Dossier

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Einleitung

Nach Jahren des Bürgerkriegs ergriffen im Jahr 1996 die die Macht in Afghanistan. Das Land sollte zu einem Gottesstaat werden: Musik, Sport, Bilder und Fernseher wurden verboten. Die meisten Schulen und Universitäten wurden geschlossen. Frauen konnten sich fortan nur in Ganzkörperverschleierung und männlicher Begleitung auf die Straße wagen. Dem internationalen Terrorismus boten die Taliban einen Unterschlupf: Die Anschläge vom 11. September wurden in Afghanistan geplant. Als Reaktion griffen im Oktober 2001 die USA und Großbritannien das Land an und stürzten gemeinsam mit der Nordallianz das Taliban-Regime. Mehr als 40 Länder beteiligen sich seitdem am Wiederaufbau Afghanistans: Staatliche Strukturen sollen geschaffen, Schulen, Straßen und Krankenhäuser gebaut werden. Deutschland hat versprochen, vor allem beim Aufbau der afghanischen Polizei und Armee zu helfen. Mit rund 3.500 Bundeswehr-Soldaten stellt Deutschland das drittgrößte Kontingent an der Internationalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF). Doch immer wieder erschüttern Anschläge der Taliban das Land. Mit ihrer Terror-Strategie des "Mordens und Zerstörens" wollen sie die afghanische Bevölkerung einschüchtern, im Westen Zweifel am Sinn der Afghanistan-Mission schüren und die Macht im Land zurückerobern.

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Inhaltsverzeichnis

1. Konflikt 4

1.1 Meinung: Afghanistan - wie weiter? 5

1.2 Meinung: Das Ende der Illusionen 10

1.3 Konfliktporträt 14

1.4 Taliban 24

1.5 Afghanistan unter dem Terror der Taliban 29

1.6 Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan 36

2. Geschichte 45

2.1 Afghanistan im 19. und 20. Jahrhundert 46

2.2 Mittelalter und Neuzeit 50

2.3 Frühgeschichte und Antike 54

3. Deutschland und Afghanistan 58

3.1 Deutschlands Engagement in Afghanistan 59

3.2 Kriegsähnliche Zustände 63

4. Aufbau und Reformen 66

4.1 Zu wenig, reichlich spät - Stabilisierungsmaßnahmen in Afghanistan zwischen Terrorismus- 67 und Aufstandsbekämpfung

4.2 "Ein Rechtsstaat besteht neben Gesetzen auch aus einer gewachsenen Rechtskultur" 74

4.3 Fragil und umkämpft - Frauenrechte im neuen Afghanistan 77

5. Afghanistan im internationalen Kontext 84

5.1 , seine Stammesgebiete und der Afghanistan-Krieg 85

5.2 Das Engagement der arabischen Staaten 92

6. Das Land in Daten 99

7. Redaktion 101

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Konflikt

19.6.2012

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Meinung: Afghanistan - wie weiter?

Von Jochen Hippler 21.4.2016 PD Dr. Jochen Hippler arbeitet als Politikwissenschaftler und Friedensforscher am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen.

Jochen Hippler meint: Die stärkste Militärmacht der Welt hat den Krieg gegen vielleicht 35.000 schlecht bewaffnete Kämpfer politisch verloren. Die Ursachen lägen in den komplexen Machtverhältnissen in der afghanischen Gesellschaft und dem mangelnden Verständnis der NATO für den Charakter des Krieges am Hindukusch.

Afghanische Sicherheitskräfte inspizieren einen Checkpoint der Polizei nach einem Selbstmordanschlag am 20. September 2015 in der Nähe von . (© picture-alliance/AP)

Die Sowjetunion hatte ihr Scheitern in Afghanistan nach weniger als einem Jahrzehnt durch ihren Truppenabzug 1988/1989 eingestanden – die NATO ist nach mehr als 15 Jahren immer noch nicht so weit. Dabei sind die USA und ihre Verbündeten mit ihrer im Herbst 2001 begonnenen Militärintervention ebenso grandios gescheitert wie zuvor die UdSSR. Vom Anspruch der Sowjetunion, den Afghanen den Fortschritt und vielleicht sogar den Sozialismus zu bringen, ist ebenso wenig übriggeblieben wie vom Ziel der westlichen Länder, "demokratische Staatlichkeit" durch eine militärische Intervention zu verwirklichen. In beiden Fällen haben militärisch und technisch turmhoch überlegene externe Akteure gegen schlecht ausgerüstete einheimische Kämpfer einen teuren Krieg verloren.

Es gibt noch eine weitere Parallele: Wie schon die Sowjetunion haben auch die NATO und ihre Mitgliedsländer den Krieg primär politisch und nicht militärisch verloren. Die Gründe sind sowohl in

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 6 objektiven Faktoren – vor allem dem Charakter der afghanischen Gesellschaft – als auch in subjektivem Unvermögen zu suchen. Wie konnte das geschehen, und was bedeutet das für die Zukunft Afghanistans und der westlichen und insbesondere der deutschen Afghanistanpolitik?

Der Westen hatte keine Strategie

Es gab seitens des Westens nie wirklich eine kohärente Strategie und Politik des Aufbaus demokratischer Staatlichkeit, trotz aller anderslautender Rhetorik und allem siegesgewissem Selbstbetrug. Die NATO hat den Charakter des Krieges in Afghanistan von Anfang an nicht verstanden. Zuerst glaubte man, die immensen Probleme ignorieren zu können und mit wenigen Tausend Soldaten zurechtzukommen. – Man hatte Afghanistan ja befreit und die Afghanen waren zunächst tatsächlich dankbar. Als dann die Sicherheitslage immer schlechter wurde, versuchten es die USA und die NATO mit Repression, die – so die Aussage beteiligter britischer Soldaten – mit der Überbetonung militärischer Feuerkraft an das gescheiterte Vorgehen der Sowjetunion erinnerte.

Als dieser Ansatz erfolglos blieb, ging man 2009/2010 zu einer Politik der "Aufstandsbekämpfung" (Counterinsurgency) über. Das stellte zwar konzeptionell einen gewissen Fortschritt dar: Man hatte nun zumindest verstanden, dass durch bloße Maximierung und Optimierung der Gewaltanwendung der Krieg nicht zu gewinnen war. Doch schafften es die politischen und militärischen Verantwortlichen nicht, sich aus dem selbst gebauten Gefängnis der Missverständnisse zu befreien: Die NATO glaubte und glaubt zum Teil noch heute daran, dass sich in Afghanistan eine zwar problematische, aber doch unterstützenswerte legitime Regierung und eine Phalanx irrationaler islamistischer Fanatiker unter Führung der Taliban gegenüberstehen.

Mächtige private Akteure handeln auf eigene Rechnung

Dieses Schwarz-Weiß-Schema trifft die Realität Afghanistans allerdings kaum: "Regierung" und "Staat" – soweit diese außerhalb der Städte überhaupt existieren – sind oft von Akteuren "privatisiert" worden, die auf eigene Rechnung handeln. Lokale Kommandeure, Warlords, Drogenbosse, Stammesführer und andere Mächtige kontrollieren in vielen Distrikten, Provinzen und zum Teil sogar auf der Ebene des Zentralstaates viele staatliche Organe. Sie sind selbst Polizeichefs oder Gouverneure und betreiben eine Personalpolitik, die ihre Klientel bevorzugt und Gegner marginalisiert. Die Organe des Zentralstaates – vor allem Polizeikräfte und Justizwesen – werden deshalb in weiten Landesteilen für eine schlimmere Plage gehalten als kriminelle Banden oder Aufständische. Und diese Haltung zwischen Skepsis und Ablehnung besteht zu Recht. Wenn hier die NATO als Unterstützer solcher räuberischer, teilprivater "Staatsorgane" auftritt, macht sie sich unglaubwürdig und verliert den Nimbus des Befreiers und Sicherheitsgaranten.

Auch besteht die Gegenseite nicht einfach aus "den Taliban" (oder "den Aufständischen"). In vielen Provinzen gibt es seit Jahrzehnten Spannungen und gewaltsame Auseinandersetzungen, in die zahlreiche gesellschaftliche Gruppen involviert sind. Tribale oder subtribale, ethnische, soziale und andere Gruppen konkurrieren um knappe Ressourcen – um Land, Wasser, , Staatsämter, Korruptionsmöglichkeiten und anderes. Wegen der Schwäche und des kläglichen Charakters des Staates auf dem Lande nehmen lokale Gemeinschaften die Herstellung oder Bewahrung von "Sicherheit" in die eigenen Hände und zwar sowohl gegen konkurrierende Gruppen als auch gegen räuberische "Staatsorgane".

In solchen Fällen wurden die lokalen Gemeinschaften oft als "Taliban" diskreditiert und durch die Angriffe von NATO-Einheiten erst in die Arme der Aufständischen getrieben. Häufig riefen lokale Gemeinschaften dann tatsächliche Taliban oder andere bewaffnete Gruppen zu Hilfe, wenn sie befürchteten, dass die Regierungsorgane oder NATO-Einheiten gegen ihre Mohnfelder oder andere Interessen vorgehen oder lokale Konkurrenten begünstigen könnten. Gleichzeitig blieben die Anbaugebiete und Interessen von "regierungsnahen" Gemeinschaften (also den lokalen Mächtigen) unangetastet.

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Eine tiefe Kluft zwischen Demokratisierungsrhetorik und Realpolitik

Ein weiterer strategischer Grund für das Scheitern des Westens in Afghanistan ist die tiefe Kluft zwischen Demokratisierungs- und Entwicklungsrhetorik auf der einen Seite und sicherheitspolitischer Realpolitik auf der anderen Seite. Immer wenn die sicherheitspolitischen Eigeninteressen und die Stärkung demokratischer Staatlichkeit kollidierten – und das war fast immer der Fall – entschieden sich die USA und die NATO-Staaten für die Wahrnehmung der eigenen Interessen – auch auf Kosten der Schwächung des afghanischen Staates. So haben die US-Special Operations Forces einheimische Warlords bezahlt, bewaffnet und instrumentalisiert, wenn es nützlich schien (also ständig), obwohl genau diese ein ebenso ernstes Hindernis beim Aufbau demokratischer Staatlichkeit darstellten (und darstellen) wie die Taliban. Heute ist der afghanische Staatsapparat auf allen Ebenen von kriminellen und räuberischen Strukturen zerfressen, von der lokalen Polizei bis in höchste Staatsämter.

Und in vielen Fällen haben NATO-Einheiten – voran das US-Militär und ihre Special Forces – in der Bevölkerung diskreditierte Warlords (z.B. Shirzai in Kandahar) erst wieder mächtig gemacht und sogar mit Staatsämtern versorgt. In anderen Fällen haben sie dabei zugesehen, wenn die afghanische Regierung dies tat. Tolerierte Wahlfälschung und der Ausbau Afghanistans zu einem Narco-Staat kommen dazu – alles trotz wiederholter Proteste durchgewinkt, um den "Kampf gegen die Taliban" nicht zu stören. Dies ist am Ende eine der zentralen Ursachen, warum die Befriedung und Entwicklung Afghanistans politisch scheiterte und der Krieg verloren ging. Der Aufbau demokratischer Staatlichkeit blieb eine Schimäre – wichtig für die Legitimation des Krieges, aber vor Ort kaum erkennbar.

Reale Chancen wurden vertan

Der Afghanistankrieg war (und ist) nicht in erster Linie eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei (oder einer überschaubaren Zahl von) Konfliktparteien, die militärisch entschieden werden könnte. Es handelte sich – wie oben erläutert – vielmehr um ein ganzes Bündel von politischen, sozialen und kulturellen Konflikten, in denen die gewaltsame Austragungsform nur eine unter vielen Dimensionen darstellt.

Nach dem Sturz der Taliban hat die strategische Herausforderung des Westens darin bestanden, den Aufbau eines legitimen Staates und einer funktionierenden Verwaltung zu unterstützen und zu begleiten. In den ersten zwei oder drei Jahren hat es dazu vermutlich sogar eine Chance gegeben. Doch anstatt die schlimmsten und verhasstesten Warlords, Kriegsverbrecher und Drogenbosse von der Macht fernzuhalten und vor Gericht zu stellen, versuchte der Westen, sich deren Unterstützung dadurch zu erkaufen, dass er ihnen Schlüsselpositionen, Waffen und Geld zukommen ließ. Dadurch wurden alle Anstrengungen zum Aufbau eines neuen, post-Taliban Staates torpediert, der das Vertrauen der Bevölkerung hätte gewinnen können.

Der politische Kern des Konflikts

Es ist natürlich nicht sicher, ob der NATO und den westlichen Ländern, einschließlich der zivilen Akteure, ein solcher Erfolg tatsächlich möglich gewesen wäre, aber auf jeden Fall machte die massive Betonung der Sicherheitspolitik auf Kosten des Aufbaus legitimer Staatlichkeit diese Chance zunichte. Diesen politischen Kern des Konflikts haben die westlichen Akteure zwar gelegentlich rhetorisch beschworen, aber nie ins Zentrum ihrer Analyse und der daraus abgeleiteten Politik gestellt. Damit aber war der Krieg nicht zu gewinnen. Schon Clausewitz hat darauf hingewiesen, dass man den Charakter eines Krieges verstehen muss, um ihn für sich entscheiden zu können. Und der Afghanistankrieg war und ist im Kern eine politische Auseinandersetzung - genau deshalb war die überwältigende militärische Überlegenheit der NATO über die Taliban nicht kriegsentscheidend. Den Krieg wird letztlich derjenige gewinnen, der von der Bevölkerung als das kleinere Übel akzeptiert wird.

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Für die Zukunft Afghanistans bedeutet dies nichts Gutes. Die Wiederaufstockung der militärischen Präsenz der NATO in Afghanistan – der "Rückzug vom Rückzug" – eröffnet weder eine militärische noch eine politische Lösungsperspektive. Sie hilft zwar, akute sicherheitspolitische Löcher zu stopfen, bietet aber keine Aussicht auf einen "Sieg", den der Westen in der Vergangenheit schon mit weit mehr Truppen nicht erringen konnte. Zugleich spricht nichts dafür, dass der Aufbau einer legitimen und effektiven Staatlichkeit gelingen könnte, nachdem sich die westlichen Verantwortlichen so lange bei weit höherem Mitteleinsatz mit der Etablierung eines "potemkinschen Staates" zufriedengegeben haben, der weder funktionsfähig noch legitim war und ist. Die bisherige Bilanz der von internen Rivalitäten gelähmten Koalitionsregierung unter Präsident Ghani – z.B. eine weiter um sich greifende Korruption – gibt keinerlei Anlass zu Optimismus.

Auch eine Verhandlungslösung mit "den Taliban" erscheint wenig aussichtsreich. Die meisten Gruppen der Aufständischen glauben, eine solche nicht mehr nötig zu haben. Wie soll die Regierung denn ohne NATO-Unterstützung siegen können, wenn ihr dies mit der NATO nicht gelungen ist? Es dürfte zwar weiter zu Gesprächen oder gar Verhandlungen mit einigen Gruppen kommen, aber eine Friedenslösung wird es so nicht geben. Das wahrscheinlichste Szenario besteht heute nicht im militärischen Sieg einer Seite, sondern in der Aussicht, dass sich die Regierungsseite bei abnehmender westlicher militärischer und finanzieller Unterstützung fragmentieren könnte – auch eine weitere Aufspaltung der Aufständischen erscheint möglich. Das erinnert an das Schicksal der Regierung von Präsident Najibullah, die nie militärisch geschlagen wurde, aber ihre politische Basis verlor, als die Sowjetunion nach ihrem Rückzug 1989 ihre Alimentierung einstellte.

Literatur

Hippler, Jochen(2010): Die neue Afghanistan-Strategie der Regierung Obama, in: Fröhlich, Christiane / Johannsen, Margret /Schoch, Bruno /Heinemann-Grüder, Andreas /Hippler, Hippler (Hrsg.): Friedensgutachten 2010, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), u.a., Münster 2010, S. 63-75. (http://www.jochenhippler.de/html/surge-_aufstandsbekampfung_und_exit_-_afghanistanstrategie_unter. html)

Hippler, Jochen (2011): Versöhnung und Reintegration: Mittel zum Frieden mit den Taliban? In: Deutsche Stiftung Friedensforschung (2010): Mit Hamas und Taliban an den Verhandlungstisch? – Möglichkeiten und Grenzen der Einbindung von Gewaltakteuren in Friedensprozesse. Beiträge zum Parlamentarischen Abend der DSF am 28. September 2010 in Berlin, Osnabrück 2011, S. 16-26. (http://www.jochenhippler.de/html/versohnung_und_reintegration-_frieden_mit_den_taliban-.html)

Hippler, Jochen (2011): Strategische Grundprobleme externer politischer und militärischer Intervention – unter besonderer Berücksichtigung der Krisensituationen des Nahen und Mittleren Ostens, INEF-Report 103, Duisburg 2011. (http://www.jochenhippler.de/html/strategische_probleme.html)

Abbas, Hassan (2014): The Taliban Revival - Violence and Extremism on the Pakistan-Afghanistan Frontier, New Haven, CT: Yale University Press.

Dorronsoro, Gilles (2000): Revolution Unending – Afghanistan: 1979 to the Present, London: C Hurst & Co Publishers.

Martin, Mike (2014): An Intimate War – An Oral History of the Helmand Conflict, London.

Dodge, Toby/ Redman, Nicholas (Hrsg.) (2011): Afghanistan to 2015 and Beyond, London.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

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Meinung: Das Ende der Illusionen

Von Hans-Georg Ehrhart 21.4.2016 Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Mitglied der Geschäftsführung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Leiter des Zentrums für Friedens- und Sicherheitsstudien am IFSH.

In Afghanistan ist die westliche Politik des militärisch gestützten Staatsaufbaus gescheitert, die Taliban sind auf dem Vormarsch, so Hans-Georg Ehrhart. Mit einer erneuten Verstärkung seines Engagements versuche der Westen, das Kräfteverhältnis zugunsten der Regierung zu beeinflussen und so eine Verhandlungslösung mit den Aufständischen zu fördern.

Auf der Bonner Afghanistan-Konferenz am 5. Dezember 2011 wurde der Übergang von der Phase der Transition, die 2014 offiziell endete, zu einer neuen, bis 2024 laufenden Dekade der Transformation bekräftigt. Die in Bonn versammelte internationale Gemeinschaft lobte das Erreichte und versprach weitere Unterstützung des Landes im Rahmen einer erneuerten Partnerschaft. Seitdem zog die internationale Koalition die meisten ihrer über 100.000 Kampftruppen ab. Lediglich 13.000 Mann blieben vor Ort (davon ca. 10.00 US-Truppen). Ihr Engagement konzentriert sich seitdem vornehmlich auf die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) und auf die Reform des Sicherheitssektors.

Parallel zum Abzug erstarkten die Aufständischen, mit der Folge, dass die USA und ihre Partner ihr militärisches Engagement 2015 wieder etwas verstärken mussten, einschließlich vermehrter Einsätze von Spezialkräften. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen (UNAMA) meldet eine Zunahme der Aktivitäten der Aufständischen und eine Rekordhöhe ziviler Opfer. Die Aufständischen errangen unerwartete militärische Erfolge wie z.B. die Eroberung von Kundus Ende September 2015. Die US-Militärs vor Ort konzedierten, dass die ANSF noch nicht in der Lage seien, völlig selbstständig zu operieren. Korruption, hohe Verluste und eine unfähige Regierung zehren an der Moral der ANSF.

Legt man US-amerikanische Erfolgsindikatoren der bisherigen Aufstandsbekämpfung zugrunde, so sieht die Lage ziemlich trostlos aus:

• Der allgemeine Trend im Bereich "gute Regierungsführung" ist weiterhin negativ. Auch die neue, 2014 gebildete Regierung der nationalen Einheit wird der Korruption nicht Herr, die staatlichen Institutionen funktionieren immer noch nicht wie erhofft.

• Der Aufbau verlässlicher Sicherheitsstrukturen ist mit vielen Fragezeichen behaftet. Sie reichen von der mangelhaften Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Sicherheitskräfte bis hin zu Zweifeln an der Finanzierbarkeit und der demokratischen Kontrolle eines großen Teils des Sicherheitsapparats.

• Die Unterstützung der Aufständischen durch externe Kräfte (v.a. Pakistan) hält an. Mittlerweile ist auch der sogenannte Islamische Staat in Afghanistan präsent. Es scheint kaum möglich, diese Aktivitäten dauerhaft zu unterbinden.

• Das Gleiche gilt für die Verfügbarkeit und Nutzung eines sicheren Rückzugsraums für die Aufständischen, der insbesondere durch Pakistan bereitgestellt wird.

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Henry Kissingers Erkenntnis, dass eine Guerilla, die nicht verliert, letztlich gewinnt, bestätigt sich einmal mehr. Daraus folgt, dass der Ansatz des militärisch gestützten Staatsaufbaus in Afghanistan selbst bei Anwendung immanenter Erfolgskriterien zum Scheitern verurteilt ist. Ein militärischer Sieg- Frieden ist wegen der Stärke der Aufständischen und der Schwäche der afghanischen Armee kein realistisches Szenario. Welche Optionen rbleiben also der internationalen Gemeinschaft?

Ein sofortiger Abzug, auch der Ausbildungsmission, scheint bereits deshalb nicht machbar, weil die Alliierten eigene Interessen in der Region verfolgen. Zudem ist es aus Gründen der Glaubwürdigkeit und des Völkerrechts geboten, dass die internationale Gemeinschaft ein Land, in dem sie militärisch interveniert hat, nicht ohne Nachsorge verlässt. Des Weiteren spielen aus deutscher Sicht vor allem bündnispolitische Erwägungen eine Rolle. Die Ende 2015 beschlossene Aufstockung des deutschen Ausbildungskontingents begründete die Bundesregierung – hauptsächlich aus innenpolitischen Gründen – mit der Flüchtlingskrise in Europa und der Notwenigkeit, die Bedingungen in Afghanistan so zu stabilisieren, dass die Menschen im Land bleiben.

Ein langfristiges Engagement im Bereich der Ausbildung von Militärs und Polizisten ist denkbar, muss aber auch irgendwann einmal beendet werden. Bleibt also nur eine Option: die politische Regelung. Die Probleme Afghanistans sind struktureller Art und können deshalb auch nur durch einen langfristigen Entwicklungsprozess gelöst werden. Voraussetzung dafür ist vor allem eine politische Verständigung der Afghanen untereinander. Von diesen Annahmen ausgehend bieten sich im Wesentlichen drei Handlungsoptionen an:

Die erste Option basiert auf einem Best-Case-Szenario. Demnach einigen sich alle afghanischen Hauptakteure, einschließlich der Taliban, grundsätzlich auf eine politische Regelung des Konflikts. Alle setzen sich an einen Tisch mit dem Ziel, eine wirklich repräsentative Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Deren Aufgabe ist es, Fragen der Politikgestaltung und der politischen Ordnung zu regeln. Die gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit und die Schaffung neuer, afghanisch bestimmter politischer Strukturen werden als parallele Prozesse organisiert. Eine zu bildende Allparteienregierung in wäre aufgrund ihrer Heterogenität zwar eher schwach, doch verfügte sie über ein hohes Maß an Legitimität, da alle Kräfte und Interessen berücksichtigt würden. Solange alle Akteure sich an die vereinbarten Spielregeln halten, würde eine relative politische Stabilität bei hohem Autonomiegrad der lokalen Akteure ermöglicht. Auf regionaler Ebene engagieren sich alle Nachbarstaaten und andere strategisch relevante Akteure sowie internationale und Regionalorganisationen in einem Konferenzprozess über Sicherheit, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Angestrebt werden ein politisches Grundlagendokument über die Gestaltung der wechselseitigen Beziehungen und ein regionaler Stabilitätspakt für ein neutrales Afghanistan.

Das der zweiten Option zugrunde liegende Szenario geht davon aus, dass der gewaltsam ausgetragene Konflikt in Afghanistan andauert. Die internationale Gemeinschaft unterstützt weiterhin die Regierung in Kabul. Die Beteiligung an direkten militärischen Einsätzen bleibt auf ein Minimum reduziert, zugleich wird die Reform des Sicherheitssektors und der Verwaltung unterstützt. Ziel ist es, das Kräfteverhältnis zwischen regierungsnahen Kräften und Aufständischen so zu beeinflussen, dass Letztere keine Siegchance mehr haben und früher oder später den Weg zur ersten Option einschlagen. Auch die zweite Option müsste, soweit möglich, durch regionale Strukturen unterstützt werden.

Die dritte Option bestünde darin, dass die internationale Gemeinschaft nur noch die nicht- paschtunischen Kräfte unterstützt und sich aus den südlichen und östlichen Gebieten zurückzuzieht. Diese Variante bietet einerseits die Möglichkeit, den Entwicklungsprozess im Norden und Westen abzusichern und eventuell sogar schneller voranzutreiben. Andererseits birgt sie das Risiko einer Spaltung des Landes in sich. Außerdem würde dadurch das benachbarte Pakistan direkt herausgefordert. Denn eine Spaltung Afghanistans würde unweigerlich auch die Existenz des Staates Pakistan gefährden. In Pakistan leben mehr Paschtunen als in Afghanistan und ein Zusammenschluss der paschtunischen Stämme zu einem "Großpaschtunistan" würde höchstwahrscheinlich das Ende

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Pakistans in seinen heutigen Grenzen einläuten. Ein zentrales Ziel der pakistanischen Afghanistan- Politik besteht darin, genau dies zu verhindern.

Alle Optionen bedeuten den endgültigen Abschied von der Illusion, Afghanistan könne auf absehbare Zeit nach westlichem Vorbild modernisiert werden. Stattdessen sollte sich die internationale Gemeinschaft damit zufrieden geben, eine erneute alleinige Machtübernahme der Taliban durch dosierte Unterstützung entsprechender lokaler und regionaler Kräfte zu verhindern. Zugleich müsste sie den politischen Prozess für eine Verhandlungslösung unter Einbeziehung der Taliban vorantreiben. Die zeitweise bestehenden Gesprächskontakte zwischen den USA und der politischen Führung der Taliban lassen das oben skizzierte Best-Case-Szenario möglich erscheinen. Ebenso möglich ist allerdings, dass Afghanistan wieder in einen Bürgerkrieg zurückfällt.

Mehr als vierzehn Jahre nach dem Beginn des Engagements muss konstatiert werden, dass die internationale Gemeinschaft mit ihrem Konzept des militärisch gestützten Staatsaufbaus gescheitert ist. Die Gründe dafür sind vielfältig: kulturelle Ignoranz, Unterschätzung der Rolle lokaler Patronagenetzwerke, Überschätzung der Fähigkeiten der ANSF, überzogene und wenig präzisierte Ziele, falsche Prioritätensetzungen und viel Schönfärberei. Die Verantwortlichen unterlagen einer dreifachen Fehlannahme: Sie gingen davon aus, dass

• westliche Institutionen in ein Land ohne entsprechende Staatstradition exportiert werden könnten,

• die politischen Eliten und die Bevölkerung dieses Landes die westliche Analyse teilen und deren Ziele unterstützen würden sowie

• in den NATO-Ländern der politische Wille bestehe, die für die Erreichung dieser ambitionierten Ziele erforderlichen Mittel auch langfristig aufzubringen.

Internationales Engagement in Krisenländern wie Afghanistan ist auch künftig nötig. Dafür müssen die Regierungen in den westlichen Staaten für den nötigen innenpolitischen Rückhalt sorgen. Dazu gehören u.a. realistische Analysen zur Lage in dem Krisenland. Folgt man den letzten Lageanalysen der Bundesregierung, so hat sich in den vergangenen Jahren die Situation in Afghanistan langsam aber stetig verbessert. Im letzten Fortschrittsbericht von 2014 ist sogar davon die Rede, dass sich die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) nach der Übernahme der Verantwortung von der internationalen Unterstützungstruppe ISAF bewährt hätten. Die Sicherheitslage habe sich nicht entscheidend verändert…

Ebenso dringlich wie eine realistische Analyse der Situation ist eine neue Strategie, die endlich den strukturellen Reformen Priorität beimisst. Sie sollte einer nachhaltigen friedenspolitischen Logik folgen und nicht einer primär sicherheits- und machtpolitischen. Mit anderen Worten: Die Entwicklung des Ziellandes sollte Vorrang haben vor sicherheitspolitischen und militärischen (), geostrategischen (Kontrolle des Mittleren Ostens und Südasiens), ideologischen (regime change) oder bündnispolitischen Interessen (Rolle und Zukunft der NATO). Letztlich ist es an den Afghanen, selbstständig und souverän zu entscheiden, unter welcher politischen und wirtschaftlichen Ordnung sie in ihrem Land leben wollen.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 13 Literatur

Ehrhart, Hans-Georg/ Gareis, Sven/ Pentland, Charles (Hrsg.) (2012): Afghanistan in the Balance: Counterinsurgency, Comprehensive Approach and Political Order, McGill-Queens University Press.

Ehrhart, Hans-Georg (2011): Zivil-militärische Zusammenarbeit und vernetzte Sicherheit als Herausforderung deutscher Sicherheitspolitik: Der Fall Afghanistan, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 3/2011, S. 65-865.

Die Bundesregierung (2014): Fortschrittsbericht Afghanistan 2014 (http://www.auswaertiges-amt.de/ cae/servlet/contentblob/691670/publicationFile/199511/141119-Fortschrittsbericht_AFG_2014.pdf)

Links

Webseite des Afghanistan Analysts Network (AAN) (https://www.afghanistan-analysts.org)

Münch, Philipp: Resolute Support Light. Afghanistan Analysts Network. (https://www.afghanistan- analysts.org/publication/aan-papers/resolute-support-light--new-mission-versus-the-ansf-political- economy/)

United Nations Assistance Mission in Afghanistan: Afghanistan. Midyear Report 2015. Protection of in Armed Conflict. (https://unama.unmissions.org/poc)

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Konfliktporträt

Von Thomas Ruttig 29.9.2020 Thomas Ruttig beschäftigt sich seit seinem Studium der Afghanistik an der Berliner Humboldt-Universität mit Afghanistan. Er spricht beide Hauptlandessprachen, und , und verbrachte insgesamt über 13 Jahre in Afghanistan, als Student, und Diplomat sowie EU-Vizesondergesandter. 2009 begründete er den unabhängigen und gemeinnützigen Think Tank Afghanistan Analysts Network (e.V.) mit, wo er bis heute Ko-Direktor und Senior Analyst ist.

Ein Abkommen zwischen USA und Taliban von Februar 2020 sieht den Abzug der US-Truppen bis April 2021 vor. Bedingung sind innerafghanische Friedensgespräche. Die Gewalt hat sich seitdem kaum abgeschwächt. Ein einseitiger US-Abzug bei sich hinziehenden oder scheiternden Verhandlungen könnte zum Systemzusammenbruch führen.

Vertreter der US-Regierung und der Taliban am Verhandlungstisch in /Katar 25.02.2020. Als Folge des Abkommens zwischen den USA und den Taliban vom 29.02.2020 stellten beide Seiten ihre gegenseitigen Angriffe ein. (© picture-alliance/AP)

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 15 Aktuelle Konfliktsituation

Bei der um mehrere Monate verspäteten Präsidentenwahl am 28. September 2019 standen sich wie schon 2014 Amtsinhaber Aschraf Ghani und sein De-facto-Kabinettschef [1] gegenüber. Die Parlamentswahlen hatten mit sogar dreijähriger Verspätung erst im Oktober 2018 stattgefunden. Die Präsidentschaftswahlen endeten wegen Manipulationsvorwürfen wiederum ohne ein von beiden Seiten akzeptiertes Ergebnis. Nach monatelangem Tauziehen erklärte die nationale Wahlkommission einseitig Ghani zum Sieger. Schließlich willigte Abdullah in eine Neuauflage seiner Koalition mit Ghani ein, übernahm diesmal aber kein Regierungsamt, sondern den Vorsitz im neuen Obersten Rat für Nationale Versöhnung. Damit ist er für die geplanten Friedensgespräche mit den Taliban zuständig. Der Wahltag war mit 643 Zwischenfällen der gewalttätigste seit 2004. Distrikt- und Provinzratswahlen wurden erneut verschoben.

Krieg und politische Dauerkrise führten seit 2014 zu einer Wirtschaftskrise bei wieder wachsender Armut und Ungleichheit. Das Wirtschaftswachstum – von 2002 bis 2012 durchschnittlich ca. 9% – bewegt sich seither um 2% und bleibt damit unter dem geschätzten Bevölkerungswachstum. Aufgrund der Corona-Krise prognostizierte die Weltbank für 2020 einen Einbruch von 5,5 bis 7,4%.[2] Bereits jetzt leben 80% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.[3] Afghanistan gehört weiterhin zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt (LLDC).

In dieser Situation wächst die Abhängigkeit von der Drogenwirtschaft, die etwa einem Achtel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Mit Einnahmen daraus verringern Teile der Landbevölkerung ihre Armut, wobei diese mit ca. 1% am wenigsten profitiert. 2019 ging die Anbaufläche von Opiummohn zurück, aber der Ertrag stieg, sodass das Produktionsvolumen mit über 6.000 t (Spitzenwert 2017: 9.000 t) konstant blieb. Auf Afghanistan entfielen 2019 90% der Weltproduktion an Opium und 80% an .[4] Auch ist das Land wieder weltweit größter Haschischproduzent. Auf beiden Seiten des Konflikts profitieren Akteure von den Einnahmen, allerdings in ungleichem Maße. Nach UN-Angaben nahmen die Taliban 2016 160 Mio. US-Dollar aus der Besteuerung der Drogenwirtschaft ein; das sind lediglich 5,4% des Gesamtwertes von 3 Mrd. US-Dollar.

Der bewaffnete Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und ihren internationalen Verbündeten auf der einen Seite und bewaffneten islamistischen Aufständischen auf der anderen Seite hielt 2019 und Anfang 2020 auf hohem, wenngleich leicht verringertem Niveau an.[5] Keine der Konfliktparteien erzielt signifikante Geländegewinne. Nach dem Bericht des UN-Sondergesandten an den UN- Sicherheitsrat "bleiben die bestehenden Trends unverändert".[6] Es herrscht weiterhin ein erodierendes Patt zugunsten der Taliban.[7] Diese sind unter den Aufständischen mit Abstand die stärkste Kraft. Sie haben zahlreiche Provinz- und Distriktzentren eingekesselt. In vielen davon herrscht eine Bedrohungslage ohne größere Kämpfe.

Der afghanisch-pakistanische Ableger des sogenannten Islamischen Staates, der sich "IS Khorasan- Provinz" (ISKP) nennt, wurde nach seiner Niederlage gegen gleichzeitige Offensiven der Taliban und Regierungstruppen im Herbst 2019 in seiner Hochburg, der Provinz Nangrahar, im Frühjahr 2020 auch in seinem Rückzugsgebiet, der Provinz Kunar, stark geschwächt. In anderen Provinzen ist die Gruppe nicht aktiv. Der IS ist aber weiter in der Lage, schwere Terroranschläge zu verüben. Hauptziel ist die schiitische Minderheit.

Die Zahl der zivilen Opfer lag 2019 mit 10.392 (davon 3.403 Tote und 6.989 Verletzte) so niedrig wie nie seit 2013. Trotzdem machte der Rückgang gerade einmal 5% im Vergleich zum Vorjahr und knapp 10% im Vergleich zum Höchststand 2016 aus. Im ersten Quartal 2020 wurden 1.293 zivile Opfer registriert; das sind weniger als in jedem Vergleichszeitraum seit 2013. Allerdings gibt es aufgrund der Methodologie (jeder Fall muss von drei unabhängigen Quellen bestätigt sein) eine sehr hohe Dunkelziffer.[8] Seit Beginn der UN-Dokumentation 2009 wurden in Afghanistan über 100.000 zivile Opfer gezählt. Die Zahl der konfliktbedingt Binnenvertriebenen (IDPs) hatte sich bis Ende 2019 auf 2,99 Mio. erhöht. 461.000 Menschen in 32 der 34 Provinzen wurden 2019 neu vertrieben. Bis Juni 2020 kamen noch einmal 86.000 hinzu.[9]

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Die Verluste der afghanischen Regierungstruppen blieben hoch. Laut Regierung wurde Mitte Juni 2020 mit 291 getöteten und 550 verwundeten Militärangehörigen die verlustreichste Woche seit Beginn des Krieges 2001 verzeichnet. Die Zahl aller Kriegstoten seit 1989, dem Ende der sowjetischen Besatzung, wird auf 258.000 beziffert.[10]

Als Folge des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban vom 29.02.2020 stellten beide Seiten ihre gegenseitigen Angriffe ein. Die Taliban führten seither auch keine Terroranschläge mehr in den Städten durch.[11] Ausgenommen von der gegenseitigen Nichtangriffsvereinbarung sind die afghanischen Truppen. Dadurch haben sich die Kämpfe tendenziell in die ländlichen Gebiete verlagert. Im ersten Quartal 2020 verzeichnete die UNO erstmals keine von den US-Truppen verursachte Zivilopfer. Allerdings nahm das US-Militär seither wieder die Luftunterstützung für die afghanischen Truppen auf, und es häufen sich Fälle, in denen Regierungskräfte unterschiedslos Taliban und Zivilisten in von den Taliban kontrollierten Gebieten angreifen.

Die Zahl afghanischer Flüchtlinge nach Europa ist seit Schließung der EU-Außengrenzen drastisch zurückgegangen. 2019 verzeichneten alle EU-Länder etwa 53.000 Asylanträge von Afghanen (plus 34,8% gegenüber dem Vorjahr).[12] Wie 2019 waren Afghanen bis Ende April 2020 mit 3.000 Menschen wieder die größte Gruppe, die über das Mittelmeer Griechenland erreichte.[13]

Afghanistan: Militärische Situation 2016 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 17 Ursachen und Hintergründe

Die Ursachen für die heutigen Konflikte in Afghanistan liegen in Auseinandersetzungen zwischen Modernisierungsbefürwortern und -gegnern. Sie zogen sich fast durch das gesamte 20. Jahrhundert hin und internationalisierten sich im Kontext des Kalten Krieges. Die unter König Amanullah (1919-29) entstandenen gebildeten Schichten wurden nicht in den stagnierenden, renten-orientierten Staat integriert. Aus ihren Reihen bildete sich eine auf Modernisierung dringende Reformbewegung.

Die US-geführte Intervention westlicher Staaten ab 2001 löste den Grundkonflikt nicht, sondern verstärkt ihn weiter. In ihrem Ergebnis gelangten islamisch-konservative und islamistische Kräfte in Schlüsselpositionen in Regierung, Parlament, Justiz, Sicherheitskräften und islamischer Geistlichkeit. Im Land dominiert heute ein unter dem ehemaligen Präsidenten Karzai (2001-14) geschaffenes Patronage-System. Politische Netzwerke konkurrieren um wirtschaftlichen Einfluss und knapper werdende Ressourcen. Sie bilden dabei oft mafiöse Züge aus, vor allem wenn sie mit der Drogenökonomie verbunden sind.

Rechtsstaatliche Strukturen werden von Gewalt und Korruption untergraben. Die Justiz gilt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen. Für demokratische Kräfte bleibt so wenig Raum. Das Parlament ist wegen des Verbots parteigestützter Fraktionen zersplittert. Konservative und Islamisten leisten Widerstand gegen als "westlich" denunzierte Reformen, etwa bei den Menschenrechten. Ex- Mudschaheddin, Ex-Taliban und Ex-Kommunisten im Parlament beschlossen 2008 eine Selbstamnestie für Kriegsverbrechen der Vergangenheit. Im Dezember 2019 von der Washington Post veröffentlichte US-Dokumente, die sogenannten Afghanistan Papers, belegen, dass die US-Führung über die gravierenden Fehlentwicklungen in Afghanistan im Bilde war, aber die Öffentlichkeit falsch unterrichtete (The Washington Post, 9.12.2019).

Ein zentraler Konfliktkatalysator ist der Grenzkonflikt mit dem Nachbarland Pakistan. Afghanistan erkennt die koloniale Grenzziehung mit der sogenannten Durand-Linie von 1893 nicht an, die das Siedlungsgebiet der Paschtunen durchtrennt, das historisch zu Afghanistan gehörte. Seit der Staatsgründung 1947 unterstützen beide Länder gegenseitig Autonomie-, Sezessions- und ideologische Aufstandsbewegungen. Die pakistanische Unterstützung für die afghanischen Taliban ist dafür nur ein Beispiel. Pakistan rivalisiert auch mit um Einfluss in Afghanistan. Zudem bestehen mit Pakistan und Iran seit Jahrzehnten ungelöste Konflikte um die Verteilung des Wassers grenzüberschreitender Flüsse.

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Opiumproduktion in Afghanistan 2016 Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie) Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Mit dem Abschluss des bilateralen US-Taliban-Abkommens in Doha (Katar) im Februar 2020 ergibt sich erstmals eine Gelegenheit, den Afghanistan-Krieg der Nach-2001-Periode durch Verhandlungen zu beenden. Die USA hatten sich zwei Jahrzehnte lang geweigert, überhaupt mit den Taliban zu verhandeln. Mehrere alternative Gesprächsansätze blieben erfolglos. Die seit 2014 amtierende Ghani- Regierung scheiterte ebenfalls mit eigenen, allerdings oft unrealistischen Ansätzen.

Ursache der neuen Entwicklung ist der Druck von US-Präsident Donald Trump auf seine eigene Diplomatie, sein Land aus einem den "langanhaltenden" Kriege zu führen und Ressourcen einzusparen. Dieser Ansatz ist jedoch US- und nicht Afghanistan-zentriert. Deshalb trifft er auf breite Kritik, vor allem in Afghanistan selbst. Kritisiert wird vor allem, dass die afghanische Regierung nicht in die getroffenen Vereinbarungen einbezogen wurde und sowohl die politische Opposition als auch zivilgesellschaftliche Kräfte kaum beteiligt waren. Diese bewerten diesen Lösungsansatz als "Ausverkauf an die Taliban".

Die Vereinbarungen von Doha stellen einen Abzug der US- und aller anderen ausländischen Truppen in Aussicht. Im Gegenzug sichern die Taliban zu, die Aktivitäten weltweit agierender dschihadistischer Terrorgruppen, wie al-Qaida und IS, in Afghanistan zu unterbinden. Zudem erklären sie sich bereit, nach Ende des Abzugs innerafghanische Verhandlungen über ein Ende des Krieges und das künftige politische System im Land zu beginnen. Es ist aber nicht klar, ob sie die Regierung in Kabul als offiziellen Verhandlungspartner akzeptieren. Die USA sind ihnen deshalb entgegengekommen und haben in Doha nur die Teilnahme einer "breiten" Verhandlungsdelegation der "afghanischen Republik" festgeschrieben. Das widerspiegelt auch die Interessen der Opposition und Zivilgesellschaft im Land.

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Die erste Phase des Truppenabzugs, eine Reduzierung auf etwa 8.600 US-Soldaten, wurde bereits im Juni 2020 abgeschlossen.[14] Der bis April 2021 vorgesehene völlige Rückzug ist an die Bedingung geknüpft, dass bis dahin innerafghanische Friedensgespräche begonnen haben. Auch die anderen Entsendeländer werden in diesem Fall ihre Truppen abziehen. Doch die Langwierigkeit und das eventuelle Scheitern direkter Verhandlungen könnten Trump dazu veranlassen, den Abzug ohne belastbare Vereinbarung über eine stabile Nachkriegsordnung zu befehlen. Dies könnte zu einem Systemzusammenbruch führen, vor allem wenn damit auch Militär- und sonstige Hilfen, etwa für soziale Systeme, drastisch reduziert würden.

Die Taliban lehnten Direktgespräche mit Kabul vor Ende des US-Abzugs ab, stimmten dann aber dem Beginn solcher Gespräche bereits für März 2020 zu. Diese mussten verschoben werden, nachdem sich ein als vertrauensbildende Maßnahme vereinbarter Gefangenenaustausch verzögerte.

Karte von Afghanistan Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Afgh% 20Verwalt%2015.2.12%207%2C5Mio.pdf) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Kämmer-Kartographie)

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 20 Konfliktgeschichte

Der afghanische Staat begann 1973 zu wanken, als die Monarchie unzureichend auf eine mehrjährige Dürreperiode reagierte und durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Der Umsturz beendete eine 40- jährige Periode weitgehenden inneren Friedens. Gegen einen weiteren Staatsstreich afghanischer Kommunisten am 27. April 1978 und ihre von oben verordneten Reformen formierte sich schnell breiter Widerstand. Es begann ein langer Bürgerkrieg. Bereits existierende kleine Guerillagruppen erhielten die Unterstützung Pakistans. Die Entsendung sowjetischer Truppen Ende 1979 internationalisierte die Auseinandersetzungen. Die Mudschaheddin-Gruppen wurden über Pakistan von den USA und Saudi- Arabien militärisch und finanziell unterstützt. Pakistan förderte einseitig islamistische Fraktionen und drängte säkulare linke, nationalistische und monarchistische Widerstandsgruppen ins Abseits.

Nach dem sowjetischen Truppenabzug im Februar 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Einstellung der Finanzhilfe an Kabul durch Russland im Folgejahr übernahmen die Mudschaheddin im April 1992 die Herrschaft in Kabul. Versuche verschiedener Fraktionsführer, die Macht zu monopolisieren, mündeten in eine neue Phase von Fraktionskriegen. Dies nutzten die von Pakistan unterstützten Taliban, um schrittweise die Macht zu übernehmen. Im Jahr 1996 nahmen sie Kabul ein, riefen ein Islamisches Emirat aus und gewährten Al-Qaida-Gruppen Zuflucht. Die Radikalität der Taliban und die Verletzung internationaler Standards der Menschenrechte führten in die außenpolitische Isolation. Nach dem 11. September 2001 wurde das Regime zum ersten Ziel des "Kriegs gegen den Terror" der Bush-Administration, weil es sich weigerte, Al-Qaida-Anführer , den mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge, auszuliefern.

Mit dem "Bonner Prozess" auf der Grundlage des Petersberger Abkommens vom 5. Dezember 2001 begann der Neuaufbau politischer Institutionen, die dem Staat seine Handlungsfähigkeit zurückgeben sollte. Formal wurde mit regelmäßigen, wenn auch oft verspäteten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ab 2004 bzw. 2005 eine demokratische Transition eingeleitet. Korruption, Ineffizienz und mangelnde Bereitschaft zur Machtteilung haben jedoch verhindert, dass sich demokratische Strukturen konsolidieren.

Literatur

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bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 22 Links

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Themendossier Afghanistaneinsatz der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin (https://www.swp- berlin.org/swp-themendossiers/afghanistaneinsatz/)

Studien zu verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen in Afghanistan: Afghanistan Research and Evaluation Unit. (http://www.areu.org.af/)

Berichte und Analysen der International Crisis Group zu Afghanistan (https://www.crisisgroup.org/asia/ south-asia/afghanistan)

Aktuelle Bibliografien und Link-Listen bei: The Afghanistan Analyst: A Resource for Researching Afghanistan (https://www.afghanistan-analysts.org/en/category/resources/aan-bibliography/)

Blog von Thomas Ruttig zu Afghanistan: Afghanistan Zhaghdablai (https://thruttig.wordpress.com/)

Sendungen von ARTE zu Afghanistan (https://www.arte.tv/de/search/?query=Afghanistan&page=1)

The Washington Post (2019): The Afghanistan Papers. A secret history of the war. At war with the truth (https://www.washingtonpost.com/graphics/2019/investigations/afghanistan-papers/afghanistan-war- confidential-documents/), 9.12.2019.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Thomas Ruttig für bpb.de

Fußnoten

1. Die offizielle Bezeichnung ist Chief Executive. Die afghanische Verfassung sieht eigentlich keinen Premierminister vor. Der Posten wurde extra geschaffen, um das Lager des bei den Präsidentschaftswahlen von 2014 unterlegenen Abdullah in die politische Führung des Landes einzubinden. 2. https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-afghanistan-econom/afghanistan-faces-grim- economic-outlook-as-pandemic-wipes-out-growth-world-bank-idUSKCN24G1QR (https://www. .com/article/us-health-coronavirus-afghanistan-econom/afghanistan-faces-grim-economic- outlook-as-pandemic-wipes-out-growth-world-bank-idUSKCN24G1QR) 3. Die afghanische Regierung verwendet eine eigene, niedrigere Armutsgrenze, der zufolge die Armutsrate bei 54,5% liegt (https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/ afg_humanitarian_needs_overview_2020.pdf (https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/ afg_humanitarian_needs_overview_2020.pdf), p9). 4. https://www.stripes.com/news/white-house-afghanistan-opium-yield-expected-to-rise-even-as-acreage- planted-to-poppies-falls-1.618240 (https://www.stripes.com/news/white-house-afghanistan-opium- yield-expected-to-rise-even-as-acreage-planted-to-poppies-falls-1.618240) 5. Die Zahl der von der UNO vierteljährlich registrierten "sicherheitsrelevanten Zwischenfälle" sank über das Jahr 2019 um zwischen 3 und 13% sowie von Februar bis Mai 2020 um 2%, verglichen mit 2019. 2019 war mit 23.712 Fällen ein Höchststand verzeichnet worden. 6. https://unama.unmissions.org/sites/default/files/sg_report_on_afghanistan_june_2020.pdf (https://

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unama.unmissions.org/sites/default/files/sg_report_on_afghanistan_june_2020.pdf) 7. US-Militär und afghanische Regierung haben die Veröffentlichung wesentlicher Daten eingestellt. Dazu gehören z.B. der Anteil der von den afghanischen Konfliktparteien kontrollierten Territorien und Bevölkerungszahlen; Daten zu von den Aufständischen initiierten bewaffneten Operationen; Verluste der afghanischen Regierungskräfte; und die Zahl der US-Luftangriffe. Auch die genaue Zahl der noch im Land befindlichen US-Truppen in der NATO-Ausbildungsmission Resolute Support und der Spezialeinheiten in der US-Mission "Freedom’s Sentinel" werden nicht mehr veröffentlicht. 8. Siehe auch: https://www.easo.europa.eu/news-events/afghanistan-security-situation (https:// www.easo.europa.eu/news-events/afghanistan-security-situation). 9. https://www.internal-displacement.org/countries/afghanistan; https://www.pajhwok.com/en/2020/06/20/ thousands-displaced-war-afghanistan-un (https://www.internal-displacement.org/countries/afghanistan; https://www.pajhwok.com/en/2020/06/20/thousands-displaced-war-afghanistan-un). 10. https://ucdp.uu.se/country/700 (https://ucdp.uu.se/country/700) 11. Als erste Ausnahme verübten die Taliban am 13. Juli 2020 einen Autobombenanschlag auf eine Geheimdiensteinrichtung in der Provinz Samangan mit ca. 60 Toten und Verletzten (https://www. thenational.ae/world/asia/at-least-60-wounded-in-car-bomb-in-afghanistan-s-samangan-1.1048531 (https://www.thenational.ae/world/asia/at-least-60-wounded-in-car-bomb-in-afghanistan-s- samangan-1.1048531)). 12. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_statistics (https://ec.europa. eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_statistics) 13. https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean (https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean)

14. Die Zahl der US-Truppen in der NATO-Ausbildungsmission Resolute Support sowie der Spezialeinheiten in der US-Mission "Freedom’s Sentinel" wird auf insgesamt 8.600 geschätzt (https://apnews.com/f3890bb7b4b36476da4f0b0bdec07414 (https://apnews.com/ f3890bb7b4b36476da4f0b0bdec07414)). Dazu kommen 27.641 zivile Kontraktoren, die für das US-Militär arbeiten, von denen ein Fünftel bewaffnet ist. (https://www.acq.osd.mil/log/PS/. CENTCOM_reports.html/FY20_2Q_5A_Apr2020.pdf (https://www.acq.osd.mil/log/PS/.CENTCOM_reports. html/FY20_2Q_5A_Apr2020.pdf)). Weitere 8.500 Soldaten werden von 37 anderen Nationen gestellt, darunter 1.300 von Deutschland (https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/ pdf/2020/2/pdf/2020-02-RSM-Placemat.pdf (https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2020/2/ pdf/2020-02-RSM-Placemat.pdf)).

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Taliban

Von Guido Steinberg 20.9.2011 Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.

Die Taliban-Bewegung entstand in den frühen 1990er Jahren als Organisation paschtunisch- afghanischer Flüchtlinge in Pakistan. 1994 eroberte sie weite Teile Afghanistans. Seit ihrem Sturz agieren die Islamisten von Pakistan aus.

Afghanische Islamisten gründeten die Taliban-Bewegung in den frühen 1990er Jahren. Ab Herbst 1994 eroberten sie weite Teile Afghanistans. Sie gewährten Jihadisten aus aller Welt Zuflucht, unter ihnen Osama Bin Ladens al-Qaida und zahlreichen zentralasiatischen und pakistanischen Gruppierungen. Als die Taliban sich auch nach den Anschlägen des 11. September 2001 weigerten, Bin Laden auszuliefern, griffen die USA Afghanistan an und stürzten sie. Seit 2002 bekämpfen die Taliban von Pakistan aus die neue afghanische Regierung und die in Afghanistan stationierten multinationalen Truppen.

1. Die Entstehung der Taliban-Bewegung

Die Bewegung der Taliban (Paschtu und Dari für "Studenten") entstand in den frühen 1990er Jahren als Organisation aus Pakistan zurückgekehrter paschtunisch-afghanischer Flüchtlinge und Veteranen des Krieges gegen die Sowjetunion. Ihre pakistanische Mutterorganisation war die Gemeinschaft der Gelehrten des (Jam iyat-i Ulama´-i Islam, JUI). Die JUI ist Teil der Gelehrtenbewegung von Deoband (benannt nach ihrem nordindischen Gründungsort), die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Britisch- Indien entstand und ein Netzwerk von religiösen Schulen auf dem gesamten Subkontinent etablierte.

Als sich der muslimische Staat Pakistan 1947 von der Indischen Union abspaltete, lehnte die Mehrheit der Deobandis seine Gründung ab. Die JUI hingegen unterstützte den Separatismus des Staatsgründers Ali Jinnah. Ende der 1960er Jahre spaltete sich die nunmehr pakistanische Organisation. Der bis heute bedeutendere Flügel konzentrierte seine Aktivitäten auf die paschtunischen Gebiete der Nordwestlichen Grenzprovinz (seit April 2010 Khyber Pakhtunkhwa) und Belutschistans.

Die JUI ist eine einflussreiche Kraft in den Paschtunengebieten entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze und hat besonders dort ein dichtes Netz religiöser Bildungsstätten aufgebaut. Nach der sowjetischen Invasion Afghanistans 1979 flüchteten sich viele Afghanen in die Gebiete jenseits der pakistanischen Grenze. Die Schulen der JUI nahmen vor allem paschtunische Flüchtlinge auf und wurden nach dem sowjetischen Truppenabzug 1989 zur Kaderschmiede für die Taliban.

In Afghanistan selbst brach schon kurz nach dem Abzug der Sowjets ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Mujahedin-Gruppierungen aus. Pakistan hatte diese Organisationen unterstützt, um Einfluss auf die künftige Politik des Nachbarlandes nehmen zu können. Idealerweise sollte in Kabul eine pro-pakistanische Regierung an die Macht kommen. Als der Ausbruch des Bürgerkrieges verdeutlichte, dass die Mujahedin-Gruppen kein geeigneter Partner waren, benötigte die pakistanische Armee einen neuen Verbündeten. Zu diesem Zweck rekrutierte ihr militärischer Geheimdienst ISI (Inter- Services Intelligence) paschtunische Flüchtlinge aus den Schulen der JUI und baute eine schlagkräftige

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Miliz auf. So wurden die Taliban zu einem Instrument pakistanischer Außenpolitik.

In einem beispiellosen Siegeszug eroberten die Taliban Afghanistan. Nachdem sie im Herbst 1994 erstmals in der Provinz Kandahar in Südafghanistan aufgetaucht waren, nahmen sie rasch die paschtunischen Gebiete im Süden und Osten des Landes ein. 1995 bereits standen sie kurz vor Kabul und nahmen die westafghanische Metropole ein. Die verfeindeten Mujahedin in Kabul schlossen sich unter dem Druck der Taliban zusammen. Trotzdem konnten sie Kabul nicht halten und zogen sich 1996 in den Norden zurück. Unter der Führung von Ahmed Shah Masud (1953-2001) hielten sie sich als "Nordallianz" bis zur amerikanisch-britischen Invasion 2001.

2. Das Islamische Emirat Afghanistan (1996-2001)

Die Taliban boten der kriegsmüden afghanischen Bevölkerung nach fast 17 Jahren Krieg die Aussicht auf Ruhe und Ordnung. Dies erklärt ihren schnellen Siegeszug gegen die Allianz der Bürgerkriegsparteien, die das Land nach 1989 in den vollständigen Ruin getrieben hatten. Die Taliban traten mit der Forderung nach Einführung und Durchsetzung des Islamischen Rechts, der Scharia, an – entsprechend den Vorstellungen der Deobandi-Gelehrten. In der Praxis verband sich die puristische Deobandi-Gelehrsamkeit mit dem Paschtunwali genannten Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunenstämme.

In den von ihnen beherrschten Gebieten setzten die Taliban unerbittlich ihre Verhaltensvorschriften durch. Männer mussten Bärte tragen, Musik und Fernsehen waren ebenso wie die meisten Sportarten verboten. Eine nach saudi-arabischem Vorbild eingerichtete Religionspolizei überwachte die Einhaltung dieser Ge- und Verbote. Bei Zuwiderhandlung drohten, je nach Schwere des Delikts, Prügelstrafen, Auspeitschung oder Gefängnis. Die schlimmsten Einschränkungen trafen jedoch die Frauen, die weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt wurden. Die Taliban schlossen alle Mädchenschulen und verboten Frauen zu arbeiten.

Nach der Einnahme Kabuls riefen die Taliban im September 1996 das "Islamische Emirat Afghanistan" aus. Im selben Jahr gab sich ihr charismatischer Führer Mulla (geb. ca. 1959) den Titel "Beherrscher der Gläubigen" (Amir al-Mu´minin). Der in Kandahar residierende Mulla Omar war damals bereits die unumstrittene Führungsfigur der Taliban, und regierte gemeinsam mit einem kleinen Führungszirkel einflussreicher Funktionäre, dem sogenannten Schura(=Konsultations)-Rat. Jegliche Opposition wurde brutal unterdrückt; die Regierungsführung der Taliban war autoritär mit totalitären Zügen – wobei die staatliche Verwaltung durchaus chaotische Züge trug.

Das Emirat der Taliban wurde lediglich von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt. Die deutlichen Sympathien vieler konservativer Golfaraber gingen auf die Ähnlichkeit der religionspolitischen Vorstellungen der Taliban mit denen der saudi-arabischen Wahhabiya zurück. Die teils staatliche und teils private Unterstützung aus den Golfstaaten für die Taliban erwies sich jedoch als schwerer Fehler, da die Taliban es neben zentralasiastischen und pakistanischen auch arabischen Jihadisten gestatteten, ihre Hauptquartiere und Trainingslager auf afghanischem Territorium aufzuschlagen. Eine dieser Gruppen war die al-Qaida Osama Bin Ladens. Nur die staatliche Unterstützung durch die Taliban ermöglichte es al-Qaida, zu der internationalen Terrororganisation zu werden, die am 11. September 2001 sogar im Herzen der USA zuschlug.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 26 3. Pakistanisches Exil und Aufstand in Afghanistan (2001-2009)

Die Taliban waren auf die amerikanische Gegenreaktion nicht vorbereitet. Innerhalb weniger Wochen gelang es den USA mithilfe der Nordallianz, den Taliban-Staat zu zerschlagen und die verbliebenen Angehörigen der Organisation zur Flucht zu zwingen. Die Führung der Taliban um Mulla Omar fand Zuflucht im pakistanischen und organisierte von dort den Widerstand gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten.

Ab 2005 gewann der Aufstand der Taliban an Stärke. Dies hatte drei Gründe: Erstens machte sich 2005 die schlechte Regierungsführung der neuen Regierung in Kabul bemerkbar. Weit davon entfernt zur Lösung der Probleme im Land beizutragen, zeichnete sie sich durch Untätigkeit, Inkompetenz und eine ausufernde Korruption aus. Sie scheiterte insbesondere beim Aufbau effektiv agierender einheimischer Sicherheitskräfte. Die Unzufriedenheit nicht nur in den paschtunischen Landesteilen wuchs stetig. Zweitens war der Konflikt in Afghanistan für die Administration des amerikanischen Präsidenten George W. Bush (2001-2008) weniger wichtig als der 2003 begonnene Krieg im Irak, so dass für die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan nur unzureichende Ressourcen zur Verfügung standen. Drittens hatte auch die pakistanische Armeeführung ihre alte Politik wieder aufgenommen. Pakistan wurde zum sicheren Rückzugsgebiet der Taliban und der ISI unterstützte den Aufstand. Zwar arbeitete die pakistanische Führung in der Verfolgung von al-Qaida mit den USA zusammen und leistete logistische Unterstützung für die westliche Präsenz in Afghanistan.

Mit großer Sorge beobachtete sie jedoch, wie statt der eigenen Klienten wichtige Verbündete des großen Rivalen Indien an der Macht in Kabul beteiligt waren. Die Nordallianz hatte bereits vor 2001 indische Unterstützung erhalten und auch nach dem Machtwechsel in Kabul unterhielt die Regierung Karzai enge Beziehungen nach . Deshalb gab Pakistan seine Unterstützung für die Taliban nicht auf und duldete, dass diese sich über die Grenze nach Pakistan zurückzogen und dort reorganisierten. So hoffte die pakistanische Führung, ein Druckmittel in der Hand zu haben, um ihre Interessen in Afghanistan gegebenenfalls durchzusetzen. Auch heftige Proteste der USA führten immer nur zu kurzfristigen Änderungen pakistanischer Politik.

Ab 2005/2006 gingen die Taliban immer häufiger zu komplexeren militärischen Aktionen über, an denen sich größere Formationen beteiligten. Gleichzeitig verfeinerten sie ihre Taktik, legten Sprengfallen am Straßenrand, mit denen sie Militärfahrzeuge angriffen und verübten Selbstmordattentate, die sich häufig auch gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und gegen Zivilisten richteten. Die Taliban folgten hier dem Vorbild der Aufständischen im Irak, so dass seit 2005 immer häufiger die Rede von einer "Irakisierung" der afghanischen Aufstandsbewegung war. Der Taliban-Kommandeur Mulla (1966-2007) wurde gewissermaßen zur Verkörperung dieser neuen Strategie. Bis zu seinem Tod im Mai 2007 leitete er die militärischen Aktionen der Taliban im Süden. Er verband den neuartigen Einsatz der Selbstmordattentäter mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit.

Mit dem Frühjahr 2006 gerieten die im Süden und Südosten des Landes – den Hauptsiedlungsgebieten der Paschtunen – stationierten Amerikaner, Briten, Kanadier und Niederländer unter enormen Druck. Die Selbstmordattentate verfünffachten sich gegenüber 2005. Seit 2006 verloren die Koalitionstruppen die Kontrolle über große Teile dieser Gebiete. Die Taliban hingegen weiteten ihre Angriffe auf Kabul und seine Umgebung und vereinzelt auch auf den bis dahin verhältnismäßig sicheren Norden aus. Die ursprünglich angestrebte Stabilisierung Afghanistans rückte in weite Ferne.

Die gemeinhin unter dem Sammelbegriff "Taliban" zusammengefassten Gruppierungen sind allerdings kein monolithischer Block. Vielmehr werden die drei großen Frontabschnitte entlang der Süd- und Südostgrenze Afghanistans von verschiedenen Gruppierungen dominiert, die zwar nominell dem Oberbefehl Mulla Omars unterstehen, faktisch jedoch weitgehend eigenständig sind. Im nördlichen Frontabschnitt scheint die Islamische Partei (Hizb-i Islami) des schon aus dem Afghanistankrieg berüchtigten Gulbuddin Hekmatjar (geb. 1947) die stärkste Gruppierung. Im mittleren Teil der Front dominiert das Haqqani-Netzwerk. Diese Organisation wurde nach ihrem Führer, Jalaluddin Haqqani (geb. zwischen 1930 und 1938), benannt, der schon in den 1980er Jahren ein bekannter Kommandeur

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 27 der Mujahedin war. Im Süden kämpfen die eigentlichen Taliban unter der Führung Mulla Omars und der sogenannten Quetta-Schura.

4. Taliban und al-Qaida nach 2001

Die Beziehungen zwischen den Taliban und al-Qaida waren Ende 2001 schlecht. Viele Taliban warfen Bin Laden und seinen Anhängern vor, durch die Attentate des 11. September die amerikanische Invasion Afghanistans provoziert zu haben. Trotzdem kam es zu keinem offenen Bruch und in den folgenden Jahren näherten sich die beiden Organisationen – im Kampf gegen den gemeinsamen Feind – einander wieder an. Dennoch hat al-Qaida beim Kampf in Afghanistan lediglich unterstützende Funktion, indem sie terroristisches Know-how an die Aufständischen weitergibt und möglicherweise Selbstmordattentäter ausbildet und zur Verfügung stellt. Die militärische Bedeutung ihrer Kämpfer ist sehr gering.

Es gibt kaum Belege für eine Zusammenarbeit zwischen den Quetta-Schura-Taliban und al-Qaida. Deren wichtigster Verbündeter unter den afghanischen Aufständischen ist vielmehr das Haqqani- Netzwerk, das sein Rückzugsgebiet im pakistanischen Nord Waziristan in den paschtunischen Stammesgebieten (Federally-Administered Tribal Areas, FATA) hat. Dort befindet sich das pakistanische Hauptquartier der al-Qaida. Das Haqqani-Netzwerk selbst unterstützt die ausländischen Gruppierungen zwar seit Jahren, vertritt selbst aber in erster Linie eine regionale Agenda. Der Haqqani- Familie scheint es vor allem um die Kontrolle der Loya Paktiya genannten Provinzen Paktia, Paktika und zu gehen, doch äußern Führer der Organisation immer wieder Sympathie für die weitergehenden Ziele von al-Qaida und anderen Organisationen.

Da sich Waziristan nach 2001 zum Epizentrum des internationalen Terrorismus entwickelt hat, wurde das Gebiet ab 2008 zum Ziel von intensivierten amerikanischen Drohnenangriffen. Diese trafen jedoch vor allem Personal der ausländischen Organisationen und der pakistanischen Taliban, nicht das Haqqani-Netzwerk.

5. Die pakistanischen Taliban

Das Erstarken der afghanischen Aufständischen hatte dramatische Auswirkungen auf ihre pakistanischen Rückzugsgebiete. Seit 2006 ist vermehrt die Rede von einer "Talibanisierung" von Khyber Pakhtunkhwa und der Stammesgebiete. Hier setzte sich eine neue Generation von Stammesführern durch, die nicht mehr in Afghanistan kämpften, sondern auch den pakistanischen Staat zum Ziel ihrer Aktivitäten erkoren. Im Dezember 2007 gründeten sie eine Dachorganisation, die Pakistanische Taliban-Bewegung (Tehrik-e Taliban Pakistan). Ihr Führer wurde Baitullah Mehsud (ca. 1972-2009) aus Süd-Waziristan. Sein Nachfolger wurde sein Verwandter Hakimullah Mehsud.

Gemeinsam mit jihadistischen Gruppierungen starteten die pakistanischen Taliban eine regelrechte Terrorkampagne gegen ihre Gegner. Die pakistanische und die amerikanische Regierung machten Mehsud beispielsweise für die Ermordung der ehemaligen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto im Dezember 2007 verantwortlich. Die paschtunischen Stammesgebiete – nunmehr das weltweite Epizentrum des Jihadismus – und viele angrenzende Gebiete waren im Frühjahr 2009 pakistanischer Kontrolle entglitten. Die Taliban weiteten ihren Einfluss insbesondere in der Nordwestlichen Grenzprovinz aus. In mehreren Offensiven im Swat-Tal im Mai und in Süd-Waziristan ab Oktober 2009 drängte das pakistanische Militär sie zurück, ohne damit die von ihnen ausgehende Bedrohung für die Stabilität des Landes beseitigen zu können.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 28 Literatur

Crews, Robert D./Amin Tarzi (eds.): The Taliban and the Crisis of Afghanistan, Cambridge (Mass.)/ London: Harvard University Press 2008

Giustozzi, Antonio: Koran, Kalashnikov, and Laptop. The Neo- in Afghanistan, New York: Columbia University Press 2008

Hartung, Jan-Peter /Guido Steinberg: Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Ende, Werner/ Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München5: Beck 2005, S. 681-695

Metcalf, Barbara D.: "Traditionalist" Islamic activism: Deoband, Tablighis and Talibs, Leiden : ISIM, 2002

Rashid, Ahmed: Descent into Chaos. The United States and the Failure of Nation Building in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia, New York (u.a.): Viking 2008

Rashid, Ahmed: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München: Droemer 2001

Don Rassler and Vahid Brown, The Haqqani Nexus and the Evolution of al-Qa´ida, The Combating Center at West Point Harmony Program, July 14, 2011

Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin: Reimer 2003

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

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Afghanistan unter dem Terror der Taliban

Von Babak Khalatbari 15.9.2008 Der Politikwissenschaftler Dr. Babak Khalatbari, geboren 1975, leitet seit 2005 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul, Afghanistan.

Im Jahr 2001 wurden die Taliban gestürzt. Doch noch immer versuchen sie mit ihrem Terror die Bevölkerung einzuschüchtern und die Macht im Land wiederzuerlangen. Im Westen wächst indes der Zweifel am Erfolg des internationalen Afghanistan-Einsatzes. Dabei sind erste Erfolge zu erkennen.

Die politische Lage in Afghanistan wird in nächster Zukunft nicht einfacher werden. Das Land steht in in den kommenden Monaten und Jahren vor anspruchsvollen Aufgaben und ist mit großen Hindernissen konfrontiert. Die Talibanstrategie des "Zerstörens und Mordens" erzeugt im gegenwärtigen Entwicklungsprozess größere Aufmerksamkeit und mehr Schlagzeilen als das "Wiederaufbau und Ausbildungskonzept" des Westens.

Rund sechs Jahre nach dem Sturz der Talibanbewegung ist die Lage in Afghanistan alles andere als rosig. Das Land scheint in einen einigermaßen sicheren Norden, instabilen Osten, kriegerischen Süden und trügerischen Westen zerrissen zu sein. Auch die bisherige Strategie und Wirkung der internationalen Aufbauhilfe wird immer öfter kritisiert. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart hatte und hat Deutschland ein starkes Interesse an der Stabilisierung Afghanistans gezeigt. Die ersten Anfänge der deutsch-afghanischen Beziehungen reichen weit bis ins 19. Jahrhundert zurück.

Interner Machtkampf

Alleine im Jahr 2006 fanden in Afghanistan über 120 Selbstmordanschläge statt, und tausende Zivilisten verloren bei militärischen Auseinandersetzungen ihr Leben. Diese besorgniserregende Entwicklung beunruhigt nicht nur Politiker und Militärs, sondern auch die afghanische Geistlichkeit. Seit mehreren Jahren setzen sich aus diesem Grund auch moderate Mullahs kritisch mit der Ideologie des Selbstmordattentates auseinander, so auch der Islamgelehrte Maulawi Khumaro. Viele Mullahs und Imame denken in Afghanistan wie dieser Theologe, trauen sich aber nicht mehr, offiziell Stellung zu beziehen. Denn obzwar es Meinungsfreiheit gibt, können mittlerweile derartige Äußerungen nicht nur für die Person, die sie äußert, sondern auch für ihr ganzes Umfeld lebensgefährlich sein. Nur noch wenige islamische Theologen von Rang und Namen trauen sich, offen gegen die selbsternannten Prediger der Selbstmordideologie anzugehen. Zu viele aus ihren Reihen mussten für ihre moderaten Ansichten mit dem Leben bezahlen. Im Herbst des vergangenen Jahres überlebte der angesehene Imam der Zentralmoschee von Herat, Hebatullah Fazeli, nur knapp einen Suizidanschlag; er wurde bei diesem Attentat schwer verletzt. Sein "Vergehen" bestand darin, einige Wochen zuvor im Rahmen einer Freitagspredigt in der im 12. Jahrhundert erbauten Freitagsmoschee, der bekannten Masjid-e- Jami, das Selbstmordattentat als unislamisch verurteilt zu haben. Bei dem Anschlag verlor er ein Bein. Die Tragödie ist leider kein Einzelfall: Bis August 2007 wurden über 35 Islamgelehrte in Afghanistan von Extremisten getötet. Ähnlich ergeht es mittlerweile auch moderaten Journalisten, wie die Verleumdungskampagnen und Morde in den letzten Monaten gezeigt haben.[1] Das Spannungsverhältnis zwischen Meinungs- und Pressefreiheit sowie demokratischen Grundrechten auf der einen und der radikalen Auslegung des auf der anderen Seite hat dazu beigetragen, dass der medienpolitische Konflikt in Afghanistan seit 2005 immer stärker eskaliert ist.[2]

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Der Terror der Taliban

Die terroristische Taktik hinter der massiven Einschüchterung zielt darauf ab, dass kaum noch jemand wagt, sich den Auffassungen der theologisch meist nicht sonderlich ausgebildeten Masterminds der Taliban zu widersetzen.[3] Die fundamentalistischen Extremisten scheinen dieses Jahr mit ihrer Guerilla-Taktik nicht nur NATO und ISAF die Stirn zu bieten, sondern auch mit der intensiven Verbreitung von Angst und Schrecken im Wettstreit um die Interpretationshoheit über den Islam letztendlich die moderaten Kräfte durch Gewalt zur Kapitulation zu zwingen. Niedergeschlagenheit scheint sich teilweise unter den afghanischen Gelehrten breit zu machen, und selbst Akademiker, die an der bekannten Al-Azhar-Universität in Kairo studiert und promoviert haben, trauen sich mittlerweile in ihren Freitagspredigten nicht mehr an die "heißen Eisen" heran. Und die Frage nach der Vereinbarkeit der Islamischen Lehre mit der Ideologie des Selbstmordattentates ist ein Thema, mit dem die Taliban versuchen, ihre Gegner für immer zum Schweigen zu bringen.

Dem Zusammenspiel von Sicherheits- und Entwicklungspolitik wird in Afghanistan nicht ohne Grund ein großer Stellenwert beigemessen, denn langfristig wird das eine ohne das andere keinen Bestand haben.[4] Die Vorkommnisse der vergangenen Wochen und Monate zeigen, dass zu dieser Gleichung noch eine dritte Variable hinzukommen könnte, nämlich die der gesellschaftlich-religiösen Identität. Solange das vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Modernität und Tradition in Afghanistan nicht angegangen und in diesem Kontext das Thema Religion nicht gesellschaftspolitisch stärker miteingebunden wird, werden die Extremisten jeden Tag mehr Macht erlangen und letzten Endes vielleicht sogar den längeren Atem haben. Das Durchtrennen dieses gordischen Knotens sollte oberste Priorität genießen und alsbald angegangen werden, da sonst die Gefahr droht, dass extremistische Islamisten das Land am Hindukusch und den Islam ein zweites Mal zur Geisel nehmen könnten. Und das würde auch für die Bundesrepublik in Form ihrer Einbindung in die ISAF-Mission politische wie sicherheitspolitische Folgen haben.[5]

Der schleichende Feldzug der Talibanbewegung zur zeitweisen Rückeroberung mancher Regionen startet in den Köpfen der Einwohner auf dem Land. Gegenwärtig beginnt die geistige Unterwanderung auch die Städte zu erreichen, mit den Mitteln des Zwanges, der Einschüchterung, aber auch mancherorts der Sympathie. Die derzeitige Angriffsstrategie der Taliban kalkuliert kühl zivile Opfer ein. Gezielt werden Bombenanschläge und Angriffe so genutzt, dass bei den Verbänden der International Security Assistance Force (ISAF) und der Operation Enduring Freedom (OEF) aus Sicherheitsgründen immer größere Distanz zu afghanischen Zivilisten gesucht werden muss. Die Taktik der militanten Oppositionskräfte, sich nach Angriffen in bewohnte Gebiete zurückzuziehen, um dann die Zivilbevölkerung zum eigenen Schutz zu missbrauchen, wird die internationalen Schutztruppen auf absehbare Zeit vor ein schwieriges Problem stellen, ebenso der einseitige Propagandakrieg mit den zivilen Opferzahlen. Für das weitere Vertrauensverhältnis zwischen der afghanischen und internationalen Seite ist es wichtig, sich aktiv für die unbedingte Verminderung von "Kollateralschäden" einzusetzen.

Der feige Anschlag auf Angehörige einer deutschen Bundeswehrpatrouille im Juni dieses Jahres in , bei dem nicht nur drei Deutsche umkamen, sondern dem auch zahlreiche afghanische Zivilisten zum Opfer fielen, sowie die Entführungen der letzten Zeit haben die skrupellose Taktik der Talibanbewegung demonstriert. Auch der Bombenanschlag auf eine deutsche Fahrzeugkolonne bei Kabul im August 2007, bei dem drei deutsche Polizisten getötet wurden, belegt die neue Terrorstrategie: zuschlagen, wann immer sich die Möglichkeit bietet. Neben der Einschüchterungstaktik scheint die Talibanbewegung ebenfalls durch die Anti-Drogenpolitik in Afghanistan zu erstarken, da sie sich auf Grund der Vorgehensweise des afghanischen Staates und der internationalen Gemeinschaft gegen den Mohnanbau der Loyalität vieler Drogenbarone gewiss sein kann.[6]

[1] Vgl. Friederike Böge, Jeder kann leicht meinen guten Ruf zerstören. Arbeitsbedingungen von Journalistinnen in Afghanistan, in: einsEntwicklungspolitik, (2007) 10 - 11, S. 50f. [2] Auf diesen Sachverhalt haben Beobachter schon frühzeitig hingewiesen. Vgl. Mariam Tutakhel,

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Medienpolitik in Post-Konfliktstaaten. Beiträge zum politischen Wiederaufbau am Beispiel von Afghanistan, INEF-Report 83/2006, S. 27ff. [3] Bezüglich gegenwärtiger Strukturen, Ideologie und Taktik der Taliban vgl. Thomas Ruttig, Die Taleban nach Mulla Dadullah. Ihre Strukturen, ihr Programm - und ob man mit ihnen reden kann, SWP- Aktuell, 31. 6. 2007, S. 2. [4] Vgl. Christian Ruck/Babak Khalatbari, Fünf Jahre nach den Taliban - aktuelle Entwicklungen am Hindukusch, in: KAS-Auslandsnachrichten, (2007) 1, S. 72 - 91. [5] Vgl. Citha Maaß, Eskalation in Afghanistan und der Tornado-Einsatz. Deutsche Initiativen für eine umfassende Stabilisierungsstrategie gefordert, in: SWP-Aktuell, 14. 2. 2007, S. 1. [6] Vgl. Barnett R. Rubin, Saving Afghanistan, in: Foreign Affairs, 86 (2007) 1, S. 64.

Rückblick 2001 bis 2007

Wie konnte die Talibanbewegung wieder erstarken, und warum erfährt sie in manchen Landesteilen Afghanistans Unterstützung? Um die derzeitige Situation bewerten zu können, bietet sich ein Blick in die Vergangenheit an. Politisch wie militärisch formierte sich die Talibanbewegung im Jahr 1993 und griff ab 1995 massiv in die Auseinandersetzungen in Afghanistan ein. Den Großteil ihrer Kämpfer rekrutierte die Bewegung aus den Koranschulen (madrassas) entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze, mit deren Hilfe sie die Hauptstadt Kabul im September 1996 einnahm und im Folgejahr bis auf einige Teile im Nordosten ganz Afghanistan kontrollierte. Das Land wurde von ihnen in "Islamisches Emirat Afghanistan" umbenannt, das nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten diplomatisch anerkannt wurde. Aus religiösen Gründen wurden Musik, Sport, Bilder und Fernsehen verboten, der größte Teil der Schulen und Universitäten geschlossen. Männer mussten sich Bärte wachsen lassen, und Frauen durften nur mit männlicher Begleitung und in Ganzkörperverschleierung (burqa) das Haus verlassen.

Schon im Jahr 1999 wurde den Taliban die Kooperation mit der Terrororganisation al-Qaida unterstellt. Kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 begann am 7. Oktober 2001 die Bombardierung Afghanistans, rasch folgte die Bodenoffensive amerikanischer Truppen in Kooperation mit den Milizen der Nordallianz. Die Talibanbewegung und ihre Anhänger verloren innerhalb weniger Wochen im ganzen Land ihren Rückhalt und wurden schließlich am 13. November 2001 aus Kabul vertrieben. Der Weg zu einer politischen Neuordnung des Landes schien bereitet. Die so genannte Nordallianz hatte in der ersten Jahreshälfte 2001 zwischen fünf und zehn Prozent des Landes im Nordosten, im Wesentlichen in der Provinz Badakshan, unter ihrer Kontrolle. Mit der Ermordung von Ahmad Shah Massud am 9. September 2001 durch ein Sprengstoffattentat schien das Schicksal der Nordallianz besiegelt zu sein. Rückblickend muss daher der Vormarsch der Nordallianz gegen Kabul als ein Zugeständnis der USA angesehen werden, da diese in der Nordallianz einen natürlichen Verbündeten im Kampf gegen die Taliban sahen. Das Vorhaben der Vereinten Nationen, Kabul als de- oder entmilitarisierte Zone zu erhalten, war zum Scheitern verurteilt, als der Nordallianz von den USA gestattet wurde, die Hauptstadt zu besetzen, und über Nacht rund 5.000 Taliban anscheinend spurlos verschwanden. Ethnisch wie politisch wurde damit den Nachkriegsverhandlungen entscheidender Boden entzogen. Erstmals in der Geschichte Afghanistans sahen sich die tadschikischen Führer in der Lage, die historisch gewachsene paschtunische Dominanz zu brechen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde der Versuch unterlassen, verhandlungsbereite, moderate Vertreter der Talibanbewegung in den politischen Prozess einzubeziehen und so die Bewegung aufzubrechen und zu schwächen. Da in den paschtunischen Gebieten südlich von Kabul die Bevölkerung weitgehend von den Taliban entwaffnet wurde, hatten die Tadschiken es relativ einfach, entlang der Fernverkehrsstraßen nach Süden vorzustoßen und den angrenzenden Gebieten ihr Regime aufzuzwingen. Mit dem parallel dazu verlaufenden Prozess der Stigmatisierung der Paschtunen als Taliban wurden auch die traditionellen Stammeseliten vom politischen Prozess ausgeschlossen. Eine erste Folge dessen war die absolute Unterrepräsentanz paschtunischer Vertreter bei den Bonner Verhandlungen auf dem Petersberg. Dieser Sachverhalt führte zu anhaltenden Spannungen, die die Karzai-Regierung dazu zwangen, mit hohem zeitlichen wie finanziellen Aufwand ethnisch ausgleichende Kompromisse zu suchen. Nicht zuletzt diese Auseinandersetzungen liefern der Talibanbewegung zunehmend Nährboden im Süden

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 32 und Südosten Afghanistans.

Da die afghanische Regierung wegen der grassierenden Korruption und der Nichterfüllung vieler Versprechen in den Augen der Bevölkerung ihre Legitimität weitgehend verloren hatte, wenden sich seit Anfang 2006 viele einstige Anhänger den Oppositionskräften zu. Seit Mai 2006 erfolgt zudem eine Zunahme der Anschläge und Selbstmordattentate, die Verfestigung der nichtstaatlichen Gewaltmonopole sowie eine Zunahme der Opium- (Süden) und Cannabisproduktion (Norden). Die Feststellung, dass die Medien über den Irak zu schlecht und über Afghanistan zu gut berichten, scheint seitdem in doppelter Hinsicht nicht mehr zuzutreffen. Seit Anfang 2007 erfolgt eine Zunahme der militärischen Operationen mit hohen zivilen Opfern. Der Legitimitäts- und Loyalitätsverlust der Regierung nimmt weiter zu, was unter anderem zu einer Formierung der politischen Opposition in Form der National United Front unter dem Vorsitz Burhanuddin Rabbanis im März 2007 führte. Die Korruption erscheint immer mehr als allmächtiger Krake, zudem ist der Versuch eines ethnischen Ausgleichs in der Regierung Karzai gescheitert. Während das paschtunische Lager weiterhin eine Verstärkung seiner Präsenz im Machtgefüge fordert, deuten Gerüchte über mögliche Kabinettsveränderungen auf das Bestreben tadschikischer Führungspersönlichkeiten hin, verlorene Machtposition möglichst noch 2007 wieder zu erlangen. Innenpolitisch zeichnet sich ein Machtkampf zwischen moderaten und islamistischen Kräften ab. Das internationale Afghanistan-Engagement wird durch diese Entwicklung und den sich nur langsam vollziehenden Wiederaufbauprozess, der in den Medien nicht die notwendige Berücksichtigung erfährt, sowie den hohen Blutzoll der entsandten Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer in vielen europäischen Ländern und Kanada mittlerweile von unterschiedlich großen Bevölkerungsteilen in Frage gestellt.

Die Mandate und ihre Bedeutung

Auf der deutschen Seite konzentriert sich die Diskussion auf den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch um die folgenden drei Mandate und die jeweiligen Optionen einer Verlängerung oder Nichtverlängerung: OEF, ISAF und den Tornadoeinsatz.

Die Grundlage der von den USA geführten Mission Operation Enduring Freedom (OEF) sind die Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) sowie Artikel 51 der VN-Charta und Artikel 5 des NATO-Vertrages zu gegenseitigem Beistand. Es beteiligen sich 20 Nationen mit Beiträgen zur OEF, davon 17 in Afghanistan. Der Deutsche Bundestag beschloss die Beteiligung an der OEF erstmals am 16. November 2001. Derzeit umfasst das Mandat die Bereithaltung von 25 Sanitätskräften, 100 KSK-Soldaten sowie Seestreitkräfte im Einsatz am Horn von Afrika. Auch weiterhin befindet man sich in Afghanistan sowie in vielen anderen Staaten im Kampf gegen den Terror. Die US-geführte OEF wird aus diesem Grund so lange benötigt, bis die Urheber der Anschläge von 9/11 festgesetzt werden können und die generelle Terrorbedrohung neutralisiert ist. Ein Ausscheren Deutschlands aus dem OEF-Mandat ist ohne politischen Flurschaden nicht denkbar. Die zu erwartende Folge wäre eine erneute transatlantische Verstimmung und ein Vertrauensverlust bei Bündnispartnern innerhalb der NATO. Zusätzlich könnten bei der Nichtverlängerung des OEF- Mandats deutsche ISAF-Truppen für Operationen im Süden Afghanistans angefordert werden. Man sollte bei der Mandatsentscheidung zwischen Kosten und Nutzen abwägen und sich auf die Stärken der Bundeswehr im Norden besinnen. Eine nicht mehr gewährleistete Trennung von Kampfeinsätzen gegen Terroristen im Süden und die zivil-militärische Wiederaufbaumission im Norden des Landes könnte durch eine Nichtverlängerung des OEF-Mandats zum einen bei vielen Afghanen auf Unverständnis stoßen und zum anderen den Deutschland-Bonus am Hindukusch weiter reduzieren.

Die Grundlage für das Entstehen der ISAF basiert auf der Bonner Vereinbarung über den Wiederaufbau Afghanistans vom Dezember 2001. Relativ zeitnah, am 20. Dezember 2001, beschloss der VN- Sicherheitsrat die Aufstellung einer solchen Truppe, und am Tag darauf beschloss der Deutsche Bundestag erstmals die Beteiligung deutscher Streitkräfte an dieser von der VN mandatierten Mission. Die 37 teilnehmenden Staaten sind von den VN ermächtigt worden, alle zur Erfüllung ihres Mandats notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Damit können im Ernstfall auch Kampfeinsätze gegen militante

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 33 oder kriminelle Gegner der ISAF-Schutztruppe gemeint sein. Die ISAF besteht aus rund 36.000 Soldaten, aus Deutschland stammen ca. 3.000. ISAF kann als das stabilisierende Rückgrat des fragilen afghanischen Staates beschrieben werden. Sollten kurz- bis mittelfristig die ISAF-Truppen abgezogen werden, droht mit großer Wahrscheinlichkeit das afghanische Staatswesen zusammenzubrechen. Dies hätte verheerende Folgen nicht nur für die Bevölkerung und für die gesamte Region, sondern auch für die Zielregionen des internationalen islamistischen Terrors, speziell die USA und Europa. Das Signal, das durch eine ausbleibende Mandatsverlängerung 2007, 2008 oder später entstünde, würde sicherlich den Radikalislamisten zusätzlich "politische Morgenluft und neue Antriebskraft" verschaffen, ganz abgesehen von der bündnispolitischen Blamage. Deutschland wird international wie in Afghanistan durch sein außenpolitisches Auftreten unter Bundeskanzlerin Angela Merkel als starker Partner wahrgenommen. Zudem hat sich die Bundeswehr bislang im Norden Afghanistans durch ihren zivil-militärischen Ansatz profiliert. Zu guter Letzt darf nicht vergessen werden, dass Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte ISAF-Truppensteller ist. Die Nichtverlängerung des ISAF- Mandats durch den deutschen Bundestag könnte somit für ISAF den Anfang vom Ende darstellen.

Ferner sind seit dem 15. April 2007 Tornado-Aufklärungsjets der Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. An direkten Kampfhandlungen sind die sechs Maschinen allerdings nicht beteiligt. Das Bundestagsmandat für ISAF und den Tornadoeinsatz ist bis zum 13. Oktober 2007 befristet. Folglich steht die Verlängerung des deutschen Mandats für die Internationale Schutztruppe ISAF, Tornado und OEF im Herbst an. Die NATO beantragte kürzlich bei der Bundesregierung die Verlängerung des Tornado-Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan. Wegen der veränderten Sicherheitslage adressierten 22 Mitglieder des amerikanischen Senats in einem Schreiben an NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer die Botschaft, dass die Lasten des Einsatzes in Afghanistan gleichmäßiger unter den NATO-Mitgliedern zu verteilen seien.

Bewertung

Auch der deutsche Einsatz hilft den Menschen in Afghanistan bei der schrittweisen Verwirklichung einer lebenswerten Zukunft. Trotzdem sind noch lange nicht alle Ziele erreicht. Obwohl in vielen Feldern Beachtliches geleistet wurde, werden die afghanische Gesellschaft und mit ihr die internationale Gemeinschaft in Zukunft noch vor gewaltigen Herausforderungen stehen. Zum einen, weil sich die Sicherheitslage in Afghanistan speziell im Süden und Osten verschlechtert hat, und zum anderen, weil die vor sechs Jahren geweckten Erwartungen auf internationaler und afghanischer Seite teilweise zu ambitioniert und daher unrealistisch erscheinen. Zur Stabilisierung des Landes benötigt man mehr Zeit und weitere Ressourcen, denn wenn man sich mit der Topographie Afghanistans, der Historie des Landes, der Ethnizität, den ungelösten Grenzstreitigkeiten mit angrenzenden Nachbarstaaten, der Drogenökonomie und dem Wirken der Talibanbewegung auseinandersetzt, wird deutlich, dass es für ein Land wie Afghanistan keine einfache Lösung für die vielfältigen Probleme geben kann. Bei den im Oktober 2007 anstehenden Entscheidungen sollte trotz der verschiedenen politischen Auffassungen von allen Entscheidungsträgern bedacht werden, dass die Bemühungen um den Wiederaufbau und die Demokratisierung Afghanistans bei einem verringerten oder gar ausbleibenden Engagement vergebens gewesen sein könnten. Deutsche Soldaten, Diplomaten und Entwicklungshelfer würden dann vor den Trümmern ihrer langjährigen Arbeit stehen. Zudem würde ein Rückzug einerseits Afghanistan in eine humanitäre Katastrophe stürzen und andererseits die NATO vor eine Zerreißprobe stellen.

Nach der internationalen Isolierung während der Talibanherrschaft kehrte Afghanistan nach dem Sturz der Taliban gegen Ende 2001 in die internationale Staatengemeinschaft zurück. Im Jahr 2004 setzte die erste Intervallbewegung ein, da bei der Verfassungsgebung der afghanische Staat - wie übrigens viele arabischen Staaten auch - das Spannungsverhältnis zwischen Islam und Demokratie nicht genügend berücksichtigte. Seit den Parlamentswahlen im Jahr 2005 sind regelmäßige Intervallbewegungen in Afghanistan zu erkennen, bei denen die Monate April bis Oktober in der Regel die Krisenmonate sind. Während dieser Zeit erfolgen einerseits die Mohnernte und andererseits die militärischen und terroristischen Aktionen der Aufstandsbewegung, die oftmals direkt oder indirekt

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 34 durch den Opiumerlös finanziert werden. In den Monaten November bis März kehrte indes in den vergangenen drei Jahren auf Grund der harten Klimabedingungen eine Art Ruhephase ein, die für Partisanenkriege eigentlich recht typisch ist. Diese beschriebene Intervallbewegung wird zusätzlich durch einen negativen Abwärtstrend ergänzt, der seit Herbst 2005 kontinuierlich weiter zunimmt. Die Authentizität und politische Wahrnehmung der Regierung wird bei gleich bleibender Performance irgendwann beim afghanischen Volk für Unverständnis sorgen, da immer größere Teile der Bevölkerung die Regierung für die schlechte Regierungsführung, den Auswuchs der Drogenökonomie, die ausufernde Korruption und den zu langsam erscheinenden Wiederaufbau verantwortlich machen. Auch werden gegenwärtig die wichtigen Themen der afghanischen Innenpolitik, die sich größtenteils um Armutsreduzierung und Arbeitslosigkeit drehen, nicht genügend berücksichtigt.

Erfolgsmeldungen aus Afghanistan

Neben Entwicklungshemmnissen und -gefahren gibt es auch Erfolge aus Afghanistan zu berichten. Dies ist notwendig, da das internationale Engagement nach rund sechs Jahren die ersten Früchte trägt. So hat sich beispielsweise das legale Pro-Kopf-Einkommen in Afghanistan (335 US-Dollar) seit 2001 fast verdreifacht, das Wirtschaftswachstum liegt seit mehreren Jahren im zweistelligen Bereich und wird für 2006/2007 auf rund 14 Prozent geschätzt, und die afghanische Regierung konnte die eigenen Einnahmen von 275 Mio. US-Dollar in 2005 auf 715 Mio. im Jahr 2006 erhöhen. Des Weiteren haben 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder Zugang zu Schuleinrichtungen, im Jahr 2002 waren es nur 22 Prozent. Seit 2001 wurden in Afghanistan insgesamt rund 3.500 Schulen gebaut, alleine 300 von der Bundesrepublik. Durch diese Hilfe hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler auf ca. 6,5 Millionen, rund zwei Drittel sind davon Mädchen, erhöhen können. Zusätzlich wurden 30.000 Lehrerinnen und Lehrer aus- und fortgebildet. Ähnlich sieht es mit der medizinischen Grundversorgung aus, denn gegenwärtig verfügen ca. 80 Prozent der Bevölkerung über geregelten Zugang zu ihr. Durch die sich verbessernden Rahmenbedingungen kehrten seit 2001 insgesamt mehr als 4,6 Mio. Binnenvertriebene und Flüchtlinge in ihre Herkunftsregion bzw. nach Afghanistan zurück.[7]

Mit ihren finanziellen Leistungen und Zusagen in Höhe von bisher ca. 900 Millionen Euro ist die Bundesrepublik insgesamt das viertgrößte Geberland für Afghanistan.[8] Neben zwei von Deutschland geführten so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs) in Kunduz und Faizabad widmet sich das deutsche Engagement besonders dem Aufbau der Infrastruktur, des Mittelstands und des Bildungssektors. Durch die Wiederherstellung der Trinkwasser- und Stromversorgung in Kabul, Kunduz und Herat haben rund 2,5 Millionen Personen wieder Zugang zu Energie und Frischwasser. Ferner wurden mehr als 8.000 Entnahmestellen für Trinkwasser bereitgestellt, insgesamt 1.700 Wasserreservoirs und 55 dörfliche Wassernetze versorgen ca. vier Millionen Menschen. Der Bau von Brücken, Straßen und Bewässerungsanlagen trägt dazu bei, dass die Rahmenbedingungen für eine sich gerade entwickelnde Binnenwirtschaft geebnet werden. Diese wird speziell auch durch die Erneuerung einer Hauptverkehrsader, der so genannten ring road, an der rund 60 Prozent der Bevölkerung leben, nachhaltig unterstützt. Insgesamt wurden 715 Kilometer der ring road erneuert und 2.400 Kilometer Zufahrtsstraßen in Stand gesetzt.

Deutschland hat seit 2002 die internationale Führungsrolle für den Wiederaufbau einer professionellen afghanischen Polizei übernommen. Bislang wurden etwa 4.300 Polizisten der mittleren und höheren Dienstgrade aus- und ca. 14.000 weiter fortgebildet. Dem Aufbau der Polizei und Grenzpolizei wird bei der Wiederherstellung der inneren Sicherheit Afghanistans sicherlich eine Schlüsselrolle zukommen. Am 17. Juni 2007 wurde das deutsche Polizeiprojekt an die europäische Polizeimission in Afghanistan (EUPOL AFG) übergeben. Die Mission, welche zunächst drei Jahre dauern soll, umfasst 160 Polizeiexperten aus 21 Ländern der EU sowie Drittstaaten. Die Gehaltszahlungen der afghanischen Polizei werden über den von der UNDP verwalteten Law and Order Trust Fund For Afghanistan (LOTFA) abgewickelt, an dem sich die Bundesrepublik bisher direkt mit sieben Mio. Euro sowie anteilig am EU-Beitrag in Höhe von 135 Mio. Euro beteiligt hat.

In einem Land wie Afghanistan liegen Erfolg und Misserfolg eng beieinander. Bei dieser diffizilen

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Konstellation ist Kontinuität ein wichtiges Signal. Der zivil-militärische Einsatz am Hindukusch bedeutet Sicherheit für den Westen und eine große Entwicklungschance für Afghanistan. Deutschland kann in Zukunft bezüglich seiner Afghanistan-Politik außenpolitisch erheblich an Kontur gewinnen - oder aber auch einbüßen. Das Thema Afghanistan-Mandate scheint grundsätzlich über ein Potenzial zu verfügen, das sich schnell zu einem innenpolitischen Zankapfel oder außenpolitischen Stolperstein entwickeln kann. Selbst nach den Abstimmungen zu den Mandatsverlängerungen am 12. Oktober 2007 wird daher das Land am Hindukusch die Große Koalition weiter beschäftigen.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 39/2007)

[7] Weitere ca. 2,5 Mio. halten sich noch in Pakistan und rund 1,9 Mio. im Iran auf. [8] Jährlicher Grundbeitrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für den Wiederaufbau 2002 bis 2010 sind bislang 80 Mio. Euro; für 2007 wurde der Grundbeitrag auf 100 Mio. Euro erhöht. Darüber hinaus ist Deutschland anteilig an der Wiederaufbauhilfe von Europäischer Union, Weltbank und Asiatischer Entwicklungsbank beteiligt.

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Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan

Von Conrad Schetter 15.9.2008 Dr. Conrad Schetter, geboren 1966, studierte Geographie und Geschichte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Er veröffentlichte unter anderem die Bücher "Afghanistan in Geschichte und Gegenwart" sowie "Kleine Geschichte Afghanistans".

Afghanistan ist geprägt von seinen unterschiedlichen Gemeinschaften: Clans, Stämme, religiöse und ethnische Gruppen. Lokale Herrschaftsstrukturen verhinderten lange Zeit die Entstehung eines einheitlichen afghanischen Staates. Und auch heute sind sie eine Hürde für den Aufbau staatlicher Strukturen.

Die militärische Intervention der von den USA geführten Coalition against Terrorism im Herbst 2001 sollte nicht nur das Taliban-Regime hinwegfegen und die Horte des Terrorismus beseitigen, sondern gleichzeitig die Befriedung und den Wiederaufbau Afghanistans einleiten.

Sechs Jahre später scheint Afghanistan von dieser Zielsetzung weit entfernt. Nicht nur erleben die Taliban ein Revival und kontrollieren bereits ganze Distrikte in Südafghanistan, sondern auch andernorts stellen die lokalen Gegebenheiten eine enorme Herausforderung für den Wiederaufbau und eine Modernisierung Afghanistans dar. So dominieren gegenwärtig lokale Macht- und Gewaltstrukturen das Land, die Analytiker gern als "Kriegsfürstentum" umschreiben.[1] Diese lokalen Herrschaftsstrukturen sind hochdynamisch, folgen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und stehen modernen, auf Staatlichkeit basierenden Herrschaftsvorstellungen entgegen. Die wesentliche Ursache für die starke lokale Verortung von Macht und Gewalt in Afghanistan liegt darin begründet, dass eine staatliche Durchdringung Afghanistans niemals stattfand, ein staatliches Gewaltmonopol fehlt und der Staat im besten Falle eine Ressource für lokale Eliten darstellt.

Erosion der Staatlichkeit

Die afghanische Gesellschaft ist durch eine Reihe sich überlappender Solidaritätsbezüge geprägt: Dorfgemeinschaften, Clans, Stämme sowie religiös oder ethnisch definierte Gemeinschaften bilden die wichtigsten Identitäts- und Handlungsreferenzen. Diese vielgestaltigen, partikularistischen Gemeinschaftsorganisationen standen Staatsbildungsprozessen auf überlokaler Ebene stets entgegen. Erst das Great Game zwischen den imperialen Mächten hatte Ende des 19. Jahrhunderts zur Folge, dass Afghanistan als Pufferstaat zwischen Britisch Indien und Russland entstand.

Die Entwicklung des afghanischen Staats ist von Beginn an durch seine extreme Schwäche geprägt - vor allem, da ihm die wirtschaftlichen Ressourcen für einen selbst tragenden, etwa durch Steueraufkommen finanzierten Staatsbildungsprozess fehlten. Im Zuge des 20. Jahrhunderts entwickelte sich Afghanistan zu einem Rentierstaat, der finanziell von anderen Staaten (v. a. USA, Sowjetunion) abhängig war. Seit den 1950er Jahren stammten über 40 Prozent der Staatseinnahmen von auswärts, namentlich aus der Entwicklungshilfe.[2] Die staatliche Politik bestand darin, die Beziehungen zwischen den verschiedenen lokalen Führern und der bürokratischen Elite Kabuls in ein Gleichgewicht zu bringen; Zuwendungen wurden klientelistisch verteilt und die Lokalpotentaten in ein System von Pfründen und Posten eingebunden.[3]

Gleichzeitig stellte die Kluft zwischen Kabul und dem übrigen Land ein konstantes Spannungsfeld dar, das sich bis heute auf das politische Geschehen auswirkt. Dem Staat, der im urbanen Raum verankert

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 37 war und der für eine politische Modernisierung eintrat, stand der ländliche Raum gegenüber, dessen traditionell segmentär organisierte Gesellschaft den von der Regierung ausgehenden Impulsen misstraute. Während die städtischen Zentren, allen voran Kabul, zu Oasen der Staatlichkeit avancierten, konnte die Provinz- und Distriktverwaltung nur oberflächlich die ländlichen Strukturen verändern und wurde von der Mehrheit der im ländlichen Raum lebenden Bewohner als eine fremde, ja als eine feindliche Größe verstanden. Eine Identität oder gar Loyalität mit dem afghanischen Staat prägte sich daher kaum aus. Die Machtergreifung der kommunistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistan im April 1978 führte zu einem offenen Bruch zwischen Staat und ländlicher Bevölkerung. Der Versuch der zahlenmäßig schwachen, überwiegend städtischen Parteimitglieder, dem System tribaler und lokaler Autonomien ein Ende zu bereiten und durch radikal umgesetzte Reformen im Eilverfahren einen modernen Staat zu kreieren, rief im ganzen Land Aufstände der lokalen Eliten hervor. Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Dezember 1979 verschärfte sich dieser Konflikt weiter und beschränkte den Handlungsradius der Regierung auf Kabul und einige Provinzstädte.

Eines der wesentlichen Ergebnisse der seit 1979 tobenden Kriege in Afghanistan ist, dass die embryonalen staatlichen Strukturen, die während des 20. Jahrhunderts zumindest in den Städten aufgebaut worden waren, auf allen Ebenen zerfielen. Neben der nahezu kompletten physischen Zerstörung der Infrastruktur ist vor allem die Erosion des staatlichen Gewaltmonopols zu nennen. Ausschlaggebend hierfür war, dass die afghanische Regierung sich im Verlauf der 1980er Jahre immer weniger auf die reguläre Armee verlassen konnte, da diese sich im Kampf gegen den Widerstand als ineffektiv erwies und durch eine hohe Deserteursrate geschwächt war. Daher trat der afghanische Staat das Gewaltmonopol an lokal, tribal oder ethnisch organisierte Selbstverteidigungsfronten oder Milizen ab, die sich als weitaus effektiver erwiesen. Im Laufe des Krieges wurden einige Milizen sogar zu regulären Armeeeinheiten aufgewertet; so wurde etwa die berüchtigte Jauzjan-Miliz von Rashid Dostum zur 53. Infantrie-Division erhoben. Zudem kontrollierten diese Milizen auch verstärkt lokale Sicherheitseinheiten wie Polizei und Geheimdienst und übernahmen zivile Verwaltungsaufgaben.[4]

Doch auch die Mujahidin, welche 1992 in Kabul einmarschierten und der kommunistischen Herrschaft ein Ende bereiteten, waren nicht in der Lage, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen. Denn auch die Mujahidin-Parteien verfügten nur über geringen Einfluss auf ihre Kampfverbände, die in gleicher Weise wie die regierungsnahen Milizen eigenständig operierten, über eine hohe Autonomie verfügten und ihre Kampfkraft meistbietend verkauften. Ohnehin waren bereits in den 1980er Jahren pragmatische, kurzfristige Vorteile für die Allianzpolitik wichtiger als ideologische Nähe und Distanz. Kampfverbände und Milizen wechselten häufig je nach politischer Großwetterlage und finanziellen Anreizen die Seiten. Ihr wesentliches Ziel war es, den eigenen Solidarverband am besten gegenüber äußeren Eingriffen zu schützen.

Angesichts willkürlicher Gewalt und Enteignung gewannen lokale Solidarverbände als Schutzbündnisse für das alltägliche Überleben an Bedeutung. Gerade der Schutz der Frauen, dem in den patriarchalisch ausgerichteten afghanischen Gemeinschaften als Ausdruck der männlichen Ehre eine herausragende Bedeutung zukommt, diente häufig als wichtiges Argument für die Existenzberechtigung der Milizen.[5]

In den 1990er Jahren lösten diese lokal gebundenen Macht- und Gewaltstrukturen die staatliche Gewaltkontrolle vollkommen ab. Während es in einigen Regionen wie Nord- und Westafghanistan Rashid Dostum oder noch vermochten, über eine Divide-et-impera-Politik verschiedene Kommandeure in eine persönliche Abhängigkeit zu bringen, konzentrierten sich in Regionen, in der eine segmentäre, tribale Gesellschaftsorganisation vorherrschte, wie in Süd- und Ostafghanistan, Gewaltstrukturen auf Dorf- oder Talschaftsebene. Das Fehlen von Staatlichkeit bedingte zudem, dass seit den späten 1980er Jahren Wirtschaftsweisen - z.B. Abholzung von Wäldern, Schmuggel, Menschenhandel -, die von dem Fehlen staatlicher Kontrolle profitierten, an Bedeutung gewannen. Vor allem stieg Afghanistan zum wichtigsten Opiumerzeuger auf. So werden seit Mitte der 1990er Jahre jährlich 75 bis 95 Prozent des globalen Rohopiums in Afghanistan produziert. Gerade in den Drogenhauptanbaugebieten wie in den Provinzen Hilmand, Nangarhar oder sind daher

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 38 die Macht- und Gewaltstrukturen der äußerst lukrativen Drogenökonomie untergeordnet.[6]

Die Taliban, die 1996 die Macht über Kabul übernahmen, vermochten es - zumindest in der äußeren Darstellung der Bewegung - kurzzeitig, der lokalen Zersplitterung des Landes entgegenzuwirken. Jedoch wurde mit dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes im Herbst 2001 die Fragmentierung Afghanistans erneut offensichtlich. Das Land zerfiel in eine Vielzahl räumlich kaum fixierbare Herrschaftsgebiete, die von unzähligen Kommandeuren, Drogenbaronen, Stämmen und religiösen Würdenträgern regiert wurden. Bis heute vermag es die afghanische Regierung kaum, ihre Kontrolle über Kabul und die Provinzstädte hinaus auszudehnen, weshalb Präsident von Spöttern als "Bürgermeister von Kabul" bezeichnet wird. Kaum gibt es eine staatliche Präsenz in Form von Polizisten oder Beamten in den ländlichen Distrikten, in denen das Gros der afghanischen Bevölkerung lebt.

So entziehen sich bis heute die ländlichen Regionen der staatlichen Kontrolle. Jedoch sind die lokalen Macht- und Gewaltstrukturen recht facettenreich und reichen von gelegentlichen Selbstverteidigungsfronten und Ordnungstrupps auf Dorf- oder Stammesebene bis hin zu hoch professionellen Milizen, Privatarmeen, Gangs, kriminellen Banden und militanten Oppositionsgruppen; Letztere werden in der Regel unter dem Begriff "Taliban" zusammengefasst. Im Folgenden soll anhand von drei Beispielen gezeigt werden, dass sich in verschiedenen Regionen Afghanistans ganz unterschiedliche Macht- und Gewaltstrukturen ausprägten.[7]

[1] Mark Sedra, Challenging the Warlord Culture, Security Sector Reform in Post-Taliban Afghanistan, Bonn International Center for Conversion (BICC Paper 25), 2002, in: www.bicc.de (http://www.bicc. de/publications/papers/paper25/paper25.pdf) (17. 8. 2007); Conrad Schetter, Kriegsfürstentum und Bürgerkriegsökonomien in Afghanistan. Köln (Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik 4), 2004, in: www.politik.uni-koeln.de (http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/ templates/publikationen/aipa/aipa0304.pdf) (17. 8. 2007). [2] Vgl. Barnett Rubin, Political Elites in Afghanistan: Rentier State Building, Rentier State Wrecking, in: International Journal of Middle Eastern Studies, 27 (1992), S. 77 - 99; Andreas Wimmer/Conrad Schetter, Putting State-formation First: Some Recommendations for Reconstruction and Peace-Making in Afghanistan, in: Journal for International Development, 15 (2003), S 525 - 539. [3] Vgl. Jan-Heeren Grevemeyer, Afghanistan. Sozialer Wandel und Staat im 20. Jahrhundert, Berlin 1990. [4] Vgl. Antonio Giustozzi, War, Politics, and Society in Afghanistan 1978 - 1992, London 2000. [5] Vgl. Barnett Rubin, The of Afghanistan, New Haven 1995. [6] Vgl. ders., The Political Economy of War and Peace in Afghanistan, in: World Development, 28 (2000) 10, S. 1789 - 1803; Conrad Schetter, The "Bazaar Economy" of Afghanistan, in: Christine Noelle- Karimi/Conrad Schetter/Reinhard Schlagintweit (Hrsg.), Afghanistan - A Country Without a State?, Frankfurt/M. 2002, S. 109 - 127. [7] Eine ausführliche Darstellung der Beispiele findet sich in: Conrad Schetter/Rainer Glassner/Masood Karokhail, Beyond Warlordism. The Local Security Architecture in Afghanistan, in: Internationale Politik und Gesellschaft, (2007) 2, S. 136 - 152.

Facetten lokaler Macht- und Gewaltstrukturen

In Paktia, einer Provinz im Südosten Afghanistans, leben vornehmlich paschtunische Stämme. Diese umfassen meist nur wenige Tausend Mitglieder und siedeln jeweils in einem eigenen Stammesterritorium. Die Identität mit dem Stamm stellt das zentrale Merkmal für die Bevölkerung dar. Das Paschtunwali, der Ehren- und Rechtskodex der Paschtunen, ist für alle Stammesmitglieder bindend, wenngleich seine Inhalte von Stamm zu Stamm graduell abweichen.[8] Grundlegender Gedanke des Paschtunwali ist, dass sämtliche männlichen Stammesmitglieder den gleichen Status einnehmen und die Autonomie des Stammes oberste Priorität genießt. Entsprechend dieser Vorstellungen werden Entscheidungen im Konsens getroffen, indem eine Stammesversammlung (Jirga) in Konfliktfällen vermittelt und über den Einsatz von Gewalt entscheidet. Auch bedingt das

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Paschtunwali, dass politische Führerschaft stark umstritten ist, da die herausragende Stellung eines Stammesmitglieds vom Stamm nur temporär geduldet wird. Dies erklärt etwa, weshalb sich in Paktia kein von den Stämmen unabhängiges Kommandeurswesen längerfristig herausbilden konnte. Führerschaft benötigt stets eine Legitimierung durch den Stamm.

Die Stämme verfügen auch über eigene Polizeieinheiten, die so genannten Arbaki. Diese werden von den Stämmen je nach Bedarf ausgehoben, um die Entscheidungen der Stammesräte umzusetzen. Die Aufgaben der Arbaki reichen von der Kontrolle des Stammesterritoriums, dem Schutz von Stammesressourcen (Wälder, Weiden) bis hin zu Kampfhandlungen und dem Niederbrennen von Häusern verstoßener Stammesmitglieder. Die Abgrenzung zwischen Stamm und Staat verläuft zudem in Paktia eindeutig: So dulden die Stämme keine staatliche Intervention in Stammesangelegenheiten, sprechen aber dem Staat durchaus eine Existenzberechtigung außerhalb der Stammesgebiete zu. Im Unterschied zu anderen Regionen Afghanistans betrachten die Stämme zudem staatliche Ämter nicht als begehrenswerte Ressourcen. Wenngleich der Einfluss des Staats auf die Stämme recht schwach ist, stellen ausgerechnet die Arbaki ein Feld der Kooperation zwischen Stamm und Staat dar. So finanzieren die Gouverneure von Paktia seit den vergangenen Jahren bei allen Stämmen den Kern der Arbaki, wenngleich deren Kontrolle bei den Stammesräten liegt. Insgesamt ist Paktia also durch recht intakte, tribal legitimierte Macht- und Gewaltstrukturen gekennzeichnet.

Die Situation in der nordöstlichen Provinz Kunduz unterscheidet sich in nahezu allen Belangen von der in Paktia. Verschiedene Migrationswellen und eine gesteuerte staatliche Siedlungspolitik bedingten die Ansiedlung unterschiedlicher ethnischer Gruppen im 19. und 20. Jahrhundert, so dass sich heutzutage die kulturellen Identitäten häufig von Dorf zu Dorf unterscheiden. Auch fehlen in Kunduz gruppenübergreifende Ordnungsvorstellungen wie das Paschtunwali in Paktia. Dementsprechend konzentrieren sich die Machtstrukturen vornehmlich auf Mikrokosmen wie Dörfer, Talschaften oder Kanalläufe. Allein in Regionen, in denen sich Großgrundbesitz ausprägen konnte (z.B. Imam Sahib), vermögen es lokale Eliten, ganze Landstriche zu kontrollieren. Im Unterschied zu Paktia bildete sich in Kunduz ein starkes Kommandeurswesen aus, das sich im Laufe des Afghanistankrieges entwickelt hatte. So liegt auch noch heute vielerorts die Macht in den Händen kampferprobter Kommandeure, wenngleich Waffen selten offen zur Schau gestellt werden. Auch sind diesen Kommandeuren durch die lokalen Gemeinschaften nur bedingt Grenzen gesetzt, so dass sie recht eigenständig Entscheidungen fällen können. Ihre Macht basiert daher häufig auf ihrer Waffengewalt und auf ihren politischen Netzwerken. So sind viele Kommandeure, wie für ganz Nordafghanistan typisch, meist aufgrund ihrer ethnischen Ausrichtung mit regionalen Kriegsfürsten wie Rashid Dostum, Mohammad Daud oder verbunden. Im Unterschied zu Paktia stellt in Kunduz der Staatsapparat eine wichtige Ressource für die Legitimation lokaler Eliten dar. So erhoffen sich diese von der Ausübung eines staatlichen Amts eine allgemeine Anerkennung ihrer Sonderstellung. Diese Vermischung von Staatsapparat und Milizenwesen führt dazu, dass die lokale Bevölkerung in Kunduz die Polizei nicht von ungefähr als "Privatmilizen in Uniform" wahrnimmt.

Die Macht- und Gewaltstrukturen in der südafghanischen Provinz Kandahar zeigen ein anderes Bild. Zwar leben in Kandahar wie in Paktia fast ausschließlich paschtunische Stämme. Diese sind jedoch im Unterschied zu Paktia in großen Stammesverbänden organisiert, und ihre Siedlungsgebiete sind über ganz Südafghanistan verstreut. Auch sind die Stämme aufgrund vorherrschender Großgrundbesitzstrukturen weitaus stärker hierarchisch organisiert und werden von wenigen Elitefamilien beherrscht. So kristallisierten sich in Kandahar wenige, äußerst einflussreiche Machthaber (z.B. Wali Karzai, Gul Agha Shirzai) heraus, die jeweils über Großgrundbesitz verfügen, einen Stamm repräsentieren, eigene Milizen befehligen und ein staatliches Amt ausüben. Diese hierarchischen Machtstrukturen werden von dem Anti-Terrorkampf und von der Drogenökonomie stark beeinflusst. Die Taliban stellen in Kandahar weitaus weniger eine geeinte militante islamistische Bewegung dar als lose miteinander verbundene Kampfverbände.

Der Begriff Taliban ist zudem geradezu Ausdruck eines Lifestyles gewaltsamen Protests, der gerade bei der verarmten Stammesunterschicht auf Zustimmung stößt. Wenngleich je nach lokalem Kontext

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 40 die Beweggründe für den Anschluss an die Taliban variieren, so geht es meist um die Aufrechterhaltung der lokalen Autonomien sowie um die Herstellung von Sicherheit und Gerechtigkeit, die die Bevölkerung durch den afghanischen Staat und die Operation Enduring Freedom gefährdet sehen. Während die Taliban eher die hierarchischen Machtstrukturen herausfordern, verstärkt die Drogenökonomie, die in Kandahar eines ihrer wesentlichen Zentren hat, eher die herrschenden Machtkonstellationen. Denn die Drogenökonomie ist von solch wirtschaftlicher Bedeutung, dass nahezu alle Machthaber, ob auf Seiten der Regierung oder auf Seiten der Taliban, in diese involviert sein müssen, wenn sie ihren Einfluss auf die lokale Politik wahren wollen. Die gewaltsame Anti-Drogenkampagne, die die internationale Gemeinschaft gemeinsam mit der afghanischen Regierung in Kandahar durchführte, bedingte zudem, dass Bauern und Händler sich verstärkt den Taliban zuwendeten, da diese bislang nicht gegen die Drogenökonomie vorgingen.

Lokale Ordnung

Die drei dargelegten Beispiele zeichnen ein recht uneinheitliches Bild lokaler Macht- und Gewaltkonstellationen, das dem immer wieder einheitlich skizzierten Bild von Kriegsfürsten widerspricht. So existieren in einigen lokalen Gemeinschaften Verfahren, über die die Machtstrukturen immer wieder eine Legitimierung erfahren, während in anderen Gemeinschaften Machthaber über einen großen Entscheidungsspielraum verfügen. Auch die Abgrenzung hin zum Staat verläuft sehr unterschiedlich; mal ist eine klare Abgrenzung auszumachen, mal übernehmen lokale Eliten staatliche Ämter zur eigenen Legitimation, politischen Absicherung oder Selbstbereicherung. Schließlich zeigen die Beispiele, dass gesellschaftliche (z.B. Stammesgesellschaft) und ökonomische (z.B. Drogenökonomie, Großgrundbesitz) Faktoren wie auch externe Interventionen (z.B. Kampf gegen den Terror) für die Ausgestaltung der lokalen Ordnung eine wichtige Rolle spielen. So kann für Afghanistan "ein horizontales Gefüge konkurrierender, regionaler, und lokaler Sicherheitsherrschaften" konstatiert werden.[9]

Frappierend ist die starke Lokalität der Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan. Aufgrund der faktischen Abwesenheit des Staatswesens und der Stärke partikularer Interessen konnten sich bis heute längerfristig kaum distrikt- oder provinzübergreifende Herrschaftsformen durchsetzen. Selbst die Macht regionaler Größen wie Rashid Dostum, Gul Agha Shirzai, Ismail Khan oder Mohammad Mohaqeq baut auf sehr instabilen Patronageverbindungen auf. Wenngleich diese Führer über Heiratsverbindungen und über die Kanalisierung von Ressourcen bemüht sind, ihre Klientel an sich zu binden, wechseln lokale Kommandeure und Milizen nicht selten die Seiten, spielen mit ihren Loyalitäten und verhindern damit die Konzentration physischer Gewalt auf überlokaler Ebene.

Selbst die Taliban-Bewegung, die in der westliche Berichterstattung immer wieder als homogener Block erscheint, steht gegenwärtig vor dem Problem, dass die lokalen Kampfverbände ihre eigenen Ziele verfolgen, die eher in der Aufrechterhaltung der lokalen Autonomie als in der Durchsetzung eines radikalen islamistischen Programms liegen. Jedoch bedeutet diese Lokalität von Herrschaft nicht, dass Afghanistan in voneinander völlig abgeschottete Mikrokosmen zerfällt. Ganz im Gegenteil sind viele afghanische Clans - gerade durch die Umwälzungen des Krieges - im ganzen Land und selbst über die Grenzen Afghanistans hinaus nach Pakistan und Iran hin gut vernetzt. So schließen familiäre Überlebensstrategien Arbeitsmigration an den Golf und in die Nachbarländer genauso ein wie Heiratsverbindungen in umliegende Dörfer, nach Kabul oder Peschawar. Die Lokalität von Herrschaft bedeutet daher nicht eine völlige Abschottung von Gemeinschaften, sondern beinhaltet stets ein supralokales Beziehungsgeflecht.

Obgleich sicherlich einzelnen Anführern eine enorme Machtfülle zuwächst, ist für das Verständnis der lokalen Macht- und Gewaltstrukturen entscheidend, diese nicht als Ausdruck von Anarchie und Chaos zu werten. So bedeutet das Fehlen von Staatlichkeit nicht, dass ein institutionelles Vakuum auf lokaler Ebene vorherrscht. So lässt sich ein dichtes Netz aus Spielregeln und Arrangements erkennen, das eine soziale Ordnung auf lokaler Ebene entstehen lässt. Nicht nur in den Stammesgebieten, sondern auch in allen anderen Regionen findet sich etwa eine hohe Dichte und Komplexität an lokalen

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Institutionen, die trotz des anhaltenden Krieges weiterexistieren und das Zusammenleben regeln; die gemeinschaftliche Nutzung natürlicher Ressourcen wie Wasser, Land oder Weiden wird allerorts durch stark ausdifferenzierte Mechanismen geregelt; genauso spielen Ältestenräte, spirituelle Würdenträger (malang, pir etc.) und spezifische lokale Traditionen für das gemeinschaftliche Zusammenleben eine wichtige Rolle.

Auch Macht- und Gewaltstrukturen sind häufig an die Gemeinschaft rückgekoppelt. Die Gefolgschaft eines Kommandanten rekrutiert sich in der Regel aus dem gleichen Dorf oder Stamm und fußt auf engen verwandtschaftlichen, tribalen oder Klientelbeziehungen. Diese Bindungen bilden den sozialen Leim zwischen Anführer, Gefolgschaft und lokaler Gemeinschaft. Materieller Ausdruck dieser Solidaritätsbeziehungen ist, dass ein Teil der eingenommenen Zölle und Beute an die Solidaritätsverbände weitergeleitet wird; Überfälle und Raubzüge erfolgen gegen Menschen, zu denen man keine Beziehungen unterhält (etwa an Überlandstraßen) oder mit denen man verfeindet ist.[10]

Hier schließt sich an, dass ein längerfristiger Machterhalt an einen Legitimationsnachweis gebunden ist. Diese Legitimation kann neben der bloßen Waffengewalt über eine spirituelle Führerschaft oder aber über religiöse, ethnische oder tribale Repräsentation hergestellt werden, aber auch über die Einnahme staatlicher Ämter oder über die Erfüllung gesellschaftlicher Idealbilder. Rashid Dostum etwa gilt als der Prototyp eines warlord, den man bei Kämpfen in der ersten Reihe findet; er erfüllt das Ideal des "unerschrockenen Kriegers"; dagegen hält Ismail Khan das Bild des "guten Emirs", der für seine Klientel sorgt, aufrecht. Daher passt auf Afghanistan auch nicht das Bild des Kriegsfürsten, der die Bevölkerung ausbeutet und Gewinne auf einem Schweizer Bankkonto anhäuft. So streben die Kommandeure in erster Linie nach gesellschaftlichem Prestige, das sich aus ihren Netzwerkbeziehungen ergibt. Daher investieren sie ihre Einkünfte in umfangreiche Patronagebeziehungen. Zudem sind die lokalen Gemeinschaften kaum durch eine funktionale Gliederung oder Arbeitsteilung gekennzeichnet. Ganz im Gegenteil sind Machthaber daran interessiert, möglichst viele Funktionen auf sich zu vereinigen. So ist ein Kommandeur niemals nur militärischer Anführer, sondern gleichzeitig auch Stammesoberhaupt, Mullah, Geschäftsmann oder Patron. Die Kontrolle über physische Gewalt ergibt sich daher nicht allein aus militärischen Fähigkeiten, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Kontext.[12]

[8] Vgl. Willi Steul, Paschtunwali. Ein Ehrenkodex und seine rechtliche Relevanz, Wiesbaden 1981. [9] Trutz von Trotha, Der Aufstieg des Lokalen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2005) 28 - 29, S. 32 - 38. [10] Zu den lokalen Ordnungen in Afghanistan vgl. C. Schetter (Anm. 1); Katja Mielke/Rainer Glassner/ Conrad Schetter/Nasratullah Yarash, 2007 (ZEF Amu Darya Series 7), in: Amu Darya Series 7 (http://131.220.109.9/fileadmin/webfiles/downloads/projects/amudarya/publications/ ZEF_Working_Paper_Amu_Darya_Series_32.pdf)(17. 8. 2007); Christine Noelle-Karimi, Village Institutions in the Perception of National and International Actors in Afghanistan, 2006 (ZEF Amu Darya Series 1), in: Amu Darya Series 1 (http://131.220.109.9/fileadmin/webfiles/downloads/projects/ amudarya/publications/ZEF_Working_Paper_Amu_Darya_Series_26.pdf) (17. 8. 2007); Ana Pejcinova, Afghanistan: Creation of a Warlord Democracy, Budapest 2006, in: www.volny.cz (http:// www.volny.cz/apejcinova/Theses/Afghanistan/1frontpage.htm) (17. 8. 2007). [11] Zu den lokalen Ordnungen in Afghanistan vgl. C. Schetter (Anm. 1); Katja Mielke/Rainer Glassner/ Conrad Schetter/Nasratullah Yarash, 2007 (ZEF Amu Darya Series 7), in: Amu Darya Series 7 (http://131.220.109.9/fileadmin/webfiles/downloads/projects/amudarya/publications/ ZEF_Working_Paper_Amu_Darya_Series_32.pdf) (17. 8. 2007); Christine Noelle-Karimi, Village Institutions in the Perception of National and International Actors in Afghanistan, 2006 (ZEF Amu Darya Series 1), in: Amu Darya Series 1 (http://131.220.109.9/fileadmin/webfiles/downloads/projects/ amudarya/publications/ZEF_Working_Paper_Amu_Darya_Series_26.pdf) (17. 8. 2007); Ana Pejcinova, Afghanistan: Creation of a Warlord Democracy, Budapest 2006, in: www.volny.cz (http:// www.volny.cz/apejcinova/Theses/Afghanistan/1frontpage.htm) (17. 8. 2007). (17. 8. 2007). [12] Vgl. Antonio Giustozzi, Respectable Warlords? The Transition from War to All Against All to Peaceful

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Competition in Afghanistan, 2003 (Crisis State Programm. London School of Economics,.Working Paper 33), in: www.crisisstates.com (http://www.crisisstates.com/download/others/SeminarAG29012003. pdf) (17. 8. 2007).

Intervention und Wiederaufbau

Gleich von Beginn der militärischen Intervention an erkannte die internationale Gemeinschaft in dem undurchsichtigen Geflecht lokaler Macht- und Gewaltkonstellationen - was unter dem Begriff des Kriegsfürstentums zusammengefasst wurde - die größte Herausforderung für die Stabilisierung und den Wiederaufbau des Landes. Jedoch fehlte eine Strategie oder gar Zielsetzung, wie mit diesen lokalen Herrschaftsstrukturen umzugehen ist. Daher legten die internationalen Akteure wie die afghanische Regierung eine hohe Inkonsistenz im Umgang mit diesen an den Tag. Das Repertoire reichte von einer militärischen Bekämpfung über eine bloße Negierung bis hin zu Kooperation, Einbindung und gar Förderung. Dies bedingt, dass lokale Ordnungen bis heute entweder das politische Geschehen dominieren oder sich in einem offenen Gegensatz zum Wiederaufbau befinden. Diese inkonsistente und bisweilen kontraproduktive Politik lässt sich zum einen an dem Umgang mit den Gewaltakteuren, zum anderen an den Versuchen, die lokalen Machtstrukturen zu verändern, verdeutlichen.

Um die lokalen Gewaltstrukturen zu verändern, konzentrierte sich die internationale Gemeinschaft auf eine umfassende Sicherheitssektorreform, die nicht nur den Aufbau der Armee und des Polizeiwesens vorsah, sondern auch die Entwaffnung, Demobilisierung und gesellschaftliche Integration ehemaliger Kombattanten. Diese Programme zeigten auch einige Erfolge: So schritt der Aufbau der Armee zügig voran, und Kommandeure und Milizen stellten nur noch selten Waffen offen zur Schau. Jedoch verwischten sich auch die Grenzen zwischen privaten Milizen und staatlichen Sicherheitsorganen. So gingen Milizen immer wieder in staatlichen Militär- und Polizeieinheiten auf und übernahmen Kommandanten staatliche Ämter als Polizeichefs, Divisionskommandeure oder Gouverneure. Auch die Provincial Reconstruction Teams (PRTs), die über ganz Afghanistan verstreut sind und sich jeweils aus bis zu 300 NATO-Soldaten wie ausländischen Entwicklungshelfern zusammensetzen, müssen ambivalent gesehen werden.

Einerseits bedingen die PRTs, dass rivalisierende Kommandeure es aus Sorge vor einer externen Einmischung vermeiden, Konflikte in kriegerische Auseinandersetzungen eskalieren zu lassen. Andererseits sind die PRTs, die den Milizen zahlenmäßig weit unterlegen sind, allein zum Eigenschutz auf die Zusammenarbeit mit lokalen Kommandeuren angewiesen. Auch im "Kampf gegen den Terrorismus" binden die US- und die NATO-Streitkräfte lokale Gewaltakteure ein. So hatten die US- Streitkräfte bereits 2001/2 mehrere Tausend afghanische Milizionäre in Süd- und Südostafghanistan unter Waffen. Seit dem Wiedererstarken der Taliban greift auch die afghanische Regierung für den Aufbau einer lokalen Hilfspolizei auf bestehende Milizen zurück, wie der bereits geschilderte Fall der Arbaki verdeutlicht. So fand in Afghanistan in den vergangenen Jahren gleichzeitig eine Entwaffnung wie eine Aufrüstung und Einbindung lokaler Milizen statt.[13]

Auch im Wiederaufbau vermochten es die lokalen Eliten, sich schnell an die neuen Spielregeln anzupassen. So waren sie bemüht, die Gelder für Entwicklungsprojekte in ihre Klientelsysteme zu kanalisieren, indem sie Nichtregierungsorganisationen (NROs), politische Parteien oder Baufirmen gründeten; Fälle, in denen ein Kommandeur zum Polizeichef ernannt wird und ein Verwandter in der Menschenrechtskommission sitzt, stellen keine Ausnahmen dar. Ein gutes Beispiel dafür, wie Entwicklungsmaßnahmen, die die Veränderung der lokalen Machtverhältnisse zum Ziel haben, selbst zum Spielball lokaler Strukturen werden, stellt das National Solidarity Programm (NSP) dar. Das NSP wird von der Weltbank und anderen Gebern gefördert und hat zum Ziel, recht zügig Entwicklungsprojekte - meist Infrastrukturmaßnahmen - auf lokaler Ebene umzusetzen. Zudem sollen demokratisch gewählte, mit beiden Geschlechtern besetzte Räte (Schuras) etabliert werden, die als lokale Ansprechpartner für die Entwicklungszusammenarbeit dienen sollen. Wenngleich das erste Ziel erfolgreich erreicht wurde,[14] war das zweite in den meisten Fällen zum Scheitern verurteilt. So ging

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 43 das NSP von der Fehleinschätzung aus, dass die lokalen Machtstrukturen grundsätzlich illegitim seien und gemeinschaftliche Institutionen auf lokaler Ebene fehlten.

Im Ergebnis vermochten es daher die herrschenden Eliten, die Wahlen zu den Schuras so zu beeinflussen, dass demokratische Prinzipien unterlaufen wurden und sie ihre Macht festigen konnten; auch die gewählten weiblichen Repräsentanten standen häufig nur auf dem Blatt Papier und traten in den Schuras nicht in Erscheinung. Jedoch sind auch Fälle zu nennen, in denen Kommandeure nicht gewählt wurden, was dann die Konfliktintensität verstärkte. Auch gibt es Beispiele, in denen diesen Projekten so wenig Bedeutung beigemessen wurde, dass die lokalen Eliten ihre Vertreter - oft schreibkundige Lehrer - in diese Räte schickten.

So kann resümiert werden, dass das NSP eher bestehende Machtverhältnisse verstärkte. Problematisch ist zudem, dass das Programm nicht vom Staat selbst, sondern von afghanischen und internationalen NROs durchgeführt wird. So befinden sich diese NROs in der delikaten Situation, Aushandlungsprozesse zu gestalten, in denen es um die Verteilung von Macht und Ressourcen sowie um die Durchsetzung von außen herangetragener Werte und Normen geht. Den NROs fehlen jedoch die Instrumente, über die ein Staat verfügt, um gewisse Ansprüche durchzusetzen: Weder verfügen sie über Mittel der Gewalt noch über Kooptierungsstrategien. NROs avancieren damit letztlich zu Vermittlern eines Wiederaufbauprozesses, die ein zeitlich begrenztes Projekt durchführen und eben keine langfristigen Beziehungen mit der lokalen Bevölkerung aufbauen wie dies beim Staat der Fall ist.[15]

Ausblick

Die internationale Intervention und der Wiederaufbau vermochten bislang nicht, die lokalen Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan zu verändern. Während im Süden des Landes der "Krieg gegen den Terrorismus" und der "Krieg gegen die Drogen" immer stärker zu einem Krieg zwischen externer Einflussnahme und lokalen Autonomieansprüchen mutiert, verstärkten die Wiederaufbaumaßnahmen im Norden des Landes eher die lokalen Herrschaftsstrukturen. Für die Zukunft Afghanistans können zwei unterschiedliche Szenarien entwickelt werden.

So kann zum einen die gegenwärtige Dominanz lokaler Macht- und Gewaltstrukturen als der Beginn des Endes von Staatlichkeit verstanden werden. Es lässt sich provokativ fragen, ob die einhundertjährige Geschichte des afghanischen Nationalstaats nur ein kurzes, künstlich herbeigeführte Intermezzo institutionalisierter und territorialisierter Herrschaft darstellte, das sich nun dem Ende zuneigt. Weshalb sollte der knapp einhundert Jahre lang zaghaft und nur oberflächlich angegangene Staatsbildungsprozess nun Erfolge zeigen, wenn die gegenwärtigen Strukturen verdeutlichen, dass das Staatsbildungsprojekt seit dem 19. Jahrhunderts kaum einen Schritt weiter gekommen ist?

Die gegenwärtige Situation in Afghanistan weist viele Parallelen zu den Herrschaftsstrukturen vor der Etablierung des Nationalstaats durch die Kolonialmächte Ende des 19. Jahrhunderts auf: Vier bis fünf miteinander konkurrierende Machtzentren, die mit den größten Städten des Landes identisch waren, teilten sich das damalige Afghanistan über eine Divide-et-impera-Politik auf. Der permanente Frontenwechsel lokaler Clanchefs, Stammesführer und Notabeln bedingte eine labile Gesamtsituation, in der unentwegt verschiedene Landesteile von Wellen der Gewalt heimgesucht wurden. Ahmad Schah , der 1747 das Durrani-Reich gründete und als Vater des modernen Afghanistan gilt, kann vielleicht als der Prototyp eines Kriegsfürsten bezeichnet werden, der mit seinen Truppen unentwegt kämpfend und plündernd durch die Lande zog und für den Aufbau von Staatlichkeit wenig übrig hatte.[16]

Zum anderen kann jedoch auch gegenteilig argumentiert werden, dass gerade die gegenwärtigen Macht- und Gewaltstrukturen notwendige Voraussetzung für einen Staatsbildungsprozess darstellen. Gerade die Tatsache, dass in vielen Regionen Afghanistans lokale Eliten ihre Legitimation nicht mehr aus traditionellen Quellen beziehen, sondern zu ihrer Existenzberechtigung auf staatliche Ämter oder

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 44 durch den Wiederaufbau bereitgestellte Mittel angewiesen sind, verdeutlicht, dass Staatlichkeit zumindest als materielle wie immaterielle Ressource an Bedeutung gewinnt. Auch den großen Staatsbildungsprozessen in Europa ging das Kriegsfürstentum der Condottieri und Landsknechte im Umbruch vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit voraus.[17]

Zudem muss bedacht werden, dass die Millionen afghanischer Flüchtlinge und Arbeitsmigranten, die zeitweise im Iran, in Pakistan oder am Golf lebten, dort positive Seiten von Staatlichkeit erlebten, die sie nun im eigenen Land einfordern. So steht Afghanistan vielleicht am Anfang eines langwierigen Prozesses, der über die Durchsetzung und formelle Institutionalisierung lokaler Eliten zur Entstehung von Staatlichkeit führt. Falls die internationale Gemeinschaft dieses Szenario für ihr Vorgehen in Afghanistan im Sinn hat, muss sie zweifelsohne mit einem weitaus größeren personellen wie finanziellen Engagement für die nächsten Dekaden in Afghanistan tätig bleiben.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 39/2007)

[13] Vgl. Mark Sedra, Confronting Afghanistan's Security Dilemma. Reforming the Security Sector, 2003 (BICC brief 28), in: www.bicc.de (http://www.bicc.de/publications/briefs/brief28/brief28.pdf) (17. 8. 2007). [14] Vgl. Sultan Barakat/Arne Strand, Mid-Term Evalution Report of the National Solidarity Program (NSP), Afghanistan, New York 2006, in: www.cmi.no (http://www.cmi.no/publications/file/?2446=mid- term-evaluation-report-of-the-national) (17. 8. 2007). [15] Vgl. Katja Mielke/Conrad Schetter, Where is the Village? Local Perceptions and Development Approaches in , in: Asien, 104 (Juli 2006), S. 71 - 87. [16] Vgl. Christine Noelle, State and Tribe in Nineteenth-Century Afghanistan: The Reign of Amir Dost Muhammad Khan (1826 - 1863), Richmond 1997. [17] Vgl. Charles Tilly, War-Making and State-Making as Organized Crime, in: Peter Evans/Dietrich Rueschmeyer/Theda Skopcol (Eds.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 169 - 191; Herfried Münkler, Neue Kriege, Reinbek 2002.

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Geschichte

6.6.2012

Mit dem Einfall der Indoarier vom iranischen Plateau kommend über den Khyber-Pass nach Südasien taucht Afghanistan in den geschichtlichen Quellen auf. Die afghanische Geschichtsschreibung verortet die Heimat der Arier in Baktrien – das dem heutigen Nordafghanistan entspricht. Baktrien diente auch als Schauplatz der antiken Geschichtsschreibung, so in Herodots Historien, dem ersten Geschichtswerk der Antike aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Seit dieser Zeit hat das Land viele innere Konflikte erlebt und war genauso Zankapfel äußerer Mächte, die hier um eine Vormachtstellung kämpften.

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Afghanistan im 19. und 20. Jahrhundert

Von Conrad Schetter 13.6.2012 Dr. Conrad Schetter, geboren 1966, studierte Geographie und Geschichte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Er veröffentlichte unter anderem die Bücher "Afghanistan in Geschichte und Gegenwart" sowie "Kleine Geschichte Afghanistans".

Seit den ausgehenden 1970er Jahren befindet sich Afghanistan in einem permanenten Bürgerkriegszustand. Staatliche Strukturen, die im 20. Jahrhundert etabliert worden waren, erodieren wieder. Als Staat hatte sich das Land erst im 19. Jahrhundert zwischen Russland und Britisch Indien allmählich gebildet.

Erst im 19. Jahrhundert bildete sich vor dem Hintergrund des Kampfes um die Vorherrschaft in Zentralasien (Great Game) zwischen Russland und Britisch Indien allmählich ein Staat Afghanistan heraus. Er wurde bis weit in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder von Auseinandersetzungen mit Stämmen und lokalen Potentaten erschüttert. Seit den ausgehenden 1970er Jahren befindet sich Afghanistan in einem permanenten Bürgerkriegszustand, in dem die staatlichen Strukturen, die im 20. Jahrhundert etabliert worden waren, wieder erodieren.

Great Game

Im 19. Jahrhundert etablierte sich der Begriff "Afghanistan" für die aus der Sicht der Großmächte herrschaftslose Pufferzone zwischen Persien und den Kolonialmächten Russland und Britisch Indien. Zudem kollidierten hier die Interessen der beiden Imperien, was als Great Game Berühmtheit erlangte. Besonders die Briten waren ständig bemüht, einen Herrscher in Kabul zu installieren, der ihren Interessen entsprach. Aufgrund verhängnisvoller Fehleinschätzungen seitens der Briten, Kommunikationsproblemen zwischen den Briten und den afghanischen Emiren, Regierungswechseln in London sowie der partikularen Machtverteilung in Afghanistan erlebten die Briten am Hindukusch jedoch immer wieder die Grenzen ihrer kolonialen Politik: 1842 wurde im ersten anglo-afghanischen Krieg (1838-1842) die britische Indus-Armee vollends aufgerieben und im zweiten anglo-afghanischen Krieg 1879 mussten die Briten letztlich erkennen, dass der militärische Aufwand, Afghanistan zu kontrollieren, kaum im Verhältnis zum wirtschaftlichen und geopolitischen Ertrag stand. Im Gegenzug bildeten sich im 19. Jahrhundert in Afghanistan zaghafte Ansätze einer politischen Konsolidierung heraus. So vermochte es zunächst Dost Mohammad Khan (*1793; 1826-1863) und anschließend Sher Ali Khan (*1825-+1879; 1863-1878) ihre Herrschaftsansprüche gegenüber Konkurrenten durchzusetzen.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 47 Gründung des modernen Afghanistan

Den zweiten anglo-afghanischen Krieg beendeten die Briten, indem sie Abdur Rahman (*1844; 1880-1901), einen Enkel Dost Mohammad Khans, auf den Kabuler Herrschaftsthron setzten. Abdur Rahman, genannt der "Eiserne Amir", unterwarf in seiner Herrschaftszeit in unzähligen, äußerst brutalen Kriegen sämtliche Landesteile und etablierte erstmals eine staatliche Kontrolle. Abdur Rahman war aus einer Position der Schwäche heraus aber auch gezwungen, das Abkommen zu Gandomak, das die Briten mit seinem Vorgänger Yakub Khan (1879) abgeschlossen hatten, weitgehend zu bestätigen. Infolge dessen musste Abdur Rahman Gebiete an Britisch Indien abtreten und der Grenzfestlegung Afghanistans zustimmen. Zudem musste Afghanistan auf eine eigenständige Außenpolitik verzichten und wurde zu einem der isoliertesten Länder der Welt. Die Durand-Line, wie die 1893 festgelegte Grenze zwischen Afghanistan und Britisch Indien genannt wurde, verlief mitten durch die paschtunischen Stammesgebiete. Bis heute erkennt Kabul daher diese Grenze nicht an. Streitigkeiten um den Grenzverlauf brachten seit 1948 Pakistan und Afghanistan in der Paschtunistanfrage mehrfach an den Rand eines Krieges.

Auf Abdur Rahman folgten sein Sohn Habibullah (*1872, 1901-1919), der am 20. Februar 1919 einem Attentat zum Opfer fiel, und sein Enkel Amanullah (*1892 +1960; 1919-1929). Letzterer erreichte in dem dritten anglo-afghanischen Krieg (1919) die völlige Unabhängigkeit Afghanistans von Britisch Indien. Amanullah, den auch eine Reise nach Deutschland und Europa führte, trieb die Modernisierung des Landes voran. So gab Amanullah dem Land eine moderne Verfassung, benannte seinen Titel von Emir in Shah [König] um und war bemüht, einen westlichen Lebensstil in Afghanistan einzuführen. Dies provozierte vor allem traditionelle Kräfte im Land. 1929 brachen Aufstände im ganzen Land aus. Amanullah sah sich gezwungen, nach Rom ins Exil zu gehen. Nun schwang sich für wenige Monate Habibullah II., ein tadschikischen Kriegsfürsten aus der Shomali-Region nördlich Kabuls, zum afghanischen Herrscher auf. Habibullah II. wurde jedoch nach wenigen Monaten von Nadir Khan, der aus einer Nebenlinien des Herrscherhauses entstammte, mit Hilfe paschtunischer Stämme besiegt und hingerichtet. Nadir Khan (*1883; 1929-1933), der sich nun in Nadir Shah umbenannte, machte in seiner Herrschaftszeit viele Reformen Amanullahs rückgängig und betrieb eine Restauration der Herrschaft. Am 8. November 1933 fiel er einem Attentat zum Opfer.

Auf Nadir Shah folgte Zahir Shah (*1914 ; 1933-1973) auf dem Kabuler Thron. Doch erst 1963 griff Zaher Schah selbst aktiv in die Politik ein, da von 1933 bis 1946 sein Onkel Mohammad Haschem Khan, von 1946 bis 1953 sein Onkel Schah Mahmud Khan und schließlich von 1953 bis 1963 sein Vetter Mohammad Daud Khan die Regierungsgeschäfte leiteten. Während Haschem Khan die autoritäre Politik Nadir Schahs weiterführte, leitete Schah Mahmud zaghafte Schritte einer Demokratisierung ein. Mit Mohammad Daud übernahm ein Machtmensch das höchste Regierungsamt, der einen autoritären Regierungsstil pflegte, die Modernisierung des Landes durch eine Stärkung des Staates anstrebte und den Paschtunistankonflikt mit Pakistan auflodern ließ.

Am 9.März 1963 trat Daud unvermittelt zurück. Zum einen dürfte hierfür die ausweglose Eskalation der Paschtunistanfrage, die direkt mit seinem Namen verbunden war, ausschlaggebend gewesen sein, zum anderen setzte sich der Ruf nach einer konstitutionellen Monarchie durch. Die Phase der konstitutionellen Monarchie erlebte zwischen 1963 und 1973 fünf Premierminister: Dr. Mohammad Yusuf (1963–1965), Mohammad Haschem Maiwandwal (1965–1967), Nur Ahmad Etemadi (1967– 1971), Dr. Abdul Zaher (1971–1972) und Musa Schafiq (1972–1973). Obgleich viele Afghanen diesen Zeitraum zu einer Epoche des politischen und demokratischen Erwachens verklären, war es auch eine Zeit der politischen Instabilität und der wirtschaftlichen Stagnation. Durch eine Dürreperiode von 1969 bis 1972, der nach Schätzungen etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen, verschlechterte sich nicht nur die ökonomische Situation des Landes, sondern gerieten auch Zaher Schah und die Regierung unter Beschuss. Die herausragende Leistung in der konstitutionellen Monarchie war 1964 die Erarbeitung einer Verfassung, die Ansätze eines westlichen Parlamentarismus enthielt, aber dennoch auf den König zentriert blieb. Eines der wesentlichen Probleme war, dass Zahir Schah das Parteiengesetz, das in der Verfassung enthalten war, nicht ratifizierte. Dies hatte zur Folge, dass politische Parteien illegal blieben und sich ihrerseits nicht an die Verfassung gebunden fühlten. So

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 48 radikalisierte sich in den 1960er Jahren zunehmend das Parteienspektrum – auf der einen Seite in kommunistische Parteien, auf der anderen Seite in islamistische Bewegungen. Viele sehen hierin den Ursprung für die Afghanistankriege.

Die Afghanistankriege

Am 17. Juli 1973 putschte sich Mohammad Daud, der Vetter Zahir Shahs mit Hilfe der Kommunisten an die Macht, während sich Zahir Schah auf einer Auslandsreise befand und bis 2001 in Rom im Exil blieb. Doch überwarf sich Daud bald mit seinen Verbündeten und vermochte es auch nicht, neue Allianzen zu bilden.

Daher putschte am 27. April 1978 die kommunistische Demokratische Volkspartei Afghanistan (DVPA) gegen Präsident Mohammad Daud. Die DVPA baute eine Schreckensherrschaft auf, die durch radikal umgesetzte Land- und Bildungsreformen sowie Repressionen gegen potenziellen Gegner gekennzeichnet war. Diese Politik provozierte Rebellionen im ganzen Land. Zudem brachen innerhalb der DVPA Machtkämpfe aus: Hafizullah Amin ließ den schwachen Präsidenten Mohammad Taraki ermorden und ernannte sich am 16. September 1979 eigenmächtig zum Präsidenten. Die Sowjetunion als wichtigster Bündnispartner der DVPA betrachtete mit Sorge den sich anbahnenden Zusammenbruch des Kabuler Regimes. Um den eigenen Einfluss in Afghanistan zu sichern, besetzte die Sowjetunion in den Weihnachtstagen 1979 das Land. Hierbei kam Amin ums Leben.

In den kommenden Jahren avancierte Afghanistan zum wichtigsten Schlachtfeld des Kalten Krieges. Die sowjetischen Truppen trafen auf hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung. Moskau etablierte ein Marionettenregime, das zunächst von Babrak Karmals (1980-1986) und anschließend von Najibullah (1986-1992) geführt wurde. Der Islam avancierte zum ideologischen Gegenpol des Kommunismus, was sich in der Ausrufung des gegen die gottlosen Kommunisten und in der Bezeichnung der Widerstandskämpfer als Mujahidin äußerte. Vornehmlich lieferten die USA und Saudi-Arabien dem Widerstand Waffen und Geld. Dem pakistanischen militärischen Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI) fiel die Aufgabe zu, den Widerstand zu organisieren. Die Widerstandsparteien gruppierten sich um religiöse Führer und Islamisten. Jedoch scheiterten Bündnisse zwischen diesen stets an persönlichen Animositäten und politischen Gegensätzen. 1988 beschloss die Sowjetunion den sofortigen Abzug ihrer Truppen. Das Najibullah-Regime konnte sich noch bis 1992 behaupten. Erst die Einstellung der Finanz- und Militärhilfe aus Moskau bedingten dessen Zusammenbruch.

Die Herrschaft der Mujahidin (1992-1996) mündete in einem Bürgerkrieg, in dem Kabul in Schutt und Asche gebombt wurde und das Land in unzählige Kleinreiche zerfiel. Im Herbst 1994 nahmen die Taliban (Religionsschüler) Kandahar ein und gewannen binnen weniger Monate die Kontrolle über Südafghanistan. 1996 nahmen sie Kabul ein und machten Afghanistan zu einem "Islamischen Emirat". Die Parteien und Kriegsfürsten, die sich bis dato aufs Blut bekämpft hatten, schlossen sich gegen die Taliban zur Nordallianz zusammen. Unterstützung erhielten die Taliban aus Pakistan und Saudi- Arabien. Auch die USA und amerikanische wie saudi-arabische Firmen, die eine Pipeline von durch Afghanistan nach Pakistan bauen wollten, bekundeten zeitweilig Interesse an den Taliban.

Als Drahtzieher der Anschläge auf die US-Botschaften in Dar-es-Salaam und Nairobi 1998 erkannten die USA Osama bin Laden, der sich in Afghanistan aufhielt; die USA flogen als Vergeltungsakt Luftangriffe gegen islamistische Ausbildungslager in Ostafghanistan. Die Anschläge des 11. September 2001 verdeutlichten Afghanistans Bedeutung als Zentrum des Terrorismus. Als die Taliban die Auslieferung Osama bin Ladens verweigerten, flogen die USA Luftangriffe gegen die Taliban. Anfang November 2001 brach der Widerstand der Taliban binnen weniger Tage zusammen und die internationale Gemeinschaft etablierte unter Federführung der USA eine neue afghanische Regierung.

Die Friedensgespräche (27.11.-05.12.2001) auf dem Petersberg bei Bonn schufen eine Übergangsregierung unter Führung Hamid Karzais. Um deren Schutz zu gewährleisten, wurde in Kabul

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 49 die International Security Assistance Force (ISAF), ausgestattet mit UN-Mandat, installiert. Am 22. Dezember nahm die neue Regierung ihre Arbeit in Kabul auf und im Juni 2002 bestätigte eine loya jirga (große Versammlung, um nationale Fragen zu klären) die Übergangsregierung. Am 4. Januar 2004 beschloss eine loya jirga eine neue Verfassung, die Afghanistan zu einer "Islamischen Republik" machte. Bei den Präsidentschaftswahlen 2004 und 2009 wurde Hamid Karzai im Präsidentenamt bestätigt. 2005 und 2010 fanden Parlamentswahlen statt.

Trotz zaghafter Fortschritte im Wiederaufbau des Landes ebbten die gewaltsamen Konflikte in Afghanistan nicht ab. So erstarkten die Taliban erneut und kontrollieren weite Teile Süd- und Südostafghanistans. Im Gegenzug stockte die NATO, die seit 2003 den Oberbefehl über die ISAF- Truppen hat, ihre Kontingente auf 130.000 Mann auf, die zur Hälfte von den USA gestellt wurden. Zudem erweist sich der Wiederaufbau des Landes als äußerst problematisch, da ein funktionierender Staatsapparat, staatlich kontrollierte Sicherheitsorgane, eine unabhängige Justiz, Zivilgesellschaft, freie Medien und demokratische Parteien weitgehend fehlen. Auch blühte der Opiumanbau wieder auf.

Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Conrad Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, München: Beck Verlag, 2011

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Mittelalter und Neuzeit

Von Conrad Schetter 6.6.2012 Dr. Conrad Schetter, geboren 1966, studierte Geographie und Geschichte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Er veröffentlichte unter anderem die Bücher "Afghanistan in Geschichte und Gegenwart" sowie "Kleine Geschichte Afghanistans".

Seit Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr. dringen arabische Invasoren in Afghanistan ein. In der Folge verbreitet sich der Islam rasant in der gesamten Region. Bis ins 19. Jahrhundert erlebt das Land unzählige kleine und große Herrscher und steht unter massivem Einfluss seiner Nachbarn.

Waren in den vergangenen Jahrhunderten Eroberungszüge in das Gebiet des heutigen Afghanistans vor allem aus den zentralasiatischen Steppen vorgetragen worden, so drangen arabische Invasoren seit Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr. aus dem mesopotamischen Tiefland auf das iranische Plateau vor. Der Islam verbreitete sich in rasantem Tempo in der gesamten Regionen und arabische Einflüsse (v.a. Schrift und Sprache) prägten diese Region nachhaltig. Bis zum 11. Jahrhundert lösten sich in der Region die islamischen Dynastien der Taheriden, Saffariden und Samaniden ab, die allerdings ihre Zentren außerhalb des Gebietes des heutigen Afghanistan hatten. Dies änderte sich erst im Laufe des 10. Jahrhunderts.

Ghaznawiden und Ghoriden

Seit Ende des 10. Jahrhunderts entwickelte sich das Ghaznawiden-Reich, das unter Mahmud (971-1030) seine Blütezeit entfaltete. Das Reich der Ghaznawiden erstreckte sich von Khorassan bis zum Ganges. Beutezüge nach Indien begründeten den Reichtum und die kulturelle Blüte des Ghaznawiden-Reiches. So stieg zu einer überregional bedeutenden Stadt auf, in der prächtige Paläste, Moscheen und sogar die erste islamische Universität (Medresse) entstanden. Über 400 Dichter und Gelehrte sollen sich an Mahmuds Hof aufgehalten haben; unter ihnen der persische Literat Ferdousi, der im Auftrag Mahmuds das "Buch der Könige" verfasste, und al-Biruni, einer der berühmtesten Naturwissenschaftler seiner Zeit.

Den Niedergang der Ghaznawiden besiegelten die Ghoriden, benannt nach einer gebirgigen Region östlich Herats. Das Ghoridenreich, das nun entstand, erstreckte sich bis nach Bihar in Nordindien. Jedoch verlegten die Ghoriden ihre Hauptstadt nicht in eine der großen Machtzentren, sondern regierten ihr Reich von der Felsenburg Firuzkuh am Hari Rud aus. Im Gegensatz zu den Feldzügen der Ghaznawiden, die nur dem Beutemachen dienten, setzten die Ghoriden muslimische Sklavenoffiziere in Nordindien ein. Damit wurde das Ghoridenreich zum Brückenkopf für die Ausbreitung des Islam in Indien. Die Macht der Ghoriden schwand zu Beginn des 13. Jahrhunderts, als sie von dem Nomadenvolk der Chorezm besiegt wurden.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 51 Verwüstungszüge der Mongolen

Hatte in den vergangenen Jahrhunderten nahezu gleichförmig eine Dynastie die andere abgelöst, bedeutete der Mongolensturm unter Dschingis Khan eine nachhaltige Zäsur. Die Eroberungszüge der Mongolen glichen Vernichtungszügen. Im Frühjahr 1221 überquerte Dschingis Khan den Amu Darya und den Hindukusch. Während seiner Eroberungszüge äscherte Dschingis Khan die damals bedeutendsten Städte Ghazni, Herat und ein. Timur Leng (Tamerlan, "der Hinkende", geb. 1336; 1370-1405), der mütterlicherseits mit Dschingis Khan verwandt war, trat im kriegerischen Sinne das geistige Erbe Dschingis Khans an. Timur machte Herat dem Erdboden gleich und vernichtete die ausgeklügelten Bewässerungssysteme der Oasenlandschaft Sistans. Wie drastisch diese Vernichtungswut gewesen sein muss, dokumentiert die Tatsache, dass sich Sistan nie wieder erholen konnte und der Wüstenbildung zum Opfer fiel. Sein Sohn und Nachfolger Scharukh (1405-1447) erkor Herat zu seiner neuen Residenz aus. Schahrukh begründete in Herat die Timuriden-Dynastie, unter der die islamische Kunst eine ihre größten Blüten entfaltete.

Safawiden, Moguln und Schaibaniden

Seit Beginn des 16. Jahrhunderts lag das heutige Afghanistan rund 250 Jahre lang im Grenzgebiet zwischen Moguln in Nordindien, Safawiden in Persien und Schaibaniden in Mittelasien. So war Herat seit 1502 fast kontinuierlich unter safawidischer Herrschaft. Zur gleichen Zeit begründete Babur, ein Nachfahre Timurs, in Kabul die Moguln-Dynastie Südasiens. Kandahar stellte einen ständigen Zankapfel zwischen Safawiden und Moguln dar und wurde erst 1649 endgültig dem Safawidenreich einverleibt. Die Region südlich des Amu Darya und nördlich des Hindukusch zerfiel in eine ganze Reihe usbekischer Staaten, sogenannter Khanate, die seit dem 16. Jahrhundert zum Einflussbereich schaibanidischer Herrscher Bukharas zählten.

Alle drei Imperien begnügten sich im Raum des heutigen Afghanistans mit der Ausübung indirekter Herrschaft, indem sie in den wenigen urbanen Zentren Statthalter und Besatzungstruppen einsetzten, um die wichtigen Handelswege zu kontrollieren. Die Statthalter versuchten, Einfluss auf die Repräsentanten und Anführer der umliegenden Dörfer und Stämme zu nehmen; bestenfalls schafften sie es, Tributzahlungen herauszupressen: In vielen Fällen nutzten jedoch auch die Anführer und Stämme die schwache Position der Statthalter für die Erweiterung der eigenen Macht und erhielten Subsidien und Privilegien von den Moguln und Safawiden. Aufgrund dieser Politik erstarkten die paschtunischen Stämme, die im Grenzbereich beider Reiche lebten, während die Macht der Moguln und Safawiden zunehmend bröckelte.

Das Aufbegehren paschtunischer Stämme gegen die herrschenden Imperien äußerte sich erstmals gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als die religiöse Roschaniye-Sekte des Mystikers Bayezid Ansari untereinander zerstrittene Stämme einigte, die gegen die Herrschaft der Moguln aufbegehrte. Besonders in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts schwoll diese Bewegung zu einer echten Bedrohung für die Moguln an. Auch im 17. Jahrhundert mussten sich die Moguln ständig gegen die Paschtunen erwehren. So erlitt der Moguln-Herrscher Aurangzeb gegen paschtunische Stämme 1672 bei Landikotal eine schwere Niederlage und konnte nur mit Mühe die Hoheit im Nordwesten seines Reichs aufrechterhalten. In diesem Zusammenhang ist vor allem Khan Khuschhal Khan Kattak zu nennen, ein paschtunischer Führer, der sich immer wieder mit den Moguln Kämpfe lieferte. Khan Khuschhak Khan Khattak besang in unzähligen Gedichten die Werte und Kultur der Paschtunen, weshalb er bis heute von vielen Paschtunen als Nationalheld verehrt wird.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 52 Mir Wais und der Untergang des Safawidenreichs

Während sich das Mogulreich den paschtunischen Stämmen noch erwehren konnte und von der Zerstrittenheit der Gebirgsstämme profitierte, hatten sich in Herat und Kandahar zwei große Stammeskonföderationen, die mehrere paschtunische Stämme umfassten, herausgebildet. Zwischen Kandahar und Herat hatten sich die Abdali etabliert, während die Region zwischen Ghazni und Kandahar das Stammesgebiet der Ghilzai war. Beide Stammeskonföderationen befanden sich seit dem 17. Jahrhundert in einem ständigen Konkurrenzkampf. Grund dieser Rivalität war der Streit um die Vorherrschaft in Kandahar, das nicht nur eine fruchtbare Oase darstellte, sondern auch die wichtigste Handelsstation zwischen Persien und Indien.

Als die Safawiden den schiitischen Islam zur Staatsreligion erhoben und Sunniten zwangskonvertierten, gelang es einem Aufstand unter Führung des Ghilzai Mir Wais, die Safawiden aus dem mehrheitlich sunnitischen Kandahar zu vertreiben. Mahmud Hotak, Sohn und Nachfolger von Mir Wais, begnügte sich nicht mit der Herrschaft über Kandahar, sondern nahm 1722 die Hauptstadt der Safawiden, Isfahan, ein und setzte dem Safawidenreich ein Ende. Mahmud selbst nahm für sich den Titel "Schah von Persien" in Anspruch. Nach seinem Tod 1725 konnte sein Cousin Aschraf die "Afghanen-Herrschaft" in Persien nicht mehr aufrechterhalten. Er wurde 1729 von Nadir Schah aus dem Turkstamm der Afschar besiegt, einem Gefolgsmann der Safawiden. Aschraf starb auf der Flucht.

Ahmad Schah und die Gründung des Durrani-Reichs

1736 schwang sich Nadir Schah zum Herrscher über Persien auf. Er begründete ein Reich, das vom Kaspischen Meer bis nach Nordindien reichte. 1747 fiel Nadir Schah einem Attentat durch unbekannte Hand in Maschhad zum Opfer. Die Gunst der Stunde nutzte Ahmad Schah. Dieser stammte aus der paschtunischen Abdali-Konföderation und war Oberbefehlshaber der Leibgarde Nadir Shahs gewesen. Er etablierte in Kandahar seine Herrschaft und gründete das Reich der Durrani, in die er die Abdali- Konföderation umbenannt hatte. Sein Imperium reichte von Khorassan bis nach Kaschmir und vom Amu Darya bis zum Indischen Ozean; Kandahar bildete das Zentrum dieses Reichs. Wenngleich das Reich Ahmad Schahs häufig als Beginn des modernen Afghanistan gesehen wird, entsprach es nicht mehr als einem lockeren Herrschaftsverbund von Fürstentümern und Stämmen, die Ahmad Shah nur indirekt beherrschte. Seine Herrschaft beschränkte sich faktisch auf den Ort, an dem er sich gerade mit seinem Heer aufhielt. Sein Heer, das sich aus Soldaten verschiedener Herkunft zusammensetzte, konnte allerdings nur mit der Aussicht auf Beute zusammengehalten werden. Daher führten ihn allein acht Feldzüge in das fruchtbare Indien. Mehr als drei Viertel der gesamten Steuern wurde aus den fruchtbaren Provinzen Kaschmir, Punjab und gepresst.

Timur Schah (1773-1793), Sohn und Nachfolger Ahmad Schahs, konnte das Reich, das ihm sein Vater überlassen hatte, notdürftig erhalten. So war Timur Schahs Herrschaftsanspruch umstritten, weshalb er sich gegen Thronansprüche aus der eigenen Familie zur Wehr setzen musste. Außerdem erwies sich das Reich als zu groß: So blieben die für den Staatshaushalt notwendigen Steuern aus den fruchtbaren indischen Provinzen aus, wodurch Timur Schah die notwendigen Ressourcen fehlten, um die Herrschaftshoheit aufrecht zu erhalten. Um sich finanziell und politisch vom Einfluss der durranischen Adelsschicht zu lösen, verlegte Timur Schah die Hauptstadt von Kandahar nach Kabul. Damit ging einher, dass Persisch Paschtu als Sprache am Hof ablöste.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 53 Afghanistan – Land unzähliger Herrscher

Mit dem Ableben Timur Schahs offenbarte sich, dass partikulare Interessen an Dominanz gewannen. Permanente Thronstreitigkeiten erschütterten Kabul, und gleich mehrere Herrscher aus dem Sadozai- Clan des Stammes des Popalzai bestiegen in den folgenden Jahrzehnten wiederholt den Thron: Auf Zaman Schah (1793-1801) folgte sein Halbbruder und Rivale Schah Mahmud (1801-1803), der von Zaman Shahs Vollbruder Shah Shuja (1903-1809) wiederum vertrieben wurde. Shah Mahmud vermochte es dann (1809-1918) wieder Shah Shuja ins Exil zu jagen, bevor dieser selbst von dem aufstrebenden Clan der Mohammadzai aus dem Stamm der Barokzai vertrieben wurde. Letztere stellten das Geschlecht der afghanischen Königsfamilie, aus dem bis 1978 die afghanischen Herrscher stammten.

Diese ständigen Thronstreitigkeiten bedingten, dass die afghanischen Herrscher nicht mehr in der Lage waren, die ertragreichen indischen Provinzen an sich zu binden, da die Auseinandersetzungen mit ihren Konkurrenten ihre Anwesenheit in Kabul erforderten. So blühte im Punjab unter Führung Ranjit Singh (1780-1839) das Reich der Sikhs auf. Hatte Zaman Schah zunächst Ranjit Singh zum Gouverneur von Lahore erhoben, so sagte sich dieser bald von Kabul los und gründete ein eigenständiges Reich. In der Folgezeit eroberte Ranjit Singh den gesamten Punjab sowie Kaschmir und nahm den Kabuler Herrschern ihre wichtigsten Einkommensquellen, um sich die Loyalitäten der Vielzahl an Potentaten und Stämme zu erkaufen. Die Folge war, dass neben Kabul seit Anfang des 19. Jahrhunderts Kandahar, Herat und Peschawar zu ebenbürtigen regionalen Machtzentren aufstiegen, die konkurrierende Clans der durranischen Stämme regierten. Herat avancierte zum Gegenpol zu Kabul als Zufluchtsort der Rivalen der Herrscher. Schließlich sagten sich die Vielzahl kleiner usbekischen Khanate zwischen Hindukusch und Amu Darya von Kabul los und erklärten sich nur gegenüber dem Khanat von Bukhara tributpflichtig. Diesen Zerfall des Durrani-Reiches in eine Vielzahl kleiner Fürstentümer nutzte Ranjit Singh, indem er 1823 sogar die durranische Königsstadt Peschawar einnahm. Doch brachte bereits zu diesem Zeitpunkt das aufstrebende britisch-indische Kolonialreich das Reich der Sikhs in zunehmende Bedrängnis.

Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Conrad Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, München: Beck Verlag, 2011

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 54

Frühgeschichte und Antike

Von Conrad Schetter 6.6.2012 Dr. Conrad Schetter, geboren 1966, studierte Geographie und Geschichte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Er veröffentlichte unter anderem die Bücher "Afghanistan in Geschichte und Gegenwart" sowie "Kleine Geschichte Afghanistans".

Afghanistan wird oft als "Durchgangsland" beschrieben. So fielen in der Antike und im Mittelalter immer wieder Völker aus Zentralasien in die Region des heutigen Afghanistans ein. Reiche entstanden, die selten mehr als wenige Generationen währten und häufig durch die Ankunft eines neuen Nomadenvolks wieder zerstört wurden. Erstaunlich ist die Ausdehnung, die viele dieser Imperien hatten, reichten sie doch oft von den Steppen Zentralasiens bis in die Gangesebene.

Spurensuche in der Antike

In der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. fielen die Indoarier vom iranischen Plateau kommend über den Khyber-Pass nach Südasien ein. Bis heute ist ungewiss, wo ihre Heimat liegt. Die Quellen sprechen vom Arya Vesta, das in den ältesten religiösen Schriften Indiens, dem Rigweda genannt wird, bzw. vom Airyanam Veadscho, das sich in der Avesta findet, dem heiligen Buch der Zoroastrier. Die afghanische Geschichtsschreibung verortet die Heimat der Arier in Baktrien – das dem heutigen Nordafghanistan entspricht. Dieses diente auch als Schauplatz der antiken Geschichtsschreibung, wie etwa Herodots Historien, dem ersten Geschichtswerk der Antike aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., sowie für Erzählungen wie dem weltberühmten "Buch der Könige" (schah nameh), das der persische Dichter Ferdousi Anfang des 11. Jahrhunderts verfasste.

Herodot berichtet, dass Kyros der Große, der Gründer der persischen Achämeniden-Dynastie, im 6. Jahrhundert v. Chr. das Perserreich von der Stammregion im südpersischen Fars nach Osten hin ausdehnte. Sein Nachfolger, Darius der Große, errichtete im Osten seines Reiches verschiedene Satrapien (Provinzen im alten Perserreich), die auch das heutige Afghanistan umfassten. Unter den Achämeniden stieg der Zoroastrismus zur "Staatsreligion" auf, der die altpersischen Götter verdrängte, die mit dem indischen Pantheon verwandt waren.

Alexander der Große fegte das Perserreich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts hinweg. In den Jahren 330-328 v. Chr. durchzog er mit seiner Streitmacht das Gebiet des heutigen Afghanistans. Hier gründete er Städte wie Alexandria Ariana in der Nähe Herats, Alexandria Archosia östlich von Kandahar und Alexandria ad Caucasum, dem heutigen Charikhar nördlich Kabuls. Schillernder Höhepunkt seines Feldzugs war die Heirat der baktrischen Prinzessin Roxane. 326 v. Chr. marschierte Alexander entlang des Kabul- und des Kunarflusses nach Süden. Aufgrund der zunehmenden Kriegs- und Entdeckungsmüdigkeit seiner Truppen schiffte er seine Truppen am Indus ein und kehrte zurück nach Babylon, wo er 323 v. Chr. starb.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 55 Gräko-baktrische Reiche

Im Unterschied zu vielen Feldzüge, die kaum Spuren in den eroberten Gebieten hinterlassen haben, hatte der Feldzug Alexander des Großen zur Folge, dass sich die griechische Kultur in dem Gebiet zwischen Indus und Oxus (Amu Darya) ausbreitete. Dies ist vor allem durch Münzfunde mit griechischen Inschriften, griechische Namen der Herrscher wie auch im Einfluss griechischer Stilelemente in der Kunst der folgenden Reiche belegt. So erblickten britische Forscher des 19. Jahrhunderts in den Kafiren (Nuristani) die direkten Nachkommen Alexanders griechischer Heerscharen.

Das Reich Alexanders wurde unter seinen Diadochen (Feldherren Alexanders des Großen und deren Söhne) aufgeteilt. Seleukos I. Nikator, Begründer der Seleukiden-Dynastie, gelang es gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. kurzfristig, die Ostprovinzen wieder mit dem Alexanderreich zu vereinen. 305/4 v. Chr. strebte er gar an, das Seleukidenreich im Osten weiter auszudehnen und unternahm einen Feldzug gegen das aufstrebende Maurya-Reich in Nordindien. Jedoch scheiterte dieses Unternehmen und hatte zur Folge, dass Chandra Gupta (322-300), der Begründer der Maurya- Dynastie, seinerseits die Satrapien südlich des Hindukusch eroberte.

Im 3. Jahrhundert v. Chr. etablierten die aus Zentralasien vorstoßenden Parther sich in Persien und schoben sich wie ein Keil zwischen die Seleukiden im Westen und die ehemalige Satrapie Baktrien im Osten. Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. schuf der seleukidische Satrap Diodotos in Baktrien ein eigenständiges Reich, das gräko-baktrische Königreich. Hierbei handelte es sich um ein griechisches Inselreich inmitten Zentralasiens, das fast zwei Jahrhunderte Bestand hatte. Wenngleich dieses Königreich bei den antiken Schriftstellern kaum Erwähnung findet, so zeugen Münzen und Ausgrabungen wie in Ai Khanum, einer gräko-baktrischen Stadt in der heutigen Provinz Taluqan, vom Wohlstand und der kulturellen Blüte dieses Reiches.

Die gräko-baktrischen Herrscher eroberten zwischen 190 und 170 v. Chr. die Provinzen südlich des Hindukusch, die Seleukos I. Nikator wenige Jahrhunderte zuvor verloren hatte, von den Nachfolgern Aschokas zurück und drangen über den Punjab bis nach Pataliputra (Patna) in Westbengalen vor, der Hauptstadt der Maurya-Dynastie. Jedoch blieb das gräko-baktrische Reich von internen Querelen nicht verschont. So brachte seit dem ausgehenden dritten Jahrhundert (208 v.Chr.) die Dynastie des Eukradites Baktrien unter ihre Kontrolle. Südlich des Hindukusch etablierte sich in Gandahra – der Region um Peschawar – ein griechisches Reich mit Puschkalawati und später Taxila als Hauptstadt. Hier rivalisierte die Dynastie des Eukratides mit der des Euthydemos. Unter den Königen des südlichen Reiches war Menander, der um 155 v. Chr. an die Macht kam, der bedeutendste und wurde besonders in buddhistischen Quellen positiv erwähnt. Diese außergewöhnlichen griechischen Reiche am Hindukusch erloschen mit dem Vordringen nomadischer Stämme aus Zentralasien.

Nomadeneinfälle

Die folgenden Jahrhunderte sind durch immer wiederkehrende Wellen eindringender nomadischer Reitervölker aus Zentralasien gekennzeichnet. Die Ursachen für diese Völkerwanderungen sind vielschichtig. So bedingte ein Klimawandel die Versteppung der Weiden in Zentralasien; auch war es den Chinesen gelungen, die Nomadeneinfälle militärisch abzuwehren und damit den Nomaden die Weidegründe in Nordchina zu nehmen. Die Folge war, dass Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. mit den Saken und Yüe-tschi gleich zwei starke Nomadenvölker am Jaxartes standen und die gräko- baktrischen Reiche beerbten.

Die Saken zogen über Ostpersien zum Unterlauf des Helmand-Flusses. Der Name der heutigen Landschaft Sistan im afghanisch-persischen Grenzgebiet geht auf Sakistan (Land der Saken) zurück. In der damaligen Zeit muss diese Region dicht besiedelt und aufgrund eines dichten Netzes künstlicher Bewässerungsanlagen recht fruchtbar gewesen sein. Der Partherkönig Mithridates II. (124-88 v. Chr.) drängte die Saken nach Osten ab, wo sie Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. die griechische Herrschaft zunächst in Arachosia (Ghazni und Kandahar) und am Indus und schließlich im Kabultal und Ghandara

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 56 beendeten. Interessant ist, dass das Sakenreich Spuren in der christlichen Mythologie hinterließ. So erblickt eine christliche Legende im Saken-König Gondophares (26-46 n.Chr.) König Kaspar der Heiligen Drei Könige. Auch soll sich der Heilige Apostel Thomas an dessen Hof aufgehalten haben.

Um die Wende vom 2. zum 1. Jahrhundert v. Chr. überschritten die Yüe-tschi, die in der Geographie des Ptolemäus als Tocharer bezeichnet werden, den Oxus und stießen nach Süden bis zu den Pässen des Hindukusch vor. Doch dauerte es bis zu Beginn der christlichen Zeitrechnung, dass die Yüe-tschi in das Kabultal einsickerten und schließlich unter Führung Kudschala Kadphises aus dem Stamm der Kuschan bis in den Punjab vorrückten. In der Folgezeit entstand mit dem Kuschanreich ein Herrschaftsgebiet, das sich vom Aralsee über Baktrien und Kaschgar bis nach Nordindien erstreckte und bis 227 n. Chr. Bestand hatte. Seine Blüte erlangte dieses Reich unter dem Nachfolger Kadphises, Kanischka (78-123 oder 144-173), der eine Vielzahl an Palästen erbauen ließ, unter anderem nördlich Kabuls. Die Prosperität des Kuschanreiches wird mit ihrer nomadischen Lebensweise und ihrem Reichtum an Lasttieren erklärt. So verfügten die Kuschan über die Mittel, um im großen Stil Handel zwischen China, Indien und Europa zu treiben. Es war die erste Epoche, in der die Seidenstraße eine tragende Rolle als Handelsroute zwischen Ost und West spielte. Besonders im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., als das Römische Reich prosperierte, stieg das Kuschanreich zum Drehkreuz für Seide aus China, Elfenbein aus Indien und Glas aus Alexandria auf, wie vor allem der 1937 entdeckte - Schatz offenbart.

Die Religion umfasste neben zoroastrischen Gottheiten auch Götter aus der römisch-griechischen Welt wie Herakles, Mithra und Serapis, aber auch aus dem Hinduismus wie Schiva. Damit nicht genug, breitete sich unter der Kuschan-Herrschaft der Buddhismus entlang der Handelswege von Indien über Baktrien nach China aus – wohl eine der wichtigsten Ereignisse in der Religionsgeschichte überhaupt. Einhergehend mit dieser vielfältigen Götterwelt entstand die Kunst von Gandhara, ein Potpourri aus hellenistischen, römischen, parthischen, sassanidischen und indischen Stilelementen. Auf die griechischen und römischen Einflüsse auf die Gandhara Kunst ist es wohl zurückzuführen, dass Buddha erstmals bildlich dargestellt wurde. Aus diesen Zeiten stammen auch die Höhlenklöster und Buddha- Statuen bei Bamian. Die zwei Statuen (35 m und 53 m) galten als die größten Buddahskulpturen der Welt. Wenn man dem chinesischen Reisenden Hsüan-Tsang Glauben schenken mag, waren sie vergoldet. Die Statuen erlangten traurige Bekanntheit, als die Taliban sie am 10. März 2001 zerstörten.

Im Laufe der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts setzte der Niedergang des Kuschanreichs ein. Die Eroberung der westlichen Provinzen durch die aufstrebende persische Dynastie der Sassaniden besiegelte sein Ende. Der Gründer der Sassaniden-Dynastie, Ardaschir I., besiegte 224 n. Chr. den Parther König Ardavan V. und stieg zum Herrscher über Persien auf. Wie wir aus der Inschrift des Sassaniden-Herrschers Scharpur I. (240-272) in Naqsch-i Rustam bei Persepolis erfahren, gelang es den Sassaniden, das Kuschanreich aufzulösen. Bis in das Jahr 360 werden sassanidische Statthalter für diese Region auf Münzen bezeugt.

Im 4. Jahrhundert sickerte das Nomadenvolk der Hiung-nu in verschiedenen Wellen nach Zentralasien ein. Während sich eine erste Welle dieser neuen Eindringlinge, die als Chioniten bezeichnet wurden, nach Süden wendete und in das Sassanidenreich einfiel, drangen andere Gruppen über die südrussische Ebene nach Europa vor, wo sie als Hunnen bekannt wurden. Obgleich die Sassaniden noch die erste Welle dieser Eindringlinge abwehren konnten, gelang es bereits der zweiten Welle, den Kidariten, Baktrien bis nach Gandahra zu erobern. Doch bereits zu Anfang des 5. Jahrhunderts wurden die Kidariten von der nächsten Welle nomadischer Eindringlinge, den Hephthaliten, in den Punjab abgedrängt. Die Hephthaliten dehnten um 510 n. Chr. unter ihrem Führer Toramana ihre Herrschaft zeitweise über Nordindien aus, wo sie als Huna bekannt wurden. Das Gebiet des heutigen Afghanistan wurde in der Folgezeit von verschiedenen hunnischen Führern beherrscht. Aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ist nur bekannt, dass die Huna-Könige Lakhana und Khingila in Kabul oder ihren Regierungssitz hatten. Insgesamt sind aber die Informationen über die Hephthaliten spärlich. Nicht einmal ihre Sprache ist bekannt. Die Herrschaft der Hephthaliten wurde, wie so viele Reiche zuvor, durch neue Eindringlinge aus den Steppen Zentralasiens beendet. Diesmal waren es die Türken,

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 57 die Mitte des 6. Jahrhundert von Osten her vordrangen.

Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Conrad Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, München: Beck Verlag, 2011

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Deutschland und Afghanistan

19.6.2012

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Deutschlands Engagement in Afghanistan Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart

Von Reinhard Möller 15.9.2008 Reinhard Möller studierte Soziologie, Philosophie und Völkerrecht in Heidelberg. Er ist Herausgeber und Koautor des Sammelbandes "Islamismus und terroristische Gewalt".

Seit 2001 übernimmt Deutschland eine Vorreiterrolle beim Wiederaufbau Afghanistans. Diese Rolle ist auch einem historisch gewachsenen Vertrauensverhältnis geschuldet. Denn die deutsch-afghanische Freundschaft besteht seit Anfang des 20. Jahrhunderts.

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war Afghanistan für Deutschland ein nahezu weißer Fleck auf der Weltkarte, ohne größere militärisch-strategische oder ökonomische Bedeutung. Dies sollte sich aber während des Ersten Weltkrieges ändern. Die legendäre Niedermayer-Hentig-Geheimexpedition knüpfte 1915 den ersten offiziellen Kontakt zu dem zentralasiatischen Land. Militärisch verantwortlich für die Mission war der bayerische Offizier Oskar Ritter von Niedermayer, politisch Leutnant Werner Otto von Hentig, Legationssekretär in Diensten des Auswärtigen Amtes in Berlin. Beide sollten erreichen, dass Afghanistan auf Seiten Deutschlands in den Krieg gegen Britisch-Indien eintritt.

Die Modernisierung Afghanistans

Der damalige afghanische Herrscher, Emir Habibullah, war dazu nicht bereit, entschied sich gegen den "Jihad" und für die Neutralität seines Landes. Was für Habibullah zählte, war die Anerkennung der Unabhängigkeit Afghanistans durch eine europäische Großmacht, die das Land als ebenbürtigen Partner und nicht wie eine Kolonie behandelte. Dies geschah durch das deutsche Kaiserreich. 1916 verließ die deutsche Delegation Kabul. In Teilen der Bevölkerung hatte sie sich während ihres Aufenthaltes große Sympathien erworben.

Der 1919 auf den Thron gekommene Sohn Habibullahs, der Reformerkönig und Bismarck-Bewunderer Amanullah, schrieb bald ein entscheidendes Kapitel deutsch-afghanischer Freundschaft. Er konzentrierte sich mit großer Energie auf die Modernisierung Afghanistans und setzte dabei in erster Linie auf Deutschland als Partner. Schon 1923 kam es in Kabul zur Gründung der "Deutsch- Orientalischen Handelsgesellschaft AG", später in "Deutsch-Afghanische-Compagnie AG" umbenannt – ein Indiz für gewachsene gegenseitige Wirtschaftsbeziehungen.

Mehr als 200 deutsche Experten waren damals am Hindukusch tätig, zudem inoffiziell Offiziere als Berater und Ausbilder der afghanischen Armee. Es wurden Wasserkanäle und Talsperren gebaut, Telegraphenleitungen verlegt und das Straßennetz erweitert. Mit deutscher Hilfe ist 1924 die berühmt gewordene Nejat-Oberrealschule in Kabul, zu Ehren Amanullahs "Amani-Schule" genannt, errichtet worden. Deutsche Lehrer unterrichteten dort bis 1984.

Der deutsch-afghanische Freundschaftsvertrag von 1929

Bis zum kommunistischen Umsturz 1978 gab es keine afghanische Regierung, in der nicht wenigstens ein Minister Absolvent dieser "Institution" war oder in Deutschland studiert hatte. 1926 wurde der mit dem Austausch von Gesandtschaften verbundene Freundschaftsvertrag zwischen Afghanistan und Deutschland abgeschlossen. Schon zwei Jahre später war ein Großereignis in den deutsch-

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 60 afghanischen Beziehungen zu vermelden: König Amanullah besuchte mit seiner attraktiven, modisch gekleideten Gattin Soraya Deutschland. Sie wurden vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg in Berlin aufs Herzlichste willkommen geheißen. Es folgten glanzvolle Empfänge in der deutschen Hauptstadt.

Der damalige afghanische Gesandte, Gholam Sidiq Chan, äußerte sich in diesen Jahren wie folgt: "Gerade zwischen Deutschland und Afghanistan herrschen besonders freundschaftliche Beziehungen. Die stärkste Kolonie unseres Landes ist die Deutsche. Die regsten Handelsbeziehungen bestehen zwischen uns und Deutschland." Allerdings: Ein Jahr nach der ausgedehnten Europareise des Königs führten Aufstände in Afghanistan zu seinem Sturz. Hauptgrund waren die Reformen Amanullahs, die im Widerspruch zum Islam standen.

Nach Mohammed Nadir Schah (1929-1933) kam Zahir Schah auf den Thron, dessen Dynastie dem Land eine 40-jährige Epoche relativer Stabilität bescherte. Afghanistan erhielt von Deutschland mehrfach Kredite, zum Teil in großem Umfang, zur Finanzierung von Fabriken oder Industrieausrüstungen, jedoch mit der Verpflichtung, entsprechende Lieferverträge an deutsche Firmen zu vergeben. Renommierte Unternehmen wie Siemens, IG-Farben und Hartmann AG engagierten sich in Afghanistan.

Deutschland und Afghanistan während des Zweiten Weltkriegs

Unter Einwirkung des Außenpolitischen Amtes der NSDAP wurde 1937 ein Verwaltungsabkommen über die Entsendung deutscher Ingenieure an den Hindukusch, das sog. Dr. Todt-Abkommen (Dr. Todt war Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen) unterzeichnet. Der deutsche Gesandte in Kabul bemerkte in diesem Zusammenhang, dass "die vorhandene Neigung der Afghanen, vorzüglich mit uns zu arbeiten, für die deutschen Interessen günstig sei. Sie beruhe auf der Wertschätzung unserer Arbeit und dem Einfluss persönlicher Beziehungen." 1938 wurde die Flugverbindung Berlin-Kabul durch die Lufthansa eingerichtet und der Aufbau der afghanischen Luftwaffe vom Deutschen Reich unterstützt.

Trotz strikter Neutralitätserklärung durch Zahir Schah versuchte das Hitler-Regime im Zweiten Weltkrieg, die paschtunischen Stämme zum Aufstand gegen Britisch-Indien zu drängen. Es blieb jedoch bei dem Versuch. Die Kriegsalliierten Sowjetunion und Großbritannien forderten den König auf, die nicht-diplomatischen Angehörigen der deutschen wie italienischen Kolonie auszuweisen. Dies widersprach den ehernen Prinzipien afghanischer Gastfreundschaft; Zahir Schah konnte daraufhin zumindest erreichen, dass den Ausgewiesenen freies Geleit zugesichert worden ist. Teile der afghanischen Elite standen im Übrigen der nationalsozialistischen Rassenlehre nicht ablehnend gegenüber, sahen sie sich doch als die authentischen Nachkommen des arischen Volkes, dessen Reich Ariana auf afghanischem Territorium begründet worden sei.

Die Beziehungen nach 1945

Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und den bald wieder aufgenommenen diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern wurde Afghanistan erneut Schwerpunkt deutscher resp. bundesdeutscher Entwicklungshilfe. Eine Serie von gegenseitigen Staatsbesuchen war in den folgenden Jahren zu registrieren. Ludwig Erhard, Heinrich Lübke, Walter Scheel und Kurt Georg Kiesinger begaben sich nach Afghanistan; nach Deutschland reisten Mohammed Daud als afghanischer Regierungschef, König Zahir Schah mit dem Kabinettschef Dr. Josoff (einst Student in Deutschland) und Ministerpräsident Dr. Abdul Saher. Es wurden zahlreiche Verträge über wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit unterzeichnet. Die Bundesrepublik gewährte umfangreiche Kredite, u. a. für Großprojekte wie die Regionalentwicklung der Provinz Paktia. Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die Privatinvestitionen deutscher Unternehmen in verschiedene Bereiche von Gewerbe und Industrie in Afghanistan.

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Eckpfeiler der bildungspolitischen Zusammenarbeit waren zweifellos die 1962 begründeten Partnerschaften zwischen den Universitäten Köln, Bonn und Bochum einerseits und Kabul andererseits. Speziell zwischen den natur- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Im Mittelpunkt standen der Austausch von Professoren und Dozenten, auch die Vergabe von Stipendien an junge Afghanen zur Ausbildung an deutschen Hochschulen. René König, der Altmeister der deutschen Soziologie, war für die Universität Köln von 1962 bis 1978 ständiger Delegierter in Sachen Partnerschaft mit der Universität Kabul, später dort auch Gastprofessor. Er räumte freimütig ein, dass es in der Zusammenarbeit auch krisenhafte Phasen gegeben hat. Im Juli 1973, während der Europareise Zahir Schahs, kam es in Afghanistan wieder einmal zu einem Putsch – mit dem Ergebnis, dass das zentralasiatische Land Republik und Prinz Moh. Daud, der Schwager des Königs, Staatspräsident wurde.

Der Afghanistan-Krieg 1979-1989

Die Bundesregierung reagierte auf Dauds einseitige Parteinahme für die UdSSR mit einer Politik der Distanzierung vom neuen Regime. Die politischen Entwicklungen am Hindukusch nahmen in der Folge einen dramatischen Verlauf: Daud wurde entmachtet und die prosowjetische "Demokratische Volkspartei" unter Nur Moh. Taraki übernahm die Staatsgewalt. Nach Bürgerkriegskämpfen zwischen Truppen der kommunistischen Regierung, königstreuen, islamischen und moderaten Kräften marschierten im Dezember 1979 sowjetische Einheiten in Afghanistan ein. Ein grausamer und zerstörerischer Krieg begann.

Die Bundesrepublik stoppte die Entwicklungszusammenarbeit. Ihre letzten Berater und Fachkräfte verließen 1980 Afghanistan, die Lehrkräfte folgten 1984. Der Krieg führte zu immensen Flüchtlingsbewegungen, hauptsächlich in Richtung Pakistan und Iran. Zielländer der Exilanten waren zudem die USA und Deutschland, wohin sich auch Tausende von Angehörigen der geistigen Elite Afghanistans begaben. Die Bundesregierung plädierte mehrfach für den Abzug "fremder Truppen" aus dem zentralasiatischen Land und trat für das Selbstbestimmungsrecht des afghanischen Volkes in Freiheit ein. Und sie leistete humanitäre Hilfe zur Linderung der ärgsten Not im Lande. Besondere Verdienste erwarb sich in den Kriegsjahren der ehemalige Oberstarzt der Bundeswehr, Dr. Reinhard Erös, der zahllose verwundete afghanische Soldaten und Zivilisten in sogenannten "Höhlen-Kliniken" medizinisch versorgte.

Nach schmachvoller Niederlage verließen die letzten sowjetischen Verbände 1989 Afghanistan. Es folgte eine Zwischenphase mit Bürgerkrieg unter den heillos zerstrittenen Mudschahidin- Gruppierungen und Talibanherrschaft. Die "Gotteskrieger" wurden am Ende von amerikanischen Truppen und der afghanischen Nordallianz entscheidend geschlagen.

Das politische und militärische Engagement seit 2001

Aufgrund des historisch gewachsenen Vertrauensverhältnisses war Deutschland nun dazu prädestiniert, beim Wiederaufbau Afghanistans eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Unter der Ägide der UNO wurde denn auch die sog. Afghanistan-Konferenz zum 27. November 2001 auf dem Petersberg bei Bonn einberufen. Die eingeladenen Vertreter fast aller wichtigen politischen Richtungen des Landes befürworteten die Initiative. Nicht einbezogen waren Vertreter der Talibanbewegung. Die Konferenz endete mit einer Vereinbarung über vorläufige Regelungen bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen in Afghanistan. Als Chef der Interimsverwaltung wurde der Paschtune Hamid Karsai eingesetzt.

Mit UN-Mandat ist dann die Internationale Sicherheitsbeistandstruppe (= ISAF) zum Schutz der vorläufigen Regierung in Kabul gebildet worden. Von der zunächst 5.000 Mann umfassenden Truppe stellte Deutschland das Hauptkontingent. Ab 2003 verlagerte sich der Schwerpunkt des Bundeswehr- Engagements von Kabul nach Nordafghanistan. Dort übernahm Deutschland 2006 auch die Führung des ISAF/NATO-Regionalkommandos Nord, zudem die Verantwortung für die Regionalen

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Wiederaufbauteams (PRTs) in Kundus und Faizabad, jeweils mit ziviler und militärischer Komponente. Beim überwiegenden Teil der Bevölkerung im Norden des Landes genießt die Arbeit der Bundeswehr immer noch hohes Ansehen.

Das zivile Engagement der Bundesrepublik nach 2001

Deutschland unterstützte organisatorisch die beiden Großen Ratsversammlungen (Loya Jirgas) 2002 und 2003 in Afghanistan. Während der ersten Versammlung wurde Karsai als Präsident der Übergangsregierung bestätigt, anlässlich der zweiten die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan verabschiedet. Die Durchführung der nachfolgenden Präsidentschaftswahl hat die Bundesregierung finanziell unterstützt.

In Anknüpfung an alte Traditionen hat Deutschland wieder einen Teil der Aus- und Weiterbildung der afghanischen Polizei übernommen. Deutsche Experten setzen sich auch für den Aufbau eines funktionierenden Justizwesens ein. Der Wiederaufbau der Wasserkraftwerke in Mahipar und Sarobi kommt gut voran; sie sollen in Kürze rund 50 % des Energiebedarfs in Kabul abdecken. Eine bessere Trinkwasserversorgung für die Hauptstadt und Provinzstädte wie Kundus oder Herat ist mit Erfolg realisiert worden. Der Straßenbau wird vorangetrieben.

Um der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Afghanistan nachhaltige Impulse zu geben, fördert Deutschland u. a. Existenzgründungen sowie berufliche Bildungs- und Fortbildungsmaßnahmen. Mit deutscher Hilfe ist auch die Amani-Schule in Kabul wieder aufgebaut und viele andere Schulen, insbesondere für Mädchen, errichtet worden. Die Lehreraus- und -weiterbildung ist ebenfalls ein wichtiger Teil des deutschen Engagements.

Alles in allem wird Deutschland bis 2010 einschließlich humanitärer, Not- und Übergangshilfe mehr als 900 Millionen Euro für Afghanistan bereitgestellt haben. Nach den USA, Großbritannien und Japan ist Deutschland damit das viertgrößte bilaterale Geberland.

Besonderer Erwähnung bedürfen auch die Aktivitäten privater Hilfsorganisationen und politischer Stiftungen. Stellvertretend für viele andere Einrichtungen sind hier die "Kinderhilfe Afghanistan" der Familie Erös aus Bayern und die von Rupert Neudeck ins Leben gerufenen "Grünhelme" anzuführen. Beide Organisationen, die ausschließlich auf private Spenden angewiesen sind, werden von den Afghanen hochgeschätzt. Dr. Erös engagiert sich u. a. für den Bau von Grund- und Oberschulen, Krankenstationen, Waisenhäusern und Lehrlingswerkstätten in entlegenen Provinzen; die "Grünhelme" setzen sich ebenfalls für die Errichtung von Schulen, aber auch von Ambulanzen und Wasserversorgungsanlagen ein. Die auch in Kabul vertretene Konrad-Adenauer-Stiftung ist u. a. durch ihre Stipendiaten- und Praktikantenprogramme im Medienbereich hervorgetreten. Im Mai 2003 hat sie die erste "Denkfabrik" in der afghanischen Hauptstadt, das "National Center for Policy Research" gegründet. Diese Einrichtung kooperiert z.B. mit der Ruhr-Universität Bochum.

Schlussbemerkung

Wie ausgeführt, hat sich Deutschland auf verschiedenen Gebieten vom ersten Weltkrieg an – mit Unterbrechungen – für Afghanistan eingesetzt. Das Engagement umfasste die Bereiche Politik, Wirtschaft und Technik, Kultur und Wissenschaft sowie humanitäre Hilfe. Seit 2001 ist Deutschland als Teil der internationalen Staatengemeinschaft am militärisch abzusichernden zivilen Wiederaufbau Afghanistans beteiligt. Die Beziehungen zur afghanischen Regierung und Bevölkerung sind bis heute weitgehend durch enge Freundschaft und ein großes Vertrauensverhältnis geprägt.

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Kriegsähnliche Zustände Für Soldaten mit PTBS wird der Alltag zum Schlachtfeld

Von Andreas Pankratz 24.5.2012

Andreas Pankratz ist Volontär der Bundeszentrale für politische Bildung.

Immer mehr deutsche Soldaten kehren mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus Einsätzen zurück. Wie reagiert der Körper, wenn man täglich mit Tod und Leid konfrontiert ist?

Lars Schlierkamp erlebt hautnah, wie Selbstmord-Attentäter das Nato-Hauptquartier in Kabul attackieren. Taliban-Kämpfer töten bei einem anderen Angriff italienische Kameraden. Täglich hantiert er an seinem Schreibtisch mit Meldungen und Bildern von toten und verwundeten Menschen. "Man muss da einfach nur funktionieren", sagt der junge Soldat. Nach dem sechsmonatigen Einsatz in Afghanistan kehrt er Anfang 2010 planmäßig zum Stützpunkt in Münster zurück und funktioniert eine Zeit lang weiter. Irgendwann ist aber klar – was da passiert ist, das war zu viel. Er schläft schlecht, erschreckt sich häufig, ist immer auf 180, wie er selbst sagt. "Vier Monate habe ich das mit mir rumgeschleppt", sagt der inzwischen 28-Jährige.

Schließlich geht er zum Arzt: Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. Natürlich hatte er von dieser Krankheit schon vorher gehört, die Soldaten in Kampfeinsätzen davontragen können. Aber ihn, nein, ihn kann das nicht treffen. Eigentlich ist es eine zwar seltene, aber normale Reaktion des Organismus, mit erlebten Katastrophen umzugehen. In weiten Teilen der Bundeswehr ist es jedoch nach wie vor ein Tabu. "Als ich das den Kollegen und meiner Familie erzählt habe, war das bestimmt so ähnlich wie für Homosexuelle, die sich outen", sagt Schlierkamp. So groß waren die Sorgen um Karriere und Ansehen bei den Kameraden.

Nach stationären Aufenthalten in Bundeswehr-Krankenhäusern und unzähligen Therapie-Sitzungen fühlt er sich inzwischen wieder viel besser. In seiner Flecktarn-Uniform sitzt er ruhig in einem Büro des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster. Sein Blick ist leer. "Ich hätte lieber einen Arm im Kampf verloren", sagt er heute. Das würde man wenigstens direkt sehen.

Rund 1.000 Bundeswehr-Angehörige befinden sich in PTBS-Therapie

In ihren Gedanken kehren PTBS-Patienten immer wieder an die Orte zurück, wo ihr Leiden seinen Ursprung hat. Diese permanent wiederkehrenden Erinnerungen sind ein typisches Merkmal der Krankheit. Bei vielen löst ein einziges, besonders katastrophales Erlebnis das Trauma aus: wenn sie etwa verwundet werden, Kameraden oder Zivilisten vor ihren Augen ums Leben kommen oder sie selbst Menschen töten müssen. Zurück in der Heimat wird dann der Alltag zum Schlachtfeld. Da reicht der Geruch von Grillfleisch oder schreiende Kinder, um die Hölle im Kopf ausbrechen zu lassen. Manche versuchen das Trauma in Alkohol zu ertränken, reagieren auf Kleinigkeiten gereizt und aggressiv.

Ein Großteil versucht, ohne Behandlung damit fertig zu werden. Das kannst du niemandem erklären, denken sich die Betroffenen und schweigen. Lieber verdrängen, als womöglich als Weichei abgestempelt zu werden. Dabei ist es längst kein Ausnahme-Phänomen mehr: Rund 1.000 Bundeswehr-Angehörige befinden sich derzeit wegen PTBS in Therapie – so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Nochmal genau so viele verheimlichen ihre psychischen Probleme,

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 64 schätzen Psychiater der Bundeswehr.

Berufssoldat Frank Eggen hat das Ausmaß des Problems erkannt, lange bevor PTBS durch Beiträge in Zeitungen und Fernsehsendungen zu einer Art Modekrankheit, ähnlich dem Burnout-Syndrom, geworden ist. Aus eigener privater Initiative hat er eine Infoseite im entwickelt und zählte 2011 rund 3,2 Millionen Zugriffe. Klar, je länger Einsätze wie der am Hindukusch dauern, desto mehr verwundete Soldaten kehren Heim. Mitschuldig an der steigenden Zahl der traumatisierten Soldaten ist aus seiner Sicht aber auch der fehlende Rückhalt in der deutschen Gesellschaft. Ein unbeliebter Krieg ist nie gut für die Moral in der Truppe. "Wenn ein Soldat ständig zu hören bekommt, wie ungerecht oder sinnlos der Einsatz in Afghanistan ist", sagt Eggen, "umso leichter nimmt auch die Psyche Schaden."

Die machen das doch freiwillig, niemand wird dazu gezwungen, in ein Kriegsgebiet zu gehen, heißt es dann. Stimmt aber nicht immer. Militärische Fachleute mit seltenen Qualifikationen wie beispielsweise Rettungssanitäter können jederzeit abbestellt werden, andere gehen dorthin aus Verantwortungsgefühl gegenüber den Kameraden und der Bevölkerung in der Krisenregion. Für die Friedensmission gibt es ein Mandat des Bundestags.

Erste Fälle von PTBS hat es aber schon ab Mitte der 90er Jahre gegeben – nach Einsätzen in Somalia und auf dem Balkan. Die Bundeswehr hat sich darauf eingestellt, dass sie nicht nur Verwundete mit äußerlichen Schäden behandeln muss. Neue Therapie-Ansätze und vor allem das Psychotraumazentrum sind eine Antwort auf die Missionen, die für deutsche Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie so langwierig und gefährlich waren.

Kritiker: Bundeswehr spielt das Problem herunter

Das reicht aber noch nicht, sagen Kritiker. "Die Bundeswehr hat immer noch ein Problem, den Ernst der Lage einzugestehen", sagt Andreas Timmermann-Levanas. Als Berufssoldat war er in Bosnien und Afghanistan und schaffte es bis in den Rang eines Oberstleutnants, bevor er 2009 wegen PTBS seinen Dienst aufgeben musste. Über Alkoholsucht, Arbeitslosigkeit und Selbstmordversuche wolle niemand offen reden, obwohl diese Begleiterscheinungen von PTBS aus den USA bekannt sind, so der Ex-Soldat. In der US-Armee ist PTBS inzwischen zu einer Katastrophe geworden: Für jeden gefallenen Amerikaner in Afghanistan und Irak kommen in diesem Jahr statistisch noch mal 25 Soldaten, die sich wegen ihrer kranken Psyche das Leben nehmen.

Verglichen mit den USA, die bereits nach dem Truppenabzug aus Vietnam mit Hunderttausenden Verstümmelten und Traumatisierten umgehen mussten, haben die meisten Menschen in Deutschland wenig Erfahrung mit Veteranen. "Es ist gut, dass in der Öffentlichkeit über PTBS gesprochen wird", sagt Timmermann-Levanas. "Dabei fallen aber andere psychische Schäden unter den Tisch." Mit Anpassungsstörungen und Angstzuständen ohne das Label PTBS stoßen die Soldaten erst recht bei ihren Mitmenschen auf Ignoranz und Ratlosigkeit. Um für die Rechte der Versehrten zu kämpfen, hat er den Bund deutscher Veteranen gegründet und war mit dafür verantwortlich, dass durch ein neues Gesetz Betroffene und Hinterbliebene eine höhere Entschädigung bekommen.

Dennoch gehen vor allem Zeitsoldaten, die nicht mehr im Dienst sind, häufig leer aus. Viele müssen nach dem Einsatz mit der Waffe in ihrer Heimat noch einen langwierigen Papierkrieg führen. Oft scheitern traumatisierte Soldaten vor den Behörden mit Anträgen auf Entschädigung und Weiterbeschäftigung. Vor allem dann nämlich, wenn die Symptome der PTBS erst viele Jahre nach den traumatisierenden Ereignissen auftreten. "Das ist nicht gerade förderlich für die Genesung", sagt Peter Zimmermann, Chefarzt am Psychotraumazentrum in Berlin. Die Kritik an der Bundeswehr kann er nicht nachvollziehen. Trotz der Fortschritte der Militär-Mediziner im Kampf gegen die Krankheit, sieht aber auch er Verbesserungsbedarf. "Die Bundeswehr-Spitze tut sich schwer damit, der Psychiatrie den Stellenwert einzuräumen, der nötig wäre", sagt Zimmermann. Es fehlen vor allem Ärzte, die für die spezielle Behandlung qualifiziert sind.

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PTBS ist heilbar, Therapie ist aber langwierig

Normalerweise ist PTBS heilbar. 80 Prozent der Patienten lernen nach aufwendigen Behandlungen, mit ihren Erlebnissen umzugehen, und können noch während der Therapie wieder den Dienst aufnehmen. Auch Holger Roßmeier hat seine Uniform inzwischen wieder angezogen. Über den Berg fühlt sich der Berufssoldat aber noch nicht. Nach guten Phasen kommt bei ihm die Aggressivität immer wieder durch, Erinnerungen an Kabul beherrschen in kritischen Zeiten seinen Alltag.

Die Ehe drohte zu zerbrechen, für die beiden Söhne ist es doppelt hart. "Zwischendurch erschien mir der Selbstmord als Möglichkeit", sagt der 41-jähirge Feldwebel mit kräftiger Stimme. Seine sachliche Eloquenz steht im Widerspruch zu seiner Gedankenwelt; bis heute quälen ihn Schuldgefühle. Inzwischen hat er die Selbsthilfegruppe "Roter Freitag" gegründet, in der sich traumatisierte Lokomotivführer, Polizisten und Feuerwehrleute gemeinsam treffen. Die Betroffenen können hier das Erlebte teilen und sich das geben, was ihnen zu viele Mitmenschen verwehren: Rückhalt, Verständnis und Anteilnahme.

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Aufbau und Reformen

19.6.2012

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Zu wenig, reichlich spät - Stabilisierungsmaßnahmen in Afghanistan zwischen Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung

Von Thomas Ruttig 25.5.2010

Dipl.-Afghanist, geb. 1957; Ko-Direktor und Senior Analyst beim Afghanistan Analysts Network (AAN) in Kabul und Berlin.

Zivile Ansätze können mit den Truppenverstärkungen nicht Schritt halten und sind von konzeptioneller Inkonsistenz geprägt. "Entwicklung" wird als ein Instrument im Werkzeugkasten der Aufstandsbekämpfung betrachtet.

Der Anfang März ausgeschiedene UN-Sondergesandte für Afghanistan Kai Eide hat bei seinen letzten öffentlichen Auftritten vor einer "Militarisierung unserer Gesamtstrategie in Afghanistan" gewarnt. Er plädierte für die "dringende Notwendigkeit, mehr politischen Sauerstoff in die nichtmilitärischen Bereiche unserer Partnerschaft zu injizieren".[1] In der Tat: Auch die Afghanistan-Politik von US- Präsident Barack Obama setzt bei der Stabilisierung dieses Landes vorrangig auf militärische Mittel. Im Mittelpunkt seiner von General Stanley McChrystal ausgearbeiteten und implementierten Strategie steht ein deutlicher, jedoch als vorübergehend avisierter Aufwuchs (surge) der US-Truppen im Land - von 70.000 auf 100.000 Soldaten. Zusammen mit den Truppen verbündeter Länder erreicht dies bereits die Dimensionen der sowjetischen Besetzung Afghanistans (1979 bis 1989).

Mit Hilfe der neuen Truppen soll eine Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche gegenüber der Aufstandsbewegung umgesetzt werden, die einerseits Verhandlungen und eine freiwillige "Reintegration" anbietet, während sie gleichzeitig darauf zielt, sie militärisch zu schwächen. Aufgabe dieser nun "auf die Bevölkerung orientierten" Strategie zur Aufstandsbekämpfung ist es nicht mehr in erster Linie, Taliban zu jagen und zu töten, sondern ihnen die Kontrolle über Bevölkerungszentren zu entreißen (clear), diese Gebiete zu schützen (hold) und dort effiziente Verwaltungsstrukturen zu etablieren sowie Wiederaufbauprogramme in Gang zu bringen (build).

Dazu kommen als Strategieelemente ein deutlicher quantitativer und qualitativer Ausbau der afghanischen Sicherheitskräfte (die Nationalpolizei soll auf 134.000 Mann, die Armee sogar auf 171.000 aufgestockt werden), verstärkte Anstrengungen im Bereich des zivilen Wiederaufbaus sowie ein integrativer Ansatz für Afghanistan und sein Nachbarland Pakistan - obwohl das gleichmacherische Akronym "AfPak" dafür inzwischen wieder fallen gelassen wurde.

Zivil-militärische Ansätze

Zivile Ansätze können mit den Truppenverstärkungen bisher jedoch nicht Schritt halten. Die US- Regierung hat erhebliche Probleme, genügend ziviles Personal für Afghanistan zu rekrutieren.[2] Das kann auch mit massiven Finanzaufstockungen nicht wettgemacht werden. Noch wichtiger: Sie sind von konzeptioneller Inkonsistenz sowie Wunschdenken geprägt. "Entwicklung" gilt nicht als Gut an sich, sondern wird als ein Instrument im Werkzeugkasten der Aufstandsbekämpfung betrachtet. Im Dogma des clear, hold und build drückt sich ein angenommener Automatismus aus, demzufolge nur eine afghanische Verwaltung, UN-Agenturen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) in "gesäuberte" Gebiete vorstoßen müssen, um den Geländegewinn zu perpetuieren und die "Herzen

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 68 und Hirne" der Afghanen (zurück) zu gewinnen.

Zudem haben aufgrund der schlechten Sicherheitslage alle zivilen Akteure enorme Zugangsprobleme. In den ruralen Problemdistrikten Süd-Afghanistans können sich ausländische zivile Berater nur in gepanzerten Konvois, geschützt von einem massiven Militäraufgebot und oft nur in Uniform bewegen. Das lässt sie in den Augen der Zivilbevölkerung mit dem Militär verschmelzen, mit dem sie oft schlechte Erfahrungen gemacht hat. Bombardierungen, willkürliche Festnahmen und Deportationen in das "System Guantanamo" sowie die zumindest zeitweilige Verwendung von NRO-Insignien wie grüne Nummernschilder durch Spezialkräfte haben viele Afghanen misstrauisch werden lassen. Das stellt die zentrale Annahme der Strategie McChrystals in Frage, wonach sich die Afghanen noch von westlichen Truppen schützen lassen möchten. Gleichzeitig werden dadurch selbst UN- und NRO- Helfer - als mögliche Spione - zu Anschlagszielen. Afghanische Behördenvertreter gelten den Taliban ohnehin als "legitime Ziele".

Dasselbe gilt - wenn auch abgestuft - für den Landesnorden, in dem Deutschland vorrangig aktiv ist und auf den sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit konzentriert, die sich in diesem Jahr auf 240 Millionen Euro verdoppeln wird. Doch bereits jetzt mussten sich staatliche wie nichtstaatliche Organisationen aus Sicherheitsgründen weitgehend von dort zurückziehen.

Zudem ist fraglich, ob paschtunische Bauern landwirtschaftliche Expertise aus den USA brauchen - oder nicht vielmehr Verteilungsstrukturen für ertragreiches Saatgut, Düngemittel und Kleinkredite sowie Marktzugang, was ihnen ein sicheres (auch einkommenssicheres) Wirtschaften ermöglichen würde. Dafür wiederum wären in erster Linie effiziente afghanische Regierungsstrukturen vonnöten.

Politisch-diplomatische Ansätze

Jüngste Untersuchungen eines Teams um Andrew Wilder von der Tufts University in mehreren afghanischen Provinzen haben ergeben, dass die finanzielle Mittelaufstockung - allein die in Verfügung der Kommandeure der US-amerikanischen Provincial Reconstruction Teams stehenden Fonds sollen sich auf 1,2 Milliarden Dollar fast verdoppeln - "für die US-Anstrengungen zur Aufstandsbekämpfung kontraproduktiv oder, im besten Fall, nicht hilfreich sein könnten". Der renommierte Autor zitiert einen afghanischen Stammesführer: "Geld kann nicht Herzen und Hirne gewinnen. Wenn du einem Afghanen eine Mahlzeit gibst, ihn aber beleidigst, wird er nie wieder kommen. Aber wenn du ihn mit Respekt behandelst, selbst wenn du ihm nur ein Stück Brot gibst, wird er für immer dein Freund sein."[3]

Währenddessen sind politisch-diplomatische Ansätze zur Konflikteindämmung bereits unter die Räder des military surge gekommen. Die Taliban verstehen die Truppenverstärkungen als Kriegserklärung. Unter diesem Druck haben sie ihre Reihen wieder geschlossen und die verhandlungsbereite Strömung mundtot gemacht. Ein Übriges tat die Welle von Verhaftungen führender Taliban durch Pakistans Militärführung im Februar und März dieses Jahres, die auch den De-facto-Chef der afghanischen Taliban-Bewegung Mullah Abdul Ghani Baradar traf. (Taliban-Führer Mulla Muhammad Omar hält sich verborgen und tritt nur mit sporadischen Erklärungen an die Öffentlichkeit, deren Autorenschaft nicht zweifelsfrei ist.) In Washington wurden die Verhaftungen offiziell begrüßt. Der AfPak-Sondergesandte Richard Holbrooke nannte sie einen "weiteren Höhepunkt der pakistanisch-amerikanischen Zusammenarbeit". Bruce O. Riedel, ein ehemaliger Diplomat und CIA-Mitarbeiter, der im Frühjahr 2009 die erste Politikreview der Obama-Administration geleitet hatte, sprach von einem "Gezeitenwechsel im Verhalten Pakistans", Außenministerin jüngst bei einem Besuch in von einem "neuen Tag" im bilateralen Verhältnis. [4] Tatsächlich drückt sich darin das (vorerst erfolgreiche) Streben der pakistanischen Militärführung aus, die völlige Kontrolle über einen eventuellen Versöhnungsprozess mit den Taliban in Afghanistan zu erlangen.

[1] Kai Eide, Time to Talk: Op-Ed by the SRSG for Afghanistan, UN4U Europe ( Regional Information Center Magazine), März 2010, online: http://feb2010.unricmagazine.org/front-page- news/285-migrants-at-sea-are-not-toxic-cargo.html (http://feb2010.unricmagazine.org/front-page-news/285-

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 69 migrants-at-sea-are-not-toxic-cargo.html) (5.4.2010). [2] Vgl. Gordon Lubold, Afghanistan's , surge' fizzles, in: Christian Science Monitor vom 14.9.2009, online: www.csmonitor.com/USA/Military/2009/0914/p19s01-usmi.html (http://www. csmonitor.com/USA/Military/2009/0914/p19s01-usmi.html) (5.4.2010).

[3] Andrew Wilder/Stuart Gordon, Money Can't Buy America Love, in: Foreign Policy vom 1.12.2009, www.foreignpolicy.com/articles/2009/12/01/ money_cant_buy_america_love?page=full (http://www.foreignpolicy.com/articles/2009/12/01/ money_cant_buy_america_love?) (5.4.2010). Die Forschungsergebnisse werden demnächst veröffentlicht.

[4] Vgl. Chris Allbritton, Holbrooke hails Pakistan-U.S. collaboration on Taliban, Reuters vom 18.2.2010, www.reuters.com/article/idUSTRE61H2QO20100218 (http://www.reuters.com/article/idUSTRE61H2QO20100218) (5.4.2010); Mark Mazzetti/Dexter Filkins, Secret Joint Raid Captures Taliban's Top Commander, in: New York Times vom 15.2.2010, online: www.nytimes.com/2010/02/16/world/asia/16intel.html? th&emc=th (http://www.nytimes.com/2010/02/16/world/asia/16intel.html?_r=1&th&emc=thd) (5.4.2010).

Erste Kanäle des Dialogs wurden damit wieder zugeschüttet. In den Jahren 2008 und 2009 hatten die Taliban in offiziellen Stellungnahmen deutlich zu machen versucht, dass sie al-Qaidas Agenda nicht teilen und Nachbar- sowie andere Länder nicht bedrohen. In einem Interview im Jahr 2007 erklärte Mullah Omar: "Wir haben niemals die Notwendigkeit für permanente Beziehungen (mit al-Qaida) verspürt." Im Mai 2010 setzte der Sprecher der Bewegung Zabihullah Mujahed hinzu: Die Taliban sind "eine Sache und al-Qaida eine andere. Sie sind global[,] wir [agieren] nur in der Region". Im Herbst 2009 hieß es: "Wir hatten niemals eine Agenda, anderen Ländern, einschließlich Europas, zu schaden, noch haben wir heute solch eine Agenda." In einem Offenen Brief an den Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation im vergangenen Jahr sprachen sie sich für "gute und positive Beziehungen mit allen Nachbarn auf der Basis gegenseitigen Respekts" und für "konstruktive Interaktion [...] für eine permanente Stabilität und ökonomische Entwicklung in der Region" aus.[5]

Über nichtöffentliche Kommunikationskanäle signalisierte das Umfeld Baradars, dass diese Strömung der Taliban versteht, dass sie den Konflikt militärisch nicht gewinnen können, die Kosten an zivilen Opfern zu hoch und zudem die Selbstmordattentate gegen Zivilisten "unislamisch" sind. Es wäre fatal, die Taliban nicht beim Wort zu nehmen und in einen Gesprächsprozess einzubinden. Wenn sie dazu stehen, könnten sie sich auch in anderen Fragen als kompromissbereit erweisen - wenn nicht, entlarven sie sich öffentlich.

Verhandlungen mit Taliban?

Insgesamt versuchen die Taliban sogar, nach außen und innen als offizielle Konfliktpartei und legitime Fortsetzung des ihrer Ansicht nach durch eine unrechtmäßige äußere Intervention gestürzten Islamischen Emirats Afghanistans (IEA) aufzutreten - in deutlicher Gegenposition zur Karzai- Regierung, die sich durch die massiv gefälschte Präsidentschaftswahl im Jahr 2009 selbst weiter delegitimierte. Dabei bauen die Taliban auf ihre landesweiten Parallelstrukturen, die eine "Schattenregierung" darstellen, die systematische Nutzung der IEA-Insignien auf allen Veröffentlichungen und Verlautbarungen sowie den ansatzweisen Ausbau eines Steuersystems in den von ihnen kontrollierten Gebieten Afghanistans.

In den USA scheinen einflussreiche Kreise nicht an eine Verhandlungslösung zu glauben. Das basiert auf einer undifferenzierten Betrachtungsweise der Aufstandsbewegung in Afghanistan und im benachbarten Pakistan, die maßgeblich Bruce O. Riedel prägt. Er spricht von einem "Terrorsyndikat", das die (vorwiegend paschtunischen) afghanischen und pakistanischen Taliban sowie pakistanische und kaschmirische, anti-schiitische, terroristische Sektierergruppen wie Lashkar-e Tayba umfasse.

Doch die Agenden dieser Gruppen sind voneinander durchaus abgrenzbar. Afghanistans Taliban

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 70 verfolgen eine rein afghanische Agenda. Bisher haben sie sich in keinem einzigen Fall an Terrorangriffen außerhalb ihres Landes beteiligt. Sie unterstützen aktiv keine militanten Bewegungen in Nachbarländern und bekämpfen auch nicht Pakistans Militär und Regierung. Im Gegenteil: Sie haben immer wieder versucht, auf die pakistanischen Taliban einzuwirken, sich allein auf den "Dschihad" in Afghanistan zu konzentrieren - allerdings ohne Erfolg. Das hat zu einem strategischen Auseinanderdriften der afghanischen und pakistanischen Taliban geführt. Letztere haben sich stärker an die einheimischen (nicht-paschtunischen) Sektierergruppen sowie al-Qaida angenähert, die eine internationale Agenda verfolgen.

Allerdings gibt es auch innerhalb der breiten afghanischen Taliban-Bewegung Strömungen, die al- Qaida und pakistanischen Gruppen nahestehen. Dazu gehört vor allem das Haqqani-Netzwerk, das Mullah Omar nur als geistiges Oberhaupt anerkennt, strategisch und operativ aber eigenständig handelt. Diese Differenzierungen zu negieren, wird es erschweren, einen weiteren Hauptansatz der McChrystal'schen Strategie umzusetzen: nämlich die afghanischen Taliban von al-Qaida zu trennen, sie in einen innenpolitischen Prozess einzubinden und dabei möglicherweise zu "mäßigen".

Aufstandsbekämpfung unter Obama

Es ist sogar umstritten, ob es sich bei der Strategie von Obama und McChrystal tatsächlich um Aufstandsbekämpfung oder, noch enger, nur um Terrorismusbekämpfung handelt.[6] Im ersten relevanten Politikdokument der Obama-Administration zu Afghanistan und Pakistan ist jedenfalls nur davon die Rede, "al-Qaida und ihre sicheren Zufluchtshäfen in Pakistan zu stören, zu besiegen und ihre Rückkehr nach Pakistan und Afghanistan zu verhindern" sowie eine Rückkehr der Taliban an die Macht zu verhindern. Dabei soll zwischen unversöhnlichen al-Qaida-Verbündeten und "weniger engagierten" Kämpfern unterschieden werden.[7] Später wurde das auf die Zielsetzung präzisiert, die Taliban "auf ein Niveau zu reduzieren (degrade), das von den afghanischen Sicherheitskräften handhabbar ist".[8]

Dafür spricht auch die Tendenz, dass die Obama-Administration - außer beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte - praktisch auf Positionen der Bush-Regierung zurückfällt, was eine Demokratisierung Afghanistans und den institutionellen Aufbau dort betrifft. Präsident George W. Bush hatte sich zwar oberflächlich auf eine Demokratisierung orientiert, eine Beteiligung am institutionellen Aufbau jedoch aus ideologischen Gründen abgelehnt. Seine Politik setzte auf ein hypertrophiertes Präsidialsystem, das einseitig und alternativlos auf die Person des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai zugeschnitten wurde, vernachlässigte die Stärkung demokratischer Gegengewichte (checks and balances) und beschränkte sich auf die Durchführung von Wahlen. Für Obamas Kurs steht das Plädoyer von Verteidigungsminister Robert Gates gegen "endloses nation-building" und seine Aussage, es sei "weder notwendig noch möglich, einen modernen, zentralisierten afghanischen Nationalstaat in westlichen Stil zu kreieren".[9] In der Folge ist heute stattdessen oft von "hinreichend demokratischen" Strukturen und "hinreichend guter Regierungsführung" als Zielvorstellung die Rede.[10]

Das aber ist nicht neu, sondern eine Weiterführung bisheriger fehlgeleiteter Politik. Schon die Bündnispolitik des Westens nach dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 hatte verheerende Folgen: Mit den Mudschahidin der Nordallianz setzten die intervenierenden US-Truppen im Kampf auf Alliierte, die sich während der Bürgerkriege nach dem Jahr 1992 in der Bevölkerung zutiefst diskreditiert hatten und deren Gewaltherrschaft die Hauptursache für den Aufstieg ihrer Gegner, der Taliban, Mitte der 1990er Jahre war. Ihre Milizen wurden von den USA für den Anti-Taliban-Kampf finanziert, danach aber nicht wie vorgesehen entwaffnet und aufgelöst. Die US-Gelder investierten sie in die Drogenökonomie, von der aus sie die verbliebenen Bereiche der legalen afghanischen Wirtschaft besetzten: vor allem den Immobilienhandel sowie lukrative Import- und Exportmonopole. Mit ihrer militärischen und wirtschaftlichen Macht konnten sie die ersten Wahlen 2004/05 beeinflussen und die neuen demokratischen Institutionen übernehmen. Dort versuchen sie bereits wieder, nach dem Jahr 2001 gewonnene Freiheiten einzuschränken.

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Zudem mischte sich vor allem die US-Regierung seit der Bonner Afghanistan-Konferenz Ende des Jahres 2001 massiv in alle wichtigen politischen Entscheidungsprozesse ein - zugunsten des späteren Präsidenten Hamid Karzai. Alternativkandidaten wurden massiv unter Druck gesetzt. In Bonn setzte der damalige US-Sonderbeauftragte für Afghanistan ein neues Votum durch, nachdem Karzai in einer Vorabstimmung dem Kandidaten der königstreuen Rom-Gruppe unterlegen war; auf der ersten Loya Jirga (Große Ratsversammlung) im Jahr 2002 wurde der frühere König Muhammad Zaher zur Rücknahme seiner Kandidatur gedrängt; bei der ersten Präsidentschaftswahl wurde die Allianz der wichtigsten Karzai-Gegner überredet, auf eine Überprüfung gemeldeter Wahlfälschungen zu verzichten.

[5] Zit. in: Anne Stenersen, Blood Brothers or a Marriage of Convenience? The Ideological Relationship between al-Qaida and the Taliban, Paper presented at ISA's 50th Annual Convention, "Exploring the Past, Anticipating the Future", in New York vom 15.-18.2.2009, online: www.allacademic.com//meta/ p_mla_apa_research_citation/ 3/1/2/5/2/pages312525/p312525-1.php (http://www.allacademic.com//meta/p_mla_apa_research_citation/3/1/2/5/2/ pages312525/p312525-1.php) (5.4.2010); "Transcript: Afghan Taliban spokesman discusses war", in: CNN online vom 5.5.2009, online: www.cnn.com/2009/WORLD/asiapcf/05/05/ afghan.taliban.transcript/ (http://edition.cnn.com/2009/WORLD/asiapcf/05/05/afghan.taliban.transcript/) (5.4.2010); Jason Burke/Chris McGreal, Taliban announces that it poses no international threat, in: Guardian vom 8.10.2009, online: www.guardian.co.uk/world/2009/oct/08/afghanistan-taliban-al-qaida-threat-us (http://www.guardian.co.uk/world/2009/oct/08/afghanistan-taliban-al-qaida-threat-us) (5.4.2010); Open Letter of the Islamic Emirate of Afghanistan to Shanghai Summit, 14 October 2009, online: www. revolutionmuslim.com/index.php?option=com_content&view=article&id=306:open-letter-of-the-islamic- emirate-of-afghanistan-to-shanghai-summit&catid=11:revolutionary-media&Itemid=15 (5.4.2010).

[6] Vgl. Bill Roggio, Counterterrorism at the expense of counterinsurgency will doom Afghanistan and Pakistan: US officials, in: The Long War Journal vom 24.9.2009, online: www.longwarjournal.org/ archives/2009/09/ reliance_of_countert.php#ixzz0jgG4yAk9 (http://www.longwarjournal.org/archives/2009/09/reliance_of_countert. php#ixzz0jgG4yAk9) (5.4.2010). [7] Vgl. White Paper of the Interagency Policy Group's Report on U.S. Policy toward Afghanistan and Pakistan, 28.3.2009, online: www.whitehouse.gov/assets/documents/ afghanistan_pakistan_white_paper_final.pdf (http://www.whitehouse.gov/assets/documents/ afghanistan_pakistan_white_paper_final.pdf) (5.4.2010); Remarks by the President on a New Strategy for Afghanistan and Pakistan, 27.3.2009, online: www. whitehouse.gov/the_press_office/Remarks-by-the-President-on-a-New-Strategy-for-Afghanistan-and- Pakistan/ (http://www.whitehouse.gov/the_press_office/Remarks-by-the-President-on-a-New-Strategy- for-Afghanistan-and-Pakistan/) (5.4.2010). [8] Statement of Secretary of Defense Robert Gates, Senate Armed Services Committee, 2.12.2009, online: www.defense.gov/speeches/speech.aspx?speechid=1403 (http://www.defense.gov/speeches/ speech.aspx?speechid=1403) (5.4.2010).

[9] Ebd. Ein solcher war allerdings in den "Gründungsdokumenten" der Bonner Afghanistan-Konferenz von Ende 2001 überhaupt nicht vorgesehen. Der Plan dort orientierte sich stark an afghanischen Vorkriegsstrukturen, die in Afghanistan positiv gesehen werden; vgl. Thomas Ruttig, Institutionen ohne Demokratie: Strukturelle Schwächen des Staatsaufbaus in Afghanistan und Ansätze für eine politische Stabilisierung, SWP-Studie, (2008) 17, Berlin 2008. [10] Vgl. Clare Lockhard, Fixing Failed States, zit. in: John Kerry, Testing Afghanistan Assumptions, in: Wall Street Journal vom 27.9.2009, online: http://online.wsj.com/article/SB1000142405274870447150457 4438660617984826.html (http://online.wsj.com/article/SB10001424052748704471504574438660617984826. html) (5.4.2010).

Defizite des afghanischen Staatssystems

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Der Zuschnitt des neuen afghanischen Staatssystems auf die Person Karzais führte zu einer Überzentralisierung, welche die Instanzen unter dem Präsidenten lähmt. Dazu gehören die Provinzverwaltungen, aber auch die gewählten Schuras (Beratungsgremien) auf Provinzebene. Die Gewaltenteilung wurde ausgehebelt, das Parlament durch ein faktisches Parteienverbot fragmentiert und in wichtigen Fragen übergangen, die Unabhängigkeit des Justizwesens kompromittiert sowie alternative politische Kräfte marginalisiert. Eine in weiten Teilen parasitäre Oberschicht profitiert von der Milliardenhilfe der westlichen Geber. Das Kabuler Villenviertel Scherpur, in dem die meisten Minister wohnen und wo gegen jedes Gesetz Bulldozer die Behausungen armer Hauptstädter planierten, heißt im Volksmund "Tschurpur", Plündererstadt. Gleichzeitig leben bis zu 43 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Zu früh mit internationaler Legitimität versehen, adaptierte auch das Karzai-Lager Methoden struktureller Gewaltausübung und begann, ein eigenes Patronage-Netzwerk auszubauen. Es verwandelte sich in eine Quasi-Fraktion, mit Präsidentenbrüdern als "Neo-Warlords" und Privatisierungsgewinner, die auch die Wiederwahl des Amtsinhabers im Jahr 2009 finanzierten. In den Provinzen trieben Karzai-Statthalter jene Paschtunenstämme, die sich noch Ende des Jahres 2001 zu seinen Gunsten gegen die Taliban erhoben hatten, in deren Lager.

Entgegen westlichen Erwartungen, die von rhetorischen Bekenntnissen Karzais zu einer besseren Korruptionsbekämpfung und Regierungsführung in seinen Reden zur erneuten Amtseinführung 2009 sowie während der Londoner Afghanistan-Konferenz im Januar 2010 geweckt worden waren, sind nicht erfüllt worden. Ins neue Kabinett wurden Minister berufen, die für Ämterverkauf und Verbindungen zu -Syndikaten bekannt sind. Karzai hat sich bisher geweigert, eine tatsächliche Unabhängigkeit der nationalen Wahlkommission herzustellen (er ernennt alle Mitglieder), obwohl sie im vergangenen Jahr Wahlfälschungen gedeckt und die Stimmenauszählung manipuliert hat. Zudem erließ Karzai ein Gesetz, das die afghanische Wahlbeschwerdekommission (Electoral Complaints Commission, ECC) "afghanisiert" - diese Institution mit ihren in der Mehrheit von den UN nominierten Ausländern war die einzige, die eine Aufarbeitung der Wahlfälschungen betrieben hatte. Schließlich hat Karzai jüngst ein im Jahr 2007 vom Parlament - mit seiner Warlord-Mehrheit - beschlossenes Gesetz in Kraft gesetzt, das alle ehemaligen Bürgerkriegsparteien pauschal vor einer Verfolgung wegen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen die Menschenrechte schützt.

Diese Entwicklungen führten zu einer Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung vom demokratischen Prozess. Doch die Afghanen lehnen nicht - wie häufig behauptet - Demokratie als solches ab, sondern eine von außen gelenkte, "oktroyierte"[11] Schein-Demokratie, in der - ähnlich wie im Iran - Wählerstimmen kaum zählen. Natürlich ist unzweifelhaft, dass Afghanistan erst ganz am Anfang eines Demokratisierungsprozesses steht, der sich zudem an autochthonen Normen und Interessen orientieren muss. Aber nach 30 Kriegs- und Bürgerkriegsjahren ist Afghanistans Gesellschaft nicht mehr monolithisch konservativ. Modernisierung und Globalisierung, die auch in Afghanistan mit Individualisierung und der Herausbildung politischer Ansprüche einher gehen, sind vor allem nicht an jener Hälfte der Bevölkerung spurlos vorbei gegangen, die jünger ist als 18 Jahre. Umso wichtiger ist es, dass demokratische Institutionen und Aktivisten nicht von Anfang an eingeschränkt, sondern gefördert werden.

Trotz aller Hindernisse und gerade weil das System Karzai selbst zu einem Hindernis für eine positive Entwicklung geworden ist, kann sich der Westen bei entsprechendem politischem Willen stärker für effiziente, nicht korrupte Regierungsstrukturen einsetzen. Gleichzeitig muss es gelingen, den Eindruck zu vermeiden, dass ein Besatzungsregime alle wichtigen Entscheidungen selbst trifft. Die westlichen Regierungen sollten deshalb nicht wie bisher eigene Favoriten protegieren, sondern für transparente Spielregeln sowie Rahmenbedingungen sorgen, unter denen Afghanen aus allen politischen und sozialen Segmenten ihre Meinung einbringen können, ohne sich Repressalien einer herrschenden Kaste auszusetzen, die sich als alleinige Sachwalter "des Islam" geriert.

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Tendenz einer konfliktfördernden Militarisierung

Was wie eine beinahe unmögliche Gradwanderung erscheint, ist möglich und auch legitim: Nicht zuletzt, weil eine Mehrheit der Afghanen die Korruptheit, Ineffizienz und Ausgrenzung durch die einheimischen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen satt hat. Um mit dem indischen Nobelpreisträger Amartya Sen zu sprechen: Die Frage ist nicht, ob Afghanistan "fit für die Demokratie ist", sondern dass es erst "fit durch Demokratie" wird.[12]

Das oft gehörte Argument, die USA und der Westen insgesamt hätten wenig Einflussmöglichkeiten, klingt da eher wie ein Vorwand in einer Situation, in der viele Regierungen - unausgesprochen - den Afghanistan-Einsatz schon als gescheitert betrachten, nur noch nach dem Exit-Schild spähen und einen Weg suchen, ihre Truppen abzuziehen - möglichst ohne viel Ansehensverlust.

Die Tendenz einer konfliktfördernden Militarisierung wird sich noch verstärken, wenn die für Juni angekündigte Phase 2 der (Gemeinsam) im dichtbesiedelten Zentrum der Provinz Kandahar beginnt. Die zweitgrößte Metropole Afghanistans ist strategisch viel wichtiger als der ländliche Opiumanbaudistrikt von Marja, in dem im Februar und März dieses Jahres ein Probelauf für Kandahar stattfand. Es muss erwartet werden, dass die Intensität der Kämpfe in Kandahar - das von Taliban-kontrollierten Gebieten umgeben ist; die Regierung hat Zugang nur zu fünf der 17 Distrikte der Provinz - viel stärker ausfallen und für weiteren politischen Schaden sorgen wird.

Insgesamt entpuppt sich der Strategie"wechsel" der USA unter Obama als Strategieanpassung. Im Mantel neuer Rhetorik (political messaging) wird alter Wein in neuen Schläuchen vermarktet, oder zumindest als richtig erkanntes zu spät umgesetzt. Fraglich ist, ob die von Ende des Jahres 2001 an in zahlreichen Irrwegen verlorene Zeit wieder aufgeholt und Fehler vor allem im Aufbau der afghanischen Institutionen rechtzeitig korrigiert werden können - und das gegen den passiven Widerstand wichtiger Elemente der Karzai-Regierung.

Eines ist jedoch klar: Afghanistans Gordischer Problemknoten kann nicht einfach mit dem Schwert durchgehauen werden. Es wird auf alle Fälle längere Zeit benötigen, bis sich eine hinreichend große Anzahl von Afghanen davon überzeugen lässt, dass sich die Herangehensweise der westlichen Truppen und ihrer zivilen Begleiter wirklich grundsätzlich geändert hat. Bis zu den Kongresszwischenwahlen in den USA im Herbst 2010 steht dafür zu wenig Zeit zur Verfügung.

[11] Vgl. Darsi bara-ye hukmranan-e Afghan (Eine Lektion für die afghanischen Herrscher), in: Hasht- e Sobh (Kabul) vom 1.12.2008.

[12] Vgl. Amartya Sen, Democracy as a Universal Value, in: Journal of Democracy, 10 (1999) 3, S. 4.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 21-22/2010)

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"Ein Rechtsstaat besteht neben Gesetzen auch aus einer gewachsenen Rechtskultur" Interview mit dem Rechtsexperten Philipp Jahn, Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)

10.12.2010

Islamisches Recht, traditionelles Gewohnheitsrecht oder modernes Staatsrecht: Die islamische Republik Afghanistan ist durch ihren Rechtspluralismus geprägt. Seit 2003 unterstützt die GTZ die afghanische Regierung beim Aufbau des Justizsektors in den Nordprovinzen. Ein Interview mit dem Rechtsexperten Philipp Jahn (GTZ) über Aufgaben, Probleme und Chancen bei der Etablierung eines Rechtssystems.

Herr Jahn, Sie sind für die GTZ in Faisabad, um vor Ort den Aufbau des Rechtsstaates zu unterstützen. Was genau sind Ihre Aufgaben?

Philipp Jahn: Die GTZ unterstützt im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ) die afghanische Regierung beim Aufbau des Justizsektors in den Nordprovinzen. Meine Kollegen und ich arbeiten mit lokalen Justizbehörden, Anwälten, Richtern und Polizisten zusammen. Wir organisieren Fortbildungen, haben eine kostenlose Rechtshilfe aufgebaut, kaufen Computerhardware, organisieren Radiosendungen zur Rechtsverbreitung und versuchen ganz allgemein, das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz zu stärken. Dabei hilft, dass wir in den Städten leben und uns frei bewegen können.

Afghanistan war über zwei Jahrzehnte ein Ort des dauerhaften Konfliktes. Gab es nach dem Sturz der Taliban 2001 Strukturen, auf denen Sie aufbauen konnten?

Philipp Jahn: Kaum – vieles war zerstört. Nach dem Krieg wurde der Wiederaufbau staatlicher Strukturen allein schon dadurch erschwert, dass viele Rechts- und Gesetzestexte verloren gegangen waren, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Bibliotheken der Hochschulen waren nicht mehr existent und die wissenschaftliche Elite ins Ausland geflohen. Darüber hinaus fand eine allgemeine Verschiebung zum Recht des Stärkeren statt. Ursprünglich existierte in Afghanistan ein auf Konsens orientiertes Rechtssystem, das auf Versammlungen der Zivilgesellschaft – Schuras und Dschirgas – basierte. Schuras und Dschirgas sind innerhalb einer Gemeinschaft für die Streitbeilegung oder Aufgaben von kollektiver Bedeutung zuständig. Sie können auch mehrere Gemeinschaften vertreten oder auf Bezirksebene mit Regierungsbehörden zusammenarbeiten. Während der letzten Jahre wurden diese Versammlungen immer stärker Herrschaftsinstrumente der bewaffneten Kriegsparteien. Dennoch gab und gibt es Strukturen und rechtliche Institutionen, auf denen wir aufbauen. Wir arbeiten zum Beispiel mit den Hooqoq zusammen: Das sind Streitschlichtungskörper der Exekutive, die von den Sowjets eingeführt wurden. Letzten Monat war ich etwa bei einer Fortbildung, die für 25 Gemeindeälteste durch den örtlichen Hooqoq-Vertreter mit GTZ-Hilfe durchgeführt wurde. Dies schafft Vertrauen in den Staat und fördert die Rechtskenntnisse der Bevölkerung.

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Was macht die GTZ?

Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen in Bundesbesitz. Hauptauftraggeber der GTZ ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Kernkompetenz der GTZ ist Capacity Development. "Capacity" ist die Fähigkeit von Menschen, Organisationen und Gesellschaften, Entwicklung nachhaltig zu gestalten: Probleme zu erkennen, Lösungsstrategien zu entwickeln und diese erfolgreich umzusetzen. Die GTZ ist in 128 Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas, in den Regionen Mittelmeer und Mittlerer Osten sowie Europa, Kaukasus und Zentralasien tätig. In 88 Ländern ist sie mit eigenen Büros vertreten. Weltweit beschäftigt das Unternehmen etwa 15.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon sind mehr als 11.000 einheimische Beschäftigte in den Partnerländern tätig.

In welchem Ausmaß lassen sich die westlichen Vorstellungen und demokratischen Werte auf das afghanische System übertragen?

Philipp Jahn: Sicherlich schwer, aber dass probieren wir auch nur bedingt. Maßgeblich ist für uns die Verfassung mit ihrer Scharia-Ausrichtung. Dabei gilt, dass Gesetze sowohl mit der Scharia als auch den Menschenrechten konform sein müssen. Generell ist Afghanistan von einem Rechtspluralismus geprägt, der sich aus der Geschichte und der geographischen Situation ergibt. Es gibt zum Beispiel ein Bürgerliches Gesetzbuch nach europäischem Vorbild. In seinem zweiten Paragraph für ungeklärte Rechtsfragen schreibt es allerdings Elemente der Scharia vor. Neben Scharia und Verfassung spielen ferner Stammesrechte eine wichtige Rolle. Dadurch existieren parallele Konfliktlösungsmechanismen. Es kommt mitunter vor, dass die beteiligten Parteien von Fall zu Fall entscheiden, ob islamisches, traditionelles Gewohnheitsrecht oder modernes Staatsrecht zur Anwendung kommt.

Inwieweit werden traditionelle Strukturen berücksichtigt?

Philipp Jahn: Wir berücksichtigen traditionelle Strukturen wie die bereits erwähnten Dschirga- und Schura-Versammlungen. Dschirgas sind eher provisorische Veranstaltungen während Schuras institutionalisiert sind und etwa mit einem Stadtparlament vergleichbar sind. Beide setzen sich meist aus Gemeindemitgliedern zusammen, denen wir auch rechtliche Fortbildung anbieten – obwohl sie nicht Teil der staatlichen Struktur sind. Denn ein Rechtsstaat besteht neben Gesetzen eben auch aus einer gewachsenen Rechtskultur.

Allerdings ist das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Strukturen nicht besonders ausgeprägt. Der informelle Sektor ist nach wie vor sehr groß. Dabei bedrohen nicht nur Schuras und Dschirgas, sondern auch Familien, "starke Männer" und sicherlich auch die Taliban in manchen Gegenden des Nordens den staatlichen Machtanspruch.

Welche Rechtsstrukturen haben sich inzwischen erfolgreich etabliert und werden von den Menschen angenommen und weitergegeben?

Philipp Jahn: In Faisabad haben wir zum Beispiel erfolgreich mehrere kostenlose Rechtsberatungen etabliert. NGO-Anwälte wie auch staatliche Anwälte beraten Frauen und Männer in Straf- als auch Familienangelegenheiten und vertreten diese vor Gericht. Gerade das Familien- und Erbrecht sind Rechtsgebiete, die stark durch das islamische Recht – die Scharia – geprägt sind. Die neue Verfassung schreibt zwar die Gleichberechtigung von Mann und Frau fest. Allerdings heißt es in der Verfassung auch, dass kein Gesetz dem Islam widersprechen darf. In der Realität führt dies zu einer Konkurrenz zwischen der modernen staatlichen Rechtsordnung und der Scharia. Das zeigt sich insbesondere beim Thema Frauenrechten. Ich spreche hier von Zwangsehen oder der Anklage von Vergewaltigungsopfern wegen Unzucht – dabei bekommt man mitunter den Eindruck, die Opfer landeten häufiger im Gefängnis als die Täter.

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Mit welchen Problemen und Herausforderungen werden Sie täglich konfrontiert?

Philipp Jahn: Ein Problem ist sicherlich die Sicherheitslage. Vertrauen in den Staat kann schließlich nur entstehen, wenn dieser seine Bürger beschützen kann. Wir sind aber auch viel damit beschäftigt, alltägliche Probleme zu lösen: Mal muss eine Angestellte ins Krankenhaus der Bundeswehr gebracht werden oder die Wasserleitung im Büro oder zu Hause ist kaputt. Mein Internet bekomme ich per Satellit, den Strom liefert ein Generator – allein das birgt genug Gefahren- und Beschäftigungspotential.

Wie empfindet die afghanische Bevölkerung das Engagement der internationalen Gemeinschaft. Wird Ihnen eher Offenheit oder Ablehnung entgegengebracht? Und: Wo liegen die Grenzen des Machbaren?

Philipp Jahn: Die GTZ in Faisabad erhält viel Zustimmung. Die Leute sind dankbar für unser Engagement und auch ausgesprochen freundlich. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, werde ich überall freundlich gegrüßt. In anderen Landesteilen mag dies anders sein, dies kann ich allerdings nicht beurteilen. Für unser Projekt gibt es bestimmt wenig inhaltliche Grenzen, aber zeitlich muss man realistisch sein. Ein Rechtsstaat entsteht eben nicht von heute auf morgen. Die Afghanen sind sehr regelorientiert mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit. Wenn man ihnen in der Vielfalt des islamischen Rechts eine liberale Perspektive bietet, werden sie diese höchstwahrscheinlich ergreifen. Ich merke dies ja täglich bei meiner Arbeit. Ich denke daher, dass wir auf einem guten Weg sind. Aber es entscheiden eben auch Faktoren wie die Sicherheitslage über unseren Erfolg.

Das Interview führte Alexandra Lau.

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Fragil und umkämpft - Frauenrechte im neuen Afghanistan

Von Renate Kreile 25.5.2010 Professorin für Politikwissenschaft und ihre Didaktik am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Frauenrechte sind heute im Kontext widerstreitender Rechtssysteme gesellschaftlich und machtpolitisch umkämpft. Für die meisten Frauen stehen sie nur auf dem Papier. Sie sind existenziell auf die patriarchalen Gemeinschaften angewiesen.

Im April 2009 unterzeichnete der afghanische Präsident Hamid Karsai ein neues Familiengesetz für die schiitische Minderheit (etwa 15-20 Prozent der Bevölkerung), das die in der Verfassung garantierten Frauenrechte mit einem Federstrich den Wünschen extrem konservativer Islamisten zu opfern drohte. Frauen sollten demnach das Haus nur in dringenden Ausnahmefällen ohne Erlaubnis des Ehemannes verlassen dürfen. Ihr Zugang zum öffentlichen Raum, zu Bildung und Beruf wurde ins Belieben ihrer Männer gestellt. Außerdem wurden die schiitischen Frauen verpflichtet, mindestens alle vier Tage ihren Ehemännern sexuell zur Verfügung zu stehen. Nach vehementen Protesten westlicher Regierungen und afghanischer Frauenrechtlerinnen trat im Juli 2009 eine leicht abgemilderte Version in Kraft. Danach kann beispielsweise der Ehemann seiner Frau den Unterhalt verweigern, wenn sie ihre "ehelichen Pflichten" nicht erfüllt und sich seinen sexuellen Bedürfnissen verweigert.[1]

Seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Herbst 2001 nehmen Verpflichtungen und Zusagen, Frauenrechte zu gewährleisten, fortdauernd einen prominenten Platz auf der internationalen Agenda für ein neues Afghanistan ein. Die Regierung Karsais ratifizierte bereits im Jahr 2003 ohne Vorbehalt die UN-Konvention zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung gegen Frauen.[2] In der Verfassung von 2004 wurden die Frauen rechtlich gleichgestellt.[3]

Allerdings wurden die Gleichberechtigungszusagen potenziell dadurch in Frage gestellt, dass in der Islamischen Republik Afghanistan laut Artikel 3 der Verfassung kein Gesetz "im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam" stehen darf.[4] Prinzipiell steht damit die Tür zu höchst unterschiedlichen rechtlichen Interpretationen offen. Tatsächlich aber verfügt laut Artikel 121 der Verfassung der Oberste Gerichtshofs über die Macht, "Verfassung, Gesetze und Gesetzesdekrete" zu interpretieren. Die Deutungshoheit im Falle von Konflikten obliegt somit einer Instanz, die größtenteils aus islamistischen Hardlinern besteht und der keine Frau angehört.[5] Neuere Ernennungen von qualifizierten Richtern lassen auf gewisse Fortschritte innerhalb der Justiz hoffen.[6]

Vor dem Hintergrund des erklärten internationalen Engagements für Frauenrechte und der widersprüchlichen formalen Rechtslage sollen im Folgenden die komplexen frauenrechtlichen Entwicklungsdynamiken knapp ein Jahrzehnt nach dem Sturz der Taliban im Kontext soziopolitischer Transformationsprozesse erhellt werden.

Umkämpfte Frauen - ein Blick in die Geschichte

Rechtssysteme sind verwoben mit spezifischen historischen Entwicklungen und sozialen Dynamiken. Sie sind Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und machtpolitischer Auseinandersetzungen.

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In Afghanistan wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die rechtliche Stellung der Frauen immer wieder zum Kristallisationspunkt und Schauplatz der Machtkämpfe zwischen staatlicher Zentralmacht auf der einen und einer segmentären Gesellschaft auf der anderen Seite, die sich ihre relative Autonomie erhalten wollte. Der politische Arm der Zentralmacht reichte nie allzu weit. Außerhalb Kabuls und einiger städtischer Verwaltungszentren existierte fortdauernd ein eigenes gesellschaftliches Milieu, das allerdings etwa 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung umfasste. "Kabul repräsentierte den 'Staat' - das ländliche Afghanistan die 'Gesellschaft'."[7]

Zwar hatten die Frauen in der traditionalen Gesellschaft eine deutlich untergeordnete Rechtsposition und waren vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Gleichwohl erfreuten sie sich in den Binnenbeziehungen von Familie, Clan, Stamm oder Dorf beachtlicher Entscheidungsbefugnisse. Als Repräsentantinnen der Ehre der Männer und Symbol für die Identität, Integrität und Kontinuität der Gemeinschaften genossen sie, sofern sie die Regeln der Geschlechtertrennung befolgten und sich rollenkonform verhielten, insbesondere als Mütter hohe Wertschätzung. Bis in die jüngste Zeit stellen das System der Geschlechtertrennung, purdah, und der weitgehende Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Raum allerdings ein zentrales Strukturprinzip der afghanischen Gesellschaft dar.

Grundlegende Reformen zur rechtlichen Besserstellung der Frauen leitete erstmalig König Amanullah im Jahr 1919 in die Wege. Er war beeinflusst von reformislamischen Ideen wie von den Entwicklungen in der Türkei und Iran. Das im Jahr 1921 erlassene Ehe- und Heiratsgesetz sprach den Frauen rechtliche Gleichheit zu. Frau und Mann sollten der Eheschließung zustimmen. Konkret bedeutete dieses Gesetz, die Eheschließung aus ihrem hergebrachten funktionalen Bedeutungskontext zu lösen, in dem die Heirat eine Allianz zwischen Familienverbänden konstituierte. Ein komplexer sozialer Prozess, der für den Zusammenhalt der primären Solidargemeinschaften zentral war, wurde gleichsam zur Privatsache, zur Angelegenheit zweier Individuen, der Braut und des Bräutigams, erklärt. Der Versuch, eine Ehe zu propagieren, die individuelle Interessen gegenüber den Belangen der Gemeinschaften favorisiert, war jedoch in einer Gesellschaft, in der vor allem die Zugehörigkeit zum Kollektiv Schutz und Existenzsicherung ermöglichte, zum Scheitern verurteilt.

Gleichzeitig machte der modernisierende Staat mit seinen familienrechtlichen Reformen den familiären, tribalen und religiösen Patriarchen die Kontrolle über "ihre" Frauen streitig und stellte mit seiner Individualisierungsstrategie den strukturellen Zusammenhalt und die Autonomie der Gemeinschaften in Frage. Dementsprechend stießen die Reformen ebenso wie die Bestrebungen Amanullahs, landesweit Schulen für Mädchen zu etablieren und die burka abzuschaffen, weithin auf entschlossene Ablehnung. Im Jahr 1929 wurde Amanullah gestürzt; im Namen der "Heiligkeit des Islam" wurden die Pflicht der Frauen zur Verschleierung aufs Neue bekräftigt und die Mädchenschulen geschlossen.

Auch ein zweiter ähnlicher Versuch in den 1980er Jahren, die Macht des Zentralstaats und mehr Rechte für die Frauen landesweit durchzusetzen, diesmal unter dem Vorzeichen der sowjetkommunistischen Ideologie, hatte nur sehr begrenzten Erfolg. Nutznießerinnen staatlicher Modernisierungs- und Individualisierungsstrategien konnten nur kleine Minderheiten von städtischen Frauen werden, die durch Bildung und Beruf nicht existenziell auf Schutz und Unterstützung durch den Familienverband angewiesen waren.

Nach dem Jahr 1996 unternahmen die Taliban einen dritten Versuch, die staatliche Kontrolle über die vielgestaltige Gesellschaft Afghanistans zu erringen. Dieser neue Anlauf zur Staatsbildung und Zentralisierung erfolgte nicht wie zuvor unter modernisierungsideologischen Vorzeichen, sondern verknüpfte islamistische und tribale paschtunische Ideologieelemente. Eine extrem patriarchale Geschlechterpolitik wurde zum vereinheitlichenden Schlüsselelement der Herrschaftskonzeption der neuen Machthaber. [8]

[1] Vgl. Ann Jones, Remember the Women?, in: The Nation vom 9.11.2009. [2] Vgl. International Crisis Group, Afghanistan: Women and Reconstruction, März 2003, S. 18.

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[3] Vgl. Gerlinde Gerber, Die neue Verfassung Afghanistans, Berlin 2007, S. 124. [4] Vgl. ebd., S. 99f. [5] Vgl. ebd., S. 109. [6] Vgl. United Nations Development Programme, Afghanistan Human Development Report (AHDR) 2007, Kabul-Islamabad 2007, S. 8. [7] Jan-Heeren Grevemeyer, Afghanistan. Sozialer Wandel und Staat im 20. Jahrhundert, Berlin 1987, S. 58. [8] Vgl. Renate Kreile, Zan, zar, zamin - Frauen, Gold und Land: Geschlechterpolitik und Staatsbildung in Afghanistan, in: Leviathan, (1997) 3, S. 399ff.

Plurale Rechtssysteme und die Fragilität von Frauenrechten

Unter den Bedingungen einer global "verwobenen Moderne"[9] und den Vorzeichen von global governance treffen heute Rechtsauffassungen unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft oftmals sehr unsanft aufeinander. Die externen Versuche, moderne "westliche"[10] Konzepte durchzusetzen, die normativ von der Autonomie und Würde des Individuums ausgehen, verweisen dabei nicht zuletzt auf eine asymmetrische ökonomische und politische Machtverteilung im internationalen System.[11]

In der heutigen afghanischen Gesellschaft koexistieren, konfligieren und überlagern sich höchst unterschiedliche Rechtssysteme. Neben die modernen Normen im westlichen Sinne wie sie in der Verfassung aus dem Jahr 2004 festgeschrieben sind, treten lokale Rechtstraditionen, wie etwa das Paschtunwali, das Stammesrecht der Paschtunen, sowie das islamische Recht, das weithin im Lichte patriarchaler lokaler Traditionen oder gemäß konservativer islamischer Denkschulen wie dem Deobandi-Islam oder dem wahhabitischen Islam interpretiert wird.[12] Durch die sozialen Verwerfungen der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen und die verbreitete "Kalaschnikow-Kultur" kommen anomische Entwicklungen hinzu, in denen nur noch das Recht des Stärkeren gewaltsam durchgesetzt wird.

Die pluralen rechtlichen Diskurse spiegeln unterschiedliche Logiken soziopolitischer Ordnungen wider. Sie sind mit je unterschiedlichen Kräfteverhältnissen und Interaktionen zwischen dem Staat einerseits und den gesellschaftlichen Solidareinheiten andererseits sowie daraus resultierenden uneinheitlichen Konzeptionen von individuellen Rechten und Verpflichtungen gegenüber den Gemeinschaften verwoben. Da der Staat sich weder sicherheits- noch wohlfahrtspolitisch präsent zeigt, sind die meisten Menschen, Frauen wie Männer, wie eh und je auf eine minimale Absicherung durch die familiären und tribalen Gemeinschaften angewiesen. Die gewohnheitsrechtlichen Vorstellungen (customary law) spiegeln den Vorrang der Gemeinschaft gegenüber den Belangen der Individuen wider. Die Gemeinschaften gewährleisten Solidarität und Schutz, fordern aber Anpassung.

Knapp ein Jahrzehnt nach dem Ende der Taliban-Herrschaft stellt sich die Situation der afghanischen Frauen uneinheitlich und widersprüchlich dar. Zu bedenken sind die Heterogenität ihrer Lebensverhältnisse und Erfahrungen, die je nach regionaler, sozialer, kultureller und ethnischer Zugehörigkeit variieren. Diverse neuere Studien zeichnen mit Blick auf die faktische Umsetzung von Frauenrechten ein deprimierend-dunkles Bild.[13] Zahllose Frauen und Mädchen erleben demnach systematische Diskriminierung und Gewalt innerhalb und außerhalb ihrer Familien und Gemeinschaften. Erzwungene Eheschließungen und die Verheiratung minderjähriger Mädchen sind an der Tagesordnung.[14] Neben Vergewaltigungen haben Entführungen und Zwangsprostitution von Frauen und Mädchen seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 dramatisch zugenommen. Viele Frauen, die den vorherrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen und den Idealen tugendhafter Weiblichkeit zuwider handeln, werden bedroht, landen im Gefängnis oder fallen sogenannten "Ehrenmorden" durch männliche Angehörige zum Opfer. Die wenigsten der gefährdeten Frauen finden rechtlichen Beistand und staatlichen Schutz, zumal die juristischen und polizeilichen Organe, die ihre Rechte gewährleisten sollten, ihrerseits weithin die höchst konservativen Moral- und Genderdiskurse teilen, die in der afghanischen Gesellschaft vorherrschen.[15]

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Insbesondere in den großen Städten arbeiten mittlerweile zwar etliche Frauen als Ärztinnen, Lehrerinnen, Professorinnen, Polizistinnen, Rechtsanwältinnen, Richterinnen oder Journalistinnen, und einige Frauen engagieren sich politisch. Zunehmend sind öffentlich exponierte Frauen jedoch Bedrohungen von Leib und Leben ausgesetzt. Ermordet wurden in den Jahren 2008 und 2009 neben zahlreichen anderen beispielsweise die ranghöchste Polizistin des Landes Malalai Kakar und die Frauenrechtsaktivistin und Politikerin Sitara Achakzai.[16] Durch die katastrophale Sicherheitslage, insbesondere außerhalb der Hauptstadt Kabul, wird die Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben neuerlich enorm eingeschränkt. Die große Mehrheit von Frauen leidet - neben dem Fehlen von Sicherheit - vor allem unter dem Mangel an grundlegenden sozialen Rechten wie dem Zugang zu ausreichender Nahrung, sauberem Wasser, angemessenem Wohnraum und medizinischer Versorgung.[17] Durch die Fortdauer von Krieg und Bombardierungen wurden viele Frauen einmal mehr zu Flüchtlingen gemacht und ihres Heims oder gar Lebens beraubt.[18]

In der neuen Islamischen Republik Afghanistan lässt sich eine Fortdauer der strukturellen Widersprüche der Vergangenheit in modifizierter Form beobachten. Auf der einen Seite steht eine schwache, extrem außenabhängige Staatsmacht, die sich auf internationales Militär und externe Hilfsgelder stützen muss und deren Durchsetzungspotenziale kaum weiter reichen als bis zur Stadtgrenze Kabuls. Von einem staatlichen Gewaltmonopol, das die den Frauen in der Verfassung garantierten Rechte durchsetzen könnte, kann nicht einmal entfernt die Rede sein. In den Provinzen liegt die Macht in den Händen alter Stammes- und Clanführer sowie alter und neuer Warlords,[19] die oftmals auch von der westlichen Koalition finanziell und militärisch gestärkt werden, um sie als Verbündete im Kampf gegen die Taliban und al-Qaida nutzen zu können. Die in den großen Städten einst ansatzweise vorhandene Zivilgesellschaft ist durch den jahrzehntelangen Krieg gleichsam pulverisiert worden und erholt sich nur langsam. Angehörige der modernen Mittelschichten wetteifern heute um Anstellungen bei den zahllosen internationalen Nichtregierungsorganisationen, deren Anwesenheit nicht nur überlebensnotwendige Hilfe bringt, sondern auch enorme strukturelle Verzerrungen auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt.[20]

Nicht wenige Frauen in Afghanistan äußern Unverständnis und Kritik gegenüber dem Verständnis von Frauenrechten, wie es durch UN-Organisationen und ausländische Hilfsorganisationen vertreten wird. Sie sehen ihre Kultur, in der die Beziehungen zu Familie und Gemeinschaft zentral sind, durch die westliche Kultur des Individualismus bedroht. Najia aus Dschalalabad erklärt: "Es gibt so viele internationale Organisationen, viele versuchen ihr Bestes, aber sie sind meilenweit davon entfernt, unsere Situation und unsere Kultur zu verstehen. Sie reden andauernd über Frauenrechte und Demokratie. Die Menschen sind hungrig und krank. Ich arbeite mit gewöhnlichen Frauen und Männern und versuche ihnen zu erklären, dass der Islam den Frauen Rechte gegeben hat. Das ist der einzige Weg für Frauenrechte in Afghanistan zu kämpfen, Frauen und Männern die positive Seite des Islam und der islamischen Kultur zu zeigen, nicht von außen und nicht indem die Kultur und die Religion der Menschen beleidigt wird."[21]

Die geschlechterpolitischen Gegensätze der Vergangenheit treffen heute innerhalb des Staatsapparates selbst aufeinander. Die Regierung Karsai muss nämlich den Drahtseilakt vollführen, einerseits vor der internationalen Gemeinschaft ein einigermaßen "frauenfreundliches", gender- bewusstes Bild abzugeben; andererseits müssen die Anti-Taliban-Kräfte der islamistischen Mudschahidin-Fraktionen eingebunden werden, deren Ansichten zu Frauenrechten sich grundsätzlich nicht von denen der Taliban unterscheiden.

Die in der Verfassung garantierten Gleichheitsrechte sind im Hinblick auf die Handlungsspielräume von Frauen zwar durchaus nicht ohne jegliche Bedeutung, insbesondere für diejenigen städtischen Frauen, die über die notwendigen materiellen und sozialen Ressourcen verfügen, um für ihre Rechte kämpfen zu können. Für die meisten afghanischen Frauen wie auch für die Männer bleiben jedoch die hergebrachten Institutionen der lokalen Gemeinschaften das Forum, um Streitigkeiten zu regeln. Selbst dort, wo staatliche Gerichte vorhanden und theoretisch zugänglich sind, werden Frauen

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 81 aufgrund finanzieller Zwänge, begrenzter Mobilität, Unkenntnis legaler Abläufe und einschlägiger sozialer Imperative eher über bewährte informelle Mechanismen Gerechtigkeit zu erlangen suchen. Hier verfügen sie über enormes Know-how und wissen, wie man wichtige Männer wie den Dorfvorsteher, den Mullah oder den Taliban-Kommandeur beeinflusst.

[9] Shalini Randeria, Verwobene Moderne: Zivilgesellschaft, Kastenbindungen und nicht-staatliches Familienrecht im (post)kolonialen Indien, in: Shalini Randeria/Martin Fuchs/Antje Linkenbach (Hrsg.), Konfigurationen der Moderne, Baden-Baden 2004, S. 155. [10] Die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Frauenrechte soll keineswegs bestritten werden. Jedoch können formale Rechte nur wahrgenommen werden, wenn entsprechende soziale Voraussetzungen gegeben sind. [11] Vgl. Renate Kreile, Dame, Bube, König ... - Das neue große Spiel um Afghanistan und der Gender- Faktor, in: Leviathan, (2002) 1, S. 40. [12] Vgl. dies. (Anm. 8), S. 413ff. [13] Vgl. Watch (HRW), "We have the Promises of the World". Women's Rights in Afghanistan, Dezember 2009; United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), Silence is Violence, Kabul 2009. [14] Vgl. AHDR (Anm. 6), S. 58. [15] Vgl. HRW (Anm. 13), S. 2ff. [16] Vgl. ebd., S. 14ff. [17] Vgl. Elaheh Rostami-Povey, Afghan Women, London-New York 2007, S. 41ff. [18] Vgl. Saba Gul Khattak, Afghan Women. Bombed to be Liberated?, in: Middle East Report, 1 (2002) 222, S. 22. [19] Vgl. Conrad Schetter, Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan, in: APuZ, (2007) 39, S. 4ff. [20] Vgl. Ann Jones, Kabul in Winter, New York 2006, S. 33f. [21] Zit. nach E. Rostami-Povey (Anm. 17), S. 51.

Gesellschaftliche Umbrüche und Gewalt gegen Frauen

Die Erfahrungen von Krieg und Exil haben die afghanische Gesellschaft tiefgreifend verändert. Durch die Entwurzelung und regionale Vermischung von breiten Teilen der Bevölkerung wie durch den Aufstieg neuer politischer Eliten wurde die soziopolitische Struktur des Landes verändert. Bis dahin hochgradig segmentierte Bevölkerungsgruppen begannen sich auf neue Identitäten und Loyalitäten hin umzuorientieren, die über die Einbindung in die lokalen Solidareinheiten hinausgingen.

Die Auswirkungen der Transformationsprozesse auf die Rechte der Frauen sind uneinheitlich, widersprüchlich und komplex. Im Exil oder als Binnenflüchtlinge erlebten viele Männer und Frauen ein urbanes Umfeld und humanitäre Hilfsleistungen, inklusive Zugang zu Bildung und Gesundheit, die neue Erwartungen hervorriefen und oftmals auch die Geschlechterbeziehungen dynamisierten. Die Begegnungen mit Frauenorganisationen in Iran und Pakistan eröffneten zahlreichen Frauen den Zugang zu Diskursen, die mehr Rechte für Frauen innerhalb eines islamischen Bezugsrahmens vorsehen.[22] Im Zuge einer rasanten Urbanisierung[23] kommen viele Männer und Frauen mit alternativen Rollenmodellen in Berührung, vermittelt etwa über die Medien, über Familien, die aus dem Exil zurückgekehrt sind, oder über ihre Kontakte mit internationalen Organisationen. Internet und Privatsender eröffnen insbesondere jungen Menschen den Zugang zu neuen Ideen und Informationen.

Individualisierungsprozesse gehen einher mit der Sehnsucht nach veränderten Geschlechterbeziehungen: "Die Moraldebatten entzünden sich nicht mehr an freizügigen Westlerinnen, sondern an indischen Filmen, welche die romantische Liebe feiern. Die jungen Leute wollen auch heiraten, wen sie lieben. Sie orientieren sich nicht an Hollywood, sondern an Bollywood. Diese Modernität ist ihnen näher als die des Westens."[24] Die verbreitete Begeisterung für Bollywood lässt sich faktisch und metaphorisch als Orientierung an einer alternativen nicht-westlichen Moderne lesen.

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Im ländlichen Bereich kam es durch die Jahrzehnte des Krieges zu dramatischen Umwälzungen und Verwerfungen. Die vorwiegend agrarische subsistenzorientierte Ökonomie wurde weithin zerstört. Es entstand eine Kriegs- und Opiumökonomie, die mit einer rapiden Monetarisierung einherging und die sozialen Beziehungen, einschließlich der Familienverbände und tribalen Gemeinschaften, nicht unberührt ließ. Die alten ländlichen politischen Eliten wurden teilweise geschwächt, die Geistlichkeit gestärkt. Mit Islamisten, lokalen Kommandeuren und den Drahtziehern von Schmugglerringen positionierten sich neue mächtige Akteure.[25] Nicht zuletzt kam es durch Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen zu Machtverschiebungen innerhalb der Familienverbände und Stammesstrukturen.

Viele junge Männer, die keine Arbeit im zivilen Bereich finden, machen in marodierenden Milizen das Land unsicher. Sie halten sich weder an staatliche Gesetze noch an überlieferte Rechtsnormen, denn staatliche Instanzen sind weit entfernt und die hergebrachten lokalen Autoritätsstrukturen teilweise erodiert. Wer über eine Kalaschnikow verfügt, kann sich aneignen, wonach ihm der Sinn steht - nicht selten auch junge Frauen, wie die hohe Zahl von Entführungen und Vergewaltigungen deutlich macht.

Oftmals verfestigen die sozialen Verwerfungen die patriarchalen Strukturen in den Geschlechterverhältnissen. Sozialpsychologisch lässt sich eine verstärkte Reglementierung der Frauen wesentlich durch die Verunsicherung vieler Männer erklären, die geographisch und sozial aus ihren bisherigen Zusammenhängen gerissen wurden. Ihren existenziellen Kontrollverlust versuchen sie mittels einer verschärften Machtausübung und Kontrolle über die Frauen zu kompensieren. Allerdings halten auch viele Frauen an purdah, dem System der Geschlechtertrennung, fest. Für sie repräsentiert purdah den privaten unantastbaren Schutzraum der Familie in einer fremden Welt, einen kulturell vertrauten Kernbereich in einem durch Zerstörung gezeichneten Kontext.[26]

Die fortdauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mögen eine derartige Dynamik strukturell weiter vertiefen. Zahllose Männer haben Besitz und Arbeit verloren und sind heute mehr denn je abhängig von den Rationen der ausländischen Hilfsorganisationen. Zur Bewältigung der normativen und moralischen Krise, die daraus resultiert, dass Männer die tief verwurzelte Männlichkeitsnorm, verantwortlich für den Schutz der Frauen und der häuslichen Sphäre zu sein, oftmals nicht mehr angemessen erfüllen können, werden neben ideologischen nicht selten auch gewaltsame Mittel eingesetzt.[27] Verschärft wird die Entwertung des Selbstwertgefühls zahlloser Afghanen durch die Dauerpräsenz von ausländischen Militärs und Zivilpersonen, die eine offenkundige Missachtung gegenüber tief verwurzelten Werten der afghanischen Kultur an den Tag legen.[28]

Wie in anderen durch Krieg zerrissenen Gesellschaften wachsen die Widersprüche zwischen normativen Konzepten und materiellen Realitäten. Durch das völlige Fehlen von Sicherheit und katastrophale Armut sind die hergebrachten gemeinschaftlichen Bindungen des Vertrauens und der Solidarität weithin erodiert. Eine kriminelle Warenökonomie hat sich entwickelt, in der die Schwachen besonders brutalen Formen der Unterwerfung und Ausbeutung ausgesetzt sind. In der Provinz Badachschan verkauften beispielsweise zahlreiche Drogenhändler weibliche Verwandte, um ihre Schulden zu begleichen. Zahlreiche junge Frauen und Kinder in ländlichen Gebieten werden zu Prostitution und Zwangsarbeit gezwungen.[29]

Perspektiven

Im Zuge der Internationalisierung des Staatsbildungsprozesses seit dem Jahr 2001 wird die "Frauenfrage" einmal mehr in der afghanischen Geschichte zur Arena macht- und identitätspolitischer Auseinandersetzungen. Dabei wird das genderpolitische Konfliktfeld auf komplexe Art und Weise dynamisiert;[30] uneinheitliche und widersprüchliche Tendenzen im Hinblick auf Frauenrechte koexistieren, konfligieren und verknüpfen sich.

Die meisten Frauen leben nach wie vor in bitterer Armut. Für sie bestehen die verfassungsrechtlich garantierten Rechte bislang nur auf dem Papier. Eine Verbesserung ihrer Stellung kann nur unter

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Einbeziehung der Gemeinschaften erfolgen, auf die sie existenziell angewiesen sind.

Doch selbst abgelegene Dörfer sind heute in translokale und transnationale Netzwerke einbezogen und haben medial Zugang zu globalisierten Diskursen. Davon bleiben die Familien- und Geschlechterverhältnisse nicht unberührt. Inwieweit sich perspektivisch westlich-moderne Rechtsnormen und "frauenfreundliche" Deutungen religiösen Rechts mit Traditionen lokalen Gewohnheitsrechts zugunsten von Frauen verknüpfen lassen, mag nicht zuletzt vom Engagement afghanischer Frauen selbst abhängen.

[22] Vgl. ebd., S. 102ff. [23] Kabuls Einwohnerzahl hat sich innerhalb von sieben Jahren von etwa 1,5 Millionen auf etwa 4,5 Millionen Menschen verdreifacht, vgl. International Crisis Group, Afghanistan: What Now for ?, August 2009, S. i und S. 9. [24] Deniz Kandiyoti im Interview mit Heide Oestreich, in: Die Tageszeitung vom 19.6.2009. [25] Vgl. ebd. [26] Vgl. Micheline Centlivres-Demont, Afghan Women in Peace, War, and Exile, in: Myron Weiner/Ali Banuazizi (eds.), The Politics of Social Transformation in Afghanistan, Iran, and Pakistan, New York 1994, S. 358. [27] Vgl. D. Kandiyoti (Anm. 24). [28] Vgl. Conrad Schetter, Was läuft falsch in dem besetzten Land?, in: Wochenzeitung vom 1.6.2006, S. 36f. [29] Vgl. Deniz Kandiyoti, Reconstruction and Women's Rights in Afghanistan, in: ISIM Review, (2007) 20, S. 21. [30] Vgl. Sippi Azerbaijani Moghaddam, Gender in Afghanistan, in: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Afghanistan, Berlin 2006, S. 40f.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte 21-22/2010

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Afghanistan im internationalen Kontext

19.6.2012

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Pakistan, seine Stammesgebiete und der Afghanistan-Krieg

Von Jochen Hippler 25.5.2010 Dr. sc. pol., geb. 1955; Privatdozent am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Universität Duisburg-Essen, Geibelstraße 41, 47057 Duisburg. [email protected]

Die paschtunisch besiedelte Nordwestprovinz Pakistans hat sich zum blutigen Konfliktherd entwicklet. Die dortigen Familien und Stämme stehen seit Jahrhunderten in engem Kontakt mit ihren Verwandten in Afghanistan, jenseits der heutigen Grenze. Einer Grenze, die in der Kolonialzeit von Großbritannien gezogen wurde ("Durand-Linie") und die die paschtunischen Siedlungsgebiete künstlich trennt.

Einleitung

Der Afghanistan-Krieg zieht weiter die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich, so dass das strategisch weit bedeutsamere Pakistan oft vernachlässigt wird. Dabei verfügt das Land über 170 Millionen Einwohner, Atomwaffen, ist selbst instabil und ein Schauplatz politischer Gewalt. Im vergangenen Jahr kamen dort über 12000 Menschen bei politischer oder militärischer Gewalt ums Leben.[1] Trotzdem wird es entweder ignoriert oder unter dem taktischen Gesichtspunkt betrachtet, wie man Pakistan als Helfer im Afghanistan-Krieg instrumentalisieren kann. Erst seit dem Amtsantritt von Barack Obama als US-Präsident beginnt sich dies teilweise zu ändern, wenn auch gelegentlich in einer wenig hilfreichen Form. Tatsächlich ist es wichtig, den Zusammenhang der Gewalt in Afghanistan und in Pakistan realistisch einzuschätzen, wenn man das Gewaltniveau auf beiden Seiten der Grenze senken möchte.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Gewalt auch in Pakistan inzwischen Kriegsniveau erreicht, dass sie aber nicht das ganze Land erfasst, sondern bestimmte regionale Schwerpunkte erkennen lässt. Dazu kommt, dass die Gewaltursachen und Gewaltdynamiken je nach Region höchst unterschiedlich sind. In Pakistan existieren heute nicht ein Gewaltkonflikt, sondern mindestens drei, die teilweise miteinander verschränkt sind, teilweise aber auch unabhängige Dynamiken aufweisen. Da dies an anderer Stelle bereits ausführlicher dargestellt wurde,[2] genügt hier eine kurze Aufzählung: (1) In Belutschistan kam es aufgrund einer lang andauernden Benachteiligung der Provinz zu einem Aufstand, der eine ethno-nationalistische, anti-koloniale Färbung aufweist und auf Gleichberechtigung oder Autonomie zielt; (2) seit Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich ausgehend vom Zentralpunjab ein gewaltsamer, oft terroristisch ausgetragener Gewaltkonflikt zwischen sunnitischen und schiitischen extremistischen Gruppen, der inzwischen auch immer wieder in anderen Provinzen oder den Northern Areas aufflammt. Diese beiden Gewaltherde - wie auch der inzwischen abgeflaute ethnische Bürgerkrieg in der Millionenstadt - sind prinzipiell unabhängig vom Afghanistan-Krieg, auch wenn in allen Fällen potenzielle Verbindungspunkte bestehen. Dies gilt für Belutschistan aufgrund der starken paschtunischen Besiedelung entlang der afghanischen Grenze und in seiner Hauptstadt Quetta; und es gilt bezüglich der konfessionellen Auseinandersetzung wegen einer Zusammenarbeit sunnitischer Extremisten mit den ebenfalls sunnitisch geprägten, paschtunischen Aufständischen in der Nordwestprovinz Pakistans. Damit rückt der Gewaltherd der Nordwestprovinz ins Blickfeld, der stark mit dem Afghanistan-Krieg verknüpft ist.

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 86 Bürgerkrieg in den Stammesgebieten der Nordwestprovinz

Zum blutigsten Konfliktherd Pakistans hat sich die Nordwestprovinz entwickelt, die im Wesentlichen von Paschtunen besiedelt ist und an Afghanistan grenzt. Die dortigen Familien und Stämme stehen seit Jahrhunderten in engem Kontakt mit ihren Verwandten jenseits der heutigen Grenze, die in der Kolonialzeit von Großbritannien gezogen wurde ("Durand-Linie") und die paschtunischen Siedlungsgebiete künstlich trennt.

Die Stammesgebiete (Federally Administered Tribal Areas, FATA) gehören zur Nordwestprovinz (NWFP). Rechtlich sind sie damit Teil Pakistans, doch die Verfassung bestimmt: "Kein vom Parlament beschlossenes Gesetz gilt in irgendeinem der Stammesgebiete oder einem ihrer Teile, solange es der Präsident nicht anordnet"[3], was kaum jemals vorkommt. Dieses Fehlen staatlichen Rechts in der Region an der afghanischen Grenze reflektiert die dortige Schwäche des Staates. Die Regierungsführung innerhalb der FATA ist archaisch.[4] Sie beruht auf der prinzipiellen Autonomie der einzelnen Stämme, die von sieben "Politischen Agenten" des Präsidenten (political agents, PA) beaufsichtigt werden, die der Gouverneur der Nordwestprovinz in seinem Namen ernennt. Die PAs sind die höchsten Repräsentanten des Staates in den sieben Tribal Agencies. Sie verfügen allerdings nicht über direkte Regierungs- oder Verwaltungskompetenz; ihr Einfluss beruht auf der Kooperation mit den Stammesführern (maliks). Sie verwenden die alte Technik von Zuckerbrot und Peitsche, um die maliks zur Kooperation zu bewegen; dazu gewähren sie finanzielle oder andere Anreize oder drohen mit kollektiven Bußgeldern oder der Einbehaltung von Finanzmitteln und anderen Gütern.

Die political agents und maliks sind voneinander abhängig: Die Macht der maliks über ihre Stämme hängt von der finanziellen, politischen und sonstigen Unterstützung durch die PAs ab. Sie nutzen sie, um klientelistische Netzwerke aufzubauen. Gleichzeitig braucht ein political agent die maliks, um überhaupt die Interessen der Regierung wahrnehmen zu können. Diese Art der indirekten Regierung entstand während der britischen Kolonialzeit und wurde im Jahr 1901 in der Frontier Crimes Regulation (FCR) kodifiziert. Sie gilt bis heute, da keine Regierung je in der Lage war, vollständige Kontrolle über die Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan zu erlangen.

Ein solches Regierungsmodell, wenn man es überhaupt so nennen möchte, schließt die örtliche Bevölkerung weitgehend von einer politischen Teilhabe aus. Diese darf erst seit Mitte der 1990er Jahre überhaupt an Wahlen teilnehmen. Vorher wurden die Parlamentsabgeordneten von den Stammesführern bestimmt. Selbst die pakistanischen Parteien sind weiter illegal, obwohl der Präsident im Jahr 2009 eine Reform zu deren Legalisierung verkündete, die allerdings noch umgesetzt werden muss. In den FATA existieren keine staatlichen Gerichte, Stämme werden kollektiv für kriminelle Aktivitäten Einzelner haftbar gemacht. Darüber hinaus kann dieses anachronistische System von Governance nur funktionieren, solange die Stämme ihre jeweiligen Gebiete tatsächlich kontrollieren und die Stammesstrukturen (wie die dominierende Rolle des malik) fortbestehen. Diese beiden Voraussetzungen werden jedoch oft nicht mehr erfüllt. Im Afghanistan-Krieg der 1980er und frühen 1990er Jahre wurden die alten Stammesstrukturen durch mindestens zwei soziale Gruppen untergraben, die an Macht gewannen. Dazu gehören Anführer nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen. In Kriegszeiten sind traditionelle soziale Strukturen weniger wichtig als militärische Effizienz. Deshalb wurden viele militärische Führer aufgrund ihrer militärischen und organisatorischen Fähigkeiten zu machtvollen lokalen Figuren. Zweitens erhielten Mullahs und andere religiöse Führer aufgrund der zunehmenden Bedeutung religiöser Motivation im anti-sowjetischen Dschihad größeren Einfluss. Waren die Mullahs ursprünglich vor allem Teil eines Stammes und von politisch sekundärer Bedeutung, ja sogar Gegenstand von Witzen, so gewannen sie nun oft beträchtlichen politischen Einfluss.

Darüber hinaus trugen sozio-ökonomische Trends zu einer Schwächung der Stammesstrukturen bei, etwa die anhaltende Landflucht. Die dschihadistische Transformation der örtlichen Religiosität, die der zusätzlichen Motivierung und Mobilisierung für den anti-sowjetischen Kampf diente, sowie die Schaffung einer paramilitärischen Infrastruktur trugen zur sozialen Umstrukturierung bei. Beides wurde nach dem Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan nicht rückgängig gemacht und konnte so später bruchlos in den Dienst des Kampfes gegen die NATO-Truppen in Afghanistan und gegen die

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 87 pakistanische Regierung gestellt sowie für den internationalen Dschihadismus al-Qaidas genutzt werden. Insgesamt sind die Stammesgebiete nur locker in den pakistanischen Staat integriert, während sie zugleich über informelle, aber enge Bindungen an die Stämme jenseits der afghanischen Grenze verfügen.

Auswirkungen des Afghanistan-Krieges

Nach dem Sturz der Taliban durch US-Truppen und ihre afghanischen Verbündeten im Herbst und Winter des Jahres 2001 flohen viele der - paschtunischen - Taliban und bis zu 2000 internationale Kämpfer al-Qaidas aus Afghanistan in die Stammesgebiete der pakistanischen Nordwestprovinz.[5] Dort wurden sie meist freundlich aufgenommen, da man sich ihnen seit der gemeinsamen Kampfzeit im anti-sowjetischen Dschihad verbunden fühlte. Damals waren auch durch Eheschließungen familiäre Bindungen entstanden, die eine positive Wahrnehmung begünstigten. Schließlich bestanden auch ideologische Sympathien, da die dschihadistische Umformung des deobandischen, sunnitischen Islam in den Grenzgebieten seit dem Krieg gegen die Sowjetunion eine positive Grundwahrnehmung religiöser Kämpfer bewirkt hatte. Deshalb - und aufgrund finanzieller Zahlungen der ausländischen Dschihadisten an die Stämme oder ihre maliks - wurden die Dschihadisten nicht nur in den Stammesgebieten akzeptiert, sondern konnten die Region auch zur Vorbereitung von Überfällen und Anschlägen in Afghanistan nutzen.

Daraus ergab sich eine Situation, bei der neben den Stämmen und den bedeutsamer gewordenen religiösen Führern nun auch Hunderte usbekischer, tschetschenischer und arabischer Kämpfer zu politischen Machtfaktoren in den Stammesgebieten wurden. Zwischen diesen Ausländern und den traditionellen Stammesstrukturen bildeten sich auch einheimische, paschtunische Gruppen dschihadistischer Kämpfer, die sich zuerst Mudschahidin (religiöse Krieger), bald aber (pakistanische) Taliban nannten. Sie schlossen sich schrittweise zusammen und nannten sich Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP; "Bewegung der (religiösen) Studenten Pakistans"). Diese Gruppen bildeten einerseits eine Brücke der lokalen Gesellschaft zu den ausländischen Dschihadisten, zugleich aber untergruben sie die Macht der bereits in den vergangenen Jahrzehnten geschwächten Stammestradition in einigen Regionen, da sie die Stammesführer nur noch akzeptierten, wenn diese ihren religiösen und politischen Vorstellungen entsprachen. Sie begannen bald, in bestimmten Gebieten selbst quasi-staatliche Strukturen aufzubauen, die die Macht der maliks ideologisch, aber auch durch Einschüchterung und Gewalt einschränkten. Auch der ohnehin geringe Einfluss der pakistanischen Behörden in der Region wurde so noch weiter zurückgedrängt.

Die lokalen Dschihadisten begannen in einigen Regionen mit der Verfolgung und Hinrichtung Krimineller (wie Räuber, Vergewaltiger, etc.), was ein erneutes Indiz für die Untergrabung der Stämme darstellt, die ja eigentlich für Sicherheit zuständig waren. Ihre (Ratsversammlungen der Führer) setzten Männer unter Druck, sich Bärte wachsen zu lassen und bedrohten Geschäftsleute, die CDs, DVDs oder Videos verkauften, da Musik und Filme die Moral untergrüben und durch den Islam verboten seien. Wurde diesen Anweisungen nicht gefolgt, sprengten sie entsprechende Geschäfte (selbst Friseurläden, die Männern die Bärte rasierten) nicht selten in die Luft. Nichtregierungsorganisationen - insbesondere solche mit ausländischer Unterstützung oder zur Förderung von Frauen - wurden bedroht und zum Teil angegriffen und vertrieben, da ihre Arbeit subversiv sei, westliche Werte propagiere und letztlich im Auftrag Washingtons erfolge.

Zugleich standen die Bewohner der FATA nicht allein unter dem Druck dschihadistischer Gruppen, sondern auch der Behörden und des Militärs. Diese nahmen oft ganze Dörfer oder Stämme in Haftung, um einzelner Verdächtiger oder extremistischer Gruppen habhaft zu werden. Wenn ein Stamm nicht bereit oder in der Lage war, Verdächtige oder Gewalttäter an die Regierung auszuliefern, wurden sein Siedlungsgebiet abgeriegelt oder Kollektivstrafen verhängt.

Solche Ultimaten mögen jenseits ihrer menschenrechtlichen Fragwürdigkeit in Fällen funktionieren, in denen lokale Autonomie- und Stammesstrukturen intakt sind und es sich um die Auslieferung Einzelner

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 88 handelt. Wenn die betroffene Gemeinschaft aber nicht mehr handlungsfähig ist, weil etwa die Autorität einer Stammesführung nicht mehr allgemein akzeptiert wird, sich Einzelne ihrer Überstellung entziehen oder die auszuliefernde Gruppe groß und gut bewaffnet ist, dann können solche Androhungen von Kollektivstrafen ihr Ziel kaum erreichen und werden darüber hinaus die Sympathie der Bevölkerung für die Behörden und das Militär beschädigen - ohne die eine Aufstandsbekämpfung jedoch aussichtslos bleibt. Wenn dann noch bei Strafaktionen oder anderen militärischen Operationen lokale Zivilisten zu Schaden kommen, werden möglicherweise die Regierung und das Militär als das schlimmere zweier Übel wahrgenommen. Dann wird das Militär faktisch als Besatzungstruppe im eigenen Land aufgefasst und verliert jede realistische Chance, einen Keil zwischen die Bevölkerung und die Dschihadisten zu treiben - und so zugleich die Aussicht auf einen militärischen Sieg.

Die skizzierten Entwicklungen beschränkten sich nicht allein auf die Stammesgebiete, auch wenn sie dort ihren Ursprung hatten und besonders intensiv auftraten. Die politische Gewalt dehnte sich selbst in größere Städte aus wie nach D.I. Khan und . Allerdings erreichte sie dort nicht das Niveau eines offenen Krieges, sondern nahm die Form von Attentaten und Terrorakten an.

Die pakistanische Armee unternimmt seit 2002 - und verstärkt ab 2004, als bis zu 120000 Soldaten eingesetzt wurden - militärische Operationen gegen die Dschihadisten in den Stammesgebieten. Diese Einsätze waren bis 2009 nur mäßig erfolgreich, auch weil die lokale Bevölkerung die Präsenz und die Gewaltanwendung von Soldaten in ihrer autonomen Region überwiegend ablehnte. Die pakistanische Armee erlitt teilweise schwere Verluste und reagierte mit einer Eskalation der Operationen, die nun auch massive Luftangriffe beinhalteten. Die resultierenden zivilen Opfer führten zu verstärktem Widerstand der betroffenen Stämme, was die ausländischen und insbesondere lokalen extremistischen Kämpfer politisch stärkte und ihre Zusammenarbeit förderte. Dazu kamen vereinzelte, aber politisch oft verheerende Angriffe durch US-Kräfte. Das wichtigste Beispiel war 2006 ein Raketenangriff auf eine Medresse im Dorf Chingai (Bajaur Agency, Tribal Areas) durch - sehr wahrscheinlich - US-Truppen aus Afghanistan, bei dem 82 Menschen starben, darunter viele Frauen und Kinder. Einige Tage später kam es zu einem Vergeltungsangriff durch einen Selbstmordattentäter, bei dem 40 pakistanische Soldaten getötet wurden. Insgesamt starben bei den Kämpfen bis 2007 vermutlich mehr als 1000 Soldaten und eine unbekannte Zahl an dschihadistischen Kämpfern und Zivilisten. Die militärischen Rückschläge, das Unbehagen gegen Teile der eigenen Bevölkerung und "gläubige Muslime" vorgehen zu müssen, das Gefühl, eigentlich im Auftrag der USA Gewalt anzuwenden und die Opfer unter der Zivilbevölkerung beeinträchtigen außerdem die Kampfmoral vieler Soldaten. Ein Beispiel dafür stellte ein Zwischenfall im August 2007 dar, bei dem eine kleine Gruppe örtlicher Taliban rund 250 Soldaten gefangen nahm, die sich nicht einmal verteidigten.[6]

Zugleich kam es immer wieder zu Versuchen, die Konflikte in den Stammesgebieten durch Gespräche, Verhandlungen und Vereinbarungen beizulegen, wobei häufig Politiker der - mit den Taliban (ideologisch, nicht unbedingt politisch) sympathisierenden - JUI (Jamiat-Ulema-i-Islam) und Stammesversammlungen (Jirgas) zur Vermittlung genutzt wurden. Meist bestand der Ansatz darin, die Stämme zu verpflichten, lokale und internationale Kämpfer selbst zu disziplinieren oder terroristische Täter der Regierung auszuliefern oder an Angriffen zu hindern - im Gegenzug sollten das Militär sich zurückziehen und die zivilen Behörden finanzielle Zuwendungen leisten oder Entwicklungsprojekte durchführen. Da allerdings in einigen Regionen die lokalen Machtverhältnisse dies nicht mehr zuließen - die militanten Gruppen waren bereits so stark, dass sie durch die Stämme nicht mehr kontrolliert werden konnten - in anderen der politische Wille fehlte, kam es auch zu direkten Verhandlungen und Vereinbarungen der Behörden mit lokalen Taliban. In diesen Fällen legitimierte und stärkte sie dies offensichtlich gegenüber den nicht-extremistischen Kräften. Lokale Abkommen brachen zusammen, weil häufig weder das Militär noch die Aufständischen sich daran hielten. Verhandlungsprozesse mit den lokalen Akteuren waren prinzipiell sinnvoll, erfolgten allerdings unter Umständen, die sie immer wieder zum Scheitern brachten. Teilweise wurden während laufender Verhandlungen größere Militäroperationen durchgeführt - so erfolgte auch das Raketenmassaker von Bajaur genau an dem Tag, als in der Region ein Friedensabkommen unterschrieben werden sollte. In solchen Fällen ist offensichtlich, dass die militärische Aufstandsbekämpfung Ansätze friedlicher

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Konfliktregelung zum Scheitern brachte.

Seitdem spitzt sich die militärische Lage zu. Im Swat-Tal (außerhalb der FATA) zerschlug das pakistanische Militär 2009 mit harter Hand eine brutale, quasi-staatliche Herrschaft lokaler extremistischer Aufständischer, und 2009/2010 unternahm es große Offensiven gegen die Kerntruppe der TTP in Süd-Waziristan, der südlichsten der sieben Stammesgebiete. Letztere war militärisch zwar verlustreich, aber zumindest kurzfristig erfolgreich. Die Aufständischen konnten zwar nach Norden ausweichen, gerieten aber so unter Druck, dass die Welle der Selbstmord- und Terroranschläge in der Nordwestprovinz und anderen Teilen Pakistans 2010 deutlich zurückging. Bedeutsam war in diesem Zusammenhang, dass sich in weiten Teilen Pakistans die Stimmung nun gegen die Aufständischen wandte: Hatte man zuvor den Krieg der Armee mit großer Skepsis und Kritik betrachtet, da man ihn als Hilfestellung für die USA betrachtete und einen Kampf von Pakistanern gegen andere Pakistaner verurteilte, führten die zunehmenden Terroranschläge der aufständischen Taliban gegen pakistanische Zivilisten und Politiker zu einer Änderung des Klimas.

Die Kriege in Pakistan und der pakistanischen Nordwestprovinz

In Europa und den USA werden die pakistanischen Stammesgebiete mit großer Sorge betrachtet, weil sie einerseits die Kriegführung in Afghanistan erschweren. Die kaum kontrollierbare Region bietet Rückzugs- und Ruheräume für afghanische Aufständische, logistische Unterstützung und teilweise auch Rekrutierungsmöglichkeiten. Eine wirksame Abriegelung der FATA von Afghanistan ist wegen der engen familiären und Stammesbindungen über die Grenze, aus politischen, topographischen und militärischen Gründen kaum möglich, so dass militante Extremisten in beide Richtungen immer wieder ausweichen können, wenn irgendwo der Druck zu groß wird - um später zurückzukehren. Zweitens bieten die Stammesgebiete auch Rückzugs-, logistische und Operationsmöglichkeiten für die internationalen dschihadistischen Kämpfer von al-Qaida. In Afghanistan sollen gegenwärtig nur noch etwa 100 al-Qaida-Kämpfer operieren, während ihre Zahl auf der pakistanischen Seite der Grenze weit höher liegen dürfte - soweit sie nicht in andere Länder (wie Jemen oder Somalia) ausgewichen sind. Dazu kommt die Möglichkeit für afghanische und pakistanische Taliban und al-Qaida, zusätzlich in den oft unübersichtlichen pakistanischen Großstädten unterzutauchen wie in Karachi oder Quetta.

Andererseits bilden die Stammesgebiete und die gesamte Nordwestprovinz auch einen Transmissionsriemen, durch den die Gewalt in Afghanistan nach Pakistan eindringt. In gewissem Sinne bilden der Krieg in Afghanistan und der Bürgerkrieg in der pakistanischen Nordwestprovinz eine Einheit: Viele Paschtunen in Pakistan fühlen sich von der Präsenz US-amerikanischer, britischer und anderer Truppen in Afghanistan genauso betroffen, als wenn sie im eigenen Land stünden. Auch die nicht- paschtunische - selbst die säkulare - Bevölkerung Pakistans lehnt den Krieg fremder Truppen in Afghanistan überwiegend ab - und wirft ihrer eigenen Regierung und dem Militär vor, im Auftrag Washingtons gegen Teile der eigenen Bevölkerung gewaltsam vorzugehen. Dies war der vermutlich wichtigste Grund, dass der zuerst beliebte damalige Präsident Musharraf in Pakistan praktisch jede Unterstützung verlor und als "Busharraf" verspottet wurde. Auch wenn diese Entfremdung von der eigenen Regierung aufgrund deren Unterstützung der US-Afghanistanpolitik heute weniger stark ausgeprägt ist, stellt sie doch weiter einen Faktor dar, der die Legitimität des pakistanischen Staates untergräbt.

Die Situation der Instabilität und Gewalt in den Stammesgebieten entspringt zwei Quellen: Einerseits der eklatanten Schwäche an Staatlichkeit und dem daraus resultierenden politischen Vakuum, das durch die erwähnte Aushöhlung der Stammesstrukturen noch verstärkt und von den religiösen Extremisten gefüllt wird; und zweitens aus den Kriegen im benachbarten Afghanistan seit Ende der 1970er Jahre, die (a) den zuvor konservativen Islam politisierten und ihn dschihadistisch transformierten; (b) eine militärische Infrastruktur (Waffen, Logistik, bewaffnete Banden und extremistische Gruppen, etc.) schufen, die von den Aufständischen und den afghanischen Taliban und al-Qaida genutzt werden kann und ihnen günstige Operationsbedingungen bietet; (c) eine politische Mobilisierungsmöglichkeit gegen die ausländischen und "ungläubigen" Truppen schufen und schaffen,

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 90 die als Besatzer betrachtet werden; und (d) den Zustrom extremistischer afghanischer und ausländischer (arabischer, tschetschenischer, usbekischer) Extremisten, zur Folge hatten, die gut organisiert, schwer bewaffnet, ideologisch unnachgiebig und kampferfahren sind. Dazu kommt (e) die politisch mobilisierende Situation, dass die eigene Regierung an der Seite der verhassten USA gegen Pakistaner vorgeht - wodurch das eigene Militär in den Stammesgebieten als faktische Besatzungstruppe im Dienste einer fremden Macht betrachtet wird.

Im Zuge der eskalierenden Kämpfe und angeheizt durch die häufigen "Kollateralschäden" an der eigenen Bevölkerung durch die Härte des pakistanischen Militärs und die Drohnenangriffe der USA weitete sich die Gewalt von den Stammesgebieten und der Nordwestprovinz auf andere Landesteile aus und nahm auch terroristische Formen an. So ist es kein Zufall, dass der erste Selbstmordanschlag durch Pakistaner[7] erst im Jahr 2002 erfolgte, also kurz nach dem Sturz der afghanischen Taliban durch Washington - und die Eskalation der Selbstmordanschläge erst im Jahr 2006 begann, nachdem eine US-Drohne zahlreiche Zivilisten tötete. Darüber hinaus kam es zu zahlreichen Anschlägen auf pakistanische Schlüsselpolitiker wie den damaligen Präsidenten Musharraf, die ehemalige Ministerpräsidentin Benazir Bhutto, auf das pakistanische Militär (einschließlich auf das gut gesicherte Oberkommando des Heeres in ) und auf die Zivilbevölkerung.

Auf diese Weise wurde die ohnehin deformierte und teilweise schwache Staatlichkeit in Pakistan weiter geschwächt und die Legitimität des Staates zusätzlich untergraben, da er seine Bürger offensichtlich nicht schützen konnte. Auch die zunehmende Kooperation der aus den Stammesgebieten operierenden Aufständischen mit sunnitischen Extremisten und Dschihadisten aus dem Punjab (die ihr Operationsgebiet primär im indischen Teil Kaschmirs sahen) trug zur wachsenden Unsicherheit bei.

Der Afghanistan-Krieg führt deshalb nicht allein zu beträchtlichem menschlichen Leiden, materiellen Zerstörungen und politischer Instabilität in Afghanistan selbst, sondern auch zur Schwächung Pakistans, zu zahlreichen Gewaltopfern und wachsender Instabilität. Heute sterben bereits mehr Menschen in Pakistan an politischer Gewalt und Kriegseinwirkung als in Afghanistan. Die Ansteckung Pakistans mit der politischen Gewalt erfolgt allerdings nicht primär durch den Krieg in Afghanistan als solchen, sondern sowohl historisch als auch aktuell durch die ausländische Rolle in diesem Krieg, zuerst durch die Sowjetunion, die USA und einige arabische Staaten (vor allem Saudi Arabiens), heute durch die der USA und NATO-Verbündeten.

Die ausländischen Truppen stellen dabei den wichtigsten Mobilisierungsfaktor dar. Eine Diskussion der westlichen Politik in Afghanistan wäre gut beraten, diese Wirkung im strategisch viel bedeutenderen Nachbarland einzubeziehen. Eine weitere Destabilisierung der fragilen Atommacht Pakistan in Kauf zu nehmen, um dem taktischen Ziel einer ohnehin kaum möglichen Abriegelung der Grenze zu Afghanistan näherzukommen, wäre ein strategischer Fehler mit unabsehbaren Folgen - der schließlich mit aller Macht auf den Krieg in Afghanistan zurückschlagen müsste. aus: Pakistan und Afghanistan, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 21-22/2010)

Fußnoten

1. Vgl. Pak Institute of Peace Studies, Pakistan Security Report 2009, Islamabad 2010, S. 4f. 2. Vgl. Jochen Hippler, Das gefährlichste Land der Welt? Pakistan zwischen Militärherrschaft, Extremismus und Demokratie, Köln 2008, S. 208-233; ders., Gewaltkonflikte und autoritäre Staatlichkeit in Pakistan, in: ders./Andreas Heinemann-Grüder/Bruno Schoch/Markus Weingardt/ Reinhard Mutz (Hrsg.), Friedensgutachten 2008, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Münster 2008, S. 258-269.

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3. of Pakistan, Part 12, Chapter 3, Paragraph 247 (3), online: www.pakistani.org/ pakistan/constitution/part12.ch3.html (18.4.2010). 4. Vgl. Jochen Hippler, Violence, Governance and Islam in Pakistan, Prepared for the Final Conference "Control of Violence", Center for Interdisciplinary Research, Bielefeld University, 10.-13. September 2008. 5. Vgl. Zahid Hussain, Frontline Pakistan. The Struggle with Militant Islam, New York 2007, S. 120 und S. 143. 6. Vgl. Ghafar Ali Khan, High Cost of Low Morale, in: The Herald (Karachi), October 2007, S. 64f. 7. Der vermutlich erste und bis zum Jahr 2002 einzige Selbstmordanschlag in Pakistan überhaupt erfolgte im Jahr 1996 gegen die ägyptische Botschaft in Islamabad, wurde aber von arabischen Dschihadisten verübt.

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Das Engagement der arabischen Staaten

Von Inken Wiese 25.5.2010 Geb. 1975; Doktorandin am Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration" an der Universität Konstanz, Postfach 211, 78457 Konstanz.

Die Rahmenbedingungen, die die Unterstützung aus den arabischen Staaten für Afghanistan vor dem Jahr 2001 bedingten, existieren in dieser Form nicht mehr. Arabisches Engagement orientiert sich an einer neuen Problemanalyse.

Kaum ein (populär)wissenschaftliches Werk über Afghanistan kommt ohne einen Verweis darauf aus, dass das Land während der Zeit des sogenannten Dschihads gegen die Sowjetunion (1979-1989) umfassend von finanzieller, materieller und personeller Unterstützung aus den arabischen Staaten und vor allem aus den Golfstaaten profitiert habe. Auch der Hinweis, dass lediglich Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Pakistan das Taliban-Regime anerkannt hätten, bleibt in diesem Kontext nie unerwähnt. Differenzierende Auseinandersetzungen über die innen- und außenpolitischen Konstellationen, die dieses Engagement der jeweiligen arabischen Staaten bedingten, sowie über die individuellen Motivationen der in Afghanistan aktiven Araber kommen dabei meist zu kurz.

Westliche Regierungen, die seit dem Jahr 2001 im Rahmen der ISAF-Intervention am Wiederaufbau Afghanistans, der Stabilisierung der afghanischen Regierung und am Kampf gegen den internationalen Terrorismus beteiligt sind, reagieren oft mit Unverständnis auf die Zurückhaltung eben dieser arabischen Staaten, sich heute wieder in ähnlichem Maß für Afghanistan zu engagieren.[1] Auch die afghanische Regierung zerbricht sich bisher nur mit mäßigem Erfolg den Kopf, wie den finanzstärkeren arabischen Golfstaaten Investitionen in und Aufbauhilfe für Afghanistan attraktiver gemacht werden können.[2] Dabei haben Staaten wie Saudi-Arabien und die VAE in diversen Geber-Konferenzen der vergangenen Jahre weitaus mehr Geld in Aussicht gestellt als beispielsweise Frankreich, Italien oder Spanien. Dennoch besteht beim konkreten Mittelabfluss noch großes Steigerungspotenzial.[3] Bessere historische wie aktuelle Detailkenntnis mag also dienlich sein, die Erwartungen an ein offizielles Engagement auf ein realistisches Maß zu reduzieren.

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass die Grundlage für das arabische Interesse an Afghanistan in den 1980er Jahren in dieser Form nicht mehr besteht, da sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die regionalpolitischen Machtstrukturen verändert haben. Aktuelles und zukünftiges Engagement orientiert sich daher an einer neuen Problemanalyse. Die noch sehr junge und geringe politikwissenschaftliche Forschung zu den arabischen Golfstaaten macht die gesonderte Betrachtung dieser Staaten im Afghanistan-Kontext allerdings zu einer Herausforderung.

Arabisches Engagement bis 1990

Arabisches Engagement in Afghanistan begann nicht erst mit der Unterstützung für den Widerstandskampf gegen die sowjetische Invasion 1979. Die übersichtliche Zahl von Kooperationsprojekten wie im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit lässt jedoch darauf schließen, dass Afghanistan in den Augen der meisten arabischen Staaten noch in den 1970er Jahren keine besondere Priorität genoss oder man auf Kontakte mit der damals kommunistischen Regierung keinen gesteigerten Wert legte. Afghanische Regierungsvertreter aus dieser Phase stellen dies zwar anders

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 93 dar: "As time passed, countries like Iran, , , and committed themselves firmly to extending financial help to Afghanistan."[4] Gemessen in finanziellen Verbindlichkeiten jedoch blieben Staatskredite wie für den Aufbau einer Zuckerfabrik im nordafghanischen Baghlan durch den Kuwait Fund for Arab Development und den Abu Dhabi Fund for Development eine Ausnahme. Kontakte zwischen Afghanistan und der arabischen Welt fanden in dieser Phase in der Regel als einseitiger akademischer Austausch statt, soweit die wenigen verfügbaren Quellen eine solche Aussage überhaupt zulassen: Arabische Universitäten wie die Amerikanische Universität in Beirut waren für die säkulare Elite Afghanistans ein attraktives Ziel, aber auch an der Universität Al-Azhar in Kairo studierten einige Afghanen.

Das arabische Interesse an Afghanistan nahm erst nach dem Einmarsch der Roten Armee zu und schlug sich zunächst in humanitären Bemühungen um afghanische Flüchtlinge durch arabische Regierungen und Hilfsorganisationen nieder, die Ausgaben in jährlich zweistelliger Millionenhöhe nach sich zogen.[5] Bald folgten praktische Unterstützungen für die Mudschahidin: Die sprichwörtliche Politik des saudischen Königs Fahd, jeden Dollar, den die USA für die Aufständischen ausgaben, um einen weiteren Dollar zu ergänzen, wurde offenbar auch auf Waffenlieferungen übertragen. Die Gesamtsumme der offiziellen Unterstützung für die Mudschahidin allein aus Saudi-Arabien sollte sich bis zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan auf weit über 4 Milliarden US-Dollar belaufen.[6] Dieser beeindruckenden Summe sind allerdings weitere Leistungen hinzuzufügen. Unklar ist beispielsweise die Verbuchung von Gewinnen aus einem milliardenschweren Vertrag, den die saudische Regierung Ende 1985 mit der britischen Regierung abschloss und der die Lieferung von großen Mengen Öl unter Umgehung der OPEC-Fördergrenzen im Tausch gegen Waffensysteme britischer Firmen umfasste, die direkt oder indirekt den Kämpfern in Afghanistan zugute kommen sollten.[7] Ebenfalls unberücksichtigt sind die inoffiziellen Unterstützungen aus islamischen Wohlfahrtsorganisationen und Stiftungen, Sammlungen in Moscheen und den privaten Mitteln von Mitgliedern des Königshauses.

Über die Höhe ähnlicher Beiträge aus anderen arabischen Staaten kann lediglich gemutmaßt werden. Regelmäßig wird auf das ägyptische Engagement verwiesen, das von Anwar as-Sadat begonnen und unter Husni Mubarak fortgesetzt wurde und u.a. in der Ausrüstung von Lagern zum Training der Mudschahidin bestand, die über Lieferungen von ägyptischen Militärflughäfen aus bestückt wurden.[8] Vor dem Hintergrund dieser Summen überrascht es nicht, dass die arabischen Golfstaaten bis heute für sich in Anspruch nehmen, einen ebenso erheblichen, wenn nicht gar höheren Beitrag als die USA zur Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan und im Resultat zu ihrem Fall geleistet zu haben.

"We did it for America, [...] but also, obviously, for ourselves"

Die Frage nach der Motivation und politischen Analyse, die ein derartiges finanzielles Engagement strategisch sinnvoll erscheinen ließ, drängt sich auf. Wie eng innen- und außenpolitische Faktoren zusammenhingen, zeigt die Äußerung von Prinz Turki bin Faisal, der seit Anfang der 1990er Jahre mit dem Portfolio für Afghanistan betraut war: "We did it for America, [...] but also, obviously, for ourselves." [9] Drei Gründe, bei denen Innen- und Außenpolitik Hand in Hand gingen, seien im Folgenden genannt.

"We saw it as our job to fight against Soviet atheism wherever it might threaten", führte Prinz Turki bin Faisal weiter aus. Dem Kommunismus etwas entgegenzusetzen, war seit den 1950er Jahren ein Kernanliegen saudischer Außenpolitik und begründete die umfangreiche finanzielle Unterstützung politischer islamischer Bewegungen in zahlreichen Ländern der islamischen Welt durch Saudi-Arabien. Besonders Gamal Abdel Nassers pan-arabischer Nationalismus war von Saudi-Arabien als Unterminierung der Legitimität des saudischen Königshauses betrachtet worden, dem Saudi-Arabien den Pan-Islamismus als ideologische Alternative entgegensetzte. Unter saudischer Führung wurden daher die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) gegründet, um die Außenpolitik(en) islamischer Staaten zu koordinieren, sowie die Muslimische Weltliga, über die der saudische Einfluss auf kulturelle und religiöse Aktivitäten weltweit institutionalisiert wurde.

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Zur wahhabitischen Doktrin, aus der der saudische Staat und das Königshaus ihre Legitimation ziehen, zählte jedoch von jeher auch die Opposition zum und der Kampf gegen den als Häresie betrachteten schiitischen Islam. Die Eindämmung iranischen Einflusses auf die islamische Welt, darunter auch die Staaten Zentralasiens mit ihren nicht unbedeutenden schiitischen Minderheiten, stellte eine Maxime saudischer Politik dar, die sowohl religiösen als auch außenpolitischen Ursprungs ist.[10] Die Bedeutung der anti-schiitischen Stoßrichtung der saudischen Afghanistan-Politik ist nicht zu unterschätzen. Es findet sich mehr als eine Stimme in der Literatur, die sich folgender Einschätzung anschließt: " were supported by Pakistan for strategic reasons and by Saudis because they were seen as the main bulwark against any Shi'i but also Persian influence. It seems even that Riyadh was more concerned to thwart Iranian influence in Afghanistan than to topple the communist regime. Once more the ideological dimension is hiding strategic concerns".[11]

Ergebnis dieser anti-schiitischen Politik war jedoch auch eine einseitige Parteinahme für und Fraternisierung mit afghanischen Paschtunen, die nicht-paschtunische (und damit primär persisch- sprachige) Afghanen sowie afghanische Schiiten ausschloss. Eine Spätfolge der Einseitigkeit der arabisch-afghanischen Kontakte seit dieser Zeit ist heute der Mangel an belastbaren persönlichen Beziehungen zwischen Vertretern der Regierungen am Golf und denen der aktuellen multiethnischen Regierung Afghanistans, was Einfluss auf die aktuelle Politik der Kooperation hat.

[1] Vgl. beispielhaft die Meldung der vom 7.3.2010: "NATO: Muslim nations must aid Afghanistan", oder "NATO looks to Gulf States for help in Afghanistan", in: Al-Arabiyya vom 1.11.2009. [2] So der damalige afghanische Finanzminister Anwar-ul Haq Ahady im Gespräch mit der Autorin im August 2008 in Kabul. Weitere Interviews mit Vertretern des afghanischen Finanz- und Außenministeriums im Juni 2009 und Anfang des Jahres 2010 in Kabul bestätigen, dass diese Herausforderung auch weiterhin auf der politischen Agenda steht. [3] Vgl. Islamic Republic of Afghanistan/Ministry of Finance, Donors Financial Review, Report 1387, Kabul 2009, S.V. [4] Abdul Samad Ghaus, The fall of Afghanistan. An insider's account, Washington DC 1988, S. 148. [5] Steve Coll spricht von 30 Millionen US-Dollar in den ersten Jahren, in: ders., Die Bin Ladens. Eine arabische Familie, München 2008, S. 287. [6] Vgl. Ahmed Rashid, Taliban, Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia, New York 2000, S. 197. [7] Vgl. S. Coll (Anm. 5), S. 297. [8] Vgl. J. Millard Burr/Robert O. Collins, Alms for Jihad. Charity and Terrorism in the Islamic World, Cambridge 2006, S. 83. [9] Zit. nach: Robert Lacey, Inside the Kingdom. Kings, Clerics, Modernists, Terrorists, and the Struggle for Saudi Arabia, London 2009, S. 66. [10] Vgl. Madawi Al-Rasheed, The Minaret and the Palace: Obedience at Home and Rebellion Abroad, in: dies. (ed.), Kingdom without borders. Saudi political, religious and media frontiers, London 2008, S. 200. [11] Olivier Roy, Islam and resistance in Afghanistan, Cambridge 19902, S. 233.

Entspannung an der islamistischen Heimatfront

Ein dritter zentraler Faktor für die umfangreiche und prompte Unterstützung des afghanischen Widerstands durch arabische Regierungen war jedoch gänzlich innenpolitischer Natur: Zeitgleich mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan sahen sich Saudi-Arabien, Ägypten und andere Staaten der Region durch eine militante islamistische Opposition herausgefordert. Nicht ohne Hintergedanken erklärte Scheich Abd al-Aziz bin Baz als höchste religiöse Autorität Saudi-Arabiens den Kampf gegen den Kommunismus in Afghanistan zum Dschihad und religiösen Pflicht eines jeden Muslims. Saudi- Arabien sah in seinem Engagement in Afghanistan eine Chance, gleichzeitig den Islam wahhabitischer Ausprägung zu verbreiten, was den Forderungen der religiösen Autoritäten im Land entsprach, und einige radikale Aktivisten loszuwerden. Die durch staatliche Anreize wie Stipendien für Reisekosten

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 95 und Unterhalt unterstützte Migration junger Aktivisten bedeutete also zunächst eine Entspannung an der "heimischen Front". Dass diese Männer bereichert durch Kampferfahrung zurückkehren könnten, war eine Vorstellung, die die Sicherheitsapparate zunächst noch von sich schoben.

Die Zahl der vom militärischen Kampf in Afghanistan angezogenen jungen Araber sollte jedoch nicht überschätzt werden. Selbst in den Hochphasen ab 1986 hielten sich nie mehr als 3.000 bis 4.000 Araber gleichzeitig in Afghanistan bzw. in den Lagern an der pakistanischen Grenze auf.[12] Viele seien tage- oder wochenweise als Freiwillige angereist, weshalb Analysten auch von "Abenteurern" und "Studenten im Urlaub" sprechen. Bis 1986 seien die "arabischen Afghanen"[13] kaum an Kämpfen beteiligt gewesen, auch wenn viele von ihnen ein kurzes militärisches Training in eigens für die Araber errichteten Lagern durchlaufen hatten. Unterschlagen wird bei der Debatte über die "arabischen Afghanen" jedoch, dass eine erhebliche Zahl von Arabern, gerade aus weniger wohlhabenden Staaten wie Mauretanien, dem Irak oder Jemen, aus primär ökonomischen Gründen nach Afghanistan gekommen sei: "They were seeking jobs and salaries with Gulf-based NGOs in Pakistan, not martyrdom in Afghanistan".[14]

Rolle arabischer Hilfsorganisationen in Afghanistan

Die Rolle der arabischen Hilfsorganisationen in Afghanistan und an der afghanisch-pakistanischen Grenze seit den frühen 1980er Jahren ist weit über die Arbeitsplatzversorgung für arabische Freiwillige hinaus bedeutsam. Zwar würde eine umfassende Darstellung ihrer Tätigkeiten in Afghanistan den Rahmen sprengen.[15] Sie dürfen aber nicht unerwähnt bleiben, da die Erfahrungen dieser Organisationen in Afghanistan als prägend für spätere Aktivitäten in anderen Krisenregionen der islamisch geprägten Welt gelten, in denen ein enger Austausch mit militanten islamischen Kämpfern gepflegt wurde. Afghanistan hat als Katalysator für die Mobilisierung von jungen Muslimen für humanitäre Zwecke und damit für die Gründung weiterer, bis heute aktiver Organisationen gewirkt.

Die arabischen und islamischen Organisationen in Afghanistan trennten zunächst kaum zwischen "Medizin, Militanz und Militär"; praktische Kooperationszwänge angesichts des nach 1989 schwindenden internationalen Interesses und damit sinkender Finanzmittel hätten zu einer Professionalisierung der Arbeit dieser Organisationen, aber auch zur Überwindung von Berührungsängsten gegenüber westlichen und nicht-islamischen Organisationen geführt.[16] Bis 2001 blieben die arabischen Hilfsorganisationen Arbeitgeber für "arabische Afghanen", da sie ehemalige Kämpfer und Freiwillige auffingen und beschäftigten, die aus politischen Gründen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten.

Arabische Afghanistan-Politik 1990-2001

Während die internationale Aufmerksamkeit für Afghanistan und damit das US-amerikanische sowie das offizielle arabische Engagement mit dem Abzug der Roten Armee 1989 zunächst endete, läutete dies für arabische Freiwillige die dritte zentrale Phase ihres Engagements ein, galt es doch, nun das Regime des ehemaligen Kommunisten Nadschibullah (1987-1992) zu Fall zu bringen. Die Haltung diverser arabischer Regierungen gegenüber Afghanistan und vor allem gegenüber den Mudschahidin wandelte sich jedoch von Desinteresse hin zu Ablehnung, als Anschläge auf arabische Politiker zunahmen, für die zum Teil Rückkehrer aus Afghanistan verantwortlich zeichneten. Während Ägypten genug Druck auf Pakistan ausüben konnte, um ein Auslieferungsabkommen über die in den pakistanischen Grenzgebieten verbliebenen etwa 1.800 "ägyptischen Afghanen" zu schließen, mischte sich die Mehrzahl der arabischen Staaten, darunter auch die Golfstaaten, zunächst nicht weiter in die innerafghanischen Auseinandersetzungen ein.

In Ermangelung einer fundierten Aufarbeitung der politischen Beziehungen nach 1990 zwischen den Golfstaaten und Afghanistan in Form verschiedener Bürgerkriegsfraktionen, darunter später auch den Taliban, sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass entgegen der weit verbreiteten Meinung wenig dafür spricht, dass die besondere Qualität der Beziehungen generell fortgedauert hätte.

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Ungeachtet eventueller individueller Verbundenheiten schienen die afghanischen Gruppierungen im Allgemeinen nicht den Eindruck gehabt zu haben, bei Saudi-Arabien oder dessen Nachbarn am Golf für die jahrelange Unterstützung in der Schuld zu stehen. Dies zeigte sich unter anderem in der Parteinahme der meisten afghanischen Gruppierungen für nach dessen Kuwait- Invasion und damit gegen Saudi-Arabien, das die US-Offensive unterstütze. Saudi-Arabien wiederum zeigte die niedrige Priorität der Afghanistan-Politik dadurch an, dass der Außenminister die Zuständigkeit für Afghanistan an seinen Bruder abtrat.

Die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und den Taliban Mitte der 1990er Jahre scheint weniger einer ideologischen oder sonstigen Nähe als eher innenpolitischen und ökonomischen Gründen geschuldet gewesen zu sein: Zwei saudische Firmen waren in ein umfangreiches Pipeline-Projekt in Afghanistan involviert, das zum Transport von Gas gebaut werden und afghanisches Territorium durchqueren würde; dies erhöhte den Druck auf Riad, die Taliban bei ihrem Sieg zu unterstützen. Die Weigerung der Taliban 1998, Osama bin Laden nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Afrika auszuliefern, resultierte zwar in einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Saudi- Arabien und den Taliban. Dies allein ist jedoch kein Argument für die Güte der Beziehungen zuvor.

Es lässt sich für diese Phase feststellen, dass das arabische Engagement für Afghanistan nicht nur deswegen abnahm, weil sich mit dem Ende der Sowjetunion der Kampf gegen den Kommunismus als außenpolitische Maxime erledigt hatte, sondern auch weil sich der "Export" radikaler Oppositioneller als "Bumerang" erwiesen hatte. Die Rückkehr von ehemaligen Kämpfern in ihre Ursprungsländer bzw. ihr Wechsel in andere Krisenregionen in der islamischen Welt stellte viele arabische Regierungen vor neue Probleme. Die Auseinandersetzung mit dem Iran hingegen blieb auch in dieser Phase ein zentraler Faktor für das Engagement der Golfstaaten in Afghanistan, wie die andauernde Konzentration auf die Förderung von Paschtunen zeigte. Dies war jedoch bereits in den 1990er Jahren nicht mehr ausreichend für eine Afghanistan-Politik von hoher Priorität.

[12] Mohammed Hafez, Jihad after Iraq. Lessons from the Arab Afghans, in: Studies in Conflict & Terrorism, 32 (2009) 2, S. 76. [13] Der mittlerweile gängige Terminus "arabische Afghanen" kam in den 1990er Jahren auf, als die Regierungen in Ägypten und Algerien islamische Aktivisten und Afghanistan-Rückkehrer als "trouble makers" delegitimieren wollten, die als Zeichen ihrer Überzeugung afghanische Kleidung und Verhaltensweisen übernommen hatten. [14] M. Hafez (Anm. 12), S. 76. [15] Vgl. dazu Jonathan Benthall/Jérome Bellion-Jourdan, The Charitable Crescent. Politics of Aid in the Muslim World, London-New York 2009, S. 69-84. [16] Vgl. ebd., S. 77.

Arabisches Engagement seit 2001

Zumindest die offiziell in Aussicht gestellten finanziellen Beiträge arabischer Staaten zum Wiederaufbau Afghanistans sind für die Phase seit 2001 gut dokumentiert. Die Höhe der auf den internationalen Afghanistan-Konferenzen der vergangenen Jahre proklamierten Hilfsgelder findet sich nicht nur in den Tabellen, die vom afghanischen Finanzministerium in enger Zusammenarbeit mit dem United Nations Development Programme (UNDP) und der Weltbank verwaltet werden. In einer entsprechenden Internet-Datenbank wird auch der Verlauf des Mittelabflusses notiert, auf dessen Grundlage das Geberverhalten beurteilt und koordiniert wird.[17] Die aus der Datenbank abgeleitete große Diskrepanz zwischen den versprochenen und den verausgabten Geldern der arabischen Staaten gibt den in Afghanistan aktiven Nichtregierungsorganisationen immer wieder Anlass für Kritik.[18] Demnach hätten Saudi-Arabien von den zugesagten 533 Millionen US-Dollar bis Ende 2008 lediglich knapp 77 Millionen, Kuwait von den zugesagten 60 Millionen US-Dollar lediglich 28 Millionen, die VAE, , Oman und Ägypten hingegen von ihren Zusagen (jeweils 307 Millionen, 20 Millionen, 6 Millionen und 2 Millionen US-Dollar) noch nichts umgesetzt. Nicht zuletzt die verschiedenen im Stadtbild von Kabul und den Provinzhauptstädten klar erkennbaren Projekte der arabischen Staaten sind jedoch

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 97 ein Hinweis auf die Unvollständigkeit der Datenbank.

Befragt nach den Ursachen für diese mangelhafte Dokumentation, verwiesen Mitarbeiter der Aid Coordination Unit im afghanischen Finanzministerium auf die erschwerte Kommunikation mit denjenigen arabischen Staaten, die nicht über Botschaften in Kabul verfügen oder ihnen keine Kontakte zu Mitarbeitern in den jeweiligen Ministerien zur Verfügung stellen.[19] Hinzu kommt jedoch, dass insbesondere Saudi-Arabien und die VAE die Durchführung ihrer Projekte an Hilfsorganisationen und Stiftungen aus ihren Ländern verweisen, die weder über Zugänge zu afghanischen Ministerien verfügen noch die Berichterstattung als solches zu ihren Aufgaben zählen. Die Kooperation zwischen den VAE und der Bundesrepublik Deutschland beim Ausbau des Flughafens von Mazar-e Sharif ist ein gutes Beispiel dafür: Während die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die auf deutscher Seite für das Projekt zuständig ist, ihren Beitrag in der Datenbank dokumentieren ließ, fehlte von der finanziellen Beteiligung der VAE, die vom Abu Dhabi Fund für Development verwaltet wird, noch im Februar 2010 jede Spur. Zur zusätzlichen Verwirrung finden sich im Fall der VAE in der Datenbank auch Projekte, die über private Spenden und nicht aus staatlichen Fördermitteln finanziert wurden.

Ein kompletter Überblick über die offiziellen Beiträge arabischer Staaten in Afghanistan seit 2001 ist allein mit Hilfe der Datenbank also nicht erhältlich, doch lässt sich aus den dort dokumentierten Projekten ablesen, dass die arabischen Schwerpunkte auf Infrastrukturprojekten wie dem Bau von Straßen, größeren Wohneinheiten und Krankenhäusern liegen. Um die Rolle als Akteur der internationalen Politik nach innen und außen zu unterstreichen, geht der Trend in den Golfstaaten dahin, Beiträge zur internationalen humanitären und politischen Krisenintervention in den Medien zu verwerten. Dies gilt auch für humanitäres Engagement in Afghanistan, so dass Pressemitteilungen eine geeignete Quelle für die Recherche aktueller arabischer Projekte in Afghanistan darstellen.

Keine Medienberichterstattung ist hingegen für Beiträge gewünscht, die über humanitäre Aspekte hinausgehen. Dass der Einsatz jordanischer Soldaten in Afghanistan über die medizinische Betreuung eines Feldkrankenhauses hinausgeht, war spätestens nach dem Selbstmordattentat eines Jordaniers Ende 2009 offensichtlich, der an der Seite der US-Streitkräfte geheimdienstlich in Afghanistan tätig war.[20] Wenig Begeisterung löste auch ein Bericht der BBC Anfang 2008 aus, der den Einsatz von 400 Spezialkräften der VAE-Armee offenbarte.[21] Dabei gehört die Entsendung von Soldaten und Spezialkräften in militärische Krisengebiete zur erklärten Sicherheitsstrategie der VAE-Führung, die auch im ehemaligen Jugoslawien praktiziert wurde, um die Soldaten praktische Kampferfahrung sammeln zu lassen. Überraschend offen dagegen sprachen die Herrscher von Saudi-Arabien und der VAE von ihren Truppen in Afghanistan in einem gemeinsamen Namensartikel mit dem Titel "Lasst uns Afghanistan und sein Volk unterstützen", der eine Öffentlichkeit für das Treffen der Afghanistan- Beauftragten Ende Januar 2010 in Abu Dhabi schaffen sollte.[22]

Ausblick

Insgesamt ähnelt die Dokumentation des arabischen Afghanistan-Engagements wie auch die Analyse der dahinterstehenden politischen Strategie für die Jahre nach 2001 einem Puzzlespiel - wie schon für die ersten beiden Phasen. Der kurze Überblick zeigt jedoch, dass das Urteil einer großen Zurückhaltung dieser Länder am Afghanistan-Einsatz in dieser Form nicht standhält. Die Aussicht, mit ihrem Engagement im heutigen Afghanistan weder bei einer innerarabischen noch bei einer westlichen politischen Öffentlichkeit Unterstützung zu erfahren, lässt sie hinsichtlich weiterer Verpflichtungen jedoch zögern. Trotz der Besorgnis um die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit von Investitionen in einem Konflikt, der auch am Golf zunehmend unlösbar scheint, muss jedoch zur Kenntnis genommen werden, dass der bisherige Mitteleinsatz sowie die politischen Initiativen am Golf darauf hinweisen, dass in den politischen Strukturen dieser Staaten ein größeres Interesses gegenüber dem Thema herrscht als weithin angenommen. So untermauert die Übernahme von Kosten in Höhe von 44 Millionen US-Dollar durch die VAE für Ausrüstung und Training des Personals für die Flughafensicherheit in Kabul und Kandahar nicht nur die bilaterale Bedeutung, die der Luftverkehr und der darüber abgewickelte Handel von Waren und Arbeitskräften zwischen Dubai und Afghanistan haben.[23] Es ist auch Beleg für die

bpb.de Dossier: Afghanistan (Erstellt am 18.05.2021) 98 konkreten Bemühungen der VAE, die Einfuhr von Drogen aus Afghanistan über den Flugverkehr nach Dubai zu unterbinden. Hier fänden sich weitere Ansatzpunkte für mögliche Kooperationen mit dem Westen. Darüberhinaus weist die Zusammenarbeit mit den großen staatsnahen Stiftungen, die technisch wie personell mit der Durchführung der meisten Projekte in Afghanistan betraut sind, Potenzial auf, den Mittelabfluss und damit den offiziellen Beitrag arabischer Staaten für Afghanistan in den offiziellen Datenbanken deutlicher zu dokumentieren.

[17] Vgl. Development Assistance Database Afghanistan: http://dadafghanistan.gov.af (http:// dadafghanistan.gov.af) (4.5.2010). [18] Vgl. Inken Wiese, Afghanistans nationale Entwicklungsstrategie. Eine hohe Messlatte für die afghanische Regierung und die internationale Gebergemeinschaft, Friedrich-Ebert-Stiftung, Kabul 2008. [19] So in persönlichen Gesprächen mit der Autorin im August 2008 und Juni 2009 in Kabul. [20] Vgl. New York Times vom 4.1.2010. [21] Vgl. BBC News vom 28.3.2008 http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/7318731.stm (http://news. .co.uk/2/hi/south_asia/7318731.stm) (4.5.2010). [22] Abgedruckt in: Al-Sharq al-Awsat vom 13.1.2010. [23] Vgl. www.ttnworldwide.com/arcarticles.aspx?id=1243&artid=8969&issueid=300 (http://www. ttnworldwide.com/arcarticles.aspx?id=1243&artid=8969&issueid=300) (4.5.2010); www.paktribune. com/news/print.php?id=213435 (http://www.paktribune.com/news/print.php?id=213435) (4.5.2010).

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 21-22/2010)

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Das Land in Daten

26.3.2010

Bevölkerung, Regierung, Wirtschaft: Die wichtigsten Daten und Zahlen über Afghanistan aus dem aktuellen Fischer Weltalmanach auf einen Blick.

Fläche 652.225 km2 (Weltrang: 40)

Einwohner 27.145.000 = 42 je km2 (F 2007, Weltrang: 43)

Hauptstadt Kabol (Kabul)

Amtssprachen Paschtu, Dari

Bruttoinlandsprodukt 9,7 Mrd. US-$ (ohne Opiumproduktion) realer Zuwachs: 12,1%

Bruttosozialprodukt (BSP, pro Einwohner und Jahr) k.A.

Währung 1 Afghani (Af) = 100 Puls

Botschaft Botschaft der Islamischen Republik Afghanistan Taunusstr. 3, 14193 Berlin Telefon 030 2067350, Fax 030 20673525 www.botschaft-afghanistan.de

Regierung Staats- u. Regierungschef: Hamid Karzai, Äußeres: Rangin Dadfar Spanta (amtierend)

Nationalfeiertag 19.8. (Unabhängigkeitstag)

Verwaltungsgliederung 34 Provinzen

Staats- und Regierungsform Verfassung von 2004 Islamische Republik, Präsidialsystem Staatsreligion: Islam

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Parlament: Volksversammlung (Wolesi Jirga) mit 249 Mitgl. (68 für Frauen reserviert) Wahl alle 5 J. Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Mitgl. (1/3 von Regionalräten für 4 J., 1/3 von Distrikträten für 3 J. gewählt, 1/3 vom Staatsoberh. für 5 J. ernannt) Direktwahl des Staatsoberh. alle 5 J. Wahlrecht ab 18 J.

Bevölkerung Afghanen F 2007: 27.145.000 Einw. 40% Paschtunen, 25% Tadschiken, 15% mongolstämmige Hesoren (Hazara), 5% Usbeken außerdem Aimak, Nuristani, Balutschen, Turkmenen, Kirgisen u.a.

Städte (mit Einwohnerzahl) (Stand 2006) Kabol (Kabul) 2.536.300 Einw., Qandahar (Kandahar) 450.300, Herat 349.000, Mazar- i Sharif 300.600, Konduz (Kunduz) 264.100, Pol-i-Khomri 180.800, 168.600, Baghlan 149.300, Ghazni 141.000, Meymaneh 67.800

Religionen 99% Muslime (84% Sunniten, 15% Schiiten, Minderheit von Ismailiten) (Stand: 2006)

Sprachen 50% Dari (Persisch der Tadschiken), 40% Paschtu, 5% Usbekisch u.a.

Erwerbstätige nach Wirtschaftssektor keine Angaben

Arbeitslosigkeit (in % aller Erwerbspersonen) keine Angaben

Inflationsrate (in %) Ø 2007: 17,0%

Wichtigste Importgüter (Anteil am Gesamtimport in %) Nahrungsmittel, Erdölprodukte, Industrie- u. Konsumgüter

Wichtigste Exportgüter (Anteil am Gesamtexport in %) Nahrungsmittel, Früchte

Quelle: Der Fischer Weltalmanach. © Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010.

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Redaktion

15.6.2012

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Redaktion Stephan Trinius Matthias Jung

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