war, sollte – so erklärte Knopp – Jede Menge Wochenschau- und Propa- schen Kirche vorgenommen. Der TV-Ge- nun noch besser werden: Neue Dokumen- gandamaterial wird von den Autoren der schichtspapst ist dann ganz oben ange- te und Zeitzeugen seien gefunden. Wohl Serie mit zumeist bekannten Privatauf- kommen. ™

der spiegel 4/1997 173 Werbeseite

Werbeseite Prisma Wissenschaft

RAUMFAHRT teures Transportmittel, verglichen mit den unbemannten russischen Hungerhilfe im All Transport-Robotern vom Typ Progress. Aber die russische be- ber 1,6 Tonnen Nachschub, mannte Raumfahrt ist so knapp Üzu 43 Prozent Nahrungsmit- bei Kasse, daß sie statt der für ei- tel und Kleidung, hat die US- nen Weiterbetrieb von Mir erfor- Raumfähre „Atlantis“ letzte Wo- derlichen fünf bis sechs Progress- che zur russischen Raumstation Transporter in diesem Jahr allen- „Mir“ transportiert, dazu 600 Li- falls drei auf den Weg bringen ter Frischwasser, die in den Brenn- können. Auch mit der Entwick- stoffzellen der Raumfähre erzeugt lung ihres Moduls für die interna- wurden. Die Atlantis-Mission war tionale Raumstation, mit deren der fünfte von insgesamt neun ge- Bau noch in diesem Jahr begon- planten Shuttle-Versorgungsflü- nen werden soll, sind die Russen gen, die mittlerweile für den wei- aus Geldnöten in Verzug. Hilfszu- teren Betrieb der russischen Sta- sagen erhoffen sie sich vom ehe- tion der „Schlüssel zum Überle- maligen Konkurrenten. Anfang ben“ geworden sind, wie das US- Februar will Ministerpräsident Fachblatt aviation week formu- Wiktor Tschernomyrdin mit dem lierte. Mit je 630 Millionen Mark AP US-Vizepräsidenten Al Gore über pro Flug ist das Shuttle ein relativ US-Astronauten in der „Mir“-Station (Dienstag letzter Woche) die Weltraumprojekte sprechen.

MEDIZIN entfernt lebte, vermuten die Mediziner ei- ATOMMÜLL nen Fall von „Flughafen-Malaria“: Wahr- Malaria vom Flugplatz scheinlich wurde er von einem infektiösen Risse im Glas Moskito gestochen, der im Rumpf eines icht nur aus den Tropen heimkehren- Flugzeuges aus den Tropen eingeschleppt ie Pläne des amerikanischen Ener- Nde Touristen können an Malaria er- worden war. In Genf hatten sich bereits Dgieministeriums, nahezu 50 Tonnen kranken. Gefährdet sind bisweilen auch 1989 fünf Fälle von Flughafen-Malaria er- Plutonium in Glasblöcke einzuschmelzen Anwohner von Flughäfen und sogar Nach- eignet.Auch in Berlin erkrankten 1994 zwei und in unterirdischen Endlagern zu barn von Fernreisenden. Wie das EPIDE- Klärwerkarbeiter an der Krankheit, ohne verwahren, stoßen auf Schwierigkeiten. MIOLOGISCHE BULLETIN des Berliner Robert- ein Infektionsgebiet bereist zu haben. Sie Das Material stammt aus ausgemuster- Koch-Instituts jetzt berichtete, ist ein wurden nach Ansicht der Mediziner von ten Atomsprengköpfen. „Wir wissen zu- 54jähriger Schweizer im Juli 1996 der ge- Anopheles-Mücken gestochen, die wahr- wenig über die Strahlenwirkungen in fürchteten Malaria tropica erlegen. Bei dem scheinlich ein Kollege nach einem Tropen- Glas“, heißt es in dem Bericht eines Briefträger, der niemals in den Tropen war, urlaub unwissentlich im Gepäck nach Gutachtergremiums. Die freiwerdenden aber nur 2,5 Kilometer vom Genfer Airport Deutschland mitgebracht hatte. Alphateilchen, so die Experten, könn- ten winzige Risse im Glas hervorrufen. Beim radioaktiven Zerfall produzierte men ein, daß ihre Modell- Heliumbläschen könnten die Glasblöcke rechnung mit zahlreichen auftreiben und schließlich zum Platzen Ungewißheiten behaftet sei. bringen. Unter Umständen würde da- So ist ungeklärt, ob Men- bei, wie der new scientist berichtet, schen bereits nach dem Ver- sogar so viel Plutonium freigesetzt, daß zehr kleiner Mengen Fleisch es zu einer unkontrollierten Ketten- von BSE-kranken Tieren an reaktion käme. CJK erkranken können. Auch weiß niemand, wieviel infektiöses Material in die menschliche Nahrungskette gelangt ist. Dennoch zwei- feln die Experten nicht dar- an, daß die bisherigen Opfer

DPA (14 Briten, 2 Franzosen) nur Creutzfeldt-Jakob-Kranke in Großbritannien die ersten von vielen Toten sind. Selbst nach dem gün- RINDERWAHNSINN stigsten Szenario, bei dem die BSE-For- scher von einer zehnjährigen Inkuba- Auftakt zum Sterben tionszeit ausgehen, werden weitere 61 Bri- ten dem Hirnschwamm erliegen. Sorge is zu 80000 Briten könnten sich über bereitet den Medizinern die CJK-ähnliche Bden Genuß von BSE-verseuchtem Erkrankung Kuru, die unter Eingeborenen Rindfleisch mit der tödlichen Creutzfeldt- auf Neuguinea grassierte: Für Kuru sind Jakob-Krankheit (CJK) infiziert haben. So Inkubationszeiten von bis zu 30 Jahren be- lautet das „Worst Case“-Szenario zum legt. Sollte dies auch für die menschliche Ausmaß der bevorstehenden CJK-Epide- Variante des Rinderwahns gelten, so sei bis

mie, das britische Forscher jetzt im Fach- weit über die Jahrtausendwende mit Tau- OF ENERGY US DEPARTMENT blatt nature vorstellten. Die Autoren räu- senden von CJK-Toten zu rechnen. Umgang mit Atommüll (in Hanford )

der spiegel 4/1997 175 Wissenschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Uns fehlt der Gründergeist“ Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, über den Nutzen der Forschung, ihre Gefahren und ihre Gefährdung in Deutschland

SPIEGEL: Herr Professor Markl, früher sol- SPIEGEL: … an dem Nobelpreisträger wie SPIEGEL: Der Forschungsetat von Minister len Sie manchen Biologiestudenten geraten Konrad Lorenz gewirkt haben. Rüttgers wurde 1997 noch einmal um haben, lieber Tankwart zu werden, da hät- MARKL: Wir haben die Schließung in einem 866 Millionen Mark, entsprechend 5,5 Pro- ten sie bessere Chancen. Jetzt haben Sie schwierigen Diskussionsprozeß erwogen. zent zurückgeschraubt. Wohin führt diese selbst vorgeschlagen, das Max-Planck-In- Aber wie immer man die Gewichte setzt, Talfahrt? stitut für Biologie in Tübingen zu schließen. es ist unvermeidlich, daß bei Einschnitten MARKL: Wenn es so weiterginge, würde es Machen Sie sich nicht mitschuldig an der Verluste zu beklagen sind. Die Max-Planck- mit Sicherheit dazu führen, daß Deutsch- Misere, in die Ihre Studenten hineinlaufen? Gesellschaft (MPG) hat eben keine schlech- land von der Spitze der Forschung immer MARKL: Ich erinnere mich nicht daran, so ten Institute. Deswegen bleibt nur der Ein- weiter zurückfällt. falsche Ratschläge gegeben zu haben. griff am gesunden Körper. Aber noch ist SPIEGEL: Bundeskanzler Kohl hat vor der Wenn begabte junge Menschen eine Na- darüber nicht das letzte Wort gesprochen. letzten Bundestagswahl erklärt: „Wir müs- turwissenschaft studieren wollen, wäre es SPIEGEL: Forschungsminister Rüttgers hat sen wesentlich mehr Geld in die Forschung das schlechteste, ihnen davon abzuraten. im Bundestag der Max-Planck-Gesellschaft stecken.“ Er hat dann auf seine gewinnend Was die Mitschuld angeht: daß die Zahl der vorgehalten, sie verschlafe Zukunfts- schlichte Art vorgerechnet: „Jede Mark, die Arbeitsplätze für Biologen weiter vermin- themen. wir heute in die Forschung stecken, ist ein dert wird, ist bitter. Aber wir sind ge- MARKL: Er hat unrecht. Ich werte diese Arbeitsplatz in fünf oder zehn Jahren.“ Er- zwungen, Stellen zu streichen. Allerdings Äußerung als eine in der parlamentari- innern Sie ihn manchmal daran? versuchen wir, möglichst viele Nach- schen Diskussion in freier Rede allzu hef- MARKL: Wenn ich dazu Gelegenheit habe, wuchsstellen zu erhalten. tig vorgebrachte Bemerkung. In seinem tue ich es. Denn um den Lebensstandard in SPIEGEL: Vier Max-Planck-Institute sollen Leitlinienpapier hat der Minister die MPG diesem Land zu halten, müssen wir darauf geschlossen werden. Natürlich fragen sich ganz zutreffend viel positiver bewertet. setzen, daß wir innovative Produkte an- viele, warum gerade diese. Das Biologie- SPIEGEL: In einem soeben erschienen bieten, in denen ein hoher Forschungs- und institut zum Beispiel hat bahnbrechende Manifest, das von Ihnen und anderen Spit- Entwicklungsanteil steckt. Deswegen ist Erkenntnisse über das Immunsystem ge- zenrepräsentanten der Wissenschaft un- der gegenwärtige Kahlschlag – bei der öf- wonnen. Das Institut für Geschichte in terzeichnet wurde, erklären Sie, Deutsch- fentlichen Hand genauso wie bei der In- Göttingen hat erstmals eine europäische land sei in Gefahr, entscheidende Zu- dustrie – genau das Gegenteil dessen, was Geschichtsforschung ins Leben gerufen. kunftschancen zu verspielen. Staat und wir für unsere Zukunft benötigen. Mit dem Institut für Aeronomie in Lindau Wirtschaft, heißt es da, „gehen Arm in Arm SPIEGEL: Dabei kommt die Max-Planck-Ge- stürbe großenteils die Planeten- und Son- in die falsche Richtung“. sellschaft noch glimpflich davon. nenforschung in Deutschland … MARKL: In der Bundesrepublik Deutsch- MARKL: Seit mehreren Jahren ist uns ein MARKL: Ähnliches könnten Sie auch für das land sind die Ausgaben für Forschung und Verschlankungsprozeß auferlegt.Wir müs- Institut für Verhaltensphysiologie in See- Entwicklung in weniger als einem Jahr- sen im Westen sparen und im Osten auf- wiesen sagen … zehnt um mehr als ein Viertel gesunken, bauen. Diese Tatsache bringt mich in eine auf 2,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. etwas schwierige Lage. Ich muß die Re- * Stefan Klein und Jürgen Petermann in Markls Münch- In dieser Lage muß der Staat gegensteuern, gierungen von Bund und Ländern dankbar ner Arbeitszimmer. um neue Prioritäten zu setzen. dafür loben, daß sie die Max-Planck-Ge-

Hubert Markl ist Professor für Biologie an der Uni- versität Konstanz und seit Juni 1996 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der elitärsten deutschen Forschungs- organisation, die 1911 als Kaiser-Wil- helm-Gesellschaft in Berlin gegrün- det wurde. Verhaltensforscher Markl, 58, beförderte seinen Aufstieg als Forschungspolitiker mit zahlreichen Buchveröffentlichungen und bisweilen provozierenden Zeitschriften-Essays. Der Etat der 73 Max-Planck-Institute (1997: 1,94 Milliarden Mark) soll, für den Aufbau neuer Institute in den öst- lichen Bundesländern, noch bis zum Jahr 2000 um jährlich fünf Prozent wachsen. Im Westen hingegen muß

GESPRÄCHSFOTOS: W. M. WEBER W. GESPRÄCHSFOTOS: Markl in den nächsten fünf Jahren 740 Markl (l.), SPIEGEL-Redakteure*: „Deutschland fällt zurück“ Stellen streichen.

176 der spiegel 4/1997 Kahlschlag in den Labors 120 ARBEITSLOSE FORSCHER Ingenieure, Chemiker, Physiker und Mathematiker 90 100 in Tausend 83 80 Gesamt- deutschland

53 52 56 60

alte Bundesländer 32 40 28 Quelle: BA 20

16,0

15,7

15,6 15,5 15,4

ETAT DES BONNER 15,0 FORSCHUNGSMINISTERIUMS in Milliarden Mark 14,8

Quelle: BMBF D. SCHMID / BILDERBERG Forschung am Max-Planck-Institut für Biochemie*: „Heraus kommt immer etwas“ 14,5 sellschaft in den neuen Ländern wachsen MARKL: Nicht in Deutschland, lassen. Ich muß sie aber gleichzeitig dafür das ist der Punkt. Die großen 3,05 JAPAN 2,90 3,0% tadeln, daß sie insgesamt ihre Leistungen Firmen planen weltweit. Des- 2,86 für die Forschung vermindern gegenüber halb müssen sich unsere jun- 2,86 2,84 dem, was der Forschungsminister selbst ge- gen Leute darauf einrichten, 2,79 wollt hat und was jetzt richtig wäre. wenigstens zeitweise auch im SPIEGEL: Nun sitzen sie selbst im Rat für Ausland zu arbeiten. Diese In- 2,61 USA Forschung und Innovation des Bundes- ternationalisierung sollten wir in 2,5% kanzlers. Was empfehlen Sie ihm denn? gewisser Hinsicht auch positiv AUFWAND FÜR 2,45 MARKL: Daß er bereits die Gelegenheit des sehen. FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG nächsten Haushalts ergreift, um im For- SPIEGEL: Ein Schuh würde aber Anteil am Bruttoinlandsprodukt 2,25 in Prozent schungshaushalt jene Verstärkungen her- erst dann daraus, wenn umge- DEUTSCHLAND beizuführen, die jetzt der Maastricht-Spar- kehrt ausländische Firmen in Quelle: OECD, 1995 und 1996 geschätzt aktion zum Opfer gefallen sind. Deutschland Labors errichten 2,0% SPIEGEL: Die Forschung fällt Maastricht würden, das ist aber nicht der 1988 89 90 97 zum Opfer? Fall. Das Verhältnis ausländi- 91 92 93 94 95 96 MARKL: Wir stehen doch alle unter dem scher Forschungsinvestitionen Zwang, die öffentlichen Haushalte so zu in Deutschland zu dem, was an deutscher MARKL: Das gilt erst für die letzten Jahre. gestalten, daß sie den Maastricht-Kriterien Forschung ins Ausland abwandert, bewegt In der Biotechnologie sind aber viele der entsprechen. Nachdem dies ein höherran- sich zwischen 1 : 3 und 1 : 5. Das sind doch großen Investitionen in den letzten zehn giges politisches Ziel ist, für das es gute dramatische Zahlen. Jahren erfolgt. Wenn sich eine Firma erst Gründe gibt, kann sich dem auch die For- MARKL: Es ist teuer, in Deutschland zu for- einmal entschlossen hat, ein paar hundert schung nicht entziehen. schen. Exzellente Forschung ist heute auf Millionen in eine Fabrikationsanlage in SPIEGEL: Sehr viel dramatischer als bei der ganzen Welt, aber auch innerhalb Eu- Frankreich oder den USA zu investieren, der Max-Planck-Gesellschaft ist die Lage ropas an vielen Stellen kostengünstiger wird sie nicht deswegen, weil auch bei uns der Forschung in der Industrie. In den möglich. jetzt günstigere Bedingungen herrschen, letzten fünf Jahren sind dort mehr als Allerdings gibt es auch andere Länder, die dort wieder abbauen und nach Deutsch- 30 000 Forschungsstellen gestrichen wor- hohe Löhne zahlen und dennoch viel mehr land zurückkehren. den. Hat die Industrie ihren Kontrakt mit in Forschung investieren. Hinzu kommt in SPIEGEL: Nehmen wir einen anderen Be- der Gesellschaft in diesem Punkt aufge- Deutschland offenkundig eine Überlast an reich. Bei Siemens wurden 1800 For- kündigt? Vorschriften und Genehmigungsverfahren, schungsjobs gestrichen, und zwar weltweit. MARKL: Es geht dabei nicht nur um die die Forschung hier stärker behindert als Die Manager begründen das mit Kostener- deutsche Gesellschaft. Manche der inter- anderswo. sparnis und Verschlankung.Aber von Ihnen national aktiven Großunternehmen haben SPIEGEL: Da hat sich viel geändert.Auf dem stammt der kritische Satz: „Wer schlank ihre Etats für Forschung und Entwicklung Gebiet der Gentechnik gibt es immer we- werden möchte, sollte doch nicht gerade nicht gekürzt, sondern zum Teil sogar aus- niger Beschränkungen. am Gehirnvolumen abnehmen.“ gebaut. MARKL: Tatsächlich kann eine Firma kurz- SPIEGEL: Aber nicht in Deutschland. * In Martinsried bei München. fristig ihre Ertrags- und Kostensituation

der spiegel 4/1997 177 Wissenschaft SÜDD. VERLAG ULLSTEIN Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten*: „Wir hatten im internationalen Konzert eine Spitzenstellung“ dadurch deutlich verbessern, daß sie auch Wir tun es nicht. Wir sollten nicht Steuer- tige Köpfe in allen Völkern. Auf die früher an Forschung und Entwicklung spart. Wo- vergünstigungen dafür geben, daß gut- so schönen Monopolrenten des techni- her aber sollen die Erträge in zehn Jahren verdienende Westdeutsche Wohnungen schen Vorsprungs ist kein Verlaß mehr. Die kommen? Mit weniger Geld kann man nur in Chemnitz, Leipzig oder Magdeburg Konkurrenz ist härter geworden. die vorhandenen Technologien nutzen, bauen, für die sie dann keine Mieter finden. SPIEGEL: Die tüchtigen Köpfe, von denen statt neue hervorzubringen. Lieber sollte der Finanzminister jenen Sie sprachen, können nur von den Uni- SPIEGEL: Die deutsche Industrie hat sich Firmen Vergünstigungen gewähren, die versitäten kommen. Dort scheint es mit aus einer Reihe von Spitzentechnologien in den neuen Ländern Forschung treiben. der Forschung aber am schnellsten bergab schon fast verabschiedet, zum Beispiel der SPIEGEL: Zusätzlich zu all den Subventio- zu gehen. Das amerikanische Wissen- Luftfahrtindustrie oder der Solarindustrie. nen, die schon reichlich fließen? schaftsblatt science spricht von „akademi- MARKL: So heißt es immer wieder.Wir sind MARKL: Die großen Töpfe der Subvention schen Slums“ an deutschen Hochschulen. eigentlich am besten immer noch in den stehen bei uns doch für die Landwirtschaft, Sie selbst haben in einem science-Auf- Traditionstechnologien. Wir bauen zwei- den Kohlebergbau oder Werften bereit. Ich satz die „verschlafene Selbstgefälligkeit“ fellos immer noch die besten Autos der gönne jedem, der dort arbeitet, seinen Ar- nicht nur der Industrie, sondern auch man- Welt. beitsplatz.Wir bekommen aber keine neu- cher Ihrer Kollegen, der Professoren, SPIEGEL: Das ist Technik von gestern. en Arbeitsplätze aus dem Erhalt alter In- attackiert. MARKL: Das will ich nicht behaupten. Aber dustriebereiche. Deshalb sähe ich die Sub- MARKL: Es kommt ganz darauf an, wo Sie es ist nicht das, was zu neuen Produkten ventionsmillionen lieber dort, wo wirklich hinschauen. An deutschen Hochschulen auf neuen Märkten führt. Innovatives geleistet wird. gibt es über 200 Sonderforschungsberei- SPIEGEL: Auch in der Umwelt- che. Dort finden Sie, wie uns internationale technologie haben wir nun die Experten bestätigen, auch heute noch Spit- Spitzenstellung eingebüßt. „Naturwissen- zenforschung und selbstverständlich ge- MARKL: Haben wir das? schaften nauso in Max-Planck-Instituten. SPIEGEL: Ja, an die USA. werden jetzt SPIEGEL: Warum sagen Sie „auch heute MARKL: Die hatten vielleicht ei- noch“? niges nachzuholen. Man muß für viele MARKL: Es ist doch unbestritten, daß nicht immer den ersten Platz zu einer Deutschland früher in der Forschung einnehmen, aber man muß vor- brotlosen besser war. Wir hatten im internationalen ne dabeisein. Konzert vor dem Zweiten Weltkrieg eine SPIEGEL: Welcher Art könnten Kunst“ absolute Spitzenstellung – bis zur Emi- denn Anreize sein, damit die gration vieler Forscher, dem Sterben auf Forschungsinvestitionen im Lande blei- SPIEGEL: Subventionen allein werden wenig den Schlachtfeldern und in den Konzen- ben? bringen – der direkte Nutzen von For- trationslagern. In den sechziger und MARKL: Sehr viele Länder geben Steuer- schungssubventionen wird ohnehin immer siebziger Jahren haben wir dann den An- vergünstigungen für Unternehmen, die in kleiner. Der Innovationszyklus wird stän- schluß wiedergefunden.Aber seither wird Forschung und Entwicklung investieren. dig kürzer, Umgehungspatente kommen in weit mehr Ländern hervorragend ge- immer schneller. forscht. Betrachten Sie nur Südkorea, * Links: Messung des Erholungsvermögens nach kör- MARKL: Tatsächlich sind die Möglichkeiten das bei Kriegsende noch ein Entwick- perlicher Anstrengung, am Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund (1927); rechts: Nobel- kleiner geworden, sich den Profit aus einer lungsland war. preisträger Fritz Haber (r.) im Kaiser-Wilhelm-Institut für Entdeckung langfristig zu sichern. Inzwi- SPIEGEL: Ein anderer Kritiker, der Präsi- Physikalische Chemie in Berlin (1918). schen gibt es Forschung weltweit und tüch- dent der Fraunhofer-Gesellschaft Hans-Jür-

178 der spiegel 4/1997 gen Warnecke, hat erklärt, die deutschen In Göttingen erschienen ganze drei Leute Chemiker ist es nach wie vor ein viel er- Universitäten seien „nicht zukunftsfähig“. zum Einführungskurs in Chemie. Haben strebenswerteres Lebensziel, in einer der MARKL: Er kommt doch selbst daher. Ich hal- die Naturwissenschaften ihren Sex-Appeal großen forschenden Firmen wie Hoechst te sie durchaus für zukunftsfähig. verloren? oder Siemens zu landen. Wir müssen of- SPIEGEL: Woher rührt Ihr Optimismus? MARKL: Das hoffe ich nicht. Aber wer fenbar in der Ausbildung mehr dafür tun, MARKL: Ich bin davon überzeugt, daß die früher Physik, Chemie oder Ingenieurwis- daß Naturwissenschaftler und Ingenieure deutschen Universitäten gerade jetzt vor senschaften studierte, hatte die Sicherheit, hinterher wissen, wie sie selbst ein Unter- wichtigen Reformen stehen. daß eine solche Ausbildung bei guter Be- nehmen gründen können. SPIEGEL: Vor welchen? SPIEGEL: Also gehört jeder Bio- MARKL: Sie werden in Lehre und Forschung loge in ein betriebswirtschaft- kundenfreundlicher und im Wettbewerb „Um eine liches Seminar? untereinander leistungsfähiger werden Großmensch- MARKL: Keinem würde das müssen. heit zu schaden, aber vielleicht eini- SPIEGEL: Im Moment produzieren die gen helfen, sich selbständig zu Hochschulen ein akademisches Proletari- ernähren, machen. at. 90 000 fertige Ingenieure und Natur- brauchen wir SPIEGEL: Bisher sind die Le- wissenschaftler sind ohne Job. Insgesamt auch die benspläne und Karrieren gibt es 207 000 arbeitslose Akademiker. deutscher Naturwissenschaft- Muß das nicht bei der Jugend zu Resigna- Gentechnik“ ler demnach ziemlich welt- tion und Perspektivlosigkeit führen? fern. MARKL: Diese Entwicklung ist bedrückend. gabung und Leistung den Mann oder die MARKL: Sie sind nicht weltfern, aber auf Deswegen bin ich der Ansicht, daß sich Frau nährte. Wenn sich jetzt herausstellt, das bestehende Wirtschaftssystem abge- der Staat antizyklisch zu industriellen Ent- daß die Naturwissenschaften für viele zu stellt, das die Forschung und Entwicklung wicklungen verhalten sollte. Diese jungen einer brotlosen Kunst werden, studieren vor allem auf die Großindustrie konzen- Leute haben sich mit Leistungen qualifi- die Leute lieber Betriebswirtschaft oder triert hat. ziert, die wir auch künftig benötigen. Um Jura. Aber die Zukunft unserer Zivilisa- SPIEGEL: Ein großer Teil der Wissenschaft- so schlimmer, wenn sie jetzt keiner haben tion benötigt auch qualifizierte Naturwis- ler in Deutschland arbeitet in staatlichen will. Arbeitsplätze für wissenschaftlichen senschaftler und Ingenieure. Forschungseinrichtungen wie der Max- Nachwuchs sind keine Subventionen, son- SPIEGEL: Vor den Toren amerikanischer Planck-Gesellschaft, in einem elitären dern Zukunftsinvestitionen. Universitäten gibt es überall Firmen, die Schonraum mit der denkbar größten Frei- SPIEGEL: In vielen naturwissenschaftlichen von Wissenschaftlern gegründet und be- heit, zu tun, was sie wollen. Eine solche Fächern geht die Zahl der Studienanfänger trieben werden und Uni-Absolventen ein- Orientierung auf reine Grundlagenfor- dramatisch zurück. Wolfgang Frühwald, stellen. Es gibt einen regen Austausch zwi- schung ist der Gesellschaft schwer zu ver- der Präsident der Deutschen Forschungs- schen Hochschulen und Industrie. Nichts mitteln. Wie soll man den Menschen be- gemeinschaft, spricht schon von Verhält- davon finden wir in Deutschland. greiflich machen: Wir forschen zwar, aber nissen „wie in Nicaragua und Costa Rica“. MARKL: Jedenfalls zuwenig davon. Wir ha- es kommt nichts dabei heraus? ben eine viel geringer entwickelte Fir- MARKL: Das ist nun eine völlig falsche * Einsatz von Testpflanzen zur Erkennung der Giftwir- mengründungskultur. Für einen sehr gut Unterstellung, die Sie auch noch ironisch kung verschiedener Substanzen. ausgebildeten Ingenieur, Physiker oder zugespitzt haben. Bei sehr guter Grund- T. RAUPACH / ARGUS RAUPACH T. Industrieforschung (bei Bayer)*: „Exzellente Forschung ist heute auf der ganzen Welt kostengünstiger zu haben als bei uns“

der spiegel 4/1997 179 Wissenschaft lagenforschung kommt immer etwas her- MARKL: Dürfen, nicht sollen. Die Freiheit, Das sind zwei Sachen, die nichts mitein- aus, nämlich neue Erkenntnisse. Ich würde die eigenen Forschungsziele zu setzen, darf ander zu tun haben. Außerdem nimmt die sogar sagen: Hat man keine gute Grund- dadurch allerdings nicht gefährdet werden. Zahl der Patente und Lizenzen aus Max- lagenforschung, hat man bald auch nichts Wenn aber jemand etwas entdeckt hat, wo- Planck-Instituten erfreulich zu. Neues mehr in der Praxis anzuwenden. von er erkennt, daß man daraus etwas SPIEGEL: Trotz hervorragender Grundla- SPIEGEL: Sie haben einmal den Satz for- Nützliches machen kann, warum soll er genforschung entstehen keine neuen Pro- muliert: „Erkenntnisse sind niemals an- dann die Zusammenarbeit mit der Wirt- dukte. wendungsfern.“ Übertreiben Sie da nicht schaft scheuen? MARKL: Produkte werden in Unternehmen ein bißchen? Die Gesellschaft wird doch SPIEGEL: Viel herausgekommen ist dabei of- entwickelt. Im übrigen, wenn Sie behaup- fragen: Wäre das Geld, das wir da hinein- fenbar noch nicht. 1995 gab es zwei Nobel- ten, man habe von der Forschung nichts, stecken, nicht woanders besser angelegt? preise für Max-Planck-Forscher – höchste dann erwidere ich: Die Menschheit hat MARKL: Da gilt es zu differenzieren. Er- akademische Auszeichnungen kommen also durch Forschung viel gewonnen. stens gibt es eine ganze Menge Grundla- immer noch. Im selben Jahr ist Deutsch- SPIEGEL: Nämlich? genforschung, aus der sich unmittelbar An- land mit der Zahl der Patentanmeldungen MARKL: Es ist sicher, daß wir ohne die wendungsmöglichkeiten ergeben, etwa in beim europäischen Patentamt, früher auf Fortschritte der Forschung fast sechs Mil- Physik, Chemie oder Biologie. Wenn man Platz 1, auf Platz 3 zurückgefallen. liarden Menschen nicht ernähren könn- die genetischen Grundlagen des Gelenk- MARKL: Aber doch nicht deswegen, weil ten. Wir hätten weder die gesteigerte Le- rheumas besser versteht, wird das der Me- wir zwei Nobelpreise bekommen haben. benserwartung noch unsere Gesund- dizin nutzen – und auch den Laien leicht vermittelbar sein. Dann gibt es zweitens Bereiche, zum Bei- spiel Archäologie oder auch Astronomie, die sehr anwendungsfern sind, für die sich aber viele Menschen lebhaft interessieren. Am Tag der offenen Tür strömen die Leu- te in diese Institute. Diesen Teil unserer Kultur halte ich für genauso unverzicht- bar wie die Förderung der Künste. Da fragt man auch nicht: Wozu nützt das? Schließlich gibt es Gebiete, die teuer, an- wendungsfern und nicht für jedermann zu- gänglich sind, zum Beispiel die Teilchen- physik. Die meisten Leute können noch nicht einmal ihre Fragestellung nachvoll- ziehen. Hier neige ich dazu, zu sagen: Wenn die besten Experten der Ansicht sind, es sei wert, die Sache zu verfolgen, dann sollte ein maßvoller Bruchteil der Forschungsmittel auch dafür verfügbar gemacht werden. SPIEGEL: Auch wenn niemand etwas da- von hat? MARKL: Ja, auch wenn man nichts davon hat außer der reinen Erkenntnis, denn sie ist eine große Bereicherung. Der Prozentsatz an Forschungsmitteln, den wir in der Bun- desrepublik nur für die Faszination der Er- kenntnis um ihrer selbst willen ausgeben, scheint mir durchaus vertretbar im Ver- gleich zu dem, was Leute für Rauchen, Al- kohol und andere gesundheitsschädliche Lustbarkeiten ausgeben. SPIEGEL: Das heißt doch, Äpfel mit Birnen vergleichen. MARKL: Vergleichen kann man nur Ver- schiedenes. In unserer reichen, wissen- schaftlich-technisch wohlorganisierten Ge- sellschaft muß es einen Platz für Superta- lente und grundlegende Erkenntnisfragen geben. Wir müssen für unsere besten Gei- ger und Opernregisseure und genauso für unsere besten Mathematiker, Physiker oder Philosophen einen Platz haben. SPIEGEL: Andererseits haben Sie bei Ihrer Amtsübernahme die Max-Planck-Wissen- schaftler ausdrücklich davon entbunden, „ein Keuschheitsgelübde gegen den Um- gang mit den praktischen Belangen der Gesellschaft abzulegen“. Dürfen wir das so verstehen, daß Ihre Forscher sich künftig mehr an dem orientieren sollen, was die Gesellschaft braucht?

180 der spiegel 4/1997 heitsfürsorge. Schon gar nicht hätten wir Nichts von dem, was wir tun, ist, multipli- MARKL: Die Grundhaltung dieser Argu- so viele unser Leben bereichernde Ein- ziert mit 109, der Größenordnung der Welt- mentation war eher pessimistisch: Wenn sichten über Natur, Geschichte und Ge- bevölkerung, ganz ohne Nebenwirkung. wir nicht handeln, dann werden wir un- sellschaft. Was die Sache fast noch schlimmer macht: serer Natur ihren Lauf lassen. Als bio- SPIEGEL: Auf die Ambivalenz von wissen- Auf viele der durch Forschung und Tech- logische Wesen sind wir darauf angelegt, schaftlichem Fortschritt haben Sie selber nik erzeugten Probleme gibt es keine an- uns schrankenlos zu vermehren. Als mo- immer wieder hingewiesen, zum Beispiel dere Antwort als neue Forschung und ralische und kulturfähige Wesen aber mit dem Buchtitel „Die Fortschrittsdroge“ bessere Technik. Das mag als Teufelskreis müssen wir unsere Vermehrung in An- – Forschung als Suchtmittel, das die Men- erscheinen, bleibt aber dennoch unser zahlen und Ansprüchen selbst begrenzen. schen einerseits schädigt, von dem sie an- Schicksal. Um eine künftige Großmenschheit von dererseits aber nicht ablassen können. Da SPIEGEL: Nun haben Sie selber, zum Bei- acht bis zwölf Milliarden zu ernähren, verschleiern Sie etwas, wenn Sie nur von spiel in einem Essay (spiegel 48/1995), eine werden wir die Produktion von Ener- der schönen Welt sprechen, die wir der ziemlich extreme Position vertreten: Der gie und Nahrungsmitteln noch deutlich Forschung verdanken. Mensch müsse, etwa durch Gentechnik, steigern müssen, auch mit Gentechnik. MARKL: Aber ebenso habe ich die „Droge die Schöpfung manipulieren, um sie vor Das verstehe ich unter verantwortlichem Forschung“ als unentbehrliches Heil- dem Menschen zu retten. Woher nehmen Management der Biosphäre – damit ne- mittel bezeichnet. Wissenschaft hat wie Sie eigentlich den Optimismus, daß so et- ben den genutzten Gebieten noch genug alles, was der Mensch tut, ihren Preis. was gelingen könnte? Platz für eine von uns verschonte Natur bleibt. SPIEGEL: Schon früher hat die Wissenschaft große Visionen und Versprechungen auf- gerichtet, die sich nicht erfüllen ließen. Seit mehr als 30 Jahren hören wir, in absehbarer Zeit – jeweils hieß es: in 30 Jahren – werde der Fusionsreaktor als un- erschöpfliche Energiequelle für die Menschheit verfügbar sein. Auch die grü- ne Revolution, als dauerhafte Lösung al- ler Welthungerprobleme angekündigt, mündete in eine gewaltige Umweltzer- störung. MARKL: Was die Fusionsenergie anlangt, ist für mich noch nicht endgültig geklärt, daß sie nicht nutzbar gemacht werden kann Dazu dient die Fusionsforschung. Und die grüne Revolution hat wahrscheinlich mehr Menschenleben gerettet als jede andere wissenschaftlich-technische Innovation. SPIEGEL: Aber um welchen Preis? MARKL: Auch wertvoller Fortschritt ist nicht umsonst zu haben – soll denn alles Wertvolle kostenlos sein? Die Wissen- schaftler haben übrigens nicht verspro- chen, daß sie den Weg zum Paradies ge- funden hätten. SPIEGEL: Das ist nicht das einzige Heils- versprechen, das die Naturwissenschaft nicht hat erfüllen können. In den Kampf gegen Krebs investierten allein die Ameri- kaner in den letzten 25 Jahren 28 Milliar- den Dollar. Trotzdem ist die Krebssterb- lichkeit in den USA etwa im selben Zeit- raum um 6,3 Prozent gestiegen. MARKL: Unter anderem weil immer mehr Menschen durch bessere medizinische Fürsorge so alt werden, daß sie ihren Krebs noch erleben. Ich räume ein: Die Wissenschaftler haben sich schon oft in Il- lusionen ergangen, zum Teil um Geld ein- zuwerben, zum Teil aus wirklicher Über- zeugung. Ich selbst neige dazu nicht. Mich bedrückt viel zu sehr die Überlegung, was die Folgen wären, wenn wir nicht unter Einsatz von Wissenschaft und Technik handeln, um mit den globalen Problemen fertig zu werden. SPIEGEL: Sie haben verschiedentlich die Deutschen für ihre, wie Sie sagen, man- gelnde Risikobereitschaft kritisiert. Sie werfen der Gesellschaft vor, sie leiste sich „den Luxus, sich in Ängsten zu erge-

der spiegel 4/1997 181 Wissenschaft hen“. Aber ist es nicht nach all angebracht. Nur stelle ich fest, daß sich in den schlechten Erfahrungen, „Der Mensch Deutschland anders als in anderen Län- die die Menschen gemacht ha- muß die dern mit durchaus überschaubaren erträg- ben, nur natürlich, daß sie ge- lichen Risiken häufig ganz übertriebene genüber dem Fortschritt Ängste Schöpfung Ängste verbinden. Ich nenne als Beispiel entwickeln? manipulieren, die Anwendung der Gentechnik in der Me- MARKL: Durch Forschung sind um sie dizin.Wir sind nicht so furchtsam, daß wir in der Tat Dinge möglich ge- Bedenken hätten, im Jahr für drei Milliar- worden, vor denen sich nur vor ihm selbst den Mark Medikamente einzunehmen, die dumme Menschen nicht ängsti- zu retten“ auf gentechnischem Weg erzeugt wurden. gen würden. Andererseits Aber wir waren zu risikoscheu, sie in konnten wir viele Ängste aus Deutschland auch produzieren zu lassen. der Vergangenheit überwinden, etwa vor zung der Atomkraft könne man alle Mir tut es schon weh, wenn im Ausland Hunger und Seuchen.Auf diesem Wege ha- Energieprobleme lösen, willig gefolgt – und Produkte hergestellt werden, die bei uns ben wir uns freilich andere Schwierigkeiten ist so in eines der größten Risiken geführt entwickelt wurden. Von dort importieren eingehandelt, die wir nun als bedrohlich worden, mit denen wir heute leben wir dann die Medikamente nach Deutsch- empfinden. müssen. land und nehmen sie eifrig ein, wenn SPIEGEL: Bei der Entwicklung der Atom- MARKL: Sie haben recht, wir sollten nicht wir krank sind. Das kann doch so nicht bombe ist die Gesellschaft nicht gefragt jede kritische Diskussion von wissen- sinnvoll sein. worden. Aber sie ist den Versprechen der schaftlichen Erkenntnissen mit Ängst- SPIEGEL: Wenn Sie das alles auf über- Wissenschaftler, mit der friedlichen Nut- lichkeit verwechseln. Gesunde Skepsis ist triebene Ängstlichkeit zurückführen, machen Sie es sich damit nicht zu ein- fach? Nehmen wir folgendes Gegen- beispiel: Die ganz harmlose Flüssigkristall- Technologie wurde am Fraunhofer- Institut in Freiburg entwickelt. Aber all die Laptop-Bildschirme und Quarzuhr- Ziffernblätter, die damit bestückt werden, kommen aus Japan. MARKL: Einverstanden. Es ist eine speziel- le Art von Innovationsschwäche, die ich mit Risikoscheu meine, nach dem Motto: Es geht ja auch so gut; warum sollen wir et- was Neues machen? Die anderen machen dann das Geschäft damit. Uns fehlt da manchmal der Gründergeist, die Bereit- schaft, etwas Neues auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko zu wagen. SPIEGEL: Würden Sie sagen, daß die deut- sche Forschung den enormen Zukunfts- aufgaben, denen sie sich gegenübersieht, gewachsen ist? MARKL: Wenn Sie mich fragen, ob wir im globalen wissenschaftlich-technischen Wettbewerb so gut sind, wie wir es sein müssen, um unseren Lebensstandard zu halten, habe ich große Sorgen. Anderer- seits bin ich überzeugt davon, daß wir die Möglichkeit haben, die erkennbaren Pro- bleme in unserem Forschungs- und Wis- senschaftssystem zu überwinden. Denn in jeder Generation wachsen neue Menschen heran, die die gleiche Intelligenz mitbrin- gen wie ihre Vorgänger – wir müssen sie nur wirksam werden lassen. Wenn wir aber unsere jungen Leute gut ausbilden und sie dann hinterher nicht ar- beiten lassen, sondern statt dessen wirklich nur an die Tankstelle schicken, wo sie ja auch kaum noch gebraucht werden, dann ist das eine Tragödie. Nicht weil es un- würdig wäre, an einer Tankstelle zu arbei- ten, sondern weil das, was diese jungen Menschen mit Intelligenz und Fleiß zur Lösung unserer Probleme beitragen könn- ten, nicht genutzt wird. SPIEGEL: Herr Professor Markl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

FILSER / MPG FILSER * Am höchstauflösenden Durchstrahlungsmikroskop im Max-Planck-Forschung*: „Fortschritt ist nicht umsonst zu haben“ Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart.

182 der spiegel 4/1997 Technik

AUTOMOBILE Hurtige Familie Ein Zehnzylinder, aus dem Formel-1-Rennsport hergeleitet, soll den bröckelnden Verkauf der Mercedes C-Klasse ankurbeln.

it den rasanten Modellen der klei- nen Baureihe hatte Mercedes bis- Mher keine besonders glückliche Hand. Sie trugen schwer einprägsame Na- men („190 E 2.5-16 Evolution II“) und ebenso sperrige Heckspoiler.

Nun wollen die Stuttgarter, zum kom- B. RAUH menden Sommer, die gesamte C-Klasse ei- Geplante Mercedes C-Klasse: Kraftpaket zur Imagepflege nem „Facelift“ unterziehen: Deutlich nach innen gezogene Türschwellen sollen der Vorgänger wurde „Baby-Benz“ genannt) Mit den von Mercedes-Zehnzylin- kleinen schwäbischen Limousine die grazi- macht den Konzernmanagern derzeit die dern angetriebenen Formel-1-Rennwagen le Anmutung einer Wespentaille verleihen. größten Sorgen. Während die 1995 einge- von McLaren ist der Ruhm vergangener Im Zuge der Modellpflege soll eine neue führte E-Klasse sich hervorragend ver- Jahre arg verblaßt. Kein einziges von sportliche Variante vorgestellt werden, die kauft, gingen die Bestellungen für die 33 Grand-Prix-Rennen hat Mercedes sich äußerlich kaum von den gewöhnlichen kleine Baureihe zurück. während der bisher zweijährigen Koope- Geschwistern unterscheiden, aber als wah- Im vergangenen Jahr rutschten die welt- ration mit dem englischen Rennstall ge- res Kraftpaket daherkommen wird: Ein 3,5- weiten Verkaufszahlen für die C-Klasse wonnen. Liter-Motor der Firma Ilmor, des Herstel- von einst 315000 auf 270000 Stück ab. Vor So ist auch der Plan, die Kleinserie der lers der Mercedes-Formel-1-Motoren, wird allem der elegante Audi A4 bewog zahl- zehnzylindrigen C-Klasse in Erinnerung den hurtigen Familienwagen antreiben. Das reiche Mercedes-Fahrer zum Umsteigen. an frühere Rennerfolge ausschließlich in Aggregat verfügt über zehn V-förmig an- Und künftig wird es für die schwäbischen silberfarbener Lackierung anzubieten, geordnete Zylinder. Die Leistung wurde Autofabrikanten noch enger werden, denn noch nicht besiegelt. Denn bislang ist die gegenüber dem Rennmodell von über 700 es droht Konkurrenz aus dem eigenen historische Monochromie, einst Wahrzei- auf knapp 400 PS zurückgenommen. Haus: Die neue A-Klasse, ein Kleinwagen chen der siegreichen Silberpfeile aus den Der auf 500 Stück limitierten Serie mit einem vergleichbaren Raumangebot dreißiger und fünfziger Jahren, im aktuel- (Heckaufschrift: „3.5 F1 Ilmor“, geschätz- wie in der C-Klasse, wird zur Frankfurter len Rennsport tabu. ter Stückpreis: 150000 Mark) stellten Offensichtlich fürchten die Stutt- sich bereits in der Entwicklung hohe garter Renn-Manager, das glorienum- technische Hürden entgegen. Zu den witterte Silber mit Niederlagen zu be- verwundbarsten Teilen zählten die flecken. Auf dem Auto für die kom- Reifen, die den Fliehkräften extre- mende Saison wurde zunächst schrilles mer Geschwindigkeiten standzuhal- Orange vorgezeigt, die traditionelle Tö- ten haben. nung von McLaren. „Zu einem echten Mercedes will das Sportgefährt Silberpfeil wird man erst, wenn man zwar bei 250 km/h abregeln, wie alle Rennen gewinnt“, erklärte Mercedes- Serienfahrzeuge des Hauses, die die- Sportchef Norbert Haug das vorläufi- ses Tempo sonst überschreiten wür- ge Outfit. Pkw-Vorstand Jürgen Hub- den. Dennoch muß damit gerechnet bert orakelte jedoch, die „traditionel- werden, daß sich die Kunden bei fin- le Mercedes-Grundfarbe“ werde bei digen Chip-Tunern den elektronischen der endgültigen Präsentation des For- Zügel entfernen lassen. In diesem Fall mel-1-Wagens am 14. Februar „eine wird die gedopte C-Klasse gut 300 Rolle spielen“.

km/h erreichen. WERKSFOTO Da sich der Produktionsstart der Einige Reifenhersteller wetteifer- Formel-1-Motor von Mercedes: Elektronische Zügel Kleinserie nicht mehr allzu lange hin- ten um die Ehre, den verkappten auszögern läßt, bleibt nicht viel Zeit Renn-Benz ausrüsten zu dürfen. Zuletzt Automesse IAA im kommenden Herbst für das Streben nach Renn-Ruhm, der dann fiel Dunlop knapp durch. Nach ausgiebi- auf den Markt kommen. auf das Straßenfahrzeug abfärben soll. Die gen Probefahrten wird der Zuschlag an Die große deutsche Autoschau könnte Mercedes-Konstrukteure müssen fürchten, Bridgestone gehen. deshalb auch als geeignete Bühne für die daß Volvo ihnen die Schau stiehlt. Um die Zuladung und damit die Rei- Präsentation des Kraftpakets mit Formel- Im Nachfolger der Oberklasse-Limou- fenbelastung zu begrenzen, ist der Wagen 1-Motor dienen, um die Aufmerksamkeit sine der 900er-Baureihe läuft auch schon als Viersitzer konzipiert. Auch die beiden der Besucher nicht ganz von der C-Klasse bei den Schweden ein renngeadelter Zehn- Fondsessel sollen in Längsrichtung ver- abgleiten zu lassen. Auf den Zeitpunkt der zylinder im Versuch. stellbar sein. Ein Sechsganggetriebe über- Premiere konnte sich der Vorstand noch Der nordische Konkurrent wird an- trägt die Kraft. nicht einigen: Erst müßten Rennerfolge in getrieben von einem V-10-Aggregat der Das kraftstrotzende Sondermodell könn- der Formel 1 den Zehnzylinder zum Pre- englischen Firma Cosworth – auch die- te der C-Klasse zu einem Image-Schub ver- stigeobjekt weihen – und davon sind die ser Motor hat seinen Ursprung in der helfen. Die bislang kleinste Baureihe (der Stuttgarter noch weit entfernt. Formel 1. ™

der spiegel 4/1997 183 Werbeseite

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Werbeseite Wissenschaft Von dort, so die Frischzel- MEDIZIN lentherapeuten, werden die tierischen Zellen zu den „ver- brauchten, geschädigten, mü- Bis zur letzten den Organen und Drüsen transportiert“, wo sie, wie es in einer Patienten-Broschüre Patrone heißt, „ihre Reparaturarbeit aufnehmen“. Einer lukrativen Medizin- Gegner der medizinischen branche droht das Außenseitertechnik attestie- ren dem bläßlichen Zellbrei Ende: Die unnütze und riskante allenfalls die Wirkung eines Behandlung mit Placebos. Überdies verweisen Frischzellen wird verboten. sie darauf, daß die Anwen- dung von Frischzellen, wie ie Leichen müssen doch nicht zahlreiche Zwischenfälle in erst auf dem Tisch liegen, bevor den letzten Jahrzehnten bele- Dwir tätig werden“, sagt Eberhard gen, mit erheblichen Risiken Schmidt, Ministerialdirigent im Bundes- belastet ist. ministerium für Gesundheit (BMG), und Erste Alarmmeldungen gab bekräftigt: „Es war höchste Zeit, daß die- es in den siebziger Jahren, als se Therapie verboten wird.“ hauptsächlich Frischzellen Jutta Buscha, vom Verbot betroffene zum Einsatz kamen, die zu Allgemeinärztin aus dem bayerischen Fertigarzneimitteln verarbei- Rottach- Egern, dagegen spricht von einer tet oder vereist im Kühl- „Tragödie“. Zehn Ärzten drohe der „fi- schrank gelagert wurden. nanzielle Ruin“ und – „schlimmer noch“ – Insgesamt 119 Einzelfallbe- etwa 6000 Patienten „der Sturz in die Hoff- richte über „schwerwiegende nungslosigkeit“. unerwünschte Wirkungen“ Anlaß von Lob und Wehgeschrei: Seit hatten 1988 das damalige Bun- Montag letzter Woche gilt die BMG- desgesundheitsamt (BGA) zu Verordnung, die den künftigen Einsatz einem Vertriebsverbot der sogenannter Frischzellentherapeutika un- injizierbaren Präparate bewo-

tersagt. gen. Aktenkundig geworden M. WEBER W. Die umstrittene Methode, die der waren beispielsweise sechs, Ärztin Buscha, Spenderherde: Schafe zum Verkauf Schweizer Chirurg Paul Niehans vor 66 teils akribisch dokumentierte Jahren erstmals anwandte, gilt ihren An- Todesfälle, die ursächlich auf die Verabrei- Gabe des Zelltherapeutikums kollabierte, hängern als „Jung- und Gesundbrunnen“ chung von Frischzellmitteln zurückgeführt sieben Tage später neurologische Sympto- und potentielles Heilmittel gegen nahe- werden konnten. me aufwies und am 25. Tag nach der In- zu jedes Übel, vom Down-Syndrom bis So hatten Ärzte der Uni-Kliniken Berlin jektion des Zellpräparats verstarb“. zum Krebs. und Mainz über immunologische Kompli- Als prominente Anhänger der myste- Die angeblich heilsame Wirkung basiert kationen berichtet, an denen zwei Frauen riösen Behandlungsmethode galten Fidel auf dem Grundsatz des spätmittelalterli- gestorben waren – die eine zwei Wochen Castro, Nelson Mandela und Lilo Pulver, chen Medicus Paracelsus, wonach „Glei- nach einer „Original-Frischzellenbehand- Inge Meysel und der Herzverpflanzer Chri- ches Gleiches heilt“. Die ungeborenen lung nach Prof. Niehans“, die andere 30 stiaan Barnard sowie der Tennisspieler Ya- Schafen oder jungen Lämmern entnom- Tage nach der Behandlung mit schockge- nick Noah.Auch Kanzler Konrad Adenau- menen Organe und Drüsengewebe werden frorenen Zellen. er, Marlene Dietrich und der Verleger Axel in einer Nährlösung zerkleinert, gesiebt Als Fall 87006436 findet sich die Lei- Springer sollen aus der Zellspritze Hoff- und dem Patienten in den Gesäßmuskel densgeschichte einer 59jährigen Patientin nung auf neue Kraft bezogen haben. eingespritzt. in den BGA-Akten, die „unmittelbar nach Nach dem Verabreichungsverbot von Fertigarzneimitteln aus Frischzellen schnurrte die Zahl der Frischzellenklini- ken zusammen. Von den einst etwa 200 damit befaßten Sanatorien zwischen Al- pen und Nordsee boten Ende letzter Wo- che nur noch neun ihre Zellkuren an.Aber: „Da fließt viel Geld“ – so Gesundheitsmi- nister . Für ihre einwöchige Kur blätterten Gutbetuchte leicht 10 000 Mark hin. Galten 1987 allein in Westdeutschland 5000 Mediziner als Anhänger der Metho- de, hat der Bundesverband Deutscher Ärz- te für Frischzellentherapie derzeit noch sieben Mitglieder. Ihnen droht „schlicht- weg die Arbeitslosigkeit“, klagt die stell- vertretende Verbandsvorsitzende Buscha. Mit einer Schließung von Sanatorien und

GAMMA / STUDIO X dem Verkauf der zugehörigen, jeweils etwa Frischzellenbehandlung: „Da fließt viel Geld“ 350 Köpfe zählenden Schafherden wird ge-

186 der spiegel 4/1997 rechnet. Unbelehrbare Patienten werden nach Österreich und in die Schweiz ab- wandern. Der Exitus der deutschen Frischzellen- branche, die verwelkte Schöne und Rei- che per Injektionsspritze jünger, kräftiger und potenter zu machen versprach, war längst überfällig. Denn die Ergebnisse des Gutachtens vom März 1994, das nun zum endgültigen Frischzellenverbot geführt hat, sind genauso eindeutig wie die Begrün- dung des Teil-Verdikts von 1988. Es gebe „keinen Grund“, so das Fazit der neuen Studie, „Nutzen und Risiken von Präpara- ten zur Frischzellentherapie anders zu be- urteilen als diejenigen von Fertigarznei- mitteln zur Zelltherapie“. Auch diesmal führen die Verfasser eine Reihe von Fallberichten an, bei denen „im zeitlichen Zusammenhang mit einer Frischzellentherapie der Tod des Patien- ten eingetreten war“. So entwickelten sich bei einer 60jährigen Patientin (BGA-Fall Nr. 87006344) „fünf Tage nach einer Frischzellenkur Kopf- schmerzen, Übelkeit, Fieber von 38,5 Grad Celsius“ sowie Mißempfindungen „in Un- terbauch und beiden Beinen“. Es trat eine rechtsseitige Lähmung auf, die Frau fiel ins Koma, konnte nur noch schwer atmen und starb 17 Tage nach den Zelleninjektionen. Bei der Obduktion wurden „krankhaf- te Veränderungen des Gehirns“ festgestellt, die nach Ansicht des Gutachters „nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch in ei- nem kausalen, nämlich immunologischen Zusammenhang mit der Frischzellenthe- rapie“ standen. Die Berichte anderer Patienten, die ihre Kur glimpflicher überstanden hatten, ver- deutlichen die hohen Risiken der Trans- plantation fötaler Lammzellen auf den Menschen. Es besteht die Gefahr allergi- scher Reaktionen bis hin zum lebensbe- drohenden anaphylaktischen Schock, zu Quaddelbildungen im Gesicht und im Ra- chen, zu Blutdruckabfall und schwerem Kreislaufkollaps. Darüber hinaus verweisen die Verfasser der Studie auf die Möglichkeit der Über- tragung von Bakterien,Viren und krebser- regenden Stoffen und auf das „theoreti- sche Risiko“, daß mit dem tierischen Zell- material auch die „Erreger spongiformer Enzephalopathien wie Scrapie beim Schaf und BSE beim Rind“ in den menschlichen Organismus gelangen könnten. Für solche Behauptungen, sagt die Frischzellenärztin Buscha, fehle „jeder Beweis“. Bei ihren Patienten hätten sich die Nebenwirkungen „auf leichte Kopf- schmerzen, ein bißchen Fieber und ab und zu eine Rötung um die Einstichstelle“ im Gesäß beschränkt. Verläuft alles nach Plan, wird der Bundesrat im März der Verordnung zustimmen, erst dann wird sie rechtskräf- tig. Bis dahin will Frau Doktor Buscha praktizieren „wie seit 20 Jahren: Frisch- zellen injizieren, und zwar bis zur letzten Patrone“. ™

der spiegel 4/1997 Technik er auf ihre technische und finanzielle UMWELT Machbarkeit untersucht werden. Es sind vorwiegend englisch-norwegi- sche Konsortien, die sich um den Zuschlag Elf kleine bewerben, aus Deutschland ist lediglich die Düsseldorfer Thyssen Stahlunion GmbH mit im Rennen. Der Shell-Auftrag Negerlein verspricht langfristig Gewinn: Wer ihn be- kommt, hat gute Chancen, auch im An- Wie läßt sich die Ölplattform schlußgeschäft die Nase vorn zu behalten; „Brent Spar“ ökologisch allein auf der Nordsee schaukeln derzeit rund 400 Plattformen im steifen Hochsee- korrekt entsorgen – mit Gasdruck wind. oder per Flaschenzug? Von den Lösungsideen, die jetzt noch in der Diskussion sind, haben praktisch as Mineralwasser, eigentlich zur Er- alle eine Zerlegung und die Wiederver- frischung der Gäste gedacht, kam wertung an Land zum Ziel. Doch damit, so Ddem Vortragenden gerade recht. betonten Shell-Sprecher, sei die ursprüng- Shell-Manager Eric Faulds ergriff die lich auch von der britischen Regierung fa- durchsichtige Plastikflasche, hob sie ein vorisierte (und vor dem Greenpeace-Krieg wenig in die Höhe, kippte den Behälter schon genehmigte) Seeversenkung noch mal nach rechts und mal nach links – bis nicht vom Tisch. das Wasser darin gluckste. Technischer Knackpunkt für eine Bear-

Dann schob Faulds die Flasche vor AP beitung des Öltanks an Land ist der Trans- sich auf dem Tisch zur Seite. „Sehen Sie“, Shell-Manager Faulds, Demo-Flasche port dorthin. Die Plattform muß zunächst wendete sich der Manager zuversichtlich „So könnte es klappen“ gehoben und, leicht gekippt, in Richtung an sein Publikum, „so könnte die Sache Küste geschleppt werden. Das aber ist an- klappen.“ Seither werden, vor möglichst viel Öf- gesichts der Konstruktion des Stahlbehäl- Was sich bei dem Jonglierakt vor Jour- fentlichkeit und im ständigen Dialog mit ters äußerst schwierig: Die Tankwände nalisten in London letzte Woche mit we- den Umweltkritikern, ökoverträgliche sind so dünn, daß sie, pumpt man aus dem nigen Handgriffen lösen ließ, ist in Wahr- Wege gesucht, das Monstrum so aus der Innern das Wasser heraus, unter dem heit eine technisch und politisch hochdif- Welt zu schaffen, daß es wenigstens poli- Außendruck des Meerwassers vermutlich fizile Herausforderung: Es geht um die tisch keinen Ärger mehr macht – für den sofort bersten würden. umweltdiplomatisch möglichst korrekte gebeutelten Ölmulti nachgerade eine un- Die elf nun vorgestellten Lösungsmo- Entsorgung der heiß umkämpften Ölplatt- endliche Geschichte. delle basieren auf zwei verschiedenen form „Brent Spar“. Bald nach dem Öffentlichkeitsdesaster Hebe- und Transporttechniken: Seit beinahe eineinhalb Jahren dümpelt mit der „Brent Spar“ hatte Shell im Herbst π Druckluft-Variante – hierbei wird das der rostige Tank vor einem norwegischen 1995 einen internationalen Ideenwettbe- Wasser herausgepumpt und gleichzeitig Fjord in der See, ein Stahlkoloß mit 137 werb ausgeschrieben. Nun stellt der Kon- komprimiertes Gas in den Tank ge- Meter langem Schaft und hochgerückter zern alle paar Monate eine Auswahl von drückt. Die Preßluft soll die Außenwän- Taille – wirklich etwa in Form einer riesi- Anregungen vor, wie der schwimmende de von innen stabilisieren und zugleich gen Mineralwasserflasche. Tank an Land gezogen und vernichtet den Behälter aufschwimmen lassen, so Der Ölkonzern Shell hatte die Platt- werden könnte. Und wie bei den zehn klei- daß er für den Transport leicht gekippt form vor die einsame Meeresbucht schlep- nen Negerlein scheiden bei jedem Durch- werden kann. pen lassen, nachdem die Umweltorga- gang ein paar Mitbewerber aus. π Flaschenzug-Variante – in 109 Meter Tie- nisation Greenpeace im Sommer 1995 Vergangene Woche waren von ur- fe wird ein Stützrost unter die Ölplatt- in einer beispiellosen Seeschlacht die sprünglich 450 Entsorgungsideen noch 11 form geschoben und mit Hebeseilen ver- geplante Versenkung auf hoher See ver- Vorschläge von sechs Firmen in der enge- bunden, die an zwei Tragschiffen befe- hinderte. ren Wahl geblieben. Sie sollen nun genau- stigt sind. Mittels Flaschenzügen wird sodann die Plattform Kippen oder zerlegen Zwei Methoden, die Ölplattform Brent Spar zu entsorgen langsam gehoben (siehe Grafik). Danach wollen die Thyssen-Ingenieure – Abwasser- noch auf See – mittels tanker Schneidbrennern Schei- be für Scheibe von der Ölplattform abtragen. Im Flaschenzüge selben Rhythmus wird Pumpen aus dem Stahlrumpf das Leitung für ölverschmutzte Wasser Winde Gaszufuhr Tragschiff abgepumpt. Die Salami-Taktik er- Abwasser- Abwasser- Hebeseile laubt es den Thyssen- leitungen leitungen Leuten auch, sich schritt- weise zur norwegischen Küste vorzuarbeiten, Stützrost während die „Brent Das ölige Seewasser wird aus der Plattform gepumpt und durch Über Flaschenzüge wird die Plattform geho- Spar“ immer kürzer komprimiertes Gas ersetzt. Dadurch hebt sich die Plattform und kann ben und scheibenweise abgetragen. Das Schmutz- wird. In der Aker-Werft gekippt und zur Küste geschleppt werden. wasser wird nach und nach abgepumpt. bei Stavanger wollen die

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Werbeseite Wissenschaft Techniker dann nur noch das übriggeblie- Die Auswahl der noch im Rennen ver- bene Tankteil zerstückeln. Der Stahl wird bliebenen Bewerber trafen die Shell-Ver- TIERE an Land verschrottet, die Schadstoffe aus antwortlichen später sowieso im stillen. dem Tankraum werden in entsprechenden Wenn im nächsten Planungsschritt auch Freundliche Killer Einrichtungen entsorgt. die Kosten der verschiedenen Varianten Längst nicht alle an der Ausschreibung vorliegen, wird Shell die britische Regie- beteiligten Firmen setzen auf Verschrot- rung um eine neue Entsorgungsgenehmi- Der Afrikanische Wildhund, tung. Vorgeschlagen wird auch, das Wrack gung ersuchen. gerühmt wegen seines Jagderfolgs, in riesige Hula-Hoop-Ringe aufzuschnei- Das Plazet wird nach denselben Krite- ist vom Aussterben bedroht. den und diese, mit Steinen verfüllt, als Kü- rien erteilt werden wie seinerzeit die Er- stenschutz zu verbauen. Andere Pläne se- laubnis zum Versenken: nicht nur nach it kühnem Sprung aus vollem Lauf hen vor, Teile der „Brent Spar“ als Hafen- Öko-Kriterien, auch mit Blick auf den fi- schlug der Jäger seine Fänge in die befestigung zu verwenden oder aus ihnen nanziellen Aufwand. Vor zwei Jahren soll- MNase der Gazelle. Geschockt blieb die Schleusenklappe für ein Trockendock te die Versenkung rund 12 Millionen briti- das Tier stehen. zu fertigen.Wieder andere Tüftler möchten sche Pfund kosten, die Zerlegung an Land Die heranstürmende Meute näherte sich das ausladende Oberteil des Stahltrumms dagegen war auf 45 Millionen Pfund ta- von unten, fetzte sekundenschnell den wei- in ein (an Land errichtetes) Trainingscen- xiert. Wenn in diesem Herbst endlich das chen Gazellenbauch auf, die Eingeweide ter für Ölfirmen umwidmen. Procedere zur Ideenfindung abgeschlos- plumpsten auf den Savannenboden. Eine Im vergangenen Herbst waren noch ins- sen ist, wird vermutlich allein die Planung Viertelstunde später hatte das Rudel Wild- gesamt 30 Vorschläge diskutiert worden, 9 Millionen Pfund verschlungen haben – hunde die Beute zerrissen und kurz darauf darunter die Idee, auf dem Schrottkoloß ei- die Kostenfrage wird sich mithin wieder vertilgt. Übrig blieben ein paar abgenagte nen mit Windrädern bestückten Vergnü- stellen. Knochen und ein Ballen Gras aus dem Ga- gungspark zu eröffnen, eine Meerwasser- An den Umweltschützern aber kommt zellenmagen. entsalzungsanlage darin einzurichten oder der Konzern nicht vorbei: Die Greenpeace- Einst war die pfeilgeschwinde Caniden- ihn zu einem kombinierten Wind-Wasser- Aktivisten, die dem Kampf um die „Brent Art Lycaon pictus (angemalter Wolf) in al- kraftwerk umzubauen. Eine belgische Bag- Spar“ einen beispiellosen Werbeeffekt (mit len Ländern Afrikas südlich der Sahara gerfirma wollte für die Plattform gar eine anschließendem Spendensegen) verdan- heimisch. Rudel aus bis zu 50 und mehr riesige Grabstätte auf dem Meeresboden ken, sind längst wieder an Deck. „Wir Tieren jagten in den Steppen Südafrikas, auskoffern. werden den Prozeß bis zum Ende sehr in- am Massiv des Kilimandscharo und in den Auf einem von der Shell-Publicity so ge- teressiert beobachten“, erklärt Öko-Strei- Savannen des Senegal. nannten Dialog-Seminar, zu dem etwa 70 ter Christian Bussau. Mittlerweile ist der in den Farben Meeresschützer aus aller Welt geladen Sollte sich Shell doch noch zur Seever- Schwarzbraun, Weiß und Senf gescheckte wurden, stellte der Konzern die Angebote senkung entschließen, wollen die Regen- Wildhund das vom Aussterben am stärk- Anfang November vor. Im feinen Londo- bogenkämpfer wieder ihre Bootsleinen los- sten bedrohte Raubtier Afrikas. Der Be- ner Queen-Elizabeth-Konferenzzentrum machen. Bussau: „Wir können jederzeit stand ist auf knapp 5000 Hunde gesunken. durften die Öko-Wissenschaftler einen hal- wiederkommen.“ Doch so ganz zieht die „So schnell wie der Afrikanische Wildhund ben Tag lang ihre Anregungen auf weißen Drohung auch nicht mehr. Bei Thyssen je- seine Beute erlegt und verschlingt, so rasch Zettelchen an vorbereitete Wandtafeln kle- denfalls sieht man keine Probleme. „Wir verringert sich die Anzahl dieser Tiere“, ben – im Gedächtnis haften aber blieb vor nehmen Greenpeace gern mit an Bord“, konstatierte der new scientist. allem das „supernoble kalte Büfett“, wie sagt Thyssen-Sprecher Wolfgang Krüger: Gesichtet wurden einige kleine Rudel einer der Teilnehmer berichtet. „Unser Ding ist wasserdicht.“ ™ in Kopfstärken von etwa einem Dutzend Tieren in nur noch 15 (von ehedem 34) afrikanischen Staaten. In neun von ihnen schrumpfte der Bestand auf weniger als 100 Wildhunde. Weltweit steht der kurz- schnauzige Steppenläufer mit den trich- tergroßen Ohren nach dem Rhinozeros in der „Roten Liste“ gefährdeter Tierarten an zweiter Stelle. Die Schuld an der Dezimierung des Be- stands trägt der einzige natürliche Feind des Wildhundes, der Mensch. Bei Farmern, Wildhütern und Jägern stand das Tier im Ruf eines grausamen und gnadenlosen Killers, der zum „Ungeziefer“ degradiert und, wann immer in Schußnähe, abge- knallt wurde. An der Korrektur des abträglichen Leu- munds wirken derzeit einige Gruppen von Biologen mit, die im Auftrag von Zoos, Universitäten und Artenschutzgruppen das Rudelverhalten, die Jagdstrategien und die Lebensbedingungen des Afrikanischen Wildhundes erkunden. Kaum ein anderes afrikanisches Raub- tier ist spärlicher erforscht als der Wild- hund, der mal als Kap-Jagdhund, mal als Hyänenhund in der Fachliteratur auf- taucht; etlichen Biologen ist er ganz un-

T. RAUPACH / ARGUS RAUPACH T. bekannt. „Sie vermuten, es handle sich um Ölplattform „Brent Spar“: Unendliche Geschichte um ein Monstrum aus Stahl verwilderte Haushunde“, sagt der ameri-

190 der spiegel 4/1997 FOTOS: ANIMALS ANIMALS ANIMALS FOTOS: Afrikanische Wildhunde beim Reißen eines Gnus: Von Farmern und Jägern zum Ungeziefer degradiert kanische Forscher Scott Creel von der New auf, stupst es die Artgenossen mit der Nase unter als Satellitenschüsseln im Kleinfor- Yorker Rockefeller University, der ge- und fordert sie mit vogelähnlichem Zwit- mat beschreiben, unterstützen den Emp- meinsam mit seiner Frau Nancy im tansa- schern zum Aufbruch. Auch während der fang aller Tonlagen. nischen Selous-Reservat die dort lebenden Jagd hält das Rudel Kontakt, dazu dienen Straff und altruistisch organisiert ist das Rudel beobachtet – ein zeitaufwendiges verschiedene Laute und ein strenger Kör- Leben im Rudel. Für den Nachwuchs zu- Unternehmen. pergeruch. ständig sind der Leitrüde und ein einziges Besonders schwierig ist es, die Tiere auf- Die Töne umfassen ein erstaunliches Alpha-Weibchen.Aufgezogen und ernährt zuspüren, noch schwieriger, sie zu verfol- Spektrum. Die Wildhunde miauen wie Kat- werden die Welpen gemeinschaftlich vom gen. Fünf Monate benötigte das Forscher- zen, heulen, winseln und grummeln wie ganzen Rudel. paar Creels, ehe es gelang, einen einzigen Haushunde oder zirpen auf Frequenzen, Die Jungtiere kommen häufig in Höhlen Wildhund mit dem Narkosegewehr zu die das menschliche Ohr nicht mehr wahr- zur Welt, aus denen zuvor andere Tiere, betäuben und ihm ein Halsband mit Ra- nehmen kann. etwa Warzenschweine, vertrieben wurden. diosender anzulegen. Per Funkpeilung Die für ein Raubtier ungewöhnlich Während das Rudel jagt, werden die Jun- konnten die Forscher sodann die ausge- großen Ohren, die Wildhundexperten mit- gen von erwachsenen Tieren bewacht. Ge- dehnte Größe des Jagdreviers vermessen. säugt werden sie häufig von mehreren Das Wildhundrudel bestrich eine Fläche weiblichen Tieren. Feste Nahrung erhal- von über 400 Quadratkilometern, so groß ten die Jungtiere von den zurückgekehrten wie das Bundesland Bremen. Hyänen etwa Jägern, die einen Teil ihres Fraßes heraus- geben sich mit weniger als einem Zehntel würgen. Auf diese Weise werden auch die davon als Jagdareal zufrieden. Babysitter oder kranke Tiere versorgt. Kein anderes afrikanisches Raubtier jagt Im Verlauf der Evolution, die vor drei effizienter als der Wildhund.Während bei- Millionen Jahren mit der Abzweigung vom spielsweise Löwinnen nur jeden zehnten Urwolf begann, kam dem Afrikanischen Versuch mit einem Kill beenden, führt bei Wildhund eine von fünf Vorderzehen ab- ihnen jeder zweite Jagdanlauf zum Ziel. handen, die für Wölfe, Haushunde und an- Das Geheimnis ihres Erfolges ist einer- dere Caniden bis heute typisch sind. seits die Geschwindigkeit, mit der sie über Zugleich aber entwickelte die Spezies die Savanne huschen. Die hochbeinigen Eigenschaften, die ihr den Ruf des wahr- (Schulterhöhe: durchschnittlich 70 Zen- scheinlich sozialsten aller Säugetiere ein- timeter) und knapp 30 Kilogramm schwe- brachte. Bei ihren Wildhundstudien im ren Tiere hetzen ihre Beute bis zu deren simbabwischen Hwange National Park fan- Erschöpfung. Auf ihrer oft kilometerlan- den die US-Biologin Kim McCreery und gen Hatz erreichen die Rudel Spitzen- ihr Ehemann Bob Robbins, daß Afrikani- geschwindigkeiten von über 50 Stunden- sche Wildhunde sich gegenseitig respek- kilometern. tieren und ihnen im Spiel und im Leben Mitentscheidend für den Jagderfolg und fast jede Aggressivität fehlt. damit den Bestand des Rudels sind aber Streit und Kampf mit anderen Tieren im auch ein ausgeprägtes Sozialverhalten und Rudel werden vermieden. McCreery: „Sie eine hochentwickelte Kommunikation. Junger Wildhund fletschen nicht einmal die Zähne gegen- Steht ein Tier aus einem ruhenden Rudel Miauen wie Katzen, zwitschern wie Vögel einander.“ ™

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Uentzelmann, Hans-Jörg Vehlewald, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Peter Wensierski LONDON Bernd Dörler, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, WIRTSCHAFT Armin Mahler, Gabor Steingart; Dr. Hermann Bott, Tel. (0044171) 3798550, Fax 3798599 Frank Dohmen, Dietmar Hawranek, Peter Heinlein, Hans-Jürgen MOSKAU Reinhard Krumm, Jörg R. Mettke, Krutizkij Wal 3, Korp. Jakobs, Klaus-Peter Kerbusk, Detlef Pypke, Ulrich Schäfer, 2, kw. 36, 109044 Moskau, Tel. (007095) 2740009/52, Fax 2740003 Michaela Schießl, Thomas Tuma NEU-DELHI Dr. Tiziano Terzani, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi AUSLAND Dr. Erich Follath, Dr. Romain Leick, Fritjof Meyer; 110003, Tel. (009111) 4697273, Fax 4602775 Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, NEW YORK Dr. Jürgen Neffe, 516 Fifth Avenue, Penthouse, Hans Hoyng, Wulf Küster, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Dr. Stefan Simons, Helene Zuber PARIS Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Johann Grolle, Jürgen Petermann; Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 Marco Evers, Dr. Stefan Klein, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer PEKING Jürgen Kremb, Qijiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) Paul, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Olaf Stampf, Christian 65 32 35 41, Fax 65 32 54 53 Wüst PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (00422) 24220138, Fax 24220138 KULTUR UND GESELLSCHAFT Hans-Dieter Degler, Wolfgang RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, Höbel, Dr. Mathias Schreiber; Anke Dürr, Nikolaus von Festenberg, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 Angela Gatterburg, Doja Hacker, Dr.Volker Hage, Dr. Jürgen Hoh- ROM Valeska von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 6797522, Fax 6797768 meyer, Petra Kleinau, Dr. Joachim Kronsbein, Klaus Madzia, STOCKHOLM Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11223 Stockholm, Dr. Annette Meyhöfer, Reinhard Mohr, Bettina Musall, Anuschka Tel. (00468) 6508241, Fax 6529997 Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Klaus Umbach, TOKIO Dr. Wieland Wagner, Daimachi 4-44-8, Hachioji-shi, Tokio Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff 193, Tel. (0081426) 66-4994, Fax 66-8909 SPORT Alfred Weinzierl; Klaus Brinkbäumer, Matthias Geyer, Udo WARSCHAU Dr. Martin Pollack, Krzywickiego 4/1, 02-078 Ludwig, Helmut Schümann Warschau, Tel. (004822) 251045, Fax 258474 SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips, WASHINGTON Mathias Müller von Blumencron, Clemens Höges, Mareike Spiess-Hohnholz Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washing- AUTOREN/KOLUMNISTEN/REPORTER Ariane Barth, Peter Bölke, ton, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, Klaus Franke, Gisela WIEN Dr. Hans-Peter Martin, Herrengasse 8 Top 100, 1010 Wien, Friedrichsen, Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Tel. (00431) 5323232, Fax 5323232-10 Thomas Hüetlin, Urs Jenny, Christiane Kohl, Jürgen Leinemann, Hans Leyendecker, Matthias Matussek, Gerhard Mauz,Walter Mayr, SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Hans-Joachim Noack, Dr. Fritz Rumler, Marie-Luise Scherer, Cordt Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Schnibben, Hans Joachim Schöps, Bruno Schrep, Hajo Schumacher, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Barbara Supp, Carlos Widmann, Erich Wiedemann Dr. Karen Ortiz, Gero Richter-Rethwisch, Ingrid Seelig, Hans- CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Kirsten Wiedner, Holger Wolters BILDREDAKTION Michael Rabanus; Werner Bartels, Manuela DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner; Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Cramer, Josef Csallos, Christiane Gehner, Rüdiger Heinrich, Peter Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Hendricks, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Monika Rick, Heidi Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Russbült, Karin Weinberg Dr. André Geicke, Silke Geister, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, GRAFIK Rainer Sennewald; Martin Brinker, Renata Biendarra, Lud- Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Christa von Holtzapfel, Joachim ger Bollen, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur Immisch, Hauke Janssen, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela LAYOUT Uwe C. Beyer, Volker Fensky, Detlev Scheerbarth, Man- Köllisch, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Hannes Lamp, Marie-Odile fred Schniedenharn; Christel Basilon-Pooch, Sabine Bodenhagen, Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Katrin Bollmann, Regine Braun,Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Ludwig-Sidow, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, PRODUKTION Chris Riewerts; Wolfgang Küster, Frank Schumann Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Oliver Peschke, Monika Zucht Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. 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192 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Register

Gestorben haben.Was war richtig, was erfunden? Im- merhin erwies sich vermeintlicher Hallier- Renate Merklein, 57. Gegen sie war, wenn scher Irrsinn gelegentlich als wahr: Die von es um den rechten Weg der Wirtschaft ging, ihm schon früh beschriebene außereheli- die Eiserne Lady ein schnurrendes Kätz- che Mitterrand-Tochter Mazarine existier- chen. Mit einem Engagement, das notfalls te tatsächlich, und die 640 Lauschangriffe die Gegenargumente überrollte, focht die des Elysée auf den notorischen Mitterrand- promovierte Ökonomin für eine Markt- Feind stimmten auch. Nobel verneigte sich wirtschaft, in der das Adjektiv sozial über- postum der neue Elysée-Herr Jacques Chi- flüssig wäre. „Sozialklimbim“ mochte sie rac vor diesem „begabten Schriftsteller nicht, Ansprüche der und gewaltigen Polemiker“. Jean-Edern Arbeitnehmer fand Hallier starb am 12. Januar in Deauville sie meistens unver- nach einem Sturz mit dem Fahrrad. schämt. Ihr scharfer Intellekt half Merk- Helen Foster Snow, 89. Die Rechtsan- lein, die 22 Jahre waltstochter aus Utah, die 1931 Edgar Snow, beim spiegel war, einem linksgerichteten Journalisten, nach die große Wende in China folgte, stand ungerechtfertigterwei- ihrem Leben zu be- se zeitlebens im Schatten ihres berühmten wältigen: Noch in Mannes, der sich mit seinen Reportagen den sechziger Jahren und dem Buch „Roter Stern über China“

war sie vehement PRESS ACTION als Insider Chinas einen Namen machte. für ein sozialistisches Dabei war es Helen Foster, die weit mehr Deutschland eingetreten. Merklein, meh- Zeit mit Mao Tse-tung verbracht hatte, die rere Jahre mit dem 1987 gestorbenen Wirt- kenntnisreicheren Bücher über China schaftsprofessor Armin Gutowski verhei- („Roter Staub: Autobiographien von chi- ratet, erhielt 1983 den Ludwig-Erhard-Preis. nesischen Kommuni- Seit 1991 arbeitete sie im Herausgeber- sten“) schrieb, die rat des handelsblattes und der wirt- eine Schlüsselrolle schaftswoche. Renate Merklein starb ver- am Aufbau von Fer- gangenen Dienstag in Freiburg an Krebs. tigungskooperativen hatte, die Studenten- Jean-Edern Hallier, 60. Politischer Para- revolte 1935 unter- noiker, Narr der Republik, Lügner, genia- stützte und deren lisch: Keine Qualifizierung schien den Ne- Haus in Peking zu ei- krolog-Verfassern zu exzessiv, um den mit nem Treffpunkt zahl- allen Happening-Tricks an seiner Legende reicher mit China schaffenden hochbegabten Schriftsteller verbundener Perso- („In Sachen der Völker“), Kleinverleger nen von Rang und („L`Idiot international“) und politischen Namen wurde. Helen Foster Snow, auch Wadenbeißer („Die verlorene Ehre des unter dem Pseudonym Nym Wales be- François Mitterrand“) kongenial abzufei- kannt, starb am 11. Januar in Guilford, ern. Für den ewigen Provokateur (einmal Connecticut.

Albert Wohlstetter, 83. Der gelernte Ma- thematiker begann seine Karriere für das Pentagon als Baubeauftragter und wurde nach dem Weltkrieg zu einem der brillan- testen Denker des Undenkbaren.Vier Jahr- zehnte lang bestimmten seine Überlegun- gen die Atomkriegsplanung der USA. Er überzeugte Amerikas Militärs und Politiker von der Notwendigkeit, Bomber und Ra- keten stets so zu stationieren, daß sie auch nach einem Erstschlag des Gegners in der Lage wären, die Sowjetunion zu vernich- ten. Der gesellige Gourmet, der Freunden

P. PARROT / SYGMA PARROT P. gegenüber die Aussicht auf eine Vorherr- schaft der realsozialistischen Kochkunst bahrte er sich vor dem Elysée auf) und als die eigentliche sowjetische Bedrohung Exoten der Schickeria des „tout Paris“ gab einstufte, war als Mitarbeiter der Denk- es keine Grenze zwischen Phantasie und fabrik Rand Corporation in Santa Monica Realität. Der Traumtänzer verschwand und Lehrmeister einer Generation von Strate- faselte von einer Entführung; die Sonne gen, die es in Washington zu Macht und Venedigs raubte ihm angeblich das Au- Einfluß brachten.Wohlstetter arbeitete ge- genlicht, zum Glück stellte es sich bei ei- meinsam mit seiner Ehefrau Roberta über- ner Lourdes-Wallfahrt wieder ein. Den wiegend für die US-Regierung, von der er früheren Außenminister Mitterrands, Ro- sich aber wohlweislich nie anstellen ließ. land Dumas, beschuldigte der Egomane, Albert Wohlstetter starb am 9. Januar in seine Ermordung in Auftrag gegeben zu Los Angeles.

194 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Bill Clinton, 50, als Womanizer in Ver- dacht stehender US-Präsident, beugte sich dem Wettbewerb der Schönsten im Lande. Am 5. Februar sollte und wollte der Re- gierungschef seine auch vom TV ausge- strahlte Rede zur Lage der Nation vor den beiden Häusern des Kongresses halten. Doch der Sender CBS gab kund, an diesem Abend übertrage er – und sei auch ver- traglich gebunden – die Wahl der Schön- heitskönigin Miss USA 1997. Der Präsident müsse an einem ande- ren Tag seine State-of- the-Union-Rede hal- ten, oder man nehme ihn ganz aus dem Sen- deplan. Präsidenten- würde hin, TV-Präsenz her – das Weiße Haus dachte nach und plante um, die Große Rede des Präsidenten findet jetzt am 4. Februar

P. SULLIVAN / AP SULLIVAN P. statt. Höhnte das US- Miss USA 1996 Magazin time: „Oh, Mr. McCurry (Sprecher des Präsidenten)! Hatten Sie Angst, Clin- ton könnte Zuschauer verlieren, oder woll- te sich der Präsident gar den Schönheits- wettbewerb nicht entgehen lassen?“ PHOTO SELECTION, PA / DPA SELECTION, PA PHOTO ALL-ACTION / INTER-TOPICS ALL-ACTION Jérôme Baboulène, 51, Chef einer fran- Popgruppe Spice Girls, Westwood, Sex-Pistols-Bassist Sid Vicious zösischen Werbeagentur, ließ sich in einer Werbekampagne für ein Spiel der heimi- Vivienne Westwood, 55, britische Modedesignerin und einstige Queen des Punk, schen Lottogesellschaft von seiner politi- die ihr Publikum mit schrillen Entwürfen und dem Bekenntnis erfreut, nie einen Slip schen Vergangenheit inspirieren. Das ehe- zu tragen, geriert sich derzeit als Hüterin der Moral. In einem TV-Interview be- malige Mitglied einer maoistischen Spon- schimpfte die Designerin, die einst die Punkband Sex Pistols mit Hundehalsbändern, tigruppe wirbt mit Stalin und Mao für das Ketten und zerfetzter Kleidung ausstattete, die britische Mädchen- und Erfolgsband Lotto-Spiel „Monopoly“. Den beiden Säu- Spice Girls („Wannabe“): „Diese Spice Girls haben nie eine Erziehung genossen, sie lenheiligen des Kommunismus, die auf Pla- durften aufwachsen wie die Tiere. Sie tragen scheußliche Kleidung, sehen scheuß- katen „Monopoly“-Karten in der Hand lich aus und haben keinen Stil.“ Kurzum: Westwood, die anderthalb Jahrzehnte das halten, legt Alt-68er Baboulène Sprüche Erscheinungsbild der Punkgeneration mitbestimmte und im vergangenen Sommer mit durchaus vertrautem Klang in den ernsthafte Aussicht auf die prestigereiche Position einer Chefdesignerin des Hauses Mund: „Der Sieg steht am Ende des Krat- Dior hatte, ist abgestoßen von der Art, wie die Gruppe auf Mädchen wirkt, die kaum zens“ (Mao), oder „Kratzen ist die strah- älter sind als zehn: „Was die Leute da verkaufen, ist widerliches Benehmen als Le- lende Zukunft des Menschen“ (Stalin). Je- bensstil. Die Menschen sollten empört sein. Ich bin moralisch empört.“ ner Spieler gewinnt, ähnlich wie beim deutschen Rubbeln, der eine bestimmte Nummer auf der Spielkarte freikratzt. Ba- Spiel spielt“, was wohl den französischen söhnungserklärung eingesetzt hatten, fan- boulène glaubt an die Werbewirksamkeit Kleinbürger zum Loskauf animieren mag. den mit ihren Begleit-Wünschen beim seines Humors. Da sei einmal „der kom- Andererseits sei seine Werbung auch ein Kanzler kein Gehör. Nur Außenminister munistische Führer, der ein kapitalistisches „Augenzwinkern“ Richtung linke Szene: Kinkel darf mitfahren. Vor Mitarbeitern „Viele Ex-Maoisten haben heu- spottete Kohl, der selbst das Projekt der te Schuldgefühle wegen ihrer deutsch-tschechischen Aussöhnung lange politischen Vergangenheit und schleifen ließ: „Ein ganzes Reiseunter- reden darüber lieber nicht. Die- nehmen“ habe sich angeboten, aber er ses Tabu will ich brechen.“ wolle niemanden mitnehmen, „denn was bringt mir das?“ Auf wird Helmut Kohl, 66, Bundeskanz- er trotzdem treffen, sie fährt auch ohne ler, beging mal wieder eine Kanzler-Hilfe zur Zeichnungszeremonie seiner Stillosigkeiten. Nach nach Prag. Prag zur Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Erklä- Jacques Santer, 59, Präsident der Eu- rung will er ohne Parlamen- ropäischen Kommission aus Luxemburg, tarier fahren. Antje Vollmer, gab sich als bedingungsloser Anhänger der Günter Verheugen, Burkhard Wissenschaftsgläubigkeit zu erkennen.Vor Hirsch und viele andere Ab- einem Untersuchungsausschuß wies der geordnete, die sich intensiv für Kommissionschef den Vorwurf von Euro- Französische „Monopoly“-Werbung das Zustandekommen der Ver- pa-Abgeordneten zurück, die EU-Kom-

196 der spiegel 4/1997 mission habe im BSE-Skandal die Auf- gestuft. Ein konservatives Unterhausmit- rechterhaltung des Rindfleischmarktes glied aus dem Verteidigungsausschuß, über den Gesundheitsschutz der Bevölke- Peter Viggers, hält die Anti-Minen-Aktivi- rung gestellt. Seit seinem Amtsantritt im stin für „schlecht informiert“. Die Sache Januar 1995 und auch später bei der Locke- mit den Landminen sei „zu wichtig und rung des Ausfuhrverbots für Gelatine, Rin- zu kompliziert“, da helfe es nicht, „sich dertalg und Bullensamen aus Großbritan- einfach hinzustellen und auf Amputierte nien habe er sich stets an die Empfehlun- zu zeigen und zu sagen, wie schrecklich gen der Wissenschaftler gehalten. „Ich das alles ist“. Er fühle sich erinnert „an Bri- habe allergrößten Respekt vor Wissen- gitte Bardot und ihre Robbenbabys“. schaftlern“, so der Absol- vent der Pariser Elite- anstalt „Institut d’Etudes Politiques“„meine Frau ist auch Wissenschaftlerin.“

Prinzessin Diana, 35, bri- tisches Scheidungsopfer, nervt mit ihrer Aktion ge- gen die weltweite Verbrei- tung von Landminen Lob- byisten der britischen Waf- fenindustrie. Im ehemaligen Bürgerkriegsland Angola besuchte die als Morali- stin noch nicht überall be- kannte Prinzessin nicht nur beinamputierte Opfer von Landminen. Sie durchschritt Waigel-Karikatur aus bild am sonntag überdies, angetan mit Split- terweste und Plastik-Visier, ein Minenfeld Konstantin Waigel, 20 Monate alt und mit gekennzeichneten Fundstellen noch Sohn des Bundesfinanzministers, ist ein nicht entschärfter Explosivkörper. „Alles Fan seines Vaters. Bei der gemeinsamen was ich will, ist helfen“, erklärte sie Re- Durchsicht der Sonntagszeitungen freute portern ihre Unterstützung für das Anti- sich der Kleine am vorigen Sonntag laut- Landminen-Programm des Roten Kreuzes. hals über die Darstellung der Regierungs- Ein namentlich nicht genannter konserva- kunst von Theo Waigel. Karikaturist Karl- tiver Minister hat nach britischen Zei- Heinz Schoenfeld hatte den Finanzminister tungsberichten unterdessen die Reise in als Räuber im „Rentensteuer-Wald“ ge- das ferne Land als „schlecht beraten“ de- zeichnet. Mit Keule bewaffnet, wartet der nunziert und die Prinzessin in die Ge- CSU-Chef gleich in dreifacher Ausferti- fahrenklasse einer „losgerissenen, auf gung hinter Bäumen auf ein Rentner-Ehe- Deck herumschlingernden Kanone“ ein- paar. Konstantin Waigel begeistert: „Da: Papa, da: Papa, da: Papa.“

David de Mayo, 64, israelischer Archi- tekt, gewann mit seinem Entwurf die Ausschreibung um die vermutlich größte Jesus-Statue der Welt. Das gigantische Monument soll aus drei Titan-Säulen bestehen. Darauf ruht eine durchsichtige Kugel mit einem Durchmesser von rund zehn Metern, die den Kopf Jesu symbo- lisiert. Das Bauwerk wird doppelt so hoch sein wie der Jesus in Rio de Janei- ro und die Höhe der New Yorker Frei- heitsstatue nur knapp verfehlen. Das auf 23 Millionen Mark geschätzte Projekt wur- de von dem italienischen Priester Luigi Ferlauto in Auftrag gegeben, der seit 30 Jahren in dem sizilianischen Ort Troina ein Heim für autistische Kinder leitet. Den Werkstoff Titan habe er gewählt, so der Architekt, „als ein Symbol der Ewigkeit“. „Wenn die christliche Gemeinschaft sich an junge Menschen wenden wolle“, inter- pretiert Mayo seinen Entwurf, „dann muß sie moderne Dinge vorzeigen. Ich habe

REX FEATURES mich dabei bemüht, meine eigenen An- Prinzessin Diana im Minenfeld sichten beiseite zu lassen.“

der spiegel 4/1997 197 Fernsehen

Montag, 20. Januar prächtige Laune: Der italienische Gau liegt in purer Bilderbuchschönheit vor Augen, 13.00 – 14.00 UHR SAT 1 zum Park frisiert, zum Arkadien, über dem ewig der Himmel blaut. Und Shakespeares Sonja Stück blüht als Freilichtaufführung: die „Sex im Freien – Du verlangst zuviel von Damen in fließenden Leinengewändern, mir.“ Amor kommt schließlich nicht von die Herren in schmucken Uniformen der Ameise. leichten Kavallerie, Abteilung Operette, durchsonnt und gesund, und das ganze ru- 16.00 – 17.00 UHR RTL stikale Dekor wie von Laura Ashley. Da läuft eine Shakespeare-Komödie wie am Hans Meiser Schnürchen, und über die tieferen Tiefen „Veruschka, Kim & Co. – Die etwas ande- hüpft man leichtfüßig hinweg (USA/Groß- re Erotik“. Da kimmt Co. britannien 1993).

20.45 – 22.30 UHR ARTE 23.00 – 0.45 UHR MDR Viel Lärm um Nichts Jenseits der Wolken Diese Toskana-Fraktion, das britische Star- Ausgesucht schöne Frauen, die sich in paar Emma Thompson und Kenneth Bra- ihren Zimmern langsam entkleiden, sich nagh, dazu amerikanische Freunde, hat aufs Bett zurücksinken lassen und umar-

mungsbereit räkeln; und ausgesucht ernste CINETEXT Männer, die noch einen empfindsamen Au- Perez, Ines Sastre in „Jenseits der Wolken“ genblick lang darüber nachzusinnen schei- nen, ob nicht weniger mehr wäre. Immer gesetzt. Wim Wenders mit seiner fürsorg- ist die Frau die Wartende, und der Mann lichen Engelsgeduld hat Antonioni wäh- kommt und geht; immer steht die Frau rend der Dreharbeiten betreut und sich noch nackt und bettwarm am Fenster und um die Abrundung des Werkes geküm- winkt, wenn der Mann schon gestiefelt und mert: Von Wenders stammt eine Erzähler- gespornt in die Welt hinausschreitet, die figur, die durch die Nebelschwaden stapft, von ihm Taten erwartet. Freundliche Um- wenn sich die Antonioni-Geschöpfe ver- stände haben ermöglicht, daß Michelan- flüchtigt haben – und davon raunt, daß gelo Antonioni 1995 als 82jähriger noch hinter den Bildern immer noch andere Bil- einmal ein Filmprojekt verwirklichen der seien und erst dahinter die wahrhaften konnte. Er hat (ausgehend von Situatio- Bilder, die nie jemand sehen wird. nen aus seinem kleinen Erzählungsband „Bowling am Tiber“) mit prominenten 0.30 – 1.25 UHR ZDF Darstellern – Sophie Marceau und John Malkovich, Fanny Ardant und Peter Wel- Geschichten von Liebe und Tod ler, Irène Jacob und Vincent Perez, dazu als Porträt des großen polnischen „Dekalog“-

IMPRESS Gäste Jeanne Moreau und Marcello Ma- Regisseurs Krzysztof Kieslowski (1941 bis „Viel Lärm um Nichts“-Szene stroianni – vier Liebesepisoden in Szene 1996). Siehe auch Sonntag.

Dienstag, 21. Januar 20.15 – 21.00 UHR ZDF 14.00 – 15.00 UHR RTL Hitlers Helfer Historische Reihe von Guido Knopp. Heu- Bärbel Schäfer te: Heinrich Himmler. Siehe Seite 173. „Ich hasse Hunde“. Es gibt haufenweise Argumente. 23.00 – 1.00 UHR NORD III

20.15 – 23.10 UHR KABEL 1 Dreckige Hunde Sender avisierten diesen US-Film (1977, Flammendes Inferno Regie: Karel Reisz) als „psychologisch fun- Ein 135 Stockwerke hoher Wolkenkratzer dierten Antikriegsfilm und ein spannen- gerät während des feierlich begangenen des suggestives Gangsterdrama“. Der Eröffnungsabends aufgrund unzureichen- Kriegsberichterstatter John Converse der elektrischer Installation in Brand. In (Michael Moriarty) hat jahrelang das In- dem 20-Millionen-Dollar-Schauerstück ferno des Dschungelkrieges in Vietnam er-

(USA 1974, Regie: John Guillermin) kom- lebt. Nun, da er seinen Dienst quittiert, TELEBUNK men einige der Premierengäste um, unter hält er es für recht und billig, an dem Weld, Nolte in „Dreckige Hunde“ ihnen ein sündiges Liebespaar und der für schmutzigen Krieg mitzuverdienen. Er die Pfuscharbeit Verantwortliche. Zwei ve- überredet seinen Freund, den Handelsma- Aber auch die Gangster Danskin (Richard ritable Helden, Steve McQueen als Ober- trosen Ray Hicks (Nick Nolte), für 2000 Masur) und Smitty (Ray Sharkey) haben feuerwehrmeister und Paul Newman als Dollar ein Kilo Heroin in die USA zu von dem Deal Wind bekommen.Am Ende Architekt, verhindern das Schlimmste. In schmuggeln. In San Francisco trifft er sich eines langen Hin und Her macht John das einer prägnanten Nebenrolle als Hoch- mit Johns Frau Marge (Tuesday Weld), die Heroinpaket auf und überläßt den Schnee stapler: Fred Astaire. die heiße Ware in Empfang nehmen soll. dem Wüstenwind.

198 der spiegel 4/1997 20. bis 26. Januar 1997

Mittwoch, 22. Januar 22.15 – 23.00 UHR ZDF thentischen Fall folgt, läßt sich sagen, daß sie die Zuwendung des schüchternen La- 20.15 – 21.40 UHR ARD Kennzeichen D tin Lover namens Jorge (Vladimir Vega), Themen: Dicke Luft – Richtungsstreit in der sie am Tresen anspricht, nur zu sehr Kopfjagd der Koalition / Tigerkrallen – deutsche brauchen kann, denn sie ist randvoll mit Eine toughe Headhunterin (Valentine Va- Geschäfte mit der burmesischen Junta / Haß, Schmerz, Verzweiflung: Die Fürsor- rela) jagt einem japanischen Spitzenma- Zweiklassenmedizin – guter Rat wird ge hat ihr, da sie nach einem Gerichtsur- nager hinterher, um ihn abzuwerben. Doch teuer / Zone ohne Schutz – Saddams teil als untaugliche Mutter gilt, ihre vier ein schrulliger Meeresbiologe (Max Tidof) langer Schatten. Kinder weggenommen. Später, im Fort- kommt ihr als Herzensbrecher in die Que- gang ihrer Liebesgeschichte mit Jorge, re. Zum Ende dieser turbulenten deutsch- 0.05 – 1.45 UHR BAYERN III werden ihr zwei weitere Kinder jeweils französischen TV-Komödie (Regie: Eric kurz nach der Geburt von Polizisten über- Civanyan) ist die Kopfjägerin in lauter Ladybird, Ladybird fallartig aus den Armen gerissen: So erlebt Fallgruben gestolpert: Der angeblich so Spielfilm von Ken Loach (Großbritannien Maggie den Wohlfahrtsstaat, der immer trottelige Meeresmann entpuppt sich als 1994). Über die Filmheldin Maggie (Cris- vorgibt, es nur gut zu meinen, nur als ganz schön fiese Qualle. sy Rock), deren Geschichte einem au- Institution der Gewalt.

Donnerstag, 23. Januar mals 13jährigen Gérald Thomassin als Hauptdarstellern, erinnert an Truffauts 20.15 – 21.50 UHR 3SAT „Sie küßten und sie schlugen ihn“, aber die Der kleine Gangster Zeiten sind härter geworden. Der kleine Gérald, Schulschwänzer, Streu- 0.35 – 2.15 UHR ZDF ner, Gelegenheitsdieb, erfährt eines Tages, daß er eine ältere Schwester hat, von der Marco Terzi gibt nicht auf er nichts wußte. Sie zu finden wird ihm zur Michele Placido, der als Commissario al- fixen Idee, weg von der ewig betrunkenen lein gegen die Mafia focht und sein Ende Mutter. Er verschafft sich einen Revolver fand, geht auch hier für das Gute in die und nimmt einen Polizisten als Geisel, der Schlacht. In Mario Risis 1988 entstande- ihn mit dem Dienstwagen ans Ziel bringen nem Film – er bekam ein Jahr später in

soll. Aus dem kleinen Anlaß entwickelte TELEBUNK Montreal den „Grand Prix spécial du jury“ der französische Regisseur Jacques Doil- Thomassin, Anconina in „Gangster“ – spielt der Star einen Lehrer, der mit un- lon, 52, in seinem Film „Der kleine Gang- konventionellen Mitteln das Mißtrauen ster“ (1990) ein Drama von großer innerer Wahrheit ein Opfer ist, und dem Polizi- überwindet, das ihm die Jugendlichen ei- Spannung, ein raffiniertes Katz-und-Maus- sten, der ihn zu retten versucht. Doillons ner berüchtigten sizilianischen Strafanstalt Spiel zwischen dem kleinen Täter, der in Film, mit Richard Anconina und dem da- entgegenbringen.

Freitag, 24. Januar 20.15 – 22.25 UHR PRO SIEBEN Ein Richter sieht rot Der junge Richter Hardin, gespielt von Michael Douglas, ist deprimiert.Wegen ei- nes Ermittlungsfehlers der Polizei muß er die Mörder eines Jungen laufenlassen und fühlt sich nun an dem blutigen Verbrechen mitschuldig. Da nimmt ihn ein älterer Kol- lege in die „Star-Chamber-Gruppe“ auf, die in geheimer Selbstjustiz über Leben und Tod von Verdächtigen urteilt.

20.45 – 22.15 UHR ARTE ZDF Freier Fall „Freier Fall“-Darsteller Doll, Bierbichler, Stemberger, Tukur Frauen sind gefährlich, besonders wenn sie schreiben. Frau Yvonne Wurlitzer (Birgit Herrn Wurlitzer sind diese Anschuldigun- Vampir“) hat nach dem Roman von Bernd Doll), Gattin des Baudezernenten Edgar gen äußerst mißlich, denn er hat – ange- Sülzer einen TV-Film gedreht, der alles auf Wurlitzer (Josef Bierbichler), bestätigt sol- trunken und ohne Absicht – seine Frau die Dialogkunst setzt. Da ist ein Kammer- che männlichen Ängste: Das Tagebuch, das überfahren. Der Staatsanwalt hält das nach spiel der rhetorischen Volten zu sehen. nach ihrem mysteriösen Tod gefunden dem Fund der Aufzeichnungen für Mord. Doch so sicher und routiniert die illustre wird, enthält schlimme Anschuldigungen So kommt einiges vor Gericht auf die Aus- Darstellerschar agiert, sie kann nicht ver- gegen ihren Mann. Er schlage sie dauernd sage der Frau des befreundeten Architek- hindern, daß sich ein Hauch von Lange- (was nicht stimmt), sei ein Fremdgänger ten März (Julia Stemberger) an. Mit ihr weile über die Szene legt: Görlitz insze- (stimmt) und treibe mit seinem Freund, hatte Wurlitzer ein Verhältnis, sein Freund niert in das Spiel keine bedrohliche At- dem Architekten März (Ulrich Tukur) wußte davon. Autor und Regisseur Chri- mosphäre, sondern vertraut allzusehr der dunkle Geschäfte (was auch zutrifft). Für stian Görlitz („Die Bombe“, „Der kleine Durchschlagskraft von talking heads.

der spiegel 4/1997 199 Fernsehen

Samstag, 25. Januar satz. Western (1966) nach Karl May mit SPIEGEL TV Götz George und Ralf Wolter; Regie: Ha- 20.15 – 21.45 UHR ZDF rald Philipp. DONNERSTAG 22.10 – 22.50 UHR VOX Die Kriminalpsychologin 20.15 – 22.00 UHR PREMIERE Martina Gedeck auf den Spuren des bri- SPIEGEL TV EXTRA tischen Psycho-Darstellers „Fitz“, Robbie OO Schneider – Die Honigfalle Sexspionage Coltrane. Siehe Seite 114. Jagd auf Nihil Baxter Wie der sowjetische Geheimdienst weibliche Agentinnen auf ausländische 20.15 – 21.55 UHR KABEL 1 Blödel-Barde Helge Schneider als Agent, Männer ansetzte. der den Clown-Mörder Nihil Baxter jagt Winnetou und und auch selber spielt (und dazu Regie FREITAG das Halbblut Apanatschi führt): Der zweite Kino-Klamottenstreich 22.00 – 22.30 UHR VOX des Ruhrpott-Entertainers liefert wenig Eine Goldmine, die das Mädchen Apana- an Handlung und einen „Reigen genial SPIEGEL TV INTERVIEW tschi (Uschi Glas in ihrer ersten Kino- verpaßter Gags“ (Fischer Film Almanach) Moulin Rouge hauptrolle) geschenkt bekommt, weckt die – nur für Schneider-Fans. Mit Helmut Seit 1953 ist Doris Haug Chefchoreo- Körschgen und Werner Abrolat. graphin des Moulin Rouge in der fran- zösischen Hauptstadt. Sie gestattet 22.00 – 23.15 UHR RTL Blicke hinter die Kulissen des legen- RTL Samstag Nacht – dären Revuetheaters. 100. Sendung 22.35 – 23.25 UHR VOX Als am 6. November 1993 Wigald Boning, SPIEGEL TV THEMA Olli Dittrich, Mirco Nontschew, Tanja Tierschutz unter Lebensgefahr Schumann, Stefan Jürgens und Esther Undercover-Agenten im Kampf gegen Schweins – bis dahin unbekannte Gesich- den illegalen Handel mit exotischen

CINETEXT ter – zum erstenmal mit „RTL Samstag Tieren. „Winnetou“-Darsteller George, Glas Nacht“ auf Sendung gingen, ahnte nie- mand, daß sich hier ein Fernseh-Goldstück SAMSTAG Gier diverser Banditen. Die Helden Win- entwickelt. Unter Leitung von Ex-„Tutti 21.50 – 23.40 UHR VOX netou (Pierre Brice) und Old Shatterhand Frutti“-Moderator und Executive Producer (Lex Barker) übernehmen die Beschützer- Hugo Egon Balder wurde aus der Come- SPIEGEL TV SPECIAL rolle mit gewaltigem pyrotechnischen Ein- dy-Show eine Kultsendung. Krankheit als Schicksal Dokumentation über Menschen, deren Alltag von nicht therapierbaren Leiden Sonntag, 26. Januar überschattet wird. 19.15 – 20.15 UHR VOX SONNTAG Auf Leben und Tod 22.15 – 22.45 UHR RTL Gemäß dem unerbittlichen Naturgesetz SPIEGEL TV MAGAZIN „Fressen und gefressen werden“ ist fast Aushorchen und abschieben – deut- jede Tierart im komplexen System der sche Behörden gegen russische Deser- Nahrungskette zugleich Jäger und Beute. teure / Wann ist ein Mensch tot? Streit Welche besonderen Fähigkeiten sie für das um das Transplantationsgesetz / Kif- Überleben im Wasser, zu Lande und in der fen auf Rezept – der Hasch-Versuch Luft ausgebildet haben, zeigt die fünfteili- von Schleswig-Holstein. ge BBC-Reihe „Auf Leben und Tod“ in

deutscher Erstausstrahlung. Den Anfang ZDF 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 macht die Dokumentation „Duell in der Binoche in „Drei Farben: Blau“ Tiefe“ der Tierfilmer Joe Kennedy und Ca- SPIEGEL TV REPORTAGE roline Baker über das Jagd- und Tarnver- volutionsidealen Freiheit, Gleichheit und Hitler – Stalin: Der Pakt der Diktatoren halten der Meeresbewohner. Delphine Brüderlichkeit zuordnete, tatsächlich zum Zweiter Teil der französischen Fern- etwa orten ihr Futter per Echolot. Der Abschluß seines Filmschaffens. Das ZDF sehproduktion über die Vorgeschichte Hammerhai lähmt seine Beute durch zeigt nun an drei aufeinanderfolgenden des deutschen Überfalls auf die So- Stromstöße. Sonntagen diese Trilogie. Gleich das Auf- wjetunion 1941. taktwerk war ein Riesenerfolg. „Drei Far- 22.40 – 0.15 UHR ZDF ben: Blau“ wurde 1993 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet. In der Drei Farben: Blau Filmhandlung versucht Julie (Juliette Bi- Seine Ankündigung, er werde keinen Film noche) sich von allen Erinnerungen an die mehr drehen, erfüllte sich auf tragische Vergangenheit zu befreien. Sie hat ihre Weise: Am 13. März 1996 starb Krzysztof kleine Tochter und ihren Mann, einen Kieslowski, 54 Jahre alt, in Warschau an ei- berühmten Komponisten, bei einem Au- nem Herzinfarkt. So wurde seine trium- tounfall verloren. Nun löst sie ihren Besitz phale Trikolore-Trilogie, in der der polni- auf und taucht in die Anonymität unter. sche Regie-Meister die französischen Na- Doch die Musik verbindet sie noch mit tionalfarben Blau, Weiß und Rot den Re- ihrem früheren Leben. Molotow-Dolmetscher V. Bereschkow

200 der spiegel 4/1997 Werbeseite

Werbeseite Hohlspiegel Rückspiegel

Zitat

Die berliner zeitung über die Feier zum 50jährigen Bestehen des spiegel in Bonn:

Aus der dresdner morgenpost So sei das eben, „wenn Macht und Pro- vinzlertum zusammenkommen“, hatte Ru- dolf Augstein vor zwei Monaten im spiegel Aus der stuttgarter zeitung: „Von zwei über die Sitten im Kanzleramt geschrie- Freizeitanglern, die am Sonntag vormittag ben. Damit war alles, was noch unaus- zum Fischen bei Rostock auf die Ostsee ge- gesprochen war zwischen den beiden fahren sind, ist einer mit Sicherheit ums Machtzentralen der Bonner Republik, end- Leben gekommen. Die Leiche wurde am lich draußen. Nun sah Andreas Fritzenköt- Nachmittag tot an den Strand gespült.“ ter, Kohls Medienberater, sich ermächtigt, die letzten Staatsgeheimnisse im kalten Krieg zu lüften. Flugs war der führende Klatschreporter der Rheinprovinz im Bild. Aus der rheinpfalz: „Das tote Tier blieb „Es gab seitens des spiegel den ernsthaf- in den Leitungen hängen und verendete.“ ten Versuch, das verkorkste Verhältnis zu ordnen“, enthüllte Mainhardt Graf Nay- hauß exklusiv. „Das ging so weit, daß Kohl – zwar inoffiziell, aber immerhin – ange- Aus der Zeitschrift reisefieber über die in boten wurde, zum 50jährigen Bestehen des der Südsee gelegenen Solomon-Inseln: „Es Blattes den Festvortrag zu halten.“ Der muß erwähnt werden, daß der Kannibalis- spiegel auf der Schleimspur bei Hofe. Ele- mus durchaus seine positiven Effekte auf ganter hätte das Bonner Machtzentrum das die Entwicklung der Völker dieser Region Friedensangebot nicht abwehren können. hatte. Er zwang die Menschen dazu, erfin- Rauflustig reiste der spiegel dennoch nach derisch zu sein und wirksame Waffen her- Bonn an, um sich – in Sichtweite des Kanz- zustellen.“ leramts – zu 50 Jahren Bestehens zu feiern. Alle aus Medien und Politik von München bis Berlin waren da – bis auf den einen. Und dem, sagt Augstein, solle der Herr... (er sucht blätternd nach dem Namen) ... Fritzenkötter doch bitte „Gruß und Dank sagen, falls er ihn heute noch sieht“. Dann besichtigt ein gebeugter 73jähriger Mann auf dem grünen Lehnstuhl sein Werk, müh- Aus einer Vortragsankündigung der Schles- sam und von langen Pausen unterbrochen. wig-Holsteinischen Universitäts-Gesell- Herzog, Weizsäcker, Schröder, Rühe – lau- schaft, Sektion Kiel ter führende Köpfe der Republik (praktisch alle, bis auf den einen) sitzen reglos lau- schend vor ihm. Augsteins Körper ist hin- fällig; unbefangen stellt er ihn zur Schau, denn er ist sich seines bestechenden Geistes sicher. Erst in 100 Jahren werde man mer- ken, was der Zynismus des spiegel im Land angerichtet habe, zitiert Augstein sei- nen publizistischen Lieblingsgegner From- me von der faz. Und fügt traurig hinzu: „Schade, schade. Das möchte man ja doch noch gern erleben.“ Kanzleramtsvertreter Fritzenkötter verabschiedet sich. Er eilt zur Gegenattacke seines Machtzentrums. Ein- mal im Jahr stellt Kohl sich den Bonner Journalisten im „Presseclub“, und ausge- rechnet jetzt macht er sich gerne frei. Der Aus dem Frühjahrs-Verlagsprogramm von „ewige Kanzler“ wirkt zehnmal so vital Campus wie Augstein. Dafür verströmt der zehnmal soviel Esprit. Wie sehr der spiegel Teil der Bonner Republik sei und daß er mit ihr da- Aus den Stromspar-Tips im Handbuch für hinsieche, stand kürzlich sinngemäß in ei- ein Energiemeßgerät der Firma Conrad nem Aufsatz. Augstein stellt ihn zum Ju- Electronic: „Sehr viel Strom kann na- biläum heraus und bestätigt ihn zur Hälfte türlich eingespart werden, wenn man ei- mit dem Satz, daran sei „so vieles richtig, nen Gasherd benutzt, der zudem sehr daß man kaum merkt, daß alles falsch ist“. komfortabel steuerbar ist, und wenn Ein Abend in Bonn und das Gefühl: Das man das Warmwasser aus einer Gashei- Alte trägt nicht mehr. Aber das Neue mag zung bezieht.“ nur langsam entstehen.

202 der spiegel 4/1997