JOSEFINE KITZBICHLER

Übersetzen für eine imaginäre Bühne: Johann Gustav Droysens deutscher Aischylos

Als Johann Gustav Droysen 1832 seine Aischylos-Übersetzung veröffentlichte, waren deutsche Ausgaben griechischer Tragödien generell nicht für Aufführun- gen auf dem Theater, sondern für die Lektüre konzipiert. Zwar war im 18. Jahr- hundert in den Diskursen um eine Erneuerung des deutschen Theaters auch die Erneuerung der griechischen Tragödie auf der modernen Bühne schon gelegent- lich postuliert worden.1 Und es hatte auch bereits Versuche gegeben, antike Tra- gödien tatsächlich für die moderne Bühne zu adaptieren – man denke insbeson- dere an die Weimarer Aufführungen des Euripideischen Ion sowie der Antigone und des Oedipus von Sophokles in den Jahren 1802, 1809 und 1813; bei diesen (weitgehend erfolg- und folgenlosen) Aufführungen lagen allerdings keine ei- gentlichen Übersetzungen, sondern mehr oder minder freie Textbearbeitungen zugrunde.2 Im Blick zu behalten ist außerdem, dass auch die Verfügbarkeit der griechischen Tragiker in deutschen Ausgaben damals noch keineswegs selbstver- ständlich war: Von Sophokles existierten zwar bereits drei deutsche Gesamtaus- gaben (von Georg Christoph Tobler 1781, Friedrich Ast 1804, und Karl Wilhelm Ferdinand Solger 1808); den ganzen hatte aber bis dahin nur Friedrich Heinrich Bothe übersetzt (3 Bände, 1800–1803); Aischylos schließlich, der dun- kelste, ‚archaischste‘ der drei Tragiker, war für nicht des Griechischen mächtige Leser erst seit der 1826 erschienenen Übersetzung Heinrich Voß’ (des Sohnes vom -Übersetzer Johann Heinrich Voß) vollständig greifbar. Alle diese Übersetzungen sowie eine Anzahl von Ausgaben einzelner Stücke waren Pro- dukte einer Zeit, in der die literarische Übersetzung, zumal antiker Autoren, eine

1 Beispielsweise von Johann Georg Schlosser, der seine Übersetzung von Aischylos’ Prometh­ eus in Fesseln (Basel 1784) zwar nicht unmittelbar als Bühnenvorlage, aber ausdrücklich als Vorarbeit für künftige Aufführungen verstanden wissen wollte. In einem offenen Brief an den Schauspieler Friedrich Ludwig Schröder, der die Stelle einer Vorrede einnimmt, imaginiert Schlosser die Wirkung, die diese Tragödie auf einer Bühne haben würde, und erörtert den Nutzen von Inszenierungen antiker Dramen überhaupt: „Alles dieses mit einer mehr dichte- rischen Beredsamkeit dargestellt, als ich dem Stück geben konnte, mit alle der Würde, der Auszierung, der Deklamation, der Musik vorgetragen, könnte, dünkt mich, nicht fehlen, ein- mal unter den Neuern zu zeigen, was dann eigentlich Schauspiel ist? Und würde dieses dann einmal gesehen und geschmeckt worden seyn, so würde Ihr übriges Theater auf einmal sich von alle dem Wust sogenannt tragischer, in der That aber sehr platter Langweiligkeit reini- gen, womit Sie und Ihres gleichen so zu kämpfen haben.“ (S. 22f.) 2 Zu den Weimarer Inszenierungen vgl. Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike . Das griechi- sche Drama auf der Bühne . Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2., überarb. u. erw. Aufl., München 2009, S. 47-57. 190 Josefine Kitzbichler beispiellose Dynamisierung erfahren hatte – was indessen auch heißt, dass diese Arbeiten nicht selten den experimentellen Charakter von Ersterschließungen trugen und, jedenfalls nach philologischen Maßstäben und aus der Retrospek- tive, nur vorläufige Geltung haben konnten. Der pommersche Pastorensohn und spätere Historiker Johann Gustav Droy- sen, Jahrgang 1808, der in Stettin zur Schule gegangen war, kannte sicherlich ei- nige der genannten Übersetzungen, dürfte aber von den Weimarer Inszenierungs- versuchen kaum etwas gehört haben. Im Jahr 1826 kam er zum Philologie-Studium nach Berlin; hier entstand, noch während seiner Studienzeit, die Aischylos-Über- setzung. Sie wurde (nach längeren Verhandlungen mit verschiedenen Verlagen) 1832, ein Jahr vor dem Erscheinen von Droysens Geschichte Alexanders des Gro- ßen, in zwei Bänden im Berliner Verlag G. Finke gedruckt und nimmt damit die Position seines ersten opus magnum ein.3 Droysens Absicht war eine doppelte: Einerseits wollte er mit seiner Arbeit in Wettstreit mit der kurz zuvor erschienenen Aischylos-Übersetzung von Heinrich Voß treten – und damit auch mit der ganzen auf Johann Heinrich Voß’ Homer zurückgehenden Übersetzungsschule; im Vorwort polemisiert er denn auch (ohne Namensnennung, aber deutlich genug) gegen Voß.4 Andererseits wollte er die Aischyleischen Tragödien nicht bloß als literarische Texte präsentieren, son- dern als Dramen in den Kontexten von Bühnenpraxis, Kultus und politischer Ge- schichte nachvollziehbar machen. Im Nachwort der Übersetzung, das den Titel „Didaskalien“ trägt, heißt es: Sie [sc . die attische Tragödie] ist nicht wie die heutigen Dramen für ein Publikum, sondern für das Volk, nicht für einen phantasirten Raum, den Bretter und Leine- wand mehr oder minder störend verwirklichen, sondern mit unmittelbarer Bezie- hung auf das Athenäische Theater und auf die scenischen Mittel, die dasselbe darbot, gedichtet.5

3 Vgl. generell zu Droysens Aischylos-Übersetzung Manfred Landfester: „Droysen als Überset- zer und Interpret des Aischylos“, in: Stefan Rebenich/Hans-Ulrich Wiemer (Hg.): Johann Gustav Droysen . Philosophie und Politik – Historie und Philologie, /M. 2012, S. 29-61. Landfester geht in erster Linie auf übersetzungs- und wissenschaftsgeschichtliche Kontexte der Übersetzung Droysens ein und macht dabei namentlich den Einfluss Hegels auf Droy- sens Aischylos-Verständnis geltend; Droysens Interesse an Fragen der szenischen Realisie- rung wird dagegen nicht thematisiert. 4 Etwa durch indirekte Zitate aus Voß’ Übersetzung: „Und doch hat man sich gewöhnt, in Ue- bersetzungen alter Autoren Unbehülflichkeit für Treue, krasse Rohheit für antik zu nehmen; man findet es nicht widerlich, daß die schönen Danaostöchter in ‚Flausröcken‘ erscheinen; man glaubt sich auf dem lieblichen Wellenspiel antiker Rythmen [sic] zu wiegen, wenn der Vers auf plumpen Spondäen dahinstelzt oder in halsbrecherischen Kreuz- und Quersprün- gen sich selbst überschlägt.“ Aischylos: Werke . Uebersetzt von Joh . Gust . Droysen, Bd. 1, Berlin 1832, S. 9. – Droysen spielt hier an auf die Schutzflehenden V. 238, wo Heinrich Voß die Dana- ostöchter „im Barbarmantel dichtes Flauschgewirks“ auftreten lässt. – Zu Droysens Begriff des Übersetzens vgl. Josefine Kitzbichler: Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz . Johann Gustav Droysens -Übersetzung (1835/38), Berlin u.a. 2014, besonders S. 98- 108. 5 Aischylos: Werke (Anm. 4), Bd. 1, S. 161.