Aleksandra Zięba

Die Erweiterung der Europäischen Union in der AuSSenpolitik der Bundesrepublik Deutschland

Katowice 2011 Gutachter: Prof. Dr. habil. Erhard Cziomer Prof. Dr. habil. Franciszek Gołembski

Umschlaggestaltung: Zbigniew Kantyka

Layout: Przemysław Grzonka

© Copyright by Alesandra Zięba and UNIKAT 2 Katowice 2010

Der Wettbewerb um den Professor-Piotr-Dobrowolski-Preis wird von dem Institut für Politikwissenschaften und Journalismus der Schlesischen Universität betreut.

Die Publikationsreihe zum Professor-Piotr-Dobrowolski-Preis wird vom Zentrum für Innovation, Technologietransfer und Entwicklung, Stiftung der Schlesischen Universität Katowice, betreut.

Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und des Instituts für Politikwissenschaften, Universität Warschau.

Die Vergabe des Professor-Piotr-Dobrowolski-Preises steht unter der Schirm­ herrschaft seiner Magnifizenz des Rektors der Schlesischen Universität Katowice Prof. Dr. habil. Wiesław Banyś.

ISBN: 978‑83‑927686‑3‑0

Deutsche Übersetzung: Übersetzungsbüro ILS Peter-Christian-Seraphim

Druck: UNIKAT 2 Ul. Dzięciołów 9 40‑532 Katowice 3

Inhaltverzeichnis

Inhaltverzeichnis...... 3 Vorwort...... 7 Nachruf auf Professor Piotr Dobrowolski...... 9 Einführung...... 11 Kapitel I: Die Prämissen für das Interesse der Bundes­republik Deutschland an der Erweiterung der Europäischen Union...... 21 1. Überblick über die territoriale Erweiterung der Europäischen Integration...... 21 2. Politische Prämissen...... 25 2.1. Der Bedarf nach einer Festigung des demokratischen Wandels, der Stabilität und Sicherheit in Europa nach dem Ende des kalten Kriegs...... 25 2.2. Die Bedeutung der Türkei für die Sicherheit Deutschlands und Europas...... 31 2.3. Die Programmgrundlagen der deutschen Europapolitik...... 34 2.4. Die Konzeption der Rolle Deutschlands als einer „Zivilmacht“...... 36 2.5. Rückkehr zum Mitteleuropagedanken?...... 38 2.6. Der Koordinationsmechanismus der Europapolitik der Bundesrepublik...... 40 3. Ökonomische Prämissen...... 48 3.1. Der Bedarf nach Festigung der sozialen Marktwirtschaft in der Bundes­ republik...... 48 3.2. Der Bedarf nach Festigung der internationalen Wirtschaftsposition der Bundes­ republik ...... 52 4. Soziale Prämissen...... 58 4.1. Das Interesse der deutschen Gesellschaft an der Frage der EU-Erweiterung. 58 4.2. Vergangenheitsbewältigung und „moralische Pflicht“ der Deutschen...... 61 5. Schlussfolgerungen...... 62 Kapitel II: Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union...... 65 1. Schlüsselbegriffe...... 65 1.1. Politisches Konzept...... 65 1.2. Europäische Integration...... 66 1.3. Das Dilemma der „Vertiefung“ oder „Erweiterung“ der Union...... 72 2. Die Konzepte der deutschen Christdemokratie...... 74 2.1. Das Modell der „konzentrischen Kreise“...... 77 4 Inhaltverzeichnis 2.2. Die Konzeption des „harten Kerns“ der Union...... 78 3. Die Konzeptionen der SPD...... 85 3.1. „Verantwortung für Europa“...... 87 4. Die Konzeptionen der FDP...... 89 5. Die Konzeptionen der Grünen...... 93 5.1. Die Konzeption von Joschka Fischer...... 93 6. Die Standpunkte der deutschen Sozialpartner...... 96 6.1. Arbeitgeberverbände...... 96 6.2. Gewerkschaften...... 99 7. Schlussfolgerungen...... 102 Kapitel III: Die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten der EFTA...... 107 1. Etappe der Initiierung...... 107 1.1. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den EFTA-Staaten und den Europä­ ischen Gemeinschaften...... 107 2. Die Etappe der Assoziierung...... 112 2.1. Die Bildung der Europäischen Wirtschaftszone...... 112 3. Der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union...... 115 3.1. Die Frage der Neutralität ...... 115 3.2. Beitrittsanträge...... 118 4. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen...... 123 5. Schlussfolgerungen...... 130 Kapitel IV: Die Osterweiterung der Europäischen Union...... 133 1. Die Etappe der Initiierung...... 133 1.1. Handelsabkommen und die Normalisierung der politischen Beziehungen.....133 2. Die Etappe der Assoziierung...... 138 2.1. Assoziierungsabkommen ...... 138 2.2. Der deutsche Vorsitz in der Europäischen Union 1994 ...... 145 2.3. Die Vorbereitungen auf die Beitrittsverhandlungen...... 148 3. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen...... 153 3.1. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen...... 153 3.2. Der deutsche Vorsitz in der Europäischen Union 1999...... 155 3.3. Von Nizza nach Kopenhagen...... 158 3.4. Die Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien...... 161 4. Schlussfolgerungen...... 164 Kapitel V: Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten des Westbalkans und die Türkei...... 167 1. Die Europäische Perspektive des Westbalkans...... 167 1.1. Der Stabilitätspakt für Südosteuropa...... 168 1.2. Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess...... 171 1.3. Die Beitrittsverhandlungen Kroatiens...... 175 5 2. Der Weg der Türkei nach Europa...... 178 2.1. Die Etappe der Assoziierung...... 178 2.2. Die Zollunion...... 183 2.3. Die Türkei als Beitrittskandidat...... 190 2.4. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen...... 192 2.5. Eine Union für das Mittelmeer als Alternative zur EU-Mitgliedschaft...... 196 3. Schlussfolgerungen...... 199 Kapitel VI: Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland..201 1. Politische Folgen...... 201 1.1. Veränderungen der europäischen Geopolitik...... 201 1.2. Die Festigung der Sicherheit Deutschlands und Europas...... 203 1.3. Änderungen im Entscheidungsprozess der EU...... 208 1.4. Die Evolution der deutschen Europapolitik...... 212 2. Wirtschaftliche Folgen...... 216 2.1. Die Kosten der EU-Erweiterung...... 216 2.2. Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Außenhandel...... 217 2.3. Der Zustrom von Zuwanderern und seine Folgen für den Arbeitsmarkt...... 222 2.4. Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft...... 226 3. Ansichten und Einstellungen der deutschen Gesellschaft gegenüber den EU-Er- weiterungen...... 230 Schlussbemerkungen...... 235 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen...... 241 Literaturverzeichnis...... 243 6 Inhaltverzeichnis 7

Vorwort

Am 28. September 2010 wurde auf dem Kongress der Polnischen Gesell- schaft für Politikwissenschaft zum dritten Mal der Prof.-Piotr-Dobrowolski-Preis verliehen. Er wurde Frau Dr. Aleksandra Zięba zuerkannt, deren unter der Betreuung von Prof. Dr. habil. Stanisław Sulowski an der Universität Warschau verfasste Dis- sertation die besten Noten der Rezensenten erhielt. Das Buch bildet somit den dritten Band der DobrowolskiReihe. Prof. Piotr Dobrowolski war ein Vorreiter der Deutschlandforschung. Er lehr- te an Hochschulen im In und Ausland und betreute und begutachtete zahlreiche Arbeiten zu deutschpolnischen und Deutschlandfragen. Durch sein wissenscha- ftliches Wirken, sein immenses Wissen und die besondere Fähigkeit, seine Ideen an die Schüler weiterzugeben, wurde er zum Vorbild für viele junge Wissenschaftler, die heute die von ihm begonnene Forschungsarbeit fortsetzen. Nach dem Tod des Professors schrieb der Hauptvorstand der Polnischen Ge- sellschaft für Politikwissenschaft auf Anregung seiner Freunde und Schüler den Do- browolskiPreis für die besten Doktorarbeiten zur DeutschlandProblematik aus. Mit der praktischen Durchführung des Wettbewerbs wurde der Vorstand der Abte- ilung der Polnischen Gesellschaft für Politikwissenschaft in Katowice beauftragt. Der Wettbewerb dient nicht nur dem Gedenken an den Meister, sondern auch der Ver- breitung der Idee des friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Polen. Er lädt ein zum gegenseitigen Kennenlernen der Kulturen, ihrer Traditionen und Geschichte und weist auf mögliche Felder der kreativen Zusammenarbeit zwischen den Nachba- rvölkern hin. Der Wettbewerb findet großes Interesses und Unterstützung in akademischen und kommunalen Kreisen, bei Fachleuten, Theoretikern und Praktikern in verschie- denen Bereichen der deutschpolnischen Beziehungen und der Deutschlandforschung. Die Schirmherrschaft über das Vorhaben hat der Rektor der Schlesischen Universität Katowice Prof. Dr. habil. Wiesław Banyś übernommen. Außerdem wird der Wettbe- werb vom Marschall der Woiwodschaft Schlesien Bogusław Śmigielski, dem Zen- trum für Innovation, Technologietransfer und Entwicklung, der Stiftung der Schle- sischen Universität Katowice, der Stiftung für deutschpolnische Zusammenarbeit sowie dem Haus für deutschpolnische Zusammenarbeit unterstützt. 8 Vorwort ****** Wir danken all jenen, die zur Ausrichtung des Wettbewerbs beigetragen ha- ben, sehr herzlich, besonders Frau Prof. Teresa SasińskaKlas, der stellvertretenden Vorsitzenden des Hauptvorstands der Polnischen Gesellschaft für Politikwissenscha- ften, dank der die Ideen und Pläne Gestalt angenommen haben, und Prof. Roman Bäcker, dem amtierenden Präsidenten der Polnischen Gesellschaft für Politikwissen- schaft für seine Unterstützung. Wir danken Prof. Jan Iwanek, dem Direktor des In- stituts für Politikwissenschaften und Journalismus der Schlesischen Universität Ka- towice für die Betreuung des Wettbewerbs. Herzlicher Dank für ihre Unterstützung und wertvollen Anmerkungen gilt auch Frau Prof. Barbara Kożusznik, Prorektorin für studentische Angelegenheiten, Öffentlichkeitsarbeit und internationale Koope- ration, Prof. Wiesław Kaczanowicz, Dekan des Sozialwissenschaftlichen Fakultät, und Prof. Mieczysław Stolarczyk, Leiter der Fachschaft Internationale Beziehungen des Instituts für Politikwissenschaften und Journalismus der Schlesischen Universi- tät Katowice.

Agnieszka Turska‑Kawa Polnische Gesellschaft fur Politischewissenschaft – Abteilung Katowice 9

Nachruf auf Professor Piotr Dobrowolski

Meine fast 30-jährige Freundschaft mit Professor Piotr Dobrowolski kann in mindestens drei Zeiträume eingeteilt werden. Der erste, in dem ich als Student der Politikwissenschaft der Schlesischen Universität Katowice an seinen Vorlesungen als Hochschullehrer teilnahm. Der zweite, als er nach Beginn meiner Arbeit am In- stitut für Politikwissenschaft und Journalistik der Schlesischen Universität mein älte- rer, sehr freundschaftlicher Kollege und gleichzeitig auch 15 Jahre lang als Instituts- direktor mein Vorgesetzter war. Während dieser Zeit war er auch Rezensent sowohl meiner Dissertation als auch Habilitation. Der dritte Zeitraum sind die Jahre, in de- nen ich das Vergnügen hatte, sein Stellvertreter zu sein als stellvertretender Direktor für Forschung am Institut für Politikwissenschaften und Journalismus. Eine langjäh- rige enge Freundschaft, didaktische und wissenschaftliche Zusammenarbeit, und vor allem die große Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft des Professors, von der ich mich mehrmals überzeugen konnte, machen es mir schwer, in einer kurzen Erinnerung an ihn angemessene Worte zu finden, die nicht banal klingen. Deswegen möchte ich mich nur mit dem Gebiet seiner beruflichen Tätigkeit befassen. In meiner Erinnerung bleibt Professor Dobrowolski nicht nur als bescheidener, sehr freundlicher Mensch, begabt mit beeindruckender Ruhe, Kompromissbereitschaft und der Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen, sondern auch als Wissenschaftler von Format, For- scher, Autor zahlreicher Publikationen, darunter Bücher, in denen er sich mit Themen auseinandergesetzt hat, die sehr wichtig sowohl für die politische Theorie als auch die Praxis der internationalen Beziehungen sind. Seine Forschungsinteressen lassen sich in vier Themengruppen unterteilen: Deutschland-Problematik, Theorie der Poli- tik, Fragen der kommunalen Selbstverwaltung und Erforschung der Euro-Regionen. In diesen Bereichen veröffentlichte Professor Dobrowolski 8 umfangreiche Arbe- iten, über 80 Artikel und Rezensionen, die in Sammelbänden und Fachzeitschriften erscheinen sind, und redigierte oder beteiligte sich an der Redaktion von 15 geme- inschaftlichen Arbeiten. Die wissenschaftlichen Leistungen des Professors in diesen vier Bereichen sichern ihm einen hervorragenden Platz unter den polnischen Polito- logen, und erlauben es, ihn zu den Vorläufern derartiger Studien an der Schlesischen Universität Katowice zu zählen. Die größten Erfolge hatte Professor Dobrowolski jedoch in seinen Studien zu Deutschlandfragen. Seine gründlichen und sorgfältigen Analysen der aufgegriffenen Forschungsthemen waren gut dokumentiert und brach- 10 Nachruf auf Professor Piotr Dobrowolski ten ihm große Anerkennung bei den polnischen Deutschland-Experten. Mit Arbeiten wie Friedensforschung in der BRD. Organisation und Forschungsprobleme. Katowi- ce 1973, Das westdeutsche politische Denken und die friedliche Koexistenz und Ent- spannung. Warszawa – Kraków 1980, Die Bundesrepublik Deutschland und die Ent- spannungspolitik in den achtziger Jahren. Katowice 1989, Westdeutsche Konzepte der Entspannung und Friedensordnung in Europa. Opole 1990 hat sich Professor Piotr Dobrowolski als einer der größten Sachkenner der Deutschkunde erwiesen. Seine Arbeiten zur deutschen Friedensforschung und zum Prozess der friedlichen Koexistenz und Entspannung gehören zu den wertvollsten Früchten seiner wissen- schaftlichen Errungenschaften. Der Leitung des Instituts für Politikwissenschaft und Journalistik an der Schlesischen Universität Katowice sowie der Polnischen Gesellschaft für Politikwissenschaft – Abteilung Katowice sind Glückwunsch und Dank aus- sprechen für die Initiative und Veranstaltung einer weiteren Auflage des Prof.-Piotr- Dobrowolski-Wettbewerbs für die beste Doktorarbeit zur Deutschland-Problema- tik. Dies ist eine großartige Form der Würdigung unseres Kollegen und Freundes, des langjährigen Direktors des Instituts, vor allem aber des anerkannten Deutschlan- dexperten. Dabei ist besonders wichtig, dass die ausgezeichneten Arbeiten, wie auch die diesjährige, auf sehr hohem professionellen Niveau stehen. Ich gratuliere allen Autoren der ausgezeichneten Arbeiten und insbesondere der diesjährigen Preisträge- rin, Frau Dr. Aleksandra Zięba.

Mieczysław Stolarczyk Leiter der Fachschaft Internationale Beziehungen des Instituts für Politikwissenschaften und Journalismus der Schlesischen Universität Katowice 11

Einführung

Die europäische Integration ist eine Priorität der Außenpolitik der Bundes- republik Deutschland seit Beginn ihres Bestehens. In der Zeit der Teilung Europas infolge des Kalten Krieges sollte das Engagement Westdeutschlands für den Integ- rationsprozess jeder politischen Aktivität des neuen Staates auf internationaler Ebe- ne Glaubwürdigkeit verleihen. Die Hauptaufgabe der Diplomatie der Bonner Repu- blik war vor allem der Wiederaufbau des internationalen Vertrauens zu Deutschland und den Deutschen. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer war sich der Ängste und Befürchtungen der Nachbarn vor einer Renationalisierung Deutschlands und sei- ner Rückkehr zur kontinentalen Großmachtpolitik bewusst. Die europäische Integ- ration galt als „wirksamstes und vermutliche einziges Mittel, die Deutschen vor ich selbst zu schützen“1. Darüber hinaus gewährleistete sie den innenpolitischen Umbau der Bundesrepublik und trug zum wirtschaftlichen Erfolg des jungen Staates bei. Von Anfang an stellte die europäische Integration für die deutschen politischen Eli- ten einen bestimmten Wert dar, eine Gesamtheit von Symbolen: Demokratie, Freiheit des Einzelnen, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit. Indem sie sich dazu entschloss, ein „kleines“ aber demokratisches Deutschland aufzubauen, sah die Christdemokratie seinen Platz auf der Seite der demokratischen westlichen Staaten. Sie glaubte, dass dies das deutsche Volk vor neuerlichen Niederlagen bewahren würde wie jener schmerz- lichsten, in die der Nationalsozialismus das Land geführt hatte. Zudem hing die Un- terstreichung der ethisch-moralischen Bezüge zu den Ideen der Väter der europäischen Integration mit der Frage der erwarteten Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu- sammen. In der in der Bundesrepublik dominierenden christdemokratischen Konzepti- on sollte sich die deutsche Wiedervereinigung im Rahmen der europäischen Einigung vollziehen, deren Beginn der Schumanplan2 1950 eingeläutet hatte. Die deutsche Wiedervereinigung vollzog sich auf der Welle einer tief greifen- den Transformation der Weltordnung, des Zusammenbruchs des politischen Systems des real existierenden Sozialismus in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Der sym-

1 P.H. Spaak, Memoiren eines Europäers, Hoffmann & Campe, Hamburg 1969, S. 311. 2 Dieser Plan wurde am 9. Mai 1950 vom damaligen französischen Außenminister Robert Schuman vorgelegt. Er sah die Schaffung einer Europäischen Montanunion (Europäische Geme- inschaft für Kohle und Stahl) vor. Die Vereinbarung über die Errichtung dieser Institution wurde am 18. April 1951unterzeichnet und trat am 23. Juli 1952 in Kraft. 12 Einführung bolische „Fall“ der Berliner Mauer im November 1989 öffnete den Weg zur Um- setzung der christdemokratischen Konzeption der Wiedervereinigung Deutschlands im Folgejahr. Im Grunde genommen handelte es sich dabei um eine Inkorporation der DDR in die Bundesrepublik auf der Grundlage des Grundgesetzes von 1949, die mit der Einwilligung der vier Mächte, die für Deutschland als Ganzes verant- wortlich waren (also der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs) und der Akzeptanz der Nachbarstaaten, darunter Polen, erfolgte. Diese Osterweiterung der Bundesrepublik war zugleich ein wichtiger Schritt in Rich- tung der christdemokratischen Vision einer Einigung des Kontinents. Die Wiedervereinigung war die Verwirklichung des Rechts der Deutschen auf Selbstbestimmung in einer politischen Lage, in der auch die östlichen Nachbarn Deutschlands die Erlangung einer vollständigen Souveränität und Gestaltung ih- rer Verfassung gemäß dem Willen der Völker anstrebten. Indem sie den Reformweg einschlugen, nahmen die Länder Mittel- und Osteuropas den Aufbau des demokra- tischen Rechtsstaats, der Zivilgesellschaft und der Marktwirtschaft auf. Gleichzeitig vollzogen sie eine Neuorientierung ihrer eigenen Außenpolitik. Geschwächt wurden die bi- und polylateralen Bindungen im Rahmen des Ostblocks, der Mitte 1991 ganz zu bestehen aufhörte. Abgeschlossen wurde dieser große Wandel im Osten durch den Zusammenbruch der UdSSR gegen Ende desselben Jahres. Diese Ereignisse und diametralen Prozesse änderten die Rahmenbedingun- gen der Außenpolitik des vereinten Deutschland. Die politischen Eliten waren sich der Erwartungen seitens der Nachbarstaaten bewusst und engagierten sich sehr aktiv für den Aufbau der Europäischen Union und die Unterstützung der Beitrittskandida- ten, insbesondere der Staaten, die zur Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) gehörten, sowie der neuen Demokratien in Mitteleuropa. Die Bundesrepublik initiier- te und unterstützte die EU-Erweiterung, denn das entsprach ihren staatlichen Interes- sen und förderte die Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses, mit dem sie ihre Zukunft verknüpfte. Deutschland ist einer der Staaten, die eine Schlüsselrolle in der Europäischen Union und auf dem ganzen alten Kontinent spielen. Dies ergibt sich aus seiner erheb- lichen Wirtschaftskraft, dem Bevölkerungspotenzial und der zentralen Lage in Eu- ropa. Der Kern der deutschen Konzeption der europäischen Entwicklung ist die Idee der internationalen Zusammenarbeit und der Stabilisierung des internationalen Um- felds. Deutschland spielte – zusammen mit Frankreich – die Rolle eines „Motors“ der europäischen Integration, insbesondere in seinen Bestrebungen für eine „Vertie- fung“ und „Erweiterung“ der Europäischen Union. Gegenwärtig lässt sich jedoch ein Nachlassen des Engagements der Bundesrepublik für den Erweiterungsprozess verzeichnen. Im Zuge der zunehmenden inneren Probleme, die durch die Reform des Sozialstaats und die globale Wirtschaftskrise, von der Deutschland besonders be- troffen war, verursacht wurden, zeigt sich die deutsche Außenpolitik mehr und mehr pragmatisch und weniger idealistisch. 13 In diesem Buch wird das Problem der Erweiterung der Europäischen Union in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland erörtert. Der Kontext ist das über- geordnete Problem der EU-Erweiterung als Herausforderung an die gesamte Union und alle ihre Mitgliedsstaaten. Dies ist untrennbar verknüpft mit dem komplizierten Pro- blem der Vertiefung der Integration durch Reformen der Institutionen der Europäischen Union. Diese gegenseitige Abhängigkeit trat insbesondere dann zu Tage, als die EU vor der Aufgabe der Erweiterung ihres Gebiets um die Staaten Mitteleuropas stand. Da- bei wurden nämlich auch eine Erweiterung der Zusammensetzung der EU-Institutionen und eine Änderung der Prozeduren der Entscheidungsfindung notwendig. Diese Frage muss auch im Kontext des Vorgehens der Beitrittsländer betrachtet werden. Die ge- nannten Umstände bedingen, dass das Thema dieser Veröffentlichung einen wichtigen und kontextreichen Forschungsgegenstand der Politikwissenschaft berührt. Auf dem polnischen Markt liegen keine komplexeren Untersuchungen über die EU-Erweiterung in der Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland vor. In er Regel wird das Thema von Autoren aufgegriffen, die weiter gefasste As- pekte der Außenpolitik Deutschlands oder der internationalen Beziehungen in Eu- ropa untersuchen, unter anderem von Erhard Cziomer, Bogdan Koszel, Mieczysław Stolarczyk, Stanisław Sulowski und anderen. Fragmentarisch kommen sowohl in der polnischen als auch der deutschen Fachliteratur Fragen vor, die mit dem Beitritt der Staaten der EFTA-Zone zusammenhängen. Es mangelt an Analysen, die eine Ver- bindung mehrerer Elemente darstellen: der Faktoren (Prämissen) für das Engagement der Bundesrepublik Deutschland für die EU-Erweiterung, der Rolle der Bundesre- publik in den einzelnen Etappen (Initiierung, Assoziierung, Verhandlungen, Beitritt) der Erweiterung, der Bewertung und der Folgen dieser Prozesse für Deutschland. Damit soll eine Lücke im polnischen Forschungsstand geschlossen werden. Das Thema dieses Buches ist von großer politischer und sozialer Relevanz. Es betrifft einen der wichtigsten politischen Prozesse in der Geschichte Europas nach dem Kalten Krieg. Mit der EU-Erweiterung verknüpfen die Deutschen ihre wichtigs- ten staatlich-nationalen Interessen. Für die Völker, die ihre Mitgliedschaft in dieser integrativen Organisation gewonnen haben oder diese gegenwärtig anstreben, ver- binden sich mit ihr ihre Aspirationen auf wirtschaftliche Entwicklung, Sicherheit und zivilisatorischen Fortschritt. Für Deutsche, Finnen, Polen, Tschechien, Rumänen oder Türken erscheint die Europäische Union als ein Zug in Richtung eines besseren und sichereren Lebens. Deshalb lohnt sich der Aufwand, eine Analyse der Problema- tik der EU-Erweiterung, und sei es nur aus deutscher Sicht, vorzunehmen. Aus einem besseren Verständnis der Vorgaben, Konzeptionen und Maßnahmen der Bundesrepu- blik für eine Erweiterung der Europäischen Union können sich wertvolle und prakti- sche Schlussfolgerungen für Polen ergeben. Das vorliegende Buch kann sich als hilfreich erweisen für eine bessere Vor- bereitung der Leser auf die Hochschullehre in solchen Studiengängen wie Politik- wissenschaften, Europäistik, internationale Beziehungen. 14 Einführung Der Forschungsansatz beruft sich auf unseren derzeitigen Wissensstand, der sich in folgenden Thesen zusammenfassen lässt: Zum ersten ist die Europäische Union ein Integrationsprojekt, dass sich auf die demokratischen Staaten des europäi- schen Kulturkreises bezieht und als solches von ihrer Erweiterung ausgeht, so wie es schon zuvor bei den Europäischen Gemeinschaften der Fall war. Zum zweiten sind die Hauptbefürworter dieser Erweiterungen Deutschland und Frankreich. Diese bei- den Staaten sind zudem Anhänger einer Verknüpfung der EU-Erweiterung mit ei- ner Vertiefung der Integration innerhalb der Union. Zum dritten ist es in Deutschland üblich, die so genannte Europapolitik aus der Gesamtheit der deutschen Politiken auszugliedern. Zum vierten trägt die territoriale Erweiterung der Integration zur Fes- tigung von Frieden und Sicherheit in Europa bei. Zum fünften wirken die Euro- päischen Gemeinschaften und die Europäische Union wie ein Magnet, der Staa- ten anzieht, die bestrebt sind, ihre Entwicklung zu beschleunigen und dauerhaft zu sichern. Dies bezieht sich in erster Linie auf schwächer entwickelte Staaten, darunter auf die mitteleuropäischen Staaten im Transformationsprozess, aber auch auf die Türkei. Zum sechsten erwiesen sich die Folgen der Erweiterung der Europä- ischen Gemeinschaften in den Jahren 1973, 1981 und 1986 als positiv für die Bei- trittsstaaten, was einen zusätzlichen Ansporn für neue Beitrittskandidaten darstellte. Zum siebten hat die Erweiterung der Europäischen Union, die bereits nach dem Ende der europäischen Teilung im Rahmen des Kalten Krieges erfolgte, keine Befürch- tungen erweckt, es könne um eine Erweiterung des westlichen Staatenblocks gehen. Zum achten ruft jede Erweiterung der EU bestimmte Probleme für die deutsche Po- litik hervor, da Deutschland zwar Nutzen daraus zieht, aber als größter Nettozahler an den EU-Haushalt auch erheblich Kosten tragen muss. Das Ziel dieser Monografie ist es, das Engagement Deutschlands für die Erwei- terung der Europäischen Union um die Staaten der EFTA, Mitteleuropas und des Mittel­ meerraums sowie die Vorbereitungen für einen eventuellen Beitritt der westlichen Bal- kanstaaten und der Türkei aufzuzeigen. Die Autorin unternimmt dabei den Versuch, die Folgen der EU-Erweiterung für Deutschland zu signalisieren. Dazu sind einige detaillierte Fragen zu stellen. Zum ersten: Welche sind die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prämissen für das Interesse des verei- nigten Deutschland an der EU-Erweiterung? Zum zweiten: Wie sahen die Konzepti- onen der ichtigsten politischen Parteien und Sozialpartner für die EU-Erweiterung aus? Gab es unter ihnen Diskrepanzen oder darf man von einer gemeinsamen deut- schen Vision für die EU-Erweiterung ausgehen? Zum dritten: Warum sah und sieht Deutschland die EU-Erweiterung im Zusammenhang mit der Vertiefung der euro- päischen Integration und einer institutionellen Reform der Union? Zum vierten: Wie bewertete die Regierung der Bundesrepublik die einzelnen Gruppen der Bei- trittskandidaten – die EFTA-Staaten, die mitteleuropäischen Staaten, die Mittel- meerländer, die Länder des westlichen Balkan und die Türkei? Zum fünften: Wel- che Haltung nahm die Regierung der Bundesrepublik im Verlauf der Erweiterungen 15 um die EFTA-Staaten, die mitteleuropäischen und Mittelmeerländer bei der Initiie- rung, Assoziierung und den Beitrittsverhandlungen ein? Welche Maßnahmen wur- den ergriffen? Zum sechsten: Wie verhält sich die Regierung der Bundesrepublik im Verlauf der Vorbereitungen zur EU-Erweiterung um die Staaten des westlichen Balkan, wie sieht sie die Beitrittskandidatur der Türkei? Zum siebten: Welche sind die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland und wie werden sie von der deutschen Gesellschaft bewertet? Die These dieses Buches ist, dass Deutschland sich sehr aktiv für die EU-Er- weiterung um die Staaten der EFTA und Mitteleuropas eingesetzt hat und diesen Pro- zess mit Maßnahmen für eine Vertiefung der europäischen Integration verknüpft hat. Auf diese Weise hat Deutschland versucht, seine staatlichen Interessen zu verfolgen, also die Gewährleistung von Wohlstand, Sicherheit und Fortschritt für die Deutschen in einem friedlichen und kooperierenden Europa. Durch ihr Eintreten für eine Erwei- terung der EU versucht die Bundesrepublik ihre Glaubwürdigkeit als demokratischer, friedlicher und anderen gegenüber freundlich eingestellter Staat, der die Schaffung einer europäischen Föderation anstrebt, zu bestätigen. Dies bedeutet, dass die deut- sche Politik der EU-Erweiterung vor einer weiteren großen Herausforderung steht. Zudem zeigen sich Anzeichen für den Versuch einer Neudefinierung der Europapo- litik der Bundesrepublik. Die Frage der Erweiterung der Europäischen Union in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland wird hier von einem interdisziplinären Ansatz aus betrachtet, wie er den Politikwissenschaften eigen ist und der verschiedene Forschungsmethoden der Gesellschaftswissenschaften vereint. Untersucht wer- den die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und der Staaten, die sich um die Mitgliedschaft in der EU und den europäischen Institutionen bewerben, der Fortschritt der Assoziation der Beitrittskandidaten sowie die Standpunkte, Po- lemiken und Resultate der Beitrittsverhandlungen. Die so erhaltenen Erkenntnisse erleichterten die Analyse und kritische Bewertung der von diesen Subjekten her- ausgegebenen Dokumente. Analysiert wurden vor allem Informationen aus offi- ziellen Verlautbarungen der Regierung, des Bundestags, der Institutionen der EU und der deutschen Presse (u.a. „Berliner Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zei- tung“, „Süddeutsche Zeitung“, „Tageszeitung“, „Die Welt“), aber auch Nachrichten in Rundfunk, Fernsehen und Internet. Das vorliegende Buch ist zudem ein Ergebnis von Forschungsaufenthalten in Deutschland, unter anderem an der Universität Konstanz, der Johann-Gutenberg- Universität Mainz und der Christian-Albrecht-Universität Kiel. Diese Aufenthalte er- möglichten vor allem das Kennenlernen der Ansichten und Meinungen von Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern zu relevanten Aspekten der EU-Erweiterung. Dargestellt wurden die Haltungen der aufeinanderfolgenden Bundesregie- rungen der Koalitionen CDU/CSU-FDP, SPD-Bündnis 90/Grüne, CDU/CSU-SPD und gegenwärtig CDU/CSU-FDP im Vergleich mit den Haltungen anderer EU-Staaten. 16 Einführung Außerdem wurde die Einstellung der Bundesrepublik gegenüber den einzelnen Bei- tragskandidaten analysiert und in zahlreichen Diagrammen und Tabellen präsentiert. Ein zeitliche Zäsur stellt die Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990 dar, wie auch die Öffnung der Europäischen Gemeinschaften für die Staaten, die ihre EU-Mitgliedschaft bis Frühjahr 2010 anstrebten, als die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei im Gange waren und weitere Kandidaten ihren Willen zum Beitritt bekundeten (Island im Juli 2009). Das Buch besteht aus sechs Kapiteln, welche die einzelnen Etappen der Untersu- chungen wiederspiegeln. Kapitel 1 stellt eine Einführung in die Untersuchung des Prob- lems dar. In ihm wird die Geschichte der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften vor der Entstehung der Europäischen Union nachvollzogen. Sein Hauptteil ist die Prä- sentation der Prämissen für das Interesse Deutschlands an der EU-Erweiterung. Die- se Prämissen sind in drei Gruppen eingeteilt. In der Gruppe der politischen Prämissen wird auf den Bedarf an einer Unterstützung der demokratischen Veränderungen, der Sta- bilität und Sicherheit in Europa nach dem Kalten Krieg, die programmatischen Grund- lagen der Europapolitik der Bundesrepublik, die Konzeption der Rolle Deutschlands als einer „zivilen Großmacht“, die Idee der Rückkehr zum Mitteleuropa-Gedanken ein- gegangen. Darüber hinaus wird der Mechanismus der Koordinierung der Europapolitik der Bundesrepublik präsentiert, wobei die Komplexität der Erarbeitung der einzelnen Entscheidungen und die Rolle der einzelnen Entscheidungsträger akzentuiert wurden. Unter den wirtschaftlichen Prämissen werden behandelt: Der Bedarf an einer Festigung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und das Streben nach einer Stärkung der in- ternationalen Position der deutschen Wirtschaft. Als soziale Prämissen werden das Inte- resse der deutschen Gesellschaft an der EU-Erweiterung, die Erinnerung an die Vergan- genheit und die „moralischen Verpflichtungen“ der Deutschen genannt. Im zweiten Kapitel wird der Versuch unternommen, die deutschen Konzep- tionen der EU-Erweiterung eingehend zu erörtern. Ausgangspunkt ist eine Klärung der Schlüsselbegriffe, die in diesen Konzeptionen auftauchen. Gegenstand der Ana- lyse sind die Konzeptionen der Parteien, die in den Jahren 1990-2010 an der Regie- rung waren, also CDU/CSU, FDP, SPD, Bündnis 90/Grüne, sowie der wichtigsten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Aufgrund ihres besonderen politischen Gewichts wurden im Rahmen der Darstellung der Konzeptionen der deutschen Christ- demokraten das Modell der „konzentrischen Kreise“ sowie die Beiträge von Wolf- gang Schäuble und Karl Lamers gesondert dargestellt. Bei der Analyse der sozial- demokratischen Konzeptionen wiederum wird das Programmpapier Verantwortung für Europa von 2001 eingehender betrachtet. Im Unterkapitel über die Konzeptionen der Grünen nehmen die Ansichten von Joschka Fischer (Außenminister der Bundes- republik in den Jahren 1998-2005) zur Europäischen Integration breiteren Raum ein. Sie alle enthalten Visionen, Ziele, geplante Aufgaben, vorgeschlagene Maßnahmen und Methoden für die Entwicklung der europäischen Integration. Sie geben die Er- wartungen wieder und definieren die erwünschten Resultate. 17 Den Kern des Buches stellen das dritte, vierte und fünfte Kapitel dar. Die ers- ten beiden beschäftigen sich mit der Analyse der Erweiterung der Europäischen Uni- on um die EFTA-Staaten (Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen – des- sen Einwohner sich in einem Volksentscheid gegen den Beitritt aussprachen) sowie der Staaten Mitteleuropas (Estland, Litauen, Lettland, Polen, Tschechien, die Slowa- kei, Slowenien und Ungarn, später Bulgarien und Rumänien) und des Mittelmeer- raums (Zypern und Malta). In beiden – ähnlich angelegten – Kapiteln wird die Rolle Deutschlands bei der Initiierung, Assoziierung des Beitritts, den Beitrittsverhandlun- gen und des Beitritts selbst untersucht. Das fünfte Kapitel untersucht die Beteiligung Deutschlands an den Vorbereitungen der Europäischen Union auf ihre Erweiterung um die Staaten des westlichen Balkan und die Türkei. Analysiert wird die Gestal- tung der so genannten europäischen Perspektive für die westlichen Balkanstaaten, also die Staaten des ehemaligen Jugoslawien und Albanien: der Stabilitätspakt für Eu- ropa, das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien. Ein wesentlicher Teil dieses Kapitels ist die Darstellung der deut- schen Haltung zur türkischen Beitrittskandidatur mit allen Mäandern, Argumenten Für und Wider sowie den vorgelegten Ersatzlösungen. Im letzten, sechsten, Kapitel wurden die Folgen der bisherigen EU-Erwei- terungen für Deutschland auf politischer und wirtschaftlicher Ebene aufgeführt. Als politische Konsequenzen wurden die folgenden Phänomene behandelt: die Ver- änderung der europäischen Geopolitik, die Festigung der Sicherheit für Deutsch- land und Europa, Veränderungen im Entscheidungsprozess der EU, die Evolution der deutschen Außenpolitik. Als wirtschaftliche Konsequenzen wurden behandelt: die Kosten der EU-Erweiterungen, der Anstieg des deutschen Außenhandels, der Zu- strom von Zuwanderern und seine Folgen für den Arbeitsmarkt, die Entstehung neuer Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft. Das Kapitel schließt mit einer Prä- sentation der wichtigsten Bewertungen, die seitens der deutschen Gesellschaft vor- gebracht wurden. Alle Kapitel, mit Ausnahme des letzten, das einen abschließenden, zusam- menfassenden Charakter hat, sind mit kurzen Schlussfolgerungen versehen, die un- ter anderem auf die in der Einleitung formulierten Ziele zurückgreifen. Der Arbeit ist eine umfangreiche Bibliografie beigefügt, die eine Liste der ver- wendeten Dokumente, Bücher, Artikel und Kapitel in Sammelarbeiten enthält. Die Grundlage des Quellmaterials stellen die offiziellen Dokumente der Bun- desregierung (z. B. Informationsbulletins der Bundesregierung) und des Bundes- tags, der deutschen politischen Parteien (Programme, Parteitagsbeschlüsse), von Ar- beitgeberverbänden und Gewerkschaftszentralen, Regierungen der Beitrittsstaaten und Organen der EU sowie Interviews und Reden von Politikern dar. Die meisten Dokumente wurden in der Originalversion aus amtlichen Veröffentlichungen und of- fiziellen Webseiten der jeweiligen Subjekte verwendet. Nur bei den bekanntesten Dokumenten wurde auf veröffentlichte Textsammlungen zurückgegriffen. 18 Einführung Die Fachliteratur zu diesem Thema ist verstreut. In den meisten Fällen be- zieht sie sich auf die Analyse der Haltung und der Maßnahmen der Bundesrepublik bei der Erweiterung um die Staaten Mitteleuropas und gegenüber den Beitrittsaspi- rationen der Türkei. Diese Sachlage ist verständlich angesichts des erheblichen Ge- wichts der in den Jahren 2004 und 2007 vollzogenen EU-Erweiterungen, aber auch hinsichtlich der nach wie vor hohen Aktualität des Themas. Wesentlich weniger Pu- blikationen, darunter auch bezüglich der deutschen Haltung, liegen vor über die Er- weiterung der EU um die skandinavischen Staaten und Österreich. Als überaus nützlich haben sich zahlreiche Sammelveröffentlichungen er- wiesen, in denen die Europapolitik der Bundesrepublik einer eingehenden Analyse unterzogen wirf, herausgegeben unter anderem von Wolfgang Weidenfeld3, Thomas Jäger, Alexander Höse und Kai Oppermann4, Karl Kaiser und Hanns W. Maull5, Bar- bara Lippert6, Heinrich Schneider, Mathias Jopp und Uwe Schmalz7, sowie Arbei- ten und Expertisen von deutschen Forschungsinstituten wie dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Poli- tik (DGAP), der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), dem Zentrum für Türkeistudien (ZfTS). Verwendet wurden zudem Veröffentlichungen anerkannter polnischer Ex- perten für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland wie Erhard Cziomer8,

3 Die doppelte Integration: Europa und das größere Deutschland. Eine Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung innerhalb der Reihe „Strategien und Optionen für die Zukunft Europas“, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2001; Deutsche Europapolitik. Optionen wirksamer Interes­ senvertretung, Europa Union Verlag, Bonn 1998. 4 Deutsche Außenpolitik: Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, VS Verlag für So- zialwissenschaften, Wiesbaden 2007. 5 Deutschlands neue Außenpolitik, Bd. 1, 2, R. Oldenbourg Verlag, München 1994, 1995. 1994; H.W. Maull (ed.), ’s Uncertain Power. Foreign Policy of the Berlin Republic, Palgrave Macmillan, Basingstoke 2006. 6 Bilanz und Folgeprobleme der EU-Erweiterung, Institut für Europäische Politik, Nomos, Berlin 2004. 7 Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder – Optionen, Eu- ropa Union Verlag, Bonn 2002. 8 Historia Niemiec Współczesnych 1945–2005 /Geschichte des heutigen Deutschland/, Wy- dawnictwo Neriton, Warszawa 2006; Polityka zagraniczna Niemiec. Kontynuacja i zmiana po zjed­ noczeniu ze szczególnym uwzględnieniem polityki europejskiej i transatlantyckiej /Die deutsche Außenpolitik. Kontinuität und Wandel nach der Vereinigung unter besonderer Berücksichtigung der europäischen und transatlantischen Politik/, Dom Wydawniczy ELIPSA, Warszawa 2005; Ders. (Hrsg.), Nowa rola międzynarodowa Niemiec /Die neue internationale Rolle Deutschlands/, „Kra- kowskie Studia Międzynarodowe“ 2006 (III), Nr. 4; Niemcy wobec dylematów i wyzwań przyszłego kształtu Unii Europejskiej po jej poszerzeniu /Deutschland gegenüber den Dilemmas und Herausfor­ derungen der zukünftigen Gestalt der Europäischen Union nach ihrer Erweiterung/, [in:] Mieczysław Stolarczyk (Hrsg.), Unia Europejska i Polska wobec dylematów integracyjnych na początku XXI wie­ ku /Die Europäische Union angesichts der Integrationsdilemmas am Beginn des 21. Jahrhunderts/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2006 s. 307–323; Niemcy wobec bezpieczeństwa i stabilizacji na Bałkanach ze szczególnym uwzględnieniem konfliktu w Kosowie u progu XXI wieku /Deutschland gegenüber der Sicherheit und Stabilisierung auf dem Balkan unter besonderer Berücksichtigung des 19 Bogdan Koszel9, Mieczysław Stolarczyk10, Józef Olszyński11 und Stanisław Sulow- ski12, aber auch die allgemeinen und regionalen Fragen in Europa gewidmete wert- volle Arbeit von Franciszek Gołembski13.

Kosowokonflikts zu Beginn des 21. Jahrhunderts/, „Prace Komisji Środkowoeuropejskiej Polskiej Akademii Umiejętności“ 2001, Bd. IX, S. 231-248. 9 Integracja Turcji z Unią Europejską z perspektywy RFN /Die Integration der Türkei mit der Europäischen Union aus der Perspektive der BRD/, „Zeszyty Instytutu Zachodniego“ 52/2009, In- stytut Zachodni, Poznań 2009; Polska i Niemcy w Unii Europejskiej. Pola konfliktów i płaszczyzny współpracy /Polen und Deutschland in der Europäischen Union. Konfliktfelder und Ebenen der Zu­ sammenarbeit/, Instytut Zachodni, Poznań 2008; Francja i Niemcy w procesie integracji Polski ze Wspólnotami Europejskimi / Unią Europejską /Frankreich und Deutschland im Prozess der In­ tegration Polens mit den Europäischen Gemeinschaften/, Instytut Zachodni, Poznań 2003; Mitte­ leuropa rediviva? Europa Środkowo- i Południowo-Wschodnia w polityce zjednoczonych Niemiec / Mitteleuropa rediviva? Mittel- und Südosteuropa in der Politik des vereinten Deutschland/, Instytut Zachodni, Poznań 1999. 10 Podział i zjednoczenie Niemiec jako elementy ładów europejskich po drugiej wojnie światowej /Teilung und Vereinigung Deutschlands als Elemente der europäischen Ordnungen nach dem 2. Weltkrieg/, Wydawnictwo Uniwersytetu Śląskiego, Katowice 1995; Europejski wymiar sto­ sunków polsko-niemieckich (niektóre aspekty) /Die europäische Dimension der polnisch-deutschen Beziehungen/, „Rocznik Nauk Politycznych“ 2002 (IV), Nr. 4, S. 11-33. 11 Czynniki determinujące pozycje Niemiec w Unii Europejskiej /Determinierende Faktoren der Position Deutschlands in der Europäischen Union/, [in:] Marzena A. Weresa (Hrsg.), Niemcy w Unii Europejskiej. Ekonomiczna rola Niemiec /Deutschland in der Europäischen Union. Die wirt­ schaftliche Rolle Deutschlands/, Bd. 1, Szkoła Główna Handlowa w Warszawie, Warszawa 2004, S. 19-45; Niemieckie koncepcje integracji Europy /Die deutschen Konzeptionen für die europäische Integration/, [in:] Witold Małachowski (Hrsg.), Polska – Niemcy a rozszerzenie Unii Europejskiej / Polen – Deutschland Und die Erweiterung der Europäischen Union/, Bd. 1, Szkoła Główna Handlo- wa w Warszawie/Oficyna Wydawnicza, Warszawa 2004, S. 75-127. 12 Polityka europejska Republiki Federalnej Niemiec /Die Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland/, Elipsa, Warszawa 2004; Uwarunkowania i główne kierunki polityki zagranicznej RFN /Bedingungen und Hauptrichtungen der Außenpolitik der BRD/, Elipsa, Warszawa 2002. 13 Droga Turcji do Unii Europejskiej: stan i perspektywy /Der Weg der Türkei in die Eu­ ropäische Union: Stand und Perspektiven/, „Studia i Materiały“, PISM, Warszawa 1994; Polityka bezpieczeństwa Rumunii, Mołdowy i Bułgarii /Die Sicherheitspolitik von Rumänien, Moldawien und Bulgarien/, Wydawnictwo Adama Marszałek, Toruń 1996; Kulturowe aspekty integracji europej­ skiej /Kulturelle Aspekte der europäischen Integration/, Wydawnictwa Akademickie i Profesjonalne, Warszawa 2008; Ders. (Hrsg.), Tożsamość europejska /Die europäische Identität/, Instytut Nauk Po- litycznych Uniwersytetu Warszawskiego, Warszawa 2005.

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KAPITEL I

Die Prämissen für das interesse der Bundes­ republik Deutschland an der erweiterung der Europäischen Union

1. Überblick über die territoriale Erweiterung der Europäischen Integration

Eines der wichtigsten, wenn auch nicht am stärksten exponierten Zie- le der europäischen Integration war von Anfang an die Sicherung des Friedens für die von den Kriegserfahrungen hart geprüften Völker Europas. Der Integrations- prozess wurde nur wenige Jahre nach Beendigung nach dem Ende des 2. Weltkriegs als Antwort auf die historischen Fehler der jüngsten Vergangenheit in Gang gesetzt. Initiiert wurde er unter anderem von Frankreich und der Bundesrepublik Deutsch- land, Ländern, die sich nur wenige Jahre zuvor in erbitterter Feindschaft gegenüber- standen. Die wirtschaftliche Integration schuf solide Fundamente für die demokrati- sche und friedliche Entwicklung der an diesem Prozess beteiligten Staaten. Die Staaten Westeuropas schufen, indem sie sich für die Integration entschie- den, der Reihe nach mehrere gemeinsame Märkte: für Industriewaren, Agrarerzeug- nisse, Dienstleistungen, Kapitalverkehr und Arbeitskräfte. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts erreichten sie so eine vollständige Wirtschafts- und Wäh- rungsunion sowie enge Bindungen im sozialen und rechtlichen Bereich, aber auch eine weitreichende Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Dies alles floss in die 1993 gegründete Europäische Union ein. Das endgültige Ziel des Inte- grationsprozesses (finalité européenne) wurde allerdings bis heute nicht eindeutig festgelegt. Die Suche nach jener finalité européenne dauert nun schon über ein halbes Jahrhundert an. Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stellten sich die Initiatoren der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) das ehrgeizige Ziel nicht nur der Integration der Schwerindustrie der sechs Grün- derstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande und Italien). Davon zeugen die nicht realisierten Projekte der Schaffung einer Wehrgemeinschaft 22 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… und einer Europäischen Politikgemeinschaft.1 Als sie einige Jahre später die Euro- päische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG, Euratom) ins Leben riefen, verkündeten diese Staaten deutlich, dass sie wirt- schaftliche Integration zur Festigung von Frieden und Freiheit in Europa führen soll- te. In der Präambel des am 25. März 1957 unterzeichneten Vertrags von Rom nannten sie als eines der Motive für die Einrichtung der EWG ihren Willen, „durch Zusam- menschluss ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen“ und riefen „ die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel be- kennen“ dazu auf, „sich diesen Bestrebungen anzuschließen.“, also der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.2 Wiederholt haben in der Geschichte der europäischen Integration jene „an- deren Völker Europas“ von dieser Einladung Gebrauch gemacht (siehe Tabelle 1). Die Europäischen Gemeinschaften erweiterten sich in drei Richtungen: nach Nord- westen (1973), nach Süden (1981 und 1986) und nach Norden (1995). Die Verände- rungen, die sich in den achtziger Jahren in Mittel- und Osteuropa vollzogen, ermög- lichten dann die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten (2004) und nach Südosten um die Balkanstaaten Bulgarien und Rumänien (2007). Die erste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften war durch wirtschaft- liche Interessen bedingt. Die Verhandlungen wurden im Juni 1970 mit Dänemark, Großbritannien, Irland und Norwegen aufgenommen. Der Vertrag über den Beitritt dieser vier Staaten zu EWG und Euratom wurde am 22.Januar 1972 unterzeich- net; er implizierte zudem ihren Beitritt zur Montanunion (EGKS). Nach Abschluss der Ratifizierungsprozedur traten die Beitrittsverträge am 1. Januar 1973 in Kraft. Dies war die erste Norderweiterung der Europäischen Gemeinschaften um drei Staa- ten: Dänemark, Großbritannien und Irland, 53,5% der Norweger sprachen sich in ei- nem Volksentscheid gegen den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften aus. Im Jahr 1981 trat Griechenland den Europäischen Gemeinschaften bei, 1986 folgten Portugal und Spanien. Die Aufnahme dieser Staaten wird als Süderweite- rung bezeichnet. Das dominierende Motiv bei der Unterstützung der Mitgliedschaft Griechenlands und der Staaten der iberischen Halbinsel war das Bestreben nach ei- ner Stärkung der demokratischen Prozesse auf dem europäischen Kontinent. Die Sü- derweiterung ließ den Vorrang politischer Prämissen vor wirtschaftlichen erkennen

1 Eingehender vgl.: K. Łastawski, Historia integracji europejskiej /Geschichte der europäi­ schen Integration/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2006, S. 98-113; R. Cardozo, The project for Political Community, [in:] R. Pryce (ed.), The dynamics of the European Union, Croom Helm, London 1987, S. 52 i n.; E. Fursdon, The European Defence Community: A History, St Martin’s Press, New York 1980; H. Wallace, W. Wallace (ed.), Policy-making in the European Union, Oxford University Press, Oxford 1997, S. 411-412; A. Podraza, Unia Europejska /Die Europäische Union/, Wydawnictwo KUL, Lublin 1999, s. 29-33; K. Wiaderny-Bidzińska, Polityczna integracja Europy Zachodniej /Die politische Integration Westeuropas/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2000, S. 91-97. 2 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Rom, 25, März 1957, Quelle: http://eur-lex.europa.ed/de/treaties/dat/12002E.html (Dezember 2010) Überblick über die territoriale Erweiterung der Europäischen Integration 23 Geplante Potenzielle Erweiterungen Anwärterstaaten und Herzegowina Montenegro Serbien Island* Kroatien* Mazedonien** Türkei** Albanien Bosnien (2007) Balkanstaaten Bulgarien Rumänien (2004) Osterweiterung Estland Lettland Litauen Malta Polen Slowenien Slowakei Tschechien Ungarn Zypern II (1995 ) Finnland Österreich Schweden Norderweiterung (1981, 1986) Süderweiterung Griechenland (1981) Portugal (1986) Spanien (1986)

I Tabelle 1. Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften/der Union Tabelle (1973) Dänemark Großbritannien Irland Norderweiterung dessen Aufnahme in die EU bis 2012 wahrscheinlich ist Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hat und dessen * Staat, der bereits einen Aufnahme in die EU nach 2012 wahrscheinlich ist Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hat und dessen ** Staat, der bereits seinen Quelle: eigene Zusammenstellung (1952/1958) Gründerstaten Belgien BRD Frankreich Italien Luxemburg Niederlande 24 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… und änderte das Bild des sich einigenden Europa als eines Fürsprechers für Demo- kratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit.3 Österreich stellte seinen Antrag auf Mitgliedschaft am 17. Juli 1989, dar- auf folgten Schweden (1. Juli 1991), Finnland (18. März 1992) und erneut Norwe- gen (25. November 1992). Gemäß Artikel „0“ des Vertrags von Maastricht wurden die Verhandlungen von der Europäischen Kommission geführt. Sie wurden im Feb- ruar 1993 mit Österreich, Schweden und Finnland aufgenommen und mit Norwegen zwei Monate später. Die Beitrittsverträge mit diesen Staaten wurden am 24. Juni 1994 unterzeichnet. 1994 sprachen sich die Norweger mit 52,4% der Wählerstim- men erneut gegen den EU-Beitritt aus. Am 1. Januar 1995 erweiterte sich die Eu- ropäische Union also um Schweden, Finnland und Österreich. Das war die zweite Norderweiterung, in deren Folge die EU zum größten Binnenmarkt der Erde mit 369 Mio. Einwohner wurde. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde die Frage laut, wann die Länder Mitteleuropas­ sich dieser „Stabilitätsgemeinschaft“ anschließen würden. Kaum ei- ner machte sich darüber Gedanken, ob sie überhaupt diese Absicht haben würden. Für eine Erweiterung der Europäischen Union um diese Länder sprachen politische Beweggründe, vor allem das Bedürfnis nach Festigung von Demokratie, Rechtsstaat- lichkeit, Respektierung der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes sowie der Bedarf nach einer Festigung von Stabilität und Sicherheit in Europa. Natürlich spielten auch wirtschaftliche Gründe eine enorme Rolle. Die nach Osten erweiterte EU eröffnete den Mitgliedsstaaten neue Chancen für ihre wirtschaftliche Entwick- lung.4 Am 1. Mai 2004 erweiterte sich die Union um acht Staaten Mitteleuropas sowie Malta und Zypern. Die Osterweiterung (2004) war keine „Expansion“ der Eu- ropäischen Union, wie Michale Gahler unterstreicht, sondern ihre Öffnung gegen- über den Staaten Mittel- und Osteuropas. Der „Urimpuls der Erweiterung von 2004 war dasselbe Motiv, das schon die Idee der europäischen Einheit von Jean Monnet inspiriert hatte: Nie wieder Krieg in Europa zulassen.5 Rumänien und Bulgarien traten der EU am 1. Januar 2007 bei, wodurch sich die Zahl der Mitglieder auf 27 und die Einwohnerzahl auf 489 Mio. erhöhte (ein An- stieg um ca. 30 Mio.).6 Es wird erwartet, dass im Jahr 2012 Kroatien die Mitglied- schaft erwirbt, wenn das Land mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehe- malige Jugoslawien zusammenarbeitet. Auch Island hat Aspirationen auf einen Beitritt

3 Vgl.: T. Beichelt, Die Europäische Union nach der Osterweiterung, VS Verlag für Sozial- wissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 25-28; V.M. Reyes, Reguły gry, czyli o negocjacjach akcesyjnych i łączeniu się Europy /Spielregeln. Über Beitrittsverhandlungen und die Verbindung Europas/, Wy- dawnictwo Naukowe Scholar, Warszawa 2000, S. 65-136. 4 Vgl.: N. Wieczorek, Die Osterweiterung aus der Innensicht Deutschlands, [in:] Die Oster­ weiterung der EU und ihre Folgen für Deutschland, 39. Kolloquium der Walter-Raymond-Stiftung. Berlin, 25.-27. März 2001, Bd. 41, S. 34. 5 M. Gahler, Die Osterweiterung aus der Innensicht Deutschlands, [in:] Ebd., S. 46-47. 6 „Eurostat Yearbook“ 2006-2007, s. 51. Politische Prämissen 25 im Jahr 2012. Weitere Erweiterungen könnten mittelfristig die Türkei und Mazedo- nien umfassen und langfristig Albanien, Montenegro, Serbien, Bosnien und Herze- gowina, vielleicht sogar die Ukraine und Moldawien.

2. Politische Prämissen

2.1. Der Bedarf nach einer Festigung des demokratischen Wandels, der Stabilität und Sicherheit in Europa nach dem Ende des kalten Kriegs

Ein wesentlicher externer Faktor für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland war der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Wiederlangung der voll­ ständigen Souveränität durch die ehemaligen Satellitenstaaten des Ostblocks, die nun den Weg der demokratischen Entwicklung einschlugen. Europa stellte sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts als Kontinent der Ungleichheit in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht dar. Früher waren diese Unterschiede nicht von Bedeutung gewe- sen. Die Wirtschaftskrisen im Osten, Arbeitslosigkeit und Armut in Osteuropa waren solange kein Problem für Westeuropa, solange sie von den Regierungen dort geleugnet wurden und die Ost-West-Grenze fast ganz undurchlässig blieb.7 Die egativen Auswir- kungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in den Ländern Mittel- und Osteuropas bekam vor allem die Bundesrepublik Deutschland zu spüren. Die Staaten der Region standen vor den Problemen der Systemtransformation, der Einführung von Marktme- chanismen und der Schaffung einer demokratischen Ordnung im politischen Leben. Die wirtschaftlichen Veränderungen stießen Anfang der neunziger Jahre auf Schwie- rigkeiten im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Handelsbeziehungen im Rahmen des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RWG), der schließlich kraft ei- nes Beschlusses vom 28. Juni 1991 liquidiert wurde. Es entstand eine Lücke im System der Wirtschaftsbeziehungen, die sich nicht so schnell durch die Entwicklung der Zu- sammenarbeit mit den Europäischen Gemeinschaften schließen ließ. Im Zuge der Des­ aktualisierung der Bündnisverträge zwischen den Staaten des auseinanderbrechenden Ostblocks und der Erosion und anschließenden Auflösung (1. Juli 1991) des Warschauer Pakts ließ das Sicherheitsgefühl in Osteuropa nach. Das bisherige, aus der Zeit des Kal- ten Kriegs stammende europäische Sicherheitssystem hatte seinen östlichen Grundpfei- ler verloren. Mitten in Europa tat sich eine institutionelle Lücke auf, eine „Grauzone“, und die Völker dieser Region empfanden eine starke Ungewissheit bezüglich ihrer ei- genen Sicherheit. Diese Gefühl, sich in einem „geopolitischen Vakuum“ zu befinden nährte die Befürchtungen, Mitteleuropa könnte zu einem Austragungsort der Rivalitäten der Großmächte werden, einer Lage, die noch in frischer Erinnerung war aus den Zei- ten, als in diesen Gebieten Deutschland und Russland um die Vorherrschaft stritten. Auf die Entstehung einer „Sicherheitsgrauzone“ in Mitteleuropa wies Henry Kissinger 7 W. Bredow, von, T. Jäger, Neue deutsche Außenpolitik. Nationale Interessen in internatio­ nalen Beziehungen, Leske+Budrich, Opladen 1993, S. 52. 26 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… hin8, vor dem Rückfall in eine Rivalität der Großmächte warnte der bekannte amerika- nische Politikwissenschaftler John Mearsheimer9, während der österreichische Experte Heinz Gärtner10 die Gefahr eines Wiederwachens der Nationalismen erkannte. Aufgrund seiner Position in den Europäischen Gemeinschaften, der NATO und dem Europarat sowie der unmittelbaren Nachbarschaft mit den ehemaligen so- zialistischen Ländern Mitteleuropas konnte Deutschland bei der „Bebauung“ die- ses „geopolitischen Vakuums“ helfen. Deutschland wollte der wichtigste Partner dieser Staaten werden, musste aber besonnen vorgehen, um nicht in die gefährlichen Spuren seiner ehemaligen Dominanzpolitik in diesem Teil Europas zu geraten. Die alte, natio- nalistische Mitteleuropa-Konzeption war von der Bundesrepublik verworfen worden, deren Führung bei ihren Bemühungen um den Aufbau eines demokratischen und in- tegrierten Europa darum besorgt war, keine nationalistischen Tendenzen zu unterstüt- zen und sich nicht einer Infragestellung ihrer Europapolitik auszusetzen. Das Enga- gement für die ehemaligen Ostblockstaaten musste mit Vorsicht, Vernunft um immer im europäischen Kontext – mit großer „geopolitischer Reife“ stattfinden.11 Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl vertrat die christdemokra- tische Konzeption der Außenpolitik der Bundesrepublik. Zu Beginn der neunziger Jahre konzentrierte sie sich auf die politischen Interessen, indem sie von einer Fes- tigung der Sicherheit für Deutschland und Europa durch Erweiterung der europäi- schen und euroatlantischen Strukturen um die Staaten Mitteleuropas ausging. Mi- chael Stürmer erinnert daran, dass schon Konrad Adenauer die deutschen Interessen Deutschlands nicht in der Mitte des europäischen Kontinents gesehen hatte, sondern in NATO und EWG. Die zentrale Lage des Landes auf dem europäischen Kontinent bedingte jedoch eine gewisse Gesetzmäßigkeit: „Deutschland hat zu jedem Zeit- punkt seiner Geschichte nach Osten gegeben und vom Westen genommen: Ideen, Technik, Kapital. Nichts deutet darauf hin, dass darin in absehbarer Zeit Änderungen eintreten.“ Ganz im Gegenteil, wie der deutsche Historiker betont: Die Bundesre- publik wird darauf orientiert sein, mit ihrer ganzen wirtschaftlichen Stärke und al- len politischen Kanälen die Europäisierung des Ostens zu verfolgen, was in der Zeit des Kalten Krieges unmöglich gewesen war.12 Mit der Vereinigung von BRD und DDR waren die Grundlagen für die Aus- arbeitung der Vertragsgrundlagen für die Zusammenarbeit der „Neuen“ Bundes­

8 H.A. Kissinger, A Plan for Europe, „Newsweek“, June 18, 1990. 9 J.J. Mearsheimer, Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War, „Interna- tional Security“, Vol. 15, No. 1, Spring 1990, S. 5-57. 10 H. Gärtner, Wird Europa sicherer? Zwischen kollektiver und nationaler Sicherheit, Brau- müller, Wien 1992. 11 �����������������������������������������������������������������������������������Diesen Begriff wendet Ronald D. Asmus im Kontext der Rolle Deutschlands bei der Ge- staltung der internationalen Sicherheit ein, L’Amérique, l’Allemagne et la nouvelle logique de reforme de l’Alliance, „Politique etrangère“ 1997, nº 3, S. 261. 12 M. Stürmer, Deutsche Interessen, [in:] K. Kaiser, H.W. Maull (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik, Bd. 1 Grundlagen, R. Oldenbourg Verlag, München 1994, S. 60. Politische Prämissen 27 republik mit den Ländern Mitteleuropas geschaffen. Die Normalisierung der Bezie- hungen mit den Ländern Mitteleuropas verlief in zwei Etappen: 1. 1990-1992: Schaffung neuer Vertragsgrundlagen und Abgabe von Erklä- rungen über die Unterstützung für die Bemühungen Polens, der Tsche- choslowakei und Ungarns um Mitgliedschaft in der Europäischen Uni- on. Die Vertragsregelungen beinhalteten auch die Frage nach dem Status der deutschen Minderheit in Polen, Tschechoslowakei, Ungarn und Ru- mänien. Dabei wurden regelmäßige Konsultationen eingeführt.13 2. 1992-1998, Intensivierung der politischen Kontakte und Entwicklung einer freundschaftlichen und gutnachbarschaftlichen Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten. Die Anknüpfung und Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu den Staaten Mitteleuropas bedurfte eines geleichzeitigen Dialogs und Zusam- menarbeit mit der Russischen Föderation. Deutschland musste die Haltung dieser Großmacht in Betracht ziehen, die noch vor kurzem großen Einfluss in der mittel- europäischen Union besessen hatte und auch im Europa nach dem Kalten Krieg eine bedeutsame Rolle zu spielen hatte. Russland war auf die internationale Büh- ne als stark destabilisierter Staat zurückgekehrt, der zwischen der Zusammenarbeit mit dem Westen und der Rückkehr zur neoimperialen Politik der Aufrechterhaltung oder Zurückgewinnung der Einflusszonen der ehemaligen Sowjetunion hin- und her- schwankte. In Deutschland war noch in frischer Erinnerung, dass Michail Gorbat- schow die Deutsche Einheit akzeptiert und – von der Realpolitik geleitet – Bonn und später Berlin zur Partnerschaft mit Russland aufgefordert hatte. Das Europa nach dem Kalten Krieg stand vor zwei wichtigen Herausforde- rungen. Zum einen dem Bedarf nach Unterstützung für den demokratischen Wan- del in den Staaten Ost- und Mitteleuropas, die auf die Schaffung von politischen Systemen zuliefen, die sich auf Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Marktwirtschaft stützten. Zum anderen der Verhinderung von Prozessen der in- neren Destabilisierung, der Entfachung von Nationalismen und ethnischen Konflik- ten, wie sie oft als Begleiterscheinungen derartiger Prozesse auftreten. Diese Herausforderungen waren der Grund dafür, dass Deutschland sich nicht auf die Anknüpfung und Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehun- gen zu den Staaten Mittel- und Osteuropas beschränken konnte, sondern sich ak- tiv in die Transformations- und Stabilisierungsprozesse in der Region einschalten musste. Die Bundesrepublik ergriff individuelle Maßnahmen, nahm an Gemein- schaftsprogrammen zur Unterstützung der demokratischen Reformen in den ehema- ligen sozialistischen Ländern teil, das heißt an den Programmen PHARE (Poland

13 Die Bundesrepublik schloss am 14. November 1990 mit Polen den Vertrag über die Bestä­ tigung der Grenzen und den Vertrag über gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit mit Polen am 17. Juni 1991, mit Bulgarien am 9. Oktober 1991, mit Ungarn am 6. Februar 1992, mit der Tschechoslo- wakei am 27. Februar 1992 und mit Rumänien am 21. April 1992. 28 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… and Hungary Assistance for Reconstructing of their Economies) und TACIS (Tech- nical Assistance for Commonwealth of Independent States). Deutschland wirkte bei seinen Aktivitäten für die Unterstützung der Systemtransformationen in Mittel- europa und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stabilisierend auf das inter- nationale Umfeld, leistete Hilfestellung bei der Zusammenarbeit der Reformstaaten mit den europäischen Institutionen, machte sie vorhersehbarer und erleichterte ihnen so den Weg in die europäische Integration.14 Bei allen diesen Unternehmungen wirkte Deutschland gleichzeitig einer De- stabilisierung in den Reformstaaten entgegen. Unter anderem zu diesem Zweck wandte die Bundesrepublik einen erheblichen Betrag für die Finanzhilfe für Russ- land auf, und die deutsche Gesellschaft beteiligte sich freigebig an der humanitären Hilfe für verschiedene Länder Mittel- und Osteuropas zu Beginn der neunziger Jah- re. Eine noch größere Sorge der Bundesregierung, ähnlich wie auch der Regierungen der übrigen Staaten Westeuropas, rief der Anstieg der Nationalismen in den Ländern des Westbalkans und der ehemaligen Sowjetunion hervor. Deutschland befürchtete einen Ausbruch ethnischer Konflikte auf dem Gebiet des auseinanderbrechenden Ju- goslawien und in der Konsequenz eine großen Welle von Flüchtlingen aus diesem Land. Wahrscheinlich spielten diese Befürchtungen eine Rolle bei der übereilten und nicht mit den Bündnispartnern aus NATO und EG abgestimmten Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens durch Bonn im Dezember 1990. Deutschland glaubte damit der erwarteten Gefahr vorbeugen zu können. Es kam jedoch anders: In Jugoslawien brachen die blutigsten Kriege seit dem 2. Weltkrieg aus, über 2 Mio. Flüchtlinge verließen das Land. Staatskrisen, Destabilisierung, Nationalismus und ethnische Konflikte in Mittel- und Osteuropa stellten die demokratischen Staaten des Westens und ihre Institutionen vor eine ernst zu nehmende Herausforderung. Verbreitet war die Angst vor einer Verbreitung dieser negativen Erscheinungen.15 Das bewog die deutsche Regierung dazu, alle Initiativen auf dem Forum von NATO, KSZE, WEU und EU (den so genannten Stabilitätspakt für Europa) zu unterstützen, die dem vorbeugen sollten. Die innere Destabilisierung und ethnischen Konflikte erschienen umso be- drohlicher für Deutschland, als dieses Land das Hauptziel für die Welle von Migran- ten, Flüchtlingen und Asylbewerbern war. Der Bundesregierung ging es um Stabili- sierung des internationalen Umfelds, um somit den eigenen Arbeitsmarkt, das System

14 Vgl.: J. Sperling, German Security Policy after the Cold War: The Strategy of a Civilian Power in an Uncivilian Worlds, „Arms Control“, Vol. 12, No. 3, Dezember 1991, S. 78-82. Zu������ be- merken ist, dass das vereinigte Deutschland bei seinen Bemühungen um eine Unterstützung der Sy- stemtransformation in Mitteleuropa und den postsowjetischen Gebieten versuchte, günstige externe Bedingungen für die Reunifizierung im Rahmen der Bundesrepublik der östlichen Länder der ehema- ligen DDR zu schaffen. 15 Eingehender vgl.: A. Clesse, A. Kortunov (ed.), Political and Strategic Implications of the State Crises in Central and Eastern Europe, Institute for European and International Studies, Luxembourg 1993. Politische Prämissen 29 der Sozialleistungen und die öffentliche Sicherheit zu schützen. Dabei ist festzustel- len, dass es in Deutschland nach der Vereinigung zu Schwierigkeiten in diesen Be- reichen gekommen war. Deutschland ist ein Land mit einem großen Ausländeranteil, darunter vor allem Türken, Kurden und Bürger der postjugoslawischen Republiken. Dies stellt einen Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Nationalis- mus der deutschen Ultrarechten dar, die sowohl in den östlichen als auch den westli- chen Bundesländern tätig ist.16 Die Bundesrepublik engagierte sich stark für die Befriedung der Bürgerkrie- ge auf dem gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Sie unterstützte die Hilfsmaßnah- men von UNO, EG/EU, NATO und der Kontaktgruppe für das ehemalige Jugoslawi- en (Frankreich, Deutschland, Italien, Russland, Großbritannien und USA). Sie nahm an den NATO-Operationen zur Unterstützung der Schutztruppen der Vereinten Natio- nen (UNPROFOR) teil, an Luftoperationen gegen die bosnischen Serben im Sommer 1995, nach dem Daytoner Abkommen (21. November 1995) in den von der NATO geführten Friedenstruppen in Bosnien und Herzegowina, den IFOR- und SFOR- Truppen, der EU-Friedensmission EUFOR Althea sowie dem so genannten Kosovo- Krieg. Deutsche Diplomaten engagierten sich bei der Führung von Friedensmissio- nen und anderen EU-Unternehmungen auf dem Balkan. Das deutsche Engagement im ehemaligen Jugoslawien ist anzuerkennen, auch wenn es vor allem von politischen Interessen geleitet war und eine Stabilisierung dieser unmittelbaren Nachbarregion der UE bezweckte, Für viele Deutsche hatte dies auch einen sentimentalen Hinter- grund, was zum Beispiel das populäre Urlaubsland Kroatien angeht oder das ganze ehemalige Jugoslawien, aus dem zahlreiche Saisonarbeiter und Zuwanderer stam- men. Für manche Deutsche spielte sicherlich auch Wiedergutmachung für die Taten des Dritten Reichs in dieser Region als Motiv eine Rolle. Der wichtigste Grund für das Engagement im gesamten Westbalkanraum ist mit Sicherheit jedoch das Stre- ben nach nachhaltiger Stabilisierung der dortigen Länder, von denen erwartet sind, dass sie über die von ihnen geführten schmutzigen Bürgerkriege Rechenschaft able- gen, sowie Hilfestellung bei der Anknüpfung einer regionalen Zusammenarbeit so- wie die partnerschaftliche Anbindung und Assoziierung mit der Europäischen Uni- on.17 Für einige – oder wenigstens einen – der Staaten sieht Deutschland eine reale Perspektive für den EU-Beitritt. Mit ihren eigenen Interessen an der Stabilisierung der neuen Demokratien im Ostteil Europas unterstützen die Deutschen gerne die Bemühungen der mittel- europäischen Staaten um Mitgliedschaft in der NATO und den Europäischen Ge-

16 Ä. Ostermann, Rechtsextremismus und Gewalt im neuen Deutschland, „Friedensgutach- ten“, (IFSH), Hamburg 1993, S. 59-67; H. Schmidt, Deutschlands Rolle im neuen Europa, „Europa- Archiv“ 1991, Jg. 46, Folge 21, S. 619-621. 17 Ähnliche Bedingungen stellt den Ländern des ehemaligen Jugoslawien die EU als Ge-Ge- samtheit. Vgl.: S. Devetak, The Dissolution of Yugoslavia in the Context of Security and Integration on Europe, [in] A. Clesse, A. Kortunov (ed.), op. cit., S. 181-195. 30 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… meinschaften. Sie strebten die Schaffung einer Zone der Stabilität in ihrer direk- ten Nachbarschaft an. Die Erweiterung der Europäischen Union war ein Postulat, das von der Bundesregierung unmittelbar nach der Vereinigung vorgebracht wurde. Zwei Mitglieder des Kabinetts Kohl – Außenminister Klaus Kinkel und Verteidi- gungsminister Volker Rühe – gehörten zu den ersten westlichen Politikern, die sich schon im März 1993 für die Erweiterung der NATO um einige Staaten Mitteleuropas – Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei – aussprachen.18 Im Februar des fol- genden Jahres tat dies auf einer Konferenz in München zum Thema Sicherheitspoli- tik auch der Bundeskanzler selbst. Er sagte, dass die Ostgrenze Deutschlands nicht für immer die Ostgrenze der NATO bleiben dürfe.19 Bemerkenswert ist, dass Hel- mut Kohl sich für die Erweiterung der Nordatlantischen Allianz nach dem berühm- ten Widerspruch des russischen Präsidenten gegen die Idee der NATO-Erweiterung im September 1993 aussprach. Zu einem Zeitpunkt, als die Clinton-Administration in den USA noch keinen Standpunkt eingenommen hatte und viele westliche Exper- ten ihre Befürchtung äußerten, dass die NATO-Erweiterung sich negativ auf die rus- sische Innen- und Außenpolitik wie auch den internen Transformationsprozess der Allianz auswirken würde.20 Das aktive Engagement der „Berliner Republik“21 für die Osterweiterung von EU und NATO bezweckte die Erweiterung des Bereichs, in dem Demokratie, Menschenrechte, Marktwirtschaft, Stabilität und Wohlstand herrschen. Zu Beginn der neunziger Jahre ging man davon aus, dass die westeuropäischen und transatlan- tischen Strukturen die in ihren Reformen am weitesten fortgeschrittenen und stabi- len Länder Mitteleuropas umfassen sollten. Ihre Aufnahme in NATO und EU sollte

18 V. Rühe, Shaping Euro-Atlantic Policies: A Grand Strategy for a New Era, „Survival“, Vol. 35, No. 2, Summer 1993, S. 129-137. Vgl.: Por. Jeffrey Simon, Does Eastern Europe Belong in NATO?, „Orbis“, Vol. 37, No. 1, Winter 1993, S. 21-35. 19 Zob.: D. Haglund, L’élargissement de l’Otan: origines et évolution d’une idée, „Relations internationales et stratégiques“, no 22, été 1996, S. 41. 20 Vgl.: S.R. Sloan, S. Woehrel, NATO Enlargement and Russia: From Cold War to Cold Peace?, „CRS Report for Congress“, No. 95-594 S, May 15, 1995. Vgl.: eine kritische Einschätzung des deutschen experten H. Kamp, The Folly of Rapid NATO Expansion, „Foreign Policy“, No. 98, Spring 1995, S. 116-129. 21 Der Begriff „Berliner Republik“ im Bezug auf das vereinte Deutschland wurde erstmals 1994 von dem in Berlin beschäftigten Amerikaner Daniel S. Hamilton in der Broschüre Jenseits von Bonn. Amerika und die „Berliner Republik“ (Ullstein, Frankfurt am Main 1994) verwendet. Der Begriff wurde von vielen bedeutenden detschen Gelehrten akzeptiert. Vgl. z. B.: J. Habermas, Die Normalität der Berliner Republik, „Kleine politische Schriften VIII“, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1995; Johannes Gross, Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1995; Hilmar Hoffman (Hrsg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, DuMont-Literatur-und-Kunst-Verl, Köln 2002; R. Czada, Von der Bon­ ner zur Berliner Republik 10 Jahre Deutsche Einheit, Westdt. Verlag, Wiesbaden 2000; F. Schmidt, Die Neue Rechte und die Berliner Republik: parallel laufende Wege im Normalisierungsdiskurs, Wiesbaden, Westdt. Verlag, 2001; K. Kaiser (Hrsg.), Zur Zukunft der Deutschen Außenpolitik. Reden zur Außenpolitik der Berliner Republik, Europa Union Verlag, Bonn 1998. Politische Prämissen 31 den übrigen ein Beispiel geben und auf diese Weise den Kreis der demokratischen Staaten erweitern. Die Grenzen der Erweiterung wurden dabei nicht klar festgelegt. Von Anfang an ging man davon aus, dass die Form der Annäherung an die westli- chen Strukturen in besonderen Arten von Partnerschaft bestehen würden – im Fall der NATO: NATO-Kooperationsrat (NAKR), später umgewandelt in den Euro- Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPR), Partnerschaft für den Frieden, Partner- schaftsverträge mit Russland und der Ukraine; im Fall der EU: Assoziationsverträ- ge, Partnerschaft mit der Westeuropäischen Union (WEU), Partnerschaftsverträge und Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), Europäi- sche Nachbarschaftspolitik, Stabilisierungsprozess und Assoziierung mit den West- balkanstaaten, Zollunion mit der Türkei. Experten und Politiker aus den westlichen Staaten22, die Regierungen dieser Staaten und ihre multilateralen Institutionen, dar- unter Wirtschaftsorganisationen und Geldinstitute – vor allem die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) – unterstützten von Anfang an die Struk- turen der subregionalen Zusammenarbeit oder waren gar an ihrer Entstehung betei- ligt. Zum ersten ging es ihnen darum, die institutionelle Lücke zu füllen, die sich nach dem Zusammenbruch der Blockstrukturen des Warschauer Pakts und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe aufgetan hatte, zum zweiten um die Erleichterung der Anbindung der Staaten Mittel- und Osteuropa an die westeuropäischen und eu- ro-atlantischen Institutionen.23 Den Deutschen war an einer guten Vorbereitung der Transformationsländer auf die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union bzw. den Beitritt zu ihr gelegen. Es ist festzustellen, dass die Stärkung des demokratischen Wandels durch die EU-Mitgliedsländer, die Lösung von Konflikten und eine komplexe Festigung der Sicherheit und Unterstützung der subregionalen Partnerschaft in diesem Teil Eu- ropas eine Eingangsvoraussetzung für die Erweiterung der europäischen Integration darstellte.

2.2. Die Bedeutung der Türkei für die Sicherheit Deutschlands und Europas

Eine besondere Bedeutung für die Außenpolitik der Bundesrepublik haben die bilateralen Beziehungen zur Türkei. Dieser Staat hat aufgrund seiner geostrate- gischen Lage eine Schlüsselbedeutung für ganz Europa. Im Interesse Deutschlands liegt es, die Türkei „möglichst nah an Europa“ zu halten und sie nicht in Richtung

22 Vgl. Z. B.:. Ch. Gati, East-Central Europe: The Morning After, „Foreign Affairs“, Vol. 69, No. 5, Winter 1990/91, S. 144-145; G. Michelis, de, Reaching Out to the East, „Foreign Policy“, No. 79, Summer 1990, S. 49-52; F.S. Larrabee, East European Security after the Cold War, RAND, Santa Monica 1993, S. 106-108. 23 Eingehender vgl.: J. Kipp (ed.), Central European Security Concerns: Bridge, Buffer or Barrier?, „European Security“, Vol. 1, No. 4, Winter 1992, Special Issue; J.W. Jelisiejewa, Central­ naja i jugo-wostocznaja Jewropa i problemy razszyriajuszczijejsia intiegracyi, [in:] N.A. Kosołapow (Hrsg.), Rossija i buduszczieje jewropiejskoje ustrojstwo, Nauka, Moskwa 1995, S. 97. 32 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… der antiwestlich eingestellten islamischen Länder abgleiten zu lassen. Als Mitglied der NATO erfüllt die Türkei eine stabilisierende Rolle zwischen Balkan und Nahost. Der Status der Türkei als mit der EU assoziierter Staat stärkt dieses Sicherheitsge- fühl, denn er grenzt die Union gegen die instabile Konfliktregion des Nahen Osten ab. Die Türkei kann die nachbarschaftliche Umgebung der EU stabilisieren.24 Die Pers- pektive der EU-Mitgliedschaft wiederum stärkt die Position der europa­orientierten, demokratischen politischen Kräfte in der Türkei selbst, deren demokratische Ent- wicklung sich auch positiv auf andere Länder in der Region auswirken und ein gu- tes Beispiel für die Möglichkeit der Vereinbarung von Demokratie und Islam geben könnte. Die Türkei ist Mitglied der NATO. Sie betreibt eine Politik der engen Zusam- menarbeit mit den USA. Deshalb unterstützt Washington die europäischen Aspira- tionen Ankaras und übt Druck auf die EU aus, sich positiv über die türkischen Bei- trittsbemühungen auszusprechen. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA und der Einbeziehung der Türkei in die Antiterrorkoalition ergaben sich neue Argumente für eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union, die auch von den EU-Mitgliedern geteilt werden, die allerdings auch das Verhältnis zur kurdischen Minderheit, die schwachen Fortschritte beim Aufbau einer stabilen Demokratie und des säkularisierten Rechtsstaats in einem überwiegend islamischen Land monieren.25 Wie Gerhard Schröder auf dem 4. Forum Fazit Deutschland am 22. September 1999 in Berlin verkündete, hat Europa ein begründetes Interesse daran, dass die Türkei nicht zur „Beute des Fundamentalismus“ wird.26 Ein Problem für die EU-Länder stellt in diesem Zusammenhang auch die Hal- tung der Türkei zur Zypernfrage dar. Seit 1974 ist diese Insel aufgrund einer türki- schen Invasion geteilt, und in ihrem Nordteil funktioniert die im Jahr 1983 prokla- mierte und von den EU-Staaten nicht anerkannte Republik Nordzypern. Obwohl sich die zypriotischen Türken in einem Volksentscheid im April 2004 für eine Wieder- vereinigung der Insel ausgesprochen haben, trat infolge des Widerstands der grie- chischen Zyprioten am 1. Mai 2004 nur der griechische Teil der Insel der EU bei. Die beiden auf der Insel ansässigen Völker vertreten unterschiedliche Konzeptio- nen der Vereinigung. Es ist kaum vorstellbar, dass nach einem eventuellen Beitritt

24 Th. Diez, Turkey, the European Union and Security Complexes Revisited, „Mediterranean Politics“, Vol. 10, No. 2, July 2005, S. 174; A. Landback, Turkey and the European Union: Secu­ rity Opportunity or Nightmare?, „University of Florida International Review“, Fall 2007, S. 17-19. Eingehender vgl.: G. Gasparini (ed.), Turkey and European Security, IAI-Tesev Report, Roma 2006. 25 Eingehender vgl.: D. Jung, C. Rauvere (eds), Religion, Politics, and Turkey’s EU Acces­ sion, Palgrave Macmillan, Basingstoke 2007. 26 Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit in der Außenpolitik, Ansprache von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässig des 4. Forum „Fazit Deutschland“ Am 22.09.1999 in Berlin, „Bulletin der Bundesregierung“, vom 30. September 1999, Nr. 59, Ausgabe CD-ROM. Vgl.: K. Kaiser, Strate­ gischer Partner Türkei. Jenseits der Erweiterungsdebatte: Warum wir Ankara brauchen, „Internatio- nale Politik“ 2007, Nr. 5, S. 100-107. Politische Prämissen 33 der Türkei Zypern geteilt bleiben könnte. Die Erweiterung der Union um Zypern hat jedenfalls neue Probleme geschaffen, nicht nur für die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, sondern auch zwischen EU und NATO.27 Auf die Haltung der Bundesrepublik in der Frage der türkischen Beitritts- kandidatur haben auch innere Probleme Einfluss, die von den türkischen Einwande- rern und ihren bereits in Deutschland geborenen Nachkommen verursacht werden. Sie stellen mit 2 Mio. Menschen die stärkste Gruppe von Ausländern in Deutschland dar. Eine Assimilation findet nur teilweise statt, was in der deutschen Gesellschaft nicht nur bestimmte Ängste vor einer solch großen Bevölkerungsgruppe mit ei- nem völlig anderen kulturellen Hintergrund, aber auch den Verdacht der mangelnden Loyalität gegenüber dem deutschen Staat. Auf dieser Grundlage werden pessimisti- sche Schlussfolgerungen gezogen, was ihr Verhalten nach einem Beitritt der Türkei zur EU angeht. Die Haltung Deutschlands zu einer eventuellen Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ist nicht eindeutig. Aufgeschlossen dieser Frage ge- genüber zeigte sich die in den Jahren 2001-2005 regierende Koalition aus Sozi- aldemokraten und Grünen. Diese Parteien erfreuten sich der Sympathie der deut- schen Türken. In einer Umfrage des Instituts für Türkeistudien im Jahr 1998 hätten von den wahlberechtigten Einwohneren türkischer Herkunft 70,4% die SPD gewählt und 17% die Grünen, während die Parteien der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP nur auf 9% hätten zählen können.28 Die christdemokratischen Parteien wie- derum stehen den europäischen Aspirationen der Türkei überaus reserviert gegen- über. Die im Herbst 2005 entstandene Große Koalition unter Bundeskanzlerin An- gela Merkel nimmt eine skeptische Haltung ein. Die christdemokratischen Parteien ziehen der Vollmitgliedschaft der Türkei eine „privilegierte Partnerschaft“ vor.29 Die Frage der türkischen Kandidatur stellt demzufolge eine ernst zu neh- mende Herausforderung für Deutschland dar. Die Schwierigkeiten bei der Erarbei- tung einer eindeutigen Position ergeben sich aus dem Umstand, dass die Argumente Für und Wider sorgfältig erwogen werden müssen. Die Bundesregierung ist sich der Notwendigkeit einer Festigung der Beziehungen zwischen der Union und der Tür- kei bewusst, wenn sie nach einem Modell einer strategischen Zusammenarbeit als eines gewissen Äquivalents für die Mitgliedschaft dieses Staats in der EU sucht. Das Problem der Bezugnahme auf die europäischen Aspirationen der Türkei betrifft auch die übrigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.30

27 S. Ülgen, The Evolving EU, NATO and Turkey Relationship: Implications for Transatlan­ tic Security, „Discussion Paper Series“, (Center for Economics and Foreign Policy Studies – EDAM, Istanbul), August 2008, No. 2, S. 2. 28 „Die Tageszeitung“ vom 23. September 1998. 29 Eingehender vgl. Kap. 2. 30 Eingehender vgl.: T. Kubin, Zagadnienie członkostwa Turcji w Unii Europejskiej /Die Fra­ ge der Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union/ „Stosunki Międzynarodowe – Interna- tional Relations“ 2008, Nr. 3–4, S. 85-105. 34 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… 2.3. Die Programmgrundlagen der deutschen Europapolitik

Am 3. Oktober 1990 entstand infolge der Vereinigung der „alten“ Bundes- republik und der Deutschen Demokratischen Republik ein „neues Deutschland“31, das es nie zuvor gegeben hatte, auch wenn es den Namen Bundesrepublik Deutsch- land beibehielt. Von seinen Vorgängern – der „Bonner Republik“, der DDR und auch der Weimar Republik – unterscheidet es sich vor allem durch eine stabile Demo- kratie, das Fehlen von Gebietsansprüchen und äußeren Feinden. Von grundlegen- der Bedeutung für die Bestimmung der Programmgrundlagen für die Außenpo- litik, zu der auch die Europapolitik gehört, war die Unterzeichnung des Vertrags über die Abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Ver­ trag) am 12. September 1990 in Moskau.32 Dieser Vertrag wurde von den Vier Mäch- ten (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich) sowie der BRD und der DDR unterzeichnet und verpflichtete die Politik des Vereinten Deutschlands zur Wah- rung der demokratischen Werte sowie zur friedlichen Beteiligung an den interna- tionalen Beziehungen und akzeptierte die proeuropäische und prowestliche Option in der deutschen Außenpolitik.33 „Mit der Vereinigung von 1990 ist“, wie Karl Kai- ser feststellt, „ein geeintes Deutschland entstanden, das es in der Geschichte noch nie gegeben hat: eine gefestigte Demokratie, ohne territoriale Forderungen und ohne Feinde. Ein Land, das in seinen Werten, politischen Institutionen, seinem wirtschaft- lichen Überleben und seiner Außenpolitik zutiefst mit dem Westen, insbesondere Westeuropa, verflochten ist34. Mit der Wiedervereinigung wurde die deutsche Au- ßenpolitik vom Ballast des Ost-West-Konflikts befreit. Über den ganzen Zeitraum des Bestehens der beiden deutschen Staaten hinweg bestand das innerdeutsche Di- lemma, ob der Status quo in Europa und die Sicherheitsinteressen der Nachbarn an- zuerkennen sind oder ob die Teilung Europas in Frage zu stellen ist. Die Außenpolitik der Bonner Republik zeichnete sich durch eine relativ pas- sive Haltung gegenüber dem Westen und den Ereignissen auf der internationalen Bühne aus, was mit dem Streben der Deutschen sich für die Verbrechen der Nazi-

31 Der Begriff „neues Deutschland“ im Bezug auf das vereinte Deutschland im Kontext seiner Außenpolitik wird häufig in der deutsche politikwissenschaftlichen literatur verwendet. Vgl. z. B. K. Kaiser, Das Vereinigte Deutschland in der internationalen Politik, [in:] K. Kaiser, H.W. Maull (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik, B. 1 Grundlagen, R. Oldenbourg Verlag, München 1994, s. 3; U. Schmalz, Deutsche Europapolitik nach 1989/90. Die Frage von Kontinuität und Wandel, [in:] H. Scheider, M. Jopp, U. Schmalz (Hrsg.), Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder, Europa Union Verlag, Bonn 2001, s. 15-16; W. Bredow,von, T. Jäger, Neue deutsche Außenpolitik. Nationale Interessen in internationalen Beziehungen, Leske+Budrich, Opladen 1993. 32 H. Rattinger, Einstellung zur europäischen Integration in der Bundesrepublik. Ein Kau­ salmodell, „Zeitschrift für internationale Beziehungen“ 1996, Nr. 1, s. 45-78. 33 Vertrag über die Abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, Moskau 12. Septem- ber 1990, „Zbiór Dokumentów“ 1991, Nr. 3, S. 67-75. 34 Vgl.: K. Kaiser, Das Vereinigte Deutschland…, op. cit., S. 2. Politische Prämissen 35 zeit zu rehabilitieren verbunden war. Die Artikulation eigener, nationaler Interes- sen war die Notwendigkeit der Kooperation mit anderen Staaten, der Bereitschaft zur Selbstbeschränkung und zur Anpassung an die Bündnispartner (vor allem USA und Frankreich) unterzuordnen. Weder die politischen noch die militärischen Mittel entsprachen jedoch der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik. Die Passivität der Außenpolitik ergab sich – wie Hans-Peter Schwarz bemerkt – aus einer Verän- derung des Verhältnisses zur Macht – die „Machtbesessenheit“ wurde nach 1945 von der „Machtvergessenheit“ abgelöst.35 Das Abgehen der Deutschen von der Groß- machtpolitik ermöglichte ihnen die Kooperation in internationalen Organisationen, die Orientierung ihrer Außenpolitik auf den politischen Dialog und das Eintreten für die Menschenrechte, die Leistung von Entwicklungshilfe und die Unterstützung von Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung. Mattias Z. Karádi listete die Grundsätze auf, die eine Konstante der Außenpolitik der Bundesrepublik sowohl vor als auch nach der Wiedervereinigung darstellten: „Nie wieder Krieg“ – die Ableh- nung von Krieg, Pazifismus, in der Praxis „militärische Selbstbeschränkung“, „Nie wieder allein“ – die Grundlage der deutschen Multilateralität in der Außen- und Si- cherheitspolitik, „Nie wieder Völkermord“, „Nie wieder Auschwitz“. Diese Grund- sätze implizieren das Engagement Deutschlands für die Verteidigung und Verbrei- tung der Menschenrechte und begründen die Billigung von Friedensmissionen unter Beteiligung der Bundeswehr.36 Alle diese Grundsätze stehen miteinander in Zusammenhang (Deutschlands verflochtene Interessen)37 und begründen die deutsche Multilateralität und das En- gagement der Bundesrepublik auf der internationalen – sowohl der europäischen als auch der globalen – Bühne. Alle Maßnahmen der Bundesrepublik für die euro- päische Integration wurden und werden verstanden als Umsetzung der deutschen Staatsraison. Der Wille zum Aufbau wurde in der Präambel des Grundgesetzes (GG) vom 23. Mai 1949 festgehalten. Artikel 24 GG ermöglicht die Übertragung von Ho- heitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen.38

35 H.-P. Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtverges­ senheit, Dt. Verl.-Anst., Stuttgart 1985; S. Sulowski, Uwarunkowania i kierunki polityki zagranicz­ nej RFN /Voraussetzungen und Richtungen der Außenpolitik der Bundesrepublik/, Dom Wydawniczy Elipsa, Warszawa 2004, S. 133. 36 Vgl.: M.Z. Karádi, Polityka Niemiec wobec KBWE/OBWE /Die Politik Deutschlands gegenüber der KSZE/OSZE/, [in:] K. Malinowski, Kultura bezpieczeństwa narodowego w Polsce i w Niemczech /Die Kultur der nationalen Sicherheit in Polen und Deutschland/, Instytut Zachodni, Poznań 2003, S. 268. Vgl.: J. Varwick, Kultura strategiczna i zmiany w polityce bezpieczeństwa Nie­ miec (wojna o Kosowo, zwalczanie terroryzmu, kryzys iracki) /Die startegische Kultur und Verände­ reungen in der deutsche Sicherheitspolitik/, [in:] Ebd., S. 219-264. 37 D. Senghaas, Deutschlands verflochtene Interessen, „Internationale Politik“ 1995, Nr. 8, s. 31-37. 38 �������������������������������������������������������������������������������������� Präambel „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Wil- len beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. “; Art. 24 Abs. 1 „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.“ 36 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… 2.4. Die Konzeption der Rolle Deutschlands als einer „Zivilmacht“

Die deutsche Bereitschaft zur Übertragung eines Teils der Souveränität an zwi- schenstaatliche Einrichtungen, insbesondere die Strukturen der gemeinschaftlichen Sicherheit, zur Vertiefung und Erweiterung der EU und zur Festigung von NATO und OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ergibt sich aus der Konzeption der internationalen Rolle Deutschlands als einer „Zivilmacht“. Erstmals wurde dieser Begriff in Bezug auf die Außenpolitik der Bundesrepublik von Hanns W. Maull verwendet. Diese Konzeption geht von einem bewussten Verzicht auf die Methoden der klassischen Politik der Stärke, der Förderung demokratischer Einrichtungen, Rechtsstaatlichkeit, friedlicher Konfliktlösung und einer Verringerung sozialer Ungleichheiten aus. Die Mittel der Außenpolitik sind vor allem politische Mittel (Diplomatie), juristische und wirtschaftliche Mittel, die mit positiven und mul- tilateralen Methoden einzusetzen sind.39 Deutschland ist ein Staat, wie Theo Sommer in der „Zeit“ schrieb, der sich die Entmilitarisierung und Zivilisierung der Politik und der internationalen Beziehungen auf die Fahnen geschrieben hat.40 Zu Beginn der neunziger Jahre wurde Deutschland nach Wiedererlangung seiner vollständigen Souveränität und unter Ausnutzung seiner geopolitischen Lage sowie seines Bevölkerungs- und Wirtschaftspotenzials zu einem Schlüsselakteur auf der politischen Bühne Europas. Zutreffend scheinen die von Hans-Peter Schwarz gebrauchte Bezeichnung „Zentralmacht Europas“41 oder die von Gregor Schöll- gen gebrauchte Bezeichnung „Macht in der Mitte Europas“42. Deutschland galt als der „Musterknabe der europäischen Integration“43. Im Rahmen der Unionsstruk- turen spielte Deutschland neben Frankreich die Rolle einer „Lokomotive“ oder ei- nes „Motors“ der europäischen Integration.44 Heute allerdings haben innere Beweg- 39 Vgl. eingehender: H.W. Maull, Zivilmacht Bundesrepublik Deutschland. Vierzehn Thesen für eine neue deutsche Außenpolitik, „Europa Archiv“ 1992, Jg. 47, Folge 10, S. 269-278; K. Kirste, H.W. Maull, Zivilmacht und Rollentheorie, „Zeitschrift für Internationale Beziehungen“ 1996, Nr. 2, S. 181-196. Por. K. Bachmann, P. Buras (Hrsg.), Niemcy jako państwo cywilne. Studia nad niemiecką polityką zagraniczną /Deutschland als Zivilstaat. Studien zur deutsche Außenpolitik/, Oficyna Wy- dawnicza ATUT, Wrocław 2006. 40 T. Sommer, Die Deutschen an die Front?, „Die Zeit“ vom 29. März 1991. 41 H.-P. Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rücker auf die Weltbühne, Sied- ler, Berlin 1994. 42 G. Schöllgen, Die Macht in der Mitte Europas. Stationen deutscher Außenpolitik von Fried­ rich dem Großen bis zur Gegenwart, Beck, München 2000. 43 W. Knelangen, Eine neue deutsche Europapolitik für eine andere EU?, „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 2005, Nr. 38-39, S. 25. 44 Zob.: L. Güllner, Motor für die europäische Integration. Die neue Impulse für die deutsch- französische Zusammenarbeit, „Die neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte“ 1999, Nr. 46, S. 91-93; Ryszard Zięba, Współpraca Francji i Niemiec w kształtowaniu polityki zagranicznej i bezpieczeństwa Unii Europejskiej /Die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland bei der Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik/, „Krakowskie Studia Międzynarodowe“ 2006, Nr 4, S. 169-194; Francusko-niemieckie zbliżenie: między doraźnym działaniem a wizją przyszłej Europy /Die fran­ Politische Prämissen 37 gründe das Eintreten Deutschlands für den Erweiterungsprozess schwächer werden lassen. Wirtschaftliche Probleme haben die seit Herbst 2005 regierende Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Angela Merkel dazu bewogen, sich auf die Lösungen zu konzentrieren, die zu einer Überwindung der Wirtschaftskrise beitragen können, so etwa die Unterstützung der Strategie von Lissabon.45 Die Deutschen sind sich ihrer Rolle in der EU bewusst. Nach Meinungsum- fragen aus dem Jahr 1996 hielten 55% der Bundesbürger ihr Land für eine führende Macht in Europa. Zwei Jahre zuvor hatten sich 74% der Befragten für eine Stärkung des deutschen Einflusses in der EU ausgesprochen und 62% für eine Vergrößerung der „Verantwortung“ auf internationaler Ebene.46 Die deutsche Gesellschaft erkennt in der Europäischen Union die Chan- ce für eine weitere Entwicklung und Vergrößerung des deutschen Einflusses in der Welt. Die Unterstützung der Prozesse der Vertiefung und der Erweiterung der Union sind kongruent mit dem deutschen Interesse an einer festen Bindung der Bundesrepublik an Europa. Dies ermöglicht – wie Christian Deubner feststellt – einerseits die Lösung der „deutschen Frage“ in Europa, andererseits die Schaffung von Raum und Möglichkeiten zur Umsetzung der Ziele der deutschen Außenpolitik im Rahmen der europäischen Union und eines Anstiegs der internationalen Rolle der Bundesrepublik in der globalisierten Welt.47 Im Jahr 1993 unterstrich Außen- minister Klaus Kinkel in einem Artikel für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, dass die „kategorische“ Verfolgung des europäischen Weges im deutschen Inter- esse liegt. Der Minister vertrat die Auffassung, dass Deutschland aufgrund seiner Mittellage in Europa, seine Größe und die Tradition der Beziehungen zu den Staa- ten Mittel- und Osteuropas prädestiniert sei für ein Eintreten für die „Rückkehr dieser Staaten nach Europa“.48 zösisch-deutsche Annäherung und die Vision des zukünftigen Europa/, „Rocznik Strategiczny“ 2003/2004, S. 263-268. 45 Ch. Hacke, Mehr Bismarck, weniger Habermas. Ein neuer Realismus in der deutschen Au­ ßenpolitik?, „Internationale Politik“ 2006, Nr. 6, S. 70-71. 46 Zob. M. Glaab, J. Grosm, K.-R. Korte, P.M. Wagner, Wertgrundlagen und Belastungen deutscher Europapolitik, [in:] W. Weidenfeld (Hrsg.), Deutsche Europapolitik. Optionen wirksamer Interessenvertretung, Europa Union Verlag, Bonn 1998, s. 194–195. 47 Ch. Deubner, Deutsche Europapolitik: Von Maastricht nach Kerneuropa?, Nomos, Baden- Baden 1995, S. 147. 48 „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 19. März 1993. Minister Kinkiel begegnete nach Gebrauch der Wörter Mittellage und Mitteleuropa Vorwürfen einer Rückkehr der deutschen Außen- politik zu den annahmen der klassischen Geopolitik. Ein unüberlegter Gebrauch dieser Ausdrücke in Äußerungen deutsche Politiker ohne deutliche Abgrenzung von der deutsche Geopolitik der dreißi- ger und vierziger Jahre kann – wie Imanuel Geiss bemerkt– Ängste vor einer neuen Welle des „furor teutonicus“ hervorrufen. Vgl.: I. Geiss, Mitteleuropa und die deutsche Frage. Die historische Dimen­ sion, [in:] H. Berg, P. Burmeister (Hrsg.), Mitteleuropa und die deutsche Frage, Edition Temmen, Bremen 1990, S. 72. Vgl.: H. Brill, Geopolitik heute. Deutschlands Chance?, Ullstein, Frankfurt am Main 1994. 38 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… 2.5. Rückkehr zum Mitteleuropagedanken?

Das Eintreten der Bundesrepublik für die Erweiterung um die EFTA-Staa- ten und die Länder Mitteleuropas weckte außerhalb Deutschlands Befürchtungen, dass es um den Aufbau eines neuen „Mitteleuropa“ gehen könnte. Diese Sorgen ka- men von außen, wurden häufig von Publizisten und Historikern getragen, während die Bundesregierung sich selbst niemals auf diese Idee als eines Elements ihrer Kon- zeption für die Erweiterung der europäischen Union berief. Der aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhundert stammende Mitteleuropagedanke geht von der Integration Mitteleuropas mit einer Sonderrolle Deutschlands und Ös- terreichs aus.49 Am umfassendsten wurde er von Constantin Frantz (1879), Joseph Partsch (1904) und Friedrich Naumann (1915) formuliert. Die Konzeption ging von der Entstehung einer Föderation der mitteleuropäischen Staaten (C. Frantz) unter deutsch-österreichischer Führung aus. Zu diesem Europa sollten außerdem Belgien, die Niederland, die Schweiz und die skandinavischen Länder gehören.50 Nach Partsch sollten Deutschland, Österreich-Ungarn, die Niederlande, Belgien, die Schweiz, Ser- bien, Montenegro, Rumänien und Bulgarien eine gemeinsame Struktur schaffen.51 Ei- ner der größten Apologeten der Idee der Schaffung eines mitteleuropäischen Staates unter der Ägide Berlins war F. Naumann. In seinem 1915 erschienen Buch Mitteleu­ ropa vertrat er die Ansicht, dass Deutschland und Österreich-Ungarn den Kern der In- tegration in der Region zwischen Nord- und Ostsee, Alpen, Adria und dem Südrand des Donautieflands bilden müssten. Dieser Raum müsse „als Gesamtheit, als großer Bruderstaat, als Verteidigungsbündnis, als Wirtschaftsraum“ verstanden werden.52 Um die richtige wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten, sollte die Integration außer Deutschland und Österreich-Ungarn auch die Niederlande, Belgien mit ihren Kolonien, die Balkanstaaten und die Türkei umfassen. Mit der Zeit könnte dieser Staatenbund dann um die skandinavischen Staaten erweitert werden. Naumann sah

49 Eingehender zur Genese des Mitteleuropagedankens vgl.: H. C. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action, 1815-1945, Nijhoff, The Haag 1955; M. Hauner, Nĕmecko a středni Evropa /Deutschland und Mitteleuropa/, „Mezinárodní vztahy“ 1994, No. 4, S. 34 i n. Vgl.: K. Fie- dor, Niemieckie plany integracji Europy na tle zachodnioeuropejskich doktryn zjednoczeniowych 1918–1945 /Die deutsche Integrationspläne vor dem Hintergrund der Vereinigungsdoktrinen 1918- 1945/, Państwowe Wydawnictwo Naukowe, Wrocław 1991, S. 12-17; J. Miecznikowska, Niemieckie koncepcje jednoczenia Europy /Die deutschen Konzeptionen der Vereinigung Europas/, [in:] S. Su- lowski (Hrsg.), Polska i Republika Federalna Niemiec w procesie integracji europejskiej /Polen und die Bundesrepublik Deutschland im Prozess der europäischen Integration/, Dom Wydawniczy ELIPSA, Warszawa 2007, S. 37-43. 50 C. Frantz, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und in­ ternationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland. Kritisch nachgewiesen und konstruktiv dargestellt, Scientia Verlag, Mainz 1879. 51 J. Partsch, Mitteleuropa. Die Länder und Völker von den Westalpen und dem Balkan bis an den Kanal und das Kurische Haff, Justus Perthes, Gotha 1904. 52 F. Naumann, Mitteleuropa, Reimer, Berlin 1915, S. 3. Politische Prämissen 39 auch die Einbindung der polnischen Gebiete bis zum Bug vor. Mitteleuropa sollte ein wirtschaftlicher und militärischer Staatenbund sein.53 Die Idee der mitteleuropäi- schen Integration ging von der Gründung einer Wehrgemeinschaft, einer politischen Gemeinschaft mit eigener Außenpolitik und einer Wirtschaftsgemeinschaft aus.54 In den dreißiger Jahren wurde der Mitteleuropagedanke schrittweise von der Konzeption eines „Großwirtschaftsraums“ verdrängt, der die deutsche Wirt- schaftsvormacht in Mittel-, Ost- und Südeuropa vorsah.55 Der Mitteleuropagedanke kehrte in der ersten Hälfte der achtziger Jahre zu- rück, als Frankreich und die USA das Postulat der Überwindung der Teilung Europas aufstellten, was die Hoffnungen der Deutschen auf Wiedererlangung der staatlichen Einheit weckte. Nach der Veröffentlichung eines Artikels des tschechischen Schrift- stellers Milan Kundera in den USA unter dem Titel Die Tragödie Mitteleuropas56, nah- men die Diskussion mit ihm zwei mit der SPD verbundene Intellektuelle, Peter Ben- der und Peter Glotz, auf. Sie beriefen sich auf die kulturelle Identität Mitteleuropas, in der sie eine Inspiration für die Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands suchten. In sozialdemokratischen Kreisen wurden Pläne einer Herbeiführung der deut- schen Einheit durch Neutralisierung der ganzen mitteleuropäischen Zone erwogen.57 Die westdeutsche Christdemokratie stellte dieser Konzeption die weiter gefasste Idee der „Europäisierung Deutschlands“ und der Erweiterung der Europäischen Gemein- schaften nach Osten entgegen. Ein gemeinsamer Nenner beider Konzeptionen war das Postulat der Rückkehr Deutschlands zu einer aktiven Politik in Mitteleuropa.58 Die Debatte um die Zukunft Mitteleuropas und der deutschen Rolle fiel zu- sammen mit dem so genannten Historikerstreit um den Platz des Dritten Reichs in der deutschen Geschichte. Die Auseinandersetzung auf der politischen Bühne kon-

53 Vgl.: J. Pajewski, „Mitteleuropa“ Studia z dziejów imperializmu niemieckiego w dobie pierwszej wojny światowej /„Mitteleuropa“. Studien���������������������������������������������������� aus der Geschichte des deutschen Imperialis­ mus/, Instytut Zachodni, Poznań 1959, S. 112-137. 54 B. Koszel, Mitteleuropa rediviva? Europa Środkowo- i Południowo-Wschodnia w polityce zjednoczonych Niemiec /Mitteleuropa rediviva? ����������������������������������������������������Mittel- Und Südosteuropa in der Politik des verenig­ ten Deutschland/, Instytut Zachodni, Poznań 1999, S. 22. 55 Vgl. eingehender: A. Marszałek, Z historii idei integracji międzynarodowej /Aus der Ge­ schichte der international en Integration/, Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego, Łódź 1997, Kap. III; vgl.: J. Chodorowski, Niemiecka doktryna Gospodarki Wielkiego Obszaru (Groβraumwirtschaft) 1800-1945 /Die deutsche Doktrin der Großraumwirtschaft 1800-1945/, Ossolineum, Wrocław– Warszawa–Kraków–Gdańsk 1972. 56 M. Kundera, The Tragedy of Central Europe, „The New York Review of Books“ 26 April 1984, S. 33-38. 57 O. Wæver, Three Competing Europes: German, French, Russian, „International Affairs“, Vol. 66, No. 3, July 1990, S. 479-480. 58 T.G. Ash, Mitteleuropa, [in:] S.R. Graubard (ed.), Eastern Europe, Central Europe, Eu­ rope, Westview Press, Boulder CO 1991, s. 4–6; R. Zięba, Rola zjednoczonych Niemiec w Europie Środkowej /Die Rolle des vereinten Deutschland in Mitteleuropa/, [in:] K. Adam Wojtaszczyk (Hrsg.), Zjednoczone Niemcy /Das vereinte Deutschland/, Instytut Nauk Politycznych UW, Warszawa 1996, S. 130-131. 40 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… zentrierte sich vor allem auf die Rolle der Mitteleuropa-Konzeption in der Ostpolitik der Bundesrepublik. Die Debatte, die vor allem in sozialdemokratischen Kreisen geführt wurde, wurde durch den Fall der Berliner Mauer unterbrochen.59 Sie kehrte nach der Wiedervereinigung Deutschlands zurück, als in der „neuen“ Bundesrepu- blik das Thema der Neudefinierung ihrer staatlichen Interessen und der Grundlini- en der Außenpolitik behandelt wurde. Viele Experten aus Mitteleuropa, aber auch aus anderen Ländern, überlegten dabei, ob der Wiederaufbau einer deutschen Vor- machtstellung auf dem Gebiet des historischen Mitteleuropa realistisch ist.60 Die Frage der Rolle Deutschlands in Mitteleuropa kehrte noch einmal Mitte der neunziger Jahre zurück im Zusammenhang mit dem Einsatz der Bundesrepub- lik für die EU-Erweiterung, insbesondere um Österreich, Schweden und die Staaten Mitteleuropas. Die Unterstützung der Bundesrepublik für die Mitgliedschaft dieser Länder in der EU beinhaltete auch die Kalkulation, dass unter der Ägide Deutsch- lands ein starker Staatenblock als Gegengewicht zum „romanischen Block“ ent- stehen könnte.61 Mit der EU-Erweiterung im Jahr 2004 stellte sich jedoch heraus, dass diese Vorstellung nicht in Erfüllung ging. Die Unterschiede zwischen der deut- schen Vision der europäischen Integration und den europapolitischen Konzeptio- nen der neuen Mitgliedsländer gingen zu weit auseinander. Mangelnder Unterstüt- zung für die Idee der weiteren Vertiefung der europäischen Integration begegnete Deutschland auch im Norden. Die skandinavischen Länder zeigten sich vor allem an einer wirtschaftlichen Integration interessiert.

2.6. Der Koordinationsmechanismus der Europapolitik der Bundesrepublik

Die Kompetenz der Führung der Außenpolitik liegt laut Grundgesetz (Art. 24, 32, 65, 73) bei folgenden Bundesorganen: Bundeskanzler, Bundesregie- rung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident. Nach Art. 65 Abs. 1 bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung (Richtlinienkompetenz).62 Die Stellung des Kanzlers ist außerdem durch seinen Sitz im Europäischen Rat privilegiert. Seine unmittelbare Beteiligung an den Entschei- 59 B. Koszel, Mitteleuropa..., s. 45–49. 60 Vgl. z. B.: W. Markiewicz, Zjednoczenie Niemiec i przyszła Europa /Das vereinte Deutschland und das zukünftige Europa/, „Dziś“, Nr. 5 (8), Mai 1991, S. 3-13; V. Handl, Germany and Central Europe: Mitteleuropa Restored?, „Perspectives. Review of Central European Affairs“ 1993, (Prague), No. 1, S. 45-51; L. Xiang, Is Germany in the Western or in Central Europe?, „Or- bis“ Summer 1992, Vol. 36, No. 3, S. 411 i n.; T. G. Ash, Germany’s Choice, „Foreign Affairs“ July/ August 1994, Vol. 73, No. 4, S. 65-81. Eingehender vgl.: M. Mathiopoulos, Das Ende der Bonner Republik, Dt. Verl.-Anst., Stuttgart 1993. 61 B. Koszel, Mitteleuropa..., op. cit., S. 148. Por. M. Stolarczyk, Podział i zjednoczenie Niemiec jako elementy ładów europejskich po drugiej wojnie światowej /Teilung und Vereinigung Deutschlands als Element der europäischen Ordnung nach dem 2. Weltkrieg/, Wydawnictwo Uniwer- sytetu Śląskiego, Katowice 1995, S. 197 und 216. 62 Grundgesetz…. Politische Prämissen 41 dungsprozessen der EU (Europäischer Rat) mit Unterstützung des Verteidigungsmi- nisters und die Festlegung der Grundlinien für die weitere Entwicklung der EU zusam- men mit anderen Regierungschefs und Regierungen festigt die Position des anzlers und verleiht ihm eine entscheidende Stimme im Namen Deutschlands.63 Offizielle Stellungnahmen in Fragen, die sich aus der Mitgliedschaft in der EU ergeben, stehen allein den Regierungsinstitutionen und ihren Bevollmächtigten zu. Eine wichtige Rolle bei der Koordination und der Richtungsbestimmung in der Europapolitik spielt das Bundeskanzleramt. EU-Angelegenheiten wurden dort bis Herbst 2002 in zwei Referaten behandelt: Referat 221 (Aspekte der Integrationspolitik) und Referat 431 (wirtschaftliche Aspekte). Am 1. September 2002 wurden die Referate in zwei Grup- pen (51 und 52) der Europa-Abteilung 5 umgewandelt. Diese Gruppen sind wieder- um in die Referate 511 und 512 bzw. 521 und 522 eingeteilt. Für die Koordinierung der Europapolitik der Regierung und die laufenden Fragen der EU sind die Refe- rate 511 und 521 zuständig, für die Beziehungen zu den Mitgliedsländern der EU das Referat 512, für Wirtschaftsangelegenheit das Referat 522.64 Auf die Gesamtheit der für die Europapolitik verantwortlichen Regierungsstrukturen haben zwei Ressorts den größten Einfluss: das Bundesministerium für Wirtschaft65 und das Auswärtige Amt.66 Nach dem Sieg der Koalition aus SPD und Grünen bei den Bundestagswah- len im Herbst 1998 wurde die Abteilung E (Europa-Abteilung) aus dem Bundesmi- nisterium für Wirtschaft in das Bundesministerium für Finanzen verlegt. Erweitert wurden auch die Zuständigkeiten des Auswärtigen Amts, insbesondere in der Frage der Koordination, Vorbereitung und Weitergabe von Anweisungen an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der Europäischen Union. Der Ständige Vertreter ist ein hochrangiger Diplomat, der beim Auswärtigen Amt angestellt ist, sein Stell- vertreter gehört zum Wirtschaftsministerium. Dem Auswärtigen Amt wurde auch das Sekretariat des Staatssekretärsausschusses für Europaangelegenheiten anver- traut.67 Die Hauptaufgabe des Auswärtigen Amts, des Wirtschafts- und des Finanz-

63 Por. J. Grünhage, Entscheidungsprozesse in der Europapolitik Deutschlands. Von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Berlin: Nomos, 2007, S. 53-56. 64 Ebd., S. 56-60. 65 ����������������������������������������������������������������������������������Das Bundesministerium für Wirtschaft wurde 1998 in das Bundesministerium für Wirt- schaft und Arbeit umgestaltet Und im Herbst 2005 aufgeteilt in das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. 66 �������������������������������������������������������������������������������������������In den fünfziger und sechziger Jahren waren die Schlüsselressorts der Europapolitik das Au- ßen-, Wirtschafts-, Finanz- und Landwirtschaftsministerium. Die Staatssekretäre dieser Ministerien wurden als „Vier Musketiere“ bezeichnet. W. Wessels, D. Rometsch, German administrative interac­ tion and European Union – The fusion of public policies, [in:] Y. Mény, P. Muller, J.-L. Quermonne (ed.), Adjusting to Europe – the impact of the European Union on national institutions and policies, Routledge, London 1996, S. 82. 67 Zu den Aufgaben des Ausschusses gehört vor allen Dingen die Abstimmung des deutschen Standpunkts, der später auf dem Forum des Rats der Europäischen Union und des Europäischen Rats eingenommen wird. Der Ausschuss tritt einmal im Monat unter dem Vorsitz des Staatsministers oder des Staatssekretärs für Europa-Angelegenheiten im Auswärtigen Amt zusammen. Feste Mitglieder sind 42 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… ministeriums ist die Aufsicht über Vorbereitung und Weitergabe von Anweisungen an die deutsche Ständige Vertretung für die Sitzungen des Ausschusses der Ständi- gen Vertreter (AStV, Comité des Représentants Permanents, COREPER).

Tabelle 2. Koordinationsgremien interministerieller Zusammenarbeit im Bereich Europapolitik Häufigkeit Gremium Ebene Vorsitz Themen der Treffen Wichtige Minister Tagesordnung nach Kanzler/ Kabinett politische und Bundeskanzler Bedarf Bundeskanzleramt Angelegenheiten Bis 1997 etwa Staatssekretäre Staatsekretär- monatlich, seitdem und Ständiger Staatsminister ausschuss für seltener (während Politische Vertreter AA; Stellvertreter Europaangele- der deutschen Fragen Deutschlands bei BMF genheiten Ratspräsidentschaft der EU zweimal)

Europabeauftragte Gruppe Politische (Beamte) Etwa alle 1-2 der Europa‑ AA Beratungen auf und Stellvertretender Monate beauftragten Beamtenebene Ständiger Vertreter Dienstagsausschuss: BMF (1998– Weisungen für Vorbereitung des Referatsleiter Wöchentlich 2005), seit 2005 AStV I AStV I BMW Dienstagsausschuss: AA/BMF Weisungen für Vorbereitung des Referatsleiter Wöchentlich (BMW)* AStV II AStV II * Gebiete bezüglich des Europäischen Wirtschaftsraums, Antidumpingpolitik, internationale Verträge mit ausschließlich wirtschaftlichem Charakter sowie Fragen, die vom Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) behandelt werden, Haushalt, Fiskalpolitik im Bereich der Kompetenzen des Finanzministeriums. Quelle: S. Bulmer, A. Mauler, W. Paterson, Das Entscheidungs- und Koordinationssytem deutscher Europapolitik: Hindernis für eine neue Politik, [in:] H. Schneider, M. Jopp, U. Schmalz (Hrsg.), Eine neue Deutsche Europapolitik. Rahmenbindungen-Problemfelder-Optionen, Bonn: Eu- ropa Union Verlag, 2000, S. 265.

Das Bundesfinanzministerium koordiniert die Vorbereitungen von Anwei- sungen für COREPER I (AStV I), mit Ausnehme der Bereiche, die gemäß der Aufga- benverteilung i der deutschen Regierung im Zuständigkeitsbereich des Auswärtigen Amts liegen, aber auch Fragen der Kultur, der Medien und der Audiovisualpolitik. die Staatssekretäre im Auswärtigen Amt, Finanzministerium, Ministerium für Wirtschaft und Techno- logie, Innenministerium, Justizministerium, Ministerium für Arbeit, Ministerium für Umweltschutz, Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie der Ständige Vertreter der Bundesrepublik bei der EU und der Chef des Bundeskanzleramts. Mit Zustimmung des Vorsitzen- den können auch Staatssekretäre anderer Ressorts an den Ausschusssitzungen teilnehmen. Politische Prämissen 43 Das auswärtige Amt ist hingegen für die Koordinierung der Vorbereitung von An- weisungen für COREPER II (AStV II) zuständig. Dies sind hauptsächlich Fragen der EU-, der Finanz- und der Innenpolitik sowie der Entwicklungshilfe. Das Aus- wärtige Amt spielte zusammen mit der 1993 in ihm eingerichteten Europaabteilung eine führende Rolle bei den Arbeiten, die mit der Problematik der EU-Erweiterung zusammenhängen. Mit dem Regierungswechsel im Herbst 2005 und der Entste- hung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD sowie der Übernahme der bei- den für die Europapolitik wichtigsten Ressorts, des Außen- und des Finanzministe- riums, wurde beschlossen, die Schlüsselrolle des Bundeswirtschaftsministeriums wiederherzustellen, das die allgemeine Koordination der Anweisungen für die Sit- zungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter übernahm (siehe Abb.1).68 In der Regierungsverwaltung wurde der Grundsatz der Vereinbarung von Standpunkten und der Entscheidungsfassung auf möglichst hoher Ebene sowie der gegenseitigen Konsultation zwischen den Ressorts angenommen. Im Rahmen der einzelnen Ressorts bestehen spezielle Zellen für Europafragen – die Referate. Die Referatsleiter sind zugleich Bevollmächtigte für Europafragen des jeweiligen Ministeriums. Einmal pro Woche finden Meetings statt, auf denen die Anweisungen für die Sitzungen des COREPER vorbereitet werden. Sämtliche Streitfragen werden auf der Ebene der Unterabteilungsleiter oder Abteilungsleiter bearbeitet. Die Ab- teilungsleiter treffen sich zwei bis drei Mal in der Woche unter dem abwechseln- den Vorsitz des Auswärtigen Amts oder des Finanz- bzw. Wirtschaftsministeriums. An ihnen nimmt auch ein Vertreter der ständigen Vertretung teil. Im Fall von Aus- einandersetzungen wird der endgültige Standpunkt auf Regierungsebene oder bei bilateralen Vereinbarungen der Ministerien aufgestellt. Die Regierung bestätigt den Standpunkt der Bundesrepublik in der Euro- papolitik und berücksichtigt die Meinung des Bundestags, die jedoch nicht ver- bindlich sein muss.69 Die Legislative erhält gemäß der Novelle von Art. 23 im Jahr 1992 die Möglichkeit der Beteiligung an der Koordinierung der Europapolitik.

68 Vgl.. A. Thomas, W. Wessels, Die deutsche Verwaltung und die Europäische Union. Berlin- Brüssel-Berlin. Beteiligungs- und Einwirkungsmöglichkeiten deutscher Verwaltungsbediensteter im politischen System der Europäischen Union, Brühl: Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, 2006. 69 Wenn die geplante Rechtsakte der Union ausschließliche gesetzgeberische Berechtigungen der Länder, die Schaffung von Einrichtungen der Bundesländer oder Verwaltungsvorgänge der Län- der betrifft, ist die Bundesregierung verpflichte, sich an den Standpunkt des Bundesrats zu halten. Art. 23. Abs.5 GG „Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berück- sichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzge- bungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betrof- fen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angele- genheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich.“ 44 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… Abbildung 1 Koordination der Europapolitik auf Bundesebene (vom 31. Januar 2005) Regierungsverwaltung

Bundestag, B undeskanzleramt Kabinett Ausschuss für Europaangelegenheite n

Staatssekretäre für AA, allgemeine BFM, allgemeine BMW, COREPER I Europaangelegenheiten Koordination Koordination + II (nur Haushalt, COREPER II COREPER II (nur Fiskalpolitik, ECOFIN) Finanzen)

Abteilungsleiter

Dienstagssitzungen der Bundesrat, Referatsleiter

Ausschuss für Europaangelegenheiten

Sachbearbeitung in den Referaten der Ressorts

BVG Politische Parteien Kirchen und Medien Öffentliche Gewerkschaften Meinung

Quelle: eigene Zusammenstellung auf der Grundlage der einschlägigen Fachliteratur

Nach der „Europaklausel“ spielen bei der Verwirklichung der Idee der Einigung des Alten Kontinents der Bundestag und der Bundesrat – und mit ihm die Bundes- länder – eine wichtige Rolle.70 Die Bundesregierung wurde zur Berücksichtigung

70 Grundgesetz, Art. 23 Abs. 1 „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bun- desrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität ver- pflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz ge- währleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte über- tragen. (…)“ Abs. 2 „In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.“ Abs. 3 „Die Bundesregierung gibt dem Bun- destag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei der Verhand- lungen. Das Nähere regelt ein Gesetz.“ Abs. 4 „Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hat oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären“ Vgl.: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bun­ desregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993, „Bundesgsetzblatt“, Teil I, S. 311-312. Vgl. eingehender: F.H.U. Borkenhagen (Hrsg.), Euro­ papolitik der deutschen Länder. Bilanz und Perspektiven nach dem Gipfel von Amsterdam, Opladen: Politische Prämissen 45 des Standpunkts des Bundestages bei den Verhandlungen und der Informierung bei- der Parlamentskammern verpflichtet. Der Bundestag beruft für jede Legislaturperi- ode einen Europaausschuss (Art. 45 GG). Unter Vermittlung des Europaausschus- ses kommt die Regierung ihrer Informationspflicht gegenüber dem Bundestag nach. Der Bundesrat ist verfassungsrechtlich (Art 52 Abs. 3a) zur Einrichtung einer Eu- ropa-Kammer zur Betrachtung von Fragen mit EU-Bezug befugt.71 Die von ihr be- schlossenen Standpunkte werden wie Beschlüsse des ganzen Bundesrats behandelt. Die deutschen Länder haben noch weitere institutionalisierte Möglichkeiten der Ein- flussnahme auf die Gestaltung der Europapolitik, nicht nur durch den Bundesrat: Einfluss auf die Abgeordneten zum Europaparlament (Konsultationen) – Vertreter der Länder sitzen im Ausschuss der Regionen, ständige Konferenzen der Ressortchefs (u. a. Konferenzen der Landesminister für Europafragen) oder der Ministerpräsidenten der Länder, Arbeitsgruppen der Vertreter der Landesregierungen und der Bundesre- gierung, Arbeitsgruppen bei der Europäischen Kommission, Mitgliedschaft mehrerer Länder in internationalen Organisationen, die eine wichtige Lobby in den europäi- schen Einrichtungen darstellen (z. B. Conference of European Regions with Legisla- tive Powers/Reg Leg, European Industrial Regions Association/ EIRA).72 Eine wichtige Rolle in der europäischen Politik spielte und spielt weiterhin das Bundesverfassungsgericht. Am 12. Oktober 1993 lehnte es eine Verfassungs- klage gegen die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht ab. Das Gericht stellte fest, dass das der Union vorgeworfene Demokratiedefizit so lange unbegründet ist wie der Vertrag über die Europäische Union die Errichtung eines Staatenverbunds zum Ziel hat, die Union der europäischen Völker, und nicht eines Staatenbunds oder Bundesstaats mit einem europäischen Volk. Die demokratische Legitimierung ist vor allem durch die Parlamente der Nationalstaaten gewährleistet. Das Bundesver- fassungsgericht stellte zudem fest, dass im Zuge der Entwicklung der Gemeinschaft und der Vertiefung der der Integration die Notwendigkeit einer Stärkung der Kom- petenzen des europäischen Parlaments wächst.73

Leska+Budrich, 1998; Ch. Schede, Bundesrat und Europäische Union. Die Beteiligung des Bundes­ rates nach dem neuen Artkel 23 des Grundgesetztes, Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH, 1994, J. Grünhage, op. cit., S. 145-152; 201-213. 71 Der Europa-Kammer gehören 16 Mitglieder des Bundesrats an, einer aus jedem BunBun-- desland, die von den Landesregierungen bestimmt werden (meistens die Chefs der Ländervertretun- gen in Berlin). Vgl.: G. Brigelen, Europapolitische Meinungsbildung in Deutschland. Institutionelle Struktur der Formulierung europapolitischer Positionen, dargestellt am Beispiel der Regierungskon­ ferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages, [in:] W. Weidenfeld (Hrsg.), Deutsche Europapolitik. Optionen wirksamer Interessenvertretung, Bonn: Europa Union Verlag, 1998, S. 105-109. 72 K. Bachmann, Polityka europejska. Ucieczka od federalizmu europejskiego /Europapolitik. Die Flucht vor dem europäischen Föderalismus/, [in:] K. Bachmann, P. Buras, S. Płóciennik, Repu­ blika bez gorsetu. Niemcy po wyborach 18 września 2005 roku /Republik ohne Korsett. Deutschland nach den Wahlen vom 18. September 2005/, Wrocław: Oficyna wydawnicza ATUT–Wrocławskie Wydawnictwo Oświatowe, 2005, S.148-149. Vgl.: J. Grünhage, op. cit., S. 242-267. 73 Vgl.: Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2. Senat, 12.10.1993, über verschiedene Ver­ 46 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 in der Frage der Übereinstimmung des Vertrags von Lissabon mit dem Grundgesetz bewirkte die Verabschiedung neuer Kompetenzvorschriften des Bundestags in Angelegenhei- ten der Europäischen Union.74 Die Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lis­ sabon wurden vom Vorsitzenden der Ökologisch-Demokratischen Partei Klaus Buchner, dem CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler und der Linkspartei (Die Linke) vorgebracht. Dazu kommt eine Gemeinschaftsklage des ehemaligen Vorstandsvor- sitzenden der Thyssen AG Dieter Spethmann, des ehemaligen Europaabgeordneten der CSU Franz Ludwig von Stauffenberg, des Wirtschaftexperten Joachim Starbatty und des Berliner Jura-Professors Markus Kerber. Die Klage stützte sich auf die Ar- gumentation, dass der Vertrag von Lissabon das Demokratiedefizit in der EU ver- tiefe und das Grundgesetz schwäche. Das Verfassungsgericht bewertete die drei Gesetze, die in Zusammenhang mit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon geschlossen worden waren: das Ratifizierungsgesetz, das Gesetzt zur Grundgesetz- änderung und auch das so genannte Begleitgesetzt über die Erweiterung und Stär- kung der Rechte von Bundestag und Bundesrat in europäischen Angelegenheiten. Die Richter der zweiten Spruchkammer befanden, dass der Vertrag von Lissabon nicht im Widerspruch zum Grundgesetz steht, stellten aber gleichzeitig das Be- gleitgesetz in Frage. Sie wiesen auf ein Defizit an Mitentscheidung des Bundestags und des Bundesrats in europäischen Fragen hin. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist die Europäische Union weiterhin ein Verbund unabhängiger Staa- ten (Staatenbund) und keine Föderation (Staatenbund). Eine eventuelle zukünftige Umformung der Europäischen Union in eine föderative Struktur bedarf der unmit- telbaren Legitimierung durch das deutsche Volk und der Verabschiedung einer neuen Verfassung. Die Machtorgane der Bundesrepublik sind nach dem Grundgesetz nicht befugt, „das Recht auf Selbstbestimmung in Form einer völkerrechtlichen staatli- chen Souveränität aufzugeben.“75 Der Bundestag nahm die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts an, das an den Gesetzgeber appellierte, die Positionen von Bundestag und Bundeslän- dern im Koordinationsprozess der Europa-Politik zu stärken, und machte den Weg fassungsbeschwerden gegen Gesetz vom 28. Dezember 1992 zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europasche Union sowie gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992, 2 BvR 2134/92 und 2159/92; G. Brigelen, op. cit., S. 110-111; vgl.: Ch. Deubner, Deutsche Europapolitik: Von Maastricht nach Kerneuropa?, Baden-Baden: Nomos, 1995, S. 20. 74 Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2. Senat vom 30. Juni 2009, BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvR 1010/2008, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 5/08 und 2 BvR 182/09; zu- gänglich auch auf der Webseite des Bundesverfassungsgerichts: http://www.bverfg.de/entscheidun- gen/ es20090630_2bve000208.html (Februar 2010). 75 R. Formuszewicz, Wyrok niemieckiego Federalnego Trybunału Konstytucyjnego w kwestii ratyfikacji traktatu lizbońskiego /Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Frage der Ratifi­ zierung des Vertrags von Lissabon/, „Biuletyn“, Nr. 48 (580), 12. August 2009, PISM, Quelle: http:// www.pism.pl/biuletyny/files/20090812_580.pdf (März 2010). Politische Prämissen 47 frei zum Abschluss der Ratifizierung des Vetrags von Lissabon durch die Bundes- republik. Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD führte unverzüglich Kon- sultationen mit den parlamentarischen Oppositionen auf Bundes- und Landesebe- ne durch und erarbeitete den Entwurf für die vier detaillierten Kompetenzgesetze (18. August 2009). Die Verabschiedung der neuen Vorschriften am 8. September 2009 durch den Bundestag mit beträchtlicher Stimmenmehrheit (446 dafür, 46 da- gegen, 2 Enthaltungen) und am 18. September durch den Bundesrat (einstimmig) stärkte die Befugnisse der Legislative in Fragen der Union.76 Die neuen Kompe- tenzgesetze verpflichten die Bundesregierung dazu, das Parlament „umfassend und möglichst frühzeitig“ über die Verhandlungen auf dem Forum der Europäi- schen Union zu informieren und alle notwenigen Unterlagen und Rapporte über deren Ergebnisse vorzulegen. Durch die neuen Berechtigungen zur Mitentscheidung wurde die Bundesregierung verpflichtet, in Fragen der Übertragung nationalstaatli- cher Befugnisse an die Union, jedes Mal zuerst den Bundestag anzuhören, dessen Standpunkt die Grundlage für das Vorgehen der Bundesregierung sein sollte, da- bei allerdings nicht verbindlich ist. Die Regierung behält weiterhin die vollständige Verhandlungsbefugnis, ist allerdings dazu verpflichtet, dem Parlament Berichte über die Differenzen zwischen den Schlussergebnissen und den vorherigen Standpunkten des Bundestags und des Rats zu leisten. Nichtsdestoweniger muss jede Rechtsakte der Union, die weiteren Ausweitungen der Kompetenzen der EU vorsieht, vom Bun- destag in Form eines Gesetzes verabschiedet werden. Auch für die Einlegung ei- nes Vetos durch den deutschen Vertreter im Rat der Europäischen Union muss vorab das Einverständnis des Bundestages eingeholt werden.77 Der Beschluss der neuen Kompetenzvorschriften hob erheblich die Bedeu- tung der Legislative im Koordinationssystem der Europapolitik. Eine Schwächung erfuhr die Position des Auswärtigen Amts, während die Position des Kanzleramts gestärkt wurde, das nun eine Konzeptions-, Koordinations- und Kontrollfunktion ge- genüber den anderen Ressorts ausübt und zur Berichterstattung gegenüber dem Bun- destag verpflichtet ist. Die Pflicht der Informierung des Bundestags und Bundesrats über die Verhandlung auf dem EU-Forum betrifft auch die Erweiterung der Union, im Falle des Bundesrats dann, wenn die Erweiterung die Interessen der Bundesländer tangieren könnte. Die Regierung erstattet zudem Bericht über die Beitrittsverhand-

76 E. Cziomer, Polityka zagraniczna Niemiec w dobie nowych wyzwań globalizacji, bezpieczeństwa międzynarodowego oraz integracji europejskiej po 2005 r. /Die deutsche Außenpolitik in der Zeit neuer Herausforderungen der Globalisierung, der internationalen Sicherheit und der eu­ ropäischen Integration nach 2005/, Dom Wydawniczy Elipsa/ Krakowska Akademia im. Frycza Modrzewskiego, Warszawa–Kraków 2010, S. 187-188. 77 Vgl.: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern...; zuletzt geändert durch das Gesetz vom 22. September 2009, „Bundesgesetzblatt“ Teil I, S. 3031. Gesetz über die Zusammen­ arbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 zuletzt geändert durch das Gesetzt vom 22. September 2009, „Bundesgesetzblatt“ Teil I S. 3026. Die Gesetze sind auf den offiziellen Webseiten des Bundestags und des Bundesrats zugänglich. 48 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… lungen auf Antrag des Europa-Ausschusses des Bundesrats. Die Regierung kann den Standpunkt des Bundesrats berücksichtigen. Die Länder können einen Vertreter zu den Abstimmungen in den Ressorts über die Verhandlungsstandpunkte delegie- ren, möglich ist auch ihre Teilnahme an der Arbeitsgruppe des Bundesrats zu Fragen der Erweiterung. Beide Fälle sind dann möglich, wenn die auf diesen Treffen bespro- chenen Fragen ausschließliche gesetzgeberische Kompetenzen der Länder und ihre existenziellen Interessen betreffen.78 In dem oben dargestellten Modell des Entscheidungsprozesses der Europa- politik der Bundesrepublik (Abb. 1) wurde zudem der Einfluss der großen Interes- senverbände berücksichtigt. Interessenverbände sind vor allem die Gewerkschaften (z. B. der Deutsche Gewerkschaftsbund), gemeinnützige Vereine (z. B. Friedensbe- wegung, Greenpeace), Kirchen, Wirtschaftsverbände (z. B. der Deutsche Indust- rie- und Handelstag, DIHT, der Deutsche Bauernverband, DBV) und die politischen Parteien. Die Parteien werden ihrer Funktion nach zu den institutionalisierten Inte- ressengruppen gezählt, die politischen Einfluss auf den Entscheidungsprozess aus- üben können.79 Auch verschiedene Stiftungen zeigen eine große Aktivität in Fragen der Erweiterung, die sich vor allem in der Veranstaltung von Kongressen und Konfe- renzen, Foren, Workshops sowie der Unterstützung des Kultur- und Wissenschafts- austauschs äußert. Sehr wichtig sind die Publikationen und Jahresberichte vor allem der mit den politischen Parteien verbunden Stiftungen: der CDU-nahen Konrad- Adenauer-Stiftung, der CSU-nahen Hans-Seidel-Stiftung, der SPD-nahen Friedrich- Ebert-Stiftung, der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung.80

3. Ökonomische Prämissen

3.1. Der Bedarf nach Festigung der sozialen Marktwirtschaft in der Bun‑ desrepublik

Die wirtschaftliche Problematik in der Außenpolitik der Bundesrepub- lik in der Frage der EU-Erweiterung äußerte sich anfänglich im Zusammenhang mit dem geplanten EU-Beitritt der EFTA-Staaten. Diese Erweiterung wurde als of- fensichtlicher Schritt behandelt, der Deutschland und den übrigen EU-Staaten gro- ßen Nutzen bringen würde, da es sich bei den Beitrittsstaaten um hoch entwickelte Wirtschaftsmächte handelte, die zudem über ein hervorragendes, in manchen Fällen

78 Ebd.. 79 Vgl.: R. Rode, Deutsche Außenpolitik, Amsterdam: G+B Verlag Fakultas, 1996, S. 16-35. 80 Vgl.: Jahresberichte der Konrad-Adenauer-Stiftung: www.kas.de; der Friedrich-Naumann- Stiftung: www.fnst-freiheit.org; der Friedrich-Ebert-Stiftung: http://library.fes.de/fulltext/fes/03208. html; der Hans-Seidel-Stiftung: www.hss.de; der Heinrich-Böll Stiftung: www.boell.de. Ökonomische Prämissen 49 die EU-Standards bei weitem übertreffendes, soziales Netz verfügten. Das entsprach durchaus den Grundannahmen der deutschen Marktwirtschaft. Das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik ist die soziale Marktwirtschaft (SMW). Sie stützt sich auf das ordoliberale Denken81, dessen wichtigster Vertreter nach dem 2. Weltkrieg Ludwig Erhard war. In dem Vertrag über die Schaffung ei­ ner Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutsch­ land und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18.Mai 1990 (inkraftgetreten am 1. Juli 1990) wurde erstmals die soziale Marktwirtschaft definiert.82 Die soziale Marktwirtschaft bezweckt neben den für die Marktwirtschaft allgemein kennzeich- nenden Elementen wie Privateigentum, Wettbewerb, freier Verkehr von Arbeitskräf- ten, Kapital, Gütern und Dienstleistungen die Einhaltung der Prinzipien des sozia- len Gleichgewichts und die Gewährleistung eines Sozialversicherungssystems nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit. Die soziale Marktwirtschaft wich allerdings in der Bundesrepublik etwas von ihren ursprünglichen Grundannahmen ab, denn die Rolle des Staates erfuhr eine Festigung. Dies ergab sich aus der Tatsache, dass sie sonst nicht den Heraus- forderungen der Globalisierung gerecht werden kann. Ein Versuch der Reform des Wirtschaftssystems wurde von der Koalition aus SPD und Bündnis’90/Grüne in den Jahren 1998-2005 unternommen. Darin wurden unter anderem angenommen: ein Sparpaket, das eine Konsolidierung des Bundeshaushalts bezweckte, ein dreistu- figes Steuersenkungsprogramm, Renten-, Gesundheits- und Sozialreform, Änderun- gen bei der Regulierung des Arbeitsmarkts und der Finanzierung des Wiederaufbaus in den neuen Bundesländern.83 Eine starke Opposition gegenüber dieser Wirtschafts-

81 Der Ordoliberalismus ist eine Strömung des Liberalismus, die sich in Deutschland in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Die Hauptideologen waren Franz Böhm, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack. Der Ordoliberalismus stellte einen Versuch der Modifizierung des angelsächsischen klassischen Liberalismus und seiner Anpassung an die deutschen Bedingungen und die deutsche Men- talität dar. Der Schutz des Privateigentums und die Einhaltung der Regeln der Marktwirtschaft wurden mit der Katholischen Soziallehre, Wertkonservatismus und einer Zusammenführung der Prinzipien des freien Markts und des sozialen Gleichgewichts vereinbart. Vgl.: T.G. Pszczółkowski, Ordoli­ beralizm: społeczno-polityczna i gospodarcza doktryna neoliberalizmu w RFN /Ordoliberalismus: eine sozialpolitische und ökonomische Doktrin des Neoliberalismus in der BRD/, PWN, Warszawa– Kraków 1990; T.T. Kaczmarek, P. Pysz, Ludwig Erhard i społeczna gospodarka rynkowa /Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft/, Instytut Studiów Politycznych Polskiej Akademii Nauk, Warszawa 2004. 82 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Bonn, den 18. Mai 1990, „Bulletin des Presse- und Informationsamt der Bundesregierung“ vom 18. Mai 1990, Nr. 63, S. 517-518. 83Am 17. Oktober 2003 verabschiedete der Bundestag acht Gesetze eines Pakets, das als Agenda 2010 bezeichnet wurde und Änderungen im Arbeitsrecht, dem Sozialleistungs- und Steu- ersystem beinhaltete. Verschärft wurden in ihm die Vorschriften über Arbeitslosengeld und Arbeits- losenunterstützung, die Einkommenssteuer wurde gesnkt, eine zusätzliche Tabaksteuer eingeführt, 50 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… reform, sogar innerhalb der SPD, führte zu einem Rücktritt der Regierung, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vertrauensfrage gestellt und Bundespräsident Köhler Neuwahlen angeordnet hatte. Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD in den Jahren 2005-2009 und seit Herbst 2009 die Koalition aus CDU/CSU und FDP, beide unter Bundeskanzlerin Angela Merkel, setzten die Reform der Agenda 2010 fort, vor allem die Kürzung der Sozialausgaben und neue Lösungen im Bereich der Arbeitsbeschaffung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Das herkömmliche Modell der sozialen Marktwirtschaft erfährt so eine Anpassung an die neuen interna- tionalen Herausforderungen.84 Die deutsche Vereinigung hatte einen wesentlichen Einfluss auf die Wirt- schaft der Bundesrepublik. Das übergeordnete Ziel war die vollständige wirtschaft- liche Integration der beiden deutschen Teile. Ein Grundproblem war die Schaffung von Bedingungen für die Bevölkerung der ehemaligen DDR, die es ihr erlauben würde, maximalen Nutzen aus den Möglichkeiten der Marktwirtschaft zu ziehen. In Zusammenhang damit wurde das System der staatlichen Subventionen und So- zialleistungen erheblich ausgebaut. So machte etwa im Jahr 1960 die Sozialhilfe 33,5% der Haushaltsausgaben aus, während im Jahr 2000 allein für Ostdeutschland 55,7% aufgebracht wurden (für Westdeutschland 30,5%). Die Kosten der Vereini- gung in den Jahren 1990 bis 2005 werden nach verschiedenen Schätzungen auf ca. 1,5 Bio. EUR berechnet.85 Die seit Anfang 2005 geltenden Regelungen im Rahmen des Solidaritätspakets (Solidarpakt II) garantieren den Bundesländern der ehema- ligen DDR eine Fortsetzung der finanziellen Unterstützung bis 2019. Die Gelder wurden auf zwei Körbe verteilt. Im ersten befinden sich die Mittel für Infrastruktur und Finanzausgleich der Gemeinden in Höhe von 105 Mrd. Euro. Die 51 Mrd. EUR aus dem zweiten Korb sind für zweckgebundene Projekte bestimmt.86 eine lokale Gewerbesteuer wurde 780.000 Freiberuflern auferlegt, das System der Gesundheitsfür- sorge reformiert und das Handwerksrecht liberalisiert. Vgl. eingehender: B. Brocka-Palacz, Zmiany w polityce gospodarczej Niemiec w okresie rządów koalicji SPD/Zieloni /Änderungen in der deut­ schen Wirtschaftspolitik in der Zeit der Koalitionsregierung aus SPD und Grünen/, [in:] I. Bil (et al.), Gospodarka Niemiec a kraje Europy Środkowej i Wschodniej /Die Wirtschaft Deutschlands und der Länder Mittel- und Osteuropas/, Szkoła Główna Handlowa – Oficyna Wydawnicza, Warsza- wa 2006, S. 34-39; U. Busch, Niemcy: kraj w kryzysie ekonomicznym i społecznym. Sytuacja gospo­ darcza Niemiec na początku XXI wieku /Deutschland: ein Land in der wirtschaftlichen und sozialen Krise/, „Zeszyty Niemcoznawcze“ 2003, Nr. 1, S. 7-30. 84 Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU undi SPD am 11. November 2005, Quelle: http:// koalitionsvertrag.spd.de/servlet/PB/show/1645854/111105_Koalitionsvertrag.pdf, (Oktober 2007). 85 J. Olszyński, Rola państwa we współczesnej gospodarce Niemiec Die Rolle des Staats in der gegenwärtigen Wirtschaft Deutschlands/, [in:] W. Małachowski (Hrsg.), Gospodarka współczesnych Niemiec /Die Wirtschaft des heutigen Deutschland/, Kolegium Gospodarki Światowej Szkoła Główna Handlowa, Warszawa 2001, S. 20-21. Vgl. eingehender: J. Kleer, Z teorii rozwoju skokowego: czas i koszty integracji Niemiec /Aus der Theorie der sprunghaften Entwicklung. Zeit und Kosten der duetschen Integration/, [in:] W. Małachowski, Gospodarka.. /Die Wirtschaft…/, op. cit., S. 57-108. 86 J. Czech-Rogosz, Wielka koalicja wobec procesu unifikacji gospodarek wschodnich i za­ Ökonomische Prämissen 51 Die Transformationsprozesse in den östlichen Bundesländern erfordern weiter- hin ein großes Engagement des Staates. Die Transformation und die mit ihr verbundenen Probleme verlangsamten das Wirtschaftswachstum. Ständig wächst das Haushaltsde- fizit (im Jahr 2002 das höchste unter den Staaten der Eurozone). Die Arbeitslosenquo- te in Deutschland stieg signifikant (von 7,7% im Jahr 1991 auf 9,4% im Jahr 2002), besonders in den östlichen Ländern, wo sie Ende der neunziger Jahre beinahe 19% betrug.87 In diesem Kontext war man der Ansicht, dass die Erweiterung der Europäi- schen Union ein wesentliches Stimulans für die Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung besonders in den östlichen Ländern bedeuten würde. Das vereinte Deutschland richtete seine besondere Aufmerksamkeit auf sei­ne nächsten Nachbarn, die Staaten der Visegrád-Gruppe88, und in allererster Linie auf Po- len und die Tschechoslowakei (und nach deren Auseinanderbrechen – die Tschechi- sche Republik), aber natürlich auch auf Russland als Großmacht, die die Nachfolge des größten Teils der politischen Stellung der UdSSR in der Region angetreten hatte. Dies ergab sich vor allem aus den Befürchtungen, die in der deutschen Bevölkerung, insbesondere in den östlichen Bundesländern laut wurden, dass die Unterschiede im Lohnniveau in Deutschland und den Ländern Ost- und Mitteleuropas wie auch die hohe Arbeitslosigkeit in einigen dieser Länder ein Anwachsen der Migrationsbe- wegung verursachen könnten. Ein unkontrollierter Zustrom von Arbeitskräften, ins- besondere qualifizierten Fachkräften als Konkurrenz für die Einheimischen, könnte die Stabilität des ohnehin schon seit Jahren von einer hohen Arbeitslosigkeit heim- gesuchten deutschen Arbeitsmarkts beeinträchtigen. chodnich landów RFN /Die Große Koalition angesichts des Prozesses der Vereinheitlichung der Wirt­ schaftssysteme in den östlichen und wetslichen Bundesländern der BRD/, [in:] D. Kopycińska (Hrsg. red.), Polityka gospodarcza państwa /Die staatliche Wirtschaftspolitik/, Uniwersytet Szczeciński, Szczecin 2007, S. 129. 87 Zob. Statistisches Bundesamt Deutschland, www.destatis.de. 88 ����������������������������������������������������������������������������������������Die ������������������������������������������������������������������������������������Visegrád-Gruppe���������������������������������������������������������������������������� ist eine institutionalisierte Gruppierung der Tschechischen und Slo- wakischen Bundesrepublik, der Republik Polen und der Republik Ungarn (Visegrád-Dreieck) und nach der Auflösung der Tschechoslowakei (1. Januar 1993) deren Nachfolgestaaten. Das Haupt- ziel der Gruppe war in den neunziger Jahren eine Zusammenarbeit zur Beschleunigung der Integra- tion der Mitliedsstaaten der Gruppe mit der Europäischen Union und der NATO. Vgl. eingehender: R.L. Tökes, From Visegrad to Krakow: Cooperation, Competition, and Co-existence in Central Eu­ rope, „Problems of Communism“, Vol. 40, No. 6, November-December 1991, S. 100-114; J.B. Spe- ro, The Budapest-Prague-Warsaw Triangle: Central European Security after the Visegrad Summit, „European Security“, Vol. 1, No. 1, Spring 1992, S. 58-83; R. Zięba, „Nowy regionalizm“ w Euro­ pie a Polska /Ein „neuer Regionalismus“ in Europa und Polen, „Sprawy Międzynarodowe“ 1992, Nr. 1-2, S. 27-32; P. Deszczyński, M. Szczepaniak, Grupa Wyszehradzka – współpraca polityczna i gospodarcza /Die Visegrád-Gruppe – politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit/, Wydaw- nictwo Adam Marszałek, Toruń 1995; A. Cottey, East-Central Europe after the Cold War: Poland, the Czech Republic, Slovakia and Hungary in Search of Security, Macmillan, Basingstoke 1995, S. 126-135; V. Bunce, The Visegrad Group: Regional Cooperation and European Integration in Post- Communist Europe, [in:] P. J. Katzenstein (ed.), Mitteleuropa: Between Europe and Germany, Berg- hahn Books, Providence/Oxford 1997, S. 240-284. 52 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… Als Gefährdung für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland und auch die innere Sicherheit könnte sich, so die Befürchtungen, auch die Verringerung oder Abschaffung der Grenzkontrollen nach der EU-Erweiterung erweisen. Wie Norbert Wieczorek auf einer Konferenz zum Thema Die Osterweiterung der EU und ihre Fol­ gen für Deutschland, die im März 2001 von der Walter-Raymond-Stiftung in Berlin veranstaltet wurde, feststellte, stand nicht hinter allen diesen Befürchtungen eine re- ale Gefahr – aber die Politik musste dennoch darauf reagieren, und sei es durch die Einführung von Übergangsfristen.89

3.2. Der Bedarf nach Festigung der internationalen Wirtschaftsposition der Bundesrepublik

Deutschland wird häufig durch das Prisma seiner Wirtschaftskraft als ein Han- delsstaat, der keine militärischen mittel zur Erlangung seiner Ziele auf der internatio- nalen Bühne einsetzt, betrachtet und bewertet.90 Dieser Staatentyp unterscheidet sich von den herkömmlichen Mächten wie den USA oder Russland. Nach Angaben des In- ternationalen Währungsfondsnimmt Deutschland im Jahr 1993 hinsichtlich des BIP den vierten Platz weltweit hinter den USA, Japan und China ein; es belief sich auf 1,6 Bio. USD, was 5,21% des weltweiten BIP ausmacht. Diese hohe Position behielt Deutsch- land bis 1995. Im Jahr 1996 wurde Deutschland unwesentlich von Indien, das gerade einen enormen Wirtschaftsboom erlebte, überholt. Nach der EU-Erweiterung von 2004 und 2007 bleiben diese Tendenzen bestehen. Deutschland nimmt den fünften Platz in der Welt hinsichtlich der Höhe seines BIP ein, das sich im Jahr 2007 auf 2,7 Bio. USD belief, 3,75% des weitweiten BIP und 18,15% des BIP in der ganzen EU91; vor Deutsch- land liegen weiterhin die USA (19,07%), China (16,04%), Indien (6,53%) und Japan (6,03%).92 Das Prokopfeinkommen (BIP per capita) betrug 2007 über 32.000 USD, was um ca. 2.5000 USD über dem EU-Durchschnitt lag. Nach Volker Rittberger sind die Attribute des Handelsstaates vor allem: Interesse an den Problemen in der Region, Eintreten für den Ausbau wirtschaftlicher Wechselbeziehungen und des freien Markts, ein großes Wirtschaftspotenzial und ein großer Anteil am Welthandel.93

89 Vgl.: N. Wieczorek, op. cit., S. 37. 90 Vgl. eingehender: R. Rosecrance, Der neue Handelsstaat. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft, Campus, Frankfurt am Main 1987. 91 Seit den Anfängen der EU ist der Anteil des deutschen BIP relativ zurückgegangen: 1993 belief er sich auf 20,81%, 1995 auf 20,53%, 2004 r. auf 18,53%. Eigene Berechnungen auf der Grund- lage: Word Economic Outlook, IMF, Washington DC, September 2007. 92 Im Jahr 1995 rückte China an Platz 2 hinsichtlich des BIP. Die angegebenen Daten beruhen auf eigenen Berechnungen auf der Grundlage: Word Economic Outlook, IMF, Washington DC, Sep- tember 2007, S. 204 u. a. Daten des Internationalen Währungsfonds, Quelle: http://www.imf.org/ex- ternal/pubs/ft/weo/ 2007/02/weodata/weorept.aspx?sy=1993&ey=2008&scsm=1&ssd=1&sort=cou ntry&ds=.&br=1&c=924%2C134%2C534%2C158%2C111&s=PPPGDP&grp=0&a=&pr.x=47&pr. y=6, (November 2007). 93 V. Rittberger, Machtstaat, Handelsstaat, Zivilstaat?, [in:] W. Bergem, V. Ronge, G. Wei- Ökonomische Prämissen 53 Von enormer Bedeutung für die deutsche Wirtschaft sind die Beziehungen mit dem internationalen Umfeld. Noch vor der deutschen Einheit war die Bundesrepu- blik ein „Wirtschaftsriese“ und „Exportweltmeister“. Heute steht Deutschland im Welt- handel an zweiter Stelle. Deutschland war im Export führend (9,3% Anteil am weltweiten Export) und lag hinter den USA an zweiter Stelle beim Import (7,2% des weltweiten Im- ports). Im zweiten Quartal 2009 China hat Deutschland im Ex¬port überholt. Deutsch- land ist zweiter Exportweilmeister. Die Zahlen der Welthandelsorganisation stellen Deutschland an Platz zwei im Export mit 9,2%, herausgeholt von China mit 9,9% Anteil am weltweiten Export. Der deutsche Export ist ein großer Teil des gesamten Exports der EU, auch wenn in den Jahren 1990 bis 2005 sein Anteil von 25% auf 22,2% zu- rückgegangen ist. Ähnlich stellt sich die Situation im Import dar, der in demselben Zeit- raum von 20,3% leicht auf 17,0% zurückging.94 Deutschland verfügt über die weltweit größten Finanzreserven (111,6 Mrd. USD 2006).95 Die Probleme mit der Vereinigung wirkten sich nicht besonders auf den Außenhandel aus. Dies hing vor allem mit der star- ken Position der westlichen Bundesländer, insbesondere Baden-Württembergs, Bay- erns und Nordrhein-Westfalens beim Export zusammen. Über 45% des BIP stammt aus dem Export deutscher Waren, vor allem Industrieerzeugnissen wie Kraftfahrzeuge, Elektrotechnik, Maschinenbau und chemische Produkte.96 Auf die Staaten der EU entfiel die Hälfte des deutschen Handels. Im Jahr 2006 wurden drei Viertel der deutschen Waren in die europäischen Staaten verkauft, darunter 62,3% in die Mitgliedsländer der EU. Den zweiten Platz im Export nahmen die asiatischen Länder ein mit einem Anteil von 12%, dicht gefolgt von Amerika mit einem Anteil von knapp 12%. Die Hauptabnehmer von Waren waren Frankreich (9,5%), die USA (8,7%) und Großbritannien (7,2%). Auch der größte Teil des deut- schen Imports kam aus Europa (70%), darunter 57,6% aus Ländern der EU; die wich- tigsten Importpartner waren Frankreich (8,5%), die Niederlande (8,3%) und China (6,8%). Nach Europa folgten Asien (17%) und Amerika (10%).97

ßeno (Hrsg.), Friedenspolitik in und für Europa. Festschrift für Gerda Zellentin zum 65. Geburtstag,: Leske+ Budrich, Opladen 1999, S. 83-111. Vgl.: M. Staack, Handelsstaat Deutschland Deutsche Außenpolitik in einem neuen internationalen System, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2000. 94 Vgl.: International Trade Statistics 2006, WTO, Washington DC 2007, S. 18, 65; Inter­ national Trade Statistics 2009, WTO, Geneva 2009, S. 12. Günstiger wirken diese Indikatoren nach den Daten der EU selbst. Danach hatte im Jahr 2005 Deutschland 26,7% des Anteils am gesamten Au- ßenexports der EU-25 und 19,0% am Import der EU-25; vgl.: Eurostat Yearbook 2006-07, S. 199. 95 Daten nach The World Factbook, Central Intelligence Agency, Quelle: https://www.cia. gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gm.html, (November 2007). 96 Vgl. eingehender: J. Misala, Cechy i tendencje rozwojowe handlu zagranicznego Niemiec ze szczególnym uwzględnieniem handlu wschodnich landów z Polska /Eigenschaften und Entwick­ lungstendenzen des deutschen Außenhandels unter besonderer Berücksichtigung des Handels der öst­ lichen Bundesländer mit Polen/, [in:] W. Małachowski (Hrsg.), Polska – Niemcy a rozszerzenie Unii Europejskiej / Polen – Deutschland und die Erweiterung der Europäischen Union, Bd. 2, Szkoła Główna Handlowa-Oficyna Wydawnicza, Warszawa 2004, S. 63-78. 97 Daten nach: Statistisches Bundesamt Deutschland, Quelle: http://www.destatis.de/jet- 54 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… Die geografische Nähe der Beitrittsländer der Norderweiterung war mit zahl- reichen Präferenzen und Prioritäten der deutschen Wirtschaft, Sozial- und Umwelt- schutzpolitik verbunden. Insbesondere die Aufnahme Österreichs sollte die Position Deutschlands in der Region festigen aufgrund der engen historischen Verbundenheit zwischen diesen beiden Staaten. Die Länder der EFTA waren mit der Bundesrepublik auch durch das Interesse an der Unterstützung der demokratischen Reformen in Mit- tel- und Osteuropa verbunden. Ein anderes Argument für den Beitritt dieser Länder war auch ihre starke Wirtschaft, ihre finanzielle Stabilität ihr gefestigtes demokrati- sches System. Die Bundesrepublik war und ist sehr stark wirtschaftlich und finanziell mit den EFTA-Staaten verbunden, deren wichtigster EU-Partner sie ist. Österreich und die Schweiz gehörten zur Zone der D-Mark und Schweden versuchte zu Beginn der neunziger Jahre eine restriktive Monetarpolitik mit festem, einseitig zum ECU festgesetztem Wechselkurs der Krone einzuführen.98 Während die Erweiterung der EU um die Staaten der EFTA hauptsächlich durch wirtschaftliche Beweggründe bedingt war, waren diese Prämissen Anfang der neunziger Jahre im Bezug auf die Staaten Mitteleuropas zweitrangig. Der An- teil dieser Staaten am Außenhandel der Bundesrepublik noch vor der Vereinigung war nicht bedeutend aufgrund der schwach ausgeprägten Formen der Kooperati- on und des Handelsverkehrs. Ökonomische Prämissen begannen erst gegen Ende der neunziger Jahre eine größere Rolle zu spielen, als es sich zeigte, dass der Wirt- schaftsaustausch und Handelsverkehr mit diesen Staaten sich positiv entwickelt. Die Ergebnisse und die Aussicht auf weitere Profite bewogen die Deutschen zur Un- terstützung der Beitrittskandidaten.99 Dies zeigt eine Umfrage (Tab. 3), die Wolf-Die- ter Eberwein und Matthias Ecker-Ehrhardt im Jahr 2001unter den deutschen Eliten durchführten. Die Formulare mit der Frage „Was kann Deutschland durch den Bei- tritt Polens zur EU gewinnen?“ wurde an 1.130 Empfänger versandt, 439 ausgefüll- te Fragebögen kamen zurück.100 Dabei konzentrierten sich die Befragten vor allem auf wirtschaftliche Fragen. Durch eine Erweiterung des Binnenmarkts der Union würde Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Mitglied neue Absatzmärkte gewinnen. Diese Überzeugung wurde von 82,3% der Befragten bestätigt. Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung in Mitteleuropa im Zuge der Erweiterung könnte auch zu einer steigenden politi- schen Einflussnahme in der Region führen, wovon 60% der Befragten überzeugt waren. Die Öffnung des Markts weckte auch Ängste der Deutschen vor einem An- stieg der Arbeitslosigkeit durch den Zustrom billiger Arbeitskräfte aus dem Osten. speed/portal/cms/, (November 2007). 98 A. Michalski, H. Wallace, The European Community: the Challenge of Enlargement, Roy- al Institute of International Affairs, London 1992, S. 56. 99 P. Achten, Die Osterweiterung der Europäischen Union. Beitritts- und Erweiterungshin­ dernisse im Spiegel ökonomischer Kritik, Verlag Josef Eul, Köln 1996. 100 Vgl. eingehender: W.-D. Eberwein, M. Ecker-Ehrhardt, Deutschland und Polen. Eine Wer­ te- und Interessengemeinschaft? Die Eliten-Perspektive, Leske+Budrich, Opladen 2001, S. 28-42. Ökonomische Prämissen 55 Tabelle 3. Würde Deutschland durch einen EU-Beitritt Polens gewinnen? Durch einen EU-Beitritt Polens nein unent. ja Zahl würde Deutschland… in % in % in % der Befragten

…neue Märkte gewinnen 4,4 13,4 82,3 434 …Sicherheit an seiner 12,6 25,9 61,4 428 östlichen Grenze gewinnen …politischen Einfluss in Osteuropa gewinnen. 13,1 27,4 59,4 434 Fünfstufige Antwortskala von 1= „definitiv nein“ bis 5= „definitiv ja“, Antworten 1 und 2 wurden zu „nein“, und 4 und 5 zu „ja“ zusammengefasst. Quelle: W.-D. Eberwein, M. Ecker-Ehrhardt, Deutschland und Polen. Eine Werte- und Inte­ ressengemeinschaft? Die Eliten-Perspektive, Leske+Budrich, Opladen 2001, S. 77.

In den Untersuchungen von W.-D. Eberwein und M. Eckera-Ehrhardt äußerte fast die Hälfte der befragten Deutschen (48,4%) solche Befürchtungen.101 Mieczysław Stolarczyk weist darauf hin, dass die ökonomischen Prämis- sen der deutschen Unterstützung für die Erweiterungen sich aus den zunehmenden Handelsbeziehungen mit den Kandidatenländern bei einer gleichzeitigen wirtschaft- lichen Disproportion zwischen der Bundesrepublik und den meisten Beitrittskandi- daten ergibt. Diese Asymmetrie hat einen objektiven Charakter und folgt vor allem aus den differenzierten Wirtschaftsniveaus (Mitteleuropa, Türkei) und der Aufnah- mefähigkeit der Märkte (neue Demokratien im Osten, Türkei).102 Die geografische Nähe (Österreich, Tschechien, Polen) sprach also für einen Anstieg der Auslandsin- vestitionen und eine Intensivierung der Handelsbeziehungen. Sehr verlockend waren auch die neuen Absatzmärkte Mitteleuropa und Türkei – schon aufgrund der geringen Wettbewerbsfähigkeit der örtlichen Erzeugnisse. Im deutschen Interesse lag und liegt die Unterstützung der EU-Erweiterungen aufgrund der Vorteile, die sich aus einem Anstieg des Handelsverkehrs und des Wirtschaftswachstums der Beitrittsländer ergibt, deren Auswirkungen die gesamte Union verspürt. Dies ergab sich aus den Erfahrungen des gemeinsamen Marktes, vor allem verbunden mit der Unterstützung des Staates und der EU, der Wettbewerbsfähigkeit der Erzeugnisse und der Anwendung von Han- delsrestriktionen und mitunter Dumpingverfahren gegen die assoziierten Staaten, wie etwa die Importsperre für Fleisch und Tiere aus Polen und Tschechien im Jahr 1993 im Zusammenhang mit dem Verdacht auf eine Epidemie der Maul- und Klauenseuche.103 Die zweite Norderweiterung um die skandinavischen Staaten weckte keine Befürchtungen bei der deutschen Bevölkerung, was eine eventuelle Arbeitsmigrati- on anging. Auf den Binnenmärkten dieser Staaten traten keine Disproportionen zwi-

101 Ebd., S. 75. 102 M. Stolarczyk, Podział i zjednoczenie Niemiec… /Teilung und Vereinigung…/, op. cit. , S. 207. 103 S. Płóciennik, Europejska integracja gospodarcza w polityce RFN (1949-2000) /Die eu­ ropäische Wirtschaftsintegrationin der Politik der BRD(1949-2000)/, Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2004, S. 301. 56 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… schen der Zahl der Arbeitssuchenden und der verfügbaren Arbeitsplätze auf. Dagegen weckten die großen Einkommensunterschiede zwischen Ost und West, die Probleme bei der Transformation der Wirtschaftssysteme, die erschreckend hohe Arbeitslo- sigkeit, ethnische und politische Konflikte in Mittel- und Osteuropa Befürchtungen vor allem in Deutschland als potenziellem Zielland der Migration.104 Im Jahr 1996 führte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag des Bundeswirtschaftsministerium Untersuchungen über die potenzielle Arbeitsmigration in der EU im Kontext der Osterweiterung durch. Dabei konzent- rierte es sich vor allem auf die Abhängigkeiten zwischen der Migration und den Ein- kommensunterschieden. Die potenzielle jährliche Zuwanderung in der ganzen EU aus den 5 Ländern der CEFTA (Tschechien, Polen, Slowenien, Slowakei, Ungarn) sollte 340.000 bis 680.000 Personen im Jahr 1996 betragen, aus allen 10 Staaten der Osterweiterung zusammen 590.000 bis 1.180.000 Personen. Der damalige Ar- beitsminister Norbert Blüm interpretierte diese Zahlen falsch und führte die öf- fentliche Meinung in die Irre, indem er die Vision von einem Massenansturm aus dem Osten zeichnete. Zu bemerken ist, dass diese Prognose sehr generell war, sich auf den gesamten Bereich der Europäischen Union bezog und die gesamte Be- völkerungsmigration umfasste (nicht nur die Arbeitsmigration). Nach Untersuchun- gen des DIW im Jahr 2005 schwankte diese Zahl zwischen 290.000 und 550.000 für die CEFTA-Staaten und der Zustrom auf den gesamten Arbeitsmarkt der Union belief sich auf 147.000 bis 278.000.105 Gestützt auf die Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung , die voraussehen, dass 40-50% der gesamten Zu- wanderung auf Deutschland entfallen, ließ sich annehmen, das im Zuge der Oster- weiterung der Zustrom auf den deutschen Arbeitsmarkt im Jahr 2006 etwa 59.000 bis 139.000 Arbeitssuchende zählen würde.106 Nach Prognosen von Rainer Münz und Ralf Ulrich von 1997 hingegen würden bis 2030 (!) nach Deutschland jährlich 30.000 bis 60.000 Immigranten aus den Staaten Mittel- und Osteuropas kommen (nicht gezählt die Staaten des ehemaligen Jugoslawien).107

104 A. Trzecielińska Polus, Wspólnota i sprzeczności interesów Polski i RFN w proce­ sie rozszerzania UE /Interessengemeinschaft und Interessenkonflikte zwischen Polen und der BRD im Prozess der EU-Erweiterung/ [in:] M. Stolarczyk (Hrsg.), Unia Europejska wobec dylematów integracyjnych na początku XXI wieku /Die Europäische Union gegenüber den Integrationsdilemmas zu Beginn des 21. Jahrhunderts/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2006, S. 510-513. Zur Pro- blematik der Migration nach Deutschalnd aus den Staaten Mittel- und Osteuropas in den neunziger Jahren sowie Prognosen in Zusammenhang mit der Freizügigkeit für Arbeitnehmer nach der Auf- hebung der Übergangsperioden vgl.: B. Dietz, Ost-West-Migration nach Deutschland im Kontext der EU-Erweiterung, „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 2004, Nr. 5-6, S. 41-47. 105 F. Franzmeyer, H. Brücker, Europäische Union: Osterweiterung der EU – Konsequenzen und Abeitskräftemigraton, „DIW-Wochenbericht“ 1997, Nr. 5, S. 90-96. 106 C. Kunze, Die Auswirkungen der Osterweiterung der Europäischen Union auf den deut­ schen Arbeitsmarkt, [in:] S. Paraskewopoulos (Hrsg.), Die Osterweiterung der Europäischen Union: Chancen und Perspektiven, Duncker & Humbolt, Berlin 2000, S. 141. 107 R. Münz, R. Ulrich, Die zukünftige Wachstum der ausländischen Bevölkerung in Deutsch­ Ökonomische Prämissen 57 Trotz der hohen Arbeitslosenzahlen, besonders in den östlichen Ländern (ca. 20% im Jahr 2006) zeigt der deutsche Markt einen hohen Bedarf an hoch qualifi- zierten Arbeitskräften. Die Zuwanderer aus Mittel- und Osteuropa sind überwiegend jung und im Vergleich mit anderen Arbeitssuchenden auf dem deutschen Arbeits- markt gut ausgebildet. Hinsichtlich des deutschen Sozialnetzes stellt die Zuwande- rung nicht nur keine Bedrohung dar, sondern kann ganz im Gegenteil eine Chance für die Aufrechterhaltung der bisherigen Sozialleistungen sein. Das hängt vor allem mit demografischen Erscheinungen in der Bundesrepublik zusammen. Die deutsche Bevölkerung ist überaltert, die Geburtenrate ist niedrig (1,4‰). Die statistischen Zahlen für 2003 zeigen, dass Menschen über dem 65. Lebensjahr 17% der Gesell- schaft ausmachen, während junge Menschen unter dem 15. Lebensjahr nur 14,9% darstellen. Es wird geschätzt, dass bei der gegenwärtigen niedrigen Geburtenzahl und ohne Zuwanderung die Bevölkerungszahl von 82 Mio. auf 56 Mio. im Jahr 2050 zurückgehen wird. Dies hätte katastrophale Folgen für das Rentensystem, die Wirt- schaft (Rückgang des Verbrauchs), das Bildungssystems und die Staatsfinanzen. Zum Vergleich betrugen die entsprechenden Werte für Polen: Geburtenrate 1,2‰; Personen über dem 65. Lebensjahr 12,5%, unter dem 15. Lebensjahr 17,6% (in Un- garn gar 24,4%). Die Geburtenrate in der Türkei betrug im selben Jahr 2,4‰, der Be- völkerungsanteil über 65 belief sich auf nur 5,9% und unter 15 auf stolze 28,3%.108 Der großer Anteil an jungen Leuten in der Bevölkerung in den Ländern, die sich um Mitgliedschaft in der Europäischen Union bemühen, könnte ein gewisses Gegen- gewicht gegen die alternden Gesellschaften des Westens darstellen. Mit der Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten ist die Bevölkerungszahl in der EU bis 2007 auf 489 Millionen gestiegen. Der Anteil der Staaten dieser Region am Außenhandel der Bundesrepublik in den Jahren 1993-2001 ist von 4,8% auf 8,9% gestiegen. Die deutschen Einnahmen aus dem Export in der Region sind im selben Zeitraum von 15 Mrd. EUR auf beinahe 54 Mrd. EUR gestiegen und die Einnahmen aus dem Import von beinahe 14 Mrd. EUR auf 51 Mrd. EUR.109 Die wichtigsten Han- delspartner der Bundesrepublik in Mitteleuropa sind Tschechien, Polen und Ungarn. Die deutschen Direktinvestitionen in der Region allein in der Zeit von 1996-1998 sind von 15,3 Mrd. DM auf 28 Mrd. DM gestiegen. An der Gesamtheit der Direktin- vestitionen der EU-Staaten machen die deutschen Investitionen ein Drittel aus. Im Dezember 2002 unterstrich Bundeskanzler Schröder im Bundestag, dass die Kandidatenstaaten Mitteleuropas hinsichtlich ihres Wirtschaftswachstums land. Demographische Prognosen bis 2030, „Demographie aktuell“ 1997, Nr. 12, Berlin, S. 39. Źródło: http://www.demographie.de/demographieaktuell/index.htm, (Oktober 2007). 108 R. Leunig, EU-Erweiterung, Arbeitsmigration und demographische Entwicklungen in Europa, [in:] I. Stawowy-Kawka (Hrsg.), Niemcy, Europa, Świat. Studia międzynarodowe /Deutschland, Europa, Welt. Internationale Studien/, Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego, 2007, S. 200-203. Vgl.: S. Kröhnert, F. Medicus, R. Klingholz, Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen. Daten, Fakten, Analysen, Dt. Taschenbuch Verlag, München 2006. 109 Vgl. die Daten des Statistischen Bundesamt Deutschland: http://www.destatis.de/. 58 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… zu den dynamischsten Weltregionen gezählt werden. Ihr Wachstum betrug im Jahr fast 4%, was über dem EU-Durchschnitt lag. Deutschland als einer der wichtigsten ausländischen Investoren und Handelspartner der mitteleuropäischen Länder liegt an einer Vergrößerung des deutschen Exports. Ganz richtig galt also die Auffassung, dass die Vergrößerung der Nachfrage in den Staaten, die sich um Mitgliedschaft in der Europäischen Union bewerben, und die Verbesserung ihrer Marktaufnah- mefähigkeit zu einem Wirtschaftswachstum in der ganzen EU beitragen werden.110 Für die deutschen Investoren erwies sich die EU-Erweiterung als ausgespro- chen attraktiv, schon allein aufgrund der niedrigeren Lohn- und Lohnnebenkosten in den Ländern Mitteleuropas. Die ökonomischen Prämissen der EU-Erweiterung um die Türkei waren vor allem von der Sorge um Energierohstoffe bestimmt. In der Region des Kas- pischen Meers gibt es bedeutende Erdgas- und Erdölvorkommen und die Tür- kei liegt in der Nähe dieser strategisch wichtigen Region.111 Seit Inkrafttreten der Zollunion zwischen der Union und der Türkei Anfang 1996 hat ein dynami- scher Anstieg des Handelsverkehrs zwischen den Staaten des sich integrierenden Europa und der Türkei eingesetzt. Deutschland ist unter den EU-Mitgliedsstaaten einer der größten Handelspartner der Türkei. Im Jahr 2002 importierte die Türkei aus Deutschland Waren mit einem Gesamtwert von 7,5 Mrd. EUR, was 13% ihres gesamten Imports ausmacht. Der Export aus der Türkei in die Bundesrepublik betrug im selben Jahr 6,9 Mrd. EUR, das ist 17% des gesamten türkischen Exportvolumens. Deutschland ist der wichtigste ausländische Investor in diesem Land, seit 2002 noch vor den Vereinigten Staaten.112

4. Soziale Prämissen

4.1. Das Interesse der deutschen Gesellschaft an der Frage der EU-Er‑ weiterung Der Diskurs unter den bundesrepublikanischen Eliten und die Unterstützung der einzelnen Bundesregierungen für die einzelnen EU-Erweiterungen spiegelten sich nicht immer in der deutschen Gesellschaft wider. Zu beobachten ist ein gewisses Informationsdefizit bei den Bürgern hinsichtlich der Thematik der europäischen In- tegration, insbesondere was die Erweiterung um die Staaten Mittel- und Südeuropas angeht. Der Aufnahme Österreichs, Schwedens und Finnlands stand die Gesellschaft 110 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002, Plenarprotokoll 15/16 vom 19.12.2002, S. 1183. 111 Vgl. eingehender: T.D. Adams, Caspian oil and gas development and the Black See regi­ on: an overwiev, [in:] T.D. Adams, M. Emerson, L.D. Mee, M. Vahl, Europe’s Black Sea Dimension, Centre for European Policy Studies, Brussels 2002, S. 37-86. 112 D. Lamatsch, Deutsche Europapolitik der Regierung Schröder 1998-2002. Von den stra­ tegischen Hügeln zur Mühsal der Ebene, Verlag DR. Kovač, Hamburg 2004, S. 229-231. Soziale Prämissen 59 sehr wohlwollend gegenüber; es handelte sich geradezu um eine Frage jenseits jeder Diskussion. In den Untersuchungen des Eurobarometers von Dezember 1994 unter- stützten 85% der Befragten die Mitgliedschaft Österreichs, 83% die Mitgliedschaft Schwedens und 81% die Mitgliedschaft Finnlands.113 Mit dem Zusammenbrauch der Sowjetunion und der Emanzipation der Staa- ten Mitteleuropas wurde die Frage der EU-Erweiterung um diese Staaten gerade- zu zu einer Voraussetzung für Stabilität und Sicherheit in Europa. Nach Zahlen des Eurobarometers von Herbst und Winter 1995 sprachen sich 32% der Befrag- ten für den Beitritt vor allem Tschechiens, Polens, der Slowakei und Ungarns in den nächsten fünf bis zehn Jahren aus. Bemerkenswert ist, dass die Befragten in den östlichen Bundesländern sich häufiger für die Aufnahme der osteuropäischen Nachbarn aussprachen und die Unterstützung für die EU-Erweiterung von der Sym- pathie abhing, die dem jeweiligen kandidierenden Land entgegengebracht wurde.114 Die Zahlen des Eurobarometers vom Ende der neunziger Jahre zeigen, dass jeder dritte Befragte seine Zustimmung für die geplante Osterweiterung äußerte: 1998 wa- ren es 36%, 1999 – 38%, 2001 – 35%. Kurz vor der Osterweiterung (Oktober 2003) belief sich die Unterstützung der Deutschen auf 38%.115 Am aufgeschlossensten zeig- te sich die öffentliche Meinung gegenüber der Erweiterung um Ungarn (1996: 79%), gefolgte von Tschechien (70%), der Slowakei (62%), Polen (59%) und den balti- schen Staaten (53%).116 Nach einer zwei Jahre zuvor durchgeführten Emnid-Umfrage sprachen sich 68% der befragten für die Osterweiterung, 25% dagegen aus.117 Man fürchtete sich vor den Kosten in Zusammenhang mit der Rückständigkeit der Land- wirtschaft, insbesondere in Polen, und ihrer Modernisierung, dem Zustrom billiger Arbeitskräfte und einem Kriminalitätsimport aus dem Osten. Negativ wurde auch die Rückständigkeit der osteuropäischen Staaten in den Bereichen Infrastruktur, In- formatisierung und Umweltsicherheit bewertet. Die negative Haltung der deutschen zur Erweiterung um die Staaten dieser Region waren vor allem auch von der Erfah-

113Auch der geplante Beitritt Norwegens erhielt bei den Befragten 78% Zustimmung. Vgl.: Eurobarometer 42/1995. 114 Por. M. Glaab, G. Jürgen, K.-R. Korte, P.M. Wagner, op. cit., S. 202. 115 Eurobarometer 60.1 Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Herbst 2003. Nationaler Bericht Deutschland, Quelle: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb60/ eb60.1_germany.pdf, (März 2007). Vgl.: M. Chardon, M. Große Hüttmann, Społeczeństwo niemiec­ kie wobec integracji europejskiej /Die deutsche Gesellschaftgegenüber der europäischen Integration/, [in:] S. Sulowski (Hrsg.), Polska i Republika Federalna Niemiec w procesie integracji europejskiej / Polen und die BRD im Prozess der europäischen Integration/, Dom Wydawniczy ELIPSA, Warszawa 2007, S. 28-29. 116 M. Berger, M. Jung, D. Roth, Europa-warum? Ergebnisse aus repräsentativen Bevölke­ rungsumfragen, Institut für praxisorientierte Sozialforschung, Mannheim 1997, S. 23. 117 ��������������������������������������������������������������������������������Die untersuchungen wurden vom 5. - 8. September 2000 durchgeführt. Dabei konzen- trierte man sich auf die Frage der Erweiterung der Europäischen Union. Vgl.: Offen für den Osten, „Der Spiegel“ 2000, Nr. 37 vom 11. September 2000; EU-Osterweiterung. Dynamo oder Ruin?, „Spiegel“ (on-line) vom 7. Dezember 2000. 60 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… rung der enormen Kosten der Transformation in den fünf östlichen Bundesländern bestimmt. Im Jahr 2004 sprachen sich 59% der Deutschen gegen weitere EU-Erweite- rungen in den kommenden fünf Jahren aus. Sehr gern hätte man allerdings im Kreis der europäischen Staaten die Schweiz (84% Zustimmung), Norwegen (83%) oder Island (71%) begrüßt. Bosnien und Herzegowina hatte in einer im Herbst 2005 veröffentlichten Umfrage des Eurobarometers die Zustimmung von einem Drittel der Deutschen, Kroatien von 46%, Mazedonien von 35%, Serbien und Monteneg- ro sowie Albanien nur von 29%. Die Zustimmung für die Staaten, die dem Beitritt am nächsten waren,, fielen relativ niedrig aus: 39% für Bulgarien und 32% für Ru- mänien. Die Zustimmung für die Türkei lag bei 21% und für die Ukraine bei ca. 30%. Am meisten Gegner fand die EU-Mitgliedschaft der Türkei mit 74%, gefolgt von Al- banien mit 71%.118 Ein wesentlicher Indikator der gesellschaftlichen Tendenzen ist – wie die Au- toren des Rapports Warum fürchten sich die Deutschen vor der EU-Erweiterung um Polen und andere Länder Mittel- und Osteuropas? feststellen – das Fehlen ei- ner echten öffentlichen Debatte zu diesem Thema. Das Problem der sozialen Legi- timierung für die Entwicklung der Europäischen Integration hat sich bei der Ein- führung des Euro der eindeutigen Ablehnung der Deutschen gegen die Abschaffung der D-Mark zum Trotz sichtbar geworden. Die Diskussion über die Osterweiterung, die vor allem in Tageszeitungen und Wochenmagazinen stattfand (wie „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ oder „Der Spiegel“) konzentrierte sich vor allem auf die mög- lichen Kosten dieses Prozesses.119 Eine im Herbst 2006 von Eurobarometer veröffentlichte Untersuchung zeig- te, dass die deutschen weiteren EU-Erweiterungen immer ablehnender gegenüberste- hen. Sehr gerne sähen sie noch die Aufnahme der Schweiz (87%), Norwegens (86%) und Islands (74%). Die Zustimmung zum Beitritt der Türkei ist deutlich zurückge- gangen (16%). Für Bosnien und Herzegowina lag sie bei 30%, für Kroatien bei 44% (48% dagegen). Unmittelbar vor der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens sprachen sich die Deutschen entschieden gegen den beitritt dieser Länder aus. Nach Unter- suchungen des Eurobarometers waren gegen den Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 immerhin 56% der Deutschen und gegen den Beitritt Rumäniens sogar 64%.120

118 Eurobarometer 64 Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Herbst 2006. Nationaler Bericht Deutschland, Quelle: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb64/ eb64_ de_nat.pdf, ( marzec 2007). 119 M. A. Cichocki (Hrsg.), Dlaczego Niemcy obawiają się rozszerzenia UE o Polskę i inne kraje Europy Środkowo-Wschodniej/ Warum fürchten sich die Deutschen vor der EU-Erweiterung um Polen und andere Länder Mittel- und Osteuropas?/, „Raporty i Analizy“ 2000, Nr. 8., Centrum Stosunków Międzynarodowych, Warszawa 2000. 120 Vgl.: Eurobarometer 66. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Herbst 2006. Nationaler Bericht Deutschland, Quelle: http://ec.europa.eu/deutschland/pdf/ information/pu- blication/germany_eb66_national_report_validated_18_12_20061.pdf, (März 2007). Soziale Prämissen 61 4.2. Vergangenheitsbewältigung und „moralische Pflicht“ der Deutschen

Das vereinte Deutschland hat im Bewusstsein der Wiedergutmachung, der mo- ralischen Pflicht und der Dankbarkeit sein enormes Potenzial und seine Einflüsse in Brüssel für die rasche Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten in die Europäi- sche Union eingesetzt. Die historische Verantwortung für die Teilung des Kontinents und das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung für seine Einigung haben – während der Regierung der Christdemokraten – eine große Rolle bei der Unterstützung der Idee der EU-Erweiterung gespielt. Helmut Kohl verwies auf die Dankbarkeit gegenüber Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken für ihren wesentlichen Beitrag bei der Abkehr vom real existierenden Sozialismus. Er vertrat die Auffassung, dass ohne ihren Beitrag der Wandel in der DDR und infolgedessen die deutsche Einheit nicht möglich gewesen wären. Zum Abschluss seines Staatsbesuchs in Polen im November 1989 hob er hervor, dass es 1980 in der Danziger Werft um Ziele gegangen war, die auch die Deutschen in der DDR angingen: um Freiheit, Menschenwürde, Menschenrechte, Selbstverwirk- lichung. Einige Wochen später dankte er in Ungarn für die Öffnung der Grenze zu Ös- terreich: „Die Ungarn haben den ersten Stein aus der Berliner Mauer gelöst.“121 Das deutsche Engagement auf europäischer Ebene, die Unterstützung der In- tegrationspolitik, waren Maßnahmen für den Frieden, Stabilität und den Schutz vor dem Nationalismus. Im Mai 1994 erklärte Kanzler Kohl vor dem Bundestag, dass die Frage der Einigung Europas eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahr- hundert sei. Die Einheit könne eine wirksame Antwort auf das Erwachen des Nationa- lismus sein. Wiederholt betonte er in seinen Reden diese Prämisse des deutschen Enga- gements für die Integration als dem besten möglichen Weg zur Einigung Europas.122 Die deutsche Europa-Politik lässt sich auch in den Kategorien der moralischen Verantwortung der Bundesrepublik für den Frieden in Europa begreifen. Die Eini- gung des Alten Kontinents sei – wie im Dezember 2000 der nächste Bundeskanzler Gerhard Schröder auf einer gemeinsamen Sitzung von Sejm und Senat der Republik Polen verkündete – „ein Gebot historischer Gerechtigkeit“.123 Aus Untersuchungen der RAND Corporation in den Jahren 1991-1993 geht hervor, dass eine große Zahl der Deutschen der Ansicht war, dass auf allen Deutschen

121 H. Kohl, Deutschlands Zukunft in Europa. Reden und Beiträge des Bundeskanzlers, Busse Seewald, Herford 1990, S. 185. 122 Rede Helmut Kohls am 27. Mai 1994 vor dem Deutschen Bundestag, [in:] „Verhandlun- gen des Deutschen Bundestages“, 12. Wahlperiode, B. 175, S. 20121. Vgl.: Rede Helmut Kohls auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe, [in:] CDU (Hrsg.), Protokoll des 7. Parteitages vom 16.-18. Okto­ ber 1996, S. 36; Die Europäische Union ist zum Erfolg verdammt, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 29. September 1995. 123 Rede des Bundeskanzlers Gerhard Schröder vor beiden Kammern des polnischen Par­ laments aus Anlass des 30. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen, Warschau, 6. Dezember 2000, Quelle: http:// www.zbiordokumentow.pl/2000/4/4.html, (März 2007). 62 Die Prämissen für das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Erweiterung… eine besondere „moralische Verpflichtung“ gegenüber den Staaten Mittel- und Ost- europas ruhe. Die Überzeugung von der moralischen Pflicht und dem historischen Schuldbewusstsein gegenüber den Völkern dieser Region verringerte sich jedoch nach und nach angesichts der realen Probleme und Herausforderungen in Fragen der Wirtschaftspolitik, des Umweltschutzes, der Migration und der Sicherheitspo- litik.124 Wirtschaftliche Fragen dominierten nun die Haltung der deutschen Gesell- schaft gegenüber der Erweiterung der Europäischen Union um die neuen Demokra- tien Mitteleuropas.

5. Schlussfolgerungen

Die neuen internationalen Gegebenheiten nach 1989 schufen eine enorme Chance für die Überwindung der politischen Teilung Europas in Ost und West. Für die Staaten, die an der europäischen Integration teilnahmen, stellte sich nicht so sehr die Frage, ob die Osterweiterung stattfinden soll, vielmehr ging es darum, wann der richtige Zeitpunkt sein wird und wie die Union auf diese Herausforderung vorzu- bereiten ist. Die Argumente für die nächsten Erweiterungen stützten sich auf Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Minderheitenschutz, Frieden, Wohlstand. Die Hauptziele der Europa-Politik der Bundesrepublik in der ersten Hälfte der neunziger Jahre waren die schnelle Aufnahme der EFTA-Staaten und die Stabi- lisierung der Reformen in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Helmut Kohl sprach auf einem Symposium zum 195. Jubiläum der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Uni- versität Bonn: „Ebenso wie der Beitritt der EFTA-Staaten für mich zur Entwick- lung der Europäischen Union selbstverständlich dazugehört, wäre es für mich in- akzeptabel, wenn die Europäische Union auf Dauer an der polnischen Westgrenze endete.“125 Die deutschen Prämissen für die EU-Erweiterung lassen sich in politische, ökonomische und soziale Argumente einteilen. Von besonderer Bedeutung waren folgende Faktoren: • die geografische Lage der Beitrittskandidaten, • die besonderen Beziehungen der Bundesrepublik zu ihren Nachbarn (Ös- terreich, Polen, Tschechien) und die Beziehungen zur Türkei (Anwesenheit einer starken türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe in Deutschland), • die Rolle der Bundesrepublik als der stärksten Volkswirtschaft in der EU,

124 Vgl. eingehender: M. Glaab, G. Jürgen, K.-R. Korte, P.M. Wagner, op. cit., S. 203-204; R.D. Asmus, German Strategy and Public Opinion after the Wall 1990-1993. Deutsche Strategie und Öffent­ liche Meinung nach dem Fall der Mauer, RAND Arroyo Center, Santa Monica 1994, S. 24. 125 Perspektiven Deutschlands im erweiterten Europa. Rede des Bundeskanzlers in Schwä­ bisch Hall am 5. Mai 1994, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 10. Mai 1994, Nr. 42, S. 357. Schlussfolgerungen 63 • die Chance für eine Festigung der internationalen Position der Europäi- schen Union als eines Global Players, • der Bedarf nach Schaffung einer Zone der Stabilität um Deutschland und der Gewährleistung des Weltfriedens, • die Stärke und der Charakter der Wirtschaft der Bundesrepublik als Ex- portmacht auf der Suche nach neuen Absatzmärkten, • die Nähe zu den Märkten der Nachbarländer, auf denen Deutschland tra- ditionellerweise anwesend war, • die Attraktivität der Region für Investitionen (niedrige Arbeitskosten im Osten und in der Türkei), • die Neuorientierung der wirtschaftlichen Beziehungen der mitteleuropäi- schen Staaten von Ost nach West, • die Erweiterung des Binnenmarkts der Union (Stärkung der europäischen Wäh- rung), die größere Arbeitsplatzsicherheit in exportorientierten Unternehmen, • die Beschleunigung der Einführung europäischer Standards in den neuen Mitgliedsländern, etwa im Umweltbereich (was im Interesse Deutsch- lands und sogar der Welt liegt).

65

KAPITEL II

Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union

1. Schlüsselbegriffe

1.1. Politisches Konzept

Wörterbücher der deutschen Sprache und Fremdwörterbücher definieren den Begriff Konzept zumeist als „Plan, Entwurf“, „allgemeine Erfassung, durch- dachter Aktionsplan, entwickelte Theorie“.1 Im Bereich der Politikwissenschaft lässt sich Konzept am einfachsten definieren, indem man den Terminus mit den Begriffen politische Doktrin oder politisches Programm vergleicht. Im Gegensatz zum politischen Konzept zeichnet sich eine politische Dok- trin durch innere Ordnung und Ausrichtung auf praktisches Handeln aus; oft kann sie einem konkreten Politiker, einer Partei oder einem Staat zugeschrieben werden (z. B. die Hallstein-Doktrin, die CDU-Doktrin, die BRD-Doktrin). Eine politische Doktrin nennt Ziele und Richtungen von Handlungen, die deutlich in Zeit und Raum abgegrenzt sind.2 In den Rahmen einer politischen Doktrin können ein oder sogar mehrere po- litische Programme eingeschrieben sein. Ein politisches Programm ist untrennbar mit einer gewissen institutionellen Struktur verbunden (z.B. einer Partei, Regierung) und bezieht sich eindeutig auf bestimmte zu realisierende politische Ziele.3 Ein Konzept hingegen weist im Gegensatz zum Programm in der Regel eine konkrete Person oder Institution als Urheber auf. Oft hat es nicht die Form ei-

1 E. Sobol (Hrsg.), Słownik języka polskiego /Wörterbuch der polnischen Sprache/, Wydaw- nictwo Naukowe PWN, Warszawa 2005; Mały słownik języka polskiego /kleines Wörterbuch der pol­ nischen Sprache/, Wydawnictwo Naukowe PWN, Warszawa 1993; Władysław Kopaliński, Słownik wyrazów obcych i zwrotów obcojęzycznych /Fremdwörterbuch/, „Muza“, Warszawa 1994. 2 Vgl.: R. Tokarczyk, Współczesne doktryny polityczne /Moderne politische Doktrinen/, Za- kamycze, Kraków 2002, S. 17; F. Ryszka, Nauka o polityce. Rozważania metodologiczne /Politikwis­ senschaft. Methodologische Erwägungen/, Wydawnictwo Naukowe PWN, Warszawa 1984, S. 199. 3 Vgl.: R. Tokarczyk, op. cit., S. 31. 66 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union nes geordneten, formalisierten Dokuments. Das Konzept ist eine allgemeine Vision, auf deren Grundlage eine Doktrin geformt wird. Im Rahmen einer Doktrin entstehen Programme, die Aufgaben enthalten, die auszuführen sind, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Besonders im Bereich der Außenpolitik lässt sich der Zusam- menhang zwischen diesen Begriffen beobachten. Das Konzept der Außenpolitik ei- nes Staats kann verstanden werden als „eine gewisser durchdachter, vorgestellter Stand von Zuständen und Angelegenheiten, die seinen Urhebern zufolge in die Wirk- lichkeit werden sollen (…) Das Konzept, als allgemeiner Aktionsplan, wird nicht zur Gänze offenbart. Der öffentlichen Meinung hingegen wird nur die Doktrin der Außenpolitik zugänglich gemacht, die ein intern kohärentes und hierarchisiertes System von Zielen enthält. (...) Eine Konkretisierung der Doktrin stellen wieder- um die Programme dar, die die Richtungen, Ebenen, Mittel und Vorgehensweisen der Außenpolitik bezeichnen.“4 Abbildung 2 zeigt die gegenseitigen Beziehungen zwischen den drei mitein- ander verbundenen Begriffen. Die Kategorie des Konzepts der Außenpolitik ist weiter als die Doktrin. Die Doktrin stellt ein bekannt gemachtes Untersystem des Konzepts dar; sie enthält nur die wichtigsten Ziele und bemüht sich, diese an die inneren und internati- onalen Gegebenheiten anzupassen. Das politische Programm überträgt hingegen die An- nahmen der politischen Doktrin auf das Gebiet politischer Handlungen. Die Sammlung der Annahmen und Werte des politischen Konzepts können die Quelle mehrerer Doktri- nen sein; aufgrund einer Doktrin können mehrere Programme formuliert werden.

1.2. Europäische Integration

Eine Wörterbuchdefinition bezeichnet Integration als „Verbindung; Pro- zess der Erschaffung eines Ganzen aus Teilen; die Einschaltung eines Elements in das Ganze; Verbindung und Harmonisierung der Bestandteile gesellschaftlicher Gemeinschaften“5. Das Lexikon der Politologie bezieht den Ausdruck der internatio- nalen Integration auf die Verbindungsprozesse vor allem in wirtschaftlichen und po- litischen Bereichen. Die wichtigsten Element dieser Erscheinungen sind die Ausrich- tung auf ein gemeinsames Ziel und die Bemühung, die durch die einzelnen Subjekte unternommen werden. Die Integration ist somit sowohl ein Zustand (postuliert oder erreicht in den gegenseitigen Beziehung), als auch ein Prozess, der das Streben

4 R. Zięba, Uwarunkowania polityki zagranicznej /Bedingungen der Außenpolitik/, [in:] idem (Hrsg.), Wstęp do teorii polityki zagranicznej państwa /Einführung in das politische Denken De Gaulles/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2004, S. 27. Por. W.J. Szczepański, Europa w myśli politycznej de Gaulle’a. Próba analizy systemowej /Europa im politischen Denken De Gaul­ les. Versuch einer systemanalyse/, PWN, Warszawa 1979, S. 55-69. 5 W. Kopaliński, op. cit. Das deutsche Lexikon der Politologie definiert Integration als die Ent- stehung oder Eschaffung einer Einheit oder Ganzheit aus einzelnen Elementen, oder die Fähigkeit dieser Einheit bzw. Ganzheit zur Aufrechterhaltung der Kompaktheit auf der Basis gemeinsam geteilter Normen und Werte, Dieter Nohlen (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, Verlag C. H. Beck, München 2001. Schlüsselbegriffe 67 Abbildung 2. Die Beziehungen zwischen politischem Konzept, Doktrin und Programm Politisches Konzept • charakterisiert die Bedingungen der Politik des gegebenen Subjekts • bezeichnet die allgemeine Vision seiner Bestrebungen und Handlungs- motive, obwohl nicht alle direkt bekannt gegeben werden • deutet auf die repräsentierten Werte, Bedürfnisse und Interessen des Sub- jekts hin • formuliert die allgemeinen Ziele • rechtfertigt die Bedeutung ihrer Realisierung ↓ Politisches Doktrin • stellt eine systematisierte Sammlung öffentlich bekannt gegebener An- sichten dar • definiert die Ziele und Richtungen (die Empfänger) der Handlungen • situiert diese in Zeit und Raum • deutet auf die Folgen der geplanten Handlungsstrategie hin ↓ Politisches Programm • nennt die detaillierten Ziele zur Umsetzung • ordnet ihnen Mittel und Vorgehensweisen zu • gibt den Kalender der Umsetzung der geplanten Maßnahmen vor nach Schaffung, Funktionieren und Dynamik der Organisation selbst umfasst. Die Integration hat einen positiven Aspekt, da sie sich auf den Aufbau gemeinsamer Politiken und Institutionen konzentriert, und einen negativen, da sie sich auf die Ent- fernung der Barrieren in den Beziehungen zwischen den Staaten bezieht. Dabei wird unterstrichen, dass die internationale Integration ein Prozess ist, der mit unterschied- licher Intensität verläuft.6

6 B. Góralczyk, Źródła i uwarunkowania integracji europejskiej /Quellen und Bedingungen der europäischen Integration/, [in:] D. Milczarek, A.Z. Nowak (Hrsg.), Integracja europejska – wybrane problemy /Die europäische Integration – ausgewählte Probleme/, Centrum Europejskie Uniwersytetu Warszawskiego, Warszawa 2003, S. 18; M. Bankowicz (Hrsg.), Słownik polityki /Wörterbuch der Poli­ tik/, Wiedza Powszechna Warszawa 1999; A. Antoszewski, R. Herbut (Hrsg.), Leksykon politologii wraz z Aneksem o reformie samorządowej, wyborach do sejmu, prezydenckich oraz gabinetach rządowych / Lexikon der Politikwisenschaft mit Anhang zur Kommunalreform, Sejm- und Präsidentschaftswahlen, Re­ gierungskabinetten/, Atla 2, Wrocław 2004. Vgl.: M. Chmaj, W. Sokół (Hrsg.), Mała encyklopedia wiedzy politycznej /Kleine Enzyklopädie des politischen Wissens, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2001. 68 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union Die internationale Integration kann erklärt werden durch die wichtigsten Theorien bzw. Strömungen der Integration: Funktionalismus7, Neo-Funktionalis- mus8, Föderalismus9 und Konföderalismus10. Gegenwärtig sind viele Modifizierun- gen dieser Strömungen in der Theorie der europäischen Integration aufgetreten, wie etwa der Supernationalismus (Alec Stone Sweet, Wayne Sandholz), der die eu- ropäische Integration als Prozess der Entstehung von horizontalen und vertikalen Beziehungen zwischen den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Akteuren

7 ��������������������������������������������������������������������������������� Laut dem Gründer der Bewegung, Davida Mitrany (1943) erwecken materielle Bedürf- nisse (Funktionen) Organisation zum Leben, die diese stillen. Die Struktur der Organisation ist durch den Charakter der (demografischen und geografischen) Bedürfnisse festgelegt. Mit der Zeit bilden die Organisationen Netzwerke, die den Staat in seinen Grundfunktionen ersetzen. Die Erosi- on der Souverenität und ein ausgebautes funktionierendes Friedenssystem (working peace system) eliminiert die Quellen der Konflikte und sichert somit Frieden und Sicherheit. Integration im funk- tionalistischen Sinne würde zu einem Absterben der Nationalstaaten und einem Übergang zur Weltge- sellschaft führen. Die Organisation der globalen Gesellschaft würde sich an die Kriterien der funktio- nalen Rationalität, nicht der Territorialität anlehnen. Vgl. eingehender: D. Mitrany, A Working Peace System. An argument for the functional development of international organization, The Royal Insti- tute of International Affairs, London 1943; C. Mik, Europejskie prawo wspólnotowe. Zagadnienia teorii i praktyki /Europäisches gemeinschaftsrecht. Fragen der Theorie Und Praxis/, Wydawnictwo C.H. Beck, Warszawa 2000, S. 76-77; S. Konopacki, Funkcjonalistyczna teoria integracji europejs­ kiej Davida Mitrany’ego /David Mitranys funktionalistische Theorie der Europäischen Integration/, „Studia Europejskie“ 1998, Nr. 2, S. 61-70. 8 Ernst B. Haas, der Urheber dieses Konzepts (1958) verstand Integration als Resultat der Interaktion politischer Kräfte, die auf gemeinschaftlicher Ebene ein neues Entscheidungszentrum bil- den. Die Entstehung einer politischen Gemeinschaft, deren Institutionen eine den Mitgliedsstaaten übergeordnete Gesetzgebung besitzen, trägt zur Suche nach Lösungen für die Partikularinteressen der Interessenvertretungen und der politischen Eliten auf supranationaler Ebene bei. Vgl.: E.B. Haas, The Uniting of Europe. Political, social and economical forces 1950-1957, Stanford University Press, Stanford 1968; idem, Beyond the nation-state. Functionalism and international organization, Stan- ford University Press, Stanford 1964; C. Mik, op. cit., S. 77-78; S. Konopacki, Neofunkcjnalistycz­ na teoria integracji politycznej Ernsta Haasa i Leona Lindberga /Die neofunktionalistische Theorie der politischen Integration von Ernst Haas und Leon Lindberg/, „Studia Europejskie“ 1998, Nr. 3, S. 105-115. 9 Die Entstehung eines Bundesstaats (einer Föderation) ist die Konsequenz einer politischen Entscheidung (eines Willensakts), die durch die Staaten getroffen wird, die sich auf die Begrenzung ihrer Rechte, die aus der Souveränität folgen, verzichten und einen Transfer dieser auf internationales Niveau einigen. Die Föderation wird zu einem Subjekt internationalen Rechts, ihre Bestandteile ver- bleiben ohne diesen Rechtsstatus. Vgl. eingehender: K. Wiaderny-Bidzińska, Polityczna integracja Europy Zachodniej /Die politische Integration Westeuropas/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2003, S. 44-46; C. Mik, op. cit., S. 78-80. 10 In der Konföderation verlieren die Mitgliedstaaten ihren völkerrechtlichen Status nicht, die Konföderation selber kann einen solchen Rechtsstatus nur in begrenztem Umfang erhalten. Institu- tionen auf der Grundlage von Integrationsabkommen stützen sich ausschließlich auf die Souveränität der sie berufenden Staaten.; Vgl. Eingehener: A. Marszałek, Suwerenność a integracja gospodarcza w perspektywie historycznej: spór o istotę suwerenności i integracji /Souveränität und wirtschaftli­ che Integration: die Auseinandersetzung über das Wesen der Souveränität und Integration/ , Instytut Europeistyki, Łódź 2000, S. 184-187. Schlüsselbegriffe 69 deutet11; der liberale Intergouvernementalismus (Andrew Moravcsik), der die do- minierende Rolle der Regierungen, welche die Staatsinteressen im Prozess der In- tegration vertreten, anerkennt12; der Multi-Level-Governance-Ansatz (Gary Marks, Liesbet Hooghe), nach dem die Europäische Union als politisches System betrachtet wird13; der akteurzentrierte Institutionalismus – ein Konzept des deutschen Sozialde- mokraten Fritz Scharpf und von Renate Mayntz14. Manche Autoren nennen als Inte- grationstheorien auch Konstruktivismus, Regimetheorie und andere.15 Der Urheber des Neofunktionalismus Ernst B. Haas definierte Integration als die freiwillige Schaffung einer größeren politischen Einheit. In diesem Prozess sind die politischen Akteure geneigt, ihre politischen Loyalitäten, Erwartungen und Aktivitäten zugunsten eines neuen Zentrums zu verschieben, dessen Institutio- nen die Jurisdiktion über einen zuvor bestehenden Nationalstaat besitzen oder ein- fordern. Die Krönung der politischen Integration ist die Entstehung einer politischen Gemeinschaft mit übernationalem Charakter, die den zuvor zusammenarbeitenden politischen Einheiten „auferlegt“ wurde.16 Antoni Marszałek versteht unter europäischer Integration die „Verbindung der Länder, die zum europäischen Integrationsverbund gehören, die dazu führt, dass dieser Verbund (…) zu einem bestimmten Ganzen und die Mitgliedsstaaten zu seinen Teilen werden.“17 Hierbei ist zu unterstreichen, dass diese Definition kei- neswegs die Form der Integration vorbestimmt.

11 Zob. W. Sandholtz, A. Stone Sweet (eds), European Integration and Supranational Go­ vernance, Oxford University Press, Oxford/New York 1998; A. Nölke, Supernationalismus, [in:] H.-J. Bieling, M. Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, VS Verlag für Sozialwissen- schaften, Wiesbaden 2005, S. 145–168. 12 Zob. A. Moravcsik, Preferences and Power in the European Community. A Liberal Intergo­ vernmentalist Approach, „Journal of Common Market Studies“ 1993, Vol. 31, No. 4, S. 473-524, S. Jo- chen, Liberaler Intergouvernmentalismus, [in:] H.-J. Bieling, M. Lerch (Hrsg.), op. cit., S. 169-196. 13 Vgl.: G. Marks, L. Hooghe, K. Blank, European Integration since the 1980s. State-Centric vs. Multi-Level Governance, ,,Journal of Common Market Studies“ 1996, Vol. 34, No. 4, S. 341-378, M. Knodt, M. Große Hüttemann, Der Multi-Level Governance-Ansatz, [in:] H.-J. Bieling, M. Lerch (Hrsg.), op. cit., S. 222-247. 14 vgl. eingehender: F. Scharpf, Community and Autosomy: Multilevel Policy Making in the European Union, „Journal of European Public Policy“ 1994, No 1, S. 219-242; idem, Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt, [in:] M. Jachtenfuchs, B. Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Leske+Budrich, Opladen 2003 S. 219–253; W. Wagner, Der akteurzentrierte Institutio­ nalismus, [in:] H.-J. Bieling, M. Lerch (Hrsg.), op. cit., S. 249–270. 15 Vgl.: J. Ruszkowski, Wstęp do studiów europejskich. Zagadnienia teoretyczne i metodologicz­ ne /Einführung in die Europastudien. Theoretische und methodologische Fragen/, Wydawnictwo Nau- kowe PWN, Warszawa 2007, S. 92-139; P.J. Borkowski, Polityczne teorie integracji międzynarodowej / Politische Theorien der internationa en Integration/, Difin, Warszawa 2007, S. 115-186. 16 E.B. Haas, The Uniting of Europe..., s. 16. Por. M. Hodges, Introduction, [in] idem (ed.), European Integration, Penguin, Harmondsworth 1972, S. 13. 17 A. Marszałek, Wprowadzenie do teorii suwerenności i integracji europejskiej /Einführung in die Theorie der Souveränität Und der europäischen Integration/, Instytut Europeistyki, Łódź 2001, S. 19. 70 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union Gegenwärtig werden zwei alternative Modelle der Integration unterschie- den: die europäische – das sich durch das ständige Vertiefung der Integrations- bindungen und durch die Erweiterung der Zusammenarbeit auf außerwirtschaft- liche Zonen sowie den Ausbau der Organisationsstrukturen charakterisiert, sowie das amerikanische – das sich durch die Überzeugung auszeichnet, dass die Mög- lichkeit besteht, eine statische Form der Integration, die praktisch ausschließlich den wirtschaftlichen Bereich umfasst und kein hierarchisiertes institutionelles Sys- tem besitzt, zu erreichen.18 Es ist hierbei anzumerken, dass ein Teil der Experten die Europäische Union als eigenes historisches Phänomen sieht. In diesem Verständnis existiert nur eine EU und deshalb kann die europäische Integration nicht theoretischen Verallgemeinerun- gen unterzogen werden. Dieser Ansatz ist – wie Simon Hix und Ben Rosamond betonen – mit einer gewissen Hürde verbunden, wenn es darum geht, das Phänomen EU theoretisch zu erfassen und ihm allgemeine Begriffe zuzuschreiben.19 William Wallace definiert Integration als die „Erschaffung und Beibehaltung intensiver und vielfältiger Muster von Wechselwirkung zwischen zuvor autonomen Einheiten“.20 Er wies damit in seinen Studien über die EU auf die Eigentümlich- keit der geschichtlichen Erfahrungen des sich integrierenden Europa hin. Danach schufen die durch die westeuropäischen Staaten begonnenen Integrationsprozesse ein eigenes Muster, das sich mit keinem anderen Integrationsmodell vergleichen lässt. Dies ergab sich aus den historischen, politischen und wirtschaftlichen Be- dingungen sowie den Herausforderungen, vor denen das Nachkriegseuropa stand. Politische, wirtschaftliche und Sicherheitserwägungen bewegten die Staaten zum Einsatz für die regionale Integration21. So sprechen sich Ulrich Beck und Edgar Grande von der Ludwig-Maximilians-Universität München für die Behandlung der EU als einer „neuen, postimperialen Großmacht“ aus, die auf der freiwilli- gen nationalen Aufteilung und Einverständnis sowie transnationalen Verbindungen aufbaut.22 Bei einer Untersuchung des Phänomens der Integration ist eine Antwort auf die Frage nach ihrem Wesen, ihren spezifischen Eigenschaften, zu suchen. Wenn wir Integration als wirtschaftliches Phänomen betrachten, müssen wir die folgenden Fragen erwägen: Welches Niveau der Interdependenz der nationa-

18 Vgl.: C. Mik, op. cit., S. 3 19 S. Hix, IR, CP and the EU: A Rejoinder to Hurrell and Menon, „West European Politics“ 1996, No. 19(4), s. 802–804; B. Rosamond, Theories of European Integration, St. Martin’s Press, New York 2000, s. 15–18. 20 W. Wallace, Introduction. The Dynamics of European Integration, [in] idem (ed.), The Dy­ namics of European Integration, Pinter/RIIA, London 1990, s. 9. 21 W. Wallace, Regional Integration. The West European Experience, Brookings Institution, Washington 1994, s. 9. 22 Vgl.: U. Beck, E. Grande, Empire Europa. Politische Herrschaft jenseits von Bundesstaat und Staatenbund, „Zeitschrift für Politik“ 2005, Jg. 4, Nr. 52, s. 397–420 Schlüsselbegriffe 71 len Wirtschaften muss erreicht werden (z.B. freier Markt, Zollunion oder Wäh- rungsunion), damit sie als „integriert“ bezeichnen werden können? Impliziert wirtschaftliche Integration politische Integration? Betrachten wir Integration als politisches Phänomen, sind Antworten auf andere Fragen zu suchen: Bedeutet po- litische Integration notwendigerweise den Machtverlust des Nationalstaats? Er- setzt sie die herkömmlichen Machtstrukturen durch eine neue Art von Institution und eine neue Form von Macht? Schafft politische Integration die Bedingungen für den Fortschritt der wirtschaftlichen Integration? Wird der krönende Abschluss der Integration das Erreichen z.B. einer auf dem Föderationsmodell beruhenden Union der beteiligten Staaten sein oder vielmehr die Herausbildung einer Wertege- meinschaft der Eliten und Bürger der sich integrierenden Staaten? Alle detaillierten Fragen dieser Art sollen uns – nach Rosemond – zur Beantwortung der fundamen- talen Frage bewegen: Was ist das sich integrierende Europa und woraus setzen sich seine Integrationsprozesse zusammen. Warum lässt sich Integration als Resultat (outcome) und als Prozess (process) betrachten?23 Józef Kukułka definiert internationale Integration auf der Grundlage der Kommunikationstheorie24 als „Prozess der Errichtung gemeinsamer Institutionen und der Befolgung gemeinsamer Rechtsnormen, aber auch der Formung eines ge- meinsamen Bewusstseins im Namen gemeinsamer Ziele: Frieden, Sicherheit, Macht und Wohlstand“25. In der vorliegenden Arbeit findet diese allgemeine Begriffsbe- stimmung Anwendung, die wohl am besten das Wesen des komplizierten Integra- tionsprozesses in Europa widergibt, da sie unter Berücksichtigung der Komplexität des Phänomens die subjektiven (Bewusstseins-) und objektiven (institutionellen) Aspekte in einer dynamischen Auffassung vereint.

23 B. Rosamond, op. cit., s. 11–12. 24 Als Gründer der kommunikativen (pluralistischen) Integrationstheorie gilt Karl W. Deutsch (1953). Seiner Meinung nach gründet der Begriff Integration auf der An¬nahme, dass je enger die Kontakte zwischen den Gesellschaften sind, sich die friedliche Problemlösung und Zusammenarbeit umso einfacher gestaltet. Integration ist ein Prozess der Bildung einer „Staatengemeinschaft” durch politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Kontakte und Kommunikation zwischen den National- staaten. Diese Kontakte schaffen komplementäre Werte, Interessen und psychologische Bindungen, die eine Zusammenarbeit und friedliche Veränderungen in der Au¬ßenpolitik ermöglichen und so zu einer „Amalgamierung der staatlichen Souveränität“ als einer Ebene oberhalb der Integration führen. Deutsch definierte zwei Dimensionen der Integration: eine gesellschaftliche Dimension, die sich un- mittelbar auf den Begriff Integration bezieht, sowie eine politisch-institutionelle, die er, um Missver- ständnissen vorzubeugen, als Amalgamierung bezeichnet. Das Ziel der Integration ist die Schaffung einer „Sicherheitsgemeinschaft“, die den Krieg als Mittel zur Konfliktlösung aufhebt. Vgl. eingehen- der: K.W. Deutsch (et al.), Political Community: North-Atlantic Area, Greenwood Press, New York 1957; S. Konopacki, Komunikacyjna teoria integracji politycznej Karla Deutscha /Die Kommunikati­ onstheorie von Karl Deutsch/, „Studia Europejskie“ 1998, Nr. 1, S. 37-46; W.-D. Eberwein, M. Ecker- Ehrhardt, Deutschland und Polen. Eine Werte- und Interessengemeinschaft? Die Eliten-Perspektive, Leske+Budrich, Opladen 2001, S.11-13, 18-20; C. Mik , op. cit., S. 75-76. 25 J. Kukułka, Teoria stosunków międzynarodowych /Theorie der international en Beziehun­ gen/, Wydawnictwo Naukowe Scholar, Warszawa 2000, S. 108-109. 72 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union 1.3. Das Dilemma der „Vertiefung“ oder „Erweiterung“ der Union

Die Debatte über die Integration im Rahmen der Europäischen Union oszil- liert um die beiden Probleme der „Vertiefung“ und der „Erweiterung“. Sie stellen von Beginn der Entstehung der Europäischen Gemeinschaften an die beiden Haupt- antriebskräfte der Integrationsprozesse an dar. Unter dem Begriff der Vertiefung ver- stehen wir – nach Frank Schimmelpfenning und Ulrich Sedelmeier – die „graduierba- re und formelle vertikale Institutionalisierung“. Die Erweiterung hingegen definieren diese beiden Autoren als „graduierbaren und formellen Prozess der horizontalen Institutionalisierung“26. In wissenschaftlichen Untersuchungen wird die Problema- tik der Erweiterung der Europäischen Union laut Ernst Haas am häufigsten als An- zeichen der Aktualität der Neofunktionalistischen Spill-Over-Hypothese, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene, betrachtet.27 Bei der Untersuchung des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union kann man sich konzentrieren auf: die Bemühungen der Beitrittsanwärter, die Politik der Mitgliedsstaaten gegenüber der Erweiterung, die Erweiterungspolitik der Union, die Entwicklung der Prozesses der Erweiterung der Union sowie die Konsequenzen dieses Prozesses.28 In der vorliegenden Arbeit wurde die Politik Deutschlands ge- genüber der Erweiterung der Europäischen Union sowie die Folgen dieses Prozesses analysiert. Die Europapolitik ist der Bereich, in dem das Nachkriegs-Deutschland nicht nur Europa, sondern der ganzen Welt, ausdrücklich seine friedlichen Absichten be- weisen kann. Die Bonner Republik sah sich als Nachfolger des durch die Politik der nationalsozialistischen Regierung diskreditierten Dritten Reichs. Die Tätigkeiten zugunsten der europäischen Integration sollten die Bundesrepublik politisch glaub- würdig machen. Die Geschichte des westdeutschen Engagements für den Aufbau der europäischen Strukturen begann mit Bundeskanzler Konrad Adenauer und endete nicht mit dem Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989. Im Gegenteil, die europäische Politik, trotz sich ändernder Regierungen, war und ist nach der Wiedervereinigung mit der DDR eine der außenpolitschen Prioritäten der Bundesrepublik, bei der sich alle größten deutschen Parteien immer einig waren und einig bleiben. Natürlich treten neue Akzente auf, eine andere Rhetorik, z.B. deutlich sichtbar in den Standpunkten von Helmut Kohl in der Frage der Osterweiterung oder in Gerhard Schröders Real- politik. Manchmal tritt ein Unterschied in der Wahl verschiedener Mittel und Maß-

26 F. Schimmelpfenning, U. Sedelmeier, Theorizing EU enlargement: research focus, hypo­ theses, and the state of research, ,,Journal of European Public Policy“ 2002, Vol. 9, No. 4, S. 502. 27 A. Faber, Theoretical Approaches to EU Deepening and Widening: A Multi-disciplinary Overview and Some Tentative (Hypo)Thesis, Paper Redefining concepts of EU deepening and wide- ning (D9) ,,Theories and Sets of expectations“ (WP II, III), Oktober 2006, S. 4. 28 Zob. F. Schimmelpfenning, Ulrich Sedelmeier, The Study of EU Enlargement: Theoretical Approaches and Empirical Findings, [in] M. Cini, A.K. Bourne (ed.) Palgrave Advances in European Union Studies, Palgrave Macmillan, New York 2006, S. 97-100. Schlüsselbegriffe 73 nahmen auf. Deutschland ist – hinsichtlich der Einwohnerzahl – der größte Staat der Europäischen Union (mehr als 82 Mio. Einwohner), der im Zentrum Europas liegt und die Richtungen seines politischen und wirtschaftlichen Handelns, im Ge- gensatz zu den Staaten mit traditionellen Kolonien (vor allem Frankreich, Groß- britannien), im Zentrum des Alten Kontinents verortet hat und weiterhin verortet. Darum war die EU-Osterweiterung von besonderer Bedeutung für die Europapolitik der BRD.29 Barbara Lippert und Wolfgang Wessels unterschieden 1993 drei Strategien der weiteren Integration der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: 1) Erweite- rung der EU vor ihrer Vertiefung; 2) Vertiefung vor der Erweiterung; 3) Vertiefung der EU als Mittel zu ihrer Erweiterung.30 Das erste Konzept kann man dem Stand- punkt Großbritanniens zuschreiben, der in der schnellen Erweiterung um neue Mitgliedsstaaten ein Instrument der Verlangsamung der Prozesse der Vertiefung der Integration und Schwächung der Position von Deutschland und Frankreich sah. Frankreich hingegen sprach sich für die Vertiefung der Integrationsprozesse vor ei- ner vorherigen Erweiterung aus. Man befürchtete, dass die Erweiterung ohne vorher- gehende institutionelle Reformen zu einer Schwächung der Integrations- und Trans- formationsprozesse der EU in der paneuropäischen Freihandelszone führen würde.31 Die letzte Option charakterisiert das Engagement der aufeinanderfolgenden Regie- rungen der Bundesrepublik für weitere Erweiterungen, wobei die Frage der Vertie­ fung untrennbar mit der Erweiterung verbunden war. Die in diesem Kapitel analysierten deutschen Konzepte der EU-Erweiterung sind die Konzepte der in den Jahren 1990-2009 in der BRD regierenden Parteien so- wie ausgewählter Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände. Sie enthalten Visionen, Ziele, Aufgaben sowie vorgeschlagene Mittel und Methoden zur Entwicklung der eu- ropäischen Integration, geben Erwartungen vor und beschreiben den gewünschten Entwicklungsstand dieses Prozesses. Sie haben normativen Charakter. Auf der prak- tisch-politischen Ebene beziehen sie sich auf die beiden größten Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht: Vertiefung und Erweiterung. Darum sind bei der Präsentation der deutschen Konzepte für die EU-Erweiterung diese im Kon- 29 Vgl. eingehender: J. Olszyński, Niemieckie koncepcje integracji Europy /Die deutschen Konzepte der europäischen Integration/, [in:] W. Małachowski (Hrsg.), Polska–Niemcy, a roz­ szerzenie Unii Europejskiej /Polen – Deutschland, und die Erweiterung der Europäischen Union/, Szkoła Główna Handlowa w Warszawie – Oficyna Wydawnicza, Warszawa 2004, S. 75–127; J. Ko- siarski, Niemieckie koncepcje Unii Europejskiej /Deutsche Konzeptionen der Europäischen Union, [in:] E. Haliżak, S. Parzymies (Hrsg.), Unia Europejska. Nowy typ wspólnoty międzynarodowej / Die Europäische Union. Ein neper Typ der international en Gemeinschaft/, Fundacja Studiów Międzynarodowych, Oficyna Wydawnicza ASPRA-JR, Warszawa 2002, S. 176. 30 B. Lippert, W. Wessels, Erweiterungskonzepte und Erweiterungsmöglichkeiten , [in:] C. Jakobeti, A. Yenal (Hrsg.), Gesamteuropa, Analysen, Probleme und Entwicklungsperspektiven, Leske+Budrich, Bonn 1993, S. 439-457. 31 Ch. Deubner, Frankreich in der Osterweiterung der EU 1989 bis 1997, „Politische Studi- en“ 1999, Nr. 363, S. 96. 74 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union text der Vertiefung des Integrationsprozesses zu betrachten. Dabei ist anzumerken, dass die einzelnen Konzepte nicht gleichbedeutend sind mit dem Programm der ein- zelnen Koalitionsregierungen aus CDU/CSU-FDP (1990-1998), SPD-Bündnis’90/ Grüne (1998-2005), der Großen Koalition CDU/CSU-SPD (2005-2009) und der seit Herbst 2009 bestehenden Koalition CDU/CSU-FDP. Eine fundamentale Bedeutung für die europäische Politik in diesem Zeitraum hatten die Koalitionsabkommen der einzelnen regierenden Lager. Einen bedeutenden Einfluss auf die Entscheidungs- findung in der Frage der Erweiterung der Europäischen Union hatte die starke Po- sition des Bundeskanzlers (Helmut Kohl 1990-1998, Gerhard Schröder 1998-2005 und Angela Merkel seit 2005) im engeren Kreis der Dezidenten. Auch die tatsäch- liche politische Position und Rolle des Außenministers in den Jahren 1990-2010 (Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel, Joschka Fischer, Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle) ist als wichtiger Faktor zu sehen.

2. Die Konzepte der deutschen Christdemokratie

Die programmatischen Hauptprämissen der Europapolitik der CDU (Christ- lich-Demokratische Union) und CSU (Christlich-Soziale Union) waren vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung Deutschlands vor allem die christlichen Werte sowie die Europäisierung der so genannten Deutschen Fra- ge, die sich in Konrad Adenauers Konzept der „Politik der zwei Ziele“ ausdrückt. Eine primäre Annahme dieses Konzepts war die Vision einer Wiedervereinigung durch und im Rahmen der Westintegration.32 Ähnlich sah die deutsche Frage – im Junktim mit der europäischen Politik – der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß. Seiner Auffassung nach sollte ein integriertes Westeuropa mit der Zeit durch seine Attraktivität die Länder des östlichen Teils von Europa anziehen, indem es ein Ge- biet der Freiheit ohne Grenzen schafft.33 Mit ihrem Eintreten für die europäische

32 Zob. S. Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwi­ schen 1982 und 1989, Duncker und Humbold, Berlin 1996, s. 46-68.; M. Tomczak, Republika Feder­ alna Niemiec: jedność przed wolnością?/Die Bundesrepublik Deutschland: Einheit vor Freiheit?/, [in:] A. Wolff-Powęska (Hrsg.), Wspólna Europa mit czy rzeczywistość?/Das gemeinsame Europa. Mythos oder Wirklichkeit?/, Instytut Zachodni, Poznań 1990, S. 139–143. Vgl.: J. Olszyński, op. cit., S. 89-91. 33 Die Integrtaionskonzeption von F. J. Strauß wurde nicht in einer zusammenhängenden Veröffentlichung dargestellt. Sie ist zu finden in Artikeln, Büchern, Reden aus den sechziger, sieb- ziger und achtziger Jahre. Vgl. u. a.: F. J. Strauß, An Alliance of Continents, „International Affairs“ April 1965, Vol. 41, No 2, S. 191-203; idem, The Grand Design. A European Solution to German Reunification, Weidenfeld Nicolson, London 1965; idem, Wyzwanie i odpowiedź: program dla Eu­ ropy (fragmenty), Polska Agencja Prasowa/Ośrodek Dokumentacji, Warszawa 1968; idem, Deutsch­ land deine Zukunft, Seewald, Stuttgart 1975; idem, Gebote der Freiheit, Gruenwald, München 1980. Das vereinte Europa sollte im Verständnis von Strauß die Gestalt einer Föderation annehmen, die sich von Portugal bis zur westlichen Grenze der UDSSR zieht. Die Institutionen der postulierten Föderati- on waren nicht genau präzisiert, nichtsdestotrotz sollten sich darunter das Europaparlament, gewählt in allgemeinen Wahlen und der Nukleare Europarat dort wiederfinden. Der Weg zum vereinten Eu- Die Konzepte der deutschen Christdemokratie 75 Integration Europas suchten CDU und CSU nach Instrumenten zur Umsetzung ihrer nationalen Ziele, vor allem der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Die europäische Politik wurde infolgedessen von beiden christdemokratischen Parteien akzeptiert, die sie als Möglichkeit für Deutschland sahen, international wieder an Prestige und politischer Selbstständigkeit zu gewinnen34, den wirtschaft- lichen Wiederaufbau zu vollziehen und „die Vorbehalte zur wirtschaftlichen Part- nerschaft mit der Bundesrepublik“ zu neutralisieren.35 Das heißt nun nicht, dass die nationalen Ziele die Unterstützung der westdeutschen Christdemokratie für die Idee der europäischen Integration dominiert hätten. In der Nachkriegswelt stieß die europäische Idee, zusammen mit ihren Begriffen der Demokratisierung, der Freiheit und des Friedens, auf große Unterstützung. Wie ein deutscher Autor schreibt: „Der Begriff eines Europas, welches der europäischen Vereinigung zu- grunde liegt, ist nicht nur ein geografischer Begriff, sondern auch ein ideologisch- politischer Begriff. Europa soll die Idee eines demokratischen Verfassungsstaats auf einer neuen Ebene verwirklichen. Daher ist der Gedanke an die europäische Integration von Anfang an eng mit dem Gedanken an politische Freiheit und Frie- den verbunden.“36 Nach 1990 postulieren CDU und CSU, ohne Änderung ihrer die Integration befürwortenden Haltung die Vergrößerung der Bedeutung des Vereinten Deutsch- land in den Strukturen der EU. Die von diesen Parteien regierte Bundesrepublik engagierte sich mit doppelter Kraft für den Prozess der Formung des europäischen Bewusstseins, die Ausarbeitung des Vertrags über die Europäische Union, die Ver- wirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion, die Reform der Unionsinstituti- onen und unterstützte weitere Erweiterungen der Europäischen Union. Die Gleich- zeitigkeit des Prozesses der Vertiefung und der Erweiterung bezog sich vor allem auf die Staaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA). Die Antwort auf die Fra- ropa sollte zweistufig sein. In erster Reihenfolge sollten die westeuropäischen Staaten von der Inte- gration umfasst werden, unmittelbarer Impuls dazu sollte die Einigung von Frankreich und der BRD sein, in weiterer Perspektive vervollständigt vom Beitritt Großbritanniens. Im zweiten Schritt der In- tegration sollte die westeuropäische Konföderation vor allem durch wirtschaftliche Mittel die Staaten Osteuropas anziehen, bei gleichzeitigem internen Umbau der Form der Föderation. Vgl. eingehender: D. Bischoff, Franz Josef Strauß, die CSU und die Außenpolitik. Konzeption und Realität am Beispiel der Großen Koalition, Hain, Meisenheim am Glan 1973; W. Małachowski, Doktryna integracyjna F.J. Straussa /Die integrationsdoktrin von F. J. Strauß, PWN, Warszawa 1977. 34 ������������������������������������������������������������������������������������� Das Einverständnis in die Aufgabe der vollständigen Souveränität im Rahmen der euro- päischen Integration ging einher mit genau so einer Aufgabe der anderen Mitgliedsstaaten. Die Deut- schen konnten also eine Diskriminierung in den Integrationsstrukturen verhindern. 35 R. Łoś, Rząd Gerharda Schrödera wobec postkomunistycznych państw Europy Środkowo- Wschodniej /Die Regierung Schröder gegenüber den postkommunistischen Staaten Mittel- und Ost­ europas/, Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego, Łódź 2004, S. 28-29. Vgl.: A. Grosser, Deutsch­ landbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, Hanser, München 1970, S. 458. 36 W. Weidenfeld, Europa 2000, Zukunftsfragen der europäischen Einigung, Olzog, Mün- chen–Wien 1980, S. 26. 76 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union ge, wieso sich Europa überhaupt integrieren sollte, lautete fast bei allen westdeutschen christdemokratischen Politikern nach 1949 gleich. Die Integration sollte zu den fol- genden Dingen beitragen: zum Wiederaufbau der Bedeutung Europas auf der Welt, zur Angleichung an andere wirtschaftliche Mächte (USA, Japan), Schutz vor Natio- nalismen, Zurückgewinnung der Souveränität durch Deutschland, Lösung der deut- schen Frage im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Ordnung, Schutz der De- mokratie und der Werte des jüdisch-christlichen und antiken Erbes, Schaffung einer Freihandelszone und Sicherung des Wohlstands für die europäischen Gesellschaf- ten.37 CDU und CSU unterstrichen weiterhin in ihren Parteiprogrammen und Wahl- programmen zum Europaparlament (wie etwa dem Grundsatzprogramm der Christ­ lich Sozialen Union, angenommen auf dem CSU-Parteitag in München, 8-9. Oktober 1993, Freiheit in Verantwortung, angenommen auf dem CSU-Parteitag in Hamburg, 21-23. Februar 1994, Zukunftsprogramm der CDU, angenommen auf dem Partei- tag in Bremen, 17-19. Mai 1998, Europa-Manifest der CDU vom 22. März 2004, Wahlprogramm der CSU zum Europaparlament 2004 (Für ein starkes Bayern in Eu­ ropa 2004–2009), Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland, angenom- men beim CDU-Parteitag in Hannover, 3-4. Dezember 2007, Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, angenommen beim CSU-Parteitag in München am 28. September 2007), dass die Idee eines verein- ten Europas die Antwort auf Nationalismen und Kriegskatastrophen darstellt sowie ein Eintreten für ein starkes Deutschland sowie Sicherheit und Frieden in Europa im Sinne des christlichen Menschenbildes beinhaltet. Ein sehr wichtiges Argument für die Unterstützung der Integration ist – den Christdemokraten zufolge – die Stär- kung der Konkurrenzfähigkeit Europas. Die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion sollte die Position Europas in einer globalisierten Welt und die Idee der Integration selbst stärken.38 Das Ziel der Europa- politik von CDU und CSU ist eine „Fertigstellung des Baus“ der Europäischen Uni- on, besonders in der Dimension der politischen Integration. Das Angebot der CDU

37 Vgl. eingehender: Die Programme der CDU 1945-1994 P. Hintze (Hrsg.), Die CDU –Par­ teiprogramme. Eine Dokumentation der Ziele und Aufgaben, Bouvier, Bonn 1995. 38 Im Programm der CDU lesen wir: „Deshalb wollen wir: 1) die Grundlagen von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand durch eine konsequente Integration und Zusammenarbeit gewährleisten, damit Europa als Wirtschafts- und Währungsunion wettbewerbsfähig wird; (...) 3) Stabilisierung Und Stärkung der gemeinsamen Währung zwecks Stärkung der Durchsetzungskraft der Wettbewerbs- fähigkeit Deutschlands und Europas in der Welt“. Vgl.: Zukunftsprogramm der CDU, Quelle: http:// www.cdu.de/politik-a-z/zukunftsprogramm/zukprga.htm, (marzec 2006). Vgl. auch: Europa Manifest der CDU. Beschluss des Bundesvorstands der Christlich Demokratischen Union Deutschlands am 22. März 2004; Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm be­ schlossen vom 21. Parteitag Hannover, 3-4 Dezember 2007, die CDU-Programme sind auf der offizi- ellen Webseite der Partei einsehbar: http://www.cdu.de; Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union in Bayern; Für ein starkes Bayern in Europa 2004-2009, Wahlprogramm zur Europawahl 2004; Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, zugänglich auf der offiziellen Webseite der CSU: http://www. csu.de. Die Konzepte der deutschen Christdemokratie 77 ist eine Föderationsform der EU (Bundesstaat)39, und für die CSU ein Europa der Na- tionen, dessen Grundprinzip das Subsidiaritätsprinzip ist.40

2.1. Das Modell der „konzentrischen Kreise“

Im Sommer 1989 erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – ohne Zustimmung von Kanzler Helmut Kohl – ein Artikel zweier Mitarbeiter des Kanz- leramts, Michael Mertes und Norbert Prill. Die Autoren präsentierten darin ein „Mo- dell der konzentrischen Kreise“ für Europa.41 Ihr Konzept knüpfte an die Vision des „gemeinsamen europäischen Hauses“ von Michail Gorbatschow42 und des In- tegrationskonzepts der konzentrischen Kreise von Jacques Delors43 an. Es geht da- von aus, dass die Erschaffung eines mehrstufigen Systems der Sicherheit, in Anleh- nung an die Zusammenarbeit der zu den Europäischen Gemeinschaften, der EFTA, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, dem Europarat sowie der NATO gehörenden Staaten eine dauerhafte Gewährlsietung von Frieden in Europa darstellt. Den Kern dieses Konzepts sollte ein Europäischer Bundesstaat (die Grün- derstaaten der Europäischen Gemeinschaften) bilden, der auf folgenden Prinzipien aufbaut: Rechtsstaat, Demokratie und Föderalismus, mit eigener Verfassung und ge- meinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Eine spezielle Rolle schrieben Mertes und Prill Frankreich und der Bundesrepublik als den beiden am meisten für die Maß- nahmen zur Vertiefung der europäischen Integration engagierten Staaten zu. Den nächsten Kreis um den Kern der Europäischen Gemeinschaften herum (also um den Europäischen Bundesstaat), sollten die restlichen Mitgliedsstaaten der EG bilden, die noch nicht zu engerer politischer Integration bereit sind. Der drit- te konzentrische Kreis, die sog. Gesellschaft Europäischer Staaten nach dem Vorbild 39 Vgl.: M. Karama, Struktur und Wandel der Legitimationsideen deutscher Europapo­ litik, Europa Union Verlag, Bonn 2001, S. 185-189. Por. E. Gaddum, Die deutsche Europapolitik in den 80er Jahren: Interesse, Konflikte und Entscheidungen der Regierung, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1994, S. 205-208. 40 Vgl. eingehender: CSU, Chancen für alle!..., S. 151-157, Quelle: http://www.csu.de/datei- en/partei/gsp/grundsatzprogramm.pdf, (Dezember 2008). 41 M. Mertes, N. J. Prill, Der verhängnisvolle Irrtum des Entweder-Oder – eine Vision für Eu­ ropa, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 19. Juli 1989. Vgl. auch: idem, Europäische Strukturen: Ein Plädoyer für institutionelle Ökonomie, „Europa-Archiv“ 1992, Jg. 47, Folge 6, S. 143-152. 42 Vgl.: M. Gorbaczow, Przebudowa i nowe myślenie dla naszego kraju i dla całego świata (Umbau und neues Denken für unser Land und die ganze Welt/, Państwowy Instytut Wydawniczy, Warszawa 1988, S. 266-267. 43 Der Vorschlag Delors ging von unterschiedlichen Stufen der Integration aus. Das Kern des Systems sollten die zur Gemeinschaft gehörenden Staaten bilden, die die volle wirtschaftli- che und politische Integration unterstützen, den folgenden Kreis bilden die Staaten, die vor allem auf wirtschaftliche Integration (im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraumes) ausgerichtet sind. Den letzten Kreis bilden die an der Mitgliedschaft und dem Zugang zu den Märkten der Gemeinschaft sowie an finanzieller Unterstützung interessierten Staaten. Jacques Delors, Debates of the European Parliament 1988–1989 Session, Proceedings from 16–20 January 1989. 78 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union der EFTA, sollte diejenigen Staaten umfassen, die nicht Mitglied der Gemeinschaft sind, aber vor allem an wirtschaftlichen und Handelsverträgen mit der Gemeinschaft interessiert sind, wie die EFTA-Mitglieder sowie die Länder Mittel- und Osteuropas. Für die zu diesem Kreis gehörenden Staaten, die eine Mitgliedschaft in der EU an- streben, wurde eine solche generelle Möglichkeit vorgesehen. Der vierte Kreis sollte das „gemeinsame europäische Haus“ bilden und alle an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) teilnehmen- den Staaten verbinden. Eine wichtige Rolle darin sollten die UdSSR und die USA spielen.44 Eine Priorität des Modells der konzentrischen Kreise sollte die Sicherung dauerhaften Friedens in Europa durch Verbindung der wichtigsten Sicherheit schaf- fenden Akteure auf diesem Kontinent sein.

2.2. Die Konzeption des „harten Kerns“ der Union

Ein Versuch der Herauskristallisierung des christdemokratischen Integra- tionskonzepts war das am 1. September 1994 in Bonn veröffentlichte Dokument Überlegungen zu einer europäischen Politik, das auch Schäuble-Lamers-Papier be- kannt ist. Seine Autoren waren Wolfgang Schäuble (damaliger Chef der Bundestags- fraktion der CDU/CSU) und Karl Lamers (Sprecher der CDU für außenpolitische Fragen). Tatsächlich jedoch wurden die Grundpfeiler des Dokuments von den Be- ratern der CDU/CSU-Fraktion für Außen- und Sicherheitspolitik, Jürgen Falenzki, Antonius Halne von der CDU und teilweise von Christian Schmidt von der CSU, erarbeitet und mit Karl-Heinz Hornhues konsultiert, einem Vertreter des Vorstands der CDU/CSU- Bundestagsfraktion. Wahrscheinlich hatte auch der damalige Vertei- digungsminister Einfluss auf die Form der Überlegungen… aufgrund seiner Nähe zu J. Falenzki, seinem langjährigen Berater seit den achtziger Jahren.45 Diese Initiati- ve der Christdemokraten setzte eine breite Debatte auf dem europäischen Kontinent über die endgültige Form der EU im Kontext der EU-Erweiterung und der Vertie- fung der Integration in Gang. Weiterhin berufen sich die CDU unter der Führung

44 M. Mertes, N.J. Prill, Europäische Strukturen…, S. 151. 45 Die Informationen betreffend der Autoren des Dokuments erhalten von Prof. Dr. hab. Erhard Cziomer (Jagiellonen-Universität Krakau), der während der teilnehmenden Beobachtung in der Mitte der 90er Jahre viele Gespräche mit Mitgliedern der Fraktion CDU/CSU geführt hat, sowie den Text des Dokuments erhalten hat, bevor dieser der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Offiziell informierten die Medien, dass an der Bearbeitung des Dokuments außer W. Schäuble und K. Lamers teilnahmen: Michael Glos, Sprecher der Landesgruppe der CSU für Außen- und Verteidigungspolitik; Günter Rinsche (CDU), Abgeordneter des Europaparlaments der Gruppe der Europäischen Volkspartei; Karl-Heinz Hornhues Vertreter des Anführers der Parlamentsfraktion CDU/CSU; Christian Schmidt (CSU). Vgl.: Überlegungen zur europäischen Politik, Quelle: http://www.wolfgang-schaeuble.de/po- sitionspapiere/schaeublelamers94.pdf, (maj 2006); J. Kosiarski, op. cit., S. 185; B. Koszel, Francja i Niemcy w procesie integracji Polski ze Wspólnotami Europejskimi/Unią Europejską /Frankreich und Deutschland im Prozess der Integration Polens mit den Europäischen Gemeinschaften/, Instytut Zachodni, Poznań 2003, S. 53. Die Konzepte der deutschen Christdemokratie 79 von Angela Merkel und die CSU unter Edmund Stoiber auf die so genannten Eu- ropäischen Thesen dieses Dokuments. Ein Teil dieser Vorschläge fand auch seine Anhänger in der von 1998-2005 regierenden Linkskoalition von SPD/Grüne.46 Das Dokument der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zeigte in seiner ersten Hälfte die Krisenlage der EU auf, dessen Quellen sie im Reformmangel der Unions- institutionen, in Aufleben von Nationalismen und den damit einhergehenden Natio- nalegoismen auf EU-Ebene erblickte. Die Autoren der Denkschrift formulierten aus Sorge um eine Verwandlung der Union in eine Art ausschließlicher Freihandelszone, unfähig zur Lösung innerer und äußerer Probleme, im dritten Teil des Dokuments, unter dem Titel Was ist zu tun? – Vorschläge fünf sich gegenseitig bedingende Thesen, welche die Richtung der weiteren Integration vorgeben:47 1) Die weitere institutionelle Entwicklung der EU im Rahmen der neuen europäischen Verfassungsordnung. Schrittweise sollte das Europäische Parlament, in ein – neben dem Rat der Europäischen Union – zweites, le- gislatives Organ umgestaltet werden, während die Europäische Kommis- sion die Eigenschaften einer Europäischen Regierung annehmen sollte. Das Problem des Demokratiedefizits sollte effektiv durch die Teilnahme der nationalen Parlamente am europäischen Gesetzgebungsprozess sowie durch eine neue Aufteilung der Stimmen im Rat der EU, der das Propor- tionalitätsprinzip gegenüber den Einwohnerzahlen in den Mitgliedstaaten berücksichtigt, gelöst werden. Also wurden vorausgesetzt: Demokratisie- rung, Föderalisierung, Anlehnung an das Subsidiaritätsprinzip und Re- formen der Institutionen der Union. 2) Die weitere Festigung des „harten Kerns“ des integrierten Europa im Konzept eines „Kerneuropas“ ging von einer Bildung einer Gruppe aus fünf bis sechs Staaten aus (hier nannten die Autoren des Dokuments die Gründerstaaten der EG ohne Italien), die den Motor der Integration bil- den sollte. Der „harte Kern“, der sich aus den Ländern, die an der Vertie- fung der Integration interessiert sind, zusammensetzt, sollte die Keimzelle der politischen Union bilden. Auf diese Weise würde er gleich einem Ma- gneten mit den anderen Mitgliedstaaten interagieren. Diese Gruppe soll- te einen für die anderen Staaten offenen Charakter besitzen, wenn diese das Niveau der Teilnehmer der Kerngruppe erreichen sollten (Erfüllung

46 Vgl. Vortrag von Joschka Fischer, Vom Staatenbund zur Integration – Überlegungen über den Abschluss der europäischen Integration, gehalten an der Humboldt-Universität Berlin AM 12. Mai 2000. Vgl. auch: B. Koszel, Od Nicei (XII 2000) do Brukseli (XII 2003). Europejska polityka Francji i Niemiec /Von Nizza (Dezember 2000) nach Brüssel (Dezember 2003). Die Europapolitik von Franreich und Deutschland/, „Przegląd Politologiczny“ 2004, Nr. 1, S. 89-104; S. Sulowski, Polityka europejska Republiki Federalnej Niemiec /Die Europapolitik der Bundesrepublik Deutsch­ land/, Elipsa, Warszawa 2004, S. 118-124. 47 Vgl. eingehender: Überlegungen zur europäischen Politik…, S. 3-11. 80 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union der Maastrichter Konvergenzkriterien, großes Engagement bei der Stär- kung der Integration).48 Dieser Prozess würde verschiedene Geschwindig- keiten der europäischen Integration einführen. Es würde eine Integrati- on der zwei Geschwindigkeiten entstehen, in dem die Staaten des „har- ten Kerns“ sich schneller integrieren würden, während die übrigen Län- der, in Hinsicht auf ihre begrenzten Möglichkeiten und Verspätungen bei den Reformen in einer eigenen Geschwindigkeit dazu stoßen wür- den (das Modell der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ oder auch das Modell der „variablen Geometrie“).49 Das Angebot der unterschiedli- chen Geschwindigkeiten stieß jedoch auf Kritik innerhalb der Christde- mokraten selbst. Die CSU lehnte diese entschieden ab, da sie befürchtete, dass es mit der Aufnahme neuer Mitglieder zu einer Aufteilung in „Mit- glieder erster und zweiter Klasse“ kommen könnte. Sie deutete darauf hin, dass das Konzept des „harten Kerns“ zusammen mit den sich in sei- nem Orbit befindenden Staaten die Idee der Integration nur schwächen würde.50 3) Die Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen sollte zum Zentrum des „festen Kerns“ werden. Die Hervorhebung der deutsch- französischen Beziehung war nichts grundsätzlich Neues im Konzept der Europapolitik der Christdemokraten. Von Anfang der Existenz der Bundesrepublik an legte man besonderen Wert auf die Beziehungen zu Frankreich. Eine der Hauptprämissen der Westbindung war der Sieg über die deutsch-französische „Erbfeindschaft“.51 Die Zusammenarbeit mit Frankreich ermöglichte Deutschland die „Rückkehr nach Europa“ und bot zudem die Option, neben Frankreich einer der Hauptarchitek- ten der europäischen Integration zu werden, trotz der Uneinigkeiten be-

48 Vgl.: M. Kozerski, Analiza koncepcji „Europy twardego rdzenia“ /Analyse der Konzepti­ on des „harten Kerns“/, [in:] K. Fiedor, M.S. Wolański (Hrsg.), Węzłowe problemy Niemiec XX-XXI wieku /Schlüsselprobleme Deutschlands im 20. und 21. Jahrhundert/, „Acta Universitatis Wratislavi- ensis“, No. 2340, Niemcoznawstwo 11, Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego, Wrocław 2002, S. 231-232, 242-43. 49 Vgl. eingehender: K. Lamers, Variable Geometrie und fester Kern. Zur Debatte über das Europa-Papier der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, „Blätter für deutsche und internationale Po- litik“ 12/1994, S. 1464-1470. 50 Für ein starkes Bayern in Europa 2004-2009, Wahlprogramm zur Europawahl 2004, S. 9. Źródło: http://www.csu.de/home/uploadedfiles/Dokumente/040216_Europawahlprogramm.pdf, (De- zember 2005). Auch die deutsche Sozialdemokraten waren dem Vorschlag von Lamers und Schäuble gegenüber skeptisch eingestellt. Die Vorsitzende der SPD Heidemarie Wieczorek-Zeul äußerte sich kritisch bis ablehnend. Im Februar 1995 veröffentlichte sie in Bonn ihre Überlegungen zur Weiter­ entwicklung der EU, Vorlage für die Sitzung des Parteirates am 21. 2. 1995, in der sie unterstrich, dass Solidarität Und Gleichbehandlung der Mitglieder nich als Ziele der europäischen Integration in Frage gestellt werden dürften. 51 Por. S. Sulowski, Polityka europejska… /Europapolitik…/, op. cit., S. 18-19. Die Konzepte der deutschen Christdemokratie 81 züglich der Fragen der Funktionsweise der EU.52 Schon in den achtziger Jahren war Helmut Kohl von der großen Bedeutung der deutsch-franzö- sischen Beziehung für die Vertiefung der Integration auf dem Alten Kon- tinent überzeugt. Beide Staaten verglich er mit „einem Verkehrsschild für die Baustelle des zukünftigen Europa“.53 Gemäß dem christdemokrati- schen Konzept des „Zentrums des harten Kerns“ in den neunziger Jahren, sollte die enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland zu einem Motor der Integrationsprozesse, besonders im Bereich der Wirt- schafts-, Sozial- und Verteidigungspolitik werden. 4) Die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU im Rahmen der Ge‑ meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), in deren Rahmen Europa einen Teil der Verantwortung von den USA übernehmen und da- durch zum internationalen Akteur werden würde. Die Wirkungsbereiche der GASP sollten umfassen: a) eine gemeinsame Politik der Stabilisierung in Mittel- und Osteuropa; b) die Ausweitung der Beziehungen zu Russ- land mit dem Ziel einer echten Partnerschaft; c) eine gemeinsame Poli- tik im Mittelmeerraum; d) die strategische Partnerschaft mit der Türkei; e) eine erneute Definition der transatlantischen Beziehungen – ein Ver- such der Findung einer zufrieden stellenden Lösung zwischen der „Frucht von fünfzig Jahren hervorragender deutsch-amerikanischer Beziehun- gen“, die ein Verdienst der Christdemokraten war, und dem Konzept einer engen Zusammenarbeit mit Frankreich, einer Stärkung der GASP sowie der Verteidigungspolitik der EU.54 5) Öffnung der Union nach Osten, Erweiterung um die Staaten Mit‑ tel- und Osteuropas.55 Die Erweiterung der Union sollte laut Schäub- le „ein Test für die Glaubwürdigkeit Europas“ sein. Lamers sah die Er- weiterung als „Frage der Moral und Selbstbestimmung“. Die deutsche Christdemokratie betonte entschieden, dass der einzige Weg, das vereinte Deutschland vor der Übernahme einer Hegemonierolle in Mittel- und Ost- europa aufzuhalten, die EU-Erweiterung sei. Deutschland im Hinblick auf 52 ����������������������������������������������������������������������������������������� J. Grünhage vertritt die Ansicht, dass die deutsch-französischen Beziehungen den Schlüs- sel für die Beziehungen innerhalb der UE selbst darstellen. Es lässt sich in der um die Staaten Mit- tel- und Osteuropas erweiterten Union keine Alternative für das deutsch-französische Tandem finden. Vgl: J. Grünhage, Entscheidungsprozesse in der Europapolitik Deutschlands. Von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Nomos, Baden-Baden 2007, S. 36. 53 Zit. nach: H. Kohl, Przyszłość Europy a stosunki francusko-niemieckie /Die Zukunft Euro­ pas und die deutsch-französischen Beziehungen/, [in:] A.D. Rotfeld (Hrsg.), Wizje Europy. Materiały dyskusyjne /Visionen für Europa), Książka i Wiedza, Warszawa1989, S. 100. 54 Niemcy – dreptanie w miejscu /Deutschland – ein Treten auf der Stelle/, „Rocznik Strate- giczny“ 2003/2004, S. 260–263. 55 In zahlreichen deutsche Dokumenten ist von einer Erweiterung um die Staaten Mittel- und Osteuropas die Rede (Mittel-und Osteuropäische Länder – MOEL, Mittel- und Osteuropäische Staaten), während in Wirklichkeit der Erweiterungsprozess sich nur auf Mitteleuropa bezog. 82 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union seine geografische Lage und sein historisches Gedächtnis besonders viel an der Überwindung der Teilung Europas liegen. Die Christdemokraten wiesen darauf hin, dass so die Bedingungen für die Einnahme einer stabi- lisierenden Rolle in dieser Region geschaffen würden.56 Die EU-Osterweiterung sollte sich vor allem ausrichten an: • der konsequenten Einführung der Beschlüsse aus den europäischen Ab- kommen über die Öffnung der Märkte, • Vereinbarung einer Handelspolitik, • Unterstützung des freien Handels und Zusammenarbeit zwischen den Re- formstaaten, • Erweiterung der Möglichkeiten der Teilnahme der Beitrittskandidaten an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (besondere Beto- nung auf der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen); Einschaltung von Mittel- und Osteuropa in die Zusammenarbeit bei Angelegen- heiten für Inneres und Justiz, in den Bereichen, die Migrations- und Asylpolitik, Visa und die Zusammenarbeit mit EUROPOL (dem Europäischen Polizeiamt) betreffen. Das Dilemma der Vertiefung oder Erweiterung zeigte sich besonders deutlich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre im Zusammenhang der Überlegungen über die Aufnahme der neuen Demokratien jenseits der deutschen Ostgrenze. Bundeskanz- ler Helmut Kohl suchte keine Lösung dieses Dilemmas, sondern versuchte ein Gleich- gewicht zwischen diesen Prozessen zu finden. Er sprach sich nicht für komplizierte Modelle der differenzierten Integration aus, wie etwa das Modell der konzentrischen Kreise oder den Ansatz von Schäuble und Lamers. Er befand, dass die Europäischen Gemeinschaften für die Staaten Mitteleuropas, welche die Mitgliedschaft in der EG anstreben, offen bleiben müssten. In keinem Fall dürfe dies jedoch einen Verzicht auf die Vertiefung der Integrationsprozesse bedeuten. Die Erweiterung der EG/EU um neue Mitglieder aus dem Osten sollte – laut Kohl – nicht ein Prozess „von heute auf morgen“ sein. Er forderte Engagement sowohl auf der Seite der nach Mitglied- schaft strebenden Staaten, als auch bei der Vorbereitung der Europäischen Union selbst auf die Herausforderung der Erweiterung.57 Beide christlich-demokratischen Parteien werteten die Erweiterung der Eu- ropäischen Union am 1. Mai 2004 um zehn neue Mitglieder als einen „historischen Schritt in Richtung einer Vereinigung des europäischen Kontinents“ und sahen in der erweiterten Union einen Akteur, der auf internationaler Ebene mitsprechen konnte.58 Die Aufnahme neuer Mitglieder sowie interne Probleme nicht nur in der Uni-

56 Vgl. eingehender: B. Koszel, Francja i Niemcy... /Frankreich und Deutschland…/, op. cit., S. 54-56; M. Kozerski, op. cit., S. 238-239; H. Hubel, B. May, Ein „normales“ Deutschland? Die souveräne Bundesrepublik in der ausländischen Wahrnehmung, Europa Union Verlag GmbH, Bonn 1995, s. 107-108. 57 M. Karama, op. cit., S. 203. 58 Zob. Für ein starkes Bayern in Europa 2004–2009…, op. cit., S. 6. Die Konzepte der deutschen Christdemokratie 83 on (Ausarbeitung des Vertrags von Lissabon) sondern auch in Deutschland (Wirt- schaftskrise) ließen Kohls Konzept der gleichzeitigen Forcierung der Erweiterung und Vertiefung illusorisch erscheinen.59 Kanzlerin Angela Merkel steht der Frage der EU-Erweiterung deutlich skeptischer gegenüber. Momentan spricht sich die deutsche Christdemokratie für eine privilegier- te Partnerschaft mit der Türkei aus, also für eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und Türkei. Die privilegierte Partnerschaft als Perspektive der weiteren Annä- herung der Türkei an die Europäische Union wurde im neuen Programm der CDU, das im Dezember 2007 auf dem 21. Parteitag in Hannover angenommen wurde, betont.60 Dieses Konzept setzte eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen der Außen- und Verteidigungspolitik sowie eine enge Kooperation in den Bereichen der Wirtschaft (Zollunion), Wissenschaft und Kultur voraus, die institutionalisiert werden sollten. Die privilegierte Partnerschaft mit der Türkei wird als Alternative zur vollen Mitgliedschaft in der EU gesehen. CDU/CSU befürchten, dass die Mit- gliedschaft der Türkei den Integrationsprozess stark schwächen würde, was so- gar die Gefahr eines Zerfalls der Union heraufbeschwören könnte. Die Perspek- tive der Mitgliedschaft der Türkei würde die Errichtung einer politischen Union verlangsamen und die Unterstützung der Europäer für die europäische Integration verringern. Ein wichtiger Aspekt der europäischen Politik von CDU und CSU ist die Bestimmung der Grenzen Europas und die Betrachtung der Integration durch das Prisma der europäischen Identität. Es ist anzumerken, dass im CDU-Programm 2007 betont wurde, dass „nur europäische Staaten der Europäischen Union beitreten können“61. Es wurde jedoch nicht definiert, was der Begriff „europäischer Staat“ be- deutet. Die CSU hingegen lehnte in ihrem Programm von Dezember 2007 entschie- den die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ab.62 Zusammen mit der eventuellen Erweiterung der EU um die Türkei würden die Grenzen zum Irak, Iran und Syrien zu inneren Grenzen der EU werden. Kon- flikte in dieser Region könnten die innere Sicherheit der EU belasten. Nach Ansicht der CDU spricht nicht nur die geostrategische Lage der Türkei für eine privilegierte Partnerschaft und gegen eine Mitgliedschaft in der Union, sondern auch die Größe dieses Staats, die kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Unterschiede und auch die Frage der Verletzung von Menschenrechten.63

59 Ch. Hacke, Mehr Bismarck, weniger Habermas. Ein neuer Realismus in der deutschen Außenpolitik?, „Internationale Politik“ 2006, Nr. 6, S. 75. 60 Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Grundsatzprogramm. Beschlos­ sen vom 21. Parteitag, Hannover, 3.–4.Dezember 2007, s. 101; źródło: http://www.cdu.de/doc/ pdfc/071203-beschluss-grundsatzprogramm-6-navigierbar.pdf, (styczeń 2008). 61 Ebd.. 62 Chancen für alle..., S. 156. 63 Vgl. eingehender: A. Merkel, Türkei: Partnerschaft statt EU- Mitgliedschaft, „Die Welt“ vom 16. Oktober 2004; W. Proissl, M. Zapf, Schäuble warnt vor Ende der EU-Integration, „Fi- nancial Times Deutschland“ vom 16. Dezember 2004; Antrag des Parteivorstandes an den 69. 84 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union Den Standpunkt der Christdemokraten gegenüber der Vertiefung und Er- weiterung der EU präsentierte das Schäuble-Lamers-Papier von 1994. Vorschlä- ge für Reformen in der zweiten Säule der EU, die darin enthalten sind – Stärkung der GASP auf dem Weg der Erbauung einer politischen Union – haben für die CDU Priorität. Eine besondere Rolle der GASP betonte Kohl im Februar 1996 in Löwen. Ein zweiter wichtiger Punkt in der weiteren Entwicklung der Integration war nach Kohl die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten der EU im Bereich der Innenpolitik und Justiz (3. Säule) zum Ziel der Absicherung einer Koordination des Kampfs ge- gen das organisierte Verbrechen und den Terrorismus.64 Der christdemokratische Kanzler unterstrich die vorrangige Rolle des Subsidi- aritätsprinzips in der Aufteilung der Kompetenzen zwischen den Unions-, National-, und Regionalinstitutionen, und forderte auch die Stärkung der Rolle der National- parlamente im Prozess der europäischen Integration.65 W. Schäuble betont weiterhin, dass Europa in Fragen der Au¬ßenpolitik eine gemeinsame Sprache sprechen müs- se. Europa müsse, wenn es ein bedeutender Akteur auf internationaler Ebene wer- den wolle, seine Interessen definieren und die entsprechenden Mittel und Methoden zu ihrer Durchführung bezeichnen. Eines dieser Instrumente sei die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.66 Die christdemokratische Fraktion betonte vor allem die Notwendigkeit ei- nes Verfassungsvertrags, der sich auf das Modell des „Bundesstaats“ (nach deut- schem Vorbild) und das Subsidiaritätsprinzip berufen würde, was die Unterscheidung der Kompetenzen der EU, der Nationalstaaten und der Regionen ermöglichen würde.

Parteitag der CSU am 19/20. November 2004 in München, Privilegierte EU-Partnerschaft der Türkei, źródło:http://www.csu.de/home/Display/Aktuelles/Veranstaltungen/parteitag2004/Tuer- kei-Antrag.pdf, (Juni 2006); Privilegierte Partnerschaft. Die europäische Perspektive für die Türkei. Beschluss der Präsidien der Christlich Demokratischen Union und der Christlich Sozialen Union am 7. März 2004, źródło: http://www.cdu.de/doc/pdfc/080304-beschluss-tuerkei.pdf, (Juni 2006). 64 Vgl.: Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl anlässlich der Verleihung der Ehrendoktor­ würde durch die Katholische Universität Am 2. Februar 1996 in Löwen/Belgien (Auszüge), [in:] A. Volle, W. Werner (Hrsg.), Europa hat Zukunft. Der Weg ins 21. Jahrhundert. Beiträge und Doku­ mente aus Internationale Politik, Verlag für Internationale Politik, Bonn 1998, S. 161–163. 65 ����������������������������������������������������������������������������������� Ebd. Helmut Kohl nannte 1996 in Löwen auch die drei wichtigsten Gründe der europä- ischen Integration: 1) Stetigkeit der europäischen Integrationspolitik, die er als Frage von „Krieg oder Frieden des 21. Jahrhunderts“ sah sowie als Gegengift gegen die Nationalismen und Rückkehr zum deutschen Nationalstaat; 2) Notwendigkeit der Artikulierung der Interessen Europas in der Welt; 3) das Bedürfnis nach Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf dem Welt- markt. Er behauptete, das wirtschaftlich vereinte Europa sei dem wirtschaftlich stärkeren Südostasien und Nordamerika gewachsen. 66 Vgl.: W. Schäuble, K. Lamers, Überlegungen zur europäischen Politik II – zum Fort­ gang des europäischen Einigungsprozesses, Arbeitspapier, Sankt Augustin, Bonn 3 Mai 1999, Interview mit Wolfgang Schäuble, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 28. Februar 2005; Europa-Manifest der CDU. Beschluß des Bundesvorstands der Christlich Demokratischen Union Deutschlands am 22. März 2004, s. 11, źródło: http://www.cdu.de/doc/pdfc/22_03_04_europa- manifset.pdf, (Mai 2006). Die Konzeptionen der SPD 85 Die Ausarbeitung eines „Verfassungsdokuments“ würde ebenfalls die Bezeichnung der Leitlinien der Europäischen Union ermöglichen.67 Im Oktober 2006 nahm Karl Lamers während seines Polen-Besuchs an der in- ternationalen Konferenz zum Thema Veränderungen in Deutschland, Veränderun­ gen in Europa teil. Bei seinem Auftritt während der Sitzung Deutschland gegen­ über der Welt, Europa und seinen Nachbarn betonte er, dass die Bundesrepublik überdauern könne, wenn sie ein Teil eines handlungsfähigen Europa würde. Er rief, genau wie im Dokument von 1994, dazu auf, die Fundamente Europas festzulegen und eine gesamteuropäische Debatte über die Gestalt des endgültig integrierten Eu- ropa zu führen. Er stellte fest, dass die Reformen der Union selbst, die Bestimmung ihrer Form und die Unterzeichnung einer Verfassung einer Erweiterung um die Tür- kei und die Ukraine vorangehen müssten. Er wies auch auf die damit zusammen- hängende Frage nach dem Platz der Russischen Föderation auf dem Alten Kontinent und den Beziehungen der EU zu Russland hin. Lamers vertrat die Ansicht, dass man die Außenpolitik der Mitgliedstaaten europäisieren könne und solle, was durchaus auch als Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls zu verstehen sei. Er bemerkte, dass es Anzeichen gäbe, dass in der gemeinsamen Außenpolitik der EU bereits eine Identifi- kation der Europäer mit der Europäischen Union sichtbar ist, die sich in einem neuen Wir-Gefühl ausdrückt. Dabei betonte er jedoch auch, dass die Außenpolitik der EU die Notwendigkeit der Ordnung der Beziehungen auf der Grundlage einer gleichbe- rechtigten Partnerschaft zu den USA impliziert.68

3. Die Konzeptionen der SPD

Die Hauptfunktion der Sozialdemokratischen der Sozialdemokratischen Par- tei Deutschland (SPD) in der Europapolitik vor der deutschen Wiedervereinigung war vor allem die Kritik der Politik Konrad Adenauers und der CDU/CSU. Dies ergab sich vor allem aus der Stellung der Partei im politischen System der Bundes- republik. Über lange Jahre hinweg befand sich die SPD in der Opposition. Erst nach der Neudefinierung ihrer Programmkonzeptionen und der Reform ihrer Struktur auf dem außerordentlichen Parteitag vom 13. - 15. November 1959 in Bad Godes- berg wurde die SPD zu einem wirksamen Gegengewicht für die CDU/CSU. Die SPD kritisierte nicht die Idee der europäischen Integration selbst, sondern ihre praktische Umsetzung, die sich auf nur sechs Staaten Westeuropas konzentrierte. Kurt Schuma- cher verwarf den Adenauerschen Kurs eines „Mini-Europa“ und forderte die Beteili- gung an den Integrationsbestrebungen der skandinavischen Länder und Großbritan- niens. Trotz der Kritik an Adenauers Europapolitik akzeptierte die SPD die Verträge

67 Zit. Nach: J. Kosiarski, op. cit., S. 186-187. 68 Internationale Konferenz. Änderungen in Deutschland, Änderungen in Europa, veranstal- tet von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen und die Stefan-Batory-Stiftung in Warschau, 5.-6. Oktober 2006. 86 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Gemein- schaft und die Europäische Atomgemeinschaft.69 Das Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das so genannte Berliner Programm, wurde auf dem Berliner Parteitag am 20. Dezem- ber 1989 angenommen und am 17. April 1998 auf dem Parteitag in Leipzig geändert. Im Vorwort zu diesem Programm unterstrich der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine die Grundwerte der deutschen Sozialdemokratie: Freiheit und Gleich- heit, Demokratie und Solidarität, Frieden und internationale Zusammenarbeit.70 Frie- den wurde verstanden als „das Zusammenlebens der Völker ohne Gewalt, Ausbeu- tung und Unterdrückung. Friedenspolitik umfasst auch Zusammenarbeit der Völker in Fragen der Ökonomie, Ökologie, Kultur und Menschenrechte.“71 Die SPD bekannte sich eindeutig zu einer aktiven Europapolitik des vereinten Deutschland. Ein friedliches, freies Deutschland sollte zum Motor der europäischen Einigung und internationalen Zusammenarbeit werden. Wir wollen Frieden. Wir ar- beiten für eine Welt, in der alle Völker in gemeinsamer Sicherheit leben, ihre Konflikte nicht durch Krieg oder Wettrüsten, sondern in friedlichem Wettbewerb um ein men- schenwürdiges Leben austragen, in der eine Politik der Partnerschaft und eine Kultur des Streits den Konflikt zwischen Ost und West überwinden (...)“72 Im dritten Kapitel zum Thema Sicherheits- und Europapolitik bekannte sich die SPD zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, die zur Schaf- fung einer Föderation der „Geeinten Völker Europas“ führen müsse.73 Das Ziel der Vertiefung sei die Gewährleistung der kulturellen Vielfalt der Völker, der Rechte nationaler Minderheiten sowie gleicher Freiheit und Entwicklungschancen für je- den Bürger. Dem SPD-Programm zufolge implizieren diese Postulate eine Erwei- terung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments und die Schaffung einer handlungsfähigen europäischen Regierung, die dem Europäischen Parlament ver-

69 J. Olszyński, op. cit., S. 96-98. 70 ���������������������������������������������������������������������������������������� Das Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands besteht aus dem Vor- wort ihres damaligen Vorsitzenden Oskar Lafontaine und fünf Kapiteln: Kapitel I Was wir wollen stellt die allgemeinen Grundzüge des Programms dar. Kapitel II Grundlagen unserer Politik beruft sich vor Al- lem auf die Wurzeln der deutsche Sozialdemokratie und ihr Politikverständnis. Kapitel III Frieden in ge­ meinsamer Sicherheit bespricht die europäische und internationale Sicherheitspolitik. Kapitel IV Die freie, gerechte und solidarische Gesellschaft. Eine neue Kultur des Zusammenlebens und Zusammenwirkens ist am umfangreichsten und bezieht sich zur Gänze auf die Innenpolitik des Staates. Das letzte Kapitel Unser Weg in die Zukunft ist eine Zusammenfassung des gesamten Programms. Vgl. den Text des Grundsatz- programms der SPD auf der Webseite der SPD – Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands; Quelle: http://www.spd.de/servlet/PB/menu/1588241/index.html, (Juli 2006). 71 Ebd., S. 15. 72 Ebd., S. 7. 73 Diese Konzeption ist der deutschen Sozialdemokratie nicht neu. Noch vor dem 2. Welt- krieg wurde im Heidelberger Programm von 1925 die Bildung Vereinigter Staaten von Europa als Form der Kooperation auf dem Alten Kontinent angeregt. Auch nach dem Krieg sprach sich die SPD 1946 für einen Europäischen Staatenbund aus. Vgl.: J. Olszyński, op. cit., S. 96. Die Konzeptionen der SPD 87 pflichtet ist. Alle europäischen Organe müssen klar bestimmte Kompetenzen besit- zen, um die Hauptziele der Integration wirksam umsetzen zu können. Die deutsche Sozialdemokratie regt zudem eine Vergemeinschaftlichung der Gemeinsamen Au- ßen- und Sicherheitspolitik (GASP) und eine Reform der gemeinsamen Agrarpo- litik (GAP) an, um so die Bundesrepublik als Nettozahler zu entlasten. Als linke Partei fordert die SPD die Erarbeitung gemeinsamer Regeln zur Bekämpfung des Sozial- und Steuerdumpings sowie die Festlegung von Mindeststeuersätzen für Un- ternehmen. Im Rahmen des Verfasssungvertrags schlägt sie zudem die Festlegung der Pflichten im Bereich der sozialen Rechte und die Bestimmung der Grundsätze ökonomischen Demokratie vor. In der Frage der EU-Erweiterung wurde anerkannt, dass die Europäische Gemeinschaft offen und bereit zur Aufnahme der übrigen de- mokratischen Staaten Europas sein müsse. Infolgedessen müsse die Europäische Ge- meinschaft verschiedene Formen der engen Zusammenarbeit mit den Staaten Mit- tel- und Osteuropas vorantreiben, um so schnell wie möglich die Teilung Europas zu überwinden. Die SPD lehnte eine Integration der „unterschiedlichen Geschwin- digkeiten“ als dem Solidaritätsprinzip zuwiderlaufend ab.74 Die Koalitionszusammenarbeit der SPD mit der CDU/CSU von 2005 bis 2009 hat die Sozialdemokraten dazu mobilisiert, ein neues Parteiprogramm zu entwickeln und auf dem Hamburger Parteitag am 28. Oktober 2007 anzunehmen.75 Das Pro- gramm konzentriert sich vor allem auf innenpolitische Fragen. Die Europäische Uni- on wird vor allem als eine Antwort auf die Herausforderungen und Bedrohungen verstanden, die ein Ergebnis des Globalisierungsprozesses sind. Bezüglich der eu- ropäischen Integration hingegen nimmt die SPD eine Haltung der Unterstützung der weiteren Erweiterung ein, unter der Voraussetzung, dass die Anwärterländer die einschlägigen Mitgliedschaftskriterien erfüllen. Im Unterschied zur CDU spricht sie sich für einen Beitritt der Türkei aus, die „eine wichtige Brücke zwischen Europa und den islamischen Ländern“ darstellt. Nach Einschätzung der Sozialdemokraten ist die 2004 eingesetzte Europäische Nachbarschaftspolitik ein probates Instrument zur Annäherung der Länder, die sich auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe noch nicht um eine Aufnahme bemühen können, an die Europäische Union.76

3.1. „Verantwortung für Europa“

Ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über die Zukunft der EU war das von Bundeskanzler Gerhard Schröder in Zusammenarbeit mit Rudolf Scharping,

74 Vgl.: Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei…, S. 16-17. Vgl.: J. Olszyński, op. cit., S. 98-99. 75 Hamburger Programm – Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutsch­ lands. Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007; Quelle: http:// parteitag.spd.de/servlet/PB/show/1731523/Hamburger%20Programm_final.pdf, (Januar 2008). 76 Ebd., S. 30. 88 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union Heidemarie Wieczorek-Zeul und Franz Müntefering vorbereitete Dokument Verant­ wortung für Europa, das im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ am 30. April 2001 veröffentlicht wurde. Von der SPD wurde dieses Dokument erst auf dem Nürnberger Bundesparteitag in der zweiten Novemberhälfte 2001 verabschiedet. Die Autoren unterstrichen, dass es keine Alternative zu einer Fortsetzung der Integration und Eu- ropäisierung gebe. Im nationalen Interesse Deutschlands liege die Unterstützung der Integrationsprozesse. Durch die europäische Integration will die deutsche Sozi- aldemokratie: • die wirtschaftliche Entwicklung gewährleisten, Arbeitsplätze schaffen, Neuerung im Bildungssystem einführen, um mit der Herausbildung der Informationsgesellschaf Schritt zu halten, die EU den Bürgern näher bringen; • Verbraucher und Umwelt schützen, die innere Sicherheit in der EU garan- tieren (die in einer erweiterten EU wirksamer geschützt werden kann); • die Bürgerrechte durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union schützen stärken; die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ausbauen, die Rolle Europas als eines Global Players vergrößern; • den europäischen Kontinent einigen, den Institutionen der Union ei- nen transparenten Charakter verleihen. Die Transparenz könnte durch die Stärkung der Kompetenzen der Europä- ischen Kommission als obersten Organs der Exekutive erreicht werden. Der Rat der EU sollte sich zu einer zweiten Kammer des Europäischen Parlaments als Ver- treter der Mitgliedsländer umwandeln. Die Zuständigkeiten des Parlaments sollten unter anderem um die Festlegung der Höhe des Haushalts erweitert werden. Jedoch wird auch festgestellt, dass die Vertiefung der Integration eines gesamteuropäischen Diskurses über die Gestalt der Europäischen Union bedarf.77 Im Bereich der Erweiterung der Union erkannten die Autoren des Programm- papiers die Osterweiterung als historischen Gewinn sowohl für die Anwärterstäten als auch für die Altmitglieder der EU an. Die Erweiterung um die Staaten Mittel- und Osteuropas, aber auch die Balkanländer ist eine Vereinigung von Staaten, welche sich zu denselben Grundwerten bekennen und dieselben Ziele anstreben: Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Friedenssicherung, Kampf gegen die in- ternationale Kriminalität. Ein Argument, das absolut für die kommenden EU-Er- weiterungen spricht, ist nach Ansicht der Autoren des Dokuments die Vergrößerung des Binnenmarkts der Union, wodurch diese auf den globalen Märkten wettbewerbs- fähiger wird. Hinsichtlich der Besonderheiten der Volkswirtschaften der künftigen Unionsmitglieder spricht sich die SPD für siebenjährige Übergangszeiten beim freien Verkehr von Dienstleistungen und Arbeitnehmern aus. Es wurde festgestellt, dass die Osterweiterung nicht zu Auseinandersetzungen mit so wichtigen Partnern

77 Leitantrag: Verantwortung für Europa. SPD-Bundesparteitag, Nürnberg, 19.-23. Novem­ ber 2001, Quelle: http://2001.spd-parteitag.de/servlet/PB/menu/1084448/index.html, (Mai 2006). Die Konzeptionen der FDP 89 der EU wie Russland oder der Ukraine führen darf. Die Beziehungen zu diesen bei- den Staaten müssen sich auf partnerschaftliches Miteinander für eine Stabilisierung und Entwicklung in Europa stützen.78 Eine wichtige Stimme in der Debatte um die Zukunft der EU war eine Rede von Bundespräsident Johannes Rau kurz vor der Veröffentlichung des Dokuments Verantwortung in Europa im „Spiegel“. In seinem Plädoyer für eine Europäische Verfassung, das er am 4. April 2001 in Straßburg vor dem Europäischen Parlament vortrug, sprach er sich für den Aufbau einer Föderation von Staaten auf der Grund- lage einer europäischen Verfassung aus.79 Diese Verfassung sollte aus drei Teilen bestehen: einer Grundrechte-Charta, den Grundsätzen der Beziehungen zwischen der Föderation und ihren Bestandteilen sowie den Bestimmungen der Zuständig- keiten und Befugnisse der Institutionen auf Föderationsebene. Rau zufolge sollte ein Europäisches Parlament mit zwei gleichwertigen Kammern auf der Grundlage des gegenwärtigen Parlaments und des Rats der EU geschaffen werden: der Rat der EU als Vertretung der Mitgliedsländer und das Europäische Parlament als Ver- tretung der Bürger. In der Frage der Umwandlung der Europäischen Kommission in ein starkes Organ der Exekutive mit einem Präsidenten an der Spitze sprach sich Rau für ein Modell aus, bei dem der Präsident von den beiden Kammern des Parla- ments gewählt würde (und nicht in Direktwahlen).80

4. Die Konzeptionen der FDP

Die Freie Demokratische Partei sprach sich in der Zeit vor der Wiederverei- nigung für ein föderatives Modell der europäischen Integration aus. Die erste Etappe der Integration sollte die wirtschaftliche Integration sein. Schon in den fünfziger Jah- ren postulierte die FDP eine Einigung Europas, die nicht nur die westlichen Staaten umfassen sollte, sondern auch die Staaten hinter dem Eisernen Vorhang. Dies fand Ausdruck im Berliner Programm der FDP vom Januar 1957 und in späteren Kon- zeptionen der Liberalen, wie zum Beispiel der in der „Politik des Brückenschlags“ (1964), die davon ausging, das im Zuge der Vereinigung des geteilten Deutsch- land und der Ausbildung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems gleichzei- tig eine Normalisierung der Beziehungen zu den sozialistischen Staaten stattfinden müsse.81 Die Aktivität Deutschlands auf der europäischen Bühne sollte – ähnlich wie

78 Ebd., S. 11-12. 79 J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung. Rede des Bundespräsidenten vor dem Europäischen Parlament in Straßburg (04.04.2001), Quelle: http://fr.bundespraesident.de/ Die-deutschen-Bundespraesident/Johannes-Rau/Reden-,11070.35625/Plaedoyer-fuer-eine-Europa- eisc.htm, (März 2006). 80 Präsident J. Rau wiederholte seine Vorschläge bezüglich der institutionellen Gestalt der Union auf dem von der Herbert-Quandt-Stiftung veranstalteten Berliner Europaforum am 16. No- vember 2001. 81 Vgl.: W.S. Burger, Problem niemiecki w myśli politycznej zachodnioniemieckich partii: 90 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union von der CDU/CSU angenommen – nicht nur der Umsetzung des Ziels der europäi- schen Integration dienen, sondern auch der Vereinigung Deutschlands und der Schaf- fung eines Sicherheitssystems in Europa, insbesondere aber einer Verbesserung der Beziehungen zwischen dem sich vereinenden Europa und der Sowjetunion. Die Europa-Konzeption der FDP nach der Wiedervereinigung wurde in den Wiesbadener Grundsätze für die liberale Bürgergesellschaft vom 24. Mai 1997 niedergelegt. Danach sollte sich die Integration im Rahmen der Europäischen Union in einer politischen Union verwirklichen, insbesondere im Rahmen der Gemeinsa- men Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die Union müsse sich demokratisieren, was einen Ausdruck in einer Verfassung für Europas mit einem Katalog der Grund- rechte und der Aufteilung der Kompetenzen unter den Organen der Union finden müsse. Die FDP forderte insbesondere die Erweiterung der Kompetenzen des Eu- ropäischen Parlaments. Das Ziel der Europapolitik ist für die FDP ein vereintes Eu- ropa liberaler Zivilgesellschaften, das die Verantwortung für Frieden und Freiheit in der Welt auf sich nimmt. Deshalb sprach sich die FDP ausdrücklich für eine Er- weiterung der EU um die Staaten Mittel- und Osteuropas aus, wobei sie gleichzeitig deutlich machte, dass die Erweiterung konsequent und parallel zur Vertiefung der In- tegration verlaufen müsse.82 Die Konzentration auf die praktische Dimension der In- tegration und nicht auf theoretische Erörterung, was die EU ist oder zu sein habe, ist charakteristisch für die deutschen Liberalen. Schon 1993 vertrat Klaus Kinkel, Außenminister in der Regierung Kohl, die Auffassung, die Diskussion über die end- gültige Gestalt der EU, ob sie nun ein föderativer Staat, eine Föderation, eine Konfö- deration oder ein Staatenbund sein solle, sei ausschließlich leere Theorie. Man müsse sich dahingegen auf die praktischen Aufgaben der Europapolitik konzentrieren.83 In einem weiteren Papier, das für den 53. Parteitag in Mannheim am vom 10. Bis 12. Mai 2002 erstellt worden war, dem Bürgerprogramm 200284, ist das letzte Kapitel der Europapolitik und den Herausforderungen für die internationale Sicher- heit in der Zeit der Globalisierung gewidmet. Für die Liberalen muss die internatio- nale Verantwortung Deutschlands mit der Sicherheitspolitik, der Außenpolitik und – und vor allem – der Europäischen Union einhergehen. Deshalb sei die Effektivität und Fähigkeit der EU zu Rechtshandlungen zu stärken, damit die Union zu einem Global Player werden könne. Europa müsse in den Fragen der Außenpolitik schnell

CDU/CSU, SPD i FDP w latach 1945–1990 /Die deutsche Frage im Denken der westdeutschen Par­ teien CDU/CSU, SPD und FDP/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2002, S. 293-294. 82 Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft, beschlossen auf dem Bun­ desparteitag der F.D.P am 24. Mai 1997 in Wiesbaden, s. 25-26; Quelle: http://www.fdp-bundesver- band.de/pdf/wiesbadg.pdf, (November 2006). 83 Stenographische Bericht des Deutschen Bundestages „Bundestag-Protokoll“ 12/189 vom 11. November 1993, S. 16288D. 84 Bürgerprogramm 2002. Das Programm der FDP zur Bundestagswahl 2002, beschlossen auf dem 53. Ord. Bundesparteitag vom 10. bis 12. Mai 2002 in Mannheim, Quelle: http://www.fdp. de/portal/pdf/Buergerprogramm2002i.pdf, (November 2006). Die Konzeptionen der FDP 91 reagieren und mit einer Stimme sprechen. Dies erfordere vor allem die Erarbeitung einer gemeinsamen europäischen Verfassung, die Verbesserung der Effektivität der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die Vertiefung der Zu- sammenarbeit in der 3. Säule der Union (Zusammenarbeit im Bereich Justiz und In- neres), die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der EU auf dem Welt- markt, die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und der Strukturpolitik sowie die weitere Erweiterung der EU. So Wie in dem vorherigen Dokument postu- liert, soll die Erweiterung parallel zu einer Vertiefung der Zusammenarbeit verlau- fen. Die Osterweiterung bedeutet nach Ansicht der FDP eine gewaltige wirtschaftli- che Chance für Deutschland und Europa.85 Die institutionellen Reformen sollten – laut Wahlprogramm der FDP bei den Europawahlen 2004 – vor allen Dingen die Position des Europäischen Par- laments festigen, insbesondere in Fragen, die mit der Verabschiedung des Haushalts und der Möglichkeit der Aufstellung eines Kandidaten für den Posten des Vorsit- zenden der Europäischen Kommission zusammenhängen. Die Posten des Vorsit- zenden der Europäischen Kommission und des Vorsitzenden des Rats der Europä- ischen Union sollten in einer „Personalunion“ verbunden sein. Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union würden gemeinsam die Legislative der Union bilden.86 Auch in ihrem Wahlprogramm vom Juli 2005 unter dem Slogan Arbeit hat Vorfahrt sprach sich die FDP für ein wirtschaftlich starkes, handlungsfähiges, poli- tisch integriertes Europa ein, das in der Welt mit einer Stimme spricht. Das langfristi- ge Ziel bleibt ein föderales Europa. Die Erweiterung der EU darf nicht die Vertiefung der Integration in Frage stellen. Der Beitritt weiterer Staaten ist nur möglich, wenn diese sich als beitrittsfähig erweisen und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, an de- ren Kontrolle strenge und transparente Anforderungen gestellt werden. Es wurde festgestellt, dass die Erweiterung um Bulgarien und Rumänien noch viel Arbeit und Unterstützung unmittelbar nach dem Beitritt dieser Staaten in Anspruch nehmen würde, vor allem bei Reformen in den Bereichen Justiz, Poli- zei, Kampf gegen die Korruption, Umweltschutz, Wettbewerbsfähigkeit, wobei alle Staaten der Union ihre Bereitschaft zu Hilfe und Zusammenarbeit zeigen würden. Die Verhandlungen mit der Türkei sollten vor allem aufzeigen, ob dieses Land in der Lage sein wird, den Acquis communautaire anzunehmen und ob die EU bereit ist, ein weiteres großes Land aufzunehmen. Alle Verhandlungen mit der Türkei sol- len vor allem dieses Land Europa näher bringen, während die eventuelle Mitglied- schaft in der EU letztlich einzig und allein vom Willen der Türkei zur konsequenten Verfolgung ihrer inneren Reformen abhängt.

85 Ebd., S. 78-82. 86 Vgl.: Wir können Europa besser! Für ein freies und faires Europa. Programm der FDP zur Europawahl 2004. Beschlossen auf dem Europatag Am 17. Januar 2004 in Saarbrücken, Quelle: http://www.fdp-sh.de/dl/grund/FDPEuropawahlprogramm2004.pdf, (Märzc 2006). 92 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union Die FDP spricht sich auch für eine Erweiterung der EU um die Staaten des westlichen Balkan aus: Mazedonien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo. Damit deren Mitgliedsperspektive realistisch sein kann, ist eine langfristige Balkan- strategie erforderlich, die Stabilität, Demokratie, freie Marktwirtschaft und Frieden sichert. Diese Position wurde auch in einem Dokument vom 17. Januar 2007 bestä- tigt, in dem der verstärkte Einsatz von Instrumenten gefordert wird, welche die An- wärterstaaten schrittweise an die EU heranführen, solche wie eine Zollunion, Asso- ziierungsabkommen und Partnerschaftsverträge.87 In dem auf dem Parteitag in Hannover im Mai 2009 angenommenen Wahl- programm macht die FDP deutlich, dass sie eine weitere EU-Erweiterung gemäß den Reformvorgaben des Vertrags von Lissabon befürwortet. Die Liberalen erken- nen die Bemühungen Kroatiens an und appellieren zugleich an Norwegen, Island und die Schweiz, sich um einen Beitritt zu bemühen. Im Bezug auf die übrigen An- wärterstaaten (Westbalkan) erklärt die FDP ihre Unterstützung auf mittel- und lang- fristige Sicht. Auch die Ukraine könnte sich auf langfristige Sicht dem Projekt der eu- ropäischen Integration anschließen.88 Recht rätselhaft äußerte sich die FDP zur Frage der türkischen EU-Mitglied- schaft, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass die FDP nach den Wahlen eine Ko- alition mit der regierenden CDU/CSU anstrebte. Im Wahlprogramm wurde festge- halten, dass in den nächsten Jahren eine Mitgliedschaft der Türkei nicht möglich sei. Trotz der Durchführung wichtiger Reformen durch dieses Land sei in vielen Bereichen erhebliche Defizite bezüglich der Erfüllung der EU-Standards (Kopenhagen-Kriteri- en) festzustellen. Dabei wurde das Stichwort „erhebliche Defizite“ fett hervorgehoben, um die These zu unterstreichen, dass sie Türkei noch nicht auf die EU-Mitgliedschaft vorbereitet sei. Der Schlüssel für den Beitritt zur EU seien die Umsetzung der Reformen in der Türkei und die Aufnahmefähigkeit der EU. Stark betont wurde, dass die Glaub- würdigkeit der Erweiterungspolitik nicht auf Erleichterungen für den Beitritt beruhen dürften: „Beitrittsverhandlungen müssen ergebnisoffen geführt werden. Einen „Ra- batt“ bei den Kriterien oder gar einen Beitrittsautomatismus zum Beispiel durch Nen- nung eines Beitrittsdatums vor Abschluss der Verhandlungen darf es nicht geben.“ 89 Eine ähnliche Formulierung fand sich im Koalitionsvertrag der im Herbst 2009 neu- gebildeten Regierung aus CDU/CSU und FDP. Die Koalitionspartner sprachen sich ausdrücklich für eine genaue Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien als Grundbedin- gung des Beitritts aus: Die Erweiterungsverhandlungen werden ergebnisoffen geführt. Die strikte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien bleibt Voraussetzung für einen Bei- 87 Arbeit hat Vorfahrt. Deutschlandprogramm 2005, s. 41-47, Quelle: http://files.liberale.de/ fdp-wahlprogramm.pdf, (November 2006). Vgl. Dokument der FDP-Fraktion Eine EU der Erfolge für den Bürger Positionspapier der FDP-Bundesfraktion zur deutschen EU-Ratpräsidenschaft, Quelle: http://www.fdp-fraktion.de/files/723/Positionspapier_zur_EU-Ratspraesidentschaft.pdf, (März 2007). 88 Die Mitte stärken. Deustchlandprogramm 2009, S 71, Quelle: http://www.deutschlandpro- grammm.de/files/653/Deutschlandprogramm09_Endfassung.PDF , (Dezember 2009). 89 Ebd. Die Konzeptionen der Grünen 93 tritt. (…) Maßgeblich sind in allen Fällen sowohl die Beitrittsfähigkeit der Kandidaten als auch die Aufnahmefähigkeit der EU.“ 90

5. Die Konzeptionen der Grünen

Eine wichtige Stimme in der Debatte um die Zukunft Europas kommt auch der Partei Bündnis’90/die Grünen zu. Von besonderem Gewicht in dieser Diskussion sind die Ansichten von Joschka Fischer, dem ehemaligen Außenminister in der Re- gierung Schröder. Es lohnt sich, das Grundsatzprogramm Die Zukunft ist grün zu betrachten, das auf dem Bundespartei Tag der Grünen vom 12. bis zum 17. März 2002 in Berlin verabschiedet wurde. Für die Grünen bedeutet Europa vor allem Demokratie, Stabili- tät und Solidarität. Auf der Europäischen Union ruht die Aufgabe der Friedenssiche- rung in Europa. Im Zusammenhang damit unterstützen die Grünen die EU-Erweite- rung und die Vertiefung der Integration. Das Ziel ist sowohl eine Union der Bürger wie auch eine Union der Staaten. Deshalb ist die Erarbeitung einer europäischen Verfassung unabdingbar, die den Europäern die Union näherbringt. Diese Verfas- sung müsste zum Fundament der Demokratie in der Union werden und eine klare Verteilung der Kompetenzen zwischen den einzelnen Institutionen sowie Garanti- en der Bürgerrechte enthalten. Die von den Grünen postulierte institutionelle Re- form müsste vor allem das Europäische Parlament betreffen. Dieses Organ müss- te das Recht auf Mitentscheidung und Befugnisse in Haushaltsfragen, aber auch Kontrollfunktionen zugewiesen bekommen. Dazu sollte auch eine zweite Kammer des Europäischen Parlaments entstehen – eine „Länderkammer“. Nach Ansicht der Grünen erschöpft sich die Methode der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Der Vorsitzende sollte in Direkt- wahlen oder vom Europäischen Parlament gewählt werden. Die institutionelle, strukturelle und finanzielle Transparenz ist unabdingbar für die weitere Entwicklung der EU. Die Erweiterung wird von den Grünen grundsätzlich unterstützt, sowohl nach Osten als auch nach Süden und um die Türkei. Dies natürlich unter der Voraus- setzung, dass diese Länder die Aufnahmekriterien erfüllen (Kriterien von Kopenha- gen, Charta der Grundrechte, Europäische Menschenrechtskonvention).91

5.1. Die Konzeption von Joschka Fischer

Die Konzeption des „harten Kerns“, die in einem Dokument der Christdemo- kraten im Jahr 1994 auftaucht, kehrte trotz der scharfen Kritik, auf die sie gestoßen

90 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU,CSU und FDP, Quelle: http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, (Dezember 2009 r.), S. 117. 91 Vgl.: Die Zukunft ist grün. Grundsatzprogramm von Bündnis’90/Die Grünen, Berlin: Bündnis’90/Die Grünen, 2002, S. 143-144, 152-159. Vgl. J. Olszyński, op. cit., S. 102-105. 94 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union war, auf den Tisch zurück – und zwar durch Joschka Fischer. Seine Überlegungen zur endgültigen Gestalt des vereinten Europa stellte er am 12. Mai 2000 in einer Rede an der Berliner Humboldt-Universität. Vor. Dieser Vortrag trug den Titel Vom Staa­ tenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integ­ ration92. Die Problematik der Vertiefung der Integration wurde auch mit der Frage der EU-Erweiterung verknüpft. Eine Begründung hierfür ist die These, dass das Sys- tem der EU mit 27 bis 30 Mitgliedern ihre Funktionsweise überlasten und zu ei- ner ernst zu nehmenden Krise führen müsse. Fischer erklärte die Ost- und Süder- weiterung der Union zu ihrer Pflicht und Schuldigkeit. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden müsse die Union ihre Handlungsfähigkeit durch die Schaffung einer politischen Union verbessern. In der EU-Erweiterung sah Fischer die unwie- derbringliche Chance der Einigung Europas und dadurch zur dauerhaften Friedenssi- cherung auf dem Kontinent. Eine weitere These besagt, dass die Deutschen die EU- Erweiterung nach Osten und Süden unterstützen, da sie in ihrem nationalen Interesse liegt. Die erweiterte und vertiefte Zusammenarbeit in der EU ist zum einen Garant für die Stabilität in Deutschland, das aufgrund seiner zentralen Lage in Europa, sei- ner Größe und seiner Geschichte „Risiken und Versuchungen“ ausgesetzt sein könn- te, zum anderen ist ein Deutschland, das sich für die Integration einsetzt, ein Ga- rant für den Anstieg der Bedeutung Europas. Die Einigung des Kontinents ist auch eine Chance für die deutsche Wirtschaft. Deshalb müssten die Deutschen als Für- sprecher der Osterweiterung auftreten.93 Wenn Fischer sich auf das Dokument von Lamers und Schäuble beruft, ist Fischer nicht vollkommen einverstanden mit dem Vorschlag des „harten Kerns“ der europäischen Integration, dem er eine übermäßige Elitarität vorwirft. Fischer stellte fest, dass der Kern Europas, also die am stärksten für die Integration enga- gierten Staaten (die Gründerstaaten oder die Staaten der Eurozone oder eine andere Gruppe) die Funktion eines Magnets erfüllen sollten, der alle Mitglieds- und An- wärterstaaten der Union zur Mitarbeit anzieht. In seiner Rede bezeichnete er diese Gruppe als Avantgarde, als Gravitationszentrum. Eine ähnliche Ansicht vertraten die Schöpfer der Konzeption des „harten Kerns“, für die das Tandem Frankreich- Deutschland den Motor der Europäischen Integration darstellte, ohne den kein euro- päisches Projekt gelingen kann. Die weitere Entwicklung der europäischen Integration sollte laut Fischer in drei Etappen verlaufen: 1. Ausbau der verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Staaten, die eng kooperieren möchten (zum Beispiel die Staaten der Schengen- Gruppe oder Wirtschafts- Und Währungsunion). Eine solche Zusam-

92 J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der eu­ ropäischen Integration. Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin, Suhrkamp, Frankfurt a. Main 2000. 93 J. Fischer, op. cit., S. 9-21. Die Konzeptionen der Grünen 95 menarbeit kann zu einer weiteren Entwicklung der Integration in vielen Bereichen führen: zum Beispiel könnten die Staaten der Euro-Zone sich in Richtung einer ökonomisch-politischen Union entwickeln, erwünscht wird die Ausarbeitung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpo- litik sowie der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 2. Bildung eines Gravitationszentrums. Diese spezifische Gruppe von Staaten sollte einen neuen Grundsatzvertrag schließen, der den Kern der künftigen föderativen Verfassung bilden würde. Kraft dieses Vertrags wäre eine Regierung zu bilden, die im Rahmen der Möglichkeiten mit ei- ner Stimme im Namen jener Avantgarde von Staaten sprechen würde, ein starkes Parlament und ein Präsident, der in Direktwahl bestimmt würde. 3. Die Bildung einer Europäischen Föderation würde die vollständige In- tegration bedeuten.94 Die Erweiterung der EU nach Osten und Süden bedarf institutioneller Refor- men. Fischers Vision der Vollendung der europäischen Integration ist ein „Übergang von einem Staatenbund zur vollständigen Parlamentarisierung in Form der Europäi- schen Föderation“.95 Die europäische Föderation wäre zu gründen auf der Grundlage des Verfassungsvertrags, der die tatsächliche legislative Gewalt dem Europäischen Parlament und die exekutive Gewalt der Regierung überträgt. In Richtung einer eu- ropäischen Regierung könnten sich der Europäische Rat oder die Europäische Kom- mission entwickeln, die zusammen mit dem Präsidenten in Direktwahlen zu wählen wäre.96 Die Souveränität müsste zwischen der Europäischen Föderation und ihren Bestandteilen, den Nationalstaaten, aufgeteilt werden. Eine Bedingung ist die Auf- rechterhaltung der Nationalstaaten mit ihren Besonderheiten unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Die Reform des Systems der EU müsste in zwei Dimensi- onen erfolgen: a) einer vertikalen, die die Beziehungen zwischen den überstaatlichen Systemen und den nationalstaaten sowie den Regionen betrifft, und b) einer horizon- talen – der Reform der Institutionen der EU. Eine genaue Verteilung der Kompeten- zen zwischen der Föderation und ihren Teilen wäre durch den Verfassungsvertrag zu garantieren. Die vertikale müsste auch in der europäischen Institution des Europä- ischen Parlaments zum Vorschein kommen. Dieses Organ muss eine Institution sein, die ein Europa der Bürger und ein Europa der Nationalstaaten repräsentiert.97

94 Ebd., S. 34-39. 95 Ebd., S. 24. 96 Ebd., S. 22-31. Vgl.: R. Hrbek, „Europäische Föderation“ durch „Verfassungsvertrag“, [in] R. Hierzinger, J. Pollak (Hrsg.), Europäische Leitbilder. Festschrift für Heinrich Schneider, No- mos Verlagsgesellschaft, 2 Baden-Baden 001, S. 35-38. 97 Eine Analogie zum deutschen föderalen System, in dem auf föderaler Ebene der Bundesrat die Repräsentantenkammer der einzelnen Länder darstellt und der Bundestag die Repräsentanten- kammer aller Bürger. Fischer schlug bei den Wahlen zur Länderkammer des Europäischen Parlaments das Modell des amerikanischen Senats oder des deutschen Bundestags vor, also entweder die Wahl 96 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union 6. Die Standpunkte der deutschen Sozialpartner

Es fällt ausgesprochen schwer, die europapolitischen Konzeptionen aller deutschen Sozialpartner darzustellen, da ihre programmatischen Dokumente oft nicht öffentlich zugänglich sind. Deshalb soll diese Darstellung auf einige ausge- wählte Positionen der wichtigsten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände be- schränkt bleiben. Am wichtigsten ist hierbei die Haltung der Gewerkschaften gegen- über der EU-Erweiterung. Einen besonderen Einfluss auf die Beschlüsse der SPD hat der mit ihr sympathisierende Deutsche Gewerkschaftsbund. Die Ansichten der Ge- werkschaften sind bei Entscheidungen der Bundesregierung im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu berücksichtigen.98 Es ist zu bemerken, dass bei der Diskussion um die EU-Erweiterung auch die Geschäftswelt engagiert ist. Als Beispiel mag die Deutsche Bank gelten, deren Forschungsabteilung DB Research in den Jahren 2000-2002 die Serie „Monitor EU-Erweiterung“ herausgab, die ab 2003 durch den „EU-Monitor. Beiträge zur euro- päischen Integration“ ersetzt wurde. Die Veröffentlichungen sind der EU-Erweiterung um die mitteleuropäischen Staaten, die Balkanstaaten und die Türkei gewidmet.99

6.1. Arbeitgeberverbände

Die deutschen Arbeitgeber sind als Branchenvereine in Landesverbänden organisiert. Zu den wichtigsten Organisationen auf Bundesebene gehören: die Bun- desvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände (BDA)100, die Unternehmen lediglich in ihrer Arbeitgeberfunktion repräsentieren (also ein Partner bei Verhand- lungen mit den Gewerkschaften), der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT). Insbesondere letzterer beteiligt sich ausgesprochen aktiv an den Debatten zur EU-Erweiterung. Die Osterweiterung wurde sehr umfassend diskutiert im Rahmen der Deut- schen Industrie- und Handelskammer. Sie wurde von den Reformen der EU selbst abhängig gemacht (vor allem der Reform des Haushalts, der Reform der Struktur- und Agrarpolitik sowie der institutionellen Reform). In der EU-Erweiterung wur- einer gleichen Anzahl von Abgeordneten aus jedem Mitgliedsland (amerikanisches Modell) oder in Abhängigkeit von der Zahl der Wähler im jeweiligen Land (deutsches Modell). Vgl.: J. Fischer, op. cit., S. 27-28. 98 M. Duszczyk, D. Poprzęcki, Rozszerzenie Unii Europejskiej w opinii związków zawodowych oraz organizacji pracowniczych /Die Erweiterung der Europäischen Union in der Ansicht der gewerk­ schaften und arbeitgeberverbände/, Fundacja Instytutu Spraw Publicznych, Warszawa 2000, S. 45. 99 Die einzelnen Nummern der Serie „Monitor EU–Erweiterung“ und „ EU–Monitor“ sind auf der offiziellen Webseite der Deutsche Bank Research zugänglich; Quelle: http://www.dbresearch. de/servlet/reweb2.ReWEB?rwkey=u1562365, (März 2007). 100 �������������������������������������������������������������������������������������������� Der BDA ist die oberste Arbeitgeberorganisation der BRD, die Unternehmen aller Wirtschafts- zweige vereint. Vgl. Webseite des Verbands: http://www.bda-online.de/www/bdaonline.nsf/ID/home. Die Standpunkte der deutschen Sozialpartner 97 den positive Faktoren erkannt, unter anderem die Erweiterung des Gemeinsamen Markts, der Anstieg der Wettbewerbsfähigkeit der EU auf den Weltmärkten. Gewisse Befürchtungen waren mit der Hilfe der Union für die Beitrittskandidaten verbun- den. Die finanzielle Unterstützung der EU für die Neumitglieder sollte nach Ansicht des Deutschen Industrie- und Handelstages 3% des BIP des jeweiligen Mitgliedslands nicht überschreiten. Übergangsfristen sollten für den freien Personenverkehr gelten – von diesem Postulat wurde im Jahr 2000 Abstand genommen.101 Die Mehrzahl der der Arbeitgeberverbände fürchtete sich nicht vor einem Zustrom von Arbeitneh- mern aus den neuen Mitgliedsländern. Wenn sie dennoch mehrjährige Übergangs- verträge anregten, ging es dabei vor allem um die Angleichung der Sozialleistungen und der Sozialversicherungen. Der DIHT präsentierte seinen Standpunkt gegenüber der EU-Osterweiterung in einem Positionspapier von April 2000 unter dem Titel Europa 2000 plus. Posi­ tionspapier zur Regierungskonferenz 2000 und zur Erweiterung der Europäischen Union102, in dem er seinen Befürchtungen bezüglich der Erweiterung Ausdruck ver- lieh und vor einer übereilten Aufnahme neuer Mitglieder warnte. Im Vorwort merkte der DIHT-Vorsitzende Franz Schoser an, dass „Qualität vor Tempo“ gehen müsse, wobei sich diese Parole auf die Osterweiterung sowie die Erweiterungen um Bul- garien, Rumänien und die Türkei bezog. Maciej Duszczyk, einer der Autoren eines Rapports über die Positionen der deutschen Sozialpartner gegenüber der EU-Erwei- terung, sieht in der Auswahl der von Schoser vorgebrachten Argumente einen „er- heblichen Missbrauch“103. Eine nähere Betrachtung des Positionspapiers Europa 2000 plus liefert ei- nen allgemeinen Überblick über die Einstellungen der Arbeitgeber gegenüber der EU-Erweiterung. Das Dokument besteht aus zwei Teilen. Der erste betrifft die wirtschaftliche Situation der Union selbst und berührt das Problem der Erwei- terung und der Vertiefung. Die Erweiterung bedingt eine Vertiefung der Integration, die der Union größere Flexibilität verleihen könnte. Eine Reform der Institutionen scheint notwendig, insbesondere eine Stärkung der Position des Europäischen Parla- ments und eine Neufassung der Grundsätze für die Abstimmungen in den einzelnen Organen der Union. Zudem werden Reformen in der Struktur- und Agrarpolitik an- geregt. Die institutionellen Reformen stellen eine Bedingung sine qua non der Er- weiterung dar.

101 Vgl.: M. Duszczyk, D. Poprzęcki, op. cit., S. 46-52, E. Cziomer, Stanowisko Niemiec wo­ bec członkostwa Polski w Unii Europejskiej /Die Einstellung Deutschlands zur polnischen Mitglied­ schaft in der Europäischen Union/, Departament Strategii i Planowania Polityki Ministerstwo Spraw Zagranicznych, Warszawa 2001, S. 11-12. 102 Europa 2000 plus. Positionspapier zur Regierungskonferenz 2000 und zur Erweiterung der Europäischen Union, DIHT, Berlin April 2000. Das Dokument ist zugänglich auf der Websei- te der Industrie- und Handelskammer zu Coburg, Quelle: http://www.coburg.ihk.de/downloads/ Europa_2000plus.pdf, (September 2006). 103 M. Duszczyk, D. Poprzęcki, op. cit., S. 48. 98 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union In der Stellungnahme des DIHT wurden die Fragen der Vorbereitung zum EU- Beitritt der so genannten Luxemburger Gruppe (dabei wurde die Bezeichnung „Staa- ten der 1. Welle“ benutzt), welche die Beitrittsverhandlungen mit der UE im März 1998 aufgenommen hatten (Estland, Slowenien, Tschechien, Polen, Ungarn, Zypern) und der Helsinki-Gruppe (2. Welle), welche die Beitrittsverhandlungen im Februar 2000 aufnahmen (Bulgarien, Litauen, Lettland, Malta, Rumänien, Slowenien) darge- stellt. Außerdem wurde die Frage des türkischen Beitritts kurz angerissen.104 Am höchsten bewerteten die Autoren des Positionspapiers des Deutschen In- dustrie- und Handelstags die Erfüllung der ökonomischen Kriterien für den Beitritt von Malta und Zypern sowie Ungarn und Polen. Stark kritisiert wurden die man- gelnden Fortschritte in Tschechien und Polen im Bereich der Anpassung des Landes- rechts an die Gesetzgebung der Europäischen Gemeinschaften. Den Staaten der Lu- xemburg-Gruppe wurde zugestanden, dass sie die Kopenhagen-Kriterien erfüllen, die einen Beitritt zur EU ermöglichen. Deutliche Vorbehalte äußerten die Autoren gegenüber Rumänien und der Türkei, insbesondere zur Erfüllung der politischen Kriterien in diesen Ländern. Der zweite Teil des Positionspapiers der Industrie- und Handelskammer war zur Gänze der Analyse der deutschen Wirtschaft im Kontext der Erweiterung und der Situation in den Anwärterstaaten der Osterweiterung sowie den Balkanlän- dern mit besonderer Berücksichtigung von Bulgarien und Rumänien gewidmet. Zu bemerken ist zudem, dass die DIHT sich aktiv für Hilfsprogramme für die neuen Mitgliederstaaten eingesetzt hat, so zum Beispiel PHARE (Poland- Hungary Assistance for Restructuring of their Economies) oder TAIEX (Technical Assistance and Information Exchange Office).105 Bezüglich der Perspektiven der EU-Erweiterung um Bulgarien und Rumäni- en äußert sich die DIHT ausgesprochen positiv.106 Das Hauptargument für eine Auf- nahme dieser Staaten in die EU sind die wirtschaftlichen Indikatoren, die in diesem Land näherungsweise an die Standards in den EU-Staaten herankommen. Besonders positiv bewertet die DIHT die Beitrittsbemühungen von Kroati- en. Im Vergleich zu Bulgarien und Rumänien ist das Prokopfeinkommen in Kroa- tien beinahe zweimal höher und verzeichnet bessere Werte als in einigen Ländern der Osterweiterung (Polen, Litauen, Lettland).107

104 Die Bezeichnungen Luxemburger Gruppe und Helsinki-Gruppe werden im Bezug auf die Staaten gebraucht, die zu Beitrittsverhandlungen vom Europäischen Rat geladen wurden, der in Luxemburg (Dezember1997) bzw. Helsinki (Dezember 1999) tagte. In dem Dokument werden die Staaten „der ersten und zweiten Welle“ unterschieden. 105 Umfassender zum Thema TAIEX vgl.: http://taiex.cec.eu.int/. 106 Vgl. eingehender: R. Perau, Bulgarien: Es geht voran; Schünke Peter, Rumänien – vom Ar­ menhaus zum neuen Stern am Investorenhimmel; Quelle: http://www.dihk.de/index.html?/inhalt/ in- formationen/news/schwerpunkte/euerweiterung/meldung1/magazin09.html, (Juni 2006). 107 Vgl.: P. Schünke, Kroatien – vorübergehend aufgehalten; Quelle: http://www.dihk.de/index. html?/inhalt/informationen/news/schwerpunkte/euerweiterung/meldung1/magazin07.html, (Juni 2006). Die Standpunkte der deutschen Sozialpartner 99 Genau so wohlwollend werden die Bemühungen der Türkei um die EU-Mitglied- schaft bewertet. Der DIHT wertet besonders hoch das dynamische Wirtschaftswachs- tum der Türkei seit 2001. Sie verweist auch auf die großen Dimensionen des türkischen Markts, was viele deutsche Unternehmer zu Investitionen in diesem Land anregt.108 Am 1. Mai 2004 bezeichnete der Vorsitzende des DIHT Ludwig Georg Braun in seiner Erklärung Startschuss für ein neues, junges, dynamisches Europa aus An- lass des Beitritts von 10 Staaten Mitteleuropas und des Mittelmeerraums die Oster- weiterung als Meilenstein in der Geschichte des Kontinents, wobei er hervorhob, das Deutschland wie kein anderes Land von der Erweiterung profitiert, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich.109

6.2. Gewerkschaften

Die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik sind hauptsächlich in den vier größ- ten Verbänden organisiert: dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der die meis- ten Mitglieder besitzt, der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), dem Deut- schen Beamtenbund (DBB) und dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB).110 Der deutsche Gewerkschaftsbund vereinigt acht Branchengewerkschaften: die IG Bauer-Agrar-Umwelt, die IG Bergbau, Chemie, Energie, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die IG Metall, die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, die Gewerkschaft der Polizei, die TRANSNET, die Vereinte Dienst- leistungsgewerkschaft (ver.di). In der ersten Hälfte der neunziger Jahre überstieg die Mitgliederzahl 9,7 Mio., ging dann aber nach und nach zurück und belief sich im Jahr 1998 nur noch auf 8,3 Mio. und weiter auf 6,7 Mio. Mitglieder im Jahr 2005.111 Der DGB steht der SPD nah. Häufig sind die Mitglieder einer Organisation auch bei der anderen eingeschrieben (Doppelmitgliedschaft).112 Der DGB tritt sehr engagiert für die Europapolitik der Bundesrepublik ein. Besonders intensiv wurde die Problematik der Osterweiterung diskutiert, was seinen Niederschlag in zahlreichen Informationsbulletins über die Staaten Mittel- und Ost- europas und die Einstellungen des DGB zu den einzelnen Freiheiten der EU, wie dem freien Dienstleistungsverkehr oder der Pendelmigration im Kontext der geplan-

108 Vgl.: R. Perau, Türkei – ein „Tiger“ auf dem Weg in die EU, Quelle: http://www.dihk. de/index.html?/inhalt/informationen/news/schwerpunkte/euerweiterung/meldung1/magazin06.html, (Juni 2006). 109 Vgl. Text der Rede auf der offiziellen Webseite des DIHT, Quelle: http://www.dihk.de/ index.html?/inhalt/informationen/news/meinungen/index.html, (Junic 2006). 110 Vgl.: B. Jagusiak, Związki Zawodowe /Gewerkschaften/, [in:] S. Sulowski, K.A. Wojtas- zczyk (Hrsg.), System polityczny Republiki Federalnej Niemiec (wybrane problemy) /Das politische system der Bundesrepublik Deutschland (ausgewählte Probleme), Elipsa, Warszawa 2005, S. 244-253. 111 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl.: die detaillierten Daten zu den Mitgliedern des DGB und die Statistiken von 1994 bis heu- te, zugänglich auf der Webseite des DGB, http://www.dgb.de/dgb/mitgliederzahlen/mitglieder.htm. 112 Vgl.: B. Jagusiak, op. cit., S. 249. 100 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union ten Erweiterung niederschlug. Zu diesen Unterlagen sind zu zählen: Mitteilungen zur Migrationspolitik. EU-Erweiterung: Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleitungs­ freiheit, Grenzgängerbeschäftigung vom 25 Mai 1999, Stellungnahme des DGB zur Mitteilung der EU-Kommission – Sozialpolitisches Aktionsprogramm 1998-2000 vom September 1998, ein Dokument zum Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grü- nen vom 9. November 1998, eine Broschüre Europäische Betriebsräte und EU-Er­ weiterung. Auswirkungen und Rechtslage von Flávio Antonello Benites vom Dezem- ber 2003, eine Arbeit zur Osterweiterung herausgegeben von Susanne Brenner unter dem Titel: Mai 2004: die EU wird größer.113 Dem DGB zufolge wird die EU-Erweiterung erst dann möglich sein, wenn eine Reform ihrer Institutionen durchgeführt wird. Aufgrund seines Tätigkeitsprofils hat sich der DGB bei seinen Erwägungen auf Fragen des Arbeitsmarkts konzentriert. Dabei postulierte er die Einführung von Übergangsregelungen (anstatt Übergangszeiten) für die Anwärterländer. Diese Lösung ist flexibler als die zuvor angeregten langjährigen Übergangszeiten für den Arbeitnehmerverkehr. Diese Regelungen sollten auf die rea- le Situation auf den Arbeitsmärkten der EU-Staaten angewandt werden und den Staat zur Aufnahme bilateraler Beziehungen in den Fragen der Beschäftigungspolitik be- wegen (zum Beispiel: Beschäftigungskontingente, breite regionale Zusammenar- beit, insbesondere grenzübergreifende Beschäftigungspolitik). Außerdem wurde pos- tuliert: eine Stärkung des Systems der sozialen Sicherheit, insbesondere im Bezug auf die Gleichberechtigung von in- und ausländischen Arbeitnehmern. Das vorgeschla- gene Diskriminierungsverbot ergab sich aus der Anerkennung des Rechts auf Freizü- gigkeit als eines fundamentalen Menschenrechts. Als wichtigstes Hindernis im Be- reich des Schutzes in- und ausländischer Arbeitnehmer wertet der DGB den Mangel an sachgerechten Informationen über die den Arbeitnehmern zustehenden Rechte sowie eine missgünstige Haltung der Unternehmer (niedrige Löhne). In diesem Bereich wurde vor allem die Schaffung eines leistungsfähigen Informationssystems, das die außerhalb ihres Herkunftslands beschäftigten Arbeitnehmer informieren solle, eine Umstrukturie- rung der Arbeitsämter im Kontext des freien Personenverkehrs und ein Verbot von So- zialdumping postuliert.114 Man sprach sich auch für einen gesellschaftlichen Dialog zwischen den Mitglieds- und den Beitrittsländern unter aktiver Beteiligung der Sozial- partner aus. Als prioritäre Aufgabe stellte sich der DGB die Aufrechterhaltung und Wei- terentwicklung der engen Kontakte mit den Gewerkschaften der Beitrittsländer. Für dieses Ziel wandte er in seinem Haushalt für 2006 einen Betrag von 6 Mio. EUR auf. In Fragen der EU-Erweiterung war vor allem einer der Branchenverbän- de des DGB besonders aktiv – die IG Metall. In der Osterweiterung erblickte sie

113 Dokumente zugänglich auf der offziellen Webseite des DGB: http://www.dgb.de/service/ publikationen/. Vgl. auch: M. Duszczyk, D. Poprzęcki, op. cit., S. 58-63. 114 ����������������������������������������������������������������������������������������� Vgl.: M. Duszczyk, D. Poprzęcki, op. cit., S. 58. Sozialdumping tritt auf, wenn ein Mit- gliedsland Investitionen anzieht, die Arbeitsplätze durch niedrigere Lohnkosten oder ein restriktiveres Arbeitsrecht anzieht. Die Standpunkte der deutschen Sozialpartner 101 eine historische und ökonomische Notwendigkeit. Besonders wurde die Bedeu- tung der wirtschaftlichen und sozialen Integration hervorgehoben. Im Bewusstsein der Disproportionen zwischen den Beitrittsländern und den Mitgliedsländern pos- tulierte die EU eine asymmetrische Öffnung der EU zu Gunsten der Beitrittsländer, die für eine Übergangsperiode zu Hauptnutznießern der EU-Haushaltsmittel würden. Die IG Metall vertrat die Auffassung, dass der Beitritt neuer Staaten zur EU durch die Erfüllung der folgenden Kriterien bedingt sein sollte: Garantie der vollständigen Bürgerrechte, Vereinigungsfreiheit (insbesondere im Bezug auf Gewerkschaften), eine aktive Rolle der Gewerkschaften bei den Modernisierungsprozessen der Bei- trittsländer, insbesondere bei der Gestaltung der sozialen Marktwirtschaft, ein ausrei- chendes Sozialminimum, eine leistungsfähige Justiz im Bereich des Arbeitsrechts.115 Der Dialog zwischen den Gewerkschaften und Vertretern des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in der Grenzregion zwischen Tschechien, Polen und der Bun- desrepublik führte im Herbst 2003 zu einem Projekt unter dem Titel Grenzlandpro- jekt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der Ostsee bis den Alpen (GRIPS- Initiative), das von der Europäischen Kommission unterstützt wurde. Die Ziele des GRIPS-Projekts waren: • Die Vorbereitung der Arbeitnehmer in den polnisch-deutschen und tsche- chisch-deutschen Grenzregionen auf die aktive Mitwirkung bei der EU-Er- weiterung und die Verringerung von diesbezüglichen Sorgen und Befürch- tungen; • Die Inanspruchnahme der sich aus der Integration ergeben Möglichkeiten durch Schaffung stabiler und effizienter Organisationsstrukturen; • Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Grenzregionen und der einzelnen Sektoren, wie auch die Gestaltung der grenzüberschrei- tenden sozialen Gemeinschaft. Die Konzeption des Projekts der „Zwei-Säulen-Strategie“ ging auf überre- gionaler Ebene von der Erarbeitung gemeinsamer Strategien für die gesellschaft- liche und wirtschaftliche Entwicklung der Grenzregion aus, auf regionaler Ebene hingegen von der Organisation von Aktionen zu konkreten Problemen mit dem Ziel, den Arbeitnehmern in den Betrieben und den kommunalen Selbstverwaltungen die Möglichkeit der Beteiligung am grenzüberschreitenden Dialog und der Erarbei- tung entsprechender Problemlösungen zu bieten.116 Das Projekt wurde in den Jahren 2003-2005 umgesetzt. Gleichzeitig wurde die Realisierung anderer Projekte und Ini- tiativen angegangen, die sich unter anderem auf den Informationstransfer ausrichteten

115 � Vgl.:. Ebd., S. 63–64; Vgl. auch die offizielle Webseite der IG-Metall http://www.igme- tall.de/cps/rde/xchg/internet; Gewerkschaften und industrielle Beziehungen in Mittel- und Osteuropa: Dokumentation; eine Tagung der Otto Brenner Stiftung vom 14. bis 17. März 1999 in Berlin, Arbeits- heft 13, Otto-Brenner-Stiftung, Berlin 2000. 116 Vgl. eingehender: Konzeption Zwei-Säulen-Strategie, Quelle: http://www.grips-initiative. de, (September 2009). Schlussfolgerungen 102 (INTERAKT – Interregionaler Arbeitsorientierter Kompetenztransfer, 2003–2004), das Problem der Jugendlichen, die erst auf den Arbeitsmarkt gehen (Arbeitsplätze für junge Menschen in der Sozialwirtschaft, 2002–2005), die Zusammenarbeit zwi- schen den Gewerkschaften, darunter die Einrichtung interregionaler Gewerkschafts- räte. Ein solcher Rat ist zum Beispiel der Überregionale Gewerkschaftsrat Elbe-Nei- ße, der am 17. April 1993 im polnischen Szklarska Poręba ins Leben gerufen wurde. Dieser Rat stellt eine gemeinsame, grenzübergreifende Initiative der Gewerkschaf- ten NSZZ Solidarność Region Jelenia Góra (Polen), der Tschechisch-Mährischen Gewrkschaftskonföderation ČMKOS Nordböhmen (Tschechien) und des Landes- verbands Sachsen des DGB (Deutschland) dar.117 Außerdem besteht seit Juli 1999 ein Netz von Gewerkschaftsorganisationen im Ostseeraum (Baltic Sea Trade Union Network – BASTUN). Die BASTUN vereinigt die obersten Gewerkschaftsorgani- sationen der Ostseeanrainerstaaten (Dänemark, Estland, Finnland, Litauen, Lettland, Deutschland, Norwegen, Polen, Russland und Schweden). Die Hauptaufgabe ist die Unterstützung von Gewerkschaftsorganisationen beim Prozess des EU-Beitritts, die Hilfe für Gewerkschaften aus den sich transformierenden Staaten durch Bera- tung, technische und finanzielle Mittel, die Vermarktung des Ostseeraums, der sozi- ale Dialog und die Zusammenarbeit für die Entwicklung dieser Region.118

7. Schlussfolgerungen

Die europapolitischen Konzeptionen politischen Hauptkräfte der Bundes- republik betreffen die Frage der der EU-Erweiterung einschließlich der Integrati- onsproblematik. Sie zeigen, dass die EU sich in Richtung einer politischen Union entwickeln müsse, deren Form an föderale Lösungen (nach dem Vorbild der Bundes- republik) mit deutlicher Betonung des Subsidiaritätsprinzips angelehnt sein sollte. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet in den deutschen Konzeptionen der Europapolitik das Einverständnis für Europa als eines Bundes der Völker, eines Einverständnis- ses, das von den Bürgern ausgehen muss. In den Überlegungen zur Europapolitik der Bundestagsfraktion der CDU/CSU von 1994 wurde eine Diskussion in Europa über die endgültigen Lösungen in der EU und den Bedarf nach inneren Reformen innerhalb der EU während der weiteren Erweiterungen angeregt. Diese Debatte wur-

117 Zu den Aufgaben des Interregionalen Gewerkschaftsrats am Beispiel des IGR Elbe-Neiße zählen: Engagement für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, welche die Interessen der Ar- beitnehmer in den Euroregionen repräsentiert; die Erarbeitung grenzüberschreitender Lösungen für regionale Probleme, die Erarbeitung gemeinsamer Standpunkte der teilnehmenden Gewerkschaften in wichtigen Fragen der Reion: Arbeitslosigkeit, Strukturveränderungen, grenzüberschreitende Ar- beitsverhältnisse, Lohnunterschiede, Umweltschutz, Vertretung der Region auf überregionaler und in- ternationaler Ebene, Veranstaltung von Begenungen und Austauschen von Mitgliedern des IGR, För- derung der interregionalen Jugendbegenung und gemeinsamer Aktivitäten junger Gewerkschaftler. Vgl. eingehender: Quelle: http://www.mrz-laba-nysa.org/index.htm, (Mai 2007). 118 Vgl. eingehender: offizielle Webseite BASTUN, http://www.bastun.nu. Schlussfolgerungen 103 de auch in den Reihen der SPD und der Grünen fortgesetzt. Zu den Grundannahmen und -problemen der deutschen Konzeptionen der Europapolitik im Kontext der EU- Erweiterung zählen: • Der Einsatz für eine parallele Vertiefung und Erweiterung der EU, • Die institutionelle Stärkung der EU, Klarheit der Kompetenzen, Umset- zung des Subsidiaritätsprinzips; • Erarbeitung eines Verfassungsvertrags für die EU, • Die Suche nach Antworten über das Endziel der Integration im Rahmen der EU und – was damit zusammenhängt – die Rolle der Nationalstaaten in der Union und den Inhalt ihrer Souveränität. Die Grundlagen der einzelnen politischen Parteien in den Regierungskoalitio- nen der Jahre 1990-2008 waren offen gegenüber der Erweiterung um die Staaten Mit- teleuropas und der Balkanstaaten. Eine kontroverse Frage war der mögliche Beitritt der Türkei zur EU. Auf der Grundlage einzelner Publikationen, Programme und Par- teidokumente lässt sich die unten stehende synoptische Zusammenstellung der wich- tigsten politischen Parteien gegenüber der EU-Osterweiterung präparieren:119 Viele Anmerkungen zur Frage der EU-Erweiterung machten die Arbeitge- berverbände und Gewerkschaften, wobei sie vor allem die Chancen und Risiken in Verbindung mit einer Erweiterung des Unionsmarkts um die Länder Mitteleu- ropas und des Balkans sowie des freien Personenverkehrs hervorhoben. Prognosen für die Konsequenzen der Erweiterung für den deutschen Arbeitsmarkt gaben auch deutsche Forschungsinstitute wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, die Konrad-Adenauer- und die Friedrich-Ebert-Stiftung.120

119 Vgl.: CDU: P. Hintze (Hrsg.), Die CDU – Parteiprogramme. Eine Dokumentation der Ziele und Aufgaben, Bouvier, Bonn 1995; Europa muss man richtig machen. Beschluss des 12. Parteitages in Erfurt 25 bis 27 April 1999, Quelle: http://www.cdu.de; CSU: 20 Leitsätze zur Europapolitik, beschlos­ sen vom Landesvorstand am 12. April 1999; Chancen für alle..., Quelle: www.csu.de, (Mai 2004); SPD: Leitantrag: Verantwortung für Europa. SPD-Bundesparteitag, Nürnberg, 19.-23. November 2001, Ham­ burger Programm..., Quelle: http://www.spd.de, (Mai 2006); Grüne/Bündnis’90: Die Zukunft ist grün. Grundsatzprogramm von Bündnis’90/Die Grünen, Berlin: Bündnis’90/Die Grünen, 2002; Koalitions- vertrag SPD/Grünei/Bündnis’90 Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert… FDP: Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft, beschlossen auf dem Bundesparteitag der F.D.P am 24. Mai 1997 in Wiesbaden; Leitsätze der FDP zur Europapolitik, Bürgerprogramm 2002. Das Programm der FDP zur Bundestagswahl 2002, beschlossen auf dem 53 Ord. Bundesparteitag vom 10. bis 12. Mai 2002 in Mannheim, Quelle: http://www.fdp.de, (November 2004). Vgl.: R. Sturm, H. Peh- le, Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, Leske+Budrich, Opladen 2001, S. 145. 120 Vgl.: The Impact of Eastern Enlargement on Employment and Labour Markets in the EU Member States, Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin/Milano 2000; Otto Schmuck, Die Er­ weiterung der Europäischen Union: Probleme und Perspektiven, Friedrich Ebert Stiftung, Bonn 1994; Die Osterweiterung der Europäischen Union–Konsequenzen für Wohlstand und Beschäftigung in Euro­ pa: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2000; Die Erweiterung der Europäischen Union. Historische Chance mit Hindernissen, „Arbeitspapier“, Nr. 30, Konrad Adenauer Stiftung, Sankt Augustin Juli 2001; Quelle: http://www.kas.de/db_files/dokumente/arbeitspapiere/7_dokument_dok_pdf_39_1.pdf, (März 2007). 104 Die deutschen Konzepte für die Erweiterung der Europäischen Union Grüne/Bündnis’90 Vollständige Unterstützung Vollständige der EU-Erweiterung (um die Länder Mittel- und Südeuropas sowie wenn Tür-kei), der Anwärterstaaten die die Kriterien erfüllen. Erweiterung und vertiefte Zusammenarbeit in der EU sind Garanten für die Stabilität Deutschlands. Eine möglichst schnelle Angleichung der rechte Zugang neuen Mitglieder, zu den EU-Märkten. sollten Übergangsperioden nur bis zur Erfüllung der Mitgliedschaftsbeding ungen gelten. FDP

Ja zur Erweiterung, wenn Ja zur Erweiterung, wenn die Anwärterländer die Kriterien erfüllen. Eine weitere Erweiterung darf nicht die Idee der in Frage Vertiefung stellen. Beide Prozesse müssen parallel verlaufen. Die Übergangsfristen müssen mit einem klaren, einheitlich festgelegten Aufgabenspektrum verbunden sein (z. B. bezüglich des freien Personenverkehrs oder der Agrarpolitik). SPD Historischer gewinn für die die für Historischer gewinn wie auch Anwärterstaaten für die alten EU-Mitglieder. Pro: Erweiterung Argument Vorbehalte: des EU-Markts. in der Übergangsperioden Landwirtschaft und dem freien Personenverkehr. Akzent auf der Erfüllung der KopenhagenKriterien. Klare Mitgliedschaftsperspektive Türkei Südeuropa und die (Akzent: Gewährleistung von Frieden und Sicherheit). Tabelle 4. Positionen der Regierungsparteien Tabelle in der Bundesrepublik gegenüber EU-Osterweiterung CSU Unterstützung der Staaten, die an der 2. EU- Erweiterung teilnehmen, insbesondere für die Staaten der Luxemburger gruppe. Unterstützung auch für die Be-mühungen Bulgariens und Rumäniens. Beitrittsperspektive für Kroatien und eine Annäherung für alle übrigen Staaten des Betonung Westbalkans. der Erfüllung KopenhagenKriterien. Einsatz für für den Übergangsperioden freien Personenverkehr sowie in der Landwirts chaft. Ablehnung Entschiedene der türkischen Mitgliedschaft in der EU. CDU Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Grundlage ausgewählter Parteiprogramme Osterweiterung als Bewährungsprobe für die Glaubwürdigkeit Europas in den Kategorien der Verpflichtung. moralischen Einführung von Übergangsregelungen bezüglich des freien Personenverkehrs und der Agrarpolitik. Auszeichnung Besondere der Staaten Luxemburger Gruppe. „Privilegierte Partnerschaft“ für Türkei und bei die trittsperspektive für Kroatien. Erweiterung verknüpft mit einer der Integration. Vertiefung Die Standpunkte der deutschen Sozialpartner 105 Ein zweifelsohne gemeinsames Merkmal der deutschen Konzeptionen der der wichtigsten politischen Kräfte und Körperschaften der Wirtschaft, der Wis- senschaft und der Sozialverbände war die Verbindung der Frage der EU-Erweiterung mit der Vertiefung der europäischen Integration. Zusammen mit dem Beitritt Ru- mäniens und Bulgariens am 1. Januar 2007 wurde die Vertiefung der europäischen Integration zur Priorität.

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KAPITEL III

Die Erweiterung der europäischen Union um Die Staaten der EFTA

1. Etappe der Initiierung

1.1. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den EFTA-Staaten und den Europäischen Gemeinschaften

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unternahmen die skandinavischen Staaten den Versuch einer regionalen Konsolidierung unabhängig von der Europäischen Uni- on. Im Februar 1948 wurde das Nordische Komitee für wirtschaftliche Zusammenar- beit ins Leben gerufen, zu dem Dänemark, Norwegen, Schweden und Island gehörten, ab 1956 auch Finnland. Die Hauptziele waren Zollsenkungen, die Festlegung eines ge- meinsamen Außentarifs und die Entwicklung des gegenseitigen Handelsaustauschs. Ein weiterer Integrationsversuch der nordeuropäischen Staaten war der Nor- dische Rat. Diese Initiative wurde von Dänemark, Island, Norwegen und Schweden im März 1952 in Kopenhagen realisiert. Die erste Sitzung des Nordischen Rats fand vom 13.-21. Februar 1953 in Kopenhagen statt. Finnland trat aufgrund seiner beson- deren Beziehungen zur Sowjetunion erst am 27. Januar 1956 bei. Zum Nordischen Rat gehören heute Dänemark mit Grönland und den Färöern, Finnland mit Åland, Schweden, Norwegen und Island. Der Rat hat vor allem Beratungsfunktionen. Er er- teilt Empfehlungen an die einzelnen Regierungen, unter anderem in solchen Be- reichen wie Kultur, Soziales, Transport und Verkehr.1 Die Konvention von Helsin- ki vom 23. März 1962 erweitere seine Kompetenzen im Bereich der juristischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Zusammenarbeit, darüber hinaus wurde auf die Möglichkeit von Konsultationen in außenpolitischen Fragen verwiesen.2 Die Konvention wurde zu einer Zeit erarbeitet, als Dänemark 1 Vgl.: Matera, Integracja ekonomiczna krajów nordyckich /Die wirtschaftliche Integration der nordischen Staaten/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2001, S. 57-69. 2 Der Text mit den Änderungen vom 13. Februar 1971, 11. März 1974, 15. Juni 1983, 6. Mai 1985, 21. August 1991, 29. September 1995 ist zugänglich auf der Webseite des Nordi- schen Ministerrats. Treaty of Cooperation between Denmark, Finland, Iceland, Norway and Sweden 108 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und Norwegen sich um die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaft be- warben und Schweden um Assoziierung. So ist sie auch als Manifestation der Ein- heit und Geschlossenheit Nordeuropas gegenüber Westeuropa zu verstehen.3 Am 9. November 1958 wurde auf der 6. Sitzung des Nordischen Rats in Oslo der Rapport des Nordischen Komitees für wirtschaftliche Zusammenarbeit bespro- chen, der einen Entwurf für eine Skandinavische Union enthielt. Er sah die Schaf- fung eines gemeinsamen Markts vor, die Aufhebung der Binnenzölle, die Festlegung gemeinsamer Außenzolltarife und enthielt den Vorschlag zur Gründung einer Nor- dischen Investmentbank.4 Dieser Entwurf wurde jedoch von Dänemark, Norwegen und Schweden auf unbestimmte Zeit ad acta gelegt. Die Versuche der Kreierung einer engeren Kooperation der nordeuropäischen Staaten nach dem Vorbild der Inte- grationsprozesse in Westeuropa stießen auf tiefes Misstrauen der nordeuropäischen Staaten, die sich dafür für die Suche nach Lösungen für die Schaffung einer Frei- handelszone mit Österreich und Großbritannien und eine Annäherung an die Eu- ropäischen Gemeinschaften einsetzten. Das Nordische Komitee für wirtschaftliche Zusammenarbeit war sich der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den langwie- rigen Verhandlungen der einzelnen Staaten bewusst und bereitete 1958 eine Paketlö- sung vor, die Perspektiven für die Schaffung eines gemeinsamen Markts für Agrar- erzeugnisse, einer Zollunion und der Harmonisierung der Standpunkte in den Fragen der Handelspolitik enthielt. Der Entwurf stieß auf eine negative Reaktion Däne- marks und Norwegens und wurde im Februar 1966 auf einer Sitzung des Nordischen Rats verworfen.5 Auf seiner Sitzung in Reykjavik im Jahr 1965 legte der Nordische Rat den skandinavischen Staaten gemeinsame Bemühungen um eine Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften nahe. Großbritannien schlug eine andere Alternative (ohne institutionellen Über- bau) für die neu entstandene EWG vor. Gegen Ende der fünfziger Jahre wurden die Arbeiten an einem Entwurf zur Schaffung einer Freihandelszone beschleunigt, welche die Staaten der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenar- beit (OEEC) umfasste.6 Am 20. November 1959 wurde in Stockholm der Entwurf der Konvention zur Bildung einer Europäischen Freihandelsassoziation (Euro­ (the Helsinki Treaty), Quelle: http://www.norden.org/ avtal/helsingfors/uk/helsinki_agreement.pdf, (März 2008). 3 R. Matera, op. cit., S. 61. 4 Ebd., S. 73-74. 5 Ebd., S. 78. 6 �������������������������������������������������������������������������������������� Die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organization for Eu- ropean Economic Co-operation – OEEC) wurde am 16. April 1948 gegründet. Ihr Ziel war die Ko- ordination der Umsetzung des Marshall-Plans und die Stabilisierung der Währungskurse. Sie wurde von den 16 Staaten ins Leben gerufen, die an dem Programm teilnahmen: Belgien, Dänemark, Frank- reich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Türkei. 1960 wurde die OEEC in die Organisation für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Co-operation and Deve- lopment – OECD) umgewandelt. Etappe der Initiierung 109 pean Free Trade Association – EFTA) vorgelegt.7 Die neue Gruppierung entstand am 3. Mai 1960 kraft der Konvention von Stockholm vom 4. Januar 1960. Die Grün- dungsmitglieder der EFTA waren Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz. Finnland entschied sich weder zu einer Voll- mitgliedschaft in der EFTA noch in der EG. Am 27. März 1961 wurde Finnland zu einem assoziierten Mitglied der EFTA kraft einer separaten Assoziation, der FIN- NEFTA. Die Vollmitgliedschaft erlangte Finnland jedoch erst am 1. Januar 1986. Island trat der EFTA am 1. März 1970 bei. Als Ziel der EFTA galt die Aufhebung der Zölle für Industrieartikel innerhalb der Mitgliedsländer, was Anfang 1967 geschah. Man konzentrierte sich auf die In- tegration im Handelsbereich bei Aufrechterhaltung der Freiheit der Mitgliedsländer bei der Gestaltung ihrer Wirtschaftspolitik und Vermeidung überstaatlicher Lösungen. Eine weitere Integrationsinitiative war der Vorschlag eines Vertrags über die Einrichtung einer Nordischen Wirtschaftszone (NORDEK), die am 4. Febru- ar 1970 vorgelegt wurde. Aufgrund der ablehnenden Haltung Finnlands, die durch eine kritische Reaktion der Sowjetunion bedingt war, scheiterte dieses Projekt. Man beschloss sich weiterhin auf die bisherigen Lösungen (EFTA) und auf Gespräche zwischen den skandinavischen Ländern und der EWG zu konzentrieren. Die Attrak- tivität der Europäischen Gemeinschaften verursachte den Beitritt Großbritanniens und Dänemarks am 1. Januar 1973 sowie die zweimalige Stellung eines Aufnah- meantrags durch Norwegen am 30. April 1962 und am 24. Juli 1967. Aus Furcht vor den negativen Folgen der Schaffung eines freien europäischen Markts begannen auch die übrigen EFTA-Staaten sich für eine Annäherung an die Europäischen Ge- meinschaften zu interessieren. Am 15. Dezember 1961 stellten Österreich, die Schweiz und Schweden (die drei neutralen Mitgliedsstaaten der EFTA Anträge auf Assoziierung mit der EWG kraft Art. 238 des Vertrags von Rom, ein halbes Jahr zuvor hatten Großbritannien, Irland und Norwegen ihre Mitgliedschaft beantragt. Die Verhandlungsgespräche wurden mit den EFTA-Staaten nicht als Gruppe geführt, sondern mit jedem Land gesondert. Die EFTA-Staaten machten ihre endgültige Entscheidung von einem po- sitiven Abschluss der Verhandlungen der EWG mit allen Ländern der EFTA, die sich um Beitritt oder Assoziierung bemühten, abhängig. Am 28. Januar 1963 wurden die Verhandlungen mit Großbritannien von Frank- reich blockiert. Das bewirkte einen Einbruch bei den Verhandlungen mit den übrigen interessierten EFTA-Staaten. Nichtsdestoweniger trat Österreich einen Monat später nicht von den bilateralen Assoziierungsgesprächen zurück (österreichischer Allein- gang). Die Gespräche mit diesem Land wurden im März 1965 aufgenommen. Die erste Verhandlungsrunde dauerte bis Februar 1966, die zweite von Dezember 1966 bis Fe- bruar 1967. Italien blockierte erfolgreich die Assoziierung Österreichs mit der EWG.

7 Convention Establishing the European Free Trade Association, Quelle: http://www.ena. lu/, (März 2008). 110 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland Der österreichisch-italienische Konflikt um Südtirol wurde erst 1969 durch die Aus- handlung des so genannten Tirolpakets behoben.8 Dennoch musste Österreich aufgrund des Widerstands der UdSSR letztlich auf die Assoziierung verzichten.9 Der Bundesrepublik Deutschland war an einer Aufnahme Österreichs in die westlichen Integrationsstrukturen gelegen. Bundespräsident Heinrich Lübke erklärte schon im Frühjahr 1962, dass Wien auf freundschaftliche Unterstützung bei seinen Integrationsbemühungen zählen könne. Westdeutschland respektierte da- bei die „ewige Neutralität Österreichs“, bemühte sich aber gleichzeitig um eine wirt- schaftliche Anbindung. Die österreichischen Bemühungen um Assoziierung mit der EG, wurden, ähnlich wie die der übrigen EFTA-Staaten, auch vom zweiten christdemokratischen Bundeskanzler Ludwig Erhard (1963-1966) und seinem Nach- folger Kurt Georg Kiesinger (1966-1969) wohlwollend betrachtet.10 Auch dem sozialdemokratischen Kanzler Willi Brandt (1969-1974) lag an ei- ner Gestaltung engerer Beziehungen zwischen der EG und den EFTA-Staaten. Er un- terstützte das Interesse eines Teils dieser Staaten an einer Mitgliedschaft in den Euro- päischen Gemeinschaften, da dies seiner Ansicht nach im Interesse Europas lag.11 Vom Beginn der europäischen Integration an entwickelten sich die Wirt- schaftsbeziehungen zwischen Westdeutschland und Österreich positiv. Im Jahr 1961 lag Österreich an dritter Stelle (3,6%) unter den europäischen Staaten als Importeur von unmittelbaren Auslandsinvestitionen in die Bundesrepublik.12 Ende der siebziger Jahre stellte das deutsche Kapital ein Drittel des ausländischen Kapitals in Österreich dar. Besonders eng miteinander verbunden waren solche österreichische und west- deutsche Wirtschaftszweige wie Stromerzeugung, Elektroindustrie, chemische In- dustrie und Automobilbau. Deshalb war Österreich ein gern gesehener Teilnehmer an den Prozessen der wirtschaftlichen Integration. 8Austrian Foreign Ministry, South Tyrol, Quelle: http://www.bmeia.gv.at/en/ foreign-minis- try/foreign-policy/europe/neighbourhood-policy/south-tyrol.html, (August 2008). Vgl.: D. Popławski, Austriacka polityka neutralności 1955-1995 /Die österreichische Neutralitätspolitik/, Wydawnictwo Naukowe Scholar, Warszawa 1995, S. 91-96. 9 D. Popławski, Austriacka polityka neutralności... /Die österreichische Neutralitätspolitik/, S. 170, 174. 10 M. Gehler, Klein – Großeuropäer. Integrationspolitische Konzeptionen und Wege der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs 1947/49–1960 im Vergleich, [in:] M. Gehler, Rai- ner F. Schmidt, H.-H. Brandt, R. Seininger (Hrsg.), Ungleiche Partner, Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung: historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahr­ hundert, Steiner, Stuttgart 1996, S. 581–642. 11 W. Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975, Hoffmann und Campe, Hamburg 1976, S. 321. 12 L. Kasprzyk, Austria wobec zjednoczenia Niemiec, nadzieje i obawy /Österreich ge­ genüber der deutschen Vereinigung. Hoofnungen und Ängste/, [in:] Historia. Polityka. Stosunki Międzynarodowe. Księga Jubileuszowa na 65-lecie Prof. Józefa Kukułki /Geschichte. Politik. Inter­ nationale Beziehungen. Gedenkbuch zum 65. Jubiläum von Prof. Józef Kukułka/, Elipsa, Warszawa 1994, S. 14. Por. D. Popławski, Austriacka polityka neutralności… /Die österreichische Neutralitäst­ politik/, S. 109-110. Etappe der Initiierung 111 Die EFTA erfuhr nach dem Beitritt Dänemarks und Großbritanniens im Jahr 1973 eine Schwächung. Dies führte zur Suche nach neuen Lösungen für die Beziehun- gen dieser Gruppe mit der EG. Zu Beginn der siebziger Jahre nahmen die Mitglieds- länder der EFTA Gespräche über Freihandelsverträge mit der EG auf. Diese Länder, und insbesondere die neutralen Staaten Finnland, Schweden und Österreich, waren nicht auf die vollständige Teilnahme an den Strukturen der EWG vorbereitet, was an den überstaatlichen Eigenschaften der europäischen Gemeinschaften lag. Die Lage änderte sich Ende der sechziger Jahre. Die Verhandlungen mit den EFTA-Ländern, de- nen vor allem an einer Liberalisierung der Handelsbeziehungen gelegen war, wurden wiederaufgenommen. Als Ergebnis entstand schrittweise eine Freihandelszone zwi- schen den Staaten der EFTA und der EG, die auf bilateralen Verträgen beruhte. Schweden begann offiziell die Beitrittsverhandlungen mit der EWG am 10. No- vember 1970. In Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Davignon-Berichts über die Koordination der Außenpolitik der Mitgliedsstaaten der EWG und dem Werner- Plan über die Wirtschafts- und Währungsunion zog sich Schweden am 18. März 1971 von seiner Mitgliedschaftsbewerbung zurück. Der Beschluss der schwedischen Re- gierung wurde in Bonn mit Verständnis aufgenommen, obwohl er den westdeutschen Erwartungen einer Vollmitgliedschaft Schwedens in der EWG zuwiderlief.13 Nichts- destoweniger wurden die Gespräche zwischen Stockholm und Brüssel über die Libera- lisierung der Handelsbeziehungen weiterhin fortgesetzt. Am 22. Juli 1972 unterzeich- neten Schweden (und Island) mit den Gemeinschaften einen Assoziierungsvertrag, der die vollständige Reduktion der Zölle auf Industrieerzeugnisse bis zum 1. Juli 1977 vorsah. Gleichzeitig wurde ein Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl geschlossen, das schwedischen Unternehmen die Beteiligung an der Festlegung von Preisen für Stahl- und Eisenerzeugnissen ermöglichte.14 Ähnliche Verträge schlossen auch andere Staaten der EFTA. Finnland schloss am 5. Oktober 1973 ein Abkommen mit der EWG, in dem sich beide Seiten dazu verpflichteten, alle Zollbarrieren im Handel mit Industriewaren bis zum 1. Januar 1977 zu beseitigen. Die finnische Seite behielt sich das Recht vor, sich in weitem Umfang eine Klausel der Privilegierung gegenüber der Sowjetunion vorzubehalten.15 Gleichzeitig schloss Finnland einen Vertrag mit der EGKS, der ihr das Recht zuge- stand, den Import von Erdöl, Kohle und Düngemitteln einzuschränken, wenn gültige Abkommen mit RWG-Staaten dies bedingen.16 Norwegen schloss am 14. Mai 1973 ein Freihandelsabkommen mit der EWG, während Österreich den freien Handel mit Industriegütern ab 1. Juli 1977 einführte, ausgenommen solche sensiblen Wa-

13 W. Brandt, op. cit., S. 331-332. 14 R. Matera, op. cit., S. 195. 15 Vgl.: P. Andrzejewski, Neutralność w polityce zagranicznej Finlandii i Szwecji /Die neu­ tralität in der Außenpolitik Finnlands und Schwedens/, PWN, Warszawa–Poznań 1988, S. 290-292. 16 Finnland schloss am 16. Mai 1973 ein Abkommen über dies Zusammenarbeit mit dem RGW. 112 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ren wie Stahlerzeugnisse und Pharmaprodukte. Zu einer Liberalisierung im Handel mit diesen Waren kam es erst am 21. Januar 1984. Der Freihandel zwischen Öster- reich und der EWG beinhaltete nicht Agrarprodukte.

2. Die Etappe der Assoziierung

2.1. Die Bildung der Europäischen Wirtschaftszone

Die Konzeption des einheitlichen europäischen Markts im Rahmen der EWG, die sich in der Einheitlichen Europäischen Akte17 niederschlug, mobi- lisierte die EFTA-Staaten zur Suche nach neuen Lösungen für ihre Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften. 1984 initiierten die EFTA-Staaten einen Dia- log mit der EG. Zu diesem Zweck wurde eine spezielle Steuerungsgruppe auf höchs- ter Ebene (High Level Steering Group) einberufen. Schon am 9. April 1984 nahmen die Minister der EFTA-Staaten und der Mitgliederstaaten der EG sowie die Vertreter der Kommissionen der Europäischen Gemeinschaften auf einem Gipfel in Luxem- burg eine Erklärung über das Vorhaben der Schaffung eines einheitlichen gesamt- europäischen Wirtschaftsraums an – des Europäischen Wirtschaftsraums (European Economic Space). Die Erklärung von Luxemburg sah eine Vertiefung und Erweite- rung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Zweck der Schaffung eines dyna- mischen, entwicklungsfähigen Wirtschaftsgebiets vor. Dies sollte vor allem durch die Beseitigung der Handelsbarrieren, die Vereinfachung der Zollabfertigungsproze- duren und die Vereinheitlichung der Regelungen bezüglich der Herkunft der Waren vonstattengehen.18 Im Rahmen des Luxemburger Prozesses auf der Grundlage der am 20. Mai 1987 in Interlaken beschlossenen Konvention über vereinfachte Formalitäten im Warenverkehr wurde auch ein Beförderungsdokument erarbeitet, das Einheitliche Verwaltungsdokument (Single Administrative Dokument – SAD)19, das die bislang

17 Die Einheitliche Europäische Akte, die den Vertrag von Rom modifizierte, wurde am 17. Februar 1986 unterzeichnet und trat am 1. Juli 1987 in Kraft. Quelle: http://eur-lex.europa.eu/ pl/treaties/dat/11986U/word/11986U.doc, (Märzc 2008). Vgl.: J. Barcz, A. Koliński, Jednolity Akt Europejski. Zagadnienia prawne i instytucjonalne /Die Einheitliche Europäische Akte. Juristsiche und institutionelle Aspekte/, PISM, Warszawa 1990; Z. Czachór, System europejskiej współpracy politycznej w integrowaniu Europy /Das System der europäischen politischen Zusammenarbeit bei der europäischen Integration/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 1994, S. 44-45; J.J. Węc, Spór o kształt instytucjonalny Wspólnot Europejskich i Unii Europejskiej 1950-200 /DieAuseinan­ dersetzung um die institutionelle Froem der Europäischen Union/, Księgarnia Akademicka, Kraków 2006, S. 174-182. 18 European Free Trade Association, Joint Declaration of the Ministerial Meeting between the European Community and its Member States and the States of the European Free Trade Associa­ tion, Luxembourg, 9 April. 1984, „EFTA Information“ 3/84/F, Press and Information Departament, Geneva 1984; J. Adamiec, Strategia krajów EFTA wobec Jednolitego Aktu Europejskiego, „Sprawy Międzynarodowe“ 1991, nr 10, S. 73-74. 19 Konvention über vereinfachte Formalitäten im Warenverkehr (SAD-Konvention), Interla­ Die Etappe der Assoziierung 113 zahlreichen Regelungen für den internationalen Warenverkehr für Einfuhr, Ausfuhr und Transit ablöste. Der Gipfel von Interlaken führte zudem zu einer Definierung der Grundsätze für die zukünftigen Beziehungen EFTA–WE. Im Rahmen des Luxemburger Prozesses wurde das Streben nach Vertiefung der inneren Integration der EG als Priorität erkannt. Da die EFTA-Staaten keine Einflussmöglichkeiten auf die Beschlüsse der sich reformierenden Europäischen Gemeinschaften hatten, musste auf Gleichgewicht in den beidseitigen Beziehungen und Nutzen für beide Seiten geachtet werden.20 Der Luxemburger Prozess und die ehrgeizige Aufgabe der Schaffung einer gemeinsamen Freihandelszone EG-EFTA bis 1992, für die sich vor allem Jacques Delors einsetzte, fand große Unterstützung in der Bundesrepublik. Die Bundesregie- rung verpflichtete sich dazu, dieses Ziel „aus allen Kräften“ anzustreben. Mit Enthu- siasmus wurde die Bereitschaft der einzelnen EFTA-Staaten zu einer weiteren Libe- ralisierung des Handels mit der Europäischen Gemeinschaft begrüßt. Insbesondere der Beschluss Österreichs über die Einführung der vier Freiheiten (Kapitalverkehr, Freizügigkeit, Warenverkehr und Dienstleistungsverkehr) bereits 1988 fand die vol- le Befürwortung der deutschen Seite.21 Am 17. Januar 1989 schlug der Kommissionsvorsitzende Jacques Delors dem Europäischen Parlament und den EFTA-Staaten eine institutionell und struktu- rell konsolidierte Form der Assoziierung vor: die „strukturelle Partnerschaft“.22 Ne- ben den bisherigen festen Formen der Partnerschaft (Prozess von Luxemburg) soll- ten seiner Ansicht nach gemeinsame Beschluss- und Verwaltungsorgane geschaffen werden. In der Praxis bedeutete das die Einrichtung einer Freihandelszone – des Eu- ropäischen Wirtschaftsraums (EWR). Dieser Vorschlag ging von der Unterschei- dung unterschiedlicher Integrationsebenen in Europa aus. Den Kern des Systems sollten diejenigen Mitgliedsländer der Gemeinschaft bilden, welche die vollständige ökonomische und politische Integration unterstützen, den nächsten Kreis würden dann die Staaten bilden, die vor allem eine wirtschaftliche Integration (im Rahmen des EWR) anstreben, den letzten Kreis diejenigen Staaten, die an einer Mitgliedschaft und dem Zugang zu den Märkten der Gemeinschaft und finanzieller Unterstützung durch die Gemeinschaft interessiert sind. Der Europäische Wirtschaftsraum wurde als eine Form der Integration nach einer „variablen Geometrie“ verstanden, wie sie ken, 20. Mai 1987, Quelle: http://www.abc.com.pl/serwis/du/1998/0288.htm, (Juni 2008). 20 Declaration of Commissioner Willy De Clerq during the Join EC-EFTA Ministerial Meet­ ing at Interlaken on 20 May 1987, „Agence Europe“ vom 20. Mai 1987. 21 Rede von Staatssekretär Martin Grüner im Kulturinstitut Hanaholmen in Helsinki am 22. Ja­ nuar 1988, „Bulletin des Presse- und Bundesregierung“ vom 23. Januar 1988, Nr. 10, S. 73-76. 22 J. Delors, Debates of the European Parliament 1988–1989 Session, Proceedings from 16–20 January 1989. Na temat EOG Zob. szerzej: C. Dupon, The Failure of the Nest-Best Solution: EC-EFTA Institutional Relationships and the European Economic Area, [in:] V.K. Aggarwal (ed.), Institutional Designs for a Complex World: Bargaining, Linkages and Nesting, Cornell University Press, Ithaca 1998, S. 124-160. 114 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von Frankreich und Deutschland unterstützt wurde. Dieses Modell der Partnerschaft in Europa stützte sich auf das Modelle der „konzentrischen Kreise“. Den ersten Kreis um die EU bildeten die Staaten der EFTA, die stärker als an der Mitgliedschaft an ei- nem gemeinsamen Markt interessiert sind, einen weiteren Kreis bilden die Staaten Mitteleuropas, die eine Mitgliedschaft in der EG oder dem EWR anstreben.23 Die Verhandlungen zum Abkommen über den Europäischen Wirtschafts- raum begannen am 19. Dezember 1989.24 Gleichzeitig veröffentlichte der Nordi- sche Ministerrat mit Unterstützung des Nordischen Rats einen neuen Wirtschafts- plan für die Jahre 1989-1992 unter dem Titel Die Stärkung der nordischen Staaten. Als Hauptaufgabe wurde die Aufhebung jeglicher Barrieren für den freien Kapital- verkehr bis spätestens 1. Juli 1990 genannt. Dabei wurde die bestmögliche Anpassung der nordischen Märkte an eine eventuelle Integration mit der EWG angestrebt.25 Der Vorschlag von Delors „störte“ die Einreichung des österreichischen Antrags auf Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften (17. Juli 1989). Die Arbeiten an der Schaffung des gemeinsamen Wirtschaftsraums wurden jedoch fortgesetzt. Die Gespräche des Luxemburger follow-up in der Frage des EWR wur- den ab dem 1. Juli 1990 durch den so genannten Prozess von Oslo und Brüssel er- setzt. Die Verhandlungen über die Errichtung des Europäischen Wirtschaftsraums wurden am 1. Oktober 1991 abgeschlossen. Die Bundesrepublik Deutschland leistete volle Unterstützung bei den Bestre- bungen der EG und der EFTA-Staaten um die Errichtung eines gemeinsamen Wirt- schaftsraums. Man war sich darüber bewusst, nicht nur in Deutschland, dass die In- tegration mit den EFTA-Staaten der EG/EU greifbare wirtschaftliche Vorteile bringen wird.26 Nach Ansicht von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sollten die Bemühungen der EG um Einrichtung einer Europäischen Wirtschaftszo- ne neben der Politik in der Mittelmeerregion und der Unterstützung der Reformen in Mittel- und Osteuropa vor allem zur Festigung des geeinten Europa und seiner Rolle für die Gestaltung eines dauerhaften Friedens auf dem Kontinent beitragen: „Wir wollen das ganze Europa, das eine Europa schaffen.“27

23 Ch. Preston, EFTA, the EU, and the EEA, [in:] J. Redmond (ed.), The 1995 Enlargement of the European Union, Ashgate, Burlington 1997, s. 22. Por. M. Saeter, The Nordic Countries and Eu­ ropean Integration. The Nordic, the West European and the All-European stages, [in:] Te. Tiilikainen, Ib D. Petersen (eds), The Nordic Countries and the EC, Copenhagen Political Studies Press, Copen- hagen 1993, S. 16-18. 24 Vgl.: C. Church, The Politics of Change: EFTA and the Nordic Countries’ Responses to the EC in the Early 1990’s, „Journal of Common Market Studies“, Vol. 28, No. 4, June 1990, S. 401-430. 25 R. Matera, op. cit., S. 87. 26 Vgl. Economic Integration and the Export Performance of West European Countries Out­ side the EC, „Economic Bulletin of Europe“ 1989/1990, S. 271-297. 27 Die Verantwortung des geeinten Deutschland für ein einiges Europa. Rede des Bundes­ ministers des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher zur Verleihung der Goldenen Europa-Medaille in Wuppertal am 14. Oktober 1990, „Bulletin des Presse- und Informationsamt der Bundesregierung“ vom 16. Oktober 1990, Nr. 122, S. 1274-1275. Der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union 115 Am 2. Mai 1992 wurde in Porto das Abkommen über den Europäischen Wirt­ schaftsraum unterzeichnet28, das in Bezug auf Österreich, Island, Norwegen, Finnland und Schweden am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Durch einen Volksentscheid vom 6. De- zember 1992 lehnten die Bürger der Schweiz den Beitritt zum EWR ab (dagegen stimmten 50,3% der Wähler). Das Fürstentum Lichtenstein trat aufgrund der ablehnenden Haltung der Schweiz, mit der es durch eine Zollunion verbunden ist, erst am 1. Mai 1995 bei. Kraft des Vertrags von Porto genießen die Bürger des Europäischen Wirtschafts- raums Freizügigkeit, können sich auf dem gesamten EWR-Gebiet niederlassen und Im- mobilien erwerben. Der freie Verkehr von Kapital und Dienstleistungen wurde eingeführt, die meisten Schranken für den Handel mit Konsumgütern wurden beseitigt. Der Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum errichtete jedoch keine Zollunion und umfasste auch nicht die Gemeinsame Agrarpolitik, die Gemeinsame Fischfangpolitik und der Ge- meinsamen Handelspolitik.29 Geregelt wurden die meisten dieser Fragen durch bilaterale Verträge zwischen der EWG und den einzelnen EFTA-Staaten.30 Die EFTA-Staaten for- derten die Einberufung eines unabhängigen Organs zur Überwachung des Europäischen Wirtschaftsraums ein. Man vereinbarte die Einberufung eines Pendants zum Europäischen Gerichtshof durch die EFTA zum Zweck der Überwachung des Vertrags über den Euro- päischen Wirtschaftsraum. Zugleich verpflichteten sich die EFTA-Staaten durch ihre Mit- wirkung am Europäischen Wirtschaftsraum zur Übernahme eines großen Teils des Acquis communautaire der EU. Das bedeutete, dass sie überstaatlichen Einrichtungen staatliche Prärogative zugestand und in der Zukunft die Beitrittsverhandlungen erleichterte.

3. Der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union

3.1. Die Frage der Neutralität

Ein gewisses Hindernis bei der Integration mit der EG stellte die Frage der Neutralität der meisten EFTA-Staaten dar. Diese Neutralität hatte zwei Formen:

28 Agreement on the European Economic Area, źródło: http://secretariat.efta.int/ Web/Euro- peanEconomicArea/EEAAgreement/EEAAgreement/EEA_Agreement.pdf, (März 2008). 29 Vgl.: Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum unterzeichnet in Porto am 2. Mai 1992 (Auszug), [in:] Curt Gasteyger, Europa von der Spaltung zur Einigung. Darstel­ lung und Dokumentation 1945-2000, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2001, S. 350-360; A. Michalski, H. Wallace, The European Community: the Challenge of Enlargement, Royal Institute of International Affairs, London 1992, S. 130-136; K. Dośpiał-Borysiak, Państwa nordyckie a Unia Europejska /Die nordischen Staaten und die Europäische Union/, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 2007, S. 100-108. 30 Verträge über den Handel mit Agrarerzeugnissen der EWG schlossen Finnland, Island, Norwegen, Österreich, Schweden und die Schweiz. Fragen bezüglich des Fischfangs wurden durch Abkommen zwischen der EWG und Island, Norwegen und Schweden geregelt. Zusätzlich schloss die EWG Verträge mit Österreich und der Schweiz in der Frage des Straßentransits. Vgl.: B. Mucha- Leszko, Stosunki EWG–EFTA. Europejski Obszar Gospodarczy /Die Beziehungen zwischen EWG und EFTA. Die europäische Wirtschaftszone/, „Biuletyn Europejski“ 1997, S. 67. 116 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland die erste – als Grundsatz der staatlichen Außenpolitik, die aus der Annahme des völ- kerrechtlichen Status der Ewigen Neutralität folgt (Österreich, Schweiz), die zweite – als politische Willenserklärung eines Staates, die sich nicht auf völkerrechtliche Verträge stützt (Schweden, Finnland). In beiden Fällen sind dies freiwillige Akte, die mit einer in unterschiedlicher Form geäußerten Akzeptanz seitens anderer Staa- ten, insbesondere der Großmächte, einhergeht. Die Neutralität Österreichs, Schwe- dens und Finnlands war vor allem eine Folge ihrer geopolitischen Lage im Span- nungsfeld der Supermächte.31 Jeder dieser Staaten war mit seinem Dasein als „asymmetrisch“ neutraler Staat konfrontiert. Einerseits handelte es sich um hoch entwickelte Staaten mit de- mokratischer Verfassung, die die Werte und Ideen Westeuropas teilten, auf der an- deren Seite jedoch auch nahe Beziehungen zum Osten unterhielten. Besonders deut- lich sind hier die Beispiele Finnland und Österreich, ihr Streben nach Integration mit dem Westen bei gleichzeitigem Interesse an einer Kooperation mit den Staaten des realen Sozialismus in Mittel- und Osteuropa. Für die neutralen Staaten war eine Mitgliedschaft in der EFTA leichter zu ak- zeptieren als eine Beteiligung an der EWG. Die Ziele und Rechtsgrundlagen der EG wurden häufig als unvereinbar mit dem Wesen der Neutralität gedeutet. In der euro- päischen Integration sah man neben der wirtschaftlichen Grundlage auch politische und militärische Prämissen. Dagegen war die EFTA einzig ein Zusammenschluss mit begrenzten wirtschaftlichen Zielen. Der Status einer Ewigen Neutralität, geregelt durch das internationale Recht (Schweiz, Österreich) wurde als internationale Frage behandelt und nicht eine individuelle Angelegenheit eines einzelnen Landes. Des- halb begegnete man der Annäherung dieser beiden Staaten mit besonderer Vorsicht. Aus diesem Grund engagierten sich die neutralen und eine Politik der Neutralität betreibenden Staaten vor allem auf die Beteiligung an der EFTA. Die Europäische Freihandelsassoziation beschränkte in wesentlich geringe- rem Maße als die EWG die Entscheidungsfreiheit ihrer Mitglieder. Der Grundsatz der Einhelligkeit bei Beschlüssen hemmte das Tempo der Integration und bewirk- te, dass der EFTA gewisse Merkmale einer überstaatlichen Organisation fehlten.32 Die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten der EFTA war nicht so sehr an einer Mitglied- schaft in der EWG interessiert wie vielmehr an Handelsabkommen mit der Gemein- schaft. Dieser Weg wurde – insbesondere von Österreich – als Art und Weise der An- näherung an das sich integrierende Europa betrachtet (im Sinne der Konzeption des

31 L. Miles, Sweden and Security, [in:] J. Redmond (ed.), op. cit., S. 87-92; R.M. Czarny, Szwecja w Unii Europejskiej /Schweden in der Europäischen Union/, Wyższa Szkoła Ubezpieczeń, Kielce 2002, S. 36-40. D. Popławski, Austriacka polityka neutralności… /Die österreichische Neu­ tralitätspolitik…/, op. cit., S. 23; idem, Szwajcarska polityka bezpieczeństwa /Die Neutralitätspolitik der Schweiz/, Wydawnictwo Naukowe Scholar, Warszawa 2007, Kap. I; J. Sutor, Państwa neutralne i niezaangażowane /Neutrale und und unbeteiligte Staaten/, Wiedza Powszechna, Warszawa 1972, Kap. I–VI; P. Andrzejewski, op. cit., S. 203-266. 32 J. Sutor, op. cit., S. 73-80. Der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union 117 „Brückenschlags“). Für Österreich blieb jedoch die Frage des Verbots einer politi- schen oder wirtschaftlichen Verbindung mit Deutschland in irgendeiner Form ge- mäß Art. 4 des Staatsvertrags vom 15. Mai 195533 und Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Neutralität Österreichs vom 26. Oktober 195534 problematisch. In ähnlicher Weise formulierte auch das Abkommen über Freundschaft, Zusammenarbeit und ge­ genseitigen Beistand vom 6. April 1948 zwischen Finnland und der Sowjetunion in seiner Präambel den Grundsatz des „Strebens Finnlands nach Abstand gegenüber den gegensätzlichen Interessen der Großmächte“.35 Diese Vorschrift galt bis 1991 und bildete die Grundlage für die finnische Politik der Neutralität, die von den ersten Nachkriegspräsidenten Juho Kusti Paasikivi und Urho Kalevi Kekkonen vorange- trieben worden war.36 Der Kernpunkt der schwedischen Neutralitätspolitik hingegen war das 1945von Östen Undén formulierte Prinzip „keine Bündnisse in Friedens- zeiten, um Neutralität in Kriegszeiten bewahren zu können“.37 Die internationalen Gegebenheiten zu Beginn der neunziger Jahre, insbesondere der Zusammenbruch der Sowjetunion, ermöglichten insbesondere Finnland und Österreich eine Vereinba- rung der Frage der Neutralität mit der europäischen Integration. Gegen Ende der achtziger Jahre standen die EFTA-Staaten vor dem „Integra­ tionsdilemma“.38 Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verlor die Konzeption der Neutralität in der Außenpolitik an Bedeutung. Die Europäischen Gemeinschaften und die spätere Europäische Union wurden zu einem „Gravitationszentrum der Ent- wicklung in Europa“. Wie Morten Kelstrup bemerkte, musste die EU ihre Beziehun- gen zu den übrigen Nichtmitgliederstaaten definieren. Die EFTA-Staaten standen vor der Wahl zwischen der Übertragung eines Teils ihrer Souveränität mit der Gefahr des „Eingeschlossenwerdens“ durch die europäische Integration und der Bewahrung der Unabhängigkeit mit der Gefahr der Vereinsamung und Isolierung von den In- tegrationsprozessen. Die erste Option konnte zu einem Verlust der Unabhängigkeit und der Fähigkeit zum Ausdruck der eigenen nationalen Interessen führen, die andere zu einem Rückstand gegenüber den sich schneller entwickelnden Staaten.39 Gemäß der Einheitlichen Europäischen Akte im Rahmen der EU bis Ende 1992 sollte ein gemeinsamer Markt entstehen. Für die wirtschaftlich stark mit der EG 33 Vgl.: D. Popławski, Austriacka polityka neutralności… /Die österreichische Neutralitäts­ politik…/, op. cit., S. 169. 34 �������������������������������������������������������������������������������������� Art. 1 Abs. 2 Österreich����������������������������������������������������������������������� wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen mi- litärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“ Bundesverfassungsgestz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österrecihs, „Zbiór Dokumentów“ 1955, Nr. 10, S. 2114. 35 Vgl.: P. Andrzejewski, op. cit., S. 210-211. 36 Vgl.: M. Jakobson, Finland in the New Europe, Praeger with Center for Strategic and In- ternational Studies, Washington D.C. 1998, S. 49-100. 37 Zit. nach: P. Andrzejewski, op. cit., S. 228. 38 M. Kelstrup, Small States and European Political Integration, [in:] T. Tiilikainen, Ib D. Pe- tersen (eds), op. cit., Copenhagen Political Studies Press, Copenhagen 1993, S. 136-162. 39 Ebd., S. 154, 157. 118 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland verbundenen Staaten stellte das eine Gefährdung ihrer Position dar. Vorausgese- hen wurde, dass die Integrationsfortschritte zum Ausschluss der EFTA-Staaten aus der Beteiligung an Investitionen und öffentlichen Bestellungen der EG verblei- ben würde. Die Entscheidung der Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation über die Stellung des Antrags auf Mitgliedschaft in der EG war nicht von den Idealen der Gründerväter der europäischen Union (J. Monnet, R. Schuman) diktiert, sondern von der Vermeidung der Kosten, die eine Nichtmitgliedschaft mit sich bringen wür- de. Der entscheidende Impuls war der geplante gemeinsame Markt oder vielmehr die Furcht, davon „ausgeschlossen zu bleiben“.40 Die Frage der Formierung eines großen gemeinsamen Marktes in Westeuro- pa war ziemlich attraktiv für die assoziierten Staaten. Die EG begann langsam dazu zu prätendieren, eine Wirtschaftsweltmacht zu werden. In diesem Zusammenhang standen die EFTA-Staaten vor zwei Fragen: Würden der Beitritt zur EG ihre wei- tere Entwicklung erleichtern? Würde der Beitritt zu viele Opfer mit sich bringen (wie etwa den Verlust des Neutralitätsstatus)?41

3.2. Beitrittsanträge

Österreich stellte als erster unter den EFTA-Staaten am 17. Juli 1989 einen Antrag auf Mitgliedschaft in EWG, EGKS und Euratom.42 Nach Ansicht von Lothar Rühl ist der Fall Österreich am wichtigsten, denn er ist zusammen mit der deutschen Wiedervereinigung zu sehen. Nicht nur im Hinblick auf die gemeinsame Grenze, Sprache, Geschichte, Kultur und Handelsbeziehungen, sondern auch im Hinblick auf die neuen internationalen Gegebenheiten nach 1989, die Österreich noch stärker an Westeuropa annäherten.43 Ähnliche Prämissen bestimmten das Interesse der nor- dischen Staaten an einer Mitgliedschaft in der EU. Der Antrag Österreichs stieß auf große Unterstützung seitens der Bundes- regierung unter Helmut Kohl. Am 30. Januar 1991 unterstrich der Bundeskanzler, dass für Deutschland „Europa die Zukunft ist“ und deshalb die Einigung des Alten Kontinents Priorität besitzt. Er rief die EG dazu auf, sich den europäischen Staa- ten, die nicht zu ihren Mitgliedern zählen, zu öffnen. „Das bedeutet nicht, dass sie von heute auf morgen alle Länder Europas aufnehmen könnte. Aber es bedeutet eben-

40 J. Redmond, Introduction, [in:] idem (ed.), op. cit., S. 4. 41 C. Gasteyger, op. cit., S. 339. Vgl.: A. Michalski, H. Wallace, op. cit., S. 82-83; D. Popławski, Droga neutralnych państw EFTA do Unii Europejskiej /Der Weg der neutralen EFTS- Staaten in die Europäische Union/, [in:] P. Łaciński (Hrsg. u. Red.), Dylematy rozszerzenia Unii Eu­ ropejskiej /Die Dilemmas der Erweiterung der Europäischen Union/, Wydawnictwo Wyższej Szkoły Cła i Logistyki, Warszawa 2006, S. 42-51. 42 Vgl.: J. Barcz, Austria w Unii Europejskiej. Problemy prawne w procesie akcesyjnym /Öster­ reich in der Europäischen Union/, Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego, Opole 2001, S. 303. 43 L. Rühl, Deutschland als europäische Macht. Nationale Interessen und internationale Ver­ antwortung, Bouvier Verlag, Bonn 1996, S. 131-132. Der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union 119 so wenig, dass wir europäische Nachbarn in irgendeiner Weise ausgrenzen wollen. Das gilt in erster Linie für die Länder der ETA, von denen sich einige ja bereits heute um eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft bemühen oder sich darauf hinorientieren.“ Er unterstrich, dass die Annäherung der Staaten, die Mitglieder der Europäischen Frei- handelszone sind, im Interesse Deutschlands liege.44 Die Bundesrepublik unterstützte die Kandidatur Österreichs und wertete diese als Ausdruck der Solidarität dieses Landes mit Europa. Österreich, gelegen in der Mitte des Kontinents, so erklärte im September 1992 Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Lindau, hat die Chance eine bedeut- same Rolle „im Dienst der Einigungsbewegung Europas“ zu spielen.45 Eine nicht unwesentliche Rolle bei der entschiedenen Unterstützung der ös- terreichischen Beitrittsbemühungen hatten die Handelsbeziehungen zu diesem Staat. Zu Beginn der neunziger Jahre belief sich der deutsche Import und Export mit Ös- terreich auf rund 40% des Außenhandels.46 Weiter Aufnahmeanträge stellten Schweden am 1. Juli 1919 und Finnland am 18. März 1992. Di österreichische Bewerbung war vor allem von der Umstrukturie- rung der Industrie bestimmt gewesen, während auf die Entscheidungen Schwedens und Finnlands die tiefe Rezession an der Grenze zur Wirtschaftskrise Einfluss hatte. Die Wirtschaft in beiden Ländern bedurfte einer strikten Finanzdisziplin, um ihre Währungen auf einem gleichbleibenden Kurs zu halten und die Ausgaben für den öf- fentlichen Sektor zu kürzen. Die Geldpolitik in diesen Staaten wurde durch die ein- seitige Kursbindung der schwedischen Krone und der finnischen Mark an den ECU geführt. Auf die finnischen Beitrittsbemühungen hatten auch die internationalen Be- dingungen Einfluss. In den achtziger Jahren war der Haupthandelspartner Finnlands die EWG gewesen, auf die 40% des Umsatzes des finnischen Außenhandels entfie- len, gegenüber 25% auf die EFTA-Staaten und 15% auf die RWG-Staaten. Gegen Ende der achtziger Jahre machte der Handel allein mit der UdSSR ein Viertel des fin- nischen Handelsaustauschs aus. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR ging der Ver- kauf finnischer Waren heftig zurück.47 Deshalb wurde die eventuelle Mitgliedschaft in der EG/EU als „Arznei“ gegen die Wirtschaftskrise betrachtet.

44 Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 1991. Unsere Verantwortung für die Freiheit. Deutschlands Einheit gestalten – Die Einheit Europas vollenden – Dem Frieden der Welt dienen, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundes- regierung“ vom 31. Januar 1991, Nr. 11, S. 73. 45 Besuch des Bundespräsidenten der Republik Österreich vom 11. bis 12. September 1992 in Lindau, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 16. September 1992, Nr. 97, S. 921. 46 Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Österreichs. In den Jahren 1992, 1993 und 1944 belief sich der Import aus der BRD nach Österreich auf 42,9%, 42,9% bzw. 40% und der Ex- port von Östereich in die BRD 39,8%, 39% bzw. 38,1%. Vgl.: D. Popławski, Austriacka polityka neutralności… /Die österreichische Neutralitätspolitik…/, op. cit., S. 197; ,,Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland“ 1994, S. 317. 47 Vgl.: R. Väyrynen, Finland on the Way to the European Community, [in:] T. Tiilikainen, Ib D. Petersen (eds), op. cit., S. 68-69 120 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland Anlässlich eines offiziellen Besuchs in Helsinki im Juni 1991 bezeichnete Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die deutsch-finnischen Beziehungen als „harmonisch“ und erklärte die volle Unterstützung Deutschlands und die Suche nach konstruktiven Lösungen für einen raschen Beitritt.48 Der Rat der Europäischen Gemeinschaften fasste am 10. Dezember 1991 auf einer Sitzung in Maastricht den Beschluss über die Aufnahme von Beitritts- verhandlungen mit Österreich und Schweden. Als nächstes wurde die Kommission zur Vorbereitung eines Rapports über die eventuelle Erweiterung und seine Präsenta- tion auf der Sitzung des europäischen Rats in Lissabon im Juni 1992 aufgefordert.49 Die Schweiz stellte ihren Mitgliedschaftsantrag am 20. Mai 1992. Nicht ganz einen Monat später hielt Helmut Kohl im Schweizerischen Institut für Auslandfor- schung eine Rede, in der er hervorhob, dass Deutschland der Frage der Mitglied- schaft der Schweiz in der EG positiv gegenübersteht: „Ich freue mich darüber, dass die Schweiz vor wenigen Tagen ein Beitrittsgesuch gestellt hat. Der Entschluss des Bun- desrates bedeutet eine für ganz Europa wichtige Weichenstellung. (…) Die Schweiz gehört politisch und wirtschaftlich zu den stabilsten Ländern in Europa und ist im Kreise der Gemeinschaft willkommen. Die Schweiz wäre ein Gewinn für die Ge- meinschaft, aber ebenso wäre die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft ein Gewinn für die Schweiz. Über die erwähnte politische Kultur hinaus, die die Schweiz in die Eu- ropäische Union einbringen kann, würde Ihr Land natürlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein wertvoller Partner der Gemeinschaft sein. (…) Wir befürworten nach- drücklich einen möglichen Beitritt auch anderer Länder der EFTA zur Europäischen Union (…) Unserer Wunsch ist es, dass diejenigen, die es wollen, so schnell wie mög- lich der Gemeinschaft beitreten. Die Verhandlungen müssen individuell geführt wer- den – natürlich ausgehend von dem, was bereits bei den Verhandlungen mit der EFTA erreicht wurde.“50 Diese Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Am 6. Dezember 1992 siegten bei einem Volksentscheid die Gegner der Integration.51 Die Schweiz nimmt einen sehr wichtigen Platz im deutschen Außenhandel ein. Der Export von Waren aus der Bundesrepublik in die Schweiz belief sich 1990 auf 38.852,9 Mio. DM und gegen Ende des Jahrzehnts auf 44.679,4 Mio. DM, wäh- rend der Import aus der Schweiz 1990 sich auf einen Wert von 24.083,3 Mio. DM und 1999 auf 33.412,5 Mio. DM belief.52

48 Vgl.: T. Forsberg, Finnland und Deutschland, [in:] B. Auffermann, P. Visuri (Hrsg.), Nor­ deuropa und die deutsche Herausforderung, Nomos, Baden-Baden 1995, S. 152. 49 European Council, Conclusions of the Presidency, 9-10 December 1991, Maastricht, „Bul- letin of the European Communities“ 1991, No. 12, pkt. I.4. 50 Die Politik der konsequenten Verwirklichung der Europäischen Union. Rede des Bun­ deskanzlers in der Universität Zürich am 18 Juni 1992, „Bulletin des Press- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 3. Juli 1992, Nr. 73, S. 699. 51 Vgl.: D. Popławski, Perspektywy przystąpienia Szwajcarii do Unii Europejskiej /Die Per­ spektiven für den Beitritt der Schweiz zur EU/, [in:] P. Łaciński (Hrsg. u. Red.), op. cit., S. 173-183. 52 Daten vgl.: „Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschlands“ 1994, 2000, 317 bzw. 284. Der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union 121 Die Schweiz liegt als Handelspartner Deutschlands in Europa an vierter Stelle nach Frankreich, Großbritannien und Italien. Die Bundesrepublik unterstütz- te und unterstützt die Idee der Mitgliedschaft der Schweiz in der Europäischen Union. „Wir halten der Schweiz nach wie vor eine Tür offen“, sagte im November 1993 die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Ursula Seiler-Albring. Sie unter- strich, dass die Schweiz zweifelsohne zur Gemeinschaft der europäischen Völ- ker gehöre und vor denselben Herausforderungen stehe wie die westliche Welt. Zu diesen Herausforderungen seien vor allem die Globalisierungsprozesse zu zäh- len, die nicht im Rahmen eines Nationalstaats zu bewältigen seien. Deshalb werde Deutschland weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit der Schweiz in Europa un- terstützen.“ 53 Norwegen legte am 25. Oktober 1992 erneut ein Beitrittsgesuch vor. Den ers- ten Antrag hatte das Land am 30. April 1962 gestellt. Die Verhandlungen in den sech- ziger Jahren waren durch das französische Veto gegen die Aufnahme Großbritanniens unterbrochen worden. Die wiederaufgenommenen Assoziierungsgespräche führten zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit Dänemark, Irland, Norwe- gen und Großbritannien54. Jedoch lehnten die norwegischen Bürger den Beitritt mit knapper Mehrheit (53,5%) ab. Das Ergebnis des Volksentscheids war für Kanzler Willi Brandt eine „herbe Enttäuschung“. Brandt erblickte in der negativen Haltung der Norweger vor allem historische Gründe: das Gedächtnis an die nazideutsche Ok- kupation im 2. Weltkrieg und die Union mit Schweden, aus der sich die Norweger im Jahr 1905 „befreit“ hatten. Nach Ansicht des Kanzlers war die norwegische Ge- sellschaft noch nicht reif für eine enge Kooperation innerhalb überstaatlicher Struk- turen, insbesondere mit Deutschland.55 Obwohl die deutsch-norwegischen Bezie- hungen von der Erinnerung an die Okkupationszeit überschattet waren, stand man in Norwegen der deutschen Politik, insbesondere der Brandtschen Entspannungspo- litik, wohlgesonnen gegenüber. In den neunziger Jahren erneuerte Norwegen des- halb sein Beitrittsgesuch.

53 Rede von Staatsministerin im Auswärtigen Amt Ursula Seiler-Albring im Außenpolitischen Institut in Helsinki am 16. November 1993, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundes- regierung“ vom 19. November 1993, Nr. 101, S. 1132. 54 Vertrag über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands, des Königreichs Norwe­ gen und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zur Europäischen Wirtschafts­ gemeinschaft und zur Europäischen Atomgemeinschaft und Beschluss des Rates über den Bei­ tritt des Königreichs Dänemark, Irlands, des Königreichs Norwegen und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl; geändert durch Beschluss des Rates vom 1. Januar 1973., J. Plaňavová-Latanowicz (Hrsg.), Do­ kumenty dotyczące przystąpienie do Unii Europejskiej Austrii, Finlandii i Szwecji Dokumente über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens zur EU/, Bd. 3, Centrum Europejskie Uniwersy- tetu Warszawskiego, Warszawa 1998, s. 61-189. 55 ��������������������������������������������������������������������������������������� W. Brandt, op. cit., S. 332. Zum Thema der Erinnerung an die Nazi-Okkupation in Norwe- gen vgl.: S. Maerz, Die langen Schatten der Besatzungszeit. „Vergangenheitsbewältigung“ in Norwe­ gen als Identitätsdiskurs, BWV Berliner-Wissenschaft, Berlin 2008. 122 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland Die Bemühungen Finnlands, Norwegens und Schwedens um Aufnahme in die Europäischen Gemeinschaften stießen auf große Unterstützung vor allem seitens der Bundesrepublik und Großbritanniens. Helmut Kohl nahm am 5. März 1992 bei ei- nem Staatsbesuch in Helsinki an einer feierlichen Tagung des Nordischen Rats anläss- lich seines 40. Jubiläums teil. In seiner Rede unterstrich er, dass die Mitgliedschaftsbe- strebungen der nordischen Staaten von enormer Bedeutung für den gesamten Kontinent und die Normalisierung der deutschen Beziehungen mit den skandinavischen Staaten seien. Er sagte, dass diese Staaten ihre besondere Erfahrung der überstaatlichen regi- onalen Zusammenarbeit in die Union einbrächten, die für die Entwicklung Europas von unschätzbarem Wert seien und eine wichtige Rolle bei der Annäherung an die neu- en Demokratien in Mittel- und Osteuropa, insbesondere den baltischen Staaten, spie- len würden. Österreich wiederum wurde aufgrund seiner historischen und kulturellen Verbundenheit als potenzieller Fürsprecher der Interessen der Staaten Mitteleuropas gesehen. Kanzler Kohl betonte, dass es der Bundesrepublik daran gelegen sei, dass die Beitrittsverhandlungen mit den Staaten der EFTA, die ihre Beitrittsgesuche bereits Anfang 1993 eingereicht hatten, rasch vonstatten gingen. Er verpflichtete sich zudem, dass die deutsche Regierung danach trachten wird, dass die Aufnahme der Beitrittsge- spräche auf der nächsten Zusammenkunft des Europäischen Rats im Juni in Lissabon aufgenommen werden könnten. Er fügte hinzu, dass er mit einem schnellen Ablauf der Verhandlungen und dem Beitritt der neuen Mitglieder Mitte der neunziger Jahre rechne. Außerdem äußerte er die Hoffnung, dass dadurch auch die Schweiz sich zu ei- nem ähnlichen Schritt inspirieren lässt.56 Der Rat der EG begann mit der Beitrittsprozedur, indem er sich an die Kom- mission der EG um Beurteilung der einzelnen Beitrittsgesuche der Kandidaten wandte. Die Kommission äußerte sich in ihrer Stellungnahmen (Avis) zustimmend zum Beginn von Beitrittsverhandlungen. Die Stellungnahme zum österreichischen Beitrittsgesuch (zwei Jahre nach seiner Einreichung) wurde dem Rat am 1. August 1991 vorgelegt, die Stellungnahme zum schwedischen Gesuch am 31. Juli 1992 und die Stellungnahme zum finnischen Gesuch am 24. März 1993. Auf einer Sitzung des Europäischen Rats am 26.-27. Juni in Lissabon stellte die Europäische Kommission den Rapport Europa und die Herausforderung der Er­ weiterung vor. Er betraf eventuelle weiter Erweiterungen um neue Staaten im Kon- text der veränderten internationalen Bedingungen auf dem europäischen Kontinent und die Vertiefung der Integrationsprozesse innerhalb der EG selbst.57 Dabei sprach sich

56 Ansprache des Bundeskanzlers Helmut Kohl zum vierzigjährigen Jubiläum des Nordi­ schen Rates in Helsinki am 5. März 1992, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes“ vom 10. März 1992, Nr. 26, s. 253-256. Vgl. auch: C.-E. Stålvant, The New Germany and The Old Norden: Good Neighbours and a Creative Partnership?, [in:] B. Auffermann, P. Visuri (Hrsg.), op. cit., S. 180. Vgl.: A.O. Brundtland, The German Dimension in Norwegian Policy, [in:] Ebd., S. 137. 57 European Commission, Europe and the challenge of enlargement, Prepared for the Eu­ ropean Council, Lisbon, 26–27 June 1992, „Bulletin of the European Communities“, Supplement, 3/1992. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 123 die Kommission eindeutig für die Aufnahme neuer Mitglieder aus, wenn dies zur Stär- kung der europäischen Integration beiträgt und eine weitere Vertiefung zulässt. Sie bestimmte die Bedingungen, die ein Staat zu erfüllen hat, der die Vollmitgliedschaft anstrebt: 1) Kriterium des Gefühls einer europäischen Identität58, Respektierung der de- mokratischen Prinzipien und Schutz der Menschenrechte, 2) Akzeptierung des existie- renden Acquis communautaire, Vorhandensein von Marktwirtschaft und verwaltungs- rechtlichen Mechanismen, die in schneller Zeit eine Einführung des Gemeinschaftsrechts ermöglichen, 3) vollständige Akzeptierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- politik. In dem Rapport stand auch der Vorschlag einer Einteilung der Kandidaten in zwei Gruppen: Staaten, die sich schnell mit der Europäischen Gemeinschaft integrie- ren können, und solche, die nicht in der Lage sind, vollständig die Pflichten einer even- tuellen Mitgliedschaft zu erfüllen.59 Die Staaten der EFTA wurden der ersten Gruppe zugeordnet. In der zweiten Gruppe befanden sich vor allem die Staaten Mitteleuropas. Der Rapport der Kommission wurde auf der Sitzung des Rats der Europäischen Gemeinschaften in Lissabon diskutiert und stieß auf starke Unterstützung der deut- schen Seite. Der Rat sprach sich für eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen mit den EFTA-Staaten aus, mit denen begonnen werden sollte, wenn die EU-Mitglieds- staaten den Vertrag von Maastricht ratifizieren und ein Finanzprogramm für die Jahre 1993-1999 (2. Delors-Paket) verabschieden. Aufgrund des negativen Volksentscheids in Dänemark am 2. Mai 1992 über den Vertrag über die Europäische Union dräng- te Deutschland mit Unterstützung Großbritanniens auf einen möglichst baldigen Be- ginn der Beitrittsverhandlungen mit den EFTA-Staaten.60 Diese Erweiterung sollte auf der Grundlage von Artikel „O“ des Vertrags von Maastricht erfolgen.61

4. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen

Auf der Sitzung des Europäischen Rats vom 11.-12. Dezember in Edinburgh wurde der Beschluss über den offiziellen Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Ös-

58 Zum Gefühl einer „europäischen Identität“ gehören historische, geografischegeografi sche und kultu kultu-- relle Elemente. Vgl.: A. Podraza, Unia Europejska a Europa Środkowa i Wschodnia /Die Europä­ ische Union und Mittel- und Osteuropa/, Redakcja Wydawnictw KUL, Lublin 1997, S. 21-22. Vgl.: F. Gołembski (Hrsg.), Tożsamość europejska /Die europäische Identität/, Instytut Nauk Politycznych UW, Warszawa 2005. 59 Vgl.: European Commission, Europe and the challenge of enlargement… 60 European Council, Conclusions of the Presidency, 26-27 June 1992, Lisbon, ,,Bulletin of the European Communities“ 1992, No. 6, pkt. I.4; F. Cameron, Keynote Article: The European Union and the fourth Enlargement, „Journal of Common Market Studies“, Vol. 33, Annual Review, August 1995, S. 18. 61 Die früheren Erweiterungen fanden auf der Grundlage von Art. 98 des Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Art. 237 des Vertrags zur Grün­ dung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Art. 205 des Vertrags zur Gründung der Euro­ päischen Atomgemeinschaft statt. Die Aufnahme Österreichs, Finnlands und Schwedens war die erste Erweiterung der Europäischen Union und die vierte Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften. 124 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland terreich, Finnland und der Schweiz gefasst.62 Die Europäische Kommission erteilte am 24. März eine positive Stellungnahme zum norwegischen Beitrittsgesuch (einge- reicht im Herbst 1992). Die offizielle Aufnahme der Verhandlungen mit Österreich er- folgte am 1. Februar 1993, die Gespräche mit Norwegen begannen am 5. April 1993. Die Grundlage für die Verhandlungen war und ist die Akzeptierung des ge- meinschaftlichen rechtlichen Besitzstandes, des Acquis communautaire, durch die beitrittswilligen Länder. Der Acquis communautaire ist die Gesamtheit der Rech- te und Pflichten der Mitgliederstaaten der EG/UE. Das europäische Recht lässt sich allgemein in Primärrecht und Sekundärrecht (das abgeleitete Recht) einteilen.63 Das Primärrecht der Europäischen Gemeinschaften besteht aus dem Ver­ trag über die Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 (inkraftgetreten am 23. Juli 1952); den Römischen Verträgen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomge- meinschaft vom 25. März 1957 (inkraftgetreten am 1. Januar 1958) mit Änderungen, wie zum Beispiel dem Fusionsvertrag vom 8. April 1965 (inkraftgetreten am 1. Juli 1967), der einen Rat und eine Kommission für alle drei Gemeinschaften errichtete, den Haushaltsverträgen vom 22. April 1970 und 22. Juli 1975, der Einheitlichen Eu­ ropäischen Akte vom 17. Februar 1986 (inkraftgetreten am 1. Juli 1987); dem Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (inkraftgetreten am 1. November 1993). Die Kandidaten der nächsten Erweiterungen mussten weitere Verträge der EU akzeptieren, wie den Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 (inkraftgetreten am 1. Mai 1999), den Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001 (inkraftgetreten am 1. Feb- ruar 2003), den Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007 (inkraftgetreten am 1. Dezember 2009).64 Neben den Vertragsgrundlagen sind eine wichtige Quelle der EU-Gesetzgebung die interna- tionalen Verträge, die von der Gemeinschaft mit Drittstaaten und internationalen Ein- richtungen geschlossen wurden, sowie die Verträge über den Beitritt zur EG/EU. Das Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaften setzt sich aus den Rechtsakten der Gemeinschaftseinrichtungen in Zusammenhang mit der Im- plementierung von Verträgen, Konventionen und internationalen Verträgen zusam- men. Artikel 249 (früher 189) des Vertrags über die Gründung der Europäischen

62 European Council, Conclusions of the Presidency, 11-12 December 1992, Edinburgh, „Bulletin of the European Communities“12–1992, pkt I.6. 63 F. Emmert, M. Morawiecki, Prawo Europejskie /Europarecht/, Wydawnictwo Naukowe PWN, Warszawa-Wrocław 2002, S. 1-6, 107-119; J. Barcz (Hrsg.), Prawo Unii Europejskiej. Zagad­ nienia systemowe /Das Recht der Europäischen Union. Systemfragen/, Wydawnictwo Prawo i Prak- tyka Gospodarcza, Warszawa 2002, S. 68-69, 177 i n.; Z.J. Pietraś, Prawo wspólnotowe i integracja europejska /Gemeinschaftsrecht und europäische Integration/, Wydawnictwo UMCS, Lublin 2005, S. 21 i n. 64 Die Vertragstexte sind auf der offioffiziellen ziellen Webseite des polnischen Außenministeriums zu-zu- gänglich: http://www.polskawue.gov.pl. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 125 Wirtschaftsgemeinschaft nennt folgende Arten von Rechtsakten des Sekundärrechts: verbindliche Akten, Verordnungen, Beschlüsse; darüber hinaus nichtobligatorische und unverbindliche Akten, Empfehlungen und Stellungnahmen. Zum Sekundärrecht werden zudem die Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofs und des Euro- päischen Gerichts der ersten Instanz gezählt. Die Verhandlungen wurden nach dem Grundsatz bilateraler Gespräche mit jedem einzelnen Kandidaten in Form von internationalen Konferenzen zwi- schen der EU-12 und den Beitrittskandidaten im Rahmen des Ministerrats mit Hilfe der Europäischen Kommission geführt. Die Kommission berief auf ihrer Tagung am 22. Februar 1993 zu diesem Zweck eine spezielle Aufgabengruppe für die Erwei- terung (Enlargement Task Force). Zu den Verhandlungen wurden zudem Experten aus allen Generaldirektionen (GD) der Europäischen Kommission geladen (GISE- LA, Groupe Interservice Elargissement). An den Gesprächen nahmen teil: die Task Force, die GD der Kommission, das Sekretariat der Kommission, der aktuelle EU- Vorsitz, die „Trojka“ (neben dem aktuellen Vorsitz der vorherige und der nächste) sowie die Kandidaten. Die Verhandlungen verliefen auf zwei offiziellen Ebenen: Treffen der Chefunterhändler und Begegnungen auf ministerieller Ebene, auf denen die schwierigsten Fragen behandelt und die bei den Gesprächen der Chefunterhänd- ler getroffenen Vereinbarungen bestätigt wurden. Zum Verhandlungsprozess lassen sich auch die zahlreichen nichtformellen Zusammenkünfte von Expertengruppen, Staatsbesuche und private Begegnungen der Regierungschefs, Besuche von Vertre- tern der europäischen Einrichtungen, die Tätigkeit von NGOs, nationale Kampagnen für oder gegen den jeweiligen Beitritt sowie die Aktivität der Medien zählen.65 In der Endphase der Verhandlungen mit Österreich sowie der Gespräche mit Finnland in der Frage der Landwirtschaft spielte neben dem Vertreter des grie- chischen Vorsitzes Theodoros Pangelos und dem belgischen Außenminister Willy Claus auch Bundesaußenminister Klaus Kinkel eine bedeutende Rolle, insbesonde- re während der nichtformellen Gespräche nach dem „Beichtstuhlprinzip“.66 Ohne die entschiedene Haltung Deutschlands wären die Verhandlungen mit Finnland ver- mutlich nicht fristgerecht abgeschlossen worden.67 Zu erwähnen ist, dass der Chef- 65 F. Granell, The First Enlargement. Negotiations of the EU, [in:] J. Redmond (ed.), op. cit., S. 44; Ph. Nicolaides, S.R. Boean, The Process of Enlargement of the European Union, „EIPAScope“1993, No. 3, S. 2-4. Vgl.: Negocjacje akcesyjne. Wnioski z doświadczeń Austrii, Fin­ landii, Norwegii i Szwecji /Beitrittsverhandlungen. ���������������������������������������������Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen Öster­ reichs, Finnlands, Norwegens und der Schweiz/, Kolegium Europejskie – Natolin, Warszawa 1999. 66 Eine informelle Verhandlungsmethode, die auf dem Abbruch formelle Verhandlungen beim Auftreten von Schwierigkeiten und der Delegationsleiter der Anwärterstaaten durch den Vorsitzenden des Rats zu inividuellen Gesprächen beruht. Häufig nehmen neben auch die vorherigen und kommen- den Vorsitzenden an diesen Gesprächen teil, die nach dem Prinzip der „Beichtanhörung“ verlaufen. 67 Vgl.: Negocjacje akcesyjne. Wnioski z doświadczeń Austrii… /Beitrittsverhandlungen. Schlussfolgerungen…/, op. cit., S. 30, 45; J. Schild, Deutschland, Frankreich und die EFTA-Erweite­ rung der Europäischen Union, [in:] A. Sauder, J. Schild (Hrsg.), Handel für Europa. Deutsch-franzö­ sische Zusammenarbeit in einer veränderten Welt, Leske+Budrich, Opladen 1995, S. 123. 126 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland unterhändler der Kommission bei den Gesprächen mit Schweden der Deutsche Ni- kolaus G. van der Pas war.68 Im Rahmen der Verhandlungen wurde ein Screening durchgeführt, also eine Durchsicht der Gesetzgebung des jeweiligen Kandidaten hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit dem Acquis communautaire. Nach dessen Abschluss stellten die Kandidaten ihre Verhandlungsstandpunkte dar und begannen mit den eigentli- chen Verhandlungsgesprächen, deren Ziel es war, sämtliche Streitfragen, die sich aus der Inkongruenz der Rechtssysteme ergaben, zu entscheiden. Am zweiten Tag nach dem offiziellen Verhandlungsbeginn wurden Ablauf und Organisation der Ver- handlungen sowie eine Liste mit 29 Verhandlungskapiteln festgelegt. Die Verhandlungen als Teil des Erweiterungsprozesses beginnen an ei- nem vom Rat der Europäischen Union festgelegten Datum. Sie gehen zu Ende, wenn das letzte Verhandlungskapitel geschlossen wird. Der Europäische Rat äußerte am 21.-22. Juni 1993 auf seiner Sitzung in Kopenhagen die Absicht der Finalisie- rung der Erweiterung am 1. Januar 1995. Auf der nächsten Tagung des Rats am 29. Oktober in Brüssel wurde der Termin für den Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf den 1. März 1994 festgelegt. Beide Entscheidungen wurden von der Bundes- regierung mit Befriedigung aufgenommen. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Ursula Seiler-Albring erklärte in Helsinki, Deutschland täte alles dafür, da- mit die Mitgliedschaft am 1. Januar 1995 möglich werde, was bedeuten sollte, dass die die Beitrittsverhandlungen bis zum 1. März 1994 abgeschlossen sein mussten.69 Ein Beschluss des Gipfels von Brüssel bewirkte die Einführung eines neuen Verhandlungsmodells in Form von mehrtägigen „Verhandlungsmarathons“ oder „Jun- bo-Sessions“.70 Auf politischer Ebene endeten die Beitrittsverhandlungen am 1. März 1994 mit Österreich, Finnland und Schweden und mit Norwegen am 16. März. Der Bundesaußenminister unterstrich in einer rede am 10. März 1994 vor dem Bun- destag, dass „der Beitritt der drei nordischen Länder und Österreichs ein wesentli- cher Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines neuen Gleichgewichts in Europa“ sei. Für das vereinte Deutschland ist die Aufnahme neuer Mitglieder besonders in geogra- fischer und politischer Hinsicht besonders bedeutsam, da Deutschland mitten im Zen- trum der Integrationsprozesse steht. Die Erweiterung der EU um die EFTA-Staaten ermöglichte nach Ansicht von Klaus Kinkel die Schaffung eines Gleichgewichts zwi- schenWest-, Süd- und Nordeuropa und der Öffnung nach Osten.71

68 Für die Verhandlungen mit Östereich war auf Seite der Europäischen Kommission Graham Avery (Großbritannien) zuständig, mit Finnland – Francisco Granell (Spanien), mit Norwegen – En- rico Grillo Pasquarelli (Italien). Vorsitzender der Aufgabengruppe Task Force Enlargement der Euro- päischen Kommission wurde der Däne Steffen Szmidt. 69 Rede von Staatsministerin im Auswärtigen Amt Ursula Seiler-Albring…, S. 1130. 70 Zur Verhandlungsmarathon bzw. „Jumbo-Session“ vgl.: Negocjacje akcesyjne. Wnioski z doświadczeń Austrii… /Beitrittsverhandlungen. Schlussfolgerungen…/, op. cit., S. 16-19. 71 Zit. nach: J. Schild, Deutschland, Frankreich und die EFTA-Erweiterung…, op. cit., S. 123-124. „Das Parlament“ vom 18. März 1994. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 127 Der Abschluss der Verhandlungen wurde auf einer Zusammenkunft der Au- ßenminister in Ioannina am 27. März 1994 verkündet. Auf diesem Forum wurde auch der Kompromiss über die Abstimmungen im erweiterten Europäischen Rat geschlos- sen.72 Die Beitrittsverhandlungen hatten nur 13 Monate gedauert.73 Am 19. März 1994 erteilte die Europäische Kommission eine positive Stellungnahme. Als nächs- tes nahm das Europäische Parlament am 4. Mai 1994 nach sechsstündiger Debatte eine Resolution an, die diesen Standpunkt der Kommission bestätigte. Die Europa- Abgeordneten stimmten mit 378 Stimmen bei 24 Gegenstimmen und 60 Enthaltun- gen für den Beitritt Österreichs und die Annahme des Vertrags über den Beitritt Ös­ terreichs zur EU. Für den Beitritt Finnlands sprachen sich 377 Abgeordnete bei 21 Gegenstimmen und 61 Enthaltungen aus, für den Beitritt Schwedens 381 Abgeord- nete bei 21 Gegenstimmen und 60 Enthaltungen und für den Beitritt Norwegens 376 Abgeordnete bei 24 Gegenstimmen und 57 Enthaltungen.74 Die Einwilligung des Europäischen Parlaments in den Erweiterungsprozess war eine Prozedur die hier erstmals angewandt wurde. Sie ergab sich aus den Bestimmungen des Vertrags von Maastricht. Der Bundeskanzler nahm die Entscheidung des europäischen Parla- ments mit Befriedigung auf und erklärte, der Beitritt dieser Staaten werde die Union politisch und wirtschaftlich stärken.75 Nach der positiven Entscheidung des Europäischen Rats am 16. Mai und der Ak- zeptierung der einzelnen Beitrittsdokumente durch die Mitgliederstaaten fand die Zere- monie der Unterzeichnung des Vertrags über die Erweiterung der Europäischen Union um die Länder der EFTA am 4. Juni auf der griechischen Insel Korfu statt. *** Nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen begann der Ratifizierungsprozess. Der österreichische Nationalrat nahm am 5. Mai 1994 mit 140 Stimmen bei 35 Ge- 72 ��������������������������������������������������������������������������������������� Es wurde festgelegt, dass, wenn Mitgliedsstaaten, die über 23-26 Stimmen im Rat verfü- gen, Widerspruch gegen eine vom Rat getroffene Entscheidung einlegen, der Ratsvorsitz versuchen wird, eine Lösung zu finden, die mit mindestens 68 angenommen werden kann. Beschluss des Ra­ tes vom 29. März 1994 über die Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit, „Amts- blatt der Europäischen Gemeinschaften“, Nr. C 105 vom 13/04/1994, S. 1. Dieser Beschluss wurde am 1. Januar 1995 geändert, der die Zahl der Widerspruch einlegenden Staaten von 23-26 auf 23-25 und die Zahl der beschlussfassenden Mehrheit auf 65 korrigierte. Beschluss des Rates vom 1. Januar 1995 zur Änderung des Beschlusses des Rates vom 29. März 1994 über die Beschlussfassung des Ra­ tes mit qualifizierter Mehrheit, „Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften“, Nr. C 1 vom 1.1.1995, S. 1. Vgl.: F. Granell, The first Enlargement…, S. 35-63. 73 �������������������������������������������������������������������������������������� Zum Vergleich: Die Beitrittsverhandlungen Großbritanniens, Irlands und Dänemarks hat- ten 19 Monate gedauert, die Portugals gar 80 Monate. Zum Thema der norwegischen Verhandlungen vgl.: J. Haaland, „And Never the Twain Shall Meet“ Reflections on Norway, Europe and Integration, [in:] T. Tiilikainen, Ib D. Petersen (eds), op. cit., s. 43-63. Por. C. Archer, Norway: the One that got away, [in:] J. Redmond (ed.), op. cit., S. 147-170. 74 F. Granell, The European Union Enlargement. Negotiations with Austria, Finland, Norway and Sweden, „Journal of Common Market Studies“, Vol. 30, No. 1, March 1995, S. 123. 75 Zustimmung des Europäischen Parlament zur Erweiterung der Europäischen Union, „Bul- letin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 9. Mai 1994, Nr. 41, S. 364. 128 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland genstimmen das Bundesgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union an. Zwei Tage darauf bestätigte der Bundesrat dieses Gesetz mit 51 Stimmen bei 11 Gegenstimmen. Das Inkrafttreten hing noch vom Ergebnis eines Volksentscheids ab, der am 12. Juni 1994 durchgeführt wurde. Bei einer Beteiligung von 82,4% spra- chen sich 66,6% der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger für den Beitritt aus. Dies war die höchste Zustimmung in den Beitrittsländern dieser Erweiterungswelle. Der Volksentscheid in Finnland fand am 16. Oktober 1994 statt, 56,9% der ab- gegebenen Stimmen waren bei einer Beteiligung von 70,8% für den Beitritt. Das finni- sche Parlament sprach sich mit 97 Stimmen bei 80 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen für die Annahme des Vertrags über den Beitritt Finnlands zur Europäischen Union aus. Bundeskanzler Kohl reagierte auf die Ergebnisse der Volksentscheide in Ös- terreich und Finnland „mit großer Befriedigung“. Beide Referenden hätten gezeigt, dass das vereinte Europa eine große Anziehungskraft besitz. Die Idee der europä- ischen Integration sei „in den Herzen der Bürger der Beitrittsländer verwurzelt“ und „von einer angeblichen Europamüdigkeit der Bürger könne keine Rede sein“.76 In Schweden fand der Volksentscheid am 13. November 1994 statt. 52,3% der Bürger sprachen sich für den Beitritt aus, 46,8 % dagegen. Schon am darauf- folgenden Tag unterstrich Bundeskanzler Kohl, dies sie, ähnlich wie die Ergebnisse der Referenden in Österreich und Finnland ein klares Signal dafür, dass die Bürger dieser Länder die universellen Werte und Ideen der europäischen Integration teilen und von „keinerlei Europamüdigkeit die Rede sein könne“.77 Am 14. Dezember be- stätigte der Riksdag die Änderungen in der schwedischen Verfassung, die den Bei- tritt zur EU mit dem 1. Januar 1995 ermöglichten. Der Volksentscheid in Norwegen fand am 27.-28. November 1994 statt. Bei einer hohen Wählerbeteiligung von 88,8% stimmten 52,2% der Bürger gegen den Beitrittsvertrag. Zum zweiten Mal lehnte somit Norwegen die Mitgliedschaft in der EG/EU ab.78 Der erwartete Domino-Effekt nach den erfolgreichen Volksent- scheiden in Österreich, Finnland und Schweden bleib aus. Die Norweger reagierten mit Reserve auf den Beitritt zur durch den Vertrag von Maastricht reformierten In-

76 Erklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohl zum Ausgang des Referendums über den Bei­ tritt zur Europäischen Union in Finnland, Bonn den 17. Oktober 1994, „Bulletin des Presse- und In- formationsamtes der Bundesregierung“ vom 19. Oktober 1994, Nr. 98, S. 908. 77 Erklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohl zum Ausgang des Referendums über den Bei­ tritt zur Europäischen Union in Schweden, Bonn den 14. November 1994, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 25. November 1994, Nr. 109, S. 1000. 78 Über die Skepsis der Norweger gegenüber des EU-Beitritts vgl: I. Sogner, C. Archer, Nor­ way and Europe: 1972 and Now, „Journal of Common Market Studies“, Vol. 33, No. 3, September 1995, S. 381-410; S. Konopacki, Norwegia na drodze do członkostwa w UE /Norwegen auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft/, „Sprawy Międzynarodowe“ 2000, Nr. 2, S. 125-130; K. Nowicka, Stosunki Unia Europejska-Norwegia /Die Beziehungen zwischen EU und Norwegen/, „Przegląd Europejski“ 2003, Nr. 1, S. 159-185; K. Hansen Bundt, Norwegia mówi „Nie!“. �����������������������������Źródła sprzeciwu wobec człon­ kostwa w Unii Europejskiej / Norwegen sagt Nein. Die��������������������������������������������� Quellen des Widerstands gegen die EU-Mit­ gliedschaft/, Instytut Spraw Publicznych, Warszawa 2000. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 129 tegrationsstruktur. Helmut Kohl nahm das Ergebnis „mit Bedauern“ auf. Die Bun- desregierung war von Anfang an der Ansicht gewesen, dass der Beitritt Norwegens einen Gewinn für beide Seiten bedeutet hätte. Am 29. November äußerte der Kanzler in einer Presseerklärung, das Deutschland den souveränen Willen des norwegischen Volkes respektiere, und unterstrich, das trotz des Ergebnisses des Volksentscheids die Türen zur Europäischen Union für Norwegen geöffnet blieben.79 Norwegen blieb bei dem im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums erhaltenen gegenseitigen Nutzen. Gegen Ende der neunziger Jahre ging ca. 80% des norwegischen Exports auf den EU-Markt- Gleichzeitig stammte 70% des nor- wegischen Imports aus dem Europäischen Wirtschaftsraum. Im Jahr 2005 waren um die 80% des Exports und 65% des Imports mit der EU verbunden. Im Jahr 2007 waren die wichtigsten Handelspartner Großbritannien, Deutschland und Schwe- den. Der Handelsaustauch mit Deutschland machte 12,3% des Exports und 3,5% des Imports aus.80 Die engen Beziehungen zu den übrigen skandinavischen Staaten bewegen Norwegen zu einer Festigung seiner Beziehungen zur Union. 1997 wurde der Beitritt zur Kooperation im Rahmen des Schengener Abkommens beschlossen.81 Deutschland ratifizierte den Vertrag über den Beitritt Österreichs, Finnlands, Norwegens und Schwedens zur Europäischen Union am 2. September1994.82 Nach der Ratifizierung durch alle Mitglieds- und Beitrittsstaaten wurde er als Deposit der italienischen Regierung hinterlegt. Am 1. Januar trat er in Kraft.83 Am 16. Juli 2009 beschloss auch Island aus wirtschaftlichen Gründen ein Bei- trittsgesuch einzureichen. Die globale Finanzkrise hatte vor allem das isländische

79 Erklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohl zum Ausgang des Referendums über den Bei­ tritt zur Europäischen Union in Norwegen, Bonn den 29. November 1994, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 30. November 1994, Nr. 111, S. 1020. 80 CIA, The Word Fact Book. Norway, Quelle: https://www.cia.gov/library/ publications/the- world-factbook/geos/no.html, (Märzc 2008). 81 Vgl. Agreement concluded by the Council of the European Union and the Republic of Ice­ land and the Kingdom of Norway concerning the������������������������������������������������������ latter’s association with the implementation, appli­ cation and development of the Schengen acquis - Final Act, „Official Journal“, L 176, 10/07/1999, s. 36-62, Quelle: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=CELEX:2199“9A0710(02 ):EN:HTML, (März 2008). 82 Gesetz zu dem Vertrag vom 24. Juni 1994 über den Beitritt des Königreichs Norwegen, der Republik Osterreich, der Republik Finnland und Königreichs Schweden zur Europäischen Union vom 2.09.1994, „Bundesgesetzblatt“ 1994, II, S. 2022. 83 Beeitrittsdokumete vgl.: Vertrag über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands, des Königreichs Norwegen und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zur Eu­ ropäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Europäischen Atomgemeinschaft, [w:] J. Plaňavová- Latanowicz (Hrsg.), op. cit., S. 35-37. Die Grundbedingungen für den Beitritt Österreichs, Schwe- dens und Finnlands sowie die Änderungen in den Gründungsverträgen wurden in der Beitrittsakte bestimmt. Im Zusammenhang mit der Verweigerung des Beitritts Norwegens durch einen Volksent- scheid, wurden 36 Artikel, vier Anlagen und ein Protokoll aus der Beitritsakte gestrichen. Vgl.: Akte über die Bedingungen des Beitritts der republik Österreich, der Republik Finnland und des König­ reichs Schweden zu den Gründungsverträgen der Europäischen Union [in:] Ebd., S. 38-84. 130 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland Bankwesen mit voller Härte getroffen. Die Banken gingen aufgrund ihrer Über- schuldung und des Kurseinbruchs der isländischen Krone bankrott. Um die Krone zu stabilisieren, die Fiskalpolitik zu konsolidieren und den Bankensektor zu re- strukturieren, musste sich Island beim Internationalen Währungsfonds verschulden. Der Gesamtbetrag des Kredits beläuft sich auf 4,75 Mrd.USD. Die in Reykjavik seit April 2009 regierende Sozialdemokratie erkannte die Chance zur Rettung der islän- dischen Wirtschaft in der Europäischen Union. Der Beschluss über die Einreichung des Beitrittsgesuchs stieß bei der Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel auf große Befriedigung – trotz kritischer Anmerkungen einiger Politiker der CSU. Die traditionellerweise nahen Beziehungen der EU mit Island im Rahmen des Euro- päischen Wirtschaftsraums bewirkten, dass die Europäische Kommission relativ bald – schon am 24. Februar 2010 – in einer speziellen Stellungnahme (Avis) ihre Emp- fehlung für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen erteilte.84 Obwohl Island die Ko- penhagen-Kriterien erfüllt, können diese Verhandlungen sich als langwierig erweisen in Anbetracht der Tatsache, dass das Land im Augenblick nicht den wirtschaftlichen Kriterien genügt und einen Acquis in Bereichen, die nicht vom Europäischen Wirt- schaftsraum abgedeckt werden, annehmen muss. Schwierige Probleme könnten Fra- gen des Fischfangs, der Landwirtschaft und der Justiz sein. Recht rätselhaft stellt sich auch die Zustimmung der isländischen Gesellschaft zur europäischen Integration dar. Derzeit gibt es genau so viele Gegner wie Befürworter, ähnlich wie es in Norwegen der Fall war und ist.85 Dennoch geht die isländische Regierung optimistisch davon aus, dass der EU-Beitritt des Landes im Jahr 20102 erfolgen wird. Seitens der Union ist bislang noch keine eindeutige Deklaration im Zusammenhang mit diesem Datum gefallen. Dennoch lässt sich der Brüsseler Gipfel des europäischen Rats vom 17. Juni 2010, auf dem die Staats- und Regierungschefs ihre Empfehlung für die Eröffnung von Beitrittsgesprächen erteilten, als Erfolg Islands werten.

5. Schlussfolgerungen

Die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation unterhielten von Anfang an sehr enge Kontakte mit den Europäischen Gemeinschaften. Die EFTA ist und war ein wichtiger Partner auf den Weltmärkten – nicht nur für die EU, sondern auch für die USA, Japan und China. Die Wirtschaftskraft der EFTA-Staaten und die hohen Umsätze im Außenhandel sprachen für die potenziellen Vorteile eines erleichterten Zugangs zu diesen Märkten und der Einbindung dieser Staaten an den gemeinsamen 84 European Commission, Communication form the Commission to the European Palia­ ment and the Council. Comission Opinin on Iceland’s application for membership of the European Union, Brüssel, 24. Februar 2010 COM (2010) 62, Quelle: http://ec.europa.eu/enragement/pdf/key_ documents/2010/is_opinion_en.pdf (März 2010) 85 A. Szymański, Kwestia członkostwa Islandii w Unii Europejskiej /Die Frage der Mitglied­ schaft islands in der Europäischen Union/, „Biuletyn“ Nr. 40 (648), 10. März 2010, PISM, Quelle: http://www.pism.pl/biuletyn/files/ 20100310_648.pdf, (März 2010). Schlussfolgerungen 131 europäischen Markt. Es handelt sich um Staaten, die schon immer wirtschaftlich gut mit der EG/EU integriert waren. Ein weiteres wichtiges Argument für einen Beitritt der EFTA-Staaten war ihr politischer Status. Bei den EFTA-Staaten handelt es sich um stabile Demokratien, reiche, eher große Länder, die mit ihren Nachbarn eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Wertevorstellungen teilen, dies sich für die Menschenrechte, politischen Pluralismus und Marktwirtschaft stark machen. Sie sind reich genug, um als Netto- zahler zum Unionshaushalt beizutragen. In den neunziger Jahren subventionierten sie den Agrarsektor sogar noch stärker als die EU. Dies kollidierte mit dem damali- gen Trend in der Europäischen Union, die eine Reform der Gemeinsamen Agrarpoli- tik anstrebte, was nichtsdestoweniger eine neue Perspektive im Kontext der weiteren Erweiterungen um die Länder Mitteleuropas eröffnete. In Schweden und Finnland herrschten ausgesprochen hohe Standards in den Bereichen Umweltschutz und So- zialpolitik. Ihre Erfahrungen können einen deutlichen Impuls zur Stärkung dieser Bereiche innerhalb der Union liefern. Für die Bundesrepublik, die ebenfalls hohe Umweltnormen vertritt, ermöglichte die Aufnahme der EFTA-Staaten ein gemeinsa- mes Eintreten für ökologische Lösungen. Wenn man die EU als „Club der westeuro- päischen Demokratien“ betrachtet, hätte die Abwesenheit der EFTA-Staaten „etwas Anomales“ an sich.86 Die Aufnahme der skandinavischen Länder und Österreichs in die Europäische Union hat keine besonderen institutionellen Reformen der Unionsinstitutionen nach sich gezogen und somit auch keine Störungen des Integrationsprozesses verursacht. Die EFTA-Staaten waren gut auf die Mitgliedschaft vorbereitet, ihre wirtschaftliche und politische Stabilität war ein Gewinn für Europa und stärkte die Position der EU auf den Weltmärkten. Deshalb stieß dieser Prozess der EU-Erweiterung in der Bun- desrepublik auch nicht auf Kritik. Sowohl die Regierungskoalition aus Christdemo- kraten und Liberalen als auch die parlamentarische Opposition erteilten dem Prozess ihre Zustimmung und Unterstützung. Die EU-Erweiterung um die EFTA-Staaten entsprach den Zielen der deutschen Außenpolitik. Für die Bundesregierung schlos- sen sich Vertiefung der Union und ihre Erweiterung um die EFTA-Staaten nicht aus: „Erweiterung und Vertiefung zielen in dieselbe Richtung – zur Integration, sei es der Staaten innerhalb unserer Gemeinschaft oder der politischen Ebenen im Prozess der Vergemeinschaftlichung oder auch der engen internationalen Zusammenarbeit (…) Wir [die Bundesregierung – A.Z.] gehen davon aus, das die Erweiterung neue Impulse gibt für eine weiter Integration.“87 In Deutschland erwartete man eine Wie- derholung der bisherigen Erfolge und der wirtschaftlichen Beschleunigung, zu denen es in der Vergangenheit nach der Süderweiterung in den achtziger Jahren (Griechen- land, Portugal, Spanien) gekommen war. Unmittelbar nach dem Beitritt dieser Staa- ten hatte eine spürbare Intensivierung der Vertiefung der Integration stattgefunden,

86 J. Redmond, Introduction, [in] idem (ed.), op. cit., S. 4. 87 Rede von Staatsministerin im Auswärtigen Amt Ursula Seiler-Albring…, S. 1131. 132 Genscher in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland was seinen Ausdruck im Genscher-Colombo-Plan (1981)88, der Einheitlichen Euro­ päischen Akte (1986), dem Vertrag von Maastricht (1992) fand. Mit Hoffnung erwar- tete man also nach der Aufnahme der EFTA-Staaten neue Maßnahmen für eine Fes- tigung der Einheit des Kontinents.89 Die Bilanz der deutschen Haltung gegenüber der zweiten Norderweiterung lässt sich in ein paar Punkten zusammenfassen: • Die EG/EU ist kein „geschlossener Club“ der westeuropäischen Staaten. Die Erweiterung um die skandinavischen Staaten und Österreich war eine Etappe zur Einigung Europas. • Deutschland unterstützte die EFTA-Staaten aktiv bei den Vertragsver- handlungen im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums. • Die Bundesrepublik unterstützte die EFTA-Staaten nicht minder konse- quent bei ihren Bemühungen um Beitritt zu EG/EU. • Bundesaußenminister Klaus Kinkel trug durch sein persönliches Engage- ment bei den Beitrittsverhandlungen zu ihrem fristgerechten Abschluss derselben bei. • Die Bundesrepublik verband den Prozess der Gestaltung der Europäi- schen Union (Vertiefung der Integration) mit der Erweiterung um neue Mitglieder. • Die Aufnahme der EFTA-Staaten stellte keine „finanzielle Belastung für die Union dar, da es sich um Nettozahler in den Unionshaushalt han- delt, was eine gute Vorbereitung auf die Osterweiterung ermöglichte.

88 Zum Genscher-Colombo-Plan vgl.: P. Neville-Jones, The Genscher-Colombo Proposals on European Union, „Common Market Law Review“ 1983, Vol. 20, S. 657-699. 89 Vgl.: Rede von Staatsministerin im Auswärtigen Amt Ursula Seiler-Albring…, S. 1131-1132. 133

KAPITEL IV

Die Osterweiterung der Europäischen Union

1. Die Etappe der Initiierung

1.1. Handelsabkommen und die Normalisierung der politischen Beziehungen

In der Zeit der europäischen Teilung bestanden praktisch keine Beziehungen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und den Staaten Mittel- und Osteuropas.1 Erst im Juni 1988 wurde in Luxemburg eine gemeinsame Erklärung über die Zusam- menarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe unterzeichnet.2 Diese Erklärung war ausgesprochen allgemein gehal- ten, besaß aber dennoch eine erhebliche politische Bedeutung. Die RWG erkannte darin offiziell die Europäische Gemeinschaft an und diese öffnete sich den Weg zur Aufnah- me von Beziehungen bzw. ihrer Normalisierung mit den einzelnen Staaten des Ost- blocks. Der erste Staat, mit dem ein Kooperations- und Handelsabkommen geschlossen wurde, war Ungarn; dies geschah am 26. September 1988. Das Abkommen sah einen schrittweisen Abbau der Kontingentbeschränkungen für den Import von Konsumgü- tern mit Ausnahme von Agrarerzeugnissen, Textilien und Stahl sowie eine Verbesse- rung der Zusammenarbeit in verschiedenen Wirtschaftsbereichen vor. Am 19. Septem- ber 1989 wurde ein Kooperations- und Handelsabkommen mit Polen unterzeichnet. Ein Handelsabkommen mit der Tschechoslowakei wurde am 19. Dezember 1988 ge- schlossen und am 7. Mai 1990 durch ein günstigeres ersetzt. Analoge Kooperations- und Handelsabkommen wurden am 8. Mai 1990 mit Bulgarien und am 22. Oktober mit Rumänien geschlossen. Sie sahen eine Liberalisierung des Handels mit Industrie- und Agrargütern (mit Ausnahme von Stahlerzeugnissen) in einem Zeitraum von fünf Jahren vor.3 Ab 1. Januar wurde der zollfreie Warenverkehr in bestimmten Kontin- 1 Eine Ausnahme stellte das von Rumänien im Juli 1980 unterzeichnete Abkommen über den Handel mit Industriegütern dar. 2 Joint Declaration on the establishment of official relations between the European Econo­ mic Community and Council for Mutual Economic Assistance, 22 June 1988, Luxembourg, „Official Journal of the European Communities“ 157/35, 24.6.88, Quelle: http://aei.pitt.edu/ 1691/01/joint_de- claration_east_bloc.pdf, (Novemebr 2007). 3 Zob. Annotated summary of agreements linking the Communities with non-member coun­ 134 Jenseits der großen Politik genten (mit Ausnahme von Textilien, Stahl und Kohle) auf Bulgarien, die Tschecho- slowakei, Polen, Rumänien und Ungarn ausgedehnt. Mit den baltischen Republiken wurden am 11. Mai 1992 Kooperations- und Handelsabkommen für einen Zeitraum von 10 Jahren unterzeichnet und in der Folge durch Freihandelsabkommen ersetzt, die am 1. Januar 1995 in Kraft traten. Am 5. April 1993 wurde ein Handelsabkommen mit Slowenien unterzeichnet. Alle Handelsverträge sahen die Möglichkeit einer Asso- ziierung der mitteleuropäischen Staaten mit der EG vor. Die Europäischen Gemeinschaften und später die Europäische Union streb- ten durch die Intensivierung ihrer Beziehungen zu den Ländern Mitteleuropas nach Umsetzung ihrer grundlegenden politischen Ziele: zum ersten – der Konfliktlösung und Gewährleistung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität in diesen Staaten, um dadurch die eigene Sicherheit zu festigen, zum zweiten – der Vorbe- reitung der Staaten dieser Region auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit bzw. die zukünftige Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach sich im siebten Punkt seines Zehn-Punk­ te-Programms zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas (28. No- vember 1989) für eine Öffnung der EG auf die Staaten Mittel- und Osteuropas aus: „Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung. Wir wollen und müssen sie weiter stärken. Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt gefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformorientierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzugehen.“4 Dieses Programm lässt sich als Deklaration des Kanzlers verstehen, selbst die Rolle des Fürsprechers und Anwalts (in Brüssel) für seine Partner aus dem Osten zu übernehmen, eines Anwalts, der es der Europäi- schen Union nicht gestatten wird, sich dem Ostteil des Kontinents gegenüber zu ver- schließen. Indem er die Vision der neuen Rolle Deutschlands in Europa skizzierte, besänftigte Kohl die Gegner der deutschen Wiedervereinigung. Für ihn war die Ei- nigung Europas nicht nur ein rationales Projekt auf der Basis einer Kosten-Nutzen- Rechnung, sondern eine „historische Chance“ zur Aufrechterhaltung des Friedens auf dem Kontinent und der deutschen Position in der neuen europäischen Ordnung.5 tries European Commission, Directorate-General for External Relations, Brussel 1993, S. 95; A. Podraza, Stosunki polityczne i gospodarcze Wspólnot Europejskich z państwami Europy Środkowej i Wschodniej /Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften mit den Staaten Mittel- und Osteuropas/, Redakcja Wydawnictw Katolickiego Uniwersytetu Lubels- kiego, Lublin 1996, S. 160–186. 4 Rede des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag am 28.11.1989 zum Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas, Quelle: http:// www.bundestag.de/geschichte/parlhist/dokumente/dok09.html, (Januar 2007). 5 W. Weidenfeld, Die Wende, der Wechsel und Europa, Europapolitik des vereinten Deutsch­ land, [in:] A. Siedschlag (Hrsg.), Realistische Perspektiven internationaler Politik, Festschrift für Karl-Gottfried Kindermann zum 75. Geburtstag, Leske+Budrich, Opladen 2001, S. 134. Vgl..: L. Rühl, Deutschland als europäische Macht. Nationale Interessen und internationale Verantwor­ tung, Bouvier Verlag, Bonn 1996, S. 128–129; idem, Deutschland und das erweiterte Europa, „Die Die Etappe der Initiierung 135 Am 30. Januar 1991 unterstrich er in einer Rede vor dem Bundestag: „Europa ist die Zukunft.“ Deshalb betrachtete Deutschland die Einigung des Kontinents als absolute Priorität. Die EG musste sich den europäischen Staaten, die nicht zu ihr gehörten, öffnen: „Das bedeutet nicht, dass sie von heute auf morgen alle Länder Europas aufnehmen könnte. Aber es bedeutet ebenso wenig, dass wir europäische Nachbarn in irgendeiner Weise ausgrenzen wollen.“ Kohl machte deutlich, dass die Staaten Ost-, Mittel- und Südeuropas „eine europäische Perspektive“ benötigen und Deutschland zusammen mit anderen Mitgliedern zur Unterstützung der Refor- men in dieser Region beitragen und dem geplanten Abschluss von Assoziierungsab- kommen wohlwollend gegenüberstehen wird.6 Der Europäische Rat fasste am 8.-9. Dezember 1989 auf seiner Sitzung in Straßburg – mit voller Unterstützung des Bundeskanzlers – einen Beschluss über die Unterstützung der Wirtschaftsreformen und die Einrichtung des PHARE- Programms (Poland-Hungary Assistance for Restructuring of their Economies) der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Das PHARE-Pro- gramm wurde zur Koordinierung der nicht rückzahlbaren Hilfeleistungen an Polen und Ungarn aus der Europäischen Gemeinschaft und der Gruppe 24 ins Leben geru- fen.7 Die EU-Mitglieder signalisierten zudem die Möglichkeit der Unterzeichnung von Assoziierungsverträgen mit den auf dem Weg der Umsetzung wirtschaftlicher und politischer Reformen am weitesten fortgeschrittenen Staaten. Der Europäische Rat beschloss auf seiner Sitzung in Dublin endgültig den Abschluss dieser Verträge, was die volle Zustimmung der Bundesrepublik fand.8 In den Beziehungen der Bundesrepublik zu den mitteleuropäischen Staaten gestalteten sich in den Jahren 1989-1992 zwei Hauptprobleme, die sich auf Inhalt und Intensität (und auch die Atmosphäre) der gegenseitigen Kontakte auswirken sollten: zum einen die Frage der Unterzeichnung des Vertrags über die endgülti- ge Anerkennung der polnisch-deutschen und tschechisch-deutschen Grenze durch die Bundesrepublik, zum zweiten die Frage der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Definierung ihres Status im zukünftigen Europa. Am Beispiel der Beziehungen mit Polen in den neunziger Jahren lässt sich gut die Verwandlung der Bundesrepublik zum wichtigsten Partner der mitteleuropä- ischen Staaten in Europa nachvollziehen.

Politische Meinung“, Jg. 39, Nr. 31, Dezember 1994, S. 15–20; 6 Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 1991. Unsere Verantwortung für die Freiheit. Deutschlands Einheit gestalten – Die Einheit Europas vollenden – Dem Frieden der Welt dienen, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundes- regierung“ vom 31. Januar 1991, Nr 11, S. 72–73. 7 ����������������������������������������������������������������������������������Das Program umfasste außer Polen und Ungarnim Jahr 1990 auch Bulgarien, die Tsche- choslowakei, die DDR (zog sich im Oktober 1990 zurück); später kamen hinzu: 1991 Jugoslawien und Rumänien sowie 1992 Slowenien, Albanien und die drei baltischen republiken Litauen, Lettland und Estland. 8 Vgl.: A. Podraza, Stosunki polityczne… /Die politischen Beziehungen…/, S. 280–281. 136 Jenseits der großen Politik Am 14. November 1990 unterzeichneten die Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski in Warschau den Vertrag zwischen der Bun­ desrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwi­ schen ihnen bestehenden Grenze (Deutsch-polnischer Grenzvertrag). Kurz darauf wurde ein Abkommen über den visumsfreien Besucherverkehr zwischen Polen und der Bundesrepublik geschlossen, der am 8. April 1991 in Kraft trat. Die Aufhe- bung der Visumspflicht im Grenzverkehr mit Deutschland bedeutete für die Polen die Öffnung eines „Einfahrtstors“ nach Westeuropa; sie symbolisierte die Rückkehr Polens nach Europa.9 Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte bei seinem offiziellen Staatsbesuch noch vor Unterzeichnung des Vertrags (2.-5. Mai 1990): „Wenn die Polen ein wachsendes wirtschaftliches Interesse an West-Europa haben, was zu unserer Freude der Fall ist, dann empfiehlt sich im beiderseitigen Interesse ein Weg nicht über die Deutschen hinweg, sondern zusammen mit ihnen. Die Hin- wendung Polens, dieser ureuropäischen Nation, zur politischen und gesellschaftli- chen, zur wirtschaftlichen und geistigen neuen Realität Europa ist ein wahrer Ge- winn für alle. Das empfinden wir Deutschen zutiefst, und wir können und wir wollen dabei helfen.“10 Die Sicht auf Deutschland als einen Partner und Fürsprecher in Europa wuchs besonders nach der Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepu­ blik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit am 17. Juni 1991. Deutschland verpflichtete sich darin zur Unter- stützung der polnischen Aspirationen auf Mitgliedschaft in den europäischen Struk- turen. In Art. 8 steht: „1.) Die Vertragsparteien messen dem Ziel der Europäischen Einheit auf der Grundlage der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit höchste Bedeutung bei und werden sich für die Erreichung dieser Einheit einsetzen. 2.) Mit dem Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Republik Polen legen die Europäischen Gemeinschaf- ten, ihre Mitgliedstaaten und die Republik Polen die Grundlage für eine politische und wirtschaftliche Heranführung der Republik Polen an die Europäische Gemein- schaft. Die Heranführung wird von der BRD im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Kräften gefördert. 3.) Die Bundesrepublik Deutschland steht positiv zur Perspektive eines Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Gemeinschaft, sobald die Vor- aussetzung dafür gegeben sind“.11

9 Vgl.: I. Janicka, Obraz transformacji polskiej i relacji polsko-niemieckich w prasie nie­ mieckiej w latach 1989/1990–1998 /Das Bild der polnischen Transformation und die polnisch-deut­ schen Beziehungen in der deutschen Presse in den Jahren 1989/1990-1998/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2002, S. 39, 121; D. Korger, Die Polenpolitik der deutschen Bundesregierung von 1982-1991, Europa Union Verlag, Bonn 1993, S. 111–113. 10 Staatsbesuch des Bundespräsidenten in der Republik Polen vom 2. bis 5. Mai 1990. An­ sprachen im Hotel Victoria in Warschau, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesre- gierung“ vom 9. Mai 1990, Nr. 56, S. 441. 11 Zit. nach: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polenk Die Etappe der Initiierung 137 Einen Artikel mit ähnlichem Inhalt enthielten auch die Verträge mit Ungarn vom 6. Februar 1992 (Art. 3) und der Tschechoslowakei vom 27. Februar 1992 (Art. 10).12 Die Erweiterung der EU um die Staaten Mitteleuropas wurde zu ei- nem der Hauptziele der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik. Bun- deskanzler Kohl sprach sich explizit für diese Osterweiterung aus: „Für mich als Deutschen ist der Gedanke völlig inakzeptabel, dass die Ostgrenze Deutschlands auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union sein könnte“, erklärte Kohl im No- vember 1992 in einem Vortrag über die Einheit Europas im Oxforder St. Antony College. Dabei hob er hervor, dass den mittel- und südeuropäischen Staaten ein klare Perspektive der Mitgliedschaft zu geben sei. Als ungefähren Beitrittszeitpunkt nann- te er das Jahrhundertende. Eine eventuelle Mitgliedschaft von Staaten der ehemali- gen Sowjetunion hielt Kohl zwar nahezu für ausgeschlossen, dennoch appellierte er um eine besonders enge Kooperation mit diesen Ländern.13 Das Herangehen der Regierung Kohl an die Erweiterung war von Vorsicht geprägt. Vorrang hatte die Vertiefung der Integration der EG/EU. Dieser Stand- punkt war im Grunde genommen zurückhaltend, wenn auch in der Rhetorik von ei- ner gleichzeitigen Umsetzung der Erweiterung und der Vertiefung die Rede war. Das Prinzip „Sowohl als auch“ wurde von der deutschen Gesellschaft mit Miss- trauen aufgenommen, genauso wie von einigen Bundesministerien – vor allem dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundeslandwirtschafts- ministerium. Dies sollte sich erst 1993 mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im ehe- maligen Jugoslawien und den steigenden Ängsten vor einer Destabilisierung in der Region ändern. Erst ein Papier der CDU/CSU-Fraktion vom September 1994 verband die Frage der EU-Erweiterung mit der Vertiefung der Integration. Wolfgang Schäuble und Karl Lamers belegten darin, dass ohne eine innere Festi- gung der EU, die Bewältigung der Herausforderungen infolge der Osterweiterung außerordentlich schwierig sein werde.“

über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991, Quelle: http://www. auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/DeutschlandInEuropa/BilateraleBeziehungen/Polen/Vertraege/ Nachbarschaftsvertrag.pdf (JUni 2008). 12 Vgl.: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über freundliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa, „Deutschland Archiv“25/1992, S. 767– 774; Vertrag zwischen Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föde­ rativen Republik über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit, Ebd., s. 774–781. Vgl.: M. Kosman, Zjednoczone Niemcy w procesie integracji europejskiej (1990–2002), Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 2004, S. 123–124. 13 In der europäischen Einigung liegt unsere nationale Zukunft. Ansprache des Bundes­ kanzler in Oxford am 11. November 1992, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bun- desregierung“ vom 25. November 1992, Nr. 125, S. 1143. Vgl. auch: Perspektiven Deutschlands im erweiterten Europa. Rede des Bundeskanzlers in Schwäbisch Hall am 4. Mai 1994, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 10. Mai 1994, Nr. 42, S. 367. Vgl.: Erklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohl vor der Presse in Warschau am 7. Juli 1995, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 14. Juli 1995, Nr. 58, S. 575–576. 138 Jenseits der großen Politik 2. Die Etappe der Assoziierung

2.1. Assoziierungsabkommen

Der Abschluss eines Assoziierungsabkommens stellte die „erste Zäsur“ auf dem Weg der Staaten Mitteleuropas zur Mitgliedschaft in den Europäischen Ge- meinschaften dar. In diesen Verträgen wurde erstmals gemeinsam die Möglichkeit ei- ner eventuellen Erweiterung angekündigt. Malta unterzeichnete seinen ersten Asso- ziierungsvertrag mit den Europäischen Gemeinschaften schon am 5. Dezember 1970; dieser Vertrag wurde später verlängert. Zypern unterzeichnete ein Assoziierungsab- kommen am 19. Dezember 1972 (inkraftgetreten am 1. Juni 1973). Jedoch wurde seine vollständige Umsetzung durch die türkische Invasion von 1974 aufgehalten. Die Beziehungen EG-Zypern wurden für einige Zeit eingefroren, denn der Vertrag betraf die ganze Insel. Am 22. Mai 1987 wurde ein Protokoll zum Assoziierungsver- trag von 1972 unterzeichnet, in dem die Bedingungen für die zweite Etappe bestimmt wurden, der Weg zur Zollunion für ganz Zypern innerhalb von fünfzehn Jahren.14 Auf der Tagung des Europarats im Dezember 1989 in Straßburg wurde offi- ziell die Möglichkeit der Erarbeitung von Assoziierungsabkommen mit den Staaten Mitteleuropas signalisiert. Den EU-Mitgliedern war vor allem an der Kreierung ei- ner neuen Form der Kooperation mit dem Ziel der Unterstützung der Transformati- onsprozesse in der Region gelegen. Am16. Dezember 1991 wurden die europäischen Abkommen über die Assoziierung Polens15, der Tschechoslowakei und Ungarns mit den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten unterzeichnet. Der Bundestag ratifizierte diese Verträge am 18. Juni 1993. Sie traten im Bezug auf Polen und Ungarn am 1. Februar 1994 ins Leben. Nach dem Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei wurde der Assoziierungsvertrag neu verhandelt. Separate Ver- träge mit Tschechien und der Slowakei wurden am 4. Oktober 1993 unterzeichnet. Sie traten am 1. Februar 1995 in Kraft. In der zweiten Hälfte des Jahres 1993 begann Deutschland, sich für die Un- terzeichnung von Europaabkommen mit den baltischen Staaten, Estland, Litauen und Lettland einzusetzen. Anfang März 1994 erklärte Bundesaußenminister Klaus Kinkel die Unterstützung Deutschlands für die Bemühungen dieser Staaten um Asso- ziierungsverträge und Vollmitgliedschaft in der EU. Die Bundesrepublik werde alle Maßnahmen unternehmen, damit diese Staaten den ihnen zustehenden Platz in Eu- ropa einnehmen können. Kinkel machte deutlich, dass die Bundesrepublik die Rolle

14 Vgl.: H. Jenkis, Der Beitritt Zyperns zur Europäischen Union, [in:] S. Paraskewopoulos (Hrsg.), Die Osterweiterung der Europäischen Union: Chancen und Perspektiven, Duncker & Hum- bolt, Berlin 2000, S. 256–258. 15 �����������������������������������������������������������������������������������Vgl. eine Analyse dieses Abkommens und seiner Implementierung durch Polen: A. Doli- wa-Klepacka, Z. M. Doliwa Klepacki, Członkostwo Unii Europejskiej /Die Mitgliedschaft in der Eu­ ropäischen Union/, Temida 2, Białystok 2008, S. 44–92. Die Etappe der Assoziierung 139 des Fürsprechers und Anwalts dieser Staaten im Annäherungsprozess an die EU ein- nehmen werde. Die Bundesregierung spreche sich für den Abschluss von Europaab- kommen noch in diesem Jahr aus. Die Europäische Union „bliebe unvollkommen“, wenn diese drei Staaten nicht Mitglied würden.16 Die Assoziierungsabkommen mit Estland, Litauen und Lettland wurden am 12. Juni 1995 unterzeichnet. Europaabkommen wurden auch mit Bulgarien (8. März 1993), Rumänien (1. Februar 1993) und Slowenien (10. Juni 1996) geschlossen. Ihr Ziel war die An- näherung dieser Staaten an das sich integrierende Europa durch Förderung der politi- schen und wirtschaftlichen Beziehungen wie auch die Leistung finanzieller und tech- nischer Hilfe durch die Europäische Union.17 Die Bundesrepublik Deutschland unterstützte aktiv den Abschluss von erwei- terten Handelsabkommen mit diesen Staaten und die Ersetzung der bisherigen Verträge aus den achtziger Jahren durch Assoziierungs- (Europa-) Abkommen. Die neuen Abkom- men schufen eine Plattform für den politischen Dialog18, stimulierten den Handel, die Wirt- schaftsbeziehungen, den Wirtschaftsaustausch und die kulturelle Zusammenarbeit. Eine wichtige Regel bei den Europaabkommen war das Asymmetrie-Prin- zip. Die EU als wirtschaftlich höher entwickelter Partner öffnete ihren Markt schnel- ler für den Import aus den Staaten Mitteleuropas als umgekehrt. Eine wichtige Be- dingung, die sich aus den Europaabkommen ergab, war die Anpassung des Rechts in den mit der Wirtschaft und dem Handel verbundenen Bereichen an die Anpassung der Gesetzgebung in der Europäischen Gemeinschaft. Deutschland als dasjenige Land der Gemeinschaft, das den Kandidatenländern geografisch am nächsten lag, war sich auch am besten der finanziellen Bedürfnisse der Region bewusst. Deshalb förderte Deutschland aktiv das PHARE-Programm. Die Unterstützung der Bundesrepublik für die Intensivierung der politischen und der Handelsbeziehungen zwischen der Ge- meinschaft und der Region Mitteleuropa waren motiviert von Sicherheitserwägun- gen. Die Anbindung der Region an die Integrationsprozesse in Westeuropa galt als Garantie für politische und wirtschaftliche Stabilität vor allem für Ostdeutschland.19

16 K. Kinkel, Die Zukunft des Baltikums liegt in Europa, „Die Welt“ vom 5. März 1994. 17 Vgl.: A. Podraza, Stosunki polityczne… /Die politischen Beziehungen…./, S. 280–304; J. Wojnicki, Droga Europy Środkowej do Unii Europejskiej (Czechy, Słowacja, Słowenia i Węgry) / Der Weg Mitteleuropas in die Europäische Union (Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn)/, Wy- dawnictwo Sejmowe, Warszawa 2007, S. 68–71. Zum Europa-Abkommen mit Polen vgl.: A. Przy- browska-Klimczak, E. Skrzydło-Tefelska (Red.), Dokumenty Wspólnot Europejskich /Dokumente der Europäischen Gemeinschaften/, Lubelskie Wydawnictwo Prawnicze, Lublin 1994, S. 335–387. 18 Der politische Dialog fand statt auf ministerieller Ebene (im Assoziationsrat), mindestens einmal im Jahr, auf der Ebene der politischen Direktoren (im Assoziationsausschuss) sowie im Par- lamentarischen Assoziationsausschus (mit Beraterfunktion), über diplomatische Kanäle und anläs- slich von internationalen Begegnungen. Es fanden auch Konsultationen statt, im Fall von Polen zwi- schen dem polnischen Präsidenten und den Vorsitzenden des Rats und der Kommission. Die Tätigkeit des Assoziationsrats EU-Polen wurde offiziell am 7. März 1994 in Brüssel aufgenommen. 19 J. Miecznikowska, Chadecja niemiecka wobec integracji europejskiej w latach 1949–1998 /Die deutsche Christdemokratie gegenüber der europäischen Integration in den Jahren 1949-1998/, 140 Jenseits der großen Politik Die Europaabkommen vermerkten in der Präambel, dass das Ziel des assozi- ierten Staats die Mitgliedschaft in der EU ist und die Assoziierung nur einen Schritt auf diesem Weg darstellt. Die Mitgliedschaft wurde dabei als Ziel des assoziierten Landes und nicht der Gemeinschaft selbst bestimmt.20 Inhaltlich bezogen sich die Ab- kommen auf viele verschiedene Bereiche der Kooperation: Handel, Warenverkehr, Freizügigkeit von Arbeitnehmern, politischer Dialog, Harmonisierung der Gesetz- gebung, Umweltschutz, Transport, Energiewirtschaft, Finanzen, Kultur etc. Die Ab- kommen wurden auf unbestimmte Zeit geschlossen. Sie zielten auf die Schaffung einer Freihandelszone für Industriegüter in einer Übergangsperiode bis maximal 10 Jahren. Vorgesehen wurde auch eine Liberalisierung des Handels mit Agrargü- tern. Die EU engagierte sich für die Unterstützung der Transformationsprozesse in der Region. Unterschieden wurden drei Arten der Finanzhilfe: • nicht rückzahlbare Hilfe im Rahmen des PHARE-Programms, auch im Rahmen des neuen Finanzproramms; • Kredite der Europäischen Investmentbank; • kurzfristige Finanzhilfe in Übereinstimmung mit den Finanzinstituten und der Gruppe-24, wenn ein außerordentlicher Bedarf an Unterstützung für einzelne Stabilisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen auftritt.21 Eine Herausforderung für die EG/EU bei ihren Beziehungen zu den Ländern Mitteleuropas war die Hilfe bei ihrer Vorbereitung auf die künftige EU-Mitglied- schaft oder einer nahen Partnerschaft. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre um- fasste die Hilfe der EG vor allem die Unterstützung der Systemreformen im Wirt- schaftsbereich.22 Sie äußerte sich als Erleichterungen bei der Schuldenrückzahlung, Aufrechterhaltung der Konvertierbarkeit der Währungen, Krediterleichterungen u. a. bei der Europäischen Investmentbank und der Europäischen Bank für Wieder-

Elipsa, Warszawa 2007, S. 195–196. 20 V.M. Reyes, Reguły gry czyli o negocjacjach akcesyjnych i łączeniu się Europy /Spielre­ geln. Über die Beitritsverhandlungen und die Einigung Europas/, Wydawnictwo Naukowe Scholar, Warszawa 2000, S. 170. 21A. Podraza, Stosunki polityczne… /Die politischen Beziehungen…./, S. 297–303, Ch. Rand- zio-Plath, Die EG und Mittel- und Osteuropa. Zur Neuordnung der Beziehungen, [in:] K.-E. Schenk, H.-J. Seeler (Hrsg.), Chancen für ein größeres Europa Ost-Europa auf dem Weg in die EG. Beiträ­ ge zu einem Symposium der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg am 10./11. Oktober 1991 in deutscher und englischer Sprache, Nomos, Baden-Baden 1992, S. 93–108; B. Lippert, Möglichkeiten und Grenzen der Europaabkommen in den Mittel- und osteuropäischen Staaten, [in:] G. Clemens (Hrsg.), Die Integra­ tion der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union, LIT, Hamburg 1999, S. 77–94. 22 Beata Płonka unterscheidet in der Hilfspolitik der EU für die Staaten Mitteleuropas drei Phasen: 1) 1990–1994 – humanitäre Hilfe und Wirtschaftshilfe für die jungen Demokratien; 2) 1995– 1999 – Schulung von Kadern und Hilfe bei der Anpassung der Infrastruktur an die EU-Normen; 3) 2000–2004 – Finazhilfe für die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft. Vgl.: B. Płonka, Polityka Unii Europejskiej wobec Europy Środkowej /Die Politik der Europäischen Union gegenüber Mitteleuro­ pa/, Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 2003, S. 40–47. Vgl.: A. Podraza, Stosunki polityczne… /Die politischen Beziehungen…/, S. 305–325, Die Etappe der Assoziierung 141 aufbau und Entwicklung; Finanzierung des PHARE-Programms, technische Hilfe und humanitäre Hilfe (Lebensmittel, Medikamente). Es wird geschätzt, dass die Hil- fe der EG in Form von Subventionen vom 1. Januar 1990 bis zum 31. Dezember 1994 sich auf 13 Mrd. ECU belief, die gesamten Hilfszahlungen betrugen 33, 8 Mrd. ECU.23 In den folgenden Jahren konzentrierte sich die Hilfe der EU auf die Unter- stützung der Anpassung der Infrastruktur und Hilfe im Bereich der Harmonisierung des Rechts der assoziierten Länder an das Gemeinschaftsrecht. Unterstützt wurden auch die Umstrukturierung der Landwirtschaft, die Regionalentwicklung, die Land- wirtschaft, die Entwicklung kleinerer und mittlerer Unternehmen. Das wichtigste Hilfsinstrument war das PHARE-Programm, das nach dem Gipfel in Essen (1994) in die Heranführungsstrategie aufgenommen wurde. Auf einer Sitzung des Europäi- schen Rats am 24.-25. März 1999 in Berlin wurden die in der Agenda 2000 enthalte- nen Vorschläge der Kommission akzeptiert. Die Finanzhilfe aus den Fonds PHARE II, SAPARD (Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development) und ISPA (Instrument for Structural Policies for Pre-Accession) wurde auf die Bei- trittskandidaten übertragen. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurde versucht, die Beziehungen mit den mitteleuropäischen Staaten zu definieren. Nach der ersten Euphorie in West- europa über die Demokratisierung in Mitteleuropa kam nun die Zeit für konkrete Lö- sungen. Der Europäische Rat bestätigte am 26.-27. Juni 1992 auf seiner Sitzung in Lis- sabon den Willen zur Erteilung von Hilfe im Rahmen der Assoziierungsabkommen mit dem Ziel der Vorbereitung der mitteleuropäischen Staaten auf ihre Mitgliedschaft in der Union. Es wurde festgestellt, dass man sich dabei vor allem auf die Entwicklung der partnerschaftlichen Beziehungen im Rahmen der Europaabkommen sowie den po- litischen Dialog zwecks Festigung der Transformationsprozesse konzentrieren solle.24 Die Europaabkommen mobilisierten die Staaten Mitteleuropas zur Intensi- vierung ihrer gegenseitigen Handelsbeziehungen in der Region. Die Idee eines neuen Regionalismus ermöglichte die bessere Vorbereitung dieser Länder auf ihre eventu- elle EU-Mitgliedschaft. Dies ergab sich – wie Horst Förster bemerkt – aus dem un- terschiedlichen Tempo und der unterschiedlichen Intensität der Transformationspro- zesse in der Region, die einen entscheidenden Einfluss auf die Integration hatten. Dies verursachte vor allem eine „Renaissance des Regionalismus“ in Mitteleuropa. Das Gebiet des ehemaligen RGW differenzierte sich in eigenständige Integrations- räume unterschiedlichen Maßstabs.25 Die Integrationspolitik des Westens dagegen hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Regionalentwicklung im Osten.

23 B. Płonka, op. cit., S. 42, 24 European Council, Conclusions of the Presidency, 26–27 June 1992, Lisbon, „Bulletin of the European Communities“ 1992, No. 6, pkt 1.2. 25 H. Förster, Zur Integrationsfähigkeit der mittel- und südosteuropäischen Länder aus wirt­ schaftsgeographischer Sicht, [in:] G. Stöber (Hrsg.), Polen, Deutschland und die Osterweiterung der EU aus geographischen Perspektiven, Verlag Hansce Buchhandlung, Hannover 2002, S. 42. 142 Jenseits der großen Politik Die Staaten Mitteleuropas als „Brücken“ zur Integration mit den Euro- päischen Gemeinschaften und später der Europäischen Union machten Gebrauch von den Strukturen des „neuen Regionalismus“, also subregionalen Gruppierungen wie etwa der Visegrád-Gruppe, dem Baltischen Rat, der Mitteleuropäischen In- itiative und dem Rat der Ostseestaaten. Darüber hinaus nutzten sie andere Wege der Annäherung an Europa, wie etwa den Beitritt zum Europarat (Ungarn 1990, Polen 1991, Bulgarien 1992, Estland, Litauen, Tschechische Republik, Rumänien, Slowakei und Slowenien 1993, Lettland 1995, Kroatien 1996) und den Abschluss von Handelsabkommen mit von der EU privilegierten Staaten wie Israel, der Türkei, Marokko oder den EFTA-Staaten (die ersten derartigen Verträge schlossen am 1. Juli 1992 Tschechien, Polen und Ungarn).26 Eines der wichtigsten Abkommen zwischen de Staaten Mitteleuropas war das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen (Central European Free Trade Ag- reement – CEFTA) vom 21. Dezember 1992, das in Krakau zwischen der Republik Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn geschlossen wurde.27 Die CEFTA trat am 1. März 1993 in Kraft. Bis Ende der neunziger Jahre schlossen sich dem Abkommen Slowenien (1996), Rumänien (1997) und Bulgarien (1999) an. In den Deklarationen von Visegrád (15. Februar 1991) und Krakau (6. Oktober 1991) legten die drei Staaten des damaligen Visegrád-Dreiecks – Polen, die Tsche- choslowakei und Ungarn – ein gemeinsames Kooperationsprogramm für den „Weg zur europäischen Integration“ fest. Auch der Baltische Rat der Staaten Litauen, Lett- land und Estland erklärte wiederholt den Willen dieser Staaten zur Mitgliedschaft in der EU (und der NATO). Auf einer Sitzung der Pentagonale (einer Zwischenstufe zur Mitteleuropäi- schen Initiative) auf ministerieller Ebene am 18. Mai 1991 in Bologna wurde die Idee eines raschen Abschlusses von „Superassoziierungsabkommen“ der Staaten Mittel-

26 ��������������������������������������������������������������������������������� Bei der Unterzeichnung der Handelsabkommen der EFTA-Staaten mit den Ländern Mit- teleuropas kann man die Umsetzung der Konzeption der „konzentrischen Kreise“ von Bundesau- ßenminister Hans-Dietrich Genscher und dem Vorsitzenden der Europäischen Kommission Jacques Delors erkennen. Die Grundannahme dieser Konzeption war die Anbindung der EFTA an die Euro- päischen Gemeinschaften (integriertes Zentrum) sowie die Schaffung eines Beziehungsnetzes durch Assoziierungsabkomnmen mit dem Osten. Vgl.: L. Brittan, Europe: the Europe we need, Hamish Hilton, London 1994, S. 204. 27 Das mitteleuropäische Freihandelsabkommen CEFTA, geschlossen von der Tschechi­ schen Republik, der Republik Ungarn, der Slowakischen Republik und der Republik Polen in Krakau am 21. Dezember 1992, [in:] polnisches Gesetzblatt „Dziennik Ustaw“ 1994, nr 129, poz. 637. Vgl.: A. B. Kisiel-Łowczyc, CEFTA. Środkowoeuropejska Strefa Wolnego Handlu /Die CEFTA. Ein mit­ teleuropäisches Freihandelsabkommen/, Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, Gdańsk 1996; P. Bożyk, Porównanie poziomów rozwoju krajów CEFTA i Unii Europejskiej /Vergleich des Ent­ wicklungsniveaus in den Ländern der CEFTA und der Europäischen Union/, [in:] P. Bożyk (Hrsg.), Korzyści i zagrożenia związane z przewidywanym członkostwem krajów CEFTA w Unii Europejskiej /Nutzen und Bedrohungen im Zusammenhang mit der zu erwartenden Mitgliedschaft der CEFTA- Länder in der Europäischen Union/, Szkoła Główna Handlowa, Warszawa 2000, S. 49–58. Die Etappe der Assoziierung 143 europas mit der EG vorgebracht. Diese Gruppierung wie auch der im März 1992 gegründete Ostseerat (Council of the Baltic Sea States, CBSS) nahmen eine Zu- sammenarbeit mit der EG auf, wobei ein Vertreter der Europäischen Kommission auf den Sitzungen der unterschiedlichen Organe dieser Gruppierungen teilnahm. An beiden Strukturen der internationalen Kooperation waren auch Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften beteiligt: an der Mitteleuropäischen Initiative Ita- lien und ab 1995 auch Österreich, am Ostseerat Deutschland, Dänemark, Schweden und Finnland. Dies erleichterte natürlich den mitteleuropäischen Staaten die Annä- herung an die EG/EU.28 Die Visegrád-Gruppe bemühte sich um Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften und erwartete ein klares Zeichen bezüglich einer eventuellen Mitgliedschaft. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei postulierten die Festle- gung des Datums für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen auf das Jahr 1996 und für den Beitritt auf das Jahr 2000.29 Auf dem Gipfel von Edinburgh (11.-12. Dezember 1992) nahmen die Staats- und Regierungschefs der EG einen Rap- port der Kommission an, der sich zum Teil auf den Appell der Visegrád-Grup- pe bezog. In diesem Rapport unter dem Titel In Richtung einer näheren Assozi­ ierung mit den Staaten Mittel- und Osteuropas wurden die allgemeinen Kriterien für die Aufnahme festgelegt.30 Auf dem nächsten Gipfel in Kopenhagen am 21.-23. Juni 1993 wurden diese Kriterien ergänzt um die Bedingung der Unterzeichnung von Assoziierungsabkommen vor der Mitgliedschaft. Auf derselben Sitzung wurden die Bedingungen definiert, die von den Neumitgliedern zu erfüllen sind: „Die Mit- gliedschaft erfordert, dass der Beitrittsanwärter eine Stabilität seiner Institutionen gewonnen hat, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde, Minderhei- tenschutz und Marktwirtschaft zulässt, wie auch die Fähigkeit zum Bestehen unter 28 R. Zięba, Instytucjonalizacja bezpieczeństwa europejskiego /Die Institutionalisierung der europäischen Sicherheit/, wyd. IV, Scholar, Warszawa 2004, s. 260–263. Vgl.: A. Cottey (ed.), Subregional Cooperation in the New Europe: Building Security, Prosperity and Solidarity from the Barents to the Black Sea, Macmillan, Basingstoke 1999, 29 Vgl.: Memorandum polityczne rządów Czeskiej i Słowackiej Republiki Federacyjnej, Re­ publiki Węgierskiej i Rzeczypospolitej Polskiej w sprawie ściślejszej integracji ze Wspólnotami eu­ ropejskimi i perspektywa przystąpienia, Budapeszt, Praga, Warszawa, 11 września 1992 r. /Politi­ sches Memorandum der Regierungen der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, der Republik Ungarn und der Republik Polen über die eingere Integration mit den Europäischen Gemeinschaften und die Beitritsperspektiven. Budapest, Prag, Warscha. 11. September 1992, „Zbiór Dokumentów“ 1992, nr 3, S. 178. Vgl. dazu eingehender: P. Deszczyński, M. Szczepaniak, Grupa Wyszehradzka – współpraca polityczna i gospodarcza Die ������Visegrád��������������������������������-Gruppe – politische Und wirt­ schaftliche Zusammenarbeit/, Wydawnictwo Adam Marszałek, Toruń 1995; V. Bunce, The Visegrad Group: Regional Cooperation and European Integration in Post-Communist Europe, [in] P.J. Kat- zenstein (ed.), Mitteleuropa. Between Europe and Germany, Berghahn Books, Providence/Oxford 1997, S. 240–284. 30 European Community, Towards a closer association with the countries of Central and Ea­ stern Europe. Report by the Commission to the European Council, Edinburgh, 11–12 December 1992, Brussels, 02.12.1992, SEC(92) 2301 final. 144 Jenseits der großen Politik dem Druck des Wettbewerbs und der Marktkräfte im Rahmen der Union. Die Mit- gliedschaft impliziert die Fähigkeit des Anwärters zur Übernahme der Pflichten der Mitgliedschaft, darunter die Ziele der politischen, ökonomischen und monetären Union.“31 Der Europäische Rat erkannte erstmals offiziell das Recht der assoziierten Länder Mitteleuropas auf Bemühungen um die Mitgliedschaft in der EU an. Nicht näher bestimmt wurde das mögliche Beitrittsdatum, dagegen wurde angekündigt, dass die Beitrittsverhandlungen nicht früher beginnen werden als sechs Monate nach Abschluss der nächsten Regierungskonferenz, die für die 1996/1997 geplant war.32 Eine überaus wichtige Initiative war der Pakt für Stabilität in Europa, der im April 1993 von dem französischen Premierminister Balladur angeregt wurde. Diese Initiative bekam die Unterstützung der Bundesrepublik und wurde am 12. De- zember 1993 zur ersten gemeinsamen Initiative der EU. Der Stabilitätspakt wurde auf der Konferenz der EU in Paris am 20.-21. März 1995 unterzeichnet. Die Kontrol- le über seine Einhaltung übte die OSZE aus. Die Union verpflichtete sich zur finan- ziellen Unterstützung des Paktes, zu dem politische Erklärungen und um die hun- dert bilaterale Abkommen gehörten. Aus dem PHARE-Fonds wurden für dieses Ziel 200 Mio. ECU aufgewandt. Die Hauptaufgabe des Pakts war die Ermunterung der ehemaligen sozialistischen Staaten zur Aufnahme von bilateralen Abkommen über die Anerkennung der Grenzen und die Anknüpfung gutnachbarschaftlicher Be- ziehungen und der Respektierung der Minderheitenrechte. Die Umsetzung des Pakts sollte der Union weitere Argumente dafür liefern, dass die Staaten Mitteleuropas in der Lage sind miteinander zu kooperieren.33 Bundesaußenminister Klaus Kinkel hob die enorme Bedeutung dieses Pakts für die Intensivierung der bilateralen Kon- takte zwischen den Staaten Mittel- und Osteuropas hervor. Er helfe bei der Überwin- dung gegenseitiger Ängste, baue „Brücken der Verständigung“ und schaffe „ein Eu- ropa der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und guten Nachbarschaft“.34 Individuelle Anträge auf Aufnahme in die Europäische Union stellten die Staaten der Visegrád-Gruppe in der Reihenfolge: Ungarn am 31. März 1994, Polen am 5. April 1994, die Slowakei am 27. Juni 1995, Tschechien am 17. Januar 1996. In diesem Zeitraum erklärte der deutsche Bundeskanzler wiederholt seine Un- 31 Conclusions of the European Council meeting in Copenhagen, held on 21 and 22 June 1992 (extracts only), „European Foreign Policy Bulletin“, No. 93/248, June 1993, S. 21–22 32Auf der Sitzung des Europäischen Rats 1994 in Korfu wurde beschlossen, dass die in-in- stitutionellen Reformen für eine weitere Erweiterung der EU auf einer internationalen Konferenz 1996/1997 abzustimmen sind. 33 Vgl.: R. Zięba, Unia Europejska jako aktor stosunków międzynarodowych /Die Europä­ ische Union als Akteur der internationalen Beziehungen/, Wydawnictwo Naukowe Scholar, Warsza- wa 2003, S. 153–155;. idem, Wspólna Polityka Zagraniczna i Bezpieczeństwa Unii Europejskiej /Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union/,, Wydawnictwa Akademickie i Profesjonalne, Warszawa 2007, S. 129–131. 34 Erklärung des Bundesministers des Auswärtigen Dr. Klaus Kinkel in der Abschlusskonfe­ renz zum Stabilitätspakt für Europa, am 20. März 1995 im Paris, „Bulletin des Presse- und Informa- tionsamtes der Bundesregierung“ vom 27. März 1995, Nr. 24, S. 197–198. Die Etappe der Assoziierung 145 terstützung für die EU-Erweiterung um die Staaten der Visegrád-Gruppe.35 Außen- minister Kinkel unterstrich in einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Aus- wärtige Politik – DGAP), dass auf Deutschland eine besondere Verantwortung ruhe und die wichtigste Aufgabe für Europa die Aufrechterhaltung des bisherigen Integ- rationstempos in denen Richtungen Erweiterung und Vertiefung sei. Diese beiden Fragen seien ohne Zweifel eine Priorität der deutschen Außenpolitik.36 Außer den Staaten der Visegrád-Gruppe legten Beitrittsgesuche vor: Rumä- nien am 22. Juni 1995, Lettland am 13. Oktober 1995, Estland am 24. November 1995, Litauen am 8. Dezember 1995, Bulgarien am 14. Dezember 1995, Slowenien am 10. Juni 1996. Malta und Zypern hatten ihre Beitrittsgesuche bereits viel früher eingereicht, nämlich Zypern am 3. Juli 1990 und Malta am 16. Juli 1990. Bei ei- nem Staatsbesuch in Malta erklärte Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dieses Land könne auf die volle Unterstützung Deutschlands bei der Annäherung zur EU rechnen. Das Beitrittsgesuch sei ein wichtiges Zeichen, dass dieser Staat eine engere Einbindung in die europäische Integration anstrebe und die Ziele der EU teile.37

2.2. Der deutsche Vorsitz in der Europäischen Union 1994

Im Herbst 1994 wurde auf Korfu offiziell festgelegt, dass die Beitrittsver- handlungen mit den assoziierten Ländern erst nach der für 1996 vorgesehenen inter- nationalen Konferenz möglich sein würden. Eine Schlüsselrolle bei den Beitrittsverhandlungen mit den Beitrittskandida- ten spielte der Rat der Europäischen Union, der den Gesprächen eine Richtung gab und über die Verhandlungsstandpunkte entschied.38 Die Intensivierung der Bezie- hungen zwischen der EU und den Beitrittskandidaten entfiel auf die Zeit des deut- schen Vorsitzes im Rat in der zweiten Hälfte 1994. Das Programmpapier Über Ziele und Schwerpunkte des deutschen Vorsitzes konzentrierte sich in Punkt 2 auf die Auf- nahme der mitteleuropäischen Staaten. Eine Priorität des deutschen Vorsitzes war

35 Vgl.: Offizieller Besuch des Bundeskanzlers in der Republik Polen vom 6. bis 8 Juli 1995, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 14. Juni 1995, Nr. 58, S. 569–576. 36 Rede des Bundesministers des Auswärtigen Klaus Kinkel vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 24 August 1994 in Bonn, [in:] Auswärtiges Amt (Hrsg.), Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, Verl. Wiss. und Politik, Köln, 1995, S. 1082. 37 Staatsbesuch des Bundespräsidenten in der Republik Malta vom 22. bis 24. Oktober 1990, „Bulletin des Presse– und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 26. Oktober 1990, Nr. 126, S. 1317–1318. 38 Formal gesehen üben die Mitgliedsstaaten den Vorsitz im Rat der Europäischen Union aus, der in verschiedenen Konfiguartionen auf ministerieller Ebene tagt. Sie stehen auch dem Euro- päischen Rat vor, der eine Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs darstellt. Vgl.: C. Mik, Europejskie prawo wspólnotowe. Zagadnienia teorii i praktyki /Europäisches Gemeinschaftsrecht. Theorie und Parxis/, Bd. I, Wydawnictwo C. H. Beck, Warszawa 2000, S. 130 und 173. 146 Jenseits der großen Politik die Verbesserung der Beziehungen und die Unterstützung der Mitgliedschaftsbemü- hungen der Kandidaten. Man konzentrierte sich vor allen Dingen auf die Intensivie- rung des politischen Dialogs und die Reform des PHARE-Programms.39 Vor der Übernahme des Vorsitzes in der Europäischen Union fand vor allem auf dem Forum des deutschen Parlaments eine Debatte über die Europa-Politik mit be- sonderer Berücksichtigung der Erweiterungsfrage statt. Insbesondere die christde- mokratischen Abgeordneten sprachen sich für eine Einbeziehung der Staaten Mittel-, Ost- und Südeuropas in die europäische Integration aus. Die sozialdemokratische Opposition nahm eine etwas skeptischere Haltung ein und machte auf die Notwen- digkeit aufmerksam, die EU-Politik auch in anderen Regionen, zum Beispiel im Mit- telmeerraum voranzutreiben.40 Eine wichtige Diskussionsgrundlage war ein Papier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel Überlegungen zur europäischen Politik41, dessen Autoren sich für die Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten in die Europäische Union aussprachen. Auf einer Sitzung der Außenminister in Luxemburg am 4. Oktober 1994 in- itiierte Deutschland die Annahme eines Antrags auf Beteiligung der Außenminister von Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien bei den zu- künftigen Sitzungen des Ministerrats der EU. Darüber hinaus schlug Deutschland vor, dass die Chefs der Diplomatien dieser Länder als Beobachter an den Ratssitzungen teilnehmen sollten. Der Bundesaußenminister postulierte zudem eine Erweiterung der Konsultationen mit diesen Staaten um einen „strukturellen Dialog“, der nicht nur die Staatsoberhäupter sondern auch die einzelnen Ressortchefs umfassen sollte. Die erste solche Sitzung mit Beteiligung der Außenminister der mitteleuropäischen Staaten als Beobachter fand am 28.-29. Oktober 1994 in Luxemburg statt.42 Ein weiteres wichtiges Ereignis war die Erarbeitung eines Strategiepapiers mit dem Titel The Europe Agreements and beyond: a strategy to prepare the coun­ tries of Central and Eastern Europe for Accession im Juli 1994 durch die Politi- sche Generaldirektion für Äußere Angelegenheiten der Europäischen Kommission und der Forschungsgruppe Europa der Universität Mainz. Diese Strategie wurde am 9.-10. Dezember 1994 in Essen auf einer Sitzung der Staats- und Regierungs- chefs zum Abschluss des deutschen Vorsitzes als Anhang IV zur Konklusion über den deutschen Vorsitz (Report from the Council to the Essen European Council on a strategy to prepare for the accession of the associated CCEE) angenommen. Sie sah einen Herbeiführungsplan für Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Ru-

39 Die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union 1994, Presse- und Informa- tionsamt der Bundesregierung, Bonn, Juni 1994. Por. Josef Janning, Bundesrepublik Deutschland, „Jahrbuch der Europäischen Integration“ 1994/1995, S. 287–289. 40 ��������������������������������������������������������������������������������������� Debatte über die Aufgaben des deutschen Vorsitzes in der EU am 20. Mai 1994 im Bundes- rat und am 27./29. Mai 1994 im Bundestag. Vgl. eingehender: „Archiv der Gegenwart“ 14.07.1994, S. 39119–39126. 41 Vgl. Kapitel 2. 42 B. Koszel, Mitteleuropa..., S. 140–141. Die Etappe der Assoziierung 147 mänien und Bulgarien vor, der den Integrationsprozess dieser Staaten unterstützen und ihre Einbindung in den einheitlichen europäischen Markt erleichtern sollte.43 Die Kommission kündigte die Erstellung eines Weißbuchs an, eines Wegweisers für die Kandidaten, dass den Acquis communautaire bezüglich des Binnenmarkts darstellen sollte und hob die Bedeutung der Mittelmeerregion für die Europäische Union hervor, die gleichwertig mit Mitteleuropa behandelt werden sollte.44 Bundeskanzler Kohl bezeichnete bei der Eröffnung der Sitzung des Rats am 9. Dezember 1994 die Öffnung der Union nach Osten als wesentlichen Vorgang für das künftige Schicksal Europas. Die Delegaten der Beitrittsländer wurden auch vom Präsidenten des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch freundlich empfangen und waren zu einem Essen bei Bundespräsident Roman Herzog zu Gast.45 Dies al- les spielte sich gewissermaßen am Vorabend der Aufnahme Österreichs, Schwedens und Finnlands ab. Aus diesem Grund war auch der Kalender für die Osterweiterung etwas aufgeschoben worden. Mit den Beschlüssen von Essen wurden zudem feste Strukturen für den Dia- log zwischen den mitteleuropäischen Beitrittskandidaten und der EU-Mitgliedern ge- schaffen. Die Europäische Kommission wurde zur Erarbeitung eines Weißbuchs über den Vorbereitungsstand der einzelnen assoziierten Länder aufgefordert. Außerdem wurde angekündigt, dass die nächste Erweiterung auch Zypern und Malta umfassen würde. In Essen wurde bestätigt, dass die Strategie der Annäherung der assoziierten Länder sich auf mehrere Elemente stützen sollte: Europaabkommen, Strukturdialog und Heranführungshilfe der EU (insbesondere bei der Implementierung des Gemein- schaftsrechts und Finanzhilfe, zum Beispiel im Rahmen von PHARE). Am 26. April 1995 wurde den Beitrittskandidaten ein Fragebogen mit Fragen aus 23 Sphären der staatlichen Tätigkeit vorgelegt, auf dessen Grundlage man sich ein Bild von den einzelnen Ländern machen konnte. Im Mai gab die Kommission das Weißbuch über die Vorbereitung der MOE-Staaten auf die Integration in den Bin­ nenmarkt der Union46 heraus. Es enthielt unter anderem:

43 The Europe Agreements and Beyond: A Strategy to Prepare the Countries of Central and Eastern Europe For Accession, Communication from the Commission to the Council. COM (94) 320 final, 13 July 1994. Vgl. Anmerkungen und Vorschläge zum Rapport der Europäischen Kommis- sion „The Europe Agreements and beyond: a strategy to prepare the countries of Central and Eastern Europe for Accession“ vom 20. Oktober 1994, dem deutschen Vorsitz unterbeitet von der Regierung der Republik Polen, [in:] J. Borkowski (Hrsg.), Przygotowania Polski do członkostwa w Unii Euro­ pejskiej, Dokumentacja akcesyjna /Die Vorbereitungen Polens auf die Mitgliedschaft in der Europä­ ischen Union. Beitrittsdokumentation/, Bd. 5, Centrum Europejskie Uniwersytetu Warszawskiego, Warszawa 1999, S. 73–82. 44 European Commission, Strengthening the Mediterranean Policy of the European Union: establishing a Euro-Mediterranean partnership. Communication from the Commission to the Council and the European Parliament, COM(94) 427 final, Brussels, 19 October 1994. 45 B. Koszel, Mitteleuropa…, S. 141. 46 European Commission, White Paper on the Preparations of the Associated Countries of Central Europe and Eastern Europe for Integration into the Internal Market of the Union, COM 148 Jenseits der großen Politik • Die legislativen Mittel, die für ein Funktionieren des Binnenmarkts un- abdingbar sind, • Die Möglichkeiten einer effizienteren Nutzung der Mittel aus dem PHA- RE-Programm für die Anpassung von Rechtsvorschriften, • Hinweise auf die Bedeutung administrativer und organisatorischer Struk- turen für das Funktionieren dieses Marktes, • Empfehlungen für die Schaffung eines Programms für die Harmonisie- rung der Gesetzgebung mit der Gesetzgebung de Union.47 Die Vorbeitrittsstrategie ging von multilateralen Maßnahmen aus. Bei der Be- wertung der Errungenschaften der einzelnen Länder sollte das Differenzierungsprin- zip Anwendung finden. Die Grundlage für die Einladung zu Beitrittsverhandlungen war die individuelle Bewertung eines jeden Kandidaten. Bundesaußenminister Klaus Kinkel stellte am 22. Juni 1995 im Bundestag die Ziele der deutschen Außenpolitik im Zusammenhang mit der sich nähernden Sitzung des Europäischen Rats vor. Als Prioritäten bezeichnete er die Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Erweiterung der EU um die Staa- ten Mittel- und Südeuropas. Die Osterweiterung wertete er als eine der wichtigsten Herausforderungen für die EU. Dabei bestätigte er die Rolle Deutschlands als ei- nes Fürsprechers und Anwalts dieser Staaten.48 Am 26.-27. Juni 1995 wurde auf einer Sitzung des Europäischen Rats in Cannes das von der Europäischen Kommission vorgelegte Weißbuch bestätigt.49 Einige Tage nach dem Gipfel nannte Kanzler Kohl das Jahr 2000 als Datum der Öffnung der Union nach Osten. Dies war kein verbind- liches Datum, sondern eine politische Geste, die unter anderem die Mobilisierung und Motivierung der Beitrittskandidaten bezweckte.50

2.3. Die Vorbereitungen auf die Beitrittsverhandlungen

Der Europäische Rat fasste am 15.-16. Dezember 1995 auf seiner Sitzung in Madrid den Beschluss, dass die Beitrittsverhandlungen mit Zypern und Malta sechs Monate nach Abschluss der für 1996 geplanten internationalen Konferenz zur Vorbereitung der Vertragsreform beginnen sollten. Es wurde zudem vorgesehen, dass die erste Phase der Verhandlungen mit den am besten vorbereiteten Staaten

(95) 163 final, 3 may 1995. 47A. Podraza, Unia Europejska /Die Europäische Union/, Redakcja Wydawnictw KUL, Lub- lin 1999, S. 189–190. 48 „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 26 Juni 1995, Nr. 61, S. 458. Por. B. Koszel, Mitteleuropa…, S. 143. 49 European Council, Conclusions of the Presidency , 26–27 June 1995, Cannes, „Bulletin of the European Union“ 1995, No. 6, pkt I.31–I.36. 50 Rede des Bundeskanzler Helmut Kohl am 6. Juli 1995 anlässlich des Empfangs des polni­ schen Minister-Präsidenten in Warschau, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesre- gierung“ vom 14 Juli 1995, Nr. 58, S. 572 Die Etappe der Assoziierung 149 Mitteleuropas ebenfalls zu diesem Termin starten werden. Dadurch wurde die Euro- päische Kommission dazu aufgefordert, Stellungnahmen über die eingereichten Bei- trittsgesuche abzugeben und einen Rapport über die EU-Erweiterung vorzulegen.51 Nach dem Gipfel von Madrid verkündete Bundeskanzler Kohl seine Auffassung, dass die baltischen Staaten nicht an der ersten Phase der Erweiterung teilnehmen sollten, da dies der Erteilung einer Sicherheitsgarantie bedürfe und die Frage ihrer Mitglied- schaft in NATO aufwerfe, was die Beziehungen zu Russland komplizieren würde. Ein weiteres Argument für eine schrittweise Aufnahme der Beitrittskandidaten wa- ren gewisse Ängste vor den hohen Kosten der Integration.52 Hans-Gert Pöttering (CDU) schrieb 1997, dass es schwer fiele, ein Datum für die Aufnahme der Beitrittsstaaten zu benennen. Seiner Ansicht nach könne im Jahr 2002 die erste Gruppe von Staaten der EU beitreten, selbstverständlich unter der Be- dingung, dass sie alle Mitgliedschaftskriterien erfüllen. Diese Meinung entsprach dem Standpunkt der Europäischen Kommission, die unterstrich, dass nur eine fünf- jährige Perspektive möglich sei, unter der Voraussetzung, dass die Beitrittskandi- daten den Anforderungen der Integration genügen. Die Festsetzung eines konkre- ten Datums war zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Pöttering betonte zudem, dass der Beitritt Zyperns von seinen Beziehungen zur Türkei abhängen müsse.53 Der prinzipielle Standpunkt der Bundesregierung zur Frage der Annäherung Mitteleuropas an die EU war positiv. Kanzler Helmut Kohl erklärte im Oktober 1997: „Unsere Nachbarn, die Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südeuropas sowie die Republiken der ehemaligen UdSSR brauchen eine neue Stütze. Wir Deutschen wollen zusammen mit unseren Freunden und Bündnispartnern, dass diese Staaten diese Unterstützung erfahren. Ihre erst vor kurzem wiedererlangte Freiheit muss zur Grundlage einer neuen, dauerhaften Stabilisierung auf unseren Kontinent wer- den. Das liegt in unserem eigenen Interesse, denn gerade für uns Deutsche zählt, dass wir nicht abgeschieden auf einer Insel leben, sondern im Herzen Europas. Wir sind es, die stärker als andere Staaten verspüren, was sich bei unseren tut. Mangelnde politische Stabilität, Armut, gesellschaftliche Unzufriedenheit bei unseren östlichen Nachbarn könnten unmittelbaren Einfluss auf die innere Lage in Deutschland haben. Wenn wir Mittel-, Ost- und Südeuropa helfen, helfen wir uns selbst.“54

51 European Council, Conclusions of the Presidency, 15–16 December 1995, Madrid, „Bul- letin of the European Union“ 1995, No. 12, pkt I.2, I.25, I.47–I.48. 52 Vgl.: H. Saldik, Deutsche Außenpolitik in der Ostseeregion, Peter Lang Europäischer Ver- lag der Wissenschaften, Frankfurt am Mein 2004, S. 114–115. 53 H.-G. Pöttering, Die Erweiterung der EU als historische Aufgabe, [in:] G. Rinsche, I. Friedrich (Hrsg.), Europa als Auftrag. Die Politik deutscher Christdemokraten im Europäischen Parlament 1957–1997. Von den Römischen Vertragen zur Politischen Union, Böhlau Vertrag, Wei- mar/Köln/Wien 1997, S. 294–296. 54 Die Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung als richtungweisende Normen der deut­ schen Außen- und Sicherheitspolitik, [in:] H. Kohl, Bilanzen und Perspektiven. Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn Oktober 1997, S. 23–24. 150 Jenseits der großen Politik Ein Versuch einer Reform der EU war die Unterstützung der Mitgliedsländer für die Ergebnisse der Internationalen Konferenz von 1996. Am 16.-17. Juni 1997 nahm der Europäische Rat den Entwurf einer Revision des Vertrags über die Euro­ päische Union an, die nach dem Ort ihrer Unterzeichnung am 2. Oktober 1997 als Vertrag von Amsterdam bezeichnet wird. Eines der Ziele der Novelle war die Vorbe- reitung der EU-Osterweiterung.55 Der Bundesrepublik war sehr an einer Reform der EU vor der Erweiterung gelegen. Mit ihrem Eintreten für die Anwendung des „Flexibilitätsprinzips“ bei der Vertiefung der Union postulierte Deutschland vor allem eine verstärkte Koopera- tion im Rahmen der zweiten und dritten Säule (GASP, Justiz, Inneres – insbesondere im Bereich der Visums- und Asylpolitik) und in den institutionellen Fragen die Ver- einfachung des Entscheidungsmechanismus im Rat der Union, die Stärkung des Eu- ropäischen Parlaments beim Entscheidungsprozess, die Beschränkung der Zahl der Kommissare auf 20, die Stärkung der Position des Kommissionsvorsitzenden und deren Umgestaltung in einen kollegialen Körper, die Stärkung des Subsidiari- tätsprinzips.56 Diese Vorschläge wurden teilweise im Vertrag von Amsterdam berück- sichtigt. Der Bundestag nahm den Vertrag mit den 561 Stimmen der Regierungskoa- lition und der SPD an. Dagegen stimmten die Abgeordneten der PDS.57 Der Vertrag von Amsterdam vermochte nicht die Frage der institutionellen Reform angesichts der kommenden Erweiterung der EU zu lösen. Dem Vertrag wur- de ein Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union hinzugefügt, in dem festgelegt war, dass ein Jahr vor der Überschreitung der EU-Mitgliederzahl von 20 eine Konferenz einzuberufen sei, die sich auf die Fra- ge der durchzuführenden institutionellen Reformen zu konzentrieren habe. Im An- hang zu diesem Protokoll befand sich eine Erklärung der Staaten Belgien, Frankreich und Italien, die erklärten, „dass auf der Grundlage der Ergebnisse der Internationalen Konferenz der Vertrag von Amsterdam nicht dem bei der Zusammenkunft des Euro- päischen Rats in Madrid bestätigten Bedarf nach einem grundsätzlichen Fortschritt auf dem Weg der Stärkung der Organe genügt“58. Eine abweichende Auffassung ver-

55 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Ver­ träge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte – Amsterdam, 2. Oktober 1997, Quelle: http://polskawue.gov.pl/files/polska_w_ue/prawo/traktaty/Traktat_amsterdamski. pdf (Januar 2010). Vgl.. A. Moravcsik, K. Nicolaïdis, Explaining the Treaty of Amsterdam: Interests, Influence, Institutions, ,,Journal of Common Market Studies“, Vol. 37, No. 1, March 1999, S. 59–85. 56 E. Bojenko-Izdebska, Zjednoczone Niemcy jako motor przyspieszenia integracji w UE / Das Vereinte Deutschland als Motor für die Beschleunigung der Integration in der Europäischen Uni­ on/, [in:] M. Chorośnicki, E. Cziomer (Hrsg.), Unia Europejska transformacja i integracja w Europie /Europäische Union. Transformation und Integration in Europa/, Małopolska Oficyna Wydawnicza Korona, Kraków 1999, S. 21. 57 J. Janning, Bundesrepublik Deutschland, „Jahrbuch der Europäischen Integration“ 1997/1998, S. 315. 58 Vgl.: Vertrag von Amsterdam.... Die Etappe der Assoziierung 151 trat Deutschland, das sich für eine weitere Vertiefung und Reform der Unionsorgane aussprach. Bundeskanzler Kohl sah in dieser institutionellen Reform den Schlüs- sel zur weiteren Erweiterung der EU, auch wenn er sich skeptisch zum Standpunkt Frankreichs, Belgiens und Italiens äußerte, da er befürchtete, eine solche Haltung könne den Prozess der Aufnahme neuer Mitglieder verlangsamen.59 Nach dem Gip- fel äußerte der Kanzler in einer Presseerklärung, dass dank der erarbeiteten Lösun- gen die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den ersten Kandidaten in einem halben Jahr möglich geworden sei. Dabei machte er zum wiederholten Mal deutlich, dass die Frage der Erweiterung eng verbunden sei mit der Zukunft Deutschlands im 21. Jahrhundert. Insbesondere betonte er die Unterstützung für die Beitrittsab- sichten Polens, wobei er hervorhob, dass es sich um einen „wichtigen Nachbarn“ der Bundesrepublik handele.“60 Die Zusammenkunft des Europäischen Rats in Amsterdam war von institu- tionellen Reformen dominiert. Am zweiten Tag wurde die Frage der Erweiterung diskutiert. Dabei wurde eine Liste von 10 Staaten (plus Zypern) angenommen, mit denen die Aufnahme von Verhandlungen innerhalb von sechs Monaten geplant war. Einen Monat später wurde dem Europäischen Parlament ein Aktionsprogramm des Europäischen Rats, die so genannte Agenda 2000, vorgelegt, die sich auf die Dar- stellung der Richtungen für die institutionellen Reformen der EU und den künftigen Finanzrahmen im Kontext der Erweiterung konzentrierte. Dabei wurden Änderungen in der Agrarpolitik, den Strukturfonds und im Haushalt (Eine neue Finanzperspektive für die Jahre 2000-2006) angeregt. Die Agenda enthielt außerdem eine Stellungnahme (Avis) über die Beitrittsanträge der zehn mitteleuropäischen Staaten auf der Grundla- ge der 1996 ausgegebenen Fragebögen. Darin wurde die Aufnahme von Beitrittsver- handlungen mit Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern (Modell 5+1) empfohlen. Die Osterweiterung wurde von den Autoren aus der Sicht der politi- schen, wirtschaftlichen und sozialen Stabilität in Mittel- und Osteuropa betrachtet.61 Das Europäische Parlament bestand auf der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen auch mit Litauen und Lettland. Helmut Kohl verpflichtete sich dazu, das Wohlwollen und die Unterstützung Deutschlands gegenüber den baltischen Saaten zu stärken un- ter der Bedingung, dass sich in der ersten Gruppe Polen befindet. Die Agenda 2000 wurde im Dezember 1997 auf einer Sitzung des Europäischen Rats in Luxemburg angenommen. Auf diesem Gipfel teilte auch Deutschland den Standpunkt der Kom- mission über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach dem Modell 5+1.

59 Vgl.: G. Trautmann, Chancen und Grenzen der Osterweiterung, [in:] G. Clemens (Hrsg.), op. cit., S. 54. 60 Erklärung des Bundeskanzlers vor der Presse am 18. Juni 1997, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 6. August 1997, Nr. 66, S. 798. 61 Agenda 2000. Umocnienie i rozszerzenie Unii Europejskiej /Die Agenda 2000. Festigung und Erweiterung der Europäischen Union/, Przedstawicielstwo Komisji Europejskiej w Polsce, 1999. Vgl.: H. Tendera-Właszczuk, Rozszerzenie Unii Europejskiej na Wschód /Die Osterweiterung der Eu­ ropäischen Union/, PWN, Warszawa 2001, S. 122–138. 152 Jenseits der großen Politik Der Europäische Rat beschloss also, Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern (die so genannte Luxemburg-Gruppe) zum Ende des ersten Quartals 1998 zu Gesprächen einzuladen. Ein Beschluss über die Einführung einer verstärkten Vor- beitrittsstrategie wurde gefasst, was sich mit der Annahme von Partnerprogrammen für die Mitgliedschaft durch die Beitrittskandidaten bis Mitte März 1998 verband.62 Die Beitrittspartnerschaft war ein neues Instrument und gleichzeitig das grundlegen- de Element der an die mitteleuropäischen Staaten gerichteten Heranführungsstrate- gie. Das Hauptziel dieses Instruments war die Identifizierung – auf der Grundlage einer Lageanalyse in den einzelnen Ländern – der Prioritäten für die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft, aber auch die Festlegung der Finanzierungsquellen. Ar- tikel 4 der Verordnung des Rats Nr. 622/98 machte die Leistung von Heranfüh- rungshilfe an die Beitrittskandidaten von der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien und der in den Europa-Abkommen enthaltenen Pflichten abhängig. Die Beitrittspart- nerschaft verpflichtete die Beitrittskandidaten zur Erstellung von Programmen zur Übernahme des EU-Rechts, die von den Zeitrahmen für die Umsetzung der Prio- ritäten und mittelbaren Ziele der Beitrittspartnerschaft bestimmt waren. Der Europäi- sche Rat sah auf seiner Sitzung in Helsinki am10.-11. Dezember 1999 die Aufnahme von Arbeitsverhandlungen mit Litauen, Lettland, der Slowakei, Bulgarien, Rumäni- en und Malta (der sogenannten Helsinki-Gruppe) vor. Auf der Zusammenkunft des Europäischen Rats in Luxemburg im Dezember 1997 wurde festgelegt, dass der Erweiterungsprozess umfassen wird: Europa-Konfe- renz, Heranführungsprozess und Beitrittsverhandlungen. Die Europa-Konferenz war ein Forum für den politischen und wirtschaftlichen Dialog (15+11) in Fragen der Ge- meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit in Fragen der Jus- tiz und innerer Angelegenheiten. Sie umfasste die EU-Mitgliedsländer und die Bei- trittskandidaten – die Länder Osteuropas, Malta, Zypern und die Türkei (wobei letztere ihre Teilnahme im Dezember 1997 absagte). Das erste Treffen im Rahmen der Europa- Konferenz auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs sowie der Außenminister fand am 12. März 1998 in London statt, ein zweites am 6. Oktober in Luxemburg. Die Beschlüsse von Luxemburg genügten den Erwartungen der Bundesrepu- blik. In ihrer Strategie ließ sich die Bundesrepublik von dem Prinzip „Differenzieren, ohne zu diskriminieren“ leiten, was mit dem Postulat der Aufnahme von Verhandlun- gen mit den am besten vorbereiteten Kandidaten verbunden war, ohne dass den übrigen Kandidaten damit die Tür verschlossen worden wäre. Deutschland forderte eine Bei- trittsstrategie für alle Kandidaten und dies ließ sich letztlich auch erreichen.63 62 Verordnung (EG) Nr. 622/98 des Rates der Europäischen Union vom 16. März 1998 über die Hilfe für die beitrittswilligen Staaten im Rahmen der Heranführungsstrategie, insbesonde­ re über die Gründung von Beitrittspartnerschaften, „Dziennik Urzędowy Wspólnot Europejskiej“, 20.03.1998, L85/1, S. 176–177. 63 Erklärung des Bundeskanzlers vor der Presse am 13. Dezember 1997 in Luxemburg, „Bul- letin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom. 16. Februar 1998, Nr. 12, S. 151– 152; Zur Eröffnung des EU-Beitrittsprozesses. Erklärung von Bundesminister Dr. Kinkel in Brüssel Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 153 3. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen

3.1. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen

Die formelle Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den mitteleuropäi- schen Staaten und Zypern erfolgte am 30. März 1999 auf einer Zusammenkunft der Außenminister der EU-15 und der 11 Beitrittskandidaten. Am nächsten Tag fand ein Treffen im Rahmen der Inaugurationskonferenz unter Beteiligung von Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern statt. Bei den Verhandlungen wurde eine einjährige Durchsicht der Gesetzgebung der einzelnen Beitrittsländer hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit dem Acquis communautaire vereinbart, das so genannte Screening. Nach dessen Abschluss stellten die Kandidaten ihre Ver- handlungsstandpunkte vor, woraufhin die eigentlichen Verhandlungsgespräche be- gannen, bei denen es darum ging, alle strittigen Fragen hinsichtlich der Inkongruenz der Rechtssysteme auszuräumen. Die Treffen im Rahmen des Screenings wurden von der Europäischen Kommission mit jedem Beitrittsstaat gesondert durchgeführt, also gemäß dem bereits bei den vergangenen Erweiterungen ausgearbeiteten Sche- ma, das eine Einteilung der EU-Gesetzgebung in 31 Themenblöcke beinhaltete.64 Zum Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, die sich mit den Verhandlungen mit Polen befasste, wurde der Deutsche Nikolaus G. van der Pas ernannt, der schon bei der zweiten Norderweiterung die Arbeitsgruppe für den schwedischen Beitritt geleitet hatte. Der für die Koordination der Verhandlungen mit den Beitrittsländern zuständige Kommissar war mit Günter Verheugen ebenfalls ein Deutscher.65 Die Verhandlungen mit der ersten Gruppe (Luxemburg-Gruppe) starte- ten Ende März 1998. Zuvor erhielt jeder der Kandidaten einen individuellen Text der Beitrittspartnerschaft, der eine Liste der Prioritäten enthielt, die einer Anpassung an die EU-Standards bedurfte. Die Staaten, die ihre Beitrittsverhandlungen aufnah- men, konnten noch nicht wissen, unter welchen institutionellen und Entscheidungs- bedingungen sie später als Vollmitglieder der EU funktionieren würden, das die insti- tutionelle Reform der Union zu diesem Zeitpunkt erst angedacht war. Am 15. Januar 2000 begannen die Verhandlungen mit der so genannten Helsinki-Gruppe. Wenig später wurde beschlossen, die Verhandlungen mit allen Beitrittskandidaten zu be- schleunigen, indem die Strategie der individuellen Behandlung eines jeden Kandida- ten hinsichtlich der Kopenhagen-Kriterien angewandt wurde. Nur Bulgarien und Ru- am 30. Marz 1998, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 1. April 1998, Nr. 23, S. 260. Por. P. Kalka, Rola RFN w rozwoju integracji ekonomicznej we Wspólnotach Europejskich /Die Rolle der BRD bei der wirtschaftlichen Integration in den Europäischen Gemein­ schaften/, Instytut Zachodni, Poznań 2005, S. 190. 64 Zwei der 31 Bereiche – „Einrichtungen“ und „Sonstige“ – wurden nicht überprüft. 65 Zu den Subjekten der Beitrittsverhandlungen vgl. A. Domagała, Integracja Polski z Unią Europejską /Die Integration Polens mit der Europäischen Union/, Wydawnictwa Akademickie i Pro- fesjonalne, Warszawa 2008, S. 147–157. 154 Jenseits der großen Politik mänien hinkten aufgrund ihrer unzureichenden Beitrittsvorbereitungen hinterher. Im September 1999 bestellte die Europäische Kommission eine Generaldirektion für Er- weiterungsangelegenheiten, welche die EU bei den Verhandlungen vertreten sollte. Die Bundesrepublik Deutschland spielte eine wichtige Rolle bei den Bei- trittsverhandlungen, indem sie einen starken Einfluss auf den Standpunkt der EU ausübte. Deutschland und Österreich als Nachbarstaaten der zukünftigen Mitglieder waren besonders an den Fragen des Landerwerbs durch Ausländer, des freien Ver- kehrs von Arbeitnehmern und der Direktsubventionen für die Landwirtschaft inter- essiert. Nach dem Regierungswechsel im Herbst 1998 trug die neue Regierung unter Gerhard Schröder zu einer Dynamisierung und Konkretisierung des Erweiterungs- prozesses bei. Christian Hacke bezeichnet die Machtübernahme durch die rot-grüne Regierungskoalition als „zweite Zäsur“ (nach 1989) in der deutschen Außenpolitik.66 Im Unterschied zu Kohl formulierte Schröder die deutschen Interessen in Europa deutlicher, indem er sich auf konkrete Herausforderungen und Aufgaben konzent- rierte. Die Debatte in der Bundesrepublik über die Verhandlungen mit den Beitritts- kandidaten war mit der Notwendigkeit einer Reduzierung der deutschen Beiträge zum EU-Haushalt (Beitragsgerechtigkeit) und der Reform der Agrar- und Struktur- politik der EU verbunden.67 Dennoch hielt der neue Vizekanzler und Bundesaußen- minister Joschka Fischer die von den Christdemokraten geerbte Vision der Motivie- rung der Einheit Europas aus einem Gefühl der moralischen Verpflichtung aufrecht.68 Die Leitlinien der Europapolitik gestaltete jedoch Kanzler Schröder im Rahmen sei- ner Richtlinienkompetenz. Er erklärte offen, dass sich die Osterweiterung verzögern werde, wenn sich die Union nicht hinreichend darauf vorbereite.69 Die rot-grüne Ko- alition setzte im Großen und Ganzen die von Kohl übernommene Rolle des Anwalts für Mitteleuropa fort, konzentrierte sich dabei aber vor allem auf realistische Lösun- gen und machte die Fortschritte auf dem Weg zur Mitgliedschaft von den Anstren- gungen der einzelnen Beitrittskandidaten abhängig.70

66 Ch. Hacke, Die Außenpolitik der Regierung, Schröder/Fischer. Zwischenbilanz und Per­ spektiven, „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 2002, Nr. 48, S. 7. Vgl.: B. Koszel, Stosunki polsko- niemieckie na początku XXI wieku /Die deutsch-polnischen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahr­ hunderts/, [in:] A. Podraza (Hrsg.), Polska-Niemcy, partnerzy w nowej Europie /Polen-Deutschland. Patrner im neuen Europa/, Wydawnictwo POLIHYMNIA, Lublin 2004, S. 9–10, 17–28. 67 Koalitionsvertrag SPD-Bündnis90/Die Grünen von 1998 Aufbruch und Erneuerung –Deutsch­ lands Weg ins 21. Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bonn, 20. Oktober 1998, Quelle: http://www.daten- schutz-berlin.de/doc/de/koalo/index.htm, (November 2007); Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, „Weil wir Deutschland Kraft vertrauen…“ am 10. November 1998, „Bul- letin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 11 November 1998, Nr. 74, S. 914. 68 H.-P. Schwarz bezeichnet Fischer als „grünes Findelkind von Kohl und Genscher“. H.-P. Schwarz, Die Zentralmacht Europa auf Kontinuitätskurs. Deutschland stabilisiert den Kontinent, „Internationale Politik“ 1999, Nr. 11, S. 7. 69 Uns die Last erleichtern, Interview mit Gerhard Schröder „Der Spiegel“ vom 4. Januar 1999. 70 Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, „Weil wir Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 155 3.2. Der deutsche Vorsitz in der Europäischen Union 1999

Kurz vor Ende des österreichischen Vorsitzes fand am 11.-12. Dezember 1998 in Wien ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU statt.71 Bei dieser Gele- genheit wurde allerdings – zur Enttäuschung der Staaten Mitteleuropas – die Agenda 2000 nicht verabschiedet und auch kein konkretes Datum für die Aufnahme der neu- en Mitglieder in Aussicht gestellt. Ein wesentliches Novum war der Standpunkt von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Frage des EU-Haushalts für die Jahre 2000-2006. Er stellte eindeutig fest, dass alle Mitgliedsstaaten an den Kosten der EU- Erweiterung partizipieren müssten und nicht nur die größten Netto-Zahler. Den deut- schen Standpunkt, den EU-Haushalt auf einem Level von 85 Mrd. EUR einzufrieren, unterstützten auch Österreich, Frankreich und Großbritannien.72 Am 1. Januar 1999 übernahm die Bundesrepublik den Vorsitz im Europäi- schen Rat. Außenminister Joschka Fischer stellte vor dem Europäischen Parlament die Prioritäten des deutschen Vorsitzes vor. Die Hauptaufgaben, auf die man sich konzentrieren wolle, seien die Fragen der Beschäftigungspolitik und die finanziel- len Aspekte der Erweiterung, das heißt die Annahme der Agenda 2000. Der Minis- ter kündigte zudem das Streben nach einer Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik und einer Verringerung der Deutschen Mitgliedsbeiträge an den EU-Haushalt an. „Erweiterungs- und Beitrittsfähigkeit müssen parallel vorankommen. Je eher die EU die notwendigen Reformen in Angriff nimmt und je intensiver die Beitrittsländer ihre internen Reformen weiterführen, desto rascher und reibungsloser wird der Er- weiterungsprozess voranschreiten.“73 Fischer unterstrich, dass der Prozess der Ost- erweiterung „sowohl eine strategische Vision als auch viel praktischen Realismus“ benötigt und dass deshalb die Festlegung eines konkreten Beitrittsdatums vorzeitig sei. Er schloss jedoch nicht aus, dass ein solches Datum bis 1999 oder Anfang 2000

Deutschland Kraft vertrauen…“. Vgl.: Barbara Lippert, Zmiany w niemieckiej polityce wobec roz­ szerzenia UE po zmianie rządu /Die Veränderungen in der deutschen Politik zur EU-Erweiterung nach dem Regierungswechsel, [in:] Marek Cichocki (Hrsg.), Wspólnota sprzecznych interesów? Pols­ ka i Niemcy w procesie rozszerzenia Unii Europejskiej Wschód /Eine Gemeinschaft widerstrebender Interessen?/, Więź, Warszawa 1999, S. 17–30. 71 Vgl. Sitzung des Europäischen Rats in Wien am 11.–12. Dezember 1998, Quelle: http://www. ukie.gov.pl/HLP/mointintgr.nsf/0/1DD76ADB9BA56269C1256E750056082E/$file/ME5320A.pdf, (Mai 2010). 72 B. Koszel, Trójkąt Weimarski… /Das Weimarer Dreieck/, S. 75–76. 73 Die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft. Rede von Bundesminister Fischer in Straßburg, „Bulletin des Presse und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 14. Januar 1999, Nr.2, S. 10; Vgl. Ziele und Schwerpunkte der deutschen Präsidentschaft im Rat der Europä­ ischen Union, Quelle: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=3038, (No- vember 2007); Bundeskanzler Gerhard Schröder, Prioritäten des deutschen EU-Vorsitzes, „Bulletin des Presse und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 25. Januar 1999, Nr. 4, S. 33–39. Vgl.: G. Bonvicini, Schlüsselfragen der deutschen Ratspräsidentschaft – europäische Perspektiven, „Inte- gration“ 1/1999, S. 9–20. 156 Jenseits der großen Politik bestimmt werden könne, jedoch nur unter der Voraussetzung der Verabschiedung der Agenda 2000 und entsprechender Fortschritte bei den Verhandlungen.74 Die Bemühungen Deutschlands um eine Reduzierung seiner Haushaltsbeiträ- ge und die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik waren nicht von Erfolg gekrönt; sie scheiterten vor allem am Widerstand Frankreichs. Dies stellte sich bereits am 24.- 25. März 1999 auf einer außerordentlichen Sitzung des Europäischen Rats in Berlin heraus. Dennoch gelang es, gewisse Vereinbarungen bezüglich des EU-Haushalts herauszuhandeln. Die Verabschiedung der Agenda 2000, darunter auch der neuen Fi- nanzperspektive für die Jahre 2000-2006 unter Berücksichtigung der Erweiterungs- kosten, wurde als „Entscheidung für Europa“ begrüßt.75 Die Politik der rot-grünen Regierung war pragmatisch. Sie konzentrierte sich auf die Herausforderungen, welche die Osterweiterung für die Beschäftigungspolitik mit sich brachte.76 Auf einem nichtformellen Treffen der Staats- und Regierungs- chefs der EU-Mitglieder im österreichischen Pörtschach im Oktober 1998 stellte der Kanzler fest, dass die Aufnahme neuer Staaten und die Entscheidung der Fra- ge der freien Wahl des Arbeitsplatzes kein unbedachter Prozess „aus dem Galopp heraus“ sein dürfe.77 Seinen offiziellen Standpunkt bezüglich der Frage der Über- gangsfristen im Bereich des freien Verkehrs von Arbeitnehmern aus den zukünftigen Mitgliederländern stellte der Kanzler Ende 2000 vor. Dabei sprach er sich für sie- benjährige Übergangsperioden aus – ähnlich wie dies zuvor schon im Fall von Grie- chenland, Spanien und Portugal der Fall gewesen war. Am 18. Dezember 2000 präsentierte Schröder auf einer Konferenz zur EU-Erweiterung in Weiden sein so genanntes Fünfpunkteprogramm über den freien Personenverkehr vor. Er kündigte an, dass Deutschland siebenjährige Übergangsfristen (vom Beitrittsdatum gerechnet) für die Öffnung des Arbeitsmarkts für Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern verlan- gen werde, wobei in den Beitrittsverträgen auch die Möglichkeit einer Kürzung die- ser Fristen vorzusehen sei.78 Schon im Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis‘90/

74 Die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft. Rede von Bundesminister Fischer.., S. 10. 75 Vgl.: J. Janning, Bundesrepublik Deutschland, ,‚Jahrbuch der Europäischen Integration“ 1998/1999, S. 325–332. Vgl.: A. Paterek, Stanowisko Niemiec wobec procesu poszerzenia Unii Eu­ ropejskiej (1998–2006) /Der deutsche Standpunkt gegenüber dem Prozess der Erweiterung der Eu­ ropäischen Union/, „Krakowskie Studia Międzynarodowe“ 2006, Nr. 4 (Nowa rola międzynarodowa Niemiec /Die neue Rolle Deutschlands/), S. 190. 76 E. Cziomer, Stanowisko krajów „piętnastki“ wobec członkostwa Polski w Unii Europejs­ kiej ze szczególnym uwzględnieniem roli Niemiec /Der Standpunkt der Länder der EU-15 zur EU-Mit­ gliedschaft Polens mit besonderer Berücksichtigung der Rolle Deutschlands/, [in:] P. Dobrowolski, M. Stolarczyk (Hrsg.), Proces integracji Polski z Unią Europejską /Der Prozess der Integration Polens mit der Europäischen Union/, Wydawnictwa Uniwersytetu Śląskiego, Katowice 2001, S. 128–134. 77 B. Koszel, Stosunki polsko-niemieckie na początku XXI wieku /Die deutsch-polnischen Bezie­ hungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts/, [in:] A. Podraza (Hrsg.), Polska–Niemcy, partnerzy w nowej Europie /Polen-Deutschland. Partner im neuen Europa/, Wydawnictwo Polihymnia, Lublin 2004, S. 20. 78 R. Höltschi, Europäer werden dagegen sehr ..., „NZZ Folio Die Zeitschrift der Neu- en ZürcherZeitung“ 09/01, Quelle: http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0- Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 157 Grünen stand, dass die Bundesregierung Übergangsfristen in der Frage der Öffnung der gemeinschaftlichen Märkte für Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsländern fordern werde.79 Bezüglich der Frage des freien Dienstleistungsverkehrs erklärte der Kanzler, Deutschland werde Übergangsfristen vor allem im Bauwesen und im Handwerk for- dern. Er stellte auch einen Vorschlag für diejenigen Mitgliedsstaaten vor, die an Ar- beitskräften aus Mitteleuropa interessiert sind. Die Migration von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedsstaaten solle überwacht und kontrolliert werden. Der Zugang zu bestimmten Segmenten des Arbeitsmarkts während der Übergangsperiode sollte genau reglementiert werden.80 Dieser Vorschlag wurde von Kommissar Günter Ver- heugen begrüßt. Seiner Ansicht nach ermögliche ein so elastisches Element sowohl eine Erhöhung der Beschäftigtenzahlen in den alten Ländern des Kontinents in den- jenigen Sektoren, in denen ein Defizit an Arbeitskräften besteht, als auch den Schutz der übrigen Sektoren. Der deutsche Standpunkt in der Frage der Beschäftigungspolitik, der vor al- lem den Schutz der wirtschaftlichen Interessen der eigenen Bürger und eine „Be- sänftigung“ der öffentlichen Meinung in Deutschland bezweckte, bewirkte keine Umorientierung der bisherigen politischen Linie gegenüber den Staaten Mitteleuro- pas. In der deutschen Gesellschaft sank jedoch die Zustimmung zur Osterweiterung drastisch. Ein gewisses Durcheinander in der öffentlichen Auseinandersetzung ver- suchte Anfang September 2000 Günter Verheugen durch ein Interview in der „Süd- deutschen Zeitung“81, in dem er das Fehlen einer öffentlichen Diskussion über die Osterweiterung und eine mangelnde demokratische Legitimierung für diesen Prozess beklagte. Verheugen betonte, dass diese Frage insbesondere Deutschland betreffe, wo die Gesellschaft unzureichend informiert werde, weshalb die Ängste im Zusammenhang mit den Kosten der Erweiterung über die zu erwartenden Vorteile überwögen. Der Kommissar äußerte sich wenig präzise zu der Frage der eventuellen Notwendigkeit eines Volksentscheids über die Osterweiterung und trat damit zahl- reiche Kontroversen los. Diese Äußerungen wurden sogleich vonseiten der Regie- rungs dementiert. Als Reaktion auf die Sorgen der Bürger beschloss die Regierung, eine Aufklärungskampagne zu starten, mit deren Durchführung sie im Jahr 2001 das Bundespresseamt beauftragte.82 Schon im Dezember 2000 hatte die SPD-Bun-

277884b93470/showarticle/14090809-31bc-4097-a631-103aaa8bc02a.aspx, (März 2008). 79 Vgl.:Koalitionsvertrag Aufbruch auf Erneuerung… 80 Vgl.: Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis90 / Die Grünen „Weichen für EU-Erwei­ terung richtig stellen“, 6.03.2001, Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode, „Drucksache“ 14/5447, Quelle: http://dip.bundestag.de/btd/14/054/1405447.pdf, (luty 2008). 81 Verheugen will Referendum über die EU-Erweiterung, „Süddeutsche Zeitung“ vom 2. Sep- tember 2000; Das Volk soll über die EU-Erweiterung entscheiden, „Süddeutsche Zeitung“ vm 2.-3. Sep- tember 2000; Vgl.: Der Kommissar und die Erweiterung, „Spiegel“ (online) vom 5. September 2000. 82 J. Janning, Bundesrepublik Deutschland, ,‚Jahrbuch der Europäischen Integration“ 2000/2001, S. 323. 158 Jenseits der großen Politik destagsfraktion eine Broschüre mit dem Titel Die Osterweiterung der Europäischen Union. Das Projekt für Frieden, Stabilität und Wachstum in Europa. 25 Antworten auf die wichtigsten Fragen 83 herausgegeben.

3.3. Von Nizza nach Kopenhagen

Die Bundesrepublik mit dem sozialdemokratischen Kanzler Schröder an der Spitze engagierte ihr ganzes politisches Potenzial für die Unterstützung der mit- teleuropäischen Staaten, insbesondere Polens, als künftigen Mitgliedsstaaten der Uni- on. Kurz vor dem Gipfel von Nizza, am 6. Dezember 2000, erklärte der Bundeskanzler anlässlich seines Staatsbesuchs in Warschau zweifach vor dem polnischen Parlament (dem Sejm) die Hilfe Deutschlands für Polen und die übrigen Staaten der Region für eine möglichst baldige Mitgliedschaft.84 Auf seiner Zusammenkunft in Nizza (7.- 11. Dezember 2000) fasste der Europäische Rat den Beschluss über die für den Er- weiterungsprozess unverzichtbare Reform der Organe der Union und appellierte, den gemäß der Strategie der Europäischen Kommission geführten Verhandlungen ei- nen neuen Impuls zu geben. Der Europäische Rat verkündete, dass die Beitrittskan- didaten, die nach Abschluss der Verhandlungen die erforderlichen Kriterien erfüllen, bis Ende 2002 die Einladung zum Beitritt erhalten, sodass sie schon an den Wahlen zum Europäischen Parlament 2004 teilnehmen könnten.85 Die Ratifizierung desVer ­ trags von Nizza eröffnete der Weg zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen. Daher konnte der der Prozess der Erweiterung auch nicht unabhängig vom Prozess der Ver- tiefung der EU und der Reform der Organe der Union gesehen werden. Die Unter- zeichnung des Vertrags am 26. Februar 2001 war eine notwendige Voraussetzung für den Abschluss des Erweiterungsprozesse, für den er den institutionellen Rahmen schuf. Im Protokoll über die Erweiterung der Europäischen Union und der Deklara­ tion über die Erweiterung der Europäischen Union, die dem Vertrag von Nizza ange- legt wurden, wurden die Beschlüsse über das institutionelle System der erweiterten Union aus der perspektive von 27 Mitgliedsstaaten zusammengefasst.86 Aus Sicht der Bundesrepublik „sicherte“ der Vertrag vor allem den nächsten Erweiterungspro- zess von institutioneller Seite, indem er auf die belgisch-französisch-italienische De- klaration im Anhang zum Vertrag von Amsterdam antwortete. Die Vereinbarungen

83 Die Osterweiterung der Europäischen Union. Das Projekt für Frieden, Stabilität und Wachs­ tum in Europa. 25 Antworten auf wichtigsten Fragen, SPD Bundesfraktion, Berlin Dezember 2000. 84 Apel kanclerza do Unii /Der Appell des Bundeskanzlers an die Union/, „Rzeczpospolita“ vom 7. Dezember 2000. 85 European Council, Presidency conclusions. Nice meeting, 7, 8 and 9 December 2000, źródło: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/en/ec/00400-r1.%20ann.en0.htm, (Januar 2008). 86 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechts­ akte, unterzeichnet in Nizza am 26. Februar 2001, Quelle: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ Le- xUriServ.do?uri=OJ:C:2001:080:0001:0087:DE:PDF, (Juni 2010) Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 159 von Nizza berücksichtigten jedoch nicht die eventuelle Wiederaufnahme der Bei- trittsgesuche Norwegens und der Schweiz sowie die Bemühungen anderer Staaten wir Kroatin, Moldawien, der Türkei oder der Ukraine. In Deutschland stießen sie auf heftige Kritik.87 Am 16.-17. Juni 2001 wurde auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU in Göteborg festgelegt, dass sie Verhandlungen mit den am besten vorberei- teten Kandidaten bis 2002 abgeschlossen werden können, was ihnen die Teilnahme als vollberechtigte Mitglieder an den Europawahlen 2004 ermöglicht. Nach die- sen Entscheidungen gingen die Beitrittsverhandlungen in die entscheidende Phase. Am 13. November 2001 wurde in einem Rapport der Kommission zu den Fortschrit- ten bei den Gesprächen festgestellt, das der baldige Abschluss der Verhandlungen möglich sein wird im Fall von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slo- wakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern, während Bulgarien noch nicht weit genug fortgeschritten sind. Im Dezember 2001folgte der Europäische Rat dieser Einschätzung und ermunterte Bulgarien und Rumänien zur Fortsetzung der Vorbe- reitungen und der Wiederaufnahme der Verhandlungsgespräche im Jahr 2002. Au- ßerdem wurde ein Appell an die beiden zypriotischen Völker (Griechen und Türken) abgegeben, ihre Bemühungen um eine Vereinigung der Insel noch vor dem Beitritt zur Union fortzusetzen.88 Im Fall mitteleuropäischen Beitrittskandidaten spielte die Bundesrepublik eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der einzelnen Länder auf die EU-Mitglied- schaft. Besonders intensiv arbeitete man im Rahmen des Twinnings zusammen.89 Die Absicht diese bilateralen Projekte bestand darin, die Kandidaten so schnell wie möglich auf die Anpassung an den Acquis communautaire anzupassen. Die Projekte basierten auf der Partnerschaft der Verwaltungsorgane der Beitrittsländer und ihrer Entsprechungen in den Mitgliedsländern. Deutschland beteiligte sich dabei von allen Staaten am meisten am Transfer von Experten im Verwaltungsbereich – insgesamt nahm die Bundesrepublik an 45 von 1347 derartigen Projekten teil.90

87 K.-R. Korte, A. Maurer, Innenpolitische Grundlagen der deutschen Europapolitik: Kon­ turen der Kontinuität und des Wandels, [in:] H. Schneider, M. Jopp, U. Schmalz (Hrsg.), Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder – Optionen, Europa Union Verlag, Bonn 2002, S. 1999. 88 Zum Thema der Reunifizierung Zyperns im Kotext der Vorbereitungen auf den EU-Beitritt vgl: M. Emerson, N. Tocci, Cyprus as the Lighthouse of the East Mediterranean: Shaping EU Acces­ sion and Reunification Together, Centre for European Policy Studies, Brussels 2002. 89 �������������������������������������������������������������������������������������� Ein Instrument, das auf der Nutzung der Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Ver- waltung und den öffentlichen Organisationen in den Beitrittsländern und ihren Pendants in den Mit- gliedsstaaten beruht. Im Rahmen des Twinnings arbeiten Experten aus den EU-Staaten über 12 Mo- nate mit den entsprechenden Behörden/Ministerien in den Beitrittsländern zusammen und leisten Beratung bei der Umsetung von Projekten im Zusammenhang der Transponierung und Implementie- rung des Acquis communautaire in den jeweiligen Bereichen. 90 G. Müller-Brandeck-Bocquet, Deutsche Leadership in der Europäischen Union? Die Eu­ ropapolitik der rot-grünen Bundesregierung 1998–2002, [in:] eadem (et al.), Deutsche Europapolitik 160 Jenseits der großen Politik Die Beitrittsverhandlungen mit den zehn Kandidaten gewannen im Laufe des Jahres 2002 an Tempo, als die schwierigsten Probleme auf der Tagesordnung standen, etwa Landwirtschaft, Haushalt und Wettbewerb. Im Februar 2002 begann in Deutschland der Wahlkampf. Die Europapolitik war dabei ein wichtigstes Thema. Bundeskanzler Schröder setzte sich entschieden für die Osterweiterung ein und ver- trat die Absicht, dass die Form der Direktsubventionen für die Landwirtschaft in Zukunft zu senken sei, um den Agrarhaushalt der gesamten Union zu stabilisie- ren. Bereits nach seinem Wahlsieg erklärte der Kanzler die deutsche Einwilligung für ein Subventionsniveau von 25% für die Landwirte in den Beitrittsländern – unter der Voraussetzung dass die deutschen Einzahlungen in die Gemeinsame Agrarpolitik eingefroren würden. Diese deutsche Haltung hing mit Schätzungen des Finanzmi- nisteriums zusammen, laut denen das Haushaltsdefizit Anfang 2002 sich auf 2,7% belief und die Prognosen von einem Anstieg bis auf 3,7% ausgingen. Dies bedeutete ein Überschreiten der Kriterien für die Teilnahme an der Währungsunion, worauf eine Strafe von 10 Mio. EUR stand.91 Am 24. Oktober 2002 erzielten Bundeskanzler Schröder und der französi- sche Präsident Jacques Chirac eine Übereinkunft in der Frage der Direktsubventi- onen für die Landwirte in den künftigen neuen Mitgliedsländern. Vereinbart wurde das Einfrieren der Ausgaben auf dem Niveau von 2006. Dieser Kompromiss erfüllte nicht die deutschen Erwartungen, die von einem nominalen Einfrieren der Ausgaben in den Jahren 2006-2013 ausgingen. Außerdem wurde ein schrittweises Ansteigen der Subventionen vereinbart. Auf dem Brüsseler Gipfel der Staats- und Regierungs- chefs der UE am 24.-25. Oktober 2002 wurde beschlossen, dass die Subventionen für die Landwirte in den neuen Mitgliedsländern in den Jahren 2004, 2005, 2006, 2007 entsprechend 25%, 30%, 35% und 40% des Niveaus der Subventionen für die Land- wirte in den „alten“ EU-Ländern betragen und in den Jahren 2007 bis 2013 um 10% jährlich ansteigen werden.92 Auf Antrag der Bundesrepublik und mit der Unter- stützung von Frankreich und Großbritannien wurde eine Senkung des Betrags für die Strukturfonds und den Kohärenzfonds auf 23 Mrd. EUR (die Kommission hatte 25,6 Mrd. EUR vorgeschlagen) für die 10 Neumitglieder in den Jahren 2004- 2006 beschlossen. Auf dem Gipfel des Europäischen Rats mit den Regierungschefs der 10 Beitrittsländer am 12.-13. Dezember 2002 in Kopenhagen wurde beschlossen, die Direktsubventionen für die Landwirtschaft heraufzusetzen (55% im ersten Jahr und in den Folgejahren 60% und 65%). Die Staats- und Regierungschefs der EU- Staaten verkündeten in Kopenhagen in Anwesenheit der Premierminister der Bei- von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Leske+Budrich, Opladen 2002, S. 187. 91 B. Koszel, Stosunki polsko-niemieckie… /Die polnische-deutschen Beziehungen…/, S. 26– 27. Por. G. Müller-Brandeck-Bocquet, Deutsche Leaderschip…, S. 190. 92 P. Kalka, Rola RFN w rozwoju integracji ekonomiczne we Wspólnotach Europejskich / Die Rolle der Bundesrepublik bei der wirtschaftlichen Integration in den Europäischen Gemeinschaf­ ten/, Instytut Zachodni, Poznań 2005, S. 210. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 161 trittsländer den Beschluss über die Einladung von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern zur Europäischen Union. Bestätigt wurde darüber hinaus der drei Monate zuvor in Brüssel ausgehan- delte Kompromiss über das Einfrieren der Ausgaben für die Landwirtschaft und sei- ne Beibehaltung bis 2013. In Kopenhagen wurde angekündigt, dass die Unterzeich- nung der Beitrittsverträge am 16. April in Athen stattfinden wird, sodass sie nach Abschluss der Ratifizierungsprozedur am 1. Mai 2004 in Kraft treten können. Die- se Termine wurden auch tatsächlich eingehalten.93 Nach Ansicht von Bundeskanzler Schröder war der Gipfel von Kopenhagen als Erfolg zu werten. Seine Ergebnisse waren ein Resultat der finanziellen Möglichkeiten, der politischen Notwendigkeit und der Bedürfnisse der Beitrittskandidaten.94 Der Bundestag ratifizierte den Beitrittsvertrag über die Erweiterung der Eu­ ropäischen Union am 3. Juli 2003. Von den 580 abgegebenen Stimmen waren 575 dafür und 1 dagegen bei 4 Enthaltungen. Am 121. Juli wurde der Vertrag vom Bun- desrat genehmigt.95

3.4. Die Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien

Im Herbst 1999 sprach sich Bundeskanzler Gerhard Schröder in Bukarest ein- deutig für den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union aus. Vor den beiden Kammern des rumänischen Parlaments unterstrich, dass „es keine Alterna- tiven gibt für weitere mutige Schritte auf dem Weg der Reform“. Er ermunterte beide Staaten dazu, vor allem die Verwaltung, die Wirtschaft und die Gesellschaft auf euro- päischen Kurs zu bringen. Dabei deklarierte er die deutsche Unterstützung und Hilfe, wobei er unterstrich, dass Deutschland aktiv das Ziel der gleichzeitigen Vertiefung

93 Vertrag über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Uni­ on vom 16. April 2003, Quelle : http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/eubeitrvtr_czeua/ge- samt.pdf (Dezember 2010) 94 Regierungserklärung des deutschen Bundeskanzlers, Gerhard Schröder, zu den Ergebnis­ sen des Europäischen Rates in Kopenhagen vom 12. und 13. Dezember 2002 vor dem Deutschen Bun­ destag am 19. Dezember 2002 in Berlin (gekürzt), „Internationale Politik“ Januar 2003, Quelle: http:// www.internationalepolitik.de/archiv/jahrgang2003/januar03/regierungserklarung-des-deutschen- bundeskanzlers--gerhard-schroder--zu-den-ergebnissen-des-europaischen-rates-in-kopenhagen- vom-12--und-13--dezember-2002-vor-dem-deutschen-bundestag-am-19--dezember-2002-in-berlin-- gekurzt-.html, (Februar 2008). Mehr zu den deutschen Bewertungen des Gipfels von Kopenhagen vgl.: A. Paterek, Stanowisko RFN wobec poszerzenia Unii Europejskiej o kraje Europy Środkowo- Wschodniej Die Haltung der BRD gegenüber der Erweiterung der EU um die Staaten Mittel- und Osteuropas/,[in:] I. Stawowy-Kawka (Hrsg.), Niemcy – Europa – Świat. Studia międzynarodowe, Księga pamiątkowa poświęcona Profesorowi Erhardowi Cziomerowi /Deutschland – Europa – Welt. Internationale Studien/, Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 2007, S. 124–130. 95 „Spiegel“ (online) vom 3. und 11. Juli 2003. 162 Jenseits der großen Politik und Erweiterung der Europäischen Union anstrebt. „Rumänien ist – trotz aller Schwie- rigkeiten – Teil des großen, alle Kandidaten umfassenden Erweiterungsprozesses.“96 Die offiziellen Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien wurden im Ja- nuar 2000 aufgenommen und mit Bulgarien am 15. April und Rumänien am 17. De- zember 2004 in Kopenhagen abgeschlossen. Olaf Leiße dürfte recht haben, wenn er den Abschluss der Verhandlungsgespräche als ein „Kuriosum“, ein absolutes Phänomen in der Geschichte der europäischen Integration bezeichnet. Trotz der enormen Zweifel der Mitglieder der EU wurde die Aufnahme dieser beiden Länder beschlossen, aller- dings auch ihre genaue Beobachtung auf dem weiteren Weg zum Beitritt angekündigt.97 Das Europäische Parlament verabschiedete am 13. April 2005 den Antrag auf Zustim- mung zum Beitritt Bulgariens und Rumäniens. Einen Tag zuvor hatte sich der Parla- mentspräsident, der deutsche Sozialdemokrat Klaus Hänsch noch gegen den Beitritt die- ser Staaten zur Union ausgesprochen. Er kritisierte die Bestätigung der Beitrittsverträge in einem Moment, als noch nicht alle Fragen vereinbart und weiterhin nicht alle Kopen- hagen-Kriterien erfüllt waren. Die Erweiterung der EU um diese Staaten bezeichnete er als „Beitritt an Krücken“98. Der Vertrag über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union wurde am 25. April 2005 in Luxemburg unterzeichnet.99 Die neue Große Koalition aus CDU/CSU und SPD, die seit Herbst 2005 re- gierte, ging an die Frage der nächsten EU-Erweiterung mit größerer Vorsicht her- an.100 Kanzlerin Merkel setzte die Politik der Unterstützung für eine Erweiterung der EU um Bulgarien und Rumänien fort, wobei sie wie ihr Vorgänger die Bedin- gung der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien anmahnte. Das Hauptziel der deut- schen Europapolitik war jedoch die Definition des Wesens der EU selbst, während die Hauptherausforderung die Verabschiedung des Verfasungsvertrags war.101 Die vorsichtige Vernunft der Außenpolitik der Bundesrepublik in der Erweite- rungsfrage lässt sich anhand einer Debatte nachvollziehen, die am 16. Mai 2006 im Eu- ropäischen Parlament stattfand. Die deutschen Abgeordneten, sowohl die mit der SPD

96 Rede des Bundeskanzler vor den beiden Kammern des Parlaments von Rumänien am 24. September 1999, „Bulletin des Presse und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 1. Oktober 1999, Nr. 60, S. 610. 97 O. Leiße, Die EU vor der Südosterweiterung. Bulgariens und Rumäniens schwierige Rück­ kehr nach Europa, „Die Politische Meinung“, November 2006, Nr. 444, S. 31. 98 Debatte im Europäischen Parlament zum Antrag Rumäniens und Bulgariens auf EU- Mitgliedschaft, „Pressemitteilung“ 12/04/2005, Nr. 2, Europäisches Parlament Informationsbü- ro für Deutschland, Quelle: http://www.europarl.de/presse/ pressemitteilungen/quartal2005_2/ presse2005_047, (November 2007). 99 Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Eorpäoischen Union (2005), Quelle: http://eur-lex.europa.eu./JOHtml.do?uri=OJ:L:2005:157:SOM:DE:HTML, (Dezem- ber 2010). 100 Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und der SPD vom 11. November 2005, Quelle: http:// koalitionsvertrag.spd.de/servlet/PB/show/1645854/111105_Koalitionsvertrag.pdf, (październik 2007). 101 Vgl.: J.J. Węc, Kryzys konstytucyjny w Unii Europejskiej /Die Verfassungkrise in der Eu­ ropäischen Union/, „Przegląd Zachodni“ 2006, nr 4, S. 101–117. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen 163 (Helmut Kuhne), der CDU (, Hans-Gert Pöttering, Hartmut Nassauer) als auch den Grünen (Daniel Cohn-Bendit) verbundenen, unterstrichen in ihren Re- debeiträgen, dass die Idee der Erweiterung um diese Staaten an sich keinen Zweifel und Widerstand wecke, dass man aber keine neuen Mitglieder aufnehmen könne, ohne dass diese nicht alle Beitrittskriterien erfüllen würden, da dies den Reformpro- zess innerhalb der Union schwäche. Der bedeutende christdemokratische Politiker Hans-Gert Pöttering, seit 1999 Fraktionsvorsitzender Europäischen Volkspartei – Eu- ropäische Demokraten im Europäischen Parlament, unterstrich, dass die Europäische Union sich noch nicht vollständig mit der letzten Osterweiterung eingerichtet habe. Die kritischste Stimme in dieser Debatte gehörte jedoch Daniel Cohn-Bendit, der deut- lich aussprach, dass diese Staaten noch nicht auf die Mitgliedschaft vorbereitet seien, und daher eine Verschiebung ihrer Aufnahme auf 2008 postulierte.102 Die Beitrittsver- träge sahen jedoch den Beitritt dieser Staaten bis zum 1. Januar 2007 vor. Allerdings erhielt eine „Sicherheitsklausel“, die es den Staaten der Union ermöglichte, einstim- mig und auf Antrag der Kommission dieses Datum auf Januar 2008 zu verschieben. Die Kommission hatte allerdings bereits Ende 2006 ihre positive Stellungnahme zum Stand der Beitrittsvorbereitungen beider Balkanstaaten abgegeben. Nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union erwies es sich, dass das alte Ziel der deutschen Europapolitik seit den Zeiten Adenauers – die Schaf- fung einer Europäischen Föderation – nicht schnell zu erreichen war. Die EU-27 würde bei Beibehaltung der bisherigen institutionellen und prozeduralen Lösungen bei demsel- ben Grad an Integration noch lange nicht zur engeren Kooperation bereit sein. Eventuellen weiteren Erweiterungen steht die Regierung Merkel ausgespro- chen skeptisch gegenüber. Eine Form der Verlangsamung des Prozesses der Aufnah- me weiterer Mitglieder bei gleichzeitiger Intensivierung der Beziehungen zu den bei- trittswilligen Staaten ist die seit 2006 von der Kanzlerin forcierte und vom Auswärtigen Amt ausgearbeitet Konzept der Nachbarschaftspolitik plus, deren Hauptziel die Fül- lung der Sicherheitslücke ist, die sich in den postsowjetischen Staaten gebildet hat. Das Eintreten der Union für Demokratie und Stabilität in der Ukraine, Moldawi- en, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Weißrussland soll eine neue Qualität in der Nachbarschaftspolitik der EU schaffen. Die Voraussetzung für den Erfolg einer Politik der Förderung von Reformen in den osteuropäischen und Kaukasus- staaten ist die Unterstützung Russlands.103 In diese Richtung zielen solche Maßnah-

102 Bericht über den Fortschritt auf dem Weg des Beitritts Bulgariens und Rumäniens (De­ batte), 16. Mai 2004, Europäisches Parlament, Straßburg, Quelle: http://www.europarl.europa.eu/ sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE+20060516+ITEMS+DOC+XML+V0//PL#creitem35, (Januar 2008); Bulgarien, Rumänien: EU-Beitritt zum 01. Januar trotz „blauen Briefs“, „Thema aus Brüssel“ Mai 2006, Friedrich Ebert Stiftung, Europabüro Brüssel, S. 4–5. Quelle: http://library.fes.de/ pdf-files/bueros/bruessel/03791.pdf, (Januar 2008). 103 Berlin entwickelt neue Nachbarschaftspolitik für die EU, „Frankfurter Allgemeine Zei- tung“ vom 3. Juli 2006. Vgl.: B. Koszel, Stosunki Polska-Niemcy a bezpieczeństwo europejskie / Die deutsch polnischen Beziehungen und die europäische Sicherheitspolitik, [in:] W.M. Góralski, 164 Jenseits der großen Politik men der Regierung Merkel wie die während es deutschen Ratsvorsitzes vorbereitete Strategie der neuen Nachbarschaft der EU mit den Ländern Mittelasiens (Kasachs- tan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan), die vom Europäischen Rat auf einer Sitzung am 21.-22. Juni 20007 bestätigt wurde.104 Nach dem georgisch- russischen Konflikt trat man jedoch von der von SPD befürworteten Neuen Ostpo- litik zurück. Die Regierung der Großen Koalition unterstützte das polnisch-schwe- dische Projekt der Ostpartnerschaft der EU. Im Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 zwischen CDU/CSU und FDP steht, dass das Ziel der Nachbarschaftspolitik die vielseitige, auf gemeinsamen Werten beruhende Kooperation mit den östlichen Nachbarn sei.105 Die Initiative der Ostpartnerschaft wurde offiziell auf der Zusam- menkunft des Europäischen Rats am 7. Mai 2009 bestätigt.

4. Schlussfolgerungen

Deutschland hat eine ausgesprochen aktive Rolle als Fürsprecher der europä- ischen Osterweitung und Anwalt der Beitrittskandidaten aus Mitteleuropa gespielt. Insbesondere unter der Regierung Kohl drängte das stärkste Mitgliedsland der Union auf eine Erweiterung um die mitteleuropäischen Staaten. Sichtbar wurde das vor al- lem bei den wesentlichen Ereignissen und Entscheidungen, die den Ländern Mittel- europas den Weg nach Europa öffneten. Unter den zwölf Kandidaten für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hatten am frühesten – noch Anfang der siebziger Jahre – Malta und Zypern ihre Beitritts- gesuche eingereicht. Nach dem Zusammenbruch der europäischen Ordnung des Kalten Kriegs war das vereinte Deutschland am stärksten daran interessiert, die Integration der Staaten der Visegrád-Gruppe voranzutreiben. Die ersten Assoziierungsabkommen wurden im Dezember 1991 geschlossen. Als nächstes unterstützte Deutschland den Ab- schluss entsprechender Verträge mit Bulgarien und Rumänien und erst später sprach es sich für die Assoziierung der drei postsowjetischen Staaten des Baltikums – Est- land, Lettland und Litauen – aus. In allen geschlossenen Europaabkommen befand sich die Zusage der Mitgliedschaft der assoziierten Staaten in der Union. Deutschland spiel-

Polska-Niemcy 1945-2007. Od konfrontacji do współpracy i partnerstwa w Europie. Studia i doku­ menty /Polen-Deutschland 1945-2007. Von der Konfrontation zur Zusammenarbeit/, PISM, Warszawa 2007, S. 256-257. Vgl.: B. Lippert, Die EU-Nachbarschaftspolitik in der Diskussion – Konzepte, Re­ formvorschläge und nationale Positionen, „Internationale Politikanalyse“, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2007, Quelle: http://library.fes.de/pdf-files/id/04736.pdf, (Januar 2008). 104 Europäischer Rat in Brüssel 21.-22. Juni 2007, Konklusion des Vorsitzes, Quelle: http://europa. eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/07/2&format=HTML&aged=0&language=PL&guiLa nguage=pl, (März 2008). Vgl.: Resolution des Europäischen Parlaments vom 20. Februar 2008 in der Sa- che der EU-Strategie für Mittelasien (2007/2102/(INI)), Quelle: http://www.europarl.europa.eu/sides/get- Doc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0059+0+DOC+XML+V0//PL#def_1_3, (marzec 2008). 105 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU,CSU und FDP,. , S. 117. Schlussfolgerungen 165 te eine Schlüsselrolle als Initiator und Förderer der Heranführungshilfe, die im Rahmen der Programme PHARE, SAPARD und IPSA erteilt wurde. Deutschland stand in einem politischen Dialog mit den mitteleuropäischen Staaten und unterstützt die von ihnen ge- schaffenen Strukturen des „neuen Regionalismus“ wie Visegrád-Gruppe, CEFTA, Mit- teleuropäische Initiative und Ostseerat, aber auch die von Frankreich vorgeschlagene Initiative des Stabilitätspakts in Europa. Das Ziel dieser Unternehmungen war die Un- terstützung der Vorbereitung der Beitrittskandidaten auf die Erfüllung der vom Europä- ischen Rat 1993 in Kopenhagen festgelegten Beitrittskriterien. Die mitteleuropäischen Staaten reichten ihre Beitrittsgesuche in den Jahren 1994-1996 ein. Deutschland reagierte darauf wohlwollend, bestand aber auf ei- nem Junktim zwischen der Erweiterung der EU und der Vertiefung ihrer inneren Integration. Besonders deutlich wurde das in der Zeit des deutschen Ratsvorsit- zes in der zweiten Jahreshälfte 1994. Auf Antrag der Bundesrepublik im Dezem- ber dieses Jahres richtete der Europäische Rat feste Strukturen des Dialogs der EU mit den Beitrittskandidaten ein und beschloss, dass die Osterweiterung auch Zypern und Malta umfassen sollte. Von der positiven Grundhaltung der Bundesrepublik ge- genüber der Osterweiterung zeugen auch die ab 1997 immer wieder vorgebrachten Äußerungen führender deutscher Politiker, die erste Gruppe der Beitrittsstaaten, dar- unter Polen, könne bereits im Jahr 2000 oder 2002 aufgenommen werden. Nach der Vereinbarung der Grundsätze für die institutionelle Reform der EU im Vertrag von Amsterdam wurde im Dezember 1997 die Einladung der Kandidaten zu Beitrittsverhandlungen möglich. Zunächst umfassten diese die Gruppe der sechs besser vorbereiteten Staaten: Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zy- pern (die so genannte Luxemburg-Gruppe). Die Beitrittsgespräche wurden im März des Folgejahres aufgenommen. In der ersten Jahreshälfte 1999 übernahm Deutschland erneut den Ratsvorsitz, diesmal unter der Führung der neuen Koalitionsregierung aus SPD und Bündnis’90/ Grünen. Die neue Regierung von Gerhard Schröder begann entschiedener nach ins- titutionellen Reformen innerhalb der Union und einer Übernahme der Erweiterung nicht nur durch die größten Nettozahler an den EU-Haushalt zu verlangen. Sie kün- digte auch einen entschiedeneren Schutz der deutschen Interessen bei den Beitritts- verhandlung mit den assoziierten Staaten an. Deutschland führte das Strategiepapier der Agenda 2000, in dem das Paket der internen Reformen und der Finanzrahmen für die Osterweiterung (die Höhe der Ausgaben in den Jahren 200-2006) enthalten war, zur Verabschiedung durch den Europäischen Rat im März 1999. Im Dezember 1999 wurden weitere sechs Kandidaten zu Beitrittsverhand- lungen eingeladen: Litauen, Lettland, die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Malta (die so genannte Helsinki-Gruppe). Diese Verhandlungsgespräche wurden im Januar des Folgejahres aufgenommen. Nach der Vereinbarung von institutionellen Reformen im Jahr 2000 konnten die Beitrittsverhandlungen mit allen Kandidaten beschleunigt werden. Deutschland 166 Jenseits der großen Politik spielte eine Schlüsselrolle als der Staat, der den Beitrittsländern besondere Unter- stützung leistete. Allerdings standen zu dieser Zeit auch die schwierigsten Themen auf der Tagesordnung. Im Dezember 2001 notierte der Europäische Rat Defizite bei der Vorbereitung Bulgariens und Rumäniens. Ein Jahr darauf konnten nach teils dra- matisch verlaufenen Gesprächen die Beitrittsverhandlungen mit zehn Beitrittskan- didaten erfolgreich abgeschlossen werden. Bundeskanzler Gerhard Schröder wer- tete dies als Erfolg und die Ergebnisse als Resultat der finanziellen Möglichkeiten, der politischen Notwendigkeit und den Bedürfnissen der Beitrittskandidaten. Im April 2003 wurde der Beitrittsvertrag mit zehn Staaten unterzeichnet, und am 1. Mai 2004 wurde die Osterweiterung der Europäischen Union Wirklich- keit. Eine Ergänzung war die Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit Bulgarien und Rumänien. Der Standpunkt der Bundesrepublik war auch hier wohlwollend, al- lerdings restriktiver als bei der Erweiterung von 2004. Bemängelt wurde insbeson- dere die Nichterfüllung einiger Kopenhagen-Kriterien und EU-Standards. Dennoch unterzeichneten Bulgarien und Rumänien am 25. April 2005 den Beitrittsvertrag und wurden am 1. Januar 2007 in die Europäische Union aufgenommen. Die deutsche Einschätzung dieser vorerst letzten Erweiterung wurde zwar ebenfalls in den Kate- gorien einer „historischen Chance“ vorgebracht, fiel aber dennoch deutlich nüchter- ner aus. Die im Herbst 2005 gebildete Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Angela Merkel stand der Frage weiterer etwaiger Erweiterungen skeptisch und zurückhaltend gegenüber. • Die Bilanz der deutschen Haltung zur Osterweiterung lässt sich in eini- gen Punkten zusammenfassen: • Konsequente Unterstützung der mitteleuropäischen Staaten, Zyperns und Maltas bei ihren Aspirationen zur Annäherung und Mitgliedschaft in der Europäischen Union, • Förderung aller Beitrittskandidaten – vor allem der Visegrád-Gruppe – und Fürsprache auf dem europäischen Forum, • Beibehaltung der Unterstützung der Beitrittskandidaten als strategisches Ziel trotz des Regierungswechsels und der Machtübernahme der rot-grü- nen Koalition, • Erhebliche Bereitschaft der Koordinatoren der deutschen Europapolitik zur Suche nach Kompromisslösungen, insbesondere bei den Beitrittsver- handlungen, • Verknüpfung der Vertiefungsprozesse der europäischen Integration mit der Erweiterung der EU um neue Mitglieder. • Die Aufnahme von zwölf Staaten Mitteleuropas und des Mittelmeerraums war die größte Erweiterung in der Geschichte der europäischen Integrati- on. Nach deutscher Auffassung bedeutete sie, dass sich die EU den Gren- zen ihrer Möglichkeiten nähert, was ihr Funktionieren und die Perspekti- ve eventueller weiterer Erweiterungen angeht. 167

KAPITEL V

Die Vorbereitung auf die erweiterung der europäischen Union um die staaten des West-balkans und die Türkei

1. Die Europäische Perspektive des Westbalkans

Der Europäische Rat sprach im Dezember 2002 bei der Entscheidung über die Aufnahme der neuen Mitglieder zur Europäischen Union im Jahr 2004 von der Möglichkeit weiterer Erweiterungen der Union. Im Moment des Beitritts Bulgariens und Rumäniens rückten die europäischen Aspirationen des Westbalkans in den Mittelpunkt des Interesses. Schon zuvor hatte sich die Europäische Gemeinschaft aktiv für den demo- kratischen Wandel in dieser Region eingesetzt. Ab Juli 1991 wirkte auf dem Gebiet des Westbalkans die Überwachungsmission der Europäischen Gemeinschaft (European Community Monitoring Mission – ECMM), die im Dezember 2000 durch die Über- wachungsmission der Europäischen Union (European Union Monitoring Mission – EUMM) ersetzt wurde. Die Mission leistete dem Generalsekretär / Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Javier Solana) Rechenschaft. Dar- über hinaus nahm das Europäische Amt für humanitäre Hilfe (European Community Humanitarian Aid Office – ECHO) bereits in der ersten Hälfte der neunziger Jahre sei- ne Tätigkeit in der Region auf. Die EG bot darüber hinaus den zerstrittenen Seiten ihre Vermittlungsdienste an. Sie engagierte sich zusammen mit UNO, KSZE und NATO für Maßnahmen zur Schaffung eines dauerhaften Friedens in der Region.1 Auf das Engagement Deutschlands im Westbalkan hatten neben den Sicher- heitsfragen auch wirtschaftliche Interessen Einfluss. Die BRD versuchte als Staat, dessen Export nach Jugoslawien sich im Jahr 1990 auf 8,3 Mrd. DM belief, sich 1 Vgl.: J.S. Steinberg, The Response of International Institutions to the Yugoslavia Conflict: Implications and Lessons, [in] F.S. Larrabee (ed.), The Volatile Powder Keg: Balkan Security after the Cold War, The American University Press, Washington-Santa Monica 1994, S. 244 i n.; R. Zięba, Wspólna Polityka Zagraniczna i Bezpieczeństwa Unii Europejskiej /Die gemeinsame Außen- und Si­ cherheitspolitik der Europäischen Union/, Wydawnictwa Akademickie i Profesjonalne, Warszawa 2007, S. 135–148. 168 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… eine Zone der wirtschaftlichen Dominanz zu sichern. Die deutsche Mark funktionier- te bereits seit 1991 in Slowenien als parallele Währung, in Bosnien und Herzegowina seit 1997 und in Montenegro seit 1999. Das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien stellt nach Ansicht von Eduard Husson „ein ideales Gebiet für die Entwicklung einer Art von Imperialismus dar“, den er auch als „deutschen Soft-Wirtschaftsimperialismus“2 bezeichnete. Die Bedeutung der wirtschaftlichen Beweggründe für das Engagement der Bundesrepublik in dieser Region sind jedoch nicht überzubewerten, da der Ge- genwert des Handelsverkehr mit allen Staaten des Westbalkans zusammen Ende der neunziger Jahre kaum mehr als die Hälfte des Handelsaustausches mit Polen betrug. Die Priorität der deutschen Politik gegenüber dem Balkan war vor allem ein Handeln zur Sicherung von Frieden und Sicherheit.3

1.1. Der Stabilitätspakt für Südosteuropa

Das Angebot des Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurde durch die deut- sche EU-Ratspräsidentschaft am 10. Juni 1999 auf der internationalen Konferenz in Köln vorgestellt. Teilnehmer an dieser Konferenz waren, neben den Außenminis- tern der Mitgliedstaaten der Union, die Chefs der Außenämter Russlands, der USA, Japans, Kanadas, der Türkei sowie der Balkan-Staaten (Albanien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien4, Slowenien, Rumänien, Bulgarien). Darüber hinaus nahmen auch Vertreter zahlreicher internationaler Organisationen teil, darunter subre- gionaler Balkan-Organisationen.5 In Köln wurden die Ziele und Leitlinien des Pakts festgelegt. Bestätigt wurden diese während des Treffens in Sarajevo vom 29.‑30. Juli 1999.6 Als Ziel des Pakts wurde die Unterstützung der Länder der Region (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Slowenien, Bulgarien und Ru- mänien, auch Montenegro, als Teil der Bundesrepublik Jugoslawiens, wurde mit- einbezogen) in ihren Bemühungen um die Stärkung des Friedens, der Demokratie,

2 É. Husson, Inne Niemcy /Ein anderes Deutschlad/, Wydawnictwo Akademickie Dialog, Warszawa 2008, S. 126. 3 E. Cziomer, Niemcy wobec bezpieczeństwa i stabilizacji na Bałkanach ze szczególnym uwzględnieniem konfliktu w Kosowie u progu XXI wieku /Deutschland gegenüber der Sicherheits- und Stabilisierungspolitik auf dem Balkan unter besonderer Berücksichtigung des Kosovo-Kon­ flikts zu Beginn des 21. Jahrhunderts/, „Prace Komisji Środkowoeuropejskiej Polskiej Akademii Umiejętności“ 2001, Bd.. IX, S. 234. 4 Im Bezug auf diesen Staat wurde angesichts griechischer Widerstände gegen den Namen Mazedonien die Bezeichnung Jugoslawische Republik Mazedonien gewählt. 5 H.-G. Ehrhart, The Stability Pact for South Eastern Europe – Strategic Success or Botched- up Bungle?, „OSCE Yearbook“ 2000, Vol. VI, S. 165 u. a. 6 Vgl.: Sarajevo Summit Declaration, 30 July 1999, Sarajevo, Quelle: http://www.stabili- typact.org/constituent/990730-sarajevo.asp, (März 2008). Eingehender: E. Cziomer, Pakt Stabilności dla Europy Południowo-Wschodniej /Der Stabilitätspakt für Süd- und Osteuropa/, [in:] B. Klich (Hrsg.), Ogniska konfliktów: Bałkany, Kaukaz /Konfliktherde: Balakan, Kaukasus/, Instytut Studiów Strategicznych, Kraków 2000, S. 17-30. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 169 der Achtung der Menschenrechte und der Sicherung des Wohlstands genannt. Dar- über hinaus wurde die Einbindung Serbiens in den Pakt angekündigt, jedoch unter der Bedingung, dass Slobodan Milošević die Macht entzogen wird. Wie Gerhard Schröder am 24. August 1999 in einer Ansprache vor den bei- den Kammern des rumänischen Parlaments betonte, ist der Stabilitätspakt ein lang- fristiges Projekt und hat vor allem die Aufgabe, diese Länder der EU anzunä- hern und ihnen bei einem eventuellen Beitritt Hilfestellung zu leisten. Der Weg zur Mitgliedschaft besteht aus der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien im Vertrag von Amsterdam.7 Anzumerken ist, dass der erste Sonderkoordinator des Pakts sei- tens der Europäischen Kommission der deutsche Kommissar Bodo Hombach (SPD) war. Die Hauptaufgabe des Koordinators ist die Vorbereitung bestimmter Pläne und Projekte für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Entwicklung und Zusam- menarbeit sowie die Erschließung von EU-Finanzmitteln, Hilfeleistungen interna- tionaler Finanzorganisationen und privaten Spendern. In der Bundesrepublik selbst engagierten sich direkt nach der Annahme des Stabilitätspakts für den Wiederaufbau des Balkans etwa 250 Experten in verschiedenen Sparten auf Bundes- und Landes- ebene, Unternehmer und Privatorganisationen. Bei der Suche nach Geldgebern wur- de am 19. Januar 2000 in Berlin auf Initiative von Bodo Hombach zur Unterstüt- zung u. a. des Bundesverbands der Deutschen Industrie und des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft das Business Advisory Council gegründet. Man schätzt, dass von Juni 1999 bis Frühjahr 2000 im Rahmen von drei Geberkonferenzen die de- klarierte Hilfe für wirtschaftlichen Wiederaufbau, Entwicklung und Zusammenar- beit etwa 5‑6 Mrd. EUR betrug.8 Außenminister Joschka Fischer betonte Anfang 2000 vor dem Bundestag, dass der Balkan als ununterbrochene Quelle von Konflikten und Kriegen in der Ge- schichte des europäischen Kontinents „befriedet“ werden müsse durch Einbin- dung dieser Region in die europäische Integration, was einen wesentlichen Beitrag zur Friedenssicherung in Europa darstellen werde.9 Deutschland, das eine sehr große Flüchtlingswelle aus dem kriegsgeplagten Jugoslawien aufgenommen hat, befürchtet, dass im Vereinigungsprozess mit der EU aus den Westbalkanstaaten sehr viele illegale Zuwanderer kommen werden. Die-

7 Rede des Bundeskanzler vor den beiden Kammern des Parlaments von Rumänien am 24. September 1999, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 1. Oktober 1999, Nr. 60, S. 609–610. Vgl.: B. Hombach, Stability Pact for South-Eastern Europe a New Perspec­ tive for the Region, „PerceptionS. Journal of International Affairs“ 2000, Vol. V, No. 3, S. 5-21. 8 E. Cziomer, Niemcy wobec bezpieczeństwa i stabilizacji na Bałkanach… /Deutschland angesichts der Sicherheit und Stabilisierung auf dem Balkan…/, op. cit., S. 241-242; vgl. auch: idem, Pakt Stabilności dla Europy…, /Der Stabilitätspakt für Europas…./, op. cit., S. 29-30; offizielle Webseite des Stabilitätspakts für Südosteuropa, http://www.stabilitypact.org/bac/default.asp. 9 Regierungserklärung abgegeben von Bundesaußenminister Joschka Fischer vor dem deut­ schen Bundestag am 21. Januar 2000, S. 5,Quelle: http://www.auswaertiges-mt.de/6_archiv/2/r/ r000127a.htm, (März 2005). 170 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… se Befürchtungen sind nicht nur mit der Sorge um den eigenen Arbeitsmarkt ver- bunden, sondern auch mit der Verhinderung des „Imports“ von organisiertem Ver- brechen und Terrorismus. Nach den Terroranschlägen in New York und Washington (11. September 2001) und Madrid (11. März 2004) ergriff die Europäische Union eine Reihe von Maßnahmen im Rahmen der 3. und 2. Säule, die einem Verstoß ge- gen die innere Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten vorbeugen und entgegenwirken soll- ten.10 Die wichtigste davon ist das Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus und der mit ihm verbundene Plan (vom 26. März 2004), der Einsatz eines Koordina- tors zur Terrorismusbekämpfung, die Festlegung einer Solidaritätsklausel für den Fall eines Terroranschlags im diskutierten Vertrag über eine Verfassung, Haager Pro­ gramm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit in der Europäischen Union (vom 4. November 2004) sowie die Anti-Terror-Strategie der Europäischen Union (vom 16. Dezember 2005). Im Rahmen der Bestrebungen nach einer Einbindung der Westbalkanstaa- ten in diese Vorhaben, fand auf Initiative Österreichs vom 4.-5. Mai 2006 in Wien eine Ministerkonferenz zum Thema Die Rolle der internen Sicherheit in den Bezie­ hungen zwischen der Europäischen Union und ihren Nachbarn statt. Die Union wurde von den Außenministern Österreichs und Deutschlands vertreten; an der Kon- ferenz nahmen zudem Vertreter aus Serbien und Montenegro, Bosnien und Herzego- wina, Mazedonien, Albanien, Rumänien und Moldawien sowie den USA und Russ- land teil. Das Ziel dieses Zusammentreffens war die Beteiligung an der Erweiterung der Anwendung der auf dem EU-Forum Anfang 2005 angenommenen Strategie für die äußere Dimension der Zusammenarbeit in Justiz und inneren Angelegenhei­ ten: globaler Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit durch die mit der EU verbun- denen und in die Europäische Nachbarschaftspolitik eingebundenen Staaten. Dabei ging es darum, die Staaten Südosteuropas zur Annahme der Schengen-Standards durch die Schließung einer multilateralen Konvention über die polizeiliche Zusam- menarbeit zu bewegen. Österreich und Deutschland führen ihre Aktivität in Zusam- menarbeit mit Europol und im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa durch. Das Resultat der Konferenz war eine Partnerschaftserklärung für die innere Sicher- heit und die Vereinbarung des Entwurfs für eine Konvention über die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen der EU und den Staaten Südosteuropas. Wie Artur Grusz­ czak bemerkte, „bestätigt die Teilnahme der Bundesrepublik das große Engagement dieses Staats für die Stabilisierung auf dem Balkan, auch im Rahmen der inneren Si- cherheit, insbesondere der Verhinderung und Bekämpfung des organisierten Verbre- chens (Schmuggel von Drogen, Waffen und gestohlenen Autos; illegale Migrationen und Menschenhandel; Fälschung von Währungen und Dokumenten), dessen Folgen der deutsche Staat zu spüren bekommt“11.

10 P. Wilkinson, International terrorism: the changing threat and the EU’s response, „Chail- lot Paper“, No. 84, October 2005, S. 29-50. 11 A. Gruszczak, Rola Niemiec w polityce bezpieczeństwa wewnętrznego Unii Europejskiej Die Europäische Perspektive des Westbalkans 171 1.2. Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess

Ein bedeutender Wendepunkt in den Beziehungen der EU mit dieser Region war der Kosovo-Krieg 1999. Dieser provozierte ein verstärktes Engagement der Uni- onsstaaten für die Stabilisierung und Unterstützung der Reformen in dieser Region durch die Integration der Hilfsmaßnahmen im Rahmen eines einzigen Instruments.12 Zum Hauptelement der Annäherung der Balkanstaaten an die EU wurde der Stabili- sierungs- und Assoziierungsprozess (Stabilization and Association Process – SAP), in dessen Rahmen die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (Stabilization and Association Agreements) mit den Westbalkanstaaten getroffen wurden. Die Erfüllung der Bedingungen der Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen sollte den Balkan- staaten bei der Vorbereitung auf eine eventuelle Mitgliedschaft helfen. Diese Abkom- men wiesen eine ähnliche Struktur und Ziele wie die europäischen Abkommen auf, die in den neunziger Jahren mit den mitteleuropäischen Staaten getroffen wurden. Die EU hat bislang mit Kroatien (29. Oktober 2001), Mazedonien (9. April 2004), Albanien (12. Juni 2006), Montenegro (15. Oktober 2007), Serbien (29. April 2008) und Bosnien und Herzegowina (16. Juni 2008) Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen unter- zeichnet. Im Juni 2000 sprach man sich während der Europaratssitzung in Santa Maria da Feira positiv über eine potenzielle Mitgliedschaft der Balkanstaaten in der EU aus. Im November 2000 wurde das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen während des EU-Balkan-Gipfels in Zagreb als das „Herz der Unionspolitik“ bezüglich dieser Re- gion anerkannt.13 Knapp 3 Jahre später wurde auf dem EU-Westbalkan-Gipfel in Thessa- loniki erneut die Rolle des SAP bei der Vorbereitung der Balkanstaaten auf eine eventu- elle Mitgliedschaft betont. Dabei wurde auch erklärt, dass zukünftig „die Balkanstaaten zu einem integralen Bestandteil des vereinten Europas werden“ müssten.14 Die aus der EU in die Westbalkanstaaten fließende Finanzhilfe wird im Rah- men diverser Programme und Stiftungen realisiert, vor allem: PHARE, OBNOVA-

/Die Rolle Deutschlands in der Politik der inneren Sicherheit der Europäischen Union/, [in:] I. Sta- wowy-Kawka (Hrsg.), Niemcy – Europa – Świat. Studia Międzynarodowe. Księga��������������������� pamiątkowa po­ święcona Profesorowi Erhardowi Cziomerowi /Deutschland – Europa – Welt. Internationale Studien. Gedenkbuch für Professor Erhard Cziomer/, Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 2007, S. 69-70. 12 ������������������������������������������������������������������������������� Die Bemühungen der BRD und Frankreichs für den Frieden im Kosovo und das Enga- gement für die Lösung der Konflikte auf dem Balkan vgl. eingehender: S. Pfeiffer, Die deutsch- französische Partnerschaft: störanfällig, aber strapazierfähig? Eine Analyse im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik (1990 - 2000), Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main [u.a.] 2006. 13 Zagreb Summit 24 November 2000, Final Declaration, Quelle: http://ec.europa.eu/enlarge- ment/enlargement_process/accession_process/how_does_a_country_join_the_eu/sap/zagreb_sum- mit_en.htm, (Februar 2008). 14 EU-Western Balkans Summit-Declaration, Thessalonica 21 June 2003, Quelle: http:// ec.europa.eu/enlargement/enlargement_process/accession_process/how_does_a_country_join_the_ eu/sap/thessaloniki_summit_en.htm, (Januar 2008). 172 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Programm – beide Programme wurden nach 2000 durch die CARDS (Community Assistance for Reconstruction, Development and Stabilization) und die humanitäre Hilfe ECHO ersetzt. Über einen Zeitraum von 10 Jahren, von 1991 bis 2001, be- trug diese für Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, dem das ehemalige Jugoslawien (mit Kosovo, Serbien und Montenegro) und Mazedonien insgesamt fast 8,7 Mrd. EUR.15 Im Rahmen von CARDS wurden hingegen Projekte in den Jahren 2000-2006 mit einem Gesamtbetrag von 4,65 Mrd. EUR finanziert. Seit Anfang 2007 werden die Westbalkanstaaten durch ein neues Unionsprojekt unterstützt – das Inst- rument für Heranführungshilfe (Instrument for Pre-Accession Assistance – IPA).16 Der Westbalkan nutzte, ähnlich wie die Staaten Mitteleuropas, die verschiede- nen Strukturen der regionalen Zusammenarbeit zum Zweck der besseren Vorbereitung auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Sie enthielten eine Reihe sowohl bilateraler als auch multilateraler Handelsübereinkünfte zwischen den Staaten unterei- nander sowie mit von der EU privilegierten Staaten, wie z.B. der Türkei, der Ukraine oder Marokko. Einige der wichtigsten Abkommen waren die Verträge über den Beitritt Kroatiens (2003) und Mazedoniens (2006) zur CEFTA. Nach dem Beitritt des Großteils der CEFTA-Staaten zur Europäischen Union 2004 und 2007 verlor die Mitteleuropäi- sche Freihandelszone an Bedeutung. In ihr verblieben nur Kroatien und Mazedonien, aber im Mai 2007 traten Bosnien und Herzegowina, Moldawien, Serbien, Monteneg- ro, Albanien und Kosovo bei. Von den Mitgliedstaaten der EU wurde dieser Schritt als ein Zeichen politischer Reife gesehen und stieß auf große Befürwortung. Außerdem nutzten die Westbalkanstaaten als „Brücke“ zur Integration mit der Europäischen Union subregionale Gruppierungen17, solche wie z.B. die Mit- teleuropäische Initiative (Central European Initiative – CEI), die Schwarzmeer-Wirt- schaftskooperation (Black Sea Economic Co-operation – BSEC)18, der Kooperati- 15 Vgl. eingehender: Aufstellung der EU-Finanzhilfeleistungen für die einzelnen Staaten des Westbalkans in den Jahren 1991-2001: H.-J. Axt, Vom Wiederaufbauhelfer zum Moderniesie­ rungsagenten. Die EU auf dem Balkan, „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 2003, Bd. 10-11, S. 20. 16 Näher zum Thema der Nutznießer der IPA, der Ziele, des Rahmens der Implementie-Implementie- rung der Hilfsprogramme vgl. VERORDNUNG (EG) Nr. 1085/2006 DES RATES vom 17. Juli 2006 zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA), Quelle: http://eur-lex.europa.eu/LexU- riServ/site/de/oj/ 2006/l_210/ l_21020060731pl00820093.pdf, (März 2008); 17 �������������������������������������������������������������������������������������� Näher zum Thema der Rolle der subreginalen Gruppierungen bei der Stärkung der Sicher- heit und Zusammenarbeit in Europa vgl.: M. Emerson, M. Vahl, Europe’s Black See dimension – mo­ del european regionalizm, prêt-à-porter, [in] T.D. Adams, M. Emerson, L.D. Mee, M. Vahl, Europe’s Black Sea Dimension, Centre for European Policy Studies, Brussels 2002, S. 1-35. Vgl.: A. Cottey (ed.), Subregional Cooperation in the New Europe: Building Security, Prosperity and Solidarity from the Barents to the Black Sea, Macmillan, Basingstoke 1999, S. 153-212; R. Zięba, Instytucjonalizac­ ja bezpieczeństwa europejskiego: koncepcje – struktury – funkcjonowanie /Die Institutionalisierung der europäischen Sicherheit: Konzeptionen – Strukturen – Funktionen/, wyd. IV, Wydawnictwo Nau- kowe Scholar, Warszawa 2004, S. 251-293. 18 Mitglieder sind: Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Grichenland, Moladwien, Rumänien, Russland, Türkei, Ukraine. Am 1. Mai 1999 wurde die BSEC zu einer voll- berechtigten internationalen Organisation. Eingehender dazu vgl.: D. Sezer, Black Sea Economic Co- Die Europäische Perspektive des Westbalkans 173 onsrat für Südosteuropa (South-East European Co-operation Process – SEECP)19, die Adriatisch-Ionische Initiative (Adriatic-Ionian Initiative – AII)20. Ähnlich wie die Staaten Mitteleuropas näherten sich die Westbalkanstaaten Westeuropa durch den Beitritt zum Europarat (Albanien 1995, Moldawien 1995, die ehemalige Jugo- slawische Republik Mazedonien 1995, Kroatien 1996, Bosnien und Herzegowina 2002, Serbien 2003, Montenegro 2007) sowie durch Unterzeichnung von Handels- und Normalisierungsabkommen im Rahmen des Stabilitätspakts.21 Erwähnenswert ist auch die Schaffung einer Energiegemeinschaft nach dem Vorbild der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Der Vertrag über die Energiegemeinschaft zwi- schen der Europäischen Gemeinschaft und Albanien, Bulgarien, Rumänien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro, Serbien, der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien sowie der vorübergehenden Mission der UNO im Kosovo, unter Berufung auf die Annäherung zur EU, zielte auf die Festsetzung eines integ- rierten Markts für Erdgas und elektrische Energie ab.22 Die Europäische Union unterstützt die Entwicklung der regionalen Zusam- menarbeit zwischen den Staaten, die eine europäische Perspektive haben. An vielen davon nehmen die an den Westbalkan grenzenden Mitgliedstaaten der Union teil, vor allem Griechenland, Italien, Österreich, aber auch die mitteleuropäischen Staa- ten, die bereits der EU beigetreten sind. operation Project: Anarchy, the Demise of Bipolarity, and the Turkish Call on the Regional Players to Co-operate rather then Defect, [in:] European Security in the 1990s: Problems of South-East Eu­ rope, Proceedings of the Rhodes Conference, 6–7 September 1991, UNIDIR, United Nations, New York 1992, S.155–161; A.Y. Kolat, Black Sea Economic Co-operation in Perspective, „Eurasian Stu- dies“, (Ankara), Vol. 3, No. 3, Fall 1996, S. 29 (21-29); V. Şandru, Interdependence of Economic Co-operation, Security and Good Neighbourliness in the Black Sea Area, „Romanian Journal of In- ternational Affairs“ 1997, Vol. III, No. 1, S. 128–130; N. Micu, Black Sea Economic Co-operation: Achievements and Prospects, ibidem, S. 76-77. 19 Gründungsmitglieder waren im Jahr 1996 Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Mazedonien, Rumänien, Die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro), die Türkei. Später traten bei: Kroatien 2005, Moldawien 2006 (zuvor Beobachterstatus), Montene- gro 2007. Mehr Informationen zur SEECP auf der Webseite: http://www.mvpei.hr/seecp/english.htm. Vgl.: Ü. Çeviköz, European Integration and Regional Co-operation in Southeast Europe, „Percepti- ons“, Vol. II, No. 4, December 1997-February 1998, S. 143-153. 20 ������������������������������������������������������������������������������������������ Die Adriatisch-Ionische Initiative (AII) wurde auf einem Gipfel der Außenminister von Al- banien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Griechenland Italien und Slowenien in Ancona am 19.-20. Mai 2000 geschlossen. Im November desselben jahres trat die Bundesrepublik Jugoslawien bei. Das hauptziel der AII ist die Schaffung einer Zone von Frieden, Stabilität und Wohlstand in gutnachbarschaft- lichen Beziehungen und Zsammenarbeit bei der Bekämpfung jedweder illegalen Machenschaften. 21 Vgl.: F.L. Altman, Regionale Kooperation in Südeuropa, „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 2003, Bd. 10-11, S. 27-33. 22 Vgl.: Beschluss des Rates vom 29. Mai 2006 über den Abschluss des Vertrags zur Gründung der Energiegemeinschaft durch die Europäische Gemeinschaft (2006/500/EG), Quelle: http://eur-lex. europa.eu/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexplus!prod!CELEXnumdoc&numdoc=32006D0500& lg=de (Dezember 2010); Vertrag zur Gründung der Energiegemeinschaft, Quelle: http://eur-lex.euro- pa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:198:0018:0018:DE:PDF, (Dezember 2010). 174 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Der Rat der Europäischen Union nahm am 16. Juni 2003 die Thessaloni­ ki-Agenda für den Westbalkan an. Auf dem Gipfel des Europarats in Thessaloniki vom 19.‑20. Juni 2003 unterstützen die Regierungschefs der EU-Staaten dieses Pro- gramm, in dem die Etablierung „europäischer Partnerschaften“ als eines der Mittel zur Intensivierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses genannt ist.23 Im Rahmen der Thessaloniki-Agenda werden auf den so genannten Politischen EU- Westbalkan-Foren, jährlich organisierten Begegnungen der Außen-, Justiz- und In- nenminister ein politischer Dialog geführt und die Zusammenarbeit im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) erweitert. 2004 wurden die Gemeinsamen Parlamentskommissionen ins Leben gerufen, die EU-Vertreter und Vertreter Kroatiens bzw. der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedoni- en zusammenbringt. Die Sitzungen dieser Kommissionen finden regelmäßig statt, ähnlich wie die Parlamentstreffen mit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro sowie dem Kosovo. Die Thessaloniki-Agenda sah zudem eine In- tensivierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses durch die Gründung so genannter Europäischer Abkommen (Partnerschaften) vor, welche die primären Bereiche aufzeigen sollen, in denen Reformen notwendig sind, auf jedem Abschnitt und vor dem Beitritt. Die Staaten antworten darauf mit der Ausarbeitung von Akti- onsplänen (Action Plans), die mit der Innenpolitik kohärent sind und Legislations-, Administrations- und Budgetpläne enthalten. Die Chancen der Westbalkanstaaten auf Realisierung ihrer Beitrittsaspirati- onen hängen vor allem von ihnen selbst ab. Die EU verlangt seit Juni 1993 unver- ändert von den neuen Kandidaten die Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien, die auch für die 2004 und 2007 beigetretenen Länder verbindlich waren. Für die Staaten, die aus dem Zerfall Jugoslawiens entstanden sind sowie für Albanien bedeutet dies eine hoch gelegte Messlatte. Die Wunden dieser Staaten aus den blutigen Krie- gen der neunziger Jahre sind noch nicht verheilt, auch haben auch für die begange- nen Kriegsverbrechen noch keine Rechenschaft abgelegt. Brüssel verlangt, ähnlich wie Berlin und andere europäische Hauptstädte, eine enge Zusammenarbeit der post- jugoslawischen Staaten mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY). Von Bedeutung sind auch die gegenseitigen Beziehungen dieser Staaten, z.B. zwi- schen Kroatien und Serbien, die sich mit gegenseitigen Kriegsverbrechensvorwürfen an den Internationalen Justizgerichtshof gewandt haben. Die Staaten des Westbalkans werden bei ihren Integrationsbemühungen ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Realisierung des Stabilitäts- und Assoziie- rungsabkommens bewertet. Es wird ein größeres Engagement für die Zusammen- arbeit mit der EU bei der Realisierung ihrer Initiativen zur Stärkung der Sicherung

23 Spotkanie Rady Europejskiej w Salonikach 19–20 czerwca 2003 r., Wnioski prezydencji / Tagung des Europarats in Saloniki am 19.-20. Juni 2003. Konklusion des Vorsitzes/,, źródło: http:// libr.sejm.gov.pl/oide/dokumenty/konkluzje/saloniki200306.pdf, (marzec 2008). Die Europäische Perspektive des Westbalkans 175 der Union und der Internationalen Sicherheit erwartet.24 Die Vergrößerung der Zahl der Beitrittsbedingungen für die Balkanstaaten, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben, verrät den Mangel an Vorbereitung der EU auf weitere Erweiterungen und ihre begrenzten „Aufnahmemöglichkeiten“.

1.3. Die Beitrittsverhandlungen Kroatiens

Eine besondere Position in der Außenpolitik der BRD bezüglich der EU-Er- weiterungen nimmt Kroatien ein. Die faktische Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens durch Bonn am 23. Dezember 1991 war durch die innere Lage des vereinten Deutschland bedingt. In der deutschen Elite herrschte die Ansicht vor, dass dieser Schritt, bei der gleichzeitigen diplomatischen Isolation Serbiens, der Eskalation des Bürgerkriegs im zerfallenden Jugoslawien vorbeugen und den An- sturm von Flüchtlingen aus diesen Ländern, der sich vor allem nach Deutschland richten würde, aufhalten wird. Die Bundesrepublik erkannte Kroatien und Slowe- nien ohne Konsultierung der NATO- und EG-Staaten an. Dies wurde von beiden Organisationen und vom UNO-Generalsekretär kritisiert. Es wurde als ein Versuch Deutschlands, sich auf internationaler Ebene zu emanzipieren, gedeutet.25 Es ist zu unterstreichen, dass innerhalb weniger Tage nach der Einigung auf den Text des Vertrags von Maastricht, der die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union festlegt, am 16. Dezember 1991, die BRD drohte, ihre Un- terschrift zu verweigern, sollte die EG die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens nicht anerkennen.26 Das Vorgehen der Bundesrepublik erzwang unter den Mitglied- 24 Vgl.: J. Batt (ed.), The Western Balkans: moving on, „Chaillot Paper“, No. 70, October 2004; eadem, The question of Serbia, ibidem, No. 81, August 2005; S. Di Feliciantonio, EU Fo­ reign Policy and Albania, „European Foreign Affairs Review“, Vol. 4, Issue 4, Winter 1999, S. 519- 535; T. Żornaczuk, Perspektywny integracji Serbii z UE /Perspektiven für die Integration Serbiens mit der EU/, „Biuletyn“ Nr. 11 (619), 22. Januar 2010, PISM, Quelle: http://www.pism.pl/zalaczniki/ Biuletyn_619.pdf, (März 2010). 25 Vgl.: H.-J. Axt, Hat Genscher Jugoslawien entzweit? Mythen und Fakten zur Außenpo­ litik Deutschlands, „Europa-Archiv“ 1993, Jg. 48, Folge 12, S. 351–360; B. Koszel, Mitteleuropa rediviva? �����������������������������������������������������������������������������������Europa Środkowo- i Południowo-Wschodnia w polityce zjednoczonych Niemiec /Mitteleu­ ropa redivivia? Mittel- und Südosteuropa in der Politik des vereinten Deutschland/, Instytut Zachod- ni, Poznań 1999, S. 243-266. Por. Ch. Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin, 2003, S. 399-411. 26 ������������������������������������������������������������������������������������������ Die deutsche „Tageszeitung“ gab am 6. April 1993 an, dass die Frage von Kroatien und Slo- wenien im am Vortag unterzeichneten Vertrag von Maastricht verursachte, dass die Mitgliedstaaten der EG im Gegenzug für manche Verzichte zur diplomatischen Anerkennung dieser Staaten unter dem Druck der BRD eingewilligt haben. Großbritannien sollte sich eine Befreiung von der Sozialkarte sichern, Spanien, Portugal, Irland und Griechenland sollten Versprechungen über zusätzliche Subven- tionen vom Chef der deutschen Diplomatie erhalten und Frankreich gewann die Zusage für die wei- tere Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion. Siehe É. Husson, op. cit., S. 115–116. Siehe weiter: M. Waldenberg, Rozbicie Jugosławii: jugosłowiańskie lustro międzynarodowej polityki /Die Zerschlagung Jugoslawiens: der jugoslwische Spiegel der internationalen Politik/, Wydawnictwo Naukowe Scholar, Warszawa 2005, Bd. I, S. 88-96. 176 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… staaten der EG die Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens. Die Bundesrepublik war stärker als die anderen EG-Staaten (wie z. B. Frankreich oder Großbritannien) von den Folgen der Krise in Jugoslawien betroffen. Anfang der neunziger Jahre wohnten fast 500.000 Kroaten und Slowenen, die ihre Inter- essen sehr aktiv auf dem öffentlichen Forum repräsentierten, in Deutschland. Star- ken Druck auf die Bundesregierung übten auch die bayerische CSU27, die Führung der katholischen Kirche und die SPD aus. Darüber hinaus fand Kroatien viele Für- sprecher in den Medien („Frankfurter Allgemeine Zeitung“).28 Andere EG-Staaten, die in Maastricht eine Perspektive für die Schaffung der Europäischen Union fest- gelegt hatten, entschieden sich, die Unabhängigkeit dieser Staaten am 15. Januar 1992 anzuerkennen. Nichtsdestoweniger wurde die zuvor getroffene Entscheidung der Bundesrepublik in dieser Frage von vielen Experten als überstürzte Entschei- dung gewertet, die zur Eskalation des Konflikts am Balkan beitrug. Dies geschah deshalb, da Deutschland durch seine Unterstützung der kroatischen Nationalisten ihren Konflikt mit den serbischen Nationalisten verschärfte. Die voreilige Anerken- nung der Unabhängigkeit Kroatiens und Serbiens ermutigte die Moslems zur Prokla- mation der Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina – trotz der sehr differen- zierten ethnischen Bevölkerungsstruktur dieser Republik.29 Kroatien stellte am 21. Februar 2003 als erster der Westbalkanstaaten ei- nen Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Etwas mehr als ein Jahr später, am 22. März 2004, am 15. Dezember zog Montenegro gleich, am 29. April 2009 folgte Albanien und Ser- bien am 22. Dezember 2009. Der Europäische Rat gestand Kroatien am 18. März 2004 den Status eines Beitrittskandidaten zu. Den Beschluss über die Aufnahme von Bei- trittsverhandlungen mit diesem Staat traf der Europäische Rat am 17. Dezember 2004. Tatsächlich begannen diese jedoch erst am 3. Oktober 2005. Diese Verzögerung wurde 27 Anzumerken ist, dass die erste offioffizielle zielle Anerkennung der UnabhängigUnabhängig KroatiensKroatiens undund SloSlo-- weniens von der überregionalen Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria, zu der Bayern gehört, am 3. Juli 1991 verkündet wurde. 28 Helmut Kohl stellte während eines Treffens mit dem französischen Präsidenten FranFran-- çois Mitterrand am 15. November in Berlin auf die Kritik Mitterrands bezüglich der Anerkennung von Kroatien durch die BRD fest: „…der Druck auf mich ist sehr stark. Ich kann mich nicht länger wehren. Meine Partei, die Liberalen, die Kirche, die Presse, ohne die 500.000 in Deutschland leben- den Kroaten mitzuzählen, alle üben Druck aus (…)“ Zit. nach: M. Waldenberg, Rozbicie Jugosławii… /Die Zerschlagung Jugoslawiens…/, op. cit., Bd. 1, S. 97. 29 É. Husson, op. cit., Kap. III; R. Vukadinović, In Search of Security for the Balkans, „Occa- sional Paper“ (International Institute for Peace, Vienna), No. 9, December 1994, S. 9; P. Simic, Dyna­ mics of the Yugoslav Crisis, „Security Dialogue“, Vol. 26, No. 2, June 1995, S. 161-163. Eingehender dazu vgl.: R. Hartmann, „Die ehrlichen Makler“. Die deutsche Außenpolitik und der Bürgerkrieg in Jugoslawien – eine Bilanz, Dietz Verlag, Berlin 1999. Vgl.: J. Puglierin, Zwischen realistischen Interessen und moralischem Anspruch. Eine theoriegeleitete Analyse der deutschen Außenpolitik seit 1989/1990, „Studien zur Internationalen Politik“, Heft 1, Institut für Internationale Politik an der Uni- versität der Bundeswehr Hamburg 2004; K.P. Zeitler, Deutschlands Rolle bei der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Kroatien unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Außenmini­ sters Genscher, Tectum Verlag, 2000. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 177 mit der mangelnden Erfüllung der Verpflichtungen Kroatiens gegenüber dem Interna- tionalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien begründet. Die Beitrittsver- handlungen mit Kroatien begannen gleichzeitig mit den Verhandlungen mit der Tür- kei. Dies war ein positives Signal der EU an die übrigen Staaten der Region. Im April 2005 empfahl die Europäische Kommission dem Rat Europäischen Union den Beginn der Verhandlungen über das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Serbien und Montenegro.30 Die Europäische Kommission betonte eben- falls, dass unabhängig vom zukünftigen Status des Kosovo, diese mit dem Prozess der Annäherung der Westbalkanstaaten an die EU verbunden sein sollten. Im glei- chen Jahr empfahl die EK die Eröffnung von Verhandlungen über das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien und Herzegowina.31 Am 16. Dezember 2005 gestand der Europäische Rat Mazedonien den Status eines Beitrittskandidaten zu. Vorgesehen war, dass Kroatien und Mazedonien vor 2012 zum Kreis der EU-Mit- glieder stoßen; im Fall von Mazedonien ist dieses Datum jedoch kaum realistisch. Die Europäische Kommission verfasste auch ein Strategisches Dokument für die Erweiterungsangelegenheiten – 2005, das die Etappen des Beitritts der wei- teren Kandidaten zur Europäischen Union aufzeigt. Es wurde betont, dass der Erwei- terungsprozess von den Fortschritten der Beitrittskandidaten (Kroatien, Türkei) ab- hängen wird, sowie von der Möglichkeit der EU zur Aufnahme weiterer Mitglieder. Es wurde auch eine „Road map“ der Strategien vor dem Beitritt der Westbalkanstaa- ten festgelegt.32 Deutschland sieht gegenwärtig Chancen für Kroatien unter der Be- dingung, dass das Land die politischen Kriterien erfüllt. Die übrigen Balkanstaaten sowie die Ukraine können – laut Berlin – einzig auf eine Intensivierung ihrer Bezie- hungen zur EU zählen. Eine Mitgliedschaft ist derzeit jedoch ausgeschlossen.33 Während einer Konferenz der Vorsitzenden der Kommissionen für Auswärti- ge Angelegenheiten der Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, des Europaparlaments und der Parlamente der Beitrittskandidaten34, die vom 26.-27. Februar in Berlin statt- fand, betonte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass eine Priorität der Status des Kosovo sowie eine erneute Aufnahme der Verhandlungen mit Serbien über die Stabilisierungs- und Assoziierungsverträge sei.35 Der Prozess der Europäi- 30 Bis 4. Februar 2003 existierte die Bundesrepublik Jugoslawien, ab diesem Datum trug dieser Staat den Namen Serbien und Montenegro, seit dem 3. Juni 2006 existieren zwei getrennte Staaten, Serbien und Montenegro. 31 Vgl.: Ł. Bartkowiak, op. cit., S. 129-130. 32 Dokument strategiczny w sprawie rozszerzenia – 2005. Komunikat Komisji z 9 listopada 2005 r., COM(2005) 561 końcowy, źródło: http://www.ukie.gov.pl/HLP/fileS.nsf/0/ 5DA88BEE9D8C7AB3C1 2571710030DD5B/$file/dokument_strategiczny_w_sprawie_rozszerzenia_09.11.2005.pdf, (luty 2008). 33 Vgl.: Europäische Nachbarschaftspolitik, Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Aussenpolitik/Regionalabkommen/Nachbarschaftspolitik.html, (November 2007). 34 ��������������������������������������������������������������������������������������������� COFACC – Conference of Foreign Affairs Committee Chairpersons of the Parliaments of the Mem- ber States of the European Union, the European Parliament and the Parliaments of the Candid ate StateS. 35 Europas Agenda: Außenpolitische Schwerpunkte der deutschen EU-Präsidentschaft - Bun­ desaußenminister Steinmeier auf der COFACC, 26.02.2007, Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/ 178 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… sierung des Westbalkans verläuft sehr langsam und es ist schwer, eine klare Beitritts- perspektive dieser Staaten zu beschreiben. Ein vorrangiges Ziel der EU dieser Re- gion gegenüber ist vor allem die Unterstützung der Stabilisierungsprozesse und des Wiederaufbaus nach den schweren Folgen der Kriege vom Ende des 20. Jahrhun- derts, aber auch die Stimulierung einer umfassenden Entwicklung. Die deutschen Bemühungen, mit der Unterstützung Großbritanniens, fruchteten in der Unterzeich- nung des Assoziierungsvertrags mit Serbien im April 2008. Zuvor, am 17. Februar 2008, erklärte das Kosovo seine Unabhängigkeit. Jedoch entfernt sich die Perspektive der Mitgliedschaft Kroatiens mit den wachsenden Schwierigkeiten der Annahme der neuen Verfassung für die Eu- ropäische Union. Die deutsche Bundeskanzlerin betonte entschieden, dass der Ver­ trag von Nizza „auf 27 Mitglieder begrenzt ist“ und ohne die Durchführung instituti- oneller Reformen keine weiteren Erweiterungen der Union möglich seien.36 Bei der Sitzung des Europarats von 19. - 20. Juni 2008 in Brüssel wurde die volle Unterstützung für die europäische Perspektive des Westbalkans geäußert. Es wurde auch bestätigt, dass den Weg der Länder dieser Region zur EU „weiter- hin der Prozess der Stabilisierung und Assoziierung weisen wird“. In der Erklärung über den Westbalkan, die dem Plädoyer des Vorsitzes angehängt wurde, betonte man die Bedeutung der drei folgenden Bereiche für die Beziehungen der Union zu die- ser Region: 1) Erweiterung der Gemeinschaftspolitik auf den Westbalkan und Ein- engung der regionalen Zusammenarbeit; 2) Erleichterung der Kontakte zwischen den Nationen und Entwicklung der Zivilgesellschaft; 3) wirtschaftliche und gesell- schaftliche Entwicklung sowie Festigung guter Regierungen.37

2. Der Weg der Türkei nach Europa

2.1. Die Etappe der Assoziierung

Die Türkei stellte am 31. August 1959 einen Antrag auf Assoziierung mit der EG. Der Assoziierungsvertrag wurde am 12. September 1963 unterschrie- ben (und trat am 1. Dezember 1964 in Kraft). Am 23. November 1970 wurde ihm ein zusätzliches Protokoll hinzugefügt, das die Schaffung einer Zollunion vorsah.38 diplo/de/Infoservice/Presse/Reden/2007/070227-cofacc-btg.html, (marzec 2008). Über das deutsche Engagement beim Stabilisierungsprozess auf dem Balkan, insbesondere der Lösung des Kosovo-Pro- blems, vgl.: A. Miskimmon, Learning to Lead: Germany, Kosovo and the Development of Common European Security and Defense Policy, [in] idem, Germany and the Common Foreign and Security Policy of the European Union. Between Europeanization and National Adoption, Palgrave Macmil- lan, New York, 2007, S. 100-144. 36 Merkel und Sarkozy gegen neue EU-Mitglieder ohne neuen EU-Vertrag, „Wirtschafts- blatt“ (online) vom 20. Juni 2008. 37 Rada Europejska w Brukseli, Konkluzje Prezydencji, Bruksela 19–20 czerwca 2008, 11018/08, źró- dło: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/PL/ec/101368.pdf, (czerwiec 2008). 38 The Agreement Creating An Association Between The Republic of Turkey and the European Der Weg der Türkei nach Europa 179 Artikel 28 des Vertrags bestimmte, dass, „wenn die Türkei alle Bestimmungen die- ses Abkommens sowie die Richtlinien des Vertrags von Rom akzeptiert, beide Sei- ten des Abkommens Möglichkeiten des Beitritts der Türkei zur EWG festlegen“39. Der Vertrag sah eine dreistufige Periode der Assoziierung vor, die zum Erreichen ei- nes solchen wirtschaftlichen Niveaus durch die Türkei führen sollte, das ihr das Be- mühen um die Mitgliedschaft in der EG ermöglichen würde.40 Die Regierung der Bundesrepublik unterstützte zur Gänze die Schließung des Assoziierungsabkommens der Türkei mit der EG. Unmittelbar nach der Unter- zeichnung des Assoziationsvertrags EWG/Türkei im September 1963 äußerte sich der Chef der westdeutschen Diplomatie Gerhard Schröder (in der Regierung Ade- nauer) die Zufriedenheit der Regierung über seine Unterzeichnung. Er stellte fest, dass dieser sowohl die deutsch-türkischen Beziehungen stärken als auch die Bezie- hungen der Türkei mit dem sich integrierenden Europa stärken werde. Der Minister prophezeite, dass die Türkei in Zukunft „zu einem vollberechtigten Mitglied der Euro- päischen Wirtschaftsgemeinschaft werden kann.“ (Wir haben – die Bundesregierung – die Überzeugung, dass nach der Vorbereitungs- und Übergangszeit der Lebensstan- dard in der Türkei sich beträchtlich gehoben haben wird, dass ihre Wirtschaft weiter Fortschritte macht, do dass es ihr in der vorgesehenen Zeit möglich sein wird, zu ei- nem vollem Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft heranzuwachsen). Er unterstrich, dass dieses Land für die volle Mitgliedschaft viele Vorbereitungen und Zeit benötigt und eine gut funktionierende Wirtschaft erreichen muss. „Das wird gut für die Türkei sein, das wird gut für die anderen Länder der EWG sein, das wird gut sein für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung Europas.“ 41 In den siebziger und achtziger Jahren ließ das Engagement der Bundesrepu- blik für die Integration der Türkei in der EWG nach. Besonders heikel war für Bonn die Frage des freien Flusses von Arbeitskräften. Dazu kamen der Zypernkonflikt und die allgemeine politische Destabilisierung in der Türkei. Curd-Torsten Weick bemerkt, dass die in den Jahren 1969-1982 regierende Koalition aus SPD und FDP in der Frage der eventuellen Mitgliedschaft der Türkei in der EWG eine „Spagat“- Position eingenommen habe, einerseits in der Rolle als Anwalt der Türkei in der Ge- meinschaft, andererseits voller Bemühungen, die Einführung des freien Verkehrs türkischer Arbeiter zu verhindern.42 Den Mangel an realer Unterstützung auf europä- ischer Ebene bemühte man sich mit Abkommen über finanzielle Hilfe zu rekompen-

Economic Community, „Official Journal of the European Communities“ 1973, Vol. 16, No. C113, S. 2, Addition Protocol to the Ankara Agreement, „Official Journal of the European Communities“ 1973, Vol. 16, C 113, S. 18. Zob. B. Aral, Making Sense of the Anomalies in Turkish-European Rela­ tions, „Journal of Economic and Social Research“ 2007, Vol.7, No.1 S. 100–101. 39 The Agreement Creating An Association… 40 Vgl.:. Ł. Bartkowiak, op. cit., S. 134-135. 41 Zit. nach: C.-T. Weick, Die schwierige Balance. Kontinuitäten und Brüche deutscher Tür­ keipolitik, LIT, Münster/ Hamburg [u. a.] 2001, S. 331-332. 42 C.-T. Weick, op. cit., S. 349–350. 180 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… sieren. Die von der Bundesrepublik überwiesenen Beträge waren in großem Maße zur Abzahlung der türkischen Schulden bestimmt, der Rest unterstützte verschiedene Arten von Investitionen, wie etwa die Finanzierung des Baus eines Braunkohleberg- werks und eines Elektrizitätswerks in Afsin Elbistan und die Rettung der von der De- pression erfassten türkischen Wirtschaft.43 Seit Frühjahr 1987 bemühte sich die Türkei um die Vollmitgliedschaft in der EG.44 Am 14. April stellte sie den offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft. Im Mai stattete der türkische Außenminister Vahit Melih Halefoğlu der BRD einen inoffizi- ellen Besuch ab. Der Besuch wurde als Teil der türkischen Kampagne zum Zweck der Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft gesehen. Dem gleichen Ziel sollte die Verleihung des Internationalen Atatürk-Friedenspreises an Richard von Weizsä- cker am 14. Oktober 1987 in Ankara dienen.45 Ein weiterer Eingriff war der Deutsch- land-Besuch des türkischen Präsidenten im Oktober 1988. Ende Juni 1989 befand die deutsche Regierung, als Antwort auf die Anfra- ge einer großen Anzahl von Bundestagsabgeordneten der Koalitionsparteien be- züglich der Politik der Mittelmeerregion, dass dem Beitritt der Türkei eine Verbes- serung der Institutionen der Assoziation EG–Türkei vorangehen müsse. Sie hielt am Standpunkt fest, dass eine gut funktionierende Assoziation nach Unterzeichnung des Abkommens die Überprüfung, ob überhaupt eine Perspektive für die Mitglied- schaft dieses Staats existiert, ermöglicht. Dies war ein deutliches Zeichen dafür, dass die deutsche Regierung sich für die Ablehnung der Bitte Ankaras um Aufnahme zur EG stark machte.46 Den Antrag der Türkei auf Mitgliedschaft lehnte die Europäische Kommissi- on am 15. Dezember 1989 ab. In einer Verlautbarung betonte sie, dass weder die Tür-

43 Das Abkommen über finanziellefi nanzielle Hilfe aus dem Jahr Jahr 1975 1975 sah sah vor, vor, dass dass Westdeutschland Westdeutschland der der Tür Tür-- kei einen Betrag in der Höhe von 132,7 Mill. DM überweisen würde, wovon 13 Mio. für die Abzahlung der Schulden bestimmt waren. Vier Jahre zuvor hatte auch die Bundesregierung der Türkei Unterstützung in Höhe von 188,3 Mill. DM gewährt, von denen 30,3 Mill. DM zur Abzahlung der türkischen Schul- den bestimmt waren. Ende der siebziger Jahre wurde der Türkei unter dem Patronat des Internationalen Währungsfonds und der Organisation für die Zusammenarbeit in Wirtschaft und Entwicklung der von ei- ner wirtschaftlichen Krise geplagten Türkei finanzielle Unterstützung in Höhe von 961 Mio. USD ge- währt, wovon 200 Mill. USD die Bundesrepublik Deutschland überwies. 1980 erteilte Westdeutschland zusammen mit anderen Staaten der OECD der Türkei einen Niedrigzinskredit über einen Gesamtbetrag von 1160 Mill. USD (wovon 295 Mill. von der BRD stammen). Vgl.: B. Koszel, Integracja Turcji z Unią Europejską z perspektywy RFN /Die Integration der Türkei mit der Europäischen Union aus der Sicht der BRD/,„Zeszyty Instytutu Zachodniego“ 52/2009, Instytut Zachodni, Poznań 2009, S. 10-13. 44 Vgl.: F. Gołembski, Droga Turcji do Unii Europejskiej: stan i perspektywy /Der Weg der Tür­ kei zur Europäischen Union. Stand und perspektiven/, „Studia i Materiały“, PISM, Warszawa 1994. 45 Der Bundespräsident rief während der Feierlichkeiten jedoch die türkische Regierung zur Lösung des Kurdenproblems, der Anknüpfung gutnachbarschaftlicher Beziehungen mit Grie- chenland und zur Achtung der Menschenrechte in der Türkei auf. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 14. Oktober 1987. 46 A. Refflinghaus, Deutsche Türkeipolitik in der Regierungszeit Helmut Kohls, 1982 bis 1998. Regierung, Bundestag, Presse, Verlag Dr. Köster, Berlin 2002, S. 275. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 181 kei, noch die EG, deren primäres Ziel gegenwärtig die Schaffung eines einheitlichen Markts sei, bereit seien für die Aufnahme von Verhandlungen über die Erweiterung. Bei der Begründung ihrer Entscheidung wies die Europäische Kommission vor al- lem auf die wirtschaftliche und politische Situation in der Türkei hin. Als besonders beunruhigend befand sie die Verletzung der Menschenrechte und der Rechte natio- naler Minderheiten sowie den Zypernkonflikt.47 Sie stellte fest, dass der Beitritt eines so großen Landes wie die Türkei ernsthafte finanzielle Probleme verursachen könn- te. Auch der freie Personenverkehr könne – nach Ansicht der EK – eine Art „Panik“ um Arbeitsplätze hervorrufen, besonders in den Mitgliedstaaten mit einer hohen Ar- beitslosenquote.48 Im Frühjahr 1992 kam es zu einem scharfen Meinungsaustausch zwischen dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dem türkischen Präsi- denten Turgut Kurdish zum Thema der Verwendung deutscher Waffen durch die tür- kische Armee beim Angriff kurdischer Einwohner.49 Die Affäre führte zu einem Ver- bot des Verkaufs deutscher Waffen in die Türkei bis zum Zeitpunkt der Aufklärung dieser Frage. Am 27. März stellte sich heraus, dass der Türkei 15 Leopard I Panzer geliefert wurden. Dies verursachte den Rücktritt von Gerhard Stoltenberg vom Amt des Bundesverteidigungsministers. Kanzler Kohl lehnte den Appell von US-Präsident George Bush für eine Aufnahme der Türkei in die EG ab, indem er darauf hinwies, dass das Vorgehen der Türkei gegen die Kurden eine „vollkommene Verletzung“ der KSZE-Schlussakte darstelle.50 Dennoch bedeutete die Ablehnung der Vollmit- gliedschaft der Türkei in der zukünftigen EU keineswegs mangelnde Wertschätzung der Türkei als Partner des sich integrierenden Europa. Der Kanzler betonte am 2. April 1992 in einer Rede an den Bundestag zu lau- fenden Fragen der Außenpolitik, dass die Bedrohungen für Deutschland und Eu- ropa aus der Peripherie kommen, insbesondere der Mittelmeerregion. Er stellte fest, dass in dieser Region der wichtigste Partner für Europa und die NATO die Türkei ist. Er bemerkte, dass die christdemokratisch-liberale Regierung bedeutende Dienste bei der Unterhaltung freundschaftlicher Beziehungen mit dem türkischen Volk geleistet

47 Siehe eingehender: K. Wierczyńska, Konflikt cypryjski w kontekście wejścia Turcji do Unii Europejskiej Der Zypernkonflikt im Kotext des türkischen EU-Beitritts/, „Przegląd Zachodni“ 2006, Nr. 4, S. 220-234, 48 EC Commission, Opinion on turkey’s Request for Accession to the Community, SEC(89) 2290 final/2, Brussels, 18 December 1989; A. Michalski, H. Wallace, The European Community: the Challenge of Enlargement, Royal Institute of International Affairs, London 1992, S. 120–121. Vgl.: Die Türkei wird nicht als Vollmitglied in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“vom 16. Dezember 1989. 49 ������������������������������������������������������������������������������������� Der türkische Premierminister Sülleyman Demirel versprach den Einwohner von Süd-Ana- tolien, dass das für den 21. März geplante kurdische Neujahr Newroz gefeiert werden könnte und die Re- gierung nicht in die Feierlichkeiten eingreifen würde. Während der Feierlichkeiten kam es jedoch zu Ge- fechten zwischen Türken und Ordnungskräften, in deren Folge mehr als 100 Personen starben und über 340 verletzt wurden. Die Welle der Unruhen griff sofort andere Gebiete der Umgebung über. 50 „The Financial Times“ vom 3. April 1992. 182 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… hat. Der Kanzler sah eine wichtige Brücke zwischen den in der Bundesrepublik le- benden und wohnenden Türken und dem Aufbau enger deutsch-türkischer Beziehun- gen. Er sprach sich besonders für den Ausbau der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage des existierenden Assoziations- vertrags aus, wobei er feststellte, dass die demokratisch und im Inneren gefestigte Türkei eine stabilisierende und führende Rolle für die Beziehungen dieser Region mit Europa auf sich nehmen kann und muss. Darum erteile die deutsche Regierung der Türkei Waf- fenhilfe. Kohl stellte jedoch auch fest, dass die Türkei als Teil der westlichen Wertege- meinschaften (Mitglied der NATO, des Europarats und der KSZE) sich selbst an deren Standards und Verpflichtungen anpassen müsse. Dies betreffe vor allem alle Konventi- onen und Dokumente über Menschenrechte und Rechte nationaler Minderheiten.51 Im Mai 1992 machte der Haushaltsausschuss des Bundestags die aufge- haltene Finanzierung der Umrüstungen der Leopard I Panzer wieder rückgän- gig. Wie Bundesverteidigungsminister Volker Rühe betonte, änderte dies nichts am Standpunkt Deutschlands in der Frage der Waffenlieferungen an die Türkei. Den Rücktritt von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wertete man in An- kara als eine Chance auf Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen. Bereits im Juni 1992, nach dem Austausch von Schreiben zwischen den Außenministerien, wurden die Waffenlieferung an die Türkei wiederaufgenommen, unter dem Vorbe- halt, dass die deutschen Waffen ausschließlich im Fall eines Angriffs von Außen auf das Gebiet der NATO-Staaten eingesetzt werden dürften.52 Erst der Staatsbe- such von Helmut Kohl im Mai 1993 war ein sichtbares Zeichen einer „neuen Ära“ in den Beziehungen zwischen Berlin und Ankara.53 Im Juni 1992 nahm die Kommission für Außen- und Sicherheitsangele- genheiten des Europäischen Parlaments den Generalbericht über die Beziehungen mit der Türkei an. Darin wurde unterstrichen, dass zwar bestimmte Fortschritte in der Demokratisierung eingetreten seien, viele Probleme noch ungelöst blieben. Eine wichtige Frage, die im Bericht angesprochen wurde, war die deutliche Betonung einer Standpunktänderung gegenüber einer eventuellen Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Die Kommission des Europäischen Parlaments schloss diese Möglichkeit nicht aus, betonte jedoch, dass diese in der Kategorie einer „Obsession“ von Ankara betrachtet werden könne. Die Beziehungen der Türkei sollten im Kontext ihrer Rolle in der Region betrachtet werden.54

51 Die Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung als richtungweisende Normen der deut­ schen Außen- und Sicherheitspolitik [in:] H. Kohl, Bilanzen und Perspektiven. Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn Oktober 1997, S. 20-25. 52 A. Refflinghaus, op. cit., S. 284-285. 53 Vgl.: Offizieller Besuch des Bundeskanzler in der Republik Türkei vom 19. bis 21 Mai 1993, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 4. Juni 1993, Nr. 47, S. 505-508; Demirel spricht von einer neuen Ära im Verhältnis der Türkei zu Deutschland, „Frankfur- ter Allgemeine Zeitung“ vom 22. Februar 1993. 54 „Europe“, No. 5759, 27 June 1992, , S. 14; A. Michalski, H. Wallace, op. cit., S. 121-122. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 183 2.2. Die Zollunion

Artikel 5 des Assoziationsvertrags von 1963 sah vor, dass die Türkei und die EWG die Erschaffung einer Zollunion und engen wirtschaftlichen Zusam- menarbeit anstreben werden. Der Assoziationsrat verkündete am 22. Dezember 1995, dass der Assoziationsprozess abgeschlossen sei. Am 1. Januar 1996 trat die Zoll- union kraft eines Beschlusses des Assoziationsrates, wie er im Assoziationsvertrag vorgesehen war, in Kraft.55 Eines ihrer entscheidenden Elemente war die der Türkei auferlegte Pflicht zur Annahme des gemeinschaftlichen Systems der Zollpräferenzen bis 1. Januar 2001. Diese Verpflichtung erfüllte die Türkei am 1. Januar 2002. Die Bundesrepublik unterstützte aktiv die Idee der Zollunion. Vor allem Au- ßenminister Klaus Kinkel, der sich in die Verhandlungen mit Griechenland engagierte, die Einführung der Zollunion nicht zu blockieren, hatte dabei großen Anteil. Jedoch zusammen mit der Finalisierung und Ratifizierung des Abkommens über die Schaf- fung einer zollfreien EU-Türkei-Zone lässt sich ein sinkendes Engagement Deutsch- lands bei der Bewerbung der türkischen Aspirationen bezüglich der Mitgliedschaft in der EU beobachten. Das Fehlen einer klaren Haltung der Regierung Kohl wurde oft mit einem „klaren Jein“ kommentiert.56 Dem ist hinzuzufügen, dass die Zollunion kraft eines Beschlusses des Assoziationsrates gegründet wurde und keiner Ratifizie- rung bedurfte. Also verlor Griechenland die Möglichkeit, diesen Prozess zu block­ ieren. Einzig das Europäische Parlament war verpflichtet, seine Meinung zu äußern. Es machte sein Einverständnis für die Einführung der Zollunion mit der Türkei ab- hängig von der weiteren Demokratisierung des politischen Lebens in der Türkei. Die Große Nationalversammlung der Türkei führte zur Anpassung an den Appell des Europäischen Parlaments 17 Verfassungsänderungen ein, die u.a. die Freiheit der Vereinigung sowie der Tätigkeit von Gewerkschaften ermöglichten.57 Im Herbst 1996 fand ein dreitägiger Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Süleyman Demirel in der Bundesrepublik statt. Während des feierlichen Abendessens betonte Präsident Roman Herzog die Bedeutung der Zollunion für die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Türkei und der Union sowie der Türkei und Deutsch- land. Er würdigte die Bemühungen der türkischen Regierungen um die Annäherung der Türkei an europäische Standards, die Demokratisierung, den wirtschaftlichen Wandel, das Engagement im Rahmen der NATO und die Entwicklung der Beziehun- gen mit den Nachbarstaaten. Er betonte die Unterstützung Deutschlands für weitere Bemühungen der Türkei „auf dem Weg nach Europa“ und betonte dabei: „Europa ist kein exklusiv christlicher Klub.“58

55 Vgl.: B. Aral, op. cit., S. 102-106. 56 A. Szymański, Niemcy wobec rozszerzenia Unii Europejskiej o Turcję /Deutschland ge­ genüber der Erweiterung der Europäischen Union um die Türkei, PISM, Warszawa 2007, S. 11. 57 B. Koszel, Integracja Turcji z Unią Europejską… Die Integration der Türkei mit der Eu­ ropäischen Union…/, op. cit., S. 21-22. 58 Ansprache des Bundespräsident Roman Herzog bei dem Abendessen zu Ehren des Präsidenten 184 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Im Dezember 1997 gaben auf der Sitzung des Europarats in Luxemburg die Staats- chefs der Mitgliedstaaten das Signal, dass die Mitgliedschaft der Türkei möglich sei, gleichwohl erfülle dieser Staat noch nicht die politischen und wirtschaftlichen Vorausset- zungen. Die Beziehungen zur Türkei sollten intensiviert werden, durch Teilnahme an ver- schiedenen gemeinsamen Konferenzen und Kooperationsforen. Die Reaktion der türki- schen Regierung auf diese Feststellung war negativ. In scharfen Tönen wurde der EU vorgeworfen, den Willen der Türkei zum EU-Beitritt nicht ernst zu nehmen. Der dama- lige türkische Premierminister Yilmaz Mesut erklärte Helmut Kohl dafür verantwortlich, da dieser die Mitgliedschaft der Türkei als irreale Perspektive sehe. Er verglich das deut- sche Engagement bei der EU-Osterweiterung mit der geopolitischen „Lebensraum“- Strategie.59 Die angespannte Situation zwischen der türkischen und der deutschen Regie- rung führte dazu, dass Ankara an die in der Bundesrepublik lebenden Türken appellierte, bei den Wahlen nicht für die CDU, sondern für die SPD zu stimmen.60 Die Regierung Kohl sprach sich gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU aus. Sie begründete dies mit Argumenten politischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur. Der Türkei wurden Menschrechtsverletzungen und die Diskri- minierung nationaler Minderheiten, vor allem der kurdischen, vorgeworfen. Sie kri- tisierte auch die Anwendung der Todesstrafe in der Türkei sowie den starken Ein- fluss des Militärs auf die Politik. Als Hindernis sahen die Deutschen auch Probleme wie den Status der Kurden sowie den Konflikt mit Griechenland um Zypern. Sehr beunruhigend wird weiterhin in der Bundesrepublik (und anderen Staa- ten der EU) der dynamische Anstieg der Einwohnerzahlen in der Türkei gesehen. Es wird prognostiziert, dass die aktuelle Zahl von 71, 89 Millionen61 bis 2025 auf 91 Millionen steigen wird, was die Rolle dieses Staats in den einzelnen europäischen Institutionen (im Hinblick auf den demografischen Umrechnungsfaktor) vergrößern würde.62 Das große Bevölkerungspotenzial der Türkei steht einer sehr schwachen Wirtschaft gegenüber. Die Aufnahme der Türkei zur EU würde die Garantie enormer finanzieller Hilfe für diese erfordern. Deutschland hat weiterhin Vorbehalte gegen- über dem freien Personenverkehr zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Die Befürchtungen Deutschlands sind zur Gänze begründet: Türken stellen in der Tat schon jetzt die größte Gruppe von Ausländern in Deutschland dar.63 der Republik Türkei, Süleyman Demirel und Frau Nazmiye Demirel im Schloss Bellevue in Berlin am 4. November 1996, „Bulletin des Presse- und Bundesregierung“ vom 12. November 1996, Nr. 89, S. 970. 59 Erklärung der türkischen Regierung zum Gipfel von Luxemburg am 14. Dezember 1997 in Ankara, „Internationale Politik“ 1998 , Nr. 1, S. 122–123; Semih Vaner, Die Türkei: Die Größe der Einsamkeit, „ Europäische Rundschau“ 1999, Nr. 1, S. 103. 60 �������������� D. Lamatsch, Deutsche Europapolitik der Regierung Schröder 1998-2002. Von den strategischen Hügeln zur Mühsal der Ebene, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2004, S. 227-228. 61 CIA, The Word Factbook, źródło: https://www.cia.gov/library/publications/ the-world- factbook/geos/tu.html, (Juli 2008). 62 D. Lamatsch, op. cit., S. 228. 63 Vgl. die Monatsstatistiken des Bundesministeriums des Innern, http://www.bmi.bund.de. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 185 Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ist eine Frage, die sowohl in den Kreisen der politischen Elite diskutiert wird als auch in der öffentlichen Mei- nung. Trotz der herrschenden Übereinstimmung zwischen den größten politischen Kräften bezüglich Richtung und Zielen der europäischen Politik, weckt die EU-Er- weiterung um die Türkei zahlreiche und heftige Kontroversen. Von Bedeutung ist, dass sowohl Gegner als auch Befürworter in allen großen Parteien zu finden sind. Laut den Christdemokraten würde die Aufnahme der Türkei in die EU an den ideologischen Grundfesten der EU rütteln. Das Konzept der europäischen Integration, das von den westdeutschen Christdemokraten nach dem Zweiten Welt- krieg präsentiert wurde, ist eine Vision des alten Kontinents, der eine Schicksalsge- meinschaft und eine christliche Wertegemeinschaft darstellt. Die Grundlage des En- gagements der Christdemokraten für die europäische Integration und deren Schutz vor Kommunismus und Nationalismus war das Prinzip des christlichen Personalis- mus, also die Schaffung von Bedingungen für die geistige und materielle Entwicklung der Einheit. Hier stand die deutsche christliche Demokratie unter starkem Einfluss der italienischen christlichen Demokratie, vor allem Alcide de Gasperis. Die ita- lienischen Christdemokraten postulierten die Einheit Europas als Gegengewicht zur kommunistischen Bedrohung. Ihrer Ansicht nach sollte die Solidarität der de- mokratischen Staaten Westeuropas die Tragödie eines Kriegs verhindern. Inspiration für das Konzept des neuen Europa waren – wie bei de Gasperi – für die westdeutsche christliche Demokratie die evangelischen Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solida- rität. Das Christentum stellte im Weltbild der Unionsparteien einen fundamenta- len Faktor bei der Bildung Europas64. In diesem Punkt berief man sich auf die Ge- danken von Robert Schuman, der die Idee eines auf Prozeduren und gemeinsamen Interessen beruhenden Europa mit der geistigen Vision eines vereinten Europa auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechten verknüpfte. Infolgedessen konnte sowohl für Schuman als auch für die westdeutschen Christdemokraten der europäi- sche Vereinigungsprozess nicht ohne ein Zurückgreifen auf die christlichen Wurzeln, die „gemeinsamen humanistischen Ideale“ wie Freiheit, Menschenwürde, Demo- kratie und Frieden stattfinden – und kann dies auch weiterhin nicht.65 Insbesondere die bayerische Unionspartei (CSU) betonte in ihren politischen Konzepten der eu- ropäischen Politik die Mitverantwortung für Frieden und Demokratie. Die CSU

64 Vgl.: W. Bokajło, Koncepcja Europy Konrada Adenauera i jej realizacja w praktyce po­ litycznej w latach 1945-1955 /Konrad Adenauers Europa-Konzeption und ihre Umsetzung in der po¬litischen Praxis der Jahre 1945-1955/, Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego, Wrocław 1995, S. 16-17. 65 G. Vanheeswijck, Jak przezwyciężyć politykę przemilczania? /Wie die Politik des Schwei­ gens durchbrechen?/, [in:] J. Sweeney SJ, J. Van Gerwen SJ (Red.), Chrześcijaństwo a integracja europejska, Wydawnictwo /Das Christentum und die europäische Integration/ WAM, Kraków 1997, S. 69-70; Vgl.: F. König, Duchowe podstawy Europy /Die geistigen Grundlagen Europas/, [in] Eu­ ropa i co z tego wynika. Rozmowy w Castel Gandolfo 1985 /Europa und was sich daraus ergibt. Gespräche in Castel Gandolfo/, Bd..3, Res Publica, Warszawa 1990, S. 10-19. 186 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… behandelte den Schutz der westdeutschen Kultur als eine Art Mission; in der Zeit des Kalten Krieges sah sie Bayern geradezu als Bollwerk des Christentums. Wei- terhin erblickt die Christdemokratie in den christlichen Grundwerten eine der Säu- len der Union. Darum müsste der Beitritt der Türkei den ureigentlichen Charakter der Gemeinschaft selbst verändern. Problematisch in der Frage der Erweiterung um die Türkei ist die Frage zu den „Grenzen der Integration“. Edmund Stoiber (CSU) sprach sich entschieden gegen einen Beitritt der Türkei aus, wobei er diesen als Be- drohung für die Union selber sieht. Darum spricht sich die deutsche Christdemokra- tie lediglich für eine „privilegierte Partnerschaft“ der Türkei mit der Europäischen Union aus.66 Sie sieht die Türkei als strategischen Partner und bietet ihr deshalb institutionelle Bindungen an die Union an – aber nichts weiter. Die deutschen Christdemokraten sahen die Zollunion zwischen der EU und der Türkei als große Chance für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, nicht nur für die Union selbst, sondern auch für Deutschland. Die Türkei ist für die Bun- desrepublik ein besonderer Partner, allein im Hinblick auf die zwischenmenschli- chen Beziehungen der mehr als zwei Millionen in Deutschland lebenden Türken und deren Beziehungen zum türkischen Markt. (CDU) schrieb 1997, dass das Ziel der EU-Außenpolitik, vor allem Deutschlands, die Entwicklung ei- ner im weiten Sinne verstandenen Partnerschaft zwischen Europa und der Türkei sei. Die in Deutschland lebenden Türken könnten dabei eine bedeutende Rolle spielen, wenn es gelänge, sie zu integrieren. Andernfalls könnten diese das Erreichen dieses Ziels erschweren. Heute und in nächster Zukunft ist die Entscheidung über die Mit- gliedschaft der Türkei in der EU, trotz der Versprechungen im Rahmen der Abkom- men mit Ankara, nicht möglich und in kurzer Frist nicht notwendig. Aber die euro- päische Politik muss eine Perspektive der Beziehungen zwischen EU und Türkei entwickeln, die mit den praktischen Erwartungen der Türkei übereinstimmen und ih- ren politischen Zielen entsprechen.67 Bundeskanzler Gerhard Schröder vertrat die Auffassung, dass die europäi- sche Identität durch den Beitritt der Türkei zur EU nicht gestört würde. Seiner Mei- nung nach sind die grundlegenden Werte der europäischen Integration die Einhaltung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Ein rascher Beitritt der Türkei sei gegenwärtig unmöglich. Er werde erst dann möglich, wenn die Türkei die Kopen-

66 Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei, Antrag des Abgeordneten Dr. Wolf­ gang Schäuble und der Fraktion CDU/CSU, Deutscher Bundestag 15. Wahlperiode, „Drucksache“, Nr. 126, vom 2.12.2002; Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei, Antrag des Abgeord­ neten Dr. Wolfgang Schäuble und der Fraktion der CDU/CSU, Deutscher Bundestag 15. Wahlperi- ode, „Drucksache“, Nr. 3949, vom 19.10.2004, Quelle: http://dip.bundestag.de/btd/15/039/1503949. pdf, (November 2006). 67 W. Langen, Die Türkei – ein wichtiger Partner Europas, [in:] G. Rinsche, I. Friedrich (Hrsg.), Europa als Auftrag. Die Politik deutscher Christdemokraten im Europäischen Parlament 1957-1997. Von den Römischen Vertragen zur Politischen Union, Böhlau Vertrag, Weimar/Köln/ Wien 1997, S. 218. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 187 hagen-Kriterien erfüllt und die notwendigen Reformen im Bereich der Demokra- tisierung des öffentlichen Lebens, der Justiz, der Minderheitenrechte und – mehr noch – der Menschenrechte, durchführt. In diesem Verständnis ist die europäische Union keine religiöse Gemeinschaft wie bei den Christdemokraten, sondern viel- mehr eine Wertegemeinschaft.68 Die Türkei hingegen muss sich entscheiden, ob sie sich in ihrem politischen Leben an diesen Werten ausrichten will. Die Argumente gegen einen Beitritt der Türkei sind in der deutschen Politde- batte – laut Martin Große-Hüttmann69 – vor allem: 1. Die Aufnahme der Türkei würde eine Störung der kulturellen Identi- tät des sich integrierenden Europa bedeuten und die weitere Vertiefung der Integration unmöglich machen. 2. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen der Türkei und der EU (unter der Berücksichtigung des Lebensstandards im EU-Durchschnitt) ist zu hoch. Sie stellt geradezu eine Kluft dar. 3. Die Türkei könnte als großer Staat (779.452 km²) mit einem schnellen na- türlichen Bevölkerungswachstum (ca. 71,89 Mio. Einwohner) mit der Zeit die anderen Mitgliedstaaten der EU dominieren. 4. Die europäischen Staaten werden den wachsenden Bedrohungen und He- rausforderungen bezüglich Sicherheit, die der islamische Fundamentalis- mus, der sich nach dem Beitritt der Türkei in der ganzen Union verbreiten wird, mit sich bringt, noch mehr ausgesetzt sein. 5. Die „nichtwestliche“ Politikkultur der Türkei könnte einen „Kampf der Kulturen“ provozieren70. 6. Die geografische Lage der Türkei in der Nähe zu den Krisenregionen im Na- hen Osten und Kaukasus könnte die Sicherheit der EU-Staaten bedrohen. Zu diesen Argumenten können weiterhin die verschiedenen Fragen, die mit der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien zusammenhängen, hinzugefügt wer- den, vor allem im Hinblick auf das politische System, Demokratisierung und Rechts-

68 Populäre Bezeichnung, die im deutschen Außenministerium der Regierung von Gerhard Schröder verwendet wurde. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen Amt bezeichnete die Zie- le der deutschen Erweiterungspolitik als das Streben nach einer Wertegemeinschaft. Vgl.: L. Volmer, Von einer neuen Türkeipolitik? Die deutsche Außenpolitik vor einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei, „Zeitschrift für Türkeistudien“ 2000, Nr. 1, S. 95-102. 69 Vgl.: M. Große Hüttmann, „Die Türkei ist anders als Europa“ Die öffentliche Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei in Deutschland, [in:] A. Giannakopolus, K. Maras (Hrsg.), Die Türkei Debatte in Europa. Wiesbaden: VS-Verlag, 2005, S. 36-41. Por. E. Madeker, Türkei und europäische Identität. Eine wissenssoziologische Analyse der Debatte um den EU–Beitritt, VS–Verlag für Sozial- wissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 120-123. 70 Den Begriff verwendete S. P. Huntington in seinem Artikel The Clash of Civilizati­ ons? In der Zeitschrift „Foreign Affairs“ Vol. 72, No. 3, Summer 1993, S. 22-49. Später führte er in aus in seinem gleichnamigen Buch Clash of Civilization and the Remaking of Word Order, das 1996 erschien. Deutsche Ausgabe: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhun­ dert, Goldmann, München 2000. 188 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… staat. Adam Szymański vertritt die Meinung, dass die Schwierigkeiten der Türkei mit der Befolgung der demokratischen Prinzipien und Menschenrechte vor allem am Kemalismus und seinen Grundsätzen – Nationalismus und Laizismus neben Re- publikanismus und Reformismus – liegen.71 Der Kemalismus, zur „Zivilreligion“ geworden, war primär vom europäischen Denken und dem Streben nach dem Errei- chen des Lebensstandards der westlichen Staaten geprägt. Heute jedoch unterliegt er der Dogmatisierung (Nationalismus, Laizismus), da er Teil des Systems geworden ist, und genau das ist gegenwärtig der Hauptgrund für das Demokratiedefizit in der Tür- kei. Heute zeigt sich der Kemalismus vor allem in: 1) der unkritischen Modernisie- rung, die jede Diskussion hemmt, die zur Bildung einer pluralistischen Gesellschaft beitragen würde; 2) der Intoleranz in Teilen des politischen und kulturellen Systems, die mit der kemalistischen Vision kollidieren; 3) der Behandlung der Politik als ei- nes Bildungsmechanismus, der die politische Realität bildet und eine neue Gesellschaft formt.72 Die grundlegenden Probleme sind weiterhin: die Rolle der türkischen Armee als „Demokratiewächter“ – institutionalisiert in Form des Nationalen Sicherheitsrats. Auch der Zypernkonflikt, die Frage der Anerkennung des Völkermordes an den Ar- meniern 1915/1916 in der Osmanischen Türkei73, die Verletzung der Rechte nationaler Minderheiten (Kurden) oder auch der Status der Frau, der nicht in Europa gelten- den Standards entspricht. Im Hinblick auf die geringe Unterstützung der deutschen Gesellschaft für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU, stellen sich Fragen der de- mokratischen Legitimierung für eine Einbindung der Türkei in das System der Uni- on.74 Deutschland, das einen Widerwillen der im Inland lebenden Türken gegenüber der Integration mit der deutschen Gesellschaft hautnah erleben, befürchtet, dass sich diese Situation mit der Erweiterung der EU um die Türkei vertiefen könnte.75

71 �������������������������������������������������������������������������������������� Kemalismus ist laut Christian Rumpl die „Sicht auf den Staat der modernen Türkei, Mu- stafa Kemal Atatürk, die Idee, die versucht mit den historischen Werten des Osmanischen Reichs abzuschließen und die sich auf der Synthese der Werte und der Ordnung des europäisch-westlichen Kulturkreises mit dem neu während der Jahrhundertwende entdeckten Turpismus“. Ch. Rumpf, Das Nationalismusprinzip in der türkischen Verfassung, „Verfassung und Recht in Übersee“ 1992, Nr. 4, S. 410. Por. idem, Das Verfassungssystem der Türkei, „Der Bürger im Staat“2005, Jg.55, Heft 3, S. 94-95. Dies Definition übernimmt auch Adam Szymański, Między islamem a kemalizmem. Pro­ blem demokracji w Turcji /Zwischen Islam und Kemalismus. Das Problem der Demokratie in der Tür­ kei/, PISM, Warszawa 2008, S. 56-57. 72 A. Szymański, Między islamem a kemalizmem… /Zwischen Islam und Kemalismus/, S. 269-298. 73 Vgl. eingehender: Y. Ternon, Ormianie. Historia�������������������������������������������� zapomnianego ludobójstwa /Die Arme­ nier. Die Geschichte eines vergessenen Völkermords/, Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 2005. 74 Institut für Demoskopie Allensbach, Schwerer wiegende Bedenken gegen den EU-Kandidaten Türkei, „Allensbacher Berichte“ 2000, Nr. 2; Vgl.: Eurobarometer 66. Die öffentliche Meinung in der Eu­ ropäischen Union. Herbst 2006. Nationaler Bericht Deutschland, Quelle: http://ec.europa.eu/deutschland/ pdf/information/publication/germany_eb66_national_report_validated_18_12_20061.pdf, (März 2007). 75 Vgl. eingehender: W. Quaisser, A. Reppegather, EU-Beitrittsreife der Türkei und Konse­ quenzen einer EU-Mitgliedschaft. Gutachten im Auftrag des Bundesministerium für Finanzen. Wor- king Paper 252, Osteuropa-Institut, München 2004; M.S. Teitelbaum, Ph.L. Martin, Is Turkey ready Die Europäische Perspektive des Westbalkans 189 In der deutschen politischen Debatte tauchen auch Argumente für die Auf- nahme der Türkei in die Europäische Union auf: 1. Die Türkei wird als Mitglied der EU die europäische und die deutsche Wirtschaft beleben sowie die Position der EU auf dem Weltmarkt stärken. Dies kann sich als besonders interessant für den deutschen Export erwei- sen. Darüber hinaus wird der Zustrom türkischer Arbeitskräfte die euro- päische Gesellschaft „verjüngen“, was sich positiv auf die alternden Ge- sellschaften der westeuropäischen Staaten auswirken wird, insbesondere auf deren Sozial- und Rentenversicherungssysteme. 2. Die Türkei kann zu einem Beispiel für die anderen Staaten im Nahen Osten werden, indem sie zeigt, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechts- staat nicht dem Islam widersprechen. Sie kann die Rolle einer Brücke zwischen dem Westen und dem Nahen Osten spielen. 3. Die Aufnahme der Türkei in die EU wird die Rolle der Union in der Nah- ostregion stärken.76 Die Türkei befindet sich auf einer „Schnittstelle“ zahl- reicher ethnischer Gruppen (Türken, Kurden, Südslawen, Perser, Araber) und aller großen Weltreligionen mit Ausnahme des Buddhismus. Im Hin- blick auf diese besondere Lage ist sie für die EU ein außergewöhnlich wich- tiger Partner. In der Türkei wird eine Brücke zwischen Europa und Asien, zwischen Christentum und Islam gesehen.77 Die Anbindung der Türkei an die EU eröffnet letzterer den Weg zu den Energierohstoffen am Kauka- sus und in Nahost und sichert die Treibstoff- und Gasversorgung. 4. Die Perspektive der Mitgliedschaft beeinflusst den demokratischen Wan- del in der Türkei positiv, ähnlich wie im Fall der mitteleuropäischen Staa- ten, deren Annäherung an die EU die Transformationsprozesse beschleu- nigt hatte. 5. Es fällt schwer, die tatsächlichen Konsequenzen der Verweigerung des Beitritts der Türkei zur EU vorherzusehen. Dies könnte ernsthafte Konsequenzen für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei haben sowie einen Anstieg der nationalistischen, fundamentalistischen und antidemokratischen Tendenzen in der Türkei verursachen. Da- rüber hinaus ist die Ansicht zu vernehmen, ein Nein der Union könne in der Türkei als Ja zu einem Konzept von Europa als einem „geschlossen for Europe?, „Foreign Affairs“ 2003, Vol. 82, No. 3, S. 97-111. 76 M.G. Hüttmann, op. cit., S. 41 u. a. 77 Vgl.: W. Langen, Die Türkei – ein wichtiger Partner Europas, [in:] G. Rinsche, I. Friedrich (Hrsg.), Europa als Auftrag. Die Politik deutscher Christdemokraten im Europäischen Parlament 1957-1997. Von den Römischen Vertragen zur Politischen Union, Böhlau Vertrag, Weimar/Köln/ Wien, 1997, S. 217-224. Vgl.: J. Misiągiewicz, Działania Republiki Tureckiej w regionie /Das Vorge­ hen der Türkischen Republik in der Region/, [in:] B. Bojarczyk, A. Ziętek (Hrsg.), Region Azji Cen­ tralnej jako obszar wpływów międzynarodowych /Zentralasien als Wirkungsgebiet internationaler Einflüsse/, Wydawnictwo Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej, Lublin 2008, S. 171-187. 190 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Klub nur für Christen“ aufgefasst werden und somit die Beziehungen zur islamischen Welt verschlechtern.78

2.3. Die Türkei als Beitrittskandidat

Auf der Luxemburger Sitzung des Europarats im Dezember 1997 sprach sich Helmut Kohl entschieden gegen die Mitgliedschaft der Türkei in der Europä- ischen Union aus. Seine Haltung begründete er mit dem Konflikt mit Griechenland um Zypern, der Verfolgung der türkischen Kurden und wirtschaftlichen Problemen. Der Europäische Rat beschloss, dass sich der Erweiterungsprozess zusammen- setzen wird aus: Europäischer Konferenz, Beitrittsprozess sowie Verhandlungen. Die Europäische Konferenz wird sich aus den Mitgliedstaaten zusammensetzen und aus den Staaten, die um Mitgliedschaft angesucht haben – Mitteleuropa, Malta, Zypern und Türkei. Als Folge wurde die Türkei in Luxemburg in den Erweiterungs- prozess einbezogen, nicht aber in die Heranführungsstrategie. Die deutsche Seite war mit dieser Lösung zufrieden. Die türkische Regierung hingegen lehnte am 14. De- zember in einer Erklärung in Luxemburg die Luxemburger Entscheidung ab.79 Nach der Absage der Teilnahme an der Europäischen Konferenz durch Ankara suchte man nach neuen Lösungen für die Beziehungen der EU mit der Türkei. Die Europäi- sche Kommission verfasste das Dokument Initial Proposals for European Strategy for Turkey (4. März 1998).80, das jedoch nichts wesentlich Neues beitrug. Der bis- herige Assoziationsvertrag und die Zollunion wurden nach wie vor als die einzigen Lösungen gesehen, welche die EU der Türkei zu bieten bereit war. Die Union hat- te die Türkei als wirtschaftlichen Partner akzeptiert, war jedoch noch nicht bereit für die Einbeziehung dieses Staats in den Beitrittsprozess.81 Vom 15.‑16. Juni 1998 wurde auf der Sitzung des Europäischen Rats in Cardiff der Willen zur Einführung der europäischen Strategie gegenüber der Türkei bekräftigt. Der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder lehnte die politische Linie seines Vorgängers gegenüber der Türkei ab. Er blieb jedoch bei dem Standpunkt, dass der- zeit (Ende der neunziger Jahre) noch keine klare europäische Perspektive für die- sen Staat abgegeben werden könne und lediglich der Status eines Beitrittskandidaten in Frage käme. Auf einer Sitzung des Europarats in Helsinki vom 10.‑11. Dezember

78 Vgl.: E. Madeker, op. cit., S. 128-130. 79 Erklärung des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl vor der Presse zum Abschluß der Tagung des Europäischen Rates am 13. Dezember 1997 in Luxemburg, „Bulletin des Presse- und Informati- onsamtes der Bundesregierung“ vom 16. Februar 1998, Nr. 12, S. 152. Por. S. E. Kahraman, Rethin­ king Turkey–European Union relations in the Light of Enlargement, „Turkish Studies“ 2000, Vol.1, No. 1, S. 12. 80 European Strategy for Turkey: The Commission’s Initial Operational ProposalS. Commu������­ nication from the Commission to the Council. COM (98) 124 final, 04.03.1998. 81 S. E. Kahraman, Rethinking Turkey – European Union relations in the Light of Enlarge­ ment, „Turkish Studies“ 2000, Vol. 1, No. 1, S. 13. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 191 1999 wurde festgestellt, dass die Türkei ein Beitrittskandidat ist, der in Anlehnung an die gleichen Kriterien ein EU-Staat werden soll, wie die anderen Beitrittskandida- ten. Die Entscheidung aus Helsinki war ein deutliches Signal dafür, dass die Türkei ein Recht auf Gleichbehandlung und die gleichen Chancen wie die übrigen Kandida- ten hat. Kanzler Schröder sah die Entscheidung Helsinkis als ein Zeichen der „Nicht- Diskriminierung“ der Türkei. Er stellte fest, dass die EU „eben nicht als Klub des christlichen Abendlandes, sondern als eine Wertegemeinschaft, die auf der Ach- tung des Rechts, der Demokratie, der Toleranz, der Humanität und Solidarität ge- gründet ist“82, gesehen werden sollte. Bogdan Koszel behauptet, dass die neue Linie der Regierung zur Gänze durch die neue, vom Bundestag verabschiedete Reform über die deutsche Staatsbürgerschaft (15. Juli 1991) ausgedrückt wird, die das ius sanguinis (Blutsprinzip) durch das ius soli (Erdprinzip) ersetzt hat. Seit 1. Januar 2000 nahm die Staatsbürgerschaft einen po- litischen und nicht mehr kulturellen oder ethnischen Charakter an, was der großen Gruppe der in Deutschland wohnhaften Personen türkischer Abstammung den Erwerb der Staatsbürgerschaft ermöglicht. Die Bedingungen dafür sind nach dem Territorial- prinzip abhängig vom rechtlichen Status mindestens eines der Elternteile im Sinne des Rechts auf legalen Aufenthalt auf deutschem Gebiet seit mindestens acht Jahren. Erforderlich ist ein rechtlicher Anspruch auf Aufenthalt in Form des Besitzes einer vo- rübergehenden Aufenthaltsgenehmigung oder eines festen Wohnsitzes in Deutschland seit mindestens 3 Jahren. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft auf diese Art ist zeitlich begrenzt. Das Kind ist nach Erreichen der Volljährigkeit verpflichtet, sich zu entschei- den, ob es die deutsche Staatsbürgerschaft behalten oder die Staatsbürgerschaft seines Herkunftslandes behalten will. Wenn es sich für letzteres entscheidet oder keine ent- sprechende Erklärung bis zur Vollendung seines 23. Lebensjahres ablegt, verliert es die deutsche Staatsbürgerschaft. Diese Änderungen, die ein Ausdruck der multikultu- rellen Idee sind, wurden in der Türkei sehr positiv aufgenommen.83 Dank den deutschen Interventionen ließ sich Griechenland überzeugen, sein Einverständnis zur Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten an die Türkei zu geben. Bundeskanzler Schröder unterstrich zu Beginn seiner Rede im Bundestag direkt nach der Sitzung des Europäischen Rats, dass die dort gefallenen Entschei- dungen „wichtig für das Zusammenleben aller Menschen in Deutschland waren, un- abhängig davon, welcher Herkunft sie sind. Gerade für die vielen unter uns lebenden

82 Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Ergebnissen des Eu­ ropäischen Rates in Helsinki vom 10./11. Dezember 1999 vor dem Deutschen Bundestag am 16. De­ zember 1999, „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung“ vom 20. Dezember 1999, Nr. 88, S. 834-835. 83 B. Koszel, Integracja Turcji z Unią... /Die Integration der Türkei mit der Europäischen…./, op. cit., S. 34. Gestz über die deutsche Staatsbürgerschaft vom 24. Juli in seiner aktuellen Lautung (5. Februar 2009), zusammen mit einer Berücksichtigung aller Änderungen vgl.: Staatsangehörig­ keitgesetz vom 24. Juli 1913 (RGBI. S. 583), zuletzt geändert durch Gesetz vom 05.02.2009 (BGBI. I S. 158). 192 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Menschen türkischer Herkunft ist es unabdingbar zu wissen, dass das Land ihrer Väter Hoffnung auf eine demokratische Zukunft als Teil Europas hat.“ Der Aus- schluss eines Staats aufgrund seiner Religion dürfe nicht zugelassen werden.84 Dies entsprach auch dem Konzept der Vollendung Europas, die vom europäischen Kommissar für Erweiterungsangelegenheiten Günter Verheugen präsentiert wurde, der von der Schaffung einer Union europäischer Völker, zu denen er auch die Türkei zählte, ausging.85 Die Entscheidung aus Helsinki nahmen die christdemokratischen Oppositionsparteien CDU und CSU negativ auf und wiesen darauf hin, dass die- se eine Abweichung von der „Europa-Idee der Gründerväter“ darstelle.86

2.4. Die Etappe der Beitrittsverhandlungen

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger Volmer bemerkte auf einer von der Stiftung Entwicklung und Frieden am 14. April 2000 in Potsdam organisier- ten Begegnung Die Türkei ante portas – der EU-Beitritt als Chance und Problem, dass die Erweiterung der EU weiterhin im deutschen Interesse stehe, aber dass dazu interne Reformen in der EU selber unabdingbar wären. Er appellierte auch an die tür- kische Regierung um Vertrauen in die Bemühungen der deutschen Regierung. Er be- tonte, dass die EU selbst auf die Erweiterungen vorbereitet werden müsse.87 Das Jahr 2001 war ein Wendejahr für die Türkei. Die Terroranschläge in den USA auf Ziele in New York und Washington wie auch der frühere Krieg der NATO im Kosovo (Frühjahr 1999) führten den deutschen Politikern die Bedeu- tung der Türkei für die Sicherheit in Europa deutlich vor Augen. Darüber begann die Türkei selbst mit der Einführung demokratischer Reformen. Am 3. Oktober ver- abschiedete das türkische Parlament zahlreiche Verfassungsänderungen (ein Morato- rium auf die Anwendung der Todesstrafe, die Einführung der Versammlungsfreiheit, der Freiheit der Meinungsäußerung und des Rechts auf einen fairen Prozess, die Fest- schreibung der Gleichheit von Mann und Frau). Zu weiteren wichtigen Reformen sind vor allem die im Sommer 2002 und 2003 verabschiedeten Reformpakete zu zäh- len (die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, die Legalisierung von Un- terricht und Rundfunksendungen in anderen Nationalsprachen und Dialekten, dar- unter der kurdischen Sprache, das Verbot der Umsiedelung nationaler Minderheiten,

84 Ibidem, S. 833. Por. G. Müller-Brandeck-Bocquet. Deutsche Leadership in der Europäischen Union? Die Europapolitik der rot-grünen Bundesregierung 1998–2002, [in:] eadem (et al.), Deutsche Europapolitik von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Leske+Budrich, Opladen 2002, S. 188. 85 Rede des Mitglieds der Europäischen Kommission Günter Verheugen, gehalten am 9. März 2000 an der Boğaziçi-Universität in Istanbul (gekürzt) , „Internationale Politik“ 2000, Nr. 10, Quelle: http://www.internationalepolitik.de/archiv/jahrgang2000/november00/, (Februar 2008). 86 J. Janning, Bundesrepublik Deutschland, „Jahrbuch der Europäischen Integration“ 1999/2000, S. 310; CDU und CSU: Türkei noch kein geeigneter Kandidat, „Die Welt“ vom 11. Dezember 1999. 87 Vgl.: L. Volmer, Vor einer neuen Türkeipolitik? Die deutsche Außenpolitik, „Zeitschrift für Türkeistudien“2000, Jg. 13, Heft 1, S. 101. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 193 das Recht auf freies Eigentum).88 Darüber hinaus unterzeichnete die Türkei im Januar 2004 das 13. Protokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention, wodurch sie sich zur Abschaffung der Todesstrafe verpflichtete. Gemäß den Bestimmungen die- ses Protokolls, das die Todesstrafe in allen Fällen, auch in Kriegszeiten ächtet, wur- den am 22. Mai 2004 entsprechende Verfassungsänderungen verabschiedet, sodass nun Art. 38 Abs. 7. erklärt, dass „niemand zum Tode verurteilt werden darf“89. Die Reformen in der Türkei und die Vorbereitungen der USA auf eine bewaff- nete Intervention im Irak mobilisierten die Mitgliedstaaten zur Erklärung des Beginns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beim Gipfel des Europäischen Rats in Ko- penhagen vom 12.-13. Dezember 2002. Gleichzeitig wurde wiederholt, dass die Türkei die Kopenhagen-Kriterien (von 1993) erfüllen muss. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, die Ausgaben für die Vor-Beitritts-Hilfe für die Türkei zu vergrößern.90 Direkt vor dem Gipfel in Kopenhagen legte die Bundestagsfraktion der CDU/ CSU Anfang Dezember 2002 an die Bundesregierung einen Antrag auf Darstellung des Angebots einer „privilegierten Partnerschaft“ an die Türkei vor. Diese Institution war laut den Christdemokraten eine realistischere Option als die Mitgliedschaft.91 Die Erklärung des Europäischen Rats über den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei innerhalb von zwei Jahren unter Bedingung der Erfüllung der politi- schen Kriterien stellte die deutsche Seite jedoch zufrieden. Im Februar 2003 trat der Vertrag von Nizza in Kraft, in dem die Türkei bei der Aufteilung der gewogenen Stimmen im EU-Rat nicht berücksichtigt wurde. Dies be- deutete, dass die Frage der Aufnahme dieses Staats weitere institutionelle Reformen, die Ausarbeitung und Annahme eines weiteren Vertrags durch die EU benötigen wird.

88 Vgl.: A. Szymański, Niemcy wobec rozszerzenia... /Die Deutschen gegenüber der erwei­ terung…./, S. 13; Idem, Problems of Turkey on the Way to the EU and the Constitutional Reform [in] J. Adamowski, K.A. Wojtaszczyk (ed.), Negotiations of the EU Candidate Countries, Oficyna Wydawnicza ASPRA-JR, Warszawa 2001, S. 197-204. Por. R. Schmidt, Die Türkei, die Deutschen und Europa. Ein Beitrag zur Diskussion in Deutschland, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wies- baden 2004, S. 32-33. 89 Text der türkischen Verfassung in deutscher Sprache: http://de.wikipedia.org/wiki/Verfas­ sung_der Republik_T%C3%BCrkei, kin englischer Sprache auf der Webseite der türkischen Regie- rung: http://www.byegm.gov.tr/mevzuat/anayasa/anayasa-ing.htm. Für eine Analyse der Durchfüh- rung demokratischer Reformen im Bereich der Menschenrechte und der Grundfreiheiten in der Türkei zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vgl.: A. Szymański, Między islamem a kemalizmem... /Zwischen Islam und Kemalismus/, S. 73-187; K. Kirişci, Turkey’s foreign policy in turbulent times, „Chaillot Paper“, No. 92, September 2006, S. 38-49. 90 Posiedzenie Rady Europejskiej w Kopenhadze 12–13 grudnia 2002 r. Wnioski Prezyden­ cji, źródło: http://libr.sejm.gov.pl/oide/dokumenty/konkluzje/kopenhaga200212.pdf, (marzec 2008). Vgl.: K.E. Fuat, Ö. Ziya, Helsinki, Copenhagen and beyond. Challenges to the New Europe and the Turkish state, [in] U. Mehmet, C. Nergis (ed.), Turkey and European Integration. Accession prospects and issues, Routledge, London/New York, 2004, S. 173-193. 91 Antrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble und der Fraktion der CDU/CSU. Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei, Deutscher Bundestag 15. Wahlperiode, „Druck- sache“, Nr. 126 vom 2.12.2002. 194 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Im Frühjahr 2003 erreichten das Europaparlament, der Europarat und die Eu- ropäische Kommission ein Übereinkommen in der Frage der Einbindung der Türkei in die finanzielle Heranführungsstrategie. Diese war verbunden mit einer Gewährung einer Finanzhilfe in Höhe von 1.050 Mio. EUR für die Jahre 2004-2006. Am 19. Mai 2003 nahm die EU die Verbesserte Partnerschaft für Mitgliedschaft an, deren Ziel die Erteilung von Hilfe an Ankara in den Bemühungen der Erfüllung der Beitritts- kriterien war92. Am 17. Dezember 2004 traf der Europarat aufgrund der positiven Meinung der Europäischen Kommission den Beschluss über den Beginn der Beitrittsverhand- lungen mit der Türkei am 3. Oktober 2005. Die Schlussfolgerungen des Vorsitzes enthielten jedoch viele Verschärfungen im Vergleich zu den Kandidaten, die bis- her zu dieser Art von Verhandlungen zugelassen worden waren. Der Rat betonte, dass die Verhandlungen trotz beidseitiger Bemühungen möglicherweise nicht erfolg- reich abgeschlossen werden können. Erst dann können alternative Vorschläge zur Mit- gliedschaft der Türkei diskutiert werden.93 Die deutsche Christdemokratie stellt sich den Beitrittsverhandlungen selbst nicht entgegen, der Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union hingegen doch. Die FDP wiederum schließt die volle Mit- gliedschaft nicht aus und macht sie vom Ergebnis der Verhandlungen abhängig. Auf dem Gipfel des Europäischen Rats in Brüssel im Dezember 2006 wurde ein Beschluss über einen Verhandlungsstopp getroffen. Die Türkei lehnte entschieden die Anerkennung des (griechischen) Zypern ab. Im Juli 2005 hingegen willigte sie ein, in einem neuen Zollvertrag die am 1. Mai 2004 beigetretenen zehn neuen Mitglieder der EU zu berücksichtigen, darunter Zypern. Zum Zusatzprotokoll zum Vertrag über die Zolluni- on fügte Ankara eine Erklärung bei, dass die Verwendung der Bezeichnung „Republik Zypern“ im Protokoll keinesfalls die völkerrechtliche Anerkennung des griechischen Teils von Zypern bedeutete. Die türkische Regierung ließ weiterhin keine zypriotischen Schiffe in türkische Hoheitsgewässer oder Flugzeuge in den türkischen Luftraum.94 Zusammen mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entflammte erneut die Diskussion um die Zugehörigkeit dieses Staats zu Europa. Die deutschen politischen Parteien, die gegenüber dem Beitritt der Türkei zur EU kritisch eingestellt waren, waren auch skeptisch gegenüber dem Beitritt von Bulga- rien und Rumänien und umgekehrt. Die SPD spricht sich für die Einhaltung der Ver-

92 Ł. Bartkowiak, op. cit., S. 139. 93 Rada Unii Europejskiej, Konkluzje Prezydencji – Bruksela 16–17 grudnia 2004 źródło: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/PL/ec/83216.pdf, (luty 2008). Vgl.: B. Aral, op. cit., S. 115-116; Vgl.: Commission of the European Communities, 2004 Regular Report on Turkey’s pro­ gress towards accession, SEC (2004) 1201, Brussels 6.10.2004. Vgl.: H. Kramer, H.-L. Krauß, The Eu­ ropean Commission Report on Turkey: An intelligent Guide, „SWP-Comments“ November 2004/ C 33, Quelle: http://www.swp-berlin.org/ common/get_document.php?asset_id=1732, (marzec 2008). 94 Vgl. eingehender: H. Kramer, EU–Turkey Negotiations: still in the „Cyprus Impasse“, „SWP-Comments“, January 2007/C. 1, źródło: http://www.swp-berlin.org/common/ get_document. php?asset_id=3652, (März 2008). Die Europäische Perspektive des Westbalkans 195 pflichtungen gegenüber den EU-Kandidaten aus, was auch die Türkei betrifft, ähnlich die Grünen. CDU/CSU hingegen verlangten die strikte Einhaltung der Beitrittskri- terien gegenüber Bulgarien und Rumänien, ähnlich sprach sich die FDP für strenge Aufnahmebedingungen sowie die Ausübung politischen Drucks auf diese Staaten aus. Eine Bedingung sine qua non ist laut den Liberalen die Entstehung einer Zivil- gesellschaft in den Beitrittsstaaten. Das Problem der EU-Erweiterung um die Türkei bleibt offen und hängt vom Verlauf der Verhandlungen ab.95 Nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur EU 2007 stellte sich her- aus, dass sich im Rahmen der in der Bundesrepublik regierenden Großen Koalition keine Strategie für die weitere Erweiterung herauskristallisierte.96 Die Erweiterung der EU um die Türkei stieß auf großen Widerstand in der CDU/CSU. Im Gegenzug sprechen sich diese Parteien für eine „privilegierte Partnerschaft“ aus. Die SPD hin- gegen sieht in der Mitgliedschaft der Türkei wirtschaftliche Vorteile und die strate- gische Bedeutung dieses Staates für Europa. Dennoch ist, wie der Historiker Hein- rich August Winkler bemerkt, die Frage, die den stärksten Einfluss auf die negative Sichtweise der Türkei als eventuelles EU-Mitglied hat, die unzulängliche Säkulari- sierung. In Europa war die Säkularisierung ein Prozess, der über Jahrhunderte statt- fand. In der Türkei wurde diese erst im 20. Jahrhundert aufgezwungen und vom Mi- litär gesichert. Winkler schreibt: „Es wird behauptet, die Staatsdoktrin der Türkei sei ´areligiös`, ja so gar ´religionsfeindlich`. Daraus folge schlüssig, dass die Tür- kei nicht begreifen kann, warum die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist, warum die Menschenrechte so wichtig sind, warum man wehrlose Häftlinge nicht quält und schlägt.“ Europa – als Wertegemeinschaft – beinhaltet die Länder, die sich für die politische Kultur des Westens öffnen. Die von der Fraktion der Christdemo- kraten im Bundestag vorgeschlagene Privilegierte Partnerschaft ist eine Alternative zur Vollmitgliedschaft, die die Erschaffung einer allseitigen Freihandelszone sowie einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicher- heitspolitik der EU ermöglicht.97 Im Juni 2006 verpflichtete der Europäische Rat Deutschland zur Vorberei- tung eines Berichts über die möglichen Lösungen nach dem Scheitern des Pro- 95 K. Bachmann, Polityka europejska. ��������������������������������������������������Ucieczka od federalizmu europejskiego /Europapoli­ tik. Die Flucht vor einem europäischen Föderalismus/, [in:] K. Bachmann, P. Buras, S. Płóciennik, Republika bez gorsetu. Niemcy po wyborach 18 września 2005 r. /Republik ohne Korsett. Deutschland nach den Wahlen am 18. September 2005/, Oficyna Wydawnicza ATUT-Wrocławskie Wydawnictwo Oświatowe, Wrocław 2005.S. 144-145. 96 Vgl. eingehender: M. Hartmut, Deutsche Europapolitik nach dem Regierungswechsel 2005, „Integration“ 2006, Nr.1, S. 3-22. 97 M. Wissman, Privilegierte Partnerschaft als Alternative zu einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei?, Pressegespräch 22 Januar 2004, Quelle: http://www.cdu.de/tagesthema/01_22_04_ priv_partnerschaft_wissmann.pdf, (März 2008), D. von Kyew, Die Türkei ist ein Teil des „Projekts Europa“, „Weltpolitik.net“ vom 30. Juni 2004, Quelle: http://www.weltpolitik.net/Sachgebiete/ Europ%C3%A4ische%20Union/Vertiefung/Erweiterung/ Dossier/Beitritt_der_T%C3%Bcrkei/Ana- lysen/ Grenzen%20der%20Erweiterung.html, (Januar 2007). 196 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… jekts des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Auf diesem Gipfel sprach sich Deutschland, ähnlich wie Frankreich, negativ in der Frage der EU-Erweiterung um die Türkei und in fernerer Zukunft um die Ukraine und den Westbalkan aus. Der Standpunkt der deutschen Regierung spiegelte die Ablehnung der öffentli- chen Meinung gegenüber den weiteren Erweiterungen wider. Die Türkei, als Staat mit muslimischen Bürgern und einem enormen Bevölkerungswachstum wird als Bedrohung gesehen. Deutschland fordert, zusammen mit Frankreich, Österreich und Holland, die Festlegung neuer Kriterien für die weiteren Erweiterungen, wel- che die Aufnahmefähigkeit der EU sowie die öffentliche Meinung in ihren Mit- gliedstaaten berücksichtigen.98 Zusammen mit der Finalisierung der Vorbereitungen zur Aufnahme von Bul- garien und Rumänien wurden die Antworten auf die Frage um weitere Erweiterun- gen sehr vorsichtig. Vor allem im Hinblick auf die Aufnahmefähigkeit der Union selbst. Der Standpunkt der Regierung von Angela Merkel war klar: „Wir werden die gegebenen Zusagen halten, aber für konkrete neue Beitrittsperspektiven auf ab- sehbare Zeit keine neuen Zusagen machen können. Automatismen wird es künftig nicht mehr geben. Nur wenn die Bedingungen voll erfüllt werden, kann ein Bei- tritts- oder Annährungsprozess an die Europäische Union vorangehen.“ Die Kanzle- rin unterstrich, dass weitere Erweiterungen der Union durch die Bürger der EU selbst akzeptiert werden müssen, und die Akzeptanz durch ihre Mitgliedstaaten von der Er- füllung der festgelegten Mitgliedskriterien durch die Kandidaten abhängen wird, „Nur ein politisch so gestalteter Erweiterungsprozess wird von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen.“ 99

2.5. Eine Union für das Mittelmeer als Alternative zur EU-Mitgliedschaft

Als eine gewisse Alternative zur Mitgliedschaft der Türkei stellte sich die durch den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy vorgeschlagene Union für das Mittel- meer (auch Mittelmeerunion genannt) heraus, die im Frühjahr 2007 angekündigt wur- de. Die Idee dieses Vorschlags war die Schaffung eines Forums für die über 20 Staa- ten des Mittelmeerraums, das sich auf vier Säulen stützen sollte – Umweltschutz, interkultureller Dialog, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherheit. Die Union für das Mittelmeer sollte einen rotierenden Vorsitz haben und eine eigene Mittelmeer- kommission nach dem Vorbild der Europäischen Union als Vorbild.

98 Paris will weitere EU-Beitritte erschweren, „Die Welt“ vom 23. Mai 2006. 99 A. Merkel, Wertegebundene Europapolitik, Herausforderungen für die deutsche Ratpräsi­ dentschaft, „Die Politische Meinung“ November 2006, 51. Jg.., Nr. 444, S. 6. Im Herbst 2005 erteilte Kanzlerin Merkel dem Magazin „Handelsblatt“ ein Interview. Befragt nach der Frage der EU-Erwei- terung um die Türkei betonte sie, dass die Entscheidung über den Beginn der Beitrittsverhandlungen durch die Unionsseite gemäß dem Prinzip „pacta sunt servanta“ getroffen wurde. Deutschland werde sich an die bisherigen Beschlüsse halten. Unabhängig davon wird sich die CDU für eine „privilegierte Partnerschaft“ zwischen EU und Türkei aussprechen“, „Handelsblatt“ vom 27. Oktober 2005. Die Europäische Perspektive des Westbalkans 197 Die darin vorgeschlagene Mitgliedschaft nur einiger EU-Länder wird in ge- wissem Sinne als „Schlag gegen die europäische Zusammengehörigkeit“ gewertet.100 Die Türkei lehnte den Vorschlag des französischen Präsidenten ab. Kanzlerin Merkel sichert dem Projekts ihre Unterstützung zu, unter der Bedingung jedoch, dass alle Mitglieder der EU Einfluss auf die Bildung der Mittelmeerpolitik haben werden. Wie Merkel betonte, betrifft das Problem der illegalen Emigration genau so Rom und Pa- ris wie Berlin und Kopenhagen.101 Anfang März 2008, noch vor der Brüsseler Sitzung des Europäischen Rats, erreichten Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy ein Übereinkommen in der Fra- ge der Bildung der Mittelmeerunion. Am 14. März 2008 akzeptierte der Europäische Rat das vorläufige Projekt der Union für das Mittelmeer mit den von deutscher Seite eingebrachten Verbesserungen. Es wurde beschlossen, im Gegensatz zum Projekt Sarkozys, dass die neue Struktur der Zusammenarbeit eine Initiative der ganzen Europäischen Union unter Mitwirkung der Europäischen Kommission und aller 27 Mitgliedstaaten sein solle, und nicht nur der ein Projekt der Mittelmeeranrainerstaa- ten. Die Union für das Mittelmeer wurde als Fortsetzung des Barcelona-Prozesses (der Euro-Mittelmeer-Partnerschaft) gesehen.102 Die Europäische Kommission wur- de auch mit der Vorbereitung von Anträgen zur des Prozesses unter dem Namen Bar­ celona-Prozess: Union für das Mittelmeer (Barcelona Process: Union for the Medi­ terranean) auf dem geplanten Gründungsgipfel beauftragt.103 Im Projekt der Union für das Mittelmeer wurde vorgesehen, dass diese Insti- tution über ein 20 Personen starkes Sekretariat verfügen wird, das für die Umsetzung bestimmter Aufgaben wie etwa der Verschmutzung des Meeres oder des Zugangs zu Trinkwasser verantwortlich sein wird. Den Vorsitz werden sich zwei Staaten teilen, ein EU-Mitglied und Mittelmeeranrainer sowie ein Mitglied des Prozesses, das gleichzeitig nicht zur EU gehört.104

100 P. Świeboda, Śródziemnomorska fatamorgana Sarkozy‘ego /Sarkozys Mittelmeerfatamor­ gana/, „Gazeta Wyborcza“ (online) vom 28. Dezember 2007. 101 Ukochana Unia Nikolasa Sarkozy’ego /Nicolas sakozys geliebte Union/, „Gazeta Wy- borcza“ (online) vom 21 Dezemeber 2007; Merkel criticises Sarkozy’s Mediteranien Union plans, „EUobserver’’ (online) vom 6. Dezember 2007. 102 Die Mittelmeerpartnerschaft, die auch Barcelona-Prozess genannt wird, ist eine Plattform für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU mit 10 außereuropäischen Staaten des Mittel- meerbeckens (Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Israel, Palästinensische Autonomiegebiete, Li- banon, Jordanien, Syrien, Türkei), in Kraft getreten 1995 in Barcelona. Die Zusammenarbeit umfasst drei Bereiche: 1) politische Fragen und Fragen der Sicherheit; 2) Wirtschaft und Finanzen; 3) ge- sellschaftliche, kulturelle und humanitäre Zusammenarbeit. Vgl. eingehender: J. Zając, Partnerstwo Eurośrodziemnomorskie /Europäisch-mediterrane Partnerschaft/, Wydawnictwo Sejmowe, Warsza- wa 2005; P.J. Borkowski, Partnerstwo Eurośródziemnomorskie /Europäisch-mediterrane Partner­ schaft/, Aspra-JR, Warszawa 2005. 103 Rada Europejska w Brukseli. Konkluzje Prezydencji. Bruksela 13–14 marca 2008 r., No. 5652/1/08 REV 1, źródło: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_Data/docs/ pressdata/pl/ec/99414.pdf, (czerwiec 2008). 104 Vgl.: Merkel und Sarkozy klären zentralen Standpunkt, „Die Welt“ (online) vom 3. März 198 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… Am 13. Juli 2008 wurde auf dem Gipfel der Regierungschefs der Mitgliedstaa- ten der EU sowie der Partnerstaaten aus dem Mittelmeerraum beschlossen, den bishe- rigen Barcelona-Prozess durch die Schaffung einer Union für das Mittelmeer (Union for the Mediterranean) zu stärken. Die Anwesenheit aller Vertreter der Mitgliedstaaten war ein großer Erfolg von Angela Merkel, die darauf bestand, dass das Projekt der Zu- sammenarbeit im Mittelmeerbecken nicht auf die Staaten dieser Region begrenzt wer- den dürfe. Nach Ansicht der Bundeskanzlerin hat die Zusammenarbeit in dieser Region strategische Bedeutung für die gesamte Europäische Union.105 Auf dem Pariser Gipfel wurde angekündigt, dass die neue Struktur der Zusammenarbeit, der Barcelona-Pro­ zess: Union für das Mittelmeer, 27 EU-Staaten und die Europäische Kommission so- wie die nicht zur EU gehörenden Staaten, die in den Barcelona-Prozess engagiert sind, umfassen würde. Es wurde die Einladung der Arabischen Liga angekündigt, und auch die Staaten, welche die Errungenschaften der euro-mediterranen Partnerschaft akzep- tiert hatten, also Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Monaco und Montenegro, wur- den zur Zusammenarbeit geladen. In Punkt 13 der Erklärung stand, dass der Barcelo­ na-Prozess: Union für das Mittelmeer komplementär zu den bilateralen Beziehungen der Union mit den Staaten der Region auf der Grundlage von Assoziierungsabkom- men, der Europäischen Nachbarschaftspolitik sowie den Beziehungen mit Mauretanien und den Ländern der AKP (Afrika, Karibik, Pazifik), mit denen seit langem Assoziie- rungsabkommen bestehen, ist. Der Barcelona-Prozess: Union für das Mittelmeer wird auch mit der Afrika-EU-Strategie (von Dezember 2007) kohärent sein. Es wurde betont, dass die neue Struktur unabhängig von der Erweiterungspolitik der EU, den Beitrittsver- handlungen und dem Vor-Beitritts-Prozess ist.106 Dieser letzte Vorbehalt hat ohne Zwei- fel eine große Bedeutung für die Türkei, die mit der EU Beitrittsverhandlungen führt. Der Konkretisierung der Bestimmungen des Pariser Gipfels vom 3.‑4. Novem- ber 2008 nahm sich die Ministerkonferenz in Marseille an, auf der die Entscheidungen bezüglich der institutionellen Struktur des neuen Unionsprojekts präzisiert und ein Ak- tionsplan für 2009 angenommen wurde. Die Minister schlugen vor, dass von die- sem Moment an die Bezeichnung „Union für das Mittelmeer“ gelten solle.107

2008; Merkel und Sarkozy legen Streit über Mittelmeerunion bei, „Spiegel“ (online) vom 4. März 2008.; Union for the Mediterranean: Building on the Barcelona aquis, „ISS Report“, EU Institute for Security Studies, No.01, 13 May 2008; Mediterranean Union Provides New Impetus for Mid East Peace Process, ,,German Foreign Policy in Focus“, Issue 374 (07.17.2008), Quelle: http://www.deutsche-aussenpolitik. de/digest/issue374.php, (lipiec 2008). Union pour la Méditerranée: le potentiel de l’acquis de Barcelo­ ne, „ISS Report“, Institute d’Etudes de Securité de l’UE, no 03, Novembre 2008. 105 Merkel erfreut über Mittelmeergipfel, ,,Focus“ (online) vom 14. Juli 2008; Sturm in Cham­ pagnerglas, „Die Zeit“ (online) vom 14. Juli 2008. 106 Council of the European Union, Joint Declaration of the Paris Summit for the Mediterra­ nean French EU Presidency, Paris, 13 July 2008, Brussels, 15 July 2008, No. 11887/08 (Presse 213). Vgl.: A. Szymański, B. Wojna, Unia dla Morza Śródziemnego – nowe forum współpracy regionalnej / Die Union für den Mittelmmerraum – ein neues Forum für die regionale Zusammenarbeit/, „Biuletyn PISM“, Nr. 32 (500) vom 1. Juli 2008. 107 Council of the European Union, Barcelona Process: Union for Mediterranean ministe­ Schlussfolgerungen 199 3. Schlussfolgerungen

Die Perspektive weiterer EU-Erweiterungen nach dem Jahr 2007 um die West- balkanstaaten (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Monte- negro und Serbien) und die Türkei erfordert einschneidende Änderungen in der Union selbst. Dazu ist – wie Angela Merkel betont – eine institutionelle Reform, insbe- sondere der Prozeduren der Entscheidungsfindung, notwendig. Keine der bisherigen Erweiterungen der Union kann in ihrem Ausmaß und den inneren Auswirkungen auf die Union selbst mit einer eventuellen Erweiterung um die Türkei verglichen werden. Die Frage des Beitritts der Westbalkanstaaten weckt hingegen weniger Kon- troversen. Die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ruft in allen Staaten Europas Befürchtungen bezüglich der politischen, wirtschaftlichen und kul- turellen Konsequenzen hervor. Sowohl Deutschland als auch der gesamten Europäischen Union liegt die Sta- bilisation der Region des ehemaligen Jugoslawien am Herzen, somit unterstützen sie Bosnien und Herzegowina, das Kosovo und Montenegro, Albanien und Serbien durch Programme und Hilfsfonds (z.B. PHARE bis 2000, CARDS). Sie beteiligen sich an der Organisation der zivilen und militärischen Krisenbewältigung (in Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und im Kosovo), am politischen Dialog, an der Ent- sendung spezieller EG-/EU-Vertreter für Angelegenheiten unabhängiger Republiken und am Stabilitätspakt für Südosteuropa. Der Westbalkan hat dank technischer, wirt- schaftlicher und finanzieller Hilfe seitens der EU den Weg einer schnellen Entwick- lung eingeschlagen, sodass die Möglichkeit der EU-Mitgliedschaft für diese Staaten näher gerückt ist. Am nächsten steht diesem Ziel Kroatien. Der Standpunkt der Bundesregierung gegenüber den Mitgliedschafts-Aspi- rationen der Türkei ist bedingt durch besondere Sicherheits- und Wirtschaftsinter- essen und die Anwesenheit einer 2 Millionen zählenden türkischen Gemeinschaft in Deutschland. Die Türkei ist ein wesentlicher Handelspartner Deutschlands. Allein 2005 belief sich der Export in die Türkei auf 12,8 Mrd. EUR und der Import aus die- sem Land auf 8,2 Mrd. EUR. Die Bundesrepublik ist der größte und aktivste auslän- dische Investor in der Türkei. Die Anzahl deutscher Tochterfirmen und deutsch-tür- kischer Joint Ventures beträgt über 2.000. Hinzu kommt, dass die Türkei ein beliebtes Reiseland ist, 2005 wurde sie von 4 Millionen deutschen Touristen besucht. Trotz der wiederholten Krisen in den deutsch-türkischen Beziehungen bemüht sich die Bundesrepublik, eine Lockerung der Bindung dieses Staats an Europa nicht zu- zulassen. Deutschland reift langsam, wie die restlichen EU-Staaten, zur Schaffung rial conference Marseille, 3–4 November 2008, Final declaration, Marseille, 4 November 2008, No. 15187/08 (Presse 314). Eingehender zur Union für den Mittelmeerraum siehe:. J. Zając, Role Unii Europejskiej w regionie Afryki Północnej i Bliskiego Wschodu /Die Rolle der Europäischen Uni­ on in Nordafrika und dem Nahen Osten/, Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego, Warszawa 2010, S. 101-103. 200 Die Vorbereitung auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten… eines Rahmens für die gegenseitigen Beziehungen mit der Türkei. Die Integration der Türkei mit der EU ruft enorme Kontroversen in allen Mitgliedsländern hervor, nicht nur in Deutschland. Während der EU-Osterweiterung verlief die Diskussion auf dem Europäi- schen Forum unter dem Motto der „Rückkehr nach Europa“; die Frage der Mitglied- schaft der Türkei ist hingegen problematischer und in gewissem Sinne oszilliert sie um die Antwort auf die Frage nach den Grenzen Europas. Den Staaten, die der EU in den Jahren 1995, 2004 und 2007 beigetreten sind, wurden keine derartigen Fragen über ihre „Zugehörigkeit zu Europa“ gestellt, wie sie sie die Türkei vor den Augen der öffentlichen Meinung der Unionsstaaten beantworten muss. Niemand zweifelte die europäische Zugehörigkeit Österreichs, Polens oder Bulgariens in geografischer oder kultureller Hinsicht an. Wie Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts Allensbach aus dem Jahr 2004 zeigten, sahen nur 21% der Deutschen die Türkei als europäisches Land.108 Die rot-grüne Koalition (SPD/Grüne/Bündnis’90) mit Bundeskanzler Ger- hard Schröder an der Spitze, setzte sich für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU ein. Mit der Entstehung der christlich-sozialen Großen Koalition im Herbst 2005 überwog wieder die von den Christdemokraten forcierte Option der „privilegierten Partnerschaft“ für die Türkei. Durch ihr Festhalten am Prinzip „pacta sunt servan- ta“ steht die deutsche Regierung momentan auf dem Standpunkt der Unterstützung weiterer Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, führt jedoch keine unterstützenden Maßnahmen durch. Die Türkei bemüht sich trotz der Skepsis eines Großteils der EU- Staaten weiterhin um Aufnahme in die EU. Im September 2010 nahm die türki- sche Gesellschaft in einem Volksentscheid eine Reihe von Verfassungsänderungen an. 26 Änderungen betrafen vor allem die Justiz, die Gewährleistung einer freien Gerichtsbarkeit, die Möglichkeit individueller Klagen vor dem Verfassungsgerichts- hof sowie die Stärkung der Kompetenzen der Zivilgerichte. Das Ergebnis des Re- ferendums (58% der Wähler stimmten für die Einführung der Änderungen) wurde vom Unionskommissar für Erweiterungsangelegenheiten Stefan Faule wohlwollend angenommen. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sprach von ei- nem „weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg der Türkei nach Europa“. Wenn auch die Diskussion in der Türkei „auch über die konkrete Ausgestaltung der Machtbalan- ce im Staat grundsätzlich zu begrüßen“ sei – „Sie ist sicher noch nicht beendet.“109

108 E. Noelle, Der Winter des Missvergnügens. Die Stimmung zur Jahreswende ist von Ver­ drossenheit geprägt, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 28. Januar 2004. 109 Erdogan erklärt „Vormundschafts-System für beendet“, Die Welt“ (Online), 13.09.2010. 201

KAPITEL VI

Die Folgen der Bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland

1. Politische Folgen

1.1. Veränderungen der europäischen Geopolitik

Die Außenpolitik des Vereinigten Deutschlands ist die Fortsetzung der Politik der Bonner Republik. Sie zeichnet sich durch einen überparteilichen Konsens bezüg- lich der europäischen Politik aus. Ihr Hauptanliegen ist die Förderung der weiteren Integration, was mit dem Engagement Deutschlands für die „Vertiefung“ und „Erwei- terung“ der Europäischen Union Hand in Hand geht. Die Hauptziele der deutschen Außenpolitik bleiben die Garantie von Sicherheit für Staat und Bürger, die Aufrecht- erhaltung der transatlantischen Beziehungen sowie die Entwicklung der europäischen Integration. Die deklarierten Rollen der Bundesrepublik auf internationaler Arena sind: Zivilmacht, Handelsstaat und europäische Großmacht. Deutschland spielt ne- ben Frankreich die Rolle der „Lokomotive“ oder des „Musterknaben“ der europäi- schen Integration, es macht aus der Europäischen Union einen vielseitigen und glo- balen, internationalen Akteur – die „Großmacht Europa“. Die erste offensichtliche Konsequenz der Erweiterung der Europäischen Uni- on im Jahr 1995 war die Vergrößerung ihrer Fläche um 797,3 Tsd. km² und des Be- völkerungspotenzials um 22 Millionen Einwohner.1 Mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands erstreckt sich die Europäische Union nun bis an die Nordküste der Ost- see und über den nördlichen Polarkreis, im Nordosten grenzt sie nun an die Russische Föderation. Dies hat bestimmte Risiken (z.B. Zustrom des organisierten Verbrechens) erhöht, aber auch neue Chancen für die Beziehungen zwischen der EU und Russland geschaffen. Die Mitgliedschaft Österreichs hingegen verursachte eine Verschiebung der EU-Grenze in Richtung der mitteleuropäischen Staaten, d.h. der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens. Die EU-Erweiterung 1995 be-

1 Die EU-12 nahm ein Gebiet von 2.346.700 km2 ein, ihre Einwohnerzahl belief sich auf etwa 350 Millionen. 202 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland dingte ihre geopolitische Verschiebung in Richtung der ehemaligen Staaten des rea- len Sozialismus und ehemaligen Ostblocks. Der EU-Beitritt Schwedens, Finnlands und Österreichs, also der drei neutralen EFTA-Staaten, rief in Russland keine derar- tigen politischen Einwände hervor wie die damals diskutierte NATO-Erweiterung. Dies stellte eine – vor allem wirtschaftliche – Stärkung dar, die die EU zur weiteren Expansion nach Osten benötigte. Die Osterweiterung der Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2007 war wesentlich umfangreicher. Durch sie wuchs die Fläche der Europäischen Union um 1 071,1 Tsd. km², das Einwohnerpotenzial um etwa 104 Millionen Einwohner.2 Die EU dehnte sich somit auf das Gebiet der in den Jahren 1940-1991 zur Sowjetuni- on gehörenden baltischen Republiken (Estland, Lettland und Litauen) aus, wodurch die Ostsee zum Binnenmeer der EU wurde. Von der östlichen Grenze Litauens zieht sich mit leicht gewundenem Verlauf die Außengrenze der EU zur Schwarzmeerküste im Süden bis hin zur bulgarisch-türkischen Grenze. Slowenien kam zur EU, während der Westbalkan außerhalb ihrer Grenzen blieb. Außerdem traten Zypern (der griechi- sche Teil) und Malta bei. In geopolitischer Hinsicht stärkte diese Erweiterung die Staa- ten, die Deutschland vom Osten umgeben. Somit hörte Deutschland auf, ein Staat zu sein, der unmittelbar Immigranten, Flüchtlinge und Asylbewerber aufnimmt. Nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zur Zone des Schengener Abkommens, wurde die Hauptlast der Grenz- und Zollkontrollen an die Außengrenze der EU zu Russland, Weißrussland, der Ukraine und der Türkei verschoben. Es lässt sich sagen, dass die EU- Osterweiterung sich als günstig für die geopolitische Lage Deutschlands erwiesen hat, das in seiner Nachbarschaft nun eine große Gruppe von Integrationspartnern und durch die zeitgleich verlaufende NATO-Erweiterung (im März 2004) Verbündete hat. Durch die Osterweiterung von NATO und EU hörte Mitteleuropa als geopolitische „Grau- zone“ auf zu existieren. Dieser Teil Europas wurde in die westlichen Strukturen ein- bezogen und die Europäische Union wurde zu einer Institution, die ihrem Namen ge- recht wird. Im Gegensatz zu den beiden NATO-Erweiterungen (1999 und 2004) rief die Osterweiterung der EU keinerlei Einwände seitens Russlands hervor. Es entstanden keine neuen Hindernisse für die Entwicklung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland bzw. der EU und dieser Großmacht. Dank der weiteren Erweiterungen der Europäischen Union um die EFTA- Staaten sowie die Staaten Mitteleuropas konnte Deutschland seine geopolitische Lage verändern, indem es sich ganz im Herzen der EU platzierte. Berlin, das vor dem 1. Mai 2004 in einer Entfernung von nur 80 km von der östlichen Grenze der EU lag, befindet sich heute im Zentrum des sich integrierenden Europa. Die Lage Deutsch- lands hat sich verändert, der Sicherheitsstreifen rund um dieses Land hat sich ge- schlossen. Alle Nachbarn der BRD, mit Ausnahme der Schweiz, sind Mitglieder der Europäischen Union. Die verstärkte Sicherheit ist auch durch die Zugehörigkeit

2 ����������������������������������������������������������������������������������� Die EU-27 nimmt ein Gebiet von 4.324.782 km² ein und wird von 497,2 Millionen Ein- wohnern bewohnt (laut Angaben aus dem Jahr 2008). Politische Folgen 203 dieser Staaten zur NATO (außer Österreich und der Schweiz) gegeben. In der neues- ten Geschichte hat sich Deutschland – umgeben von Verbündeten – noch nie in einer so günstigen Lage befunden.3

1.2. Die Festigung der Sicherheit Deutschlands und Europas

Die in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnene europäische In- tegration soll – über die explizit formulierten wirtschaftlichen Ziele hinaus – auch zur Sicherung des Friedens im in der Vergangenheit von bewaffneten Konflikten heim- gesuchten Europa beitragen. Wie Walter Stütlze schreibt, nimmt die Bundesrepublik als Staat, der aktiv die Integrationsprozesse bildet, am „gelungensten europäischen Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts“4 teil. Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 setzte sich Deutschland, neben seinen Aktivitäten zugunsten der Vertiefung der Inte- gration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, für die Erweiterung der Eu- ropäischen Union ein. Sowohl die erste EU-Erweiterung um die drei EFTA-Staaten Österreich, Schweden und Finnland sowie die große Osterweiterung um zehn weitere Staaten, durch die sich die geopolitische Position Deutschlands nachhaltig veränderte, trugen zur Stärkung seiner Sicherheit und somit zur Sicherheit Europas bei. Die Beweggründe für das schnelle Tempo der Erweiterung nach Osten waren vor allem Fragen der Sicherheit und nicht wirtschaftliche Vorteile. Sowohl die westeuropäischen Staaten der Europäischen Gemeinschaften als auch die ih- nen nacheifernden neuen Demokratien Mitteleuropas strebten eine Festigung ihrer nach dem Zerfall des Ostblocks geschwächten Sicherheit an. Die mitteleuropäischen Beitrittskandidaten waren sich nicht zur Gänze bewusst, welche Herausforderun- gen die europäische Integration, ihre Vielfalt, ihre politischen und wirtschaftlichen Mechanismen mit sich brachten. Ein deutscher Experte drückte es literarisch aus: „Man kann sagen, dass die Liebe zu den neuen Liebhabern eher durchs Herz als durch den Magen ging, und dass es, außer einem strategisch korrekten Resultat po- litischen Gefühls und Bedürfnisses, eine Rückkehr zu Europa war.“5 Die Länder, die sich um den Beitritt bemühten, handelten hauptsächlich aus Sicherheitsgründen und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu den zivilisatorisch weiter entwickelten Staa- ten Westeuropas. Die von ihnen verkündete Parole „Zurück zu Europa“ ergab sich aus politischen Prämissen und Sicherheitsüberlegungen, nicht aus wirtschaftlichem

3 G. Schöllgen, Der Auftritt Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Propyläen, Berlin 2004, S. 93. 4 W. Stütlze, Die deutsche Position zur EVSP und zu einem europäischen Sicherheitsinstru­ ment, [in:] W. Hoyer, G.F. Kaldrack (Hrsg.), Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, No- mos, Baden-Baden 2002, S. 157. Por. G. Verheugen, Die Europäische Union nach der Erweiterung, „Sicherheit und Frieden“ 2004, Jg. 22, Nr. 2, S. 58. 5 J. Jaks, Osterweiterung der EU – Herausforderung für beide Seiten, [in:] R. Döhrn (Hrsg.), Osterweiterung der EU – Neue Chancen für Europa ?!, Tagungsband zum 9. Leutherheider Forum der Adalbert-Stiftung-Krefeld in Zusammenarbeit mit dem Rheinisch-Westfälischen Institut vom 16. bis 19. Januar 1997, Duncker & Humbolt, Berlin 1998, S. 15. 204 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland Kalkül.6 Schon die Perspektive der EU-Mitgliedschaft festigte die Transformations- prozesse in den mitteleuropäischen Staaten, da sie eine Verbindung der Kosten dieser Prozesse mit dem erhofften Gewinn, den die Mitgliedschaft in der EU bringen sollte, zuließ.7 Dies war realistisch nur unter der Bedingung einer gleichzeitig Festigung der Sicherheit in Europa, die mit der parallel angestrebten NATO-Erweiterung er- reicht werden sollte. Die Perspektive und „konkrete Vision“ der EU-Mitgliedschaft, die diesen Staaten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre gegeben wurde bezeich- nete Günter Verheugen als eine Art „Kompass“, der die Richtung wies und die Ent- wicklung ermöglichte.8 Die Frage der Sicherheit hatte für die unmittelbar an die neuen Demokratien Osteuropas grenzenden Staaten (Österreich, Deutschland) eine besondere Bedeu- tung. Zusammen mit weiteren Erweiterungen „verschob sich“ die geopolitische Po- sition der Bundesrepublik in das direkte Zentrum der Integrationsprozesse. Die wirt- schaftlichen Probleme der sich transformierenden Staaten machten dem Bedarf nach politischer Stabilisierung in der Region Platz, die sich in den Worten „Sicherung des Friedens in Europa“ manifestierte. Frieden, Stabilisierung und Wohlstand sollten in den Osten exportiert wer- den, um auf diese Weise auf dem gesamten Kontinent gesichert zu werden – dieses Ziel präsentierte die SPD-Bündnis‘90/Grünen-Regierung als Grundlage der Erwei- terung um die Staaten Mitteleuropas.9 Die erwartete Konsequenz der Aufnahme die- ser Staaten in die EU sollte die Sicherung der friedlichen Koexistenz auf dem Kon- tinent sein. Im Koalitionsvertrag der ab 2005 herrschenden CDU/CSU-SPD hieß es: „Die Europäische Union ist Garant für politische Stabilität, Sicherheit und Wohl- stand in Deutschland und Europa“10. Bei Betrachtung allein der geostrategischen Umstände ist festzustellen, dass fast alle Nachbarn Deutschlands dessen Verbündete (als NATO-Mitglieder) und nächsten Partner sind. Dies trifft auch auf die eng mit der EU kooperierende, neutrale Schweiz zu. Dies bedeutet eine Stärkung der Sicherheit Deutschlands, das damit sein Frontstaatendasein beendigen konnte. Ein unmittelbarer Angriff ist unmöglich von Land aus durchzuführen. Es ist bemerkenswert, dass die Europä- 6 Vgl.: P. Achten, Die Osterweiterung der Europäischen Union. Beitritts- und Erweiterungshindernisse im Spiegel ökonomischer Kritik, Verlag Josef Eul, Köln 1996. 7 Vgl. eingehender: B. Lippert (Hrsg.), Bilanz und Folgeprobleme der EU-Erweiterung, No- mos, Baden-Baden 2004. 8 G. Verheugen, Europa Impuls. Rede von Kommissar Günter Verheugen am 25. Februar 2004, Willy-Brand-Haus, Berlin, S. 8, Quelle: http://archiv.spd.de/servlet/PB/show/1042000/ Rede_%20Verheugen%20Europa-ImpulS.pdf, (September 2008). 9 Der Koalitionsvertrag zwischen SPD-Büdnis’90/Grüne, Quelle: http://bundesregierung. de/dokument/ Schwerpunkte/koalitionsvetrag/XI._Eurpaeische_Einigung_internationale_Partner- schaft_Sicherheit_und_Frieden/ik1756_.htm?script=0, (März 2008). 10 Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD, Kap. IX, S. 147. Zugänglich auf der Webseite der Bundesregierung: http://www.bundesregie- rung.de /Content/ DE/_Anlagen/koalitionsvertrag,property=publicationFile.pdf, (November 2008). Politische Folgen 205 ische Union nicht nur eine klassische Integrationsorganisation ist, sie sieht außer der Integration der 27 Staaten auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und rechtli- cher Ebene auch die Einführung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- tik vor, darüber hinaus seit 1999 auch eine Europäische Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik. Deutschland ist – neben Frankreich – der Staat, der sich am stärksten für die Festigung der gesamten zweiten Säule der EU und ihrer Umwandlung in eine Organisation der gemeinsamen, kollektiven Verteidigung einsetzt. Praktisch seit den achtziger Jahren, als die Entwürfe für die Errichtung der Europäischen Union diskutiert wurden, präsentierte die Bundesrepublik am konsequentesten ein Konzept der Einbindung der Fragen der Sicherheit und Verteidigung in den In- tegrationsprozess. Später lancierte sie den Vorschlag der Einbindung der Westeu- ropäischen Union in die EU, die Gestaltung ihrer Verteidigungspolitik und schlug zusammen mit Frankreich im Vertrag über eine Verfassung der Europäischen Union die Festlegung einer Klausel Casus foederis vor, einer Vorschrift, welche die Staaten des Übereinkommens dazu verpflichtet, sich gegenseitig im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen oder mehreren von ihnen mit allen verfügbaren Mitteln Hilfe zu leisten. Diese Formel charakterisiert die politisch-militärische Al- lianz. Es war ebenfalls Deutschland, das die Einführung einer Solidaritätsklausel für den Fall eines Terroranschlags auf einen der EU-Mitgliedstaaten vorschlug. Beide Klauseln wurden in den Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2007 un- terschrieben wurde und im Dezember 2009 in Kraft getreten ist, miteinbezogen. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der EU-Erweiterung für die Festi- gung der Sicherheit aller ihrer Mitgliedstaaten bestätigt. Beide EU-Erweiterungen, in geringerem Ausmaß die von 1995, deutlicher die aus den Jahren 2004 und 2007, nahmen an der Stärkung der europäischen Si- cherheit teil. Erstens deshalb, weil die starke Struktur der friedlichen Zusammen- arbeit und Integration bedeutend erweitert wurde. Zweitens entwickelt die EU vielfältige Formen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Staaten, darunter den EU-Anwärtern und Mitgliedern sowie die strategische Partnerschaft mit Russland und die Europäische Nachbarschaftspolitik. Heute stellt die Europäi- sche Union eine riesige europäische Organisation dar, die offen ist für die Zusam- menarbeit mit Nicht-Mitgliedstaaten und anderen, darunter regionalen, Organisati- onen. Diese Handlungsstrategie wird als effektiver Multilateralismus bezeichnet.11 Aus dem Grund, dass die Union nur friedliche Absichten hat und auf europäischer und globaler Ebene in Anlehnung an das internationale Recht wirkt, hat sie kei- ne Feinde, die sie militärisch angreifen wollen. Zusammen mit den folgenden Erweiterungen, wuchs die Herausforderung der Sicherung der inneren Kohärenz der Europäischen Union unter den Bedingungen

11 Á. Vasconcelos, »Multilaterising« multipolarity, [in] G. Grevi, Á. Vasconcelos (ed.), Part­ nership for effective multilateralizm: EU relations with Brazil, China, India and Russia, „Chaillot Paper“, No. 109, May 2008, S. 26–32. 206 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland einer wachsenden Mitgliederzahl, was sich auch auf ihre Außen- und Sicherheitspo- litik auswirkte. Diese in der zweiten Säule der EU enthaltene Politik hat den Cha- rakter internationaler Zusammenarbeit. Die Entscheidungen in der zweiten Säule der EU werden nach dem Konsensprinzip getroffen. Die Interessenunterschiede zwi- schen den Mitgliedstaaten erschweren den Aufbau einer einheitlichen Auslandspoli- tik und somit besonders die Festlegung der Standpunkte für ein gemeinsames Han- deln in Sicherheitsfragen. Daher ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von den Anfängen der EU an wenig effektiv. Die seit der Internationalen Konferenz 1996 unternommenen Versuche ihrer Festigung durch Einschränkung des Konsens- prinzips sowie die Ausweitung ihres Bereiches auf Militärfragen stießen nicht nur auf den Widerstand der Gegner der Einengung der Integration von Großbritannien, Dä- nemark und dem neutralen Irland, sondern auch – nach der Erweiterung von 1995 – auf Vorsicht und Widerwillen der neu beigetretenen neutralen Staaten. Österreich, Schweden und Finnland mussten durch den Beitritt zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ihre Neutralität neu definieren. Dies bewirkte, in Verbindung mit den Standpunkten der oben genannten, älteren EU-Mitglieder, dass die vom Vertrag von Maastricht vorgesehene Verteidigungspolitik der EU schwierig zu er- arbeiten war. Dies gelang erst Ende der neunziger Jahre, als die EU-Staaten, dar- unter Großbritannien, Konsequenzen aus der Wirkungslosigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber dem Bürgerkrieg in Bosnien und Herze- gowina und insbesondere der Kosovo-Krise zogen. Sobald jedoch die EU die Euro- päische Sicherheits- und Verteidigungspolitik proklamierte, meldeten die Beitritts- kandidaten, darunter vor allem Polen, ihre Einwände gegenüber dieser Politik an, die aus den Befürchtungen um die Schwächung der Kohärenz der NATO erwuchsen. Auf der Internationalen Konferenz 2003/2004 und im Laufe weiterer Diskussionen über das Projekt des Vertrags über eine Verfassung für Europa widersprach vor allem Polen der Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Euro- päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die innere Kohärenz der EU wurde durch die Staaten mit deutlich proamerikanischer Orientierung und hoher Sensibilität gegenüber der Politik Russlands in Frage gestellt. Seit 2005 spielte in dieser Hinsicht Polen, das sich bemühte, zusammen mit den baltischen Staaten eine gemeinsame Strategie des „Aus-der-Reihe-Tanzens“ in der Politik der östlichen EU zu organisie- ren, eine prominente Rolle. Der polnische Präsident Lech Kaczyński verweigerte, ähnlich wie der Präsident der Tschechischen Republik Vaclav Klaus, die Ratifizie- rung des Vertrags von Lissabon, dessen Inkrafttreten durch die in ihm enthaltenen in- stitutionellen Lösungen zu einer Stärkung der inneren Kohärenz der EU und der Ef- fektivität ihres Handelns auf internationaler Ebene beitragen kann. Eine bedeutende Konsequenz des Beitritts der neuen Mitgliedstaaten ist der freie Personenverkehr. Die Bundesrepublik näherte sich im Zuge den letzten Erweiterungen um die Staaten jenseits ihrer Ostgrenze mit Vorsicht einer Liberali- sierung der Passkontrollen, die in den Bestimmungen des Schengener Abkommens Politische Folgen 207 (14. Juni 1985) vorgesehen waren und am 01. Mai 1999 in den rechtlichen und insti- tutionellen Rahmen der EU aufgenommen wurden. Beim Beitritt der skandinavischen Staaten und Österreichs stellte diese Frage kein Problem dar. Der Beitritt der neuen Mitglieder aus dem Osten zur Schengenzone, der vor allem mit der Abschaffung der Passkontrollen und Grenzposten zwischen Deutschland und (vor allem) Polen und der Tschechischen Republik verbunden war, wurde in der öffentlichen Meinung mit einem Export von Kriminalität assoziiert.12 Im Juni 2008 bewertete Außenminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Halb- jahresbilanz nach dem Beitritt der Staaten Mitteleuropas zur Schengenzone. Un- mittelbar nach der Abschaffung der Grenzkontrollen (21. Dezember 2007) wurde zwar ein Anstieg der illegalen Einreiseversuche auf das deutsche Hoheitsgebiet verzeichnet, in den nächsten Monaten jedoch normalisierte sich die Situation. Laut den Angaben des deutschen Innenministers haben seit Erweiterung der Schengen- zone 1727 Personen versucht, die Grenzen Deutschlands zu Polen und der Tsche- chischen Republik illegal zu übertreten. Darunter wurden 1224 zurückgeschickt oder in ihr Herkunftsland abgeschoben. 503 Personen erhielten ein Visum, das sie zur Einreise nach Deutschland berechtigte oder sie wurden den örtlichen Behörden übergeben.13 Diese Daten weisen darauf hin, dass sich die Befürchtungen vor ei- ner Überflutung durch illegale Einwanderer aus dem Osten nicht bestätigt haben. Die Zusammenarbeit im Rahmen der Gerichtsbarkeit und inneren Angelegenheiten, die von der EU mit den neuen Mitgliedern aufgenommen wurde, erwies sich als ef- fektives Instrument zur Aufrechterhaltung der Ordnung und öffentlichen Sicherheit in Deutschland. Die EU-Erweiterung – entsprechend der Idee eines gemeinsamen Hauses und Raumes – schwächte den Deutschen Staat nicht, im Gegenteil, es be- teiligte sich an der Stärkung seiner öffentlichen Ordnung. Die BRD ist momentan von acht Staaten umgeben, die ebenfalls Mitglieder der Europäischen Union sind und der Schengenzone beigetreten sind. Selbst die Schweiz trat diesem System bei – am 12. Dezember 2008.14 Dies bedeutet, dass Deutschland von allen Seiten von Staa-

12 Vgl.: B. Koszel, Polska i Niemcy w Unii Europejskiej. Pola konfliktów i płaszczyzny współ­ pracy /Polen und Deutschland in der Europäischen Union.. Konfliktfelder und Ebenen der Zusamme­ narbeit/ , Instytut Zachodni, Poznań 2008, S. 248–251. 13 � Illegale Einwanderung aus Polen und Tschechien gesunken, „Focus“ (online) 22. Juni 2008. Vgl.: Mehr Freiheit mit Sicherheit. Eine Information der Bundespolizei über die Schengen-Erweiterung, Bundesministerium des Inneren, November 2007, Bericht zugänglich auf der Webseite des Innenmi- nisteriums: http://www.bmi.bund.de. 14 Am 27. November 2008 beschlossen die Außenminister der EU-Staaten, dass die Schweiz ab dem 12. Dezember 2008 Mitglied der Schengen-Zone wird. An diesem Tag wurden die Grenz- kontrollen an den Grenzübergängen abgeschafft, an Flughäfen wurden sie noch bis 29. März 2009 durchgeführt. Die Schweiz kündigte jedoch für Februar 2009 einen Volksentscheid an, der die Er- weiterung des freien Grenzverkehrs für die neuen EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien betreffen sollte. Ein die Rechte der freien Einreise und Berufstätigkeit von EU-Bürgern auf dem Hoheitsge- biet der Schweiz betreffendes Referendum fand am 8. Februar 2009 statt. Die Mehrheit der Teil- nehmer (56,61%) sprach sich bei einer Wahlbeteiligung von 51.44%für den freien Personenverkehr 208 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland ten umgeben ist, die Kontrollen der Grenzüberschreitungen der Zone durchführen, was für die innere Sicherheit Deutschlands von großer Bedeutung ist.

1.3. Änderungen im Entscheidungsprozess der EU

Eine offensichtliche Konsequenz des Beitritts der EFTA-Mitgliedstaaten zur Europäischen Union war neben der Vergrößerung ihres Gebiets und der Einwoh- nerzahl der Ausbau der EU-Institutionen. Die Erweiterung der EU um drei Staaten wirkte sich nur unwesentlich auf den Entscheidungsprozess innerhalb der EU selbst aus. Von der Gesamtanzahl der 87 Stimmen im Rat entfielen vier Stimmen an Ös- terreich und je drei an Schweden und an Finnland, während Deutschland, ebenso wie Frankreich, Großbritannien und Italien, weiterhin über zehn Stimmen verfügte. Der Beitritt dieser drei Länder zur EU hatte keinen negativen Einfluss auf die Funk- tionsweise der Entscheidungsfindung. Die Situation änderte sich mit der nächsten Erweiterung um die Staaten Mit- teleuropas sowie des Mittelmeerraums. Auf der Internationalen Konferenz 2000 wurde ein neues – und wie man annahm – vorübergehendes System der Entschei- dungsfindung im EU-Rat ausgearbeitet, der sodann vom Vertrag von Nizza sanktio- niert wurde. Gemäß dieser Prozedur müssen Beschlüsse, die kraft der Verträge auf Antrag der Kommission angenommen werden sollen, zu ihrer Annahme mindestens 255 Stimmen „dafür“ erhalten, abgegeben von der Mehrheit der Mitglieder. In an- deren Fällen sind für die Annahme von Beschlüssen mindestens 255 Stimmen „da- für“, abgegeben von mindestens 2/3 der Mitglieder, erforderlich. Dazu hinzugefügt wurde die Klausel der demographischen Verifizierung. Diese besagt, dass bei einem Akt, der durch den Rat der EU mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden soll, ein Mitglied des Rats verlangen kann zu überprüfen, ob die Mitgliedstaaten, die die- se Mehrheit darstellen, mindestens 62% der Gesamtbevölkerung der Union reprä- sentieren. Wenn sich herausstellt, dass diese Bedingung nicht erfüllt wurde, wird der gegebene Akt nicht angenommen (Art. 23, Abs. 2 des Vertrags über die Europä­ ische Union und Art. 205, Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft). Es wurde ein System der Stimmenwägung angenommen, das Deutschland 29 gültige Stimmen zuteilt, das heißt gleich viele, wie Großbritannien, Frankreich und Italien. Unter den neu beigetretenen Staaten hat Polen eine starke Position im Rat gewonnen, da ihm 27 Stimmen zugeteilt wurden, so viele, wie Spanien. Die Rei- henfolge der neuen Mitgliedstaaten nach den ihnen zugeteilten Stimmen sieht wie folgt aus: Polen (27), Rumänien (14), Tschechische Republik und Ungarn (jeweils 10 Stimmen), Bulgarien (10), Slowakei (7), Litauen, Lettland, Slowenien, Estland und Zypern (jeweils 4 Stimmen), Malta (3). Eine detaillierte Aufteilung der gewoge- nen Stimmen ist in Tab. 5 dargestellt. aus. Die Ergebnisse des Volksentscheids sind verfügbar auf der Webseite des Schweizer Bundesamts für Statistik http://www.bfs.admin.ch. Politische Folgen 209 Tabelle 5. Aufteilung der Stimmen im Rat der Europäischen Union Anzahl Prozentsatz Anzahl Ein- der gewogenen Stimmen der Einwohner- der gewogenen wohner- Stimmen im in der EU- Mitgliedstaat zahl in der EU- Stimmen nach zahl System vor 27 27 dem Vertrag in Mill. dem Vertrag (in %) (in %) von Nizza von Nizza Deutschland 82,038 17,05 10 29 8,41 Großbritannien 59,247 12,31 10 29 8,41 Frankreich 58,966 12,25 10 29 8,41 Italien 57,612 11,97 10 29 8,41 Spanien 39,394 8,19 8 27 7,83 Holland 15,760 3,28 5 13 3,77 Griechenland 10,533 2,19 5 12 3,48 Belgien 10,213 2,12 5 12 3,48 Portugal 9,980 2,07 5 12 3,48 Schweiz 8,854 1,84 4 10 2,90 Österreich 8,082 1,68 4 10 2,90 Dänemark 5,313 1,10 3 7 2,03 Finnland 5,160 1,07 3 7 2,03 Irland 3,744 0,78 3 7 2,03 Luxemburg 0,429 0,09 2 4 1,16 EU-15 375,325 77,99 87 237 68,70 Polen 38,667 8,04 8 27 7,83 Rumänien 22,489 4,67 6 14 4,06 Tschechische 10,290 2,14 5 12 3,48 Republik Ungarn 10,092 2,10 5 12 3,48 Bulgarien 8,230 1,71 4 10 2,90 Slowakei 5,393 1,12 3 7 2,03 Litauen 3,701 0,77 3 4 2,03 Lettland 2,439 0,51 3 4 1,16 Slowenien 1,978 0,41 3 4 1,16 Estland 1,446 0,30 3 4 1,16 Zypern 0,752 0,16 2 4 1,16 Malta 0,377 0,08 2 3 0,87 210 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland

Anzahl Prozentsatz Anzahl Ein- der gewogenen Stimmen der Einwohner- der gewogenen wohner- Stimmen im in der EU- Mitgliedstaat zahl in der EU- Stimmen nach zahl System vor 27 27 dem Vertrag in Mill. dem Vertrag (in %) (in %) von Nizza von Nizza EU-27 481,179 100 134 345 100 Türkei 64,385 – 10 29 – EU-28 545,564 – 144 374 – Quelle: Bevölkerungsdaten aus der Stellungnahme der Kommission zur Regierungskonfe­ renz 2000 „Institutionelle Reformen für eine Erfolgreiche Erweiterung“, „Eurostat“ 1999.

Aus der Tabelle ergibt sich, dass die Position Deutschlands infolge der EU- Erweiterungen 2004 und 2007 im Vergleich zu der Position, die es in der Union mit 15 Mitgliederstaaten einnahm, deutlich geschwächt wurde. Damals stellten seine Stimmen 11,49% der Gesamtstimmen der Union dar, während es gegenwärtig, in ei- ner aus 27 Staaten bestehenden Union nur 8,41% der Stimmen hat. Es ist bemerkens- wert, wie die Politiker während der Arbeit am Projekt des Vertrags über eine Verfas­ sung für Europa bemerkten, dass Deutschland der nach der Einwohnerzahl größte Staat in der EU ist. Es stellt über 17% der Bevölkerung, während das Stimmge- wicht im Rat der Europäischen Union weniger als die Hälfte davon beträgt. Un- ter anderem aus diesem Grund schlug die BRD bereits bei der Arbeit am Vertrag von Nizza und dem neuen Vertrag die Einführung einer sog. Demographie-Klausel vor, mit der Entscheidungen in Abhängig davon, ob mehr als die Hälfte aller Ein- wohner der EU-Staaten dafür steht, verifiziert werden. Dieses von Joschka Fischer vorgelegte Postulat wurde u.a. mit dem Bedürfnis nach Sicherung einer demokrati- schen Legitimität der EU-Entscheidungen und Steigerung des Einflusses auf diese Entscheidungen durch die EU-Bürger begründet.15 Letztendlich wurde im am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lis­ sabon angenommen, dass das System von Nizza der Entscheidungsfindung bis zum 31. Oktober 2014 gilt, nach diesem Datum muss die qualifizierte Mehrheit mindestens 55% der Ratsmitglieder darstellen, dabei jedoch nicht weniger jedoch als 15, die Mit- gliedstaaten repräsentieren, deren Gesamtzahl an Einwohnern mindestens 65% der EU- Bevölkerung darstellt. Gleichzeitig besagt dieser Vertrag, dass die blockierende Min- derheit zumindest vier Mitglieder des Rats umfassen muss, im gegenteiligen Fall wird entschieden, dass die qualifizierte Mehrheit erreicht wurde (Art. 9c).16 Die Annahme

15 Vgl.: Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, Quelle: http://eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2007:306:SOM:DE:HTML, (Dezember 2010). 16 Im Vertrag von Lissabon befindet sich auch eine Vorschrift, die auf Antrag eines Mit- gliedstaates, wenn die Annahme eines Beschlusses eine qualifizierte Mehrheit erfordert, die Möglich- Politische Folgen 211 einer solchen Lösung gibt den Deutschen die Möglichkeit der Bildung einer Koalition, darunter mit den Staaten Mitteleuropas. Tabelle 5 stellt die Verteilung der gewogenen Stimmen im Rat der Euro- päischen Union dar, wie sie in der EU-15 galt (also vor der Osterweiterung), so- wie die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Stimmenverteilung für die EU-27. Für die Türkei wurden 29 gewogene Stimmen vorgesehen, also so viele, wie für die vier stärksten EU-Staaten, d.h. Deutschland, Frankreich, Groß- britannien und Italien. Die Türkei wurde jedoch bei der Ost-Erweiterung nicht mit- einbezogen. Es ist jetzt, da Beitrittsverhandlungen mit diesem Land geführt wer- den, schwierig zu beurteilen, wie die Anzahl seiner Stimmen geschätzt werden soll, in einer Situation eines unsicheren Resultats dieser Verhandlungen und Unklarheiten der Perspektiven weiterer institutioneller Reformen der Europäischen Union. Die EU-Erweiterung in den Jahren 2004 und 2007 hat ihr Entscheidungssys- tem nicht beeinträchtigt, was das Treffen von Routineentscheidungen zu laufenden Angelegenheiten betrifft. Die neuen Mitglieder haben sich schnell an die Funktions- prinzipien der Unionsinstitutionen adaptiert und haben begonnen, in diesen aktive Rollen zu spielen. Jedoch traten unterschiedliche Standpunkte in der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union auf. Zu bemerken ist eine mangelnde ideelle Übereinstim- mung unter allen Mitgliedern. Beim Vorgehen sowohl der Urmitglieder und größten Befürworter der Integration – wie Frankreich oder der Bundesrepublik – als auch der neuen Mitglieder – wie etwa Polen – sind eine gewisse Realpolitik und die Kon- zentration auf die eigenen nationalen Interessen erkennbar.17 Als spezielle Beispiele für unterschiedliche Grundhaltungen erwiesen sich die Meinungsverschiedenheiten über den Verfassungsvertrag und die weiteren Erweiterungen der Europäischen Uni- on.18 Es herrscht auch die weit verbreitete Meinung, dass zusammen mit dem Beitritt keit der Anwendung des Nizza-Systems der Stimmenwägung im Europarat und EU-Rat auch in ei- ner Übergangsperiode zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 vorsieht (Protokoll über die Übergangsbestimmungen, Art. 3). 17 Vgl. M.E. Rotter, R. Freudenstein, Powrót do przeszłości? Stosunki niemiecko-polskie podczas niemieckiej prezydencji w Radzie Unii Europejskiej i po zmianie rządu w Polsce /Rückkehr zur Vergangenheit? Die deutsch-polnischen Beziehungen während der deutschen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union nach dem Regierungswechsel in Polen/, „Rocznik polsko-niemiecki“ 2008, Nr. 16, S. 53–71. Zum Realismus in der deutsche Außenpolitik vgl. Ch. Hacke, Mehr Bismarck, weniger Habermas. Ein neuer Realismus in der deutschen Außenpolitik?, „Internationale Politik“ 2006, Nr. 6, S. 68-76. 18 Vgl. B. Hordecki, Motywy utopijne w dyskusji dotyczącej pogłębiania integracji europejs­ kiej /Utopische Motive im Disput um die Vertiefung der europäischen Integration/, [in:] A. Adamczyk (Hrsg.), Unia Europejska na rozdrożu. Wybrane problemy /Die Europäische Union am Scheideweg. Ausgewählte Probleme/, Wydawnictwo Naukowe INPiD UAM, Poznań 2008, S. 117-134; E. Czio- mer, Niemcy wobec dylematów i wyzwań przyszłego kształtu Unii Europejskiej /Deutschland gegen­ über den Dilemmas und Herausforderungen der zukünftigen Gestalt der Europäischen Union/, [in:] M. Stolarczyk (Hrsg.), Unia Europejska wobec dylematów integracyjnych na początku XXI wieku / 212 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland der mitteleuropäischen Staaten die Rolle Deutschlands als „Anwalt der Erweiterung“ zu Ende gegangen ist. Es stellt sich die Frage um den Inhalt der Zusammenarbeit und die Verständigungsplattform Deutschlands auf europäischer Ebene mit den neu- en Mitgliedern der EU. Obwohl die Erweiterung der EU um die EFTA-Staaten nicht die deutschen Konzepte der politischen Integration unterstützte (besonders in der Frage der „Ver- tiefung“), setzten sich die skandinavischen Staaten und Österreich für einen Ausbau der wirtschaftlichen Integration ein und unterstützten die Erweiterung der EU. Da- hingegen haben die neu beigetretenen Staaten Mitteleuropas, die mit ihren inneren Problemen zu kämpfen haben, eine Tendenz zu einer eher fordernden Position gegen- über den übrigen EU-Mitgliedern als zur Zusammenarbeit mit ihnen. Darüber hinaus kristallisieren sich erst langsam deren Finalité-Konzepte der europäischen Integrati- on heraus. Die von Friedbert Pflüger vorhergesagte Rolle Polens als aktiv die Euro- päische Union mitgestaltendes Land, das gleichauf mit Frankreich und Deutschland in die Integrationsprozesse engagiert ist, hat sich nicht erfüllt19.

1.4. Die Evolution der deutschen Europapolitik

In der Fachliteratur wird die gegenwärtigen Rolle Deutschlands zuweilen als „contingent Europeanism“ (dt. „bedingter Europäismus“) auf europäischer Ebe- ne bezeichnet. Die traditionelle Rolle Deutschlands als einer zivilen Großmacht un- terliegt einer gewissen Verwandlung aufgrund der immer größer werdenden Kluft zwischen der politischen Unterstützung der EU-Erweiterung und der Beschränkun- gen der zu diesem Zweck benötigten Mittel. Die Kosten der Erweiterung erwiesen sich als hoch und in den EU-Organen ergaben sich Schwierigkeiten bei der Festle- gung weiterer institutioneller Reformen sowie der damit verbundenen Problematik der Vertiefung der Integration. Die Unterstützung für eine vertiefte Zusammenar- beit in manchen Bereichen (z.B. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) ist ein Postulat Deutschlands für die klare Festlegung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und den In- stitutionen der Europäischen Union.20 Die Reform in der Zweiten Säule der EU soll

Die Europäische Union Europäische Union gegenüber den Integrationsdilemmas zu Beginn des 21. Jahrhunderts/, Wydawnictwo Adam Marszalek, Toruń 2006, S. 307-323. Vgl.: J.J. Węc, Spór o kształt instytucjonalny Wspólnot Europejskich i Unii Europejskiej 1950–2005 /Die Auseinandersetzung über die institutionelle Form der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union/, Księgarnia Akademicka, Kraków 2006, Kap. VI. 19 F. Pflüger,Polen – unser Frankreich im Osten, [in:], W. Schäuble, R. Seiters (Hrsg.), Außen­ politik im 21. Jahrhundert. Die Thesen der jungen Außenpolitiker, Bouvier, Bonn 1996, S. 183-192. 20 Por. E. Cziomer, Rola Francji w działaniach Niemiec na rzecz umocnienia Europejskiej Polityki Bezpieczeństwa i Obrony Unii Europejskiej w latach 2002-2003 /Die Rolle Frankreichs bei den Maßnahmen Deutschlands für eine Festigung der europäischen Institutionen/, [in:] G. Micha- łowska (Hrsg.), Integracja europejska. Instytucje. Polityka. Prawo, Księga pamiątkowa dla uczczenia Politische Folgen 213 die Rolle der Union als eines ganzheitlichen internationalen Akteurs gewährleisten. Deutschland steht, so wie andere Mitgliedstaaten auch, vor der Herausforderung der weiteren EU-Erweiterung um Kroatien und andere Westbalkan-Staaten sowie um die Türkei. Dazu ist die Durchführung einer weiteren Reform des EU-Entschei- dungsmechanismus notwendig. Die Schwierigkeiten bei der Einführung des Vertrags von Nizza stellen einen in hohem Maße entmutigenden Faktor bezüglich weiterer in- stitutioneller Reformen dar. Darüber hinaus wird die Begeisterung der deutschen Polit-Elite für die Idee der Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration nicht von einer brei- teren gesellschaftlichen Unterstützung begleitet. Die Evolution des Charakters der deutschen Europapolitik und der Rolle Deutschlands erzwingen Änderungen auf internationaler Ebene, die Probleme mit der Koordination des Entscheidungs- prozesses der EU, die wachsenden politischen Herausforderungen als Konsequenz von Integration und Globalisierung, die globale Finanzkrise (die im Herbst 2008 hereinbrach) sowie interne Probleme Deutschlands (die stetig wachsende öffentliche Verschuldung, Anstieg der Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Rezession).21 Im Interesse Deutschlands lag die Einbeziehung aller seiner Nachbarn in die Integrationsprozesse. Das Ziel dieser Eingriffe war die Schaffung von Chan- cen für die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, die sich im Zentrum des Beziehungsgeflechts der EU befinden würden. Das Postulat der Auf- nahme der EFTA-Staaten in die Europäische Union war mit dem deutschen Konzept der EU-Osterweiterung verbunden.22 Zusammen mit dem Beitritt der Staaten Mitteleuropas zur Europäischen Uni- on endete die Rolle Deutschlands als ihr „Anwalt“ auf dem Weg zu europäischen und euroatlantischen Strukturen. Es traten Fragen auf: Was nun? Wer ist Deutsch- land nun für Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakei, Sloweni- en, Litauen, Lettland, Estland, Rumänien und Bulgarien? Wie soll die Gestaltung der zukünftigen Beziehungen mit diesen Staaten aussehen? Für Deutschland war eines der strategischen Motive für die EU-Osterweiterung das Bedürfnis nach po- litisch und wirtschaftlich stabilen Partnern, die das Land vom instabilen Teil Euro-

65-lecia Profesora Stanisława Parzymiesa /Europäische Integration. Institutionen. Politik. Recht. Gedenkbuch zum 65. Geburtstag von Professor Stanisław Parzymies/, Wydawnictwo Naukowe Scho- lar, Warszawa 2003, S. 94-96. 21 S. Harnisch, S. Schieder, Germany’s New European Policy: Weaker, Leaner, Meaner, [in:] H.W. Maull (ed.), Germany’s Uncertain Power. Foreign Policy of the Berlin Republic, Palgrave Mac- millan, Houndmills/ Basingstoke/ Hampshire/New York 2006, S. 104; H.W. Maull, Conclusion: Uncer­ tain Power – German Foreign Policy into Twenty-First Century, [in:], Ebd., S. 273-184. Vgl.: P. Buras, „Europa uda się wspólnie“. Zmiany w niemieckiej polityce europejskiej a rola Niemiec w Unii Euro­ pejskiej /„Europa gelingt gemeinsam“. Die Veränderungen in der deutsche Außenpolitik und die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union/, „Polski Przegląd Dyplomatyczny“ 2007, Nr. 1 (35), S. 34. 22 Vgl. J. Janning, Die Europapolitik in den Mitgliedstaaten der EU. Bundesrepublik Deutsch­ land, „Jahrbuch der Europäischen Integration“ 1993/1994, S. 309. 214 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland pas abgrenzen und so von der Rolle des Pufferstaats befreien. Die Bundesrepublik lag an der so genannten Wohlstandsgrenze zu Osteuropa.23 Nach der Osterweiterung rückte sie nun mitten in das Zentrum des vereinten Europa. Unter Berücksichtigung der Veränderung der Situation in Europa innerhalb der letzten zehn bis zwanzig Jahre (darunter die EU-Erweiterungen) lässt sich der Versuch einer Prognose des zukünftigen Kurses der deutschen Politik unternehmen. Uwe Schmalz bearbeitete drei mögliche Szenarien der Entwicklung der deutschen Europapolitik: • Fortsetzung des bisherigen Engagements Deutschland für den europäi- schen Integrationsprozess, der als Element der Staatsräson gesehen wird. Deutschland wird die weitere Integration unterstützen, selbst wenn diese mit seinen kurzfristigen nationalen Interessen kollidieren sollte; • Änderung der bisherigen Linie der Europapolitik, die vor allem eine Fol- ge des Endes des Kalten Krieges und des Zerfalls des Ostblocks ist. Deutschland wird sich, aufgrund seiner Position in der Mitte Europas, vor allem auf die Forcierung seiner nationalen Interessen auf dem EU- Forum konzentrieren. Darüber hinaus ist ein Streben nach einer führen- den Position in der Europäischen Union möglich; • Pragmatismus vor allem als Konsequenz der Kluft zwischen dem politi- schen Konzept der weiteren europäischen Integration und der davon weit entfernten politischen Realität ist. Die europäische Integration als Prio- rität in der Außenpolitik der Bundesrepublik wird weniger idealistisch und eher praktisch, d.h. rational, behandelt. Es scheint, dass wir es mo- mentan mit eben dieser Situation zu tun haben.24 Eines der Beispiele zur Bestätigung dieser These, dass die Interessen Deutsch- lands in immer höherem Maße auf die europäische Politik Einfluss nehmen werden, sind die im September 2009 angenommenen Kompetenzgesetze, welche die Position des Bundestags und Bundesrats im Prozess der Koordination der europäischen Politik stärken. Durch die neuen Mitentscheidungsrechte wurde die Bundesregierung in al- len Angelegenheiten, die eine Verlagerung der nationalen Kompetenzen auf die EU betreffen, zur vorherigen Prüfung durch den Bundestag verpflichtet. Der Standpunkt des Bundestags sollte die Grundlage aller Handlungen der deutschen Regierung dar- stellen, ist aber nicht verbindlich. Jeder Rechtsakt der Union, der eine weitere Erwei-

23 W. Woyke, Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem faßt wieder Tritt, Leske+Budrich, Opladen 2000, S. 74. 24 Vgl. U. Schmalz, Die Deutsche Europapolitik nach 1989/1990; die Frage von Kontinui­ tät und Wandel [in:] H. Schneider, M. Jopp, U. Schmalz (Hrsg.), Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder – Optionen, Europa Union Verlag, Bonn 2002, S. 62-68. Vgl.: G. Hellmann, Deutschland, Europa und der Osten. Für den Erfolg einer neuen EU-Ostpolitik ist die Re- Europäisierung des deutschen Interessendiskurses eine wichtige Bedingung, „Internationale Politik“ 2007, Nr. 3 S. 20-28; H. Brill, Geopolitik und deutsche Ostpolitik, „Welt Trends“, Nr. 63, November/ Dezember 2008, S. 33-46. Vgl. T. Jaskółowski, Niemcy: polityka na miarę możliwości /Deutschland: Politik im Rahmen der Möglichkeiten/, „Rocznik Strategiczny“ 2008/2009, S. 237-239. Politische Folgen 215 terung der Vertragsbestimmungen betrifft (z.B. der Einführung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik), muss bedingungslos durch den Bundestag in Form eines spe- ziellen Gesetzes verabschiedet werden. Auch ein Veto des Vertreters der Bundes- republik im Rat der Europäischen Union kann nicht ohne vorherige Genehmigung des Bundestags eingelegt werden. Die Evolution der Erweiterungspolitik der Europäischen Union ist nicht nur für Deutschland charakteristisch. Wie Barbara Lippert zeigt, zeichnet sich die ak- tuelle Politik der Union in der Frage der Erweiterung durch Skepsis und das Gefühl „in eine Sackgasse geraten“ zu sein aus. Sie wirft der EU als Ganzes vor allem ein fehlendes politisches Konzept sowie die Abweichung vom bisherigen Erwei- terungsmechanismus vor. Obwohl sie die Osterweiterung als größten innenpoliti- schen Erfolg der Union anerkennt, stellt sie fest: „Der Beitritt Zyperns, Bulgariens und Rumäniens gilt inzwischen als abschreckendes Beispiel für eine übereilte Auf- nahme neuer Mitglieder.“25 Die Schwächung der Anziehungskraft der europäischen Integration sieht sie vor allem in den übertriebenen Versprechungen an die Anwärter (Türkei, Westbalkan). Die Automatisierung, die mit der Antragstellung und dem Be- ginn der Beitrittsverhandlungen verbunden ist, verursacht eine eigenartige Diskre- panz mit den bisherigen Richtlinien der Erweiterungspolitik. Die gegenwärtig ge- führten Beitrittsprognosen sind ein Ausbruch aus der bisherigen Doktrin, die sich seit 1973 in vier Punkten zusammenfassen lässt: 1) die Werte und die politische Ordnung des Kandidaten mussten zum Zeitpunkt der Antragstellung mit denen der Gemeinschaft/Union kompatibel sein, 2) die erfolgreiche Annahme des Acquis communautaire durch den Kandidaten vor dem Beitritt, 3) die EG/EU passt sich ihrerseits nur technisch an, ohne tiefer gehende Reformen ihrer Politik und ihrer Institutionen, 4) die Aufteilung zwischen neuen und alten Mitgliedern, etwa durch Unterscheidung bei der Repräsentation in den EU-Organen oder bei der Aufteilung der Stimmen, ist ausgeschlossen. Lippert betont, das bislang der EU-Beitritt die volle Mitgliedschaft bedeutete. Dahingegen war die Frage der Vertiefung der Integration eine Folge der Ambitionen und Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten und jegli- che Reformen in den Unionsinstitutionen verliefen gewissermaßen außerhalb oder parallel zu den Erweiterungskonferenzen. Bei den gegenwärtigen Verhandlungen ist eine Lockerung dieser Doktrin eingetreten, besonders in Bezug auf die Prognosen mit der Türkei. Ständig werden Ausnahmen eingeführt, wie etwa in den Bereichen, die mit dem freien Personenverkehr oder der Landwirtschaftspolitik zu tun haben. Darüber hinaus nutzen die Mitgliedstaaten immer häufiger die Möglichkeit der Ver- langsamung oder Blockierung der Verhandlungen. Die gegenwärtigen Progno- sen oder Vorbereitungen auf die Beitrittsverhandlungen zeichnen sich auch durch die Übertragung bilateraler Probleme auf das Forum zwischen den Kandidaten oder den Kandidaten und den Mitgliedstaaten aus, wie z.B. die gegenseitigen Beschul-

25 B. Lippert, EU-Erweiterungspolitik: Wege aus der Sackgasse, „SWP-Aktuell“ 46, August 2009, Quelle: http://www.swp-berlin. org/, S. 1. 216 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland digungen, Kriegsverbrechen begangen zu haben, zwischen Kroatien und Serbien, die Grenzkonflikte zwischen Slowenien und Kroatien, der Konflikt um den Staatsna- men zwischen Griechenland und Mazedonien und zahlreiche Konflikte zwischen Zy- pern und der Türkei. Eine Änderung des Verhandlungsmodus könnte das Entstehen einer Art unvollständiger Mitgliedschaft bewirken, die sich etwa in einer Begrenzung an der Teilnahme des Entscheidungssystems der Union eines neu beigetreten Kan- didaten äußern könnte. Sollte eine solche Situation eintreten, würde die Europäische Union ihre Glaubwürdigkeit verlieren und ihr bisher wirkungsvollstes Instrument der Auslandspolitik, die Erweiterung, würde unbrauchbar. Eine „technische Erwei- terung“ ohne eine neue politische Idee und gemeinsame Werte sowie ungleiche Be- handlung der Kandidaten können einen Verlust des Einflusses der EU in den nach Mitgliedschaft strebenden Regionen mit sich bringen.26

2. Wirtschaftliche Folgen

2.1. Die Kosten der EU-Erweiterung

Bei der Erweiterung der Europäischen Union 1995 um Österreich, Finnland und die Schweiz bestand kein Problem mit der Aufnahme dieser Staaten. Sie waren gern gesehene Nettozahler für den EU-Haushalt – hoch entwickelte Staaten, deren natio- nales Einkommen per capita den Durchschnitt der aus zwölf Staaten bestehenden EU überstieg. Einzig Finnland hatte zum Zeitpunkt seines EU-Beitritts einen niedrigeren nationalen Einkommensstandard als der EU-Durchschnitt, was durch wirtschaftliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Transformationen im Osten bedingt war. Die wirtschaftliche Struktur der Staaten der zweiten Erweiterung stärkte die wirt- schaftliche Kohärenz der Union. Vor allem im Hinblick auf den niedrigen Anteil des Landwirtschaftssektors am Bruttoinlandsprodukt dieser Staaten (im Jahr 1995: Ös- terreich 2,4%, Finnland 4,2%, Schweden 2,3%), der nach dem Beitritt eine fallende Tendenz aufwies (im Jahr 2001: Österreich 2,1%, Finnland 3%, Schweden 1,5% des BIP). Es hielt und hält sich ein verhältnismäßig hoher Anteil der Industrie am BIP dieser Länder – ca. 22–25%, sowie mehr als 60% Anteil des Dienstleistungssektors (in Finnland geringfügig weniger, 1995 waren es 56,5%, im Jahr 2001 – 57,1%). Auch der Umfang des sozialen Netzes übertraf die EU-Standards. Die Nähe der sich transformierenden östlichen Märkte und das Bedürfnis nach Reformen der Sozialleis- tungen beteiligten sich vor allem in Finnland und in Schweden zu Beginn der neunzi- ger Jahre, trugen zu einer hohen Arbeitslosigkeit bei. Die durchgeführten Reformen des Arbeitsmarkts, ohne Senkung der Lebensstandards und der Löhne, bewirkten einen Rückgang der Arbeitslosenzahlenzahlen: in Finnland von 15,8% im Jahr 1995 auf 9,1% im Jahr 2001, in Schweden von 8,8% auf 4,9% im selben Zeitraum. Es lässt

26 Ebd., S. 2-4. Wirtschaftliche Folgen 217 sich durchaus sagen, dass die Europäische Union von der Erweiterung um die bis dahin zur EFTA gehörenden Staaten profitiert hat.27 Eine andere Situation entstand nach der Aufnahme der zehn neuen Mitglieder im Jahr 2004, darunter acht Staaten aus Mitteleuropa. Die Union musste sich neuen Herausforderungen stellen, vor allem finanziellen. Der Beitritt dieser Länder verur- sachte einen Zuwachs der Agrarfläche der EU um 25%, ein Wachstum der Anzahl der Landwirte um mehr als 50% – bei einer deutlich geringeren landwirtschaftlichen Produktivität im Vergleich zu den alten Mitgliedstaaten. Diese Situation belastete deutlich die Gemeinsame Agrarpolitik und verursachte einen Anstieg der Ausgaben der Regionalpolitik der Europäischen Union. Darüber hinaus haben, nach dem Kri- terium des BIP per capita, die Staaten der Osterweiterung den EU-Durchschnitt nicht überschritten, mit Ausnahme von Slowenien, Tschechien und Ungarn. 2003 sagte Ri- chard Woyke voraus, dass die Kosten der Erweiterung in den Jahren 2005-2008 sich auf 22,20 Mrd. EUR aus Strukturfonds und 43 Mrd. EUR aus dem Kohärenzfonds belaufen würden. Nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens sollten die Kosten entsprechend um 7,23 Mrd. EUR und 1,38 Mrd. EUR steigen.28 In dieser Situation waren die hohen Kosten, welche die Nettozahler des EU- Haushalts zu tragen haben, darunter vor allem Deutschland, ein Argument gegen die EU-Erweiterung. In der Praxis stellte sich heraus, dass für einen Bürger der alten Mitgliedstaaten die Kosten der EU-Erweiterung um die Staaten Mitteleuropas, Mal- ta und Zypern – wie es Danuta Hübner beschrieb – monatlich den Gegenwert „ei- ner Tasse Kaffee“ betrugen. In den Jahren 2004-2006 zahlte jeder Bürger der alten Mitgliedstaaten (15) in den EU-Haushalt nur ganze 26 EUR ein. Wobei die Einwoh- ner der neuen 10 Mitgliedstaaten durchschnittlich 58 EUR jährlich einzahlten, also zweimal so viel wie die Einwohner der alten Mitgliedstaaten.29

2.2. Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Außenhandel

Die Aufnahme der EFTA-Staaten in die Europäische Union wurde von der Bundes- republik als Teil des Erweiterungsprozesses gesehen. Sie stellte eine Etappe dar auf dem Weg zur Öffnung der europäischen Integration gegenüber den neuen Demokratien Mitteleuro- pas. Dies sollte die EU stärken und auf die Aufnahme der Nachbarn aus dem Osten vor- bereiten, die sich mit den Problemen der Transformation herumschlugen. Für die schnelle Erweiterung um die Nachbarn aus dem Osten begann sich die BRD erst dann auszuspre-

27 Th. Harth, Erweiterung der Europäischen Union: Eine Erfolgsgeschichte oder Gefahr der Überdehnung der Union?, [in:] Th. Harth, W. Woyke (Hrsg.), Die Europäische Union konkret. Nachgefragt in zwölf Kapiteln, Verlag Barbara Budrich, Opladen 2008, S. 37; S. Płóciennik, Europejska integracja gospodarcza w polityce RFN (1949-2000) /Die europäische Wirtschaftsintegration in der Po­ litik der BRD (1949-2000)/, Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego, Wrocław 2004, S. 291. 28 W. Woyke, Osterweiterung – eine Erweiterung wie jede andere?, [in:] W. Wichard (Hrsg.), Osterweiterung der Europäischen Union, Schwalbach: Wochenschau Verlag, 2003, S. 35. 29 D. Hübner, O. Rehm, Kassandra irrte sich, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 27. April 2006. 218 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland chen, als die Union durch die Erweiterung um die wirtschaftlich stabilen skandinavischen Staaten und Österreich gestärkt wurde. Für Deutschland sollte die Integration der EFTA- Staaten rationale wirtschaftliche Gewinne bringen und zu einem Anstieg der Nachfra- ge nach wichtigen Gütern, vor allem landwirtschaftlichen30, sowie zu einer Erweiterung der Absatzmärkte führen. Nach dem Beitritt dieser Staaten zur EU trat der von Deutsch- land erwartete Anstieg des Warenaustausches ein. In der Tabelle sind die statistischen Daten vom Anfang der neunziger Jahre, also dem Zeitpunkt, als die EFTA-Staaten ihre Anträge auf Beitritt zur EG stellten, aus der Zeit der Beitrittsverhandlungen, sowie Daten vom Ende der neunziger Jahre dargestellt. Sie zeigt, wie sich der Anteil dieser Staaten am einheitli- chen europäischen Markt auf den deutschen Außenhandel ausgewirkt hat. Tabelle. 6. Außenhandel der BRD mit ausgewählten EFTA -Staaten in den neunziger Jahren in Mio. DM 1990 1991 1992 1993 1998 1999 Import Österreich 24 746,5 26 907,9 28 009,1 26 361,7 33 077,6 34 549,9 Finnland 5 887,6 6 580,5 6 550,2 5 642,4 8 488,5 9 067,2 Norwegen 7 888,6 8 374,9 9 107,8 9 204 13 182, 4 13 507,6 Schweden 13 446,5 14 507,4 14 094,4 12 538 16 331 15 613,1 Export Österreich 37 207,7 39 555 39 922 37 265 51 760,1 52 695,2 Finnland 7 279,2 5 837,2 5 658,8 4 639,6 9 579,5 11 337,5 Norwegen 5 694,2 5 369,5 5 659,3 5 114,5 8 523,1 7 637,7 Schweden 17 077,3 14 982,8 14 630,5 12 678,3 21 874,3 22 301,1 Quelle: ,,Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschlands“ 1994, 2000, entspre- chend S. 317 und S. 284. Sowohl der Handelsverkehr Deutschlands mit den der Union beigetrete- nen EFTA-Staaten und mit Norwegen, das nur dem EWR beigetreten ist, zeigten in den neunziger Jahren eine stetig wachsende Tendenz. Beeindruckend sind insbe- sondere die Daten bezüglich des deutschen Exports in diejenigen Länder, in die er sich im Laufe von ein paar Jahren auf das Doppelte vergrößert hat (Finnland, Schweden). Bei der Analyse des Saldos aus dem Jahr 1999 bemerken wir eine deutlich positive Tendenz; Finnland 2269,8 Mio. DM, Schweden 6688,9 Mio. DM, Österreich 18142,3 Mio.a DM. Insgesamt betrug das Saldo des Handelsverkehrs mit den Staaten der zwei- ten Norderweiterung gegen Ende der neunziger Jahre 27100,1 Mio. DM. Beim gesam- ten Handel der BRD mit den EU-Staaten waren es 94280, 5 Mio. DM.31 30 Vgl. eingehender: P. Wehrheim, Ökonomische Effekte der EG-Integration der EFTA-Mit­ gliedstaaten Schweden, Finnland, Norwegen, Osterreich und Schweiz im Agrarsektor – eine quanti­ tative Analyse, LIT Verlag, Münster/Hamburg 1994. 31 ,,Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschlands“ 2000, S. 275. Wirtschaftliche Folgen 219 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt Österreich mit 4% des gesamten deut- schen Exports auf Platz sechs der Exportsaaten der Bundesrepublik (vgl. Abb. 3). Allein im Jahr 2006 betrug der Export in dieses Land 48,9 Mrd. EUR.32 In der ersten Hälfte der neunziger Jahre entfielen etwa 70% des deutschen Exports auf die Staa- ten der Europäischen Gemeinschaft und der EFTA. Jede dritte Deutsche Mark wurde im Export erwirtschaftet und auch jeder dritte Arbeitsplatz war vom Export abhängig. Sebastian Płóciennik zitiert als Bestätigung der These, dass die wirtschaftlichen Motive eine bedeutende Rolle in der europäischen Politik der BRD gespielt haben, die Worte von Minister Klaus Kinkel aus dem Jahr 1994, dass „es kein zweites so großes In- dustrieland auf der Welt gibt, welches in so großem Ausmaß wirtschaftlich von ei- ner Region, d.h. Europa, abhängt. Zwei von drei deutschen Arbeitsplätzen im Export hängen vom Handel mit diesem Gebiet ab.“33 Darum entschied sich die Bundesrepu- blik für eine Erweiterung der Union um die reichen EFTA-Staaten. Die Aufnahme der skandinavischen Länder und Österreichs stärkte die Union wirtschaftlich. Es sollte – gemäß dem deutschen Konzept für Europapolitik – nicht nur weiteres Wirtschafts- wachstum ermöglichen, sondern auch eine Vergrößerung der Hilfe und des Engage- ments für die Stärkung der Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa.34 Die Europäische Kommission unterstrich in ihrem Bericht 2006, dass das wirt- schaftliche Wachstum der 10 neuen Mitgliedstaaten doppelt so schnell verlief wie in den alten Mitgliedstaaten, was neue Möglichkeiten, vor allem für die Unterneh- mer der EU-15, eröffnete und neue Arbeitsplätze in der ganzen Union sicherte.35 Deutschen Unternehmern zufolge sind die wichtigsten Vorteile, die mit dem Erwei- terungsprozess der Europäischen Union zusammenhängen, vor allem: Abschaffung der Zollgebühren, Senkung der Transaktionskosten (z.B. als Folge der verkürz- ten Zeit der Grenzüberschreitung) und Harmonisierung der rechtlichen Normen. Die am häufigsten erwähnte (aber nicht dämonisierte) Bedrohung ist die Konkur- renzfähigkeit der Firmen aus den neuen Mitgliedstaaten.36 Laut einer Umfrage, die Anfang 2005 von der Deutschen Industrie- und Handelskammertag durchgeführt wurde, an der 2047 deutsche Unternehmer teilnahmen, befand ein Drittel der Be- fragten die Folgen der Osterweiterung entschieden als positiv, mehr als die Hälfte 32 „Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschlands“ 2006, S. 471. 33 Zit. nach: S. Płóciennik, Europejska integracja gospodarcza… /Die europäische Wirtscha­ ftsintegration/, op. cit., S. 309. 34 Th. Waigel, Deutschland im künftigen Europa. Rolle-Standort-Selbstverstandanis, „Politi- sche Studien“, Jg. 44, Heft 331, September/Oktober 1993, S. 65. 35 Europäische Kommisssion, Rozszerzenie po dwóch latach – sukces gospodarczy, Komuni­ kat Komisji do Rady i Parlamentu Europejskiego /Die Erweiterung nach zwei Jahren – ein wirtschaft­ licher Erfolg/, Brüssel, 3. Mai 2006, COM (2006) 200 endgültige Fassung, Quelle: http://www.ukie. gov.pl/HLP/moint.nsf/0/ 4FC7A66308F5C6DBC12572E9004F1557/$file/ME_28(101)03.pdf?Open, (September 2008) 36 Ein Jahr der EU-Erweiterung. Bilanz deutscher Unternehmen. Ergebnisse einer DIHK- Umfrage. Frühjahr 2005, Deutscher Industrie- und Handelskammertag, Berlin, April 2005, S. 5; Ł. Antas, op. cit., S. 2-3. 220 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland hingegen als neutral und nur 13% erklärten, dass die Folgen der Erweiterung negativ seien.37 Es genügt, die statistischen Daten aus dem Jahr 2007 zu betrachten, wo sich z.B. Polen als Zielland für den deutschen Export auf Platz 10 etabliert hat, nahezu gleichauf mit der Schweiz (vgl. Abb. 3).

Abbildung 3. Die wichtigsten Handelspartner der BRD im Hinblick auf Export, 2007 in Mrd. EUR Frankreich USA Großbritannien Italien Holland Österreich Belgien Spanien Schweiz Polen

Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, http://www.destatias.de.

Die deutsche Wirtschaft, als deren Motor der Export gilt, hat von der Erwei- terung der Europäischen Union um neue Mitglieder profitiert. Die wichtigsten Ex- portgüter Deutschlands sind seit 1993 ununterbrochen Autos, Kfz-Teile (19% des ge- samten Exports) sowie chemische Erzeugnisse (12%). Handelspartner der BRD sind vor allem europäische Staaten. Etwa 70% des gesamten deutschen Handels (Export und Import) entfällt auf Europa. Frankreich ist seit Jahren der wichtigste Handels- partner Deutschlands (ca. 10% des Exports und Imports) vor den Vereinigten Staaten (ca. 9% des Exports und 7% des Imports). In den Jahren 1993-2003 verringerte sich der Export in die Staaten der EU-15 geringfügig von 59% auf 56%, der Import hin- gegen von 56% auf 50%.38 Der Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens hatte keinen bedeutenden Einfluss auf Größe und Struktur des deutschen Außenhandels. Dies beruhte vor allem auf der Liberalisierung des Handels mit den skandinavischen Staaten, Österreich und der Schweiz, die bereits in den siebziger Jahren eingeführt wurde.39 Seit dieser Zeit ist der bedeutender Anteil dieser Staaten am allgemeinen Import Deutschlands sowie die starke Position Österreichs als wichtiger Handels- partner bemerkbar (Tab. 5 und Abb. 3).

37 Ein Jahr der EU-Erweiterung…, op. cit., S. 3. 38 Pressekonferenz Vizepräsident Walter Radermacher, Deutscher Außenhandel vor der EU- Erweiterung, Frankfurt am Main, 22.04.2004, Quelle: Statistisches Bundesamt Deustchland, http:// www.destatiS.de. 39 Vgl. Kap. 3. Wirtschaftliche Folgen 221 In Deutschland wurde nach dem Beitritt der Staaten Mitteleuropas ein An- stieg des Handelsaustausches um etwa 60% erwartet. Prognostiziert wurde ein wei- terer Anstieg um 2% zusammen mit der EU-Erweiterung um Bulgarien, Rumänien und die Türkei.40 Ein deutlicher Sprung des Import- und Exportumfangs fand nach dem 1. Mai 2004 allerdings nicht statt. Ein Anstieg der Bedeutung der Staaten der Vi- segrád-Gruppe (Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn) für den deut- schen Handel war bereits Anfang der neunziger Jahre zu verzeichnen, was vor allem mit dem Abschluss der Assoziierungsabkommen zusammenhing. Der erwartete Ef- fekt der Erweiterung für die deutsche Wirtschaft trat schon vor dem Beitritt dieser Staaten ein.41 Nach dem formellen Beitritt dieser Länder zur Union war sogar ein ge- ringfügiger Rückgang seines Anteils am deutschen Außenhandel zu verzeichnen. Im Interesse Deutschlands liegt die Verringerung der wirtschaftlichen und so- zialen Kluft zwischen der Europäischen Union und den Staaten Osteuropas. Die Bun- desrepublik ist der wichtigste Investor in der Region und steht diesbezüglich an erster Stelle in der Tschechischen Republik, an zweiter Stelle in Ungarn und an dritter Stelle in Polen. Der Außenhandel der Bundesrepublik mit den Staaten Mittel- und Osteuropas zeichnet sich durch eine stetige Wachstumstendenz aus, trotz der schwächeren Konjunk- tur der deutschen Wirtschaft. Die Grundlage für das Wachstum des Handelsverkehrs und der Investitionen ist vor allem die Nachfrage in den mitteleuropäischen Staaten42. Aus Abb.4 geht ein deutlicher Anstieg des deutschen Handelsverkehrs ab Mit- te der neunziger Jahre hervor. Mit Sicherheit spielte hier die Aufnahme der EFTA- Staaten in die Europäische Union sowie die schrittweise Liberalisierung des Han- dels mit den Staaten Mitteleuropas eine große Rolle. Der Außenhandel Deutschlands im Rahmen der Europäischen Union (darunter mit den neuen Mitgliedern) konzentriert sich auf Industriegüter. Daher hat dies nur einen geringfügigen Einfluss auf seine Struk- tur, das Lohnniveau oder die Beschäftigungschancen der einzelnen Berufsgruppen.43

40 Pressekonferenz Vizepräsident Walter Radermacher…., op. cit. 41 H. Klodt, Skutki rozszerzenia Unii Europejskiej dla niemieckiego handlu zagranicznego / Die Folgen der EU-Erweiterung für den deutschen Außenhandel/, „Przegląd Zachodni“ 2008, Nr. 1, S. 154-155, 160. 42 Vgl. I. Bil, Handel zagraniczny Niemiec wobec rozszerzenia Unii Europejskiej na Wschód /Der deutsche Außenhandel gegenüber der Osterweiterung der EU/, [in:] I. Bil (et al.), Gospodarka Niemiec a kraje Europy Środkowej i Wschodniej /Die Wirtschaft Deutschlands und der Länder Mit­ tel- und Osteuropas/, Szkoła Główna Handlowa – Oficyna Wydawnicza, Warszawa 2006, S. 145-176. Vgl.: W. Wessels, U. Diedrichs (Hrsg.), Die neue Europäische Union. Im vitalen Interesse Deutsch­ lands? Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union für die Bundesrepublik Deutschland, Netzwerk Europäische Bewegung und Europa Union Deutschland, Berlin Januar 2006, S. 32, Quel- le: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/5th_enlargement/facts_figures/ebd_eud_studie_vital_endg_ de.pdf, (November 2007). 43 Vgl. R. Sternberg, Wirtschaftsstandort Deutschlands: Auswirkungen des EU-Binnenmark­ tes auf die deutsche Wirtschaft, [in:] W. Wessels, U. Dietrich (Hrsg.), Die neue Europäischen Uni­ on: im vitalen Interesse Deutschlands? Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union für die Bundesrepublik Deutschlands, Netzwerk Europäische Bewegung Deutschlands, Europa-Union 222 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland Abbildung 4. Entwicklung des deutschen Außenhandels in den Jahren 1990-2007 in Mrd. EUR

▬ Export, ▬ Import, ▬ Handelsbilanz Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, http://www.destatis.de.

Natürlich beziehen sich die in Abb. 4 dargestellten Tendenzen auch auf den Handelsverkehr zwischen Deutschland und den übrigen Regionen der Welt. Hier sind die Rolle solcher Handelspartner wie den USA und der stetig wachsen- de Anteil Chinas am Import der Bundesrepublik Deutschland zu unterstreichen. Der Exportweltmeister Deutschland muss allmählich diese globale Führungspositi- on an Volksrepublik China abgeben. Trotz der Prognosen von Experten44 hat China Deutschland jedoch noch nicht im Exportumsatz überholt.

2.3. Der Zustrom von Zuwanderern und seine Folgen für den Arbeitsmarkt

Einer der am häufigsten geäußerten Vorbehalte der Länder der Europäischen Union vor der Erweiterung um die Staaten Mitteleuropas war die Sorge, ob es nicht zu einer Überflutung der westeuropäischen Arbeitsmärkte durch billige Arbeitskräf- te aus dem Osten kommen würde. Auch in Deutschland gab es düstere Szenarien bezüglich der Folgen der übermäßigen Ausnutzung des „freien Personenverkehrs“ durch die Bürger der neuen Mitgliedstaaten und seines Einflusses auf Lohnniveau und Lohnstruktur. Aus diesem Grund erklärter sich Deutschland bei der Unterzeich- nung des Vertrags über die Erweiterung der Union in Athen (16. April 2003) nicht Deutschland, Berlin Januar 2006, S. 31-39. 44 S. Gehle, Außenhandel mit der Volksrepublik China: Technisch hochwertige Waren ge­ fragt, „STATmagazin“ (online) vom 14. Juli 2008, Statistisches Bundesamt Deutschland, Quelle: http://www.destatiS.de; Deutschland zahlt 54 Milliarden Euro für China-Importe, „Spiegel“ (online) vom 14. Mai 2008. Wirtschaftliche Folgen 223 mit der Öffnung des Arbeitsmarkts einverstanden. Aufgrund ähnlicher Besorgnisse vieler anderer Staaten der „alten“ Union wurden in Athen siebenjährige Übergangs- fristen eingeführt, die sich aus drei Etappen (nach dem 2+3+2 Prinzip) zusammen- setzen, die bis zum 30. April 2011 dauern können.45 2006, also zwei Jahre nach der Erweiterung der EU um zehn Staaten, dar- unter acht aus Mitteleuropa, bestätigte die Europäische Kommission in ihrem Be- richt Zwei Jahre nach der Erweiterung – ein wirtschaftlicher Erfolg, dass es zu kei- ner Überflutung der westeuropäischen Arbeitsmärkte durch billige Arbeitskräfte aus dem Osten gekommen sei.46 Im Gegenteil, der Beitritt der Neumitglieder führ- te zwar in manchen alten Mitgliedstaaten zu einem Zustrom von Arbeitskräften, was jedoch für diese Länder, vor allem für Irland, Großbritannien und Schweden (wo keine Übergangsfristen galten), auch wirtschaftliche Vorteile brachte. Im Hin- blick auf die positive Erfahrung dieser Staaten haben sich (in der zweiten Etap- pe der Übergangsperiode) Finnland, Spanien, Griechenland und Portugal, Italien, Holland, Luxemburg und Frankreich entschieden, ebenfalls teilweise seine Arbeits- märkte für die neuen Mitglieder zu öffnen. Die Gesamtbeschäftigung in der EU ist im Jahr 2006 durchschnittlich um 1% gestiegen. Darüber hinaus lässt sich die legale Arbeitsmigration leichter kontrollieren und bringt dem Staat, in dem der Arbeitneh- mer Arbeit gefunden hat, Vorteile – aufgrund des Wachstums der gezahlten Steuern. Die negativen Szenarien der Überflutung mit billigen Arbeitskräften aus dem Osten haben sich nicht bestätigt, die Migration aus Drittländern ist viel größer als die inner- halb der Mitgliedsstaaten. In Deutschland und in Österreich, wo der Anteil der Aus- länder im arbeitsfähigen Alter am größten ist (2005 etwa 10%), stellten Staatsbürger aus den neuen Mitgliedstaaten lediglich einen Anteil von 1,6% und 0,6% dar.47 Laut einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich die EU-Osterweiterung nicht auf die Zahl der Arbeitslosen in den an die neuen mitteleuropäischen Mitgliedstaaten grenzenden Bundesländern ausgewirkt. Die Migration von Ausländern in die Län- der Brandenburg, Bayern, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern hatte im Zeitraum von April bis Dezember 2004 keinen Einfluss auf den Arbeitsmarkt.48 2007 gab es in Deutschland 329.000 Saisonarbeiter, davon 320.000 aus Euro- pa, wovon 319.000 aus Mittel- und Osteuropa kamen (u.a. 230.000 aus Polen, 58.000 aus Rumänien). Diese finden hauptsächlich in der Sommersaison im Landwirtschafts- sektor Beschäftigung. Eine weitere Spezialisierung der Arbeiter aus den neuen Mit-

45 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Für Bulgarien und Rumänien, die der EU im Jahr 2007 beigetreten sind, wurden ebenfalls drei- stufige Übergangsperioden eingeführt (2+3+2), die längstens bis 31. Dezember 2013 dauern können. 46 Europäische Kommisssion, Rozszerzenie po dwóch latach… /Die Erweiterung nach zwei Jahren…/, op.cit. 47 Ebd. Vgl.: Polen und Deutschland im europäischen Binnenmarkt. Perspektiven der pol­ nisch-deutschen Arbeitsmigration im Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer, Friedrich- Ebert-Stiftung Vertretung in Polen, Warschau 14. Juni 2006. 48 H.S. Buscher, H. Stüber, Ein Jahr nach der EU-Osterweiterung: Erste Erfahrungen, Pro­ bleme, Aussichten, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin, Mai 2005, S. 25-27, 56-60. 224 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland gliedstaaten sind Fliesenlegerei und Reinigungsdienste (ca. 20.000 polnische Firmen, die in Deutschland tätig sind). Trotz des erheblichen Bedarfs insbesondere an Indus- trie- und Bauarbeitern und der positiven Einstellung der Arbeitgeber ist in der deut- schen Gesellschaft die Angst vor einer Öffnung des Arbeitsmarkts stark verwurzelt.49 Die Regierungskoalition CDU/CSU–SPD beabsichtigt das System der Übergangs- perioden 2+3+2 „bis zum Ende“ auszunutzen. Dies hat auch Ausdruck im Koaliti- onsvertrag gefunden, in dem ausdrücklich bemerkt ist: „Die Übergangsfristen haben den deutschen Arbeitsmarkt vor einer verstärkten Migration geschützt.“50 Interessant sind im Zusammenhang mit den deutschen Befürchtungen Unter- suchungen der OECD, laut denen Deutschland nicht das Haupteinwanderungsland sei. Das bei Immigranten „populärste“ EU-Mitglied (unter der Berücksichtigung aller Regionen der Welt) ist Österreich, gefolgt von Großbritannien, der Schweiz, Holland, Belgien, Dänemark, Italien, Frankreich, Finnland und erst danach Deutsch- land.51 Allerdings wandten sich tatsächlich seit 1989 immerhin 60% der Emigranten aus den mitteleuropäischen Staaten nach Deutschland.52 Es wird geschätzt, dass die schrittweise Liberalisierung des Zugangs zum Ar- beitsmarkt der Bundesrepublik für die neuen EU-Mitglieder seit 2009 und die voll- ständige Liberalisierung 2011 mittelfristig einen jährlichen Zustrom von 200.000 bis 350.000 Arbeitnehmern aus Polen bewirken wird. Da dies aber jährlich nur etwa 0,15% bis 0,20% der Beschäftigten in ganz Deutschland entspricht, wird der große deutsche Markt dies jedoch kaum verspüren.53 Nach einer von Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführten Analyse wird sich das Migrationspotenzial der mitteleuropä- ischen Staaten (Bulgarien, Estland, Litauen, Lettland, Tschechische Republik, Ru- mänien, Polen, Slowakei, Slowenien, Ungarn) in Richtung der EU-15 vom Moment der kompletten Abschaffung der Übergangsperioden über einen Zeitraum von 20 Jah- ren gesehen auf etwa 2-4% belaufen. Es wird prognostiziert, dass die Anzahl der Zu- wanderer aus diesen Staaten von 600.000 (2004) auf 2 Mio. bis 2,8 Mio. (von denen etwa die Hälfte im arbeitsfähigen Alter sein werden) steigen wird. Es wird geschätzt, dass sich in den ersten zwei Jahren nach der Einführung des freien Personenverkehrs

49 Skepsis gegenüber der EU überwiegt, „Die Welt“ vom 2. Mai 2005 50 Gemeinsam für Deutschland…, S. 27, 40, 151. 51 OECD, „International Migration Outlook“ 2008. 52 H. Brücker, EU-Osterweiterung: Effekte der Migration. „Wochenbericht des DIW Berlin“ 2004, Nr. 17., dostępne na stronach Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, http://www.diw.de; Ł. Antas, Pozytwyne skutki rozszerzenia Unii Europejskiej dla niemieckiej gospodarki /Die positi­ ven Folgen der Erweiterung der Europäischen Union für die deutsche Wirtschaft/, Ośrodek Studiów Wschodnich, Warszawa 2005, S. 6-7. 53 Vortrag von T. Kalinowski, Polnische und Deutsche Arbeitsmärkte – Szenario möglicher Interaktionen auf der Konferenz „Polnisch-Deutsche wirtschaftliche Zusammenarbeit im Jahr 2020 – eine neue Form der Komplementarität“, organisiert vom Institut für Marktwirtschaftsforschung und der Konrad-Adenauer-Stiftung am 19. November 2008 in Warschau. Wirtschaftliche Folgen 225 die Anzahl der Immigranten aus den mitteleuropäischen Beitrittsstaaten von 2004 in der Bundesrepublik zwischen 116.000 und 160.000 belaufen wird. Danach wird sie zurückgehen und über einen Zeitraum von 10 Jahren 30% seines Ausgangswerts errei- chen. Der Zustrom dieser Menschen wird sich nicht negativ auf das Lohn- und Beschäf- tigungsniveau in Deutschland auswirken, seine positiven Auswirkungen hingegen wird das deutsche Sozialsystem durch zusätzliche finanzielle Einzahlungen bemerken.54 Im Regierungsbericht zur Migration, der dem Bundestag am 8. Mai 2008 vorgestellt wurde, ist deutlich hervorgehoben, dass die Anzahl der Zuwanderer rück- läufig ist. Im Jahr 2006 kamen insgesamt 661.855 Personen in die Bundesrepublik. Das ist der niedrigste Wert im ganzen Zeitraum 1991-2006. Davon kamen 72,5% aus anderen Teilen Europas, 19% aus den Staaten der EU-15 und 32% aus den neu- en Mitgliedstaaten, darunter die meisten, nämlich 163.643 aus Polen. Zu bemer- ken ist dabei, dass die größte Zuwanderungswelle mit knapp 1,5 Mio. Menschen im Jahr 1992 stattfand. Auch die Anzahl der Asylwerber ist auf 21.029 im Jahr 2006 gesunken. Den Asylantenstatus beantragen hauptsächlich Bürger aus Serbi- en und Montenegro (15,4% der Ansuchenden) sowie dem Irak (10,1%).55 Diese Si- tuation unterliegt nur geringfügigen Veränderungen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte am 21. Januar 2010 mit, dass im Jahr 2009 insgesamt 27.649 Asylanträge gestellt wurden, also 25% mehr als im Vorjahr. Die größte Anzahl an Flüchtlingen kommt aus dem Irak (2009 waren es 6.538 Personen), aus Afgha- nistan (3.375 Personen, ein Anstieg von fast 400% im Vergleich zu 2008) sowie der Türkei (1.429, ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr von 1,5%).56 Bei der Ana- lyse der Struktur der Nationalitäten im heutigen Deutschland gab das Bundesamt für Statistik in Wiesbaden an, dass die Anzahl der Personen mit fremden Wurzeln wächst und sich gegenwärtig auf 15 Mio. beläuft. 2008 war fast jeder fünfte Ein- wohner Deutschlands (19%) ein Einwanderer oder Nachkomme eines Einwanderers (2007 – 18,7%). In der Statistik wurden diejenigen Personen berücksichtigt, die nach 1950 in die Bundesrepublik eingewandert sind. Etwa 78% der Immigranten stam- men aus Europa, gefolgt von Asien und Ozeanien. Die meisten Immigranten – 2,9

54 ��������������������������������������������������������������������������������������������� H. Brücker, op. cit. Vgl. mit früheren Studien über die potenzielle Migration aus den Staat- en Mitteleuropas: J. Herzog, Das Migrationpotenzial der EU-Osterweiterung und dessen Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt, „WIP Occasional Papers“ 2003, Nr. 21; B. Dietz, Ost-West-Migration nach Deutschland im Kontext der EU-Erweiterung, „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 2004, Bd. 5-6, S. 46-47; Tito Boeri, Herbert Brücker, Impact of Eastern Enlargement on Employment and Labour Markets: Challenges and Opportunities, „World Economics“ 2001, Vol. 2, No. 1, S. 49-67. Vgl. auch: S. Bartz, Arbeitnehmerfreizügigkeit erst nach einer Übergangsfrist: Lehren aus den Süderweiterun­ gen der EG für die Osterweiterung der EU, [in:] R. Sturm, H. Pehle (Hrsg.), Die neue Europäische Union. Die Osterweiterung und ihre Folgen, Verlag Barbara Budrich, Opladen 2006, S. 127-144. 55 Vgl. Weniger Zuwanderer nach Deutschland. Bundestag debattierte über Migrationsbericht, Quelle: www.budnestag,de/aktuell/archiv/2008/20391958_kw19_migration/ index.html, (Juni 2008). 56 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Rund 27.700 Asylanträge im Jahr 2009, 0002/2010, Quelle: http://www.bamf.de/cln_092/nn_442622/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/ DasBAMF/2010/100121-0002-pressemitteilung-bmi.html, (März 2010) 226 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland Mio. – kommen aus der Türkei und genau so viele aus der ehemaligen Sowjetunion. Laut Angaben des Amts stammen 1,4 Mio. Einwanderer aus Polen.57

2.4. Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft

Am ersten Jahrestag der EU-Erweiterung um die Tschechische Republik, Polen, die Slowakei, Slowenien, die baltischen Staaten, Ungarn, Malta und Zypern zog Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Bilanz der EU-Erweiterung. Er stellte fest, dass die Union vom Beitritt der neuen demokratischen und sich wirtschaftlich dynamisch entwickelnden Staaten profitiert hat. Der Kanzler unterstrich, dass nach einem Jahr nicht die Lösung aller Probleme zu erwarten sein könne. Dabei wies er unter anderem auch auf deutsche Diskussionen über Lohndumping und Konkurrenz durch die billigeren Firmen aus den neuen Mitgliedstaaten hin.58 Die wirtschaftliche Gegenwart der Neumitglieder der EU in Deutschland wächst stetig. Dies betrifft u.a. Polen. Der Gesamtwert der polnischen Investitionen von Mai 2004 bis Herbst 2008 betrug etwa 400 Mio. EUR. Die größten Beträge inves- tierten die Gesellschaften ORLEN (150 Mio. EUR), CIECH (75 Mio. EUR) und KO- PEX (27 Mio. EUR). Die Zahl der polnischen Firmen in Deutschland wurde 2008 auf 44.000 geschätzt, eine selbständige Gewerbetätigkeit (Selbstanstellung) führten etwa 100.000 Personen. Die hauptsächlichen Motivationsgründe für die Staaten Mitteleuropas, darunter Polen, zur Investition in Deutschland sind die geografische Nähe, die gut funktionierende freie Marktwirtschaft, die hohe Position Deutschlands auf dem Weltmarkt (global player), das große Innovationspotenzial, Investitions- sicherheit, qualifiziertes Personal, die ausgezeichnete Infrastruktur, ein attraktives Steuersystem, hohe Lebensqualität sowie die große Produktivität der Ressourcen.59 Dennoch stoßen Investoren aus den mitteleuropäischen Staaten in Deutschland auf zahlreiche Hindernisse bürokratischer Natur; sie werden von den hohen Lohnne- benkosten, der Steifheit des Arbeitsmarktes, Kapitalbarrieren, Widerwillen gegenüber Fremden (insbesondere das spezifische Verhältnis zu polnischen Firmen und Polen) und der mangelnden Selbstsicherheit der Unternehmer aus dem Osten auf dem deut- schen Markt entmutigt. Eine große Rolle in den bilateralen Beziehungen mit Deutsch- land spielen oft politische Überempfindlichkeit (allgemeine Stimmung)60, institutionel-

57 Statistisches Bundesamt Deustchalnd, Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund leicht gestiegen, „Pressemitteilung“, Nr. 033 vom 26.01.2010, Quelle: www.destatiS.de . 58 Kanclerz Gerard Schröder dokonał pozytywnego bilansu rozszerzenia Unii /Kanzler Ger­ hard Schröder zog eine positive Bilanz der Erweiterung, „DW-WORLD.DE Deutsche Welle“ vom 1. Mai 2008. 59 Quelle: http://www.invest-in-germany.com/homepage/germany-at-a-glance/10-reasons- to-choose-germany/, (September 2008). 60 Über die allgemeine Atmosphäre in den ersten Jahren nach dem polnischen EU-Beitritt vgl.: B. Koszel, Polska i Niemcy w Unii Europejskiej. Pola konfliktów i płaszczyzny współpracy / Polen Und Deutschland in der Europäischen Union/, Instytut Zachodni, Poznań 2008, S. 43-83 Wirtschaftliche Folgen 227 le Mängel (unvollständiges System der Vermarktung der mitteleuropäischen Staaten in Deutschland), Mangel an Selbstverwaltung der Unternehmer aus dem Osten, ein rela- tiv langsames Wachstumstempo des BIP in Deutschland (ca. 2%, bei etwa 6,1% in Polen im Jahr 2007); im sozial-psychologischen Bereich kommen noch die Asymmetrie bei den Sprachkenntnissen sowie Vorurteile (Ersetzung von Wissen durch Klischees) hinzu. Deutsche Unternehmer sehen in den Beziehungen zu dieser Region Sprach- barrieren, kulturelle Unterschiede, die schwach entwickelte Infrastruktur in den mit- teleuropäischen Staaten, bürokratische Hindernisse, Korruption sowie den Mangel an einem funktionierenden Informationsnetz zum Thema interner Märkte in den ein- zelnen Staaten als Begrenzungen und Hindernisse. Ein hauptsächliches Hindernis für die Aufnahme von Geschäftskontakten ist neben sprachlichen Verständigungs- problemen vor allem die Schwierigkeit, verlässliche und solide Partner zu finden.61. Die Entwicklungschancen für die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen sind in der raschen Entwicklung der mitteleuropäischen Staaten sowie im stei- genden gegenseitigen Vertrauen zu sehen. Józef Olszyński vertritt die Auffassung, dass die deutschen Vorstellungen über den Platz Polens und seiner Einwohner in Eu- ropa den Schlüssel zu einer effektiven Realisierung der deutsch-polnischen Wirt- schaftspartnerschaft darstellt.62 Gegenwärtig stellen folgende Faktoren eine Herausforderungen für die deut- sche Wirtschaft dar: die Alterung der Gesellschaft, Globalisierung, die Stärkung der Positionen Chinas und Indiens auf dem Weltmarkt, der globale Klimawandel, der die Suche nach neuen Energiequellen impliziert, sowie die Modernisierung in Rich- tung Informationsgesellschaft. Die Hauptpriorität wird die Unterstützung des freien Handels sein; das Ziel ist die Mehrung des Wohlstands der deutschen Staatsbürger und die Überwindung der Kluft zwischen reichen und armen Regionen.63 Deutschland ist als Wirtschaftsmacht abhängig von den internationalen Märkten. Besonders wichtig sind für die Bundesrepublik der Import von Rohstof- fen, vor allem Energieträgern, sowie der Export von Fertigprodukten. Im Interes- se Deutschlands liegt somit die Unterstützung der Prinzipien des freien Markts, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Weltwirtschaft. Dies äußert sich vor allem beim Engagement für Modernisierungsprozesse, politische Stabilisierung und tech- nischen Fortschritt, vor allem in der Gruppe der OECD-Staaten.64

61 Ein Jahr der EU-Erweiterung…, op. cit., S. 6-7. 62 J. Olszyński hielt einen Vortrag zum Thema Neue Wirtschaftspartnerschaften – übernehmen polnische Firmen den deutschen Mittelstand? auf der Konferenz „Polnisch-deutsche wirtschaftliche Zu- sammenarbeit im Jahr 2020 – eine neue Form der Komplementarität“, organisiert vom Institut für die Un- tersuchung der Marktwirtschaft und der Konrad-Adenauer-Stiftung am 19. November 2008 in Warschau. 63 Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch zur Sicherheit Deutschlands und zur Zu­ kunft der Bundeswehr 2006 , Quelle: http://www.weissbuch.de, (November 2007), S. 3 und 18-19. Vgl. Die Wirtschaft Deutschlands 2020. Neue Herausforderungen für ein Land auf Expedition, Quel- le: http://www. expeditiondeutschland.de, (November 2008). 64 Vgl.: W. von Bredow, Th. Jäger, Neue deutsche Außenpolitik. Nationale Interessen in in­ 228 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland Ernste, neue Herausforderungen stellten sich der deutschen und der internati- onalen Wirtschaft infolge der 2008 ausgebrochenen globalen Finanzkrise, deren Kon- sequenz eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung ist, die sich vor allem in den USA und den „alten“ Mitgliedsstaaten der Union gezeigt hat. Nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern wird dies auch die neuen Mitglieder der EU treffen. Beispielsweise nahm die polnische Regierung (Anfang Dezember 2008) eine Haus- haltskorrektur für 2009 vor, bei der das geschätzte Wirtschaftswachstum von 4,8% auf 3,7% gesenkt wurde. Die herannahende Verlangsamung des Wachstums, viel- leicht sogar eine mögliche Rezession, wird sich negativ auf die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den neuen EU-Mitgliedern auswirken. Im Herbst 2009 veröffentlichte die Deka Bank eine Liste mit einem Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung der 31 wirtschaftlich wichtigsten Länder der Welt, derzufolge die Bundesrepublik an achter Stelle hinsichtlich des Rückgangs des BIP steht, gemessen vom „besten“ Quartal vor der Krise 2008 bis zum „schlechtesten“ Quartal während der Krise (bis zur Jahreshälfte 2009).65 Am stärksten war der Finanz- sektor betroffen, Beispiele dafür sind der Bankrott der IKB Deutsche Industriebank, danach der Hypo Real Estate sowie die gewaltigen Probleme der Landesbanken oder des größten Finanzinstituts Deutschlands, der Deutschen Bank, oder der Commerz- bank. Es wurde begonnen, Hilfslösungen für diese Institutionen zu suchen, und sei es durch ihre teilweise Verstaatlichung.66 Teillösungen (wie etwa beim Versuch der Ret- tung der Hypo Real Estate) haben sich nicht bewährt. Es wurden zwar Versuche un- ternommen, die harten Konsequenzen der Krise aufzufangen, etwa durch die Annah- me eines „Rettungsplans“ für den deutschen Finanzsektor am 17. Oktober in einer Sondersitzung des Bundestags. Die Sicherheit der Bankguthaben von natürlichen Personen wurde garantiert und ein staatlicher Stabilitätsfonds für den Finanzmarkt geschaffen, der über eine Summe von etwa 500 Mrd. EUR verfügt.67 Nichtsdestotrotz mobilisierte die sich verschlechternde finanzielle Situation den Finanzsektor zu ei- ternationalen Beziehungen, Leske+Budrich, Opladen 1993, S. 219-223. 65 Deutschland gehört zu den gröβten Verlierer der Krise, „Die Welt“ vom 6. September 2009. Vgl. S. Płóciennik, Prymus w lidze średniaków? Konsekwencje kryzysu finansowego i gospo­ darczego dla Niemiec /Primas in der Mittelliga? Die Konsequenzen der Finanz- Und Wirtschaftskrise für Deutschland/, „Biuletyn Niemiecki“ 10.02.2010, Nr. 3, S. 4. 66 Im ersten Quartal 2009 wurden die Verluste der einzelnen deutschen Finanzinstitute im Jahr 2008 auf einen Gesamtbetrag von 43 Mrd. EUR geschätzt. Beispielsweise betrugen die Ver- luste der einzelnen Finanz-, Versicherungs- und Industriegesellschaften: Dresdner Bank – 6,3 Mrd. EUR, Hypo Real Estate – 5,4 Mrd. EUR, BayernLB – 5,1 Mrd. EUR, Deutsche Bank – 5,9 Mrd. EUR, Infineon – 3,7 Mrd. EUR, HSH Nordbank – 2,8 Mrd. EUR, KfW Bank – 2,7 Mrd. EUR, Allianz – 2,4 Mrd. EUR, Landesbank BW – 2,1 Mrd. EUR, Deutsche Post – 2,0 Mrd. EUR. Die Daten stammen vom 2. April 2009 von der Abteilung für Handel und Investition des Generalkonsulats der Republik Polen in Köln www.kolonia.trade.gov.pl 67 Bundestag billigt Banken-Rettungspaket, „Die Welt“ (online) vom 17. Oktober 2008; N. Kohtamäki, Niemcy wobec kryzysu na światowych rynkach finansowych /Deutschland angesichts der Krise auf den globalen Finanzmärkten/, „Biuletyn“ Nr. 54 (522), 20. Oktober 2008, PISM. Wirtschaftliche Folgen 229 ner drastischen Begrenzung der Kreditierung von Unternehmen und Verbrauchern. In dieser Situation brach die Nachfrage zusammen und damit das Wachstum des BIP. Die Regierung bereitete ein zweites Rettungspaket vor, dessen Ziele eine Stimulierung des Verbrauchs, der Investitionen, des Exports sowie die Verhinderung von Massen- entlassungen waren. Unternehmen erhielten Subventionszahlungen, damit sie Kurz- arbeit satt Arbeitsplatzabbau anbieten konnten. Das bekannteste Instrument im Rah- men dieses Programms war die Umweltprämie (die so genannte „Abwrackprämie“), die bis Herbst 2009 in Höhe von 2.500 Euro an diejenigen ausgezahlt wurde, die sich für die Verschrottung eines mindestens neunjährigen Autos und den Kauf eines Neu- wagens entschieden. Zu diesem Zweck wandte die Bundesregierung 5 Mrd. EUR auf. Insgesamt wurden für komplexer Maßnahmen im Rahmen der Strategien zur Ankur- belung der Konjunktur ca. 200 Mrd. EUR bestimmt.68 Die Finanzkrise bewirkte auch, dass Deutschland begann, auf dem Forum der EU weniger bereit für die Aushandlung von Kompromisslösungen aufzutreten. Dies kam besonders in der Zeit der Finanzkrise in Griechenland in den Jahren 2009- 2010 zum Vorschein. Deutschland blockierte (bis April 2010) aus Angst vor einer ne- gativen Reaktionen der Öffentlichkeit die Entscheidungen der Union über Hilfsmaß- nahmen für Athen. Dies stellte einen durchaus erheblichen Wandel dar, besonders wenn man berücksichtigt, dass Kanzlerin Merkel fünf Jahre zuvor (am 17. Dezem- ber 2005) die Verhandlungen über den Unionshaushalt „gerettet“ hatte, indem sie die Übertragung von 100 Mill. EUR Unterstützung für die östlichen Bundesländer auf die fünf ärmsten Woiwodschaften Polens veranlasste.69 Das starke „Nein“ von Angela Merkel auf dem Gipfel der Regierungschefs der Unionsstaaten Ende März 2009 ergab sich aus mehreren Prämissen. Vor allem der rigorose Standpunkt gegenüber der Rettung Griechenlands vor dem Konkurs berücksichtigte die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland. Die Deutschen waren entschieden gegen eine Belastung des Bundeshaushalts; 68% der Befrag- ten akzeptierten die Erteilung von Krediten an Athen nicht. Darum setzte Merkel auf dem EU-Gipfel ein Hilfsprogramm für Griechenland unter gleichzeitiger Be- teiligung des Internationalen Währungsfonds sowie die Erteilung von Krediten zu kommerziellen Bedingungen in der Höhe von 5% durch. Die Kanzlerin erhielt da- durch von der Presse im Ausland sofort den Spitznamen Madame Non (Frau Nein) verliehen.70 Die am 26. März 2010 angenommenen Lösungen sollten den Christ- demokraten bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai 2010 hel- fen, die als Bürgervotum für oder gegen die Politik der Bundesregierung betrach-

68 S. Płóciennik, Prymus… /Primus…./, op. cit., S. 4-5. 69 Marcinkiewicz o budżecie UE: yes, yes, yes /Marcinkiewicz über den EU-Haushalt: yes, yes, yes/, „Gazeta Wyborcza“ (online) vom 17. Dezember 2005. 70 Od Frau Europa do Madame Non /Von Frau Europa zur Madame Non/, „Gazeta Wyborc- za“ (online) vom 27. März 2010. Vgl.: Angela Merkel nową „żelazną damą“ Europy? /Ist Angela Merkel die neue „eiserne Lady“ Europas?, „Gazeta Prawna“ (online) vom 23. März 2010. 230 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland tet wurden. Letztendlich jedoch willigte Berlin noch vor den Landtagswahlen ein, Griechenland mit 22,4 Mrd. EUR innerhalb von drei Jahren zu finanzieren und min- destens 123 Mrd. EUR an den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) zu bezahlen. Der Wert des ESM wird sogar einen Betrag von 720 Mrd. EUR errei- chen, wenn man die Teilnahme des Internationalen Währungsfonds berücksichtigt, und als Hilfsinstrument für die in finanzielle Not geratenen EU-Länder dienen.71 Zu unterstreichen ist dabei, dass Deutschland im Jahr 2010 in den Unionshaushalt 24,5 Mrd. EUR eingezahlt hat und im Rahmen der EU-Programme nur 14 Mrd. EUR erhält. Letztendlich konnten Christdemokraten und Liberale bei den Landtagswah- len in Nordrhein-Westfalen keinen Erfolg verbuchen; sie erhielten jeweils 34,6% bzw. 6,7%, der Wählerstimmen, während die Oppositionsparteien SPD auf 34,5%, die Grünen auf 12,1% und die Linke auf 5,6% kamen.72 Infolgedessen wurde die Po- sition der CDU/CSU im Bundesrat geschwächt – und damit auch die Chancen auf Durchführung der geplanten Reformen.

3. Ansichten und Einstellungen der deutschen Gesellschaft gegenüber den EU-Erweiterungen

Die Zustimmung der Deutschen für die Zugehörigkeit zur Europäischen Uni- on wurde in den Jahren 1981-1990 auf 50-70% geschätzt. Seit dem Frühjahr 1994 ist sie jedoch auf 40–50% zurückgegangen, in den Jahren 1998–2002 fiel die Stimmung noch weiter. Wie Untersuchungen des Eurobarometers zeigen, belief sie sich 1998 und 1999 nur noch auf 38%, 2001 auf 35% und 2002 auf 36%. Die Zustimmung lag damit niedriger als der Durchschnitt in den übrigen Staaten der EU. In Deutsch- land sprachen sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2000 nur 36% der Befragten für eine Erweiterung der EU um neue Mitglieder aus, in den anderen EU-Staaten waren es 44%. 2002 wuchs die Zustimmung der Deutschen für die EU-Erweiterung auf 47%, während der EU-Durchschnitt 51% betrug. In den Jahren 1996-2001 er- freute sich Ungarn aus der Gruppe der zehn Beitrittskandidaten der größten Un- terstützung der Deutschen (26-28%), während Polen überwiegend auf Widerwillen stieß (von –2 bis –11% netto). In den Jahren 2001-2002 prognostizierten immerhin 61% der befragten Deutschen, dass sich ihre persönliche Situation nach der EU- Erweiterung verschlechtern würde, nur 18% rechneten mit einer Verbesserung73.

71 „Die Welt“ vom 10. Mai 2010. Vgl.: E. Cziomer, Polityka zagraniczna Niemiec w do­ bie nowych wyzwań globalizacji, bezpieczeństwa międzynarodowego oraz integracji europejskiej po 2005 r. /Die deutsche Außenpolitik in der Zeit der neuen Herausforderungen der Globalisierung, der Sicherheit und der europäischen Integration nach 2005/, Dom Wydawniczy Elipsa, Warszawa- Kraków 2010, S. 198-207. 72 Wahlergebnisse Quelle: ww.wahlergebnisse.nrw.de , 73 O. Niedermeyer, Die öffentliche Meinung zur zukünftigen Gestalt der EU. Bevölkerungsori­ entierungen in Deutschalnd und den anderen EU-Staaten, Europa Union Verlag Bonn 2003, S. 3-46 Ansichten und Einstellungen der deutschen Gesellschaft gegenüber… 231 Die deutschen Politikwissenschaftler Matthias Chardon und Martin Gro- ße Hüttmann geben entgegen den Zahlen des Eurobarometers an, dass unmittelbar vor der zweiten EU-Erweiterung in den Jahren 2003 und 2004 die Unterstützung für die Erweiterung der Union deutlich gefallen ist, von 42% im Jahr 2003 auf 28% im Jahr 2004 (laut Eurobarometer betrug dieser Wert 59% bzw. 61%). Sie erklären dies folgendermaßen: „Der Grund dafür konnte die scharfe Pressekampagne sein, die die möglichen Folgen der Erweiterung vorstellte und damit viele Befürchtun- gen in der Gesellschaft weckte. Der Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung in Deutschland ist mit den Ängsten vor den beschriebenen Folgen der EU-Erweite- rung zu erklären. Man erwartete zum Beispiel, dass auf die Staaten der Europäischen Union, und damit auch auf Deutschland, hohe Kosten zukommen würden, die Ar- beitslosigkeit steigen würde und Deutschland im erweiterten Europa eine weitaus geringere Rolle als bisher spielen würde. Dazu kam die Angst vor einem Anwachsen der Kriminalität und einem Zustrom von Ausländern.“74 Begleitet wurde dies von einem Rückgang der gesellschaftlichen Zustim- mung für die Teilnahme an den Integrationsstrukturen, war vor allem mit der Re- form der Gemeinschaft selbst zusammenhing. Die langjährige Arbeit an der Revi- sion des Vertrags über die Europäische Union, Fragen der nationalen Souveränität in der sich herauskristallisierenden neuen Formel der Integration sowie der Ver- zicht auf die Deutsche Mark (durch die Einführung einer gemeinsamen Währung – des Euro) weckten weit verbreitete Befürchtungen in der Gesellschaft, die häufig im Vorwurf eines „Demokratiedefizits“ der EG ihren Ausdruck fand.75 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts änderte sich die Situation im Zusammenhang mit den Arbei- ten am Verfassungsvertrag, als die Politiker zu versprechen begannen, dass dieser den EU-Bürgern die Möglichkeit der Einflussnahme auf ihre Entscheidungen geben würde. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass etwa im Frühjahr 2007 die Zustim- mung der Deutschen zur Mitgliedschaft in der EU 65% betrug und im Frühjahr 2008 auf 60% zurückging. Die EU-Erweiterungen hatten keinen negativen Einfluss auf das Gefühl der Zugehörigkeit zu den Strukturen der Union. Im Gegenteil, die letzte Erweiterung vergrößerte das Gefühl der Sicherheit und Stabilisierung im geopolitischen Sinn. Das Engagement Deutschlands für die Vertiefung der Integration während der letz- ten Jahre, die Erweiterung der Union um neue Mitglieder und die Verbesserung der Effizienz des Auftretens der EU auf der internationalen Bühne blieben nicht ohne Einfluss auf die Selbstbetrachtung der Deutschen. Die Rolle eines Betreuers der eu-

74 M. Chardon, M. Große Hüttmann, Społeczeństwo niemieckie wobec integracji europejskiej / Die deutsche Gesellschaft gegenüber der europäischen Integragtion/ [in:] S. Sulowski (Hrsg.), Polska i Republika Federalna Niemiec w procesie integracji europejskiej /Polen Und die Bundesrepublik Deutsch­ land im Prozess der europäischen Integration/, Dom Wydawniczy Elipsa, Warszawa 2007, S. 29. 75 Vgl. H. Kuhne, Die wachsende Europa-Skepsis der Deutschen: Ursachen und Dimensionen im europäischen Vergleich, Friedrich Ebert Stiftung, Internationale Politikanalyse, Bonn 2006, S. 7. 232 Die Folgen der bisherigen EU-Erweiterungen für Deutschland ropäischen Integration, die Deutschland sich selber auferlegt hatte, stärkte vor allem das Bewusstsein der eigenen Position der Bundesrepublik auf dem alten Kontinent. Im Herbst 1994 äußerten lediglich 45% der Befragten die Meinung, dass sie stolz seien, Deutsche zu sein. Zehn Jahre später waren es bereits 71%.76 Ab September 2005 lief in den deutschen Medien die Kampagne „Du bist Deutschland“, initiiert von Gunter Thielen, dem Vorsitzenden der Bertelsmann AG und unterstützt von 25 deutschen Konzernen. Die Kampagne war an die Deut- schen gerichtet, die aufgerufen waren, ihre Apathie zu überwinden und Vertrauen und Selbstbewusstsein zu gewinnen. Dazu dienten motivierenden Slogans („Du bist Beethoven“, „Du bist Einstein“, „Du bist 82 Millionen“) und der Einsatz von Pro- minenten wie Sarah Connor, Xavier Naidoo, Oliver Kahn, Marcel Reich-Ranicki, Harald Schmidt oder Katarina Witt. Ende 2007 konzentrierte man sich im Rahmen der Kampagne auf die Darstellung Deutschlands als eines – entgegen der Selbst- wahrnehmung – kinderfreundlichen Landes.77 Das wachsende Gefühl des Nationalstolzes der Deutschen überträgt sich nicht unbedingt auf eine sinkende Zustimmung für die europäische Integration. Die Einstel- lung der Deutschen in dieser Frage unterliegt tief greifenden Veränderungen und ist heute deutlich weniger affirmativ als in der Vergangenheit.78 Obwohl die Erweite- rung der EU um die Staaten Mitteleuropas skeptisch aufgenommen wurde, belief sich die Unterstützung für die Demokratie in der Europäischen Union im Frühjahr 2004 auf 39%, also lediglich vier Prozentpunkte weniger als in Frankreich. Jedoch ist bereits ein Jahr nach der formellen Aufnahme der neuen Mitglieder die Unter- stützung auf 46% gestiegen. Nach der letzten Erweiterung waren 41% der Bürger überzeugt, dass ihre Stimme auf dem europäischen Forum zählt. Aus den obigen Daten folgt, dass die einzelnen EU-Erweiterungen, und mit ih- nen die Erweiterung der Zusammensetzung der Institutionen der Union keinen Einfluss auf die subjektive Wahrnehmung der Funktion des Unionssystems als eines Ganzen hatten. Natürlich ist seit den neunziger Jahren das Postulat der Vergrößerung der Rol- le des Europäischen Parlaments gegenwärtig, jedoch nahmen die Beitritte der neuen Mitglieder keinen Einfluss auf den Standpunkt Deutschlands in der Frage der Än- derungen der Kompetenzen in den einzelnen Unionsinstitutionen. Das Vertrauen zu diesen Institutionen, wie etwa der Europäischen Kommission oder dem Euro- päischen Parlament, wächst trotz der postulierten Reformen stetig. Beispielsweise belief es sich 1995 auf 25% bzw. 26%, im Herbst 2004 bereits auf 44% bzw. 55%,

76 H. Kuhne, op. cit., S. 1. 77 Internetseite: http://www.du-bist-deutschland.de; Mach hinne, Deutschland. Die neue Zu­ versichtskampagne schafft Beklommenheit statt guter Laune, „Berliner Zeitung“ (online) vom 30. September 2005; Die Stunde der Patrioten, „Focus“ 2006, Nr. 25 vom 19. Juni 2006. Vgl.: Kampania z głową (kapusty) /Kampagne mit (Kohl)kopf/, „Polityka“ (online) vom 8. Februar 2006. 78 Vgl. S. Sulowski, Uwarunkowania i główne kierunki polityki zagranicznej RFN /Bedin­ gugen und Hauptrichtungen der Außenpolitik der BRD, Dom Wydawniczy Elipsa, Warszawa 2002, S. 201-205 Ansichten und Einstellungen der deutschen Gesellschaft gegenüber… 233 Tabelle 7. Zufriedenheit mit dem Niveau der Demokratie in der Europäischen Union (in %) Frühjahr Frühjahr Frühjahr Frühjahr Jahr 1995 2004 2005 2007 Zufriedenheit mit der europäischen 45 39 46 41 Demokratie Quelle: Eurobarometer. Öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Nationaler Bericht Deutschland vom 1995, 2004, 2005, 2007.

Anfang 2007 auf 49% bzw. 56%, im Frühjahr 2008 fiel das Vertrauen zur Europäi- schen Kommission auf 41%, zum Europäischen Parlament hingegen wuchs es um ei- nen Prozentpunkt. Der Grad an Vertrauen zu den europäischen Institutionen betrug im Jahr 2009 unter den Deutschen 43% für die Europäische Kommission und 48% für das Europäische Parlament bei einer allgemeinen Zufriedenheit mit der Demo- kratie in der EU von 57%.79 Wie die Untersuchungen des Eurobarometers vom Anfang 2007 zeigen, blickten 75% der Deutschen optimistisch in die Zukunft Europas. Über 50% waren der Ansicht, dass der größte Erfolg der Integration im Rahmen der Europäischen Union die Sicherung des Friedens unter den Mitgliedstaaten sei, was im Kontext der untersuchten Problematik von enormer Bedeutung ist. An zweiter Stelle wird, mit einer Zustimmung von etwa 40%, der freie Personen- und Warenverkehr ge- nannt. Allerdings beurteilt weiterhin nur jeder fünfte Deutsche (18%) den Einfluss der letzten Beitritte als positiv, während 34% der Befragten finden, dass die Europäi- sche Union bereit für weitere Erweiterungen ist.80 Nichtsdestotrotz weisen die Daten der im Frühjahr 2008 durchgeführten Untersuchung auf eine Ablehnung der deut- schen Gesellschaft gegen weitere Erweiterungen hin. Gegen den Beitritt der Türkei sprachen sich 77% der Befragten aus, gegen Albanien 68%, Serbien 63%, Bosnien und Herzegowina 58%, Mazedonien 55%, Kroatien 52%. Trotz der fehlenden gesell- schaftlichen Zustimmung für weitere Erweiterungen finden 48% der Befragten, dass sich der eventuelle Beitritt der Westbalkan-Staaten stabilisierend auf diese Region auswirken könnte. Gerne gesehene Mitgliedstaaten sind seit Jahren mit einer Zu- stimmung von über 80% Norwegen und die Schweiz.81

79 Eurobarometer, Öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Nationaler Bericht Deutschland, Dateien aus verschiedenen Jahren verfügbar auf der Webseite der Europäischen Kom- mission: http//ec.europa.eu/.deustchland/index_de.htm. 80 Vgl. Eurobarometer 67..., op. cit. 81 Eurobarometer 69…, op. cit.

235

Schlussbemerkungen

Der demokratische Wandel in den Ländern Mittel- und Osteuropas, der zeit- gleich mit dem Prozess der deutschen Vereinigung einsetzte, hat neue Bedingungen und Möglichkeiten für die seit 1990 um fünf neue Bundesländer erweiterte Bundes- republik geschaffen. Dieser Staat war seit seinen Anfängen in den Zeiten des Hö- hepunkts des Kalten Krieges an einer Erweiterung der europäischen Integration um neue Länder, die bereit sind sich den Europäischen Gemeinschaften anzuschlie- ßen, interessiert. Unter den neuen internationalen Gegebenheiten stand Deutschland vor der Chance, sich für die Erweiterung der 1993 ins Leben gerufenen Europäi- schen Union einzusetzen. Die ergriffenen Maßnahmen rückten mit Sicherheit die deutsche Vision ei- ner überstaatlichen europäischen Föderation in weitere Ferne, stellten aber vor allem auch eine Bewährungsprobe für die Glaubwürdigkeit Deutschlands dar als eines de- mokratischen Staats mit friedlichen Absichten, ausgerichtet auf internationale Zusam- menarbeit und mit dem Gemeinwohl vor Augen. Obwohl in Deutschland unmittelbar nach der Vereinigung eine rege Debatte über eine Neudefinierung der staatlichen In- teressen und die nationale Identität der Deutschen geführt wurde, verwarfen die deut- schen Eliten die aus der Geschichte bekannte Mitteleuropa-Konzeption sowie die Ver- lockung einer Rückkehr zur Großmachtpolitik im herkömmlichen Sinn. Sie wählten die Konzeption von Deutschland als einer „Zivilmacht“, die ihre Europapolitik fort- zusetzen gedenkt. Gerade das aktive Eintreten der Bonner Republik für die Vertie- fung und Erweiterung der europäischen Integration hatte greifbare politische Vorteile gebracht: die Versöhnung mit dem historischen „Erbfeind“ Frankreich im Westen, eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und Stärkung der sozialen Markt- wirtschaft in Deutschland. Dank ihrer großen Aktivität für die Festigung der Euro- päischen Gemeinschaften wurde Deutschland neben Frankreich zum größten Für- sprecher der europäischen Integration. Dies stärkte die Position der Bundesrepublik, da den Deutschen ein probates Substitut für die verlorene Großmachtstellung geboten wurde, das sich als umso attraktiver erwies, als es sie nicht der Gefahr von Kriegen, Verlusten und einer Verurteilung in den Augen der Welt aussetzte. Dadurch konn- ten die Deutschen internationales Vertrauen zurückgewinnen, was auch nötig war, um die Erinnerung an die mörderischen Weltkriege zu überwinden und eine positive Rolle auf internationalem Parkett spielen zu können – als Friedens-, Zivil- und Han- 236 Schlussbemerkungen delsmacht. Nach den schweren Erfahrungen des 2. Weltkriegs hatten die Deutschen begriffen, dass ein Eintreten für die europäische Union ihren nationalen Interessen besser dient als die überkommene Politik, die auf militärischer Stärke und Kampf um Einflusszonen oder „Lebensraum“ beruhte. Zur Unterstützung der Erweiterung der Europäischen Union bewogen die Deutschen vor allem politische und wirtschaftliche Prämissen. Im Fall der ers- ten EU-Erweiterung um die EFTA-Staaten waren beide Beweggründe erkenn- bar, aber die wirtschaftlichen Motive überwogen. Durch diese Erweiterung erfuhr die Europäische Union eine erhebliche wirtschaftliche Stärkung, erweiterte sich doch der gemeinsame Markt um hoch entwickelte Wohlstandsgesellschaften, noch dazu mit einer tragfähigen Sozialpolitik. Die Deutschen rechneten mit einem An- stieg ihrer wirtschaftlichen Expansion auf diese Länder. Eine wichtige Prämisse war selbstverständlich die Ausweitung des Territoriums von Stabilität, Demokratie und Sicherheit in Europa. Die Erweiterung der Europäischen Union um Österreich, Schweden und Finnland stärkte die Union vor der nächsten großen Herausforderung – der Aufnahme der Reformstaaten Mitteleuropas. Zu diesem zweiten – schwierige- ren – Unternehmen bewogen die Deutschen auch die Erinnerung an die Vergangen- heit und die „moralische Verpflichtung“ zur Wiedergutmachung des Unheils, das sie ihren östlichen und südöstlichen Nachbarn angetan hatten. Dies sollte der Europapo- litik der Bundesrepublik Glaubwürdigkeit verleihen. Das Gesamtbild von der Erweiterung der Europäischen Union um die EFTA- Staaten und die Länder Mitteleuropas setzte sich aus den Konzeptionen für die Er- weiterungspolitik zusammen, die von den regierenden politischen Parteien, Arbeit- geberverbänden und Gewerkschaften vorgebracht wurden. Die Frage des Beitritts der Mittelmeerkleinstaaten Zypern und Malta war kaum Gegenstand des öffentli- chen Interesses in Deutschland. Für ihre Aufnahme sprach man sich gewissermaßen bei Gelegenheit aus. Ein gemeinsames Merkmal der in dieser Arbeit untersuchten po- litischen Subjekte war das Eintreten für eine Erweiterung der EU in enger Verbindung mit der Vertiefung der Integration. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Standpunkten waren eher unwesentlich, am deutlichsten noch bei den unterschiedli- chen Haltungen der SPD und der Grünen auf der einen Seite und der Unionspartei- en CDU/CSU auf der anderen Seite in der Frage der türkischen Beitrittskandidatur. Die beiden ersteren waren gemeinsam in den Jahren 1998-2005 an der Regierung. Sie unterstützten die Beitrittsbemühungen der Türkei, denen die Christdemokraten ablehnend gegenüberstanden. Als es zur Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD kam, begann in der Politik der Bundesregierung Zurückhaltung vorzuherrschen. Unter dem Einfluss der Christdemokraten suchte sie eher nach alternativen Lö- sungen für die Türkei wie die „privilegierte Partnerschaft“ oder die Beteiligung an der im Sommer 2008 ins Leben gerufenen Union für das Mittelmeer. Die Deutschen verbinden die EU-Erweiterung mit einer Vertiefung der euro- päischen Integration und einer institutionellen Reform der Union, denn sie wünschen 237 keine Verlangsamung der Integration. Ihnen ist an einem starken Europa gelegen, denn nur ein solches kann die von Deutschland (und auch Frankreich) lancierte Rolle eines allseitig und global auftretenden internationalen Akteurs spielen. Das Eintreten für eine gleichzeitige Erweiterung der EU und ihre Vertiefung bewirkt, dass Berlin sich durchaus dessen bewusst ist, dass die Aufnahmefähigkeit der Union ihre Gren- zen hat und dadurch auch den Erweiterungsmöglichkeiten Limits gesetzt sind. Die Deutschen haben die unterschiedlichen Kandidatengruppen unterschied- lich bewertet: besonders positiv die Länder der EFTA, wohlwollend die Staaten Mitteleuropas – und unter ihnen mit besonderer Aufgeschlossenheit die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) und Slowenien. Sie äußerten eine Reihe von Vorbehalten bezüglich des Vorbereitungsstands von Bul- garien und Rumänien. Berlin unterstützt die Beitrittskandidatur Kroatiens, obwohl Deutschland hier – wie andere EU-Länder auch – vom Anwärter die vollständige Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien und die Verfolgung von Kriegsverbrechern ver- langt. Die Bundesrepublik hegt Zweifel bei den übrigen Anwärterländern des westli- chen Balkan und immer stärkere Einwände gegen die Beitrittsbemühungen der Tür- kei. Wenn in Deutschland ausschließlich die Christdemokratie an der Macht wären, hätte die Türkei in absehbarer Zeit keinerlei Aussichten auf Mitgliedschaft in der Eu- ropäischen Union. Die vorgebrachten Einschätzungen der einzelnen Beitrittskandidaturen schlagen sich nieder in den stimulierenden oder hemmenden Maßnahmen der Bun- desregierung gegenüber diesen Ländern. Bei den Beitrittsverhandlungen stellte sich heraus, das es trotz der offenen und verständnisvollen Einstellung zu den Postulaten der Anwärterländer in einer Frage keinerlei Kompromisse gab: Die deutsche Regie- rung konnte erreichen, dass in die 2003 und 2005 unterzeichneten Beitrittsverträgen eine Klausel aufgenommen wurde, die siebenjährige Übergangsfristen (nach der For- mel 2+3+2) für die Öffnung des Arbeitsmarkts der EU für die Einwohner der Bei- trittsländer vorsehen. Damit will Deutschland seine Arbeitnehmer vor der Konkur- renz aus den neuen EU-Mitgliedern schützen. Die Analyse der Folgen der bisherigen Erweiterungen der Europäischen Uni- on für Deutschland ist ein schwieriges Unterfangen. Vor allem aufgrund des geringen zeitlichen Abstands zum Beitritt von insgesamt fünfzehn Ländern in den Jahren 1995, 2004 und 2007. Die zugänglichen Dokumente, Meinungsumfragen und wissenschaft- lichen Arbeiten lassen eine Einteilung der Konsequenzen in drei Gruppen zu. Zu den politischen Folgen sind zu zählen: die günstige Verschiebung der geo- politischen Lage Deutschlands in Europa, das nun mit Ausnahme der – immerhin eng mit der EU kooperierenden Schweiz – von allen Seiten von Unionspartnern (und – mit Ausnahme von Österreich – NATO-Bündnispartnern) umgeben ist, die Festigung der Sicherheit für Deutschland und Europa, Änderungen bei der Ent- scheidungsfindung im Rat der Europäischen Union, die das deutsche Stimmgewicht ein wenig abgeschwächt haben. Als Ergebnis der Erweiterungen kommt es zu ei- 238 Schlussbemerkungen ner weiteren Evolution der deutschen Europapolitik, in der die Bestrebungen nach weiteren Erweiterungen deutlich gedrosselt werden. Die wichtigsten wirtschaftlichen Folgen sind: die relativ hohen Kosten der zweiten Erweiterung für Deutschland als größten Nettozahler des EU-Haushalts, die günstigen Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik und den deutschen Außenhandel, gewisse Probleme durch den Zustrom von Einwan- derern, jedoch sind dessen Auswirkungen auf den geschützten deutschen Arbeits- markt nicht negativ. Die deutsche Wirtschaft sieht sich zahlreichen Herausforderun- gen gegenüber und die EU-Erweiterung verbessert die Chancen für ihre effiziente Bewältigung durch die steigende Anwesenheit von Investoren und in der Zukunft auch Fachkräften aus den neuen EU-Mitgliedsländern. Die dritte Gruppe beinhaltet die sozialen Folgen. Ihre Bedeutung ist keines- wegs zu unterschätzen. Eine eingehende Analyse bedarf allerdings eigener Untersu- chungen mit Hilfe des wissenschaftlichen Apparats der Soziologie, dessen Einsatz den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Diese Frage wird hier also nur signa- lisiert, insbesondere bei der Besprechung der wirtschaftlichen Folgen (Migration, Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt). Wichtige Feststellungen ergeben sich hingegen aus der politologischen Ana- lyse der Bewertungen, welche die deutsche Gesellschaft den EU-Erweiterungen aus- gestellt hat. Insgesamt fallen sie durchaus positiv aus, wenn auch die Zustimmung der Deutschen für die EU-Erweiterung gegen Ende des Jahres dramatisch zurückge- gangen ist – bis unter das Niveau der Akzeptanz in anderen Mitgliedsländern. Dies stellte einen Kontrast dar zu der Entschiedenheit der Regierung bei der Verwirkli- chung der Erweiterung der Union um die Staaten Mitteleuropas. Gleichzeitig blicken die Deutschen jedoch mit wachsendem Optimismus in ihre Zukunft in der Europä- ischen Union. Nach der letzte Erweiterung zeigen die Untersuchungen des Euro- barometers (von Anfang 2007), dass über die Hälfte der Deutschen die Friedenssi- cherung in Europa als größten Erfolg der Integration im Rahmen der Europäischen Union wertet, was im Zusammenhang der hier untersuchten Problematik von enor- mer Bedeutung ist. Nach der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens im Jahr 2007 unterstützen die Deutschen weniger entschieden die europäischen Aspirationen der postjugos- lawischen Staaten und Albaniens und stehen einem möglichen Beitritt der Türkei, mit der seit 2005 Beitrittsverhandlungen im Gange sind, zusehends skeptischer ge- genüber. Die Zahl der Gegner eines türkischen EU-Beitritts beläuft sich auf über 3/4 (im Frühjahr 2008 stieg sie auf 77% der Befragten an), über die Hälfte der Deutschen stehen auch einer Aufnahme Albaniens und der übrigen Balkanländer ablehnend ge- genüber. Neueste Daten zeigen, dass die Bundesregierung sich einer ernst zu nehmen- den Opposition in der Frage künftiger EU-Erweiterungen gegenübersieht. Dies ist einer der Gründe für die Suche nach den Grenzen Europas und der Erweiterung – und, was damit einhergeht, nach einer Neudefinition der deutschen Europapolitik. 239 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Deutschland sich überaus ak- tiv für die Erweiterung der Europäischen Union um die EFTA-Staaten und die Län- der Mitteleuropas engagiert hat. Dieser Prozess lief parallel zu den Maßnahmen für eine Vertiefung der Integration im Rahmen der Union. Die Aktivität auf diesem Feld war Ausdruck der Wahrnehmung der deutschen staatlichen Interessen, insbe- sondere des Bedürfnisses nach Gewährleistung von Wohlstand, Sicherheit und Frie- den für die deutschen Bürger in einem friedlichen und kooperierenden Europa. Die Förderung der Integration ist ein festes Element und prioritäres Ziel der deutschen Staatsraison. Indem die Bundesrepublik für eine Erweiterung der EU eintritt, will sie ihre Glaubwürdigkeit als ein demokratischer, friedlicher und anderen Ländern ge- genüber freundschaftlich eingestellter Staat, der nach einer Stärkung der Position der Europäischen Union auf der internationalen Bühne strebt, unter Beweis stellen. Die deutsche Gesellschaft und die Bundesregierung erkennen sowohl die Vortei- le der Erweiterung der Europäischen Union als auch die Probleme (zu denen auch die zweifelsohne hohen Kosten zählen) und die Herausforderungen, die dieser Pro- zess aufwirft.

241

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Tabelle 1. Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften/der Europäischen Union S. 23

Tabelle 2. Koordinationsgremien interministerieller Zusammenarbeit im Bereich Europapolitik S. 42

Tabelle 3. Würde Deutschland durch einen EU-Beitritt Polens gewinnen? S. 55

Tabelle 4. Positionen der Regierungsparteien in der Bundesrepublik gegenüber der EU-Osterweiterung S. 104

Tabelle 5. Aufteilung der Stimmen im Rat der Europäischen Union S. 209

Tabelle 6. Außenhandel der BRD mit ausgewählten EFTA-Staaten in den neunziger Jahren in Mio. DM S. 218

Tabelle 7. Zufriedenheit mit dem Niveau der Demokratie in der Europäischen Union (in %) S. 233

Abbildung 1. Koordination der Europapolitik auf Bundesebene (vom 31. Januar 2005) S. 44

Abbildung 2. Die Beziehungen zwischen politischem Konzept, Doktrin und Programm S. 67

Abbildung 3. Die wichtigsten Handelspartner der BRD im Hinblick auf Export, 2007 in Mrd. EUR S. 220

Abbildung 4. Entwicklung des deutschen Außenhandels in den Jahren 1990-2007 in Mrd. EUR S. 222

243

Literaturverzeichnis

Dokumentationen, Memoiren, Primärquellen

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Internetquellen

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